Prekäre Obsession: Minoritäten im Werk von Rainer Werner Fassbinder [1. Aufl.] 9783839416235

Rainer Werner Fassbinders Auseinandersetzung mit den Randbereichen der Gesellschaft, mit prekarisierten und exkludierten

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German Pages 406 Year 2014

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Prekäre Obsession: Minoritäten im Werk von Rainer Werner Fassbinder [1. Aufl.]
 9783839416235

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Töte Amigo! Zur Archäologie von Fassbinders Filmen in LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD
Western Goes East. Fassbinders WHITY als Race-Melodrama
»Schrei, Whity, schrei« Sadomasochismus und Dynamiken der Macht in Fassbinders WHITY
Peripherien zwischen Repräsentation und Individuation. Die Körper der Minderheiten in Fassbinders KATZELMACHER und ANGST ESSEN SEELE AUF
Das andere Melodrama. Vom Pathos der Fremdheit in Fassbinders ANGST ESSEN SEELE AUF, DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS und DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT
Über den zweifelhaften Fortschritt in Sachen Liebe. Sexualität und strukturelle Gewalt in Fassbinders FONTANE EFFI BRIEST und MARTHA
Der Skandal, der keiner war. Behinderung in Fassbinders CHINESISCHES ROULETTE
›Jüdische Kapitalisten‹ und Queerness. Fassbinders IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN und DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS
Keine Minderheitendramen. Homosexuelle Minoritäten und Fassbinders Filme
Ein krisenhaftes Bewusstsein. Fassbinders IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN
Ein »Reicher Jude« – und dessen Konstrukteure. Zur Darstellung von Juden und Antisemiten in Fassbinders Der Müll, die Stadt und der Tod
»Deutschland ist Weltmeister!« Zur Dekonstruktion eines politischen Mythos in Fassbinders DIE EHE DER MARIA BRAUN
Minorisierungsprozesse als cineastischer Effekt. Umcodierung der Kriegs- und Holocaustnarrative in Fassbinders LILI MARLEEN
Imagination des Minoritären. Terroristen in Fassbinders DIE DRITTE GENERATION
Die Anschaulichkeit der Verhältnisse. Zu Fassbinders Politik des Ästhetischen
Filmverzeichnis
Autorinnen und Autoren

Citation preview

Nicole Colin, Franziska Schößler, Nike Thurn (Hg.) Prekäre Obsession

Film

Nicole Colin, Franziska Schössler, Nike Thurn (Hg.)

Prekäre Obsession Minoritäten im Werk von Rainer Werner Fassbinder

Der Sammelband ist im Sonderforschungsbereich 600 »Fremdheit und Armut. Wandel von Inklusions- und Exklusionsformen von der Antike bis zur Gegenwart« der Universität Trier entstanden und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung der ihm von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Filmstill aus »In einem Jahr mit 13 Monden« (BRD 1978), Regie: Rainer Werner Fassbinder, DVD 2005, © 1978, Pro-ject Filmproduktion im Filmverlag der Autoren GmbH, Tango Film Rainer Werner Fassbinder Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1623-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung



Nicole Colin, Franziska Schößler und Nike Thurn | 7 Töte Amigo! 

Zur Archäologie von Fassbinders Filmen in LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD Rolf G. Renner | 29 Western Goes East 

Fassbinders WHITY als Race-Melodrama Claudia Liebrand | 49 »Schrei, Whity, schrei« 

Sadomasochismus und Dynamiken der Macht in Fassbinders WHITY Priscilla Layne | 69 Peripherien zwischen Repräsentation und Individuation

Die Körper der Minderheiten in Fassbinders KATZELMACHER und ANGST ESSEN SEELE AUF Özkan Ezli | 93 Das andere Melodrama 

Vom Pathos der Fremdheit in Fassbinders ANGST ESSEN SEELE AUF, DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS und DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT Kati Röttger und Maren Butte | 125 Über den zweifelhaften Fortschritt in Sachen Liebe

Sexualität und strukturelle Gewalt in Fassbinders FONTANE EFFI BRIEST und MARTHA Nicole Colin | 155 Der Skandal, der keiner war 

Behinderung in Fassbinders CHINESISCHES ROULETTE Carol Poore | 177

›Jüdische Kapitalisten‹ und Queerness

Fassbinders IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN und DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS Franziska Schößler | 195

 Keine Minderheitendramen 

Homosexuelle Minoritäten und Fassbinders Filme Volker Woltersdorff | 223 Ein krisenhaftes Bewusstsein

Fassbinders IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN Senta Siewert | 241

 Ein »Reicher Jude« – und dessen Konstrukteure 

Zur Darstellung von Juden und Antisemiten in Fassbinders Der Müll, die Stadt und der Tod Nike Thurn | 269

 »Deutschland ist Weltmeister!«

Zur Dekonstruktion eines politischen Mythos in Fassbinders DIE EHE DER MARIA BRAUN Tilman Heisterhagen und Uwe Jun | 295 Minorisierungsprozesse als cineastischer Effekt

Umcodierung der Kriegs- und Holocaustnarrative in Fassbinders LILI MARLEEN Irina Gradinari | 315

 Imagination des Minoritären 

Terroristen in Fassbinders DIE DRITTE GENERATION Valentin Rauer | 355

 Die Anschaulichkeit der Verhältnisse

Zu Fassbinders Politik des Ästhetischen Alexander Zons | 371

 Filmverzeichnis | 389 Autorinnen und Autoren | 395

Einleitung N ICOLE C OLIN , F RANZISKA S CHÖSSLER , N IKE T HURN

»Das wirklich Schlimme ist, dass man Unterdrückung nicht zeigen kann, ohne auch die unterdrückte Person zu zeigen, die auch ihre Fehler hat. […] Ich vertrete strikt den Standpunkt: Man muss das Opfer mit seinen Qualitäten und mit seinen Mängeln zeigen, seine Kraft und seine Schwäche, seine Fehler.«1 RAINER WERNER FASSBINDER

Die Randbereiche der Gesellschaft, prekarisierte und exkludierte Lebensformen, gehören zu den zentralen Themen von Rainer Werner Fassbinder. Konstant fokussieren seine Theaterstücke und Filme gesellschaftlich Ausgeschlossene und Unterdrückte – Fremde, Homosexuelle, Alte, Behinderte oder Frauen. Dabei wirken die in den 1960er und 1970er Jahren entworfenen Porträts liminaler Existenzen, die sein gesamtes Werk durchziehen, heute – dreißig, vierzig Jahre später – erstaunlich aktuell. Dies scheint vor allem der widerständigen Darstellungsform geschuldet zu sein, mit der Fassbinder eine ›politisch korrekte‹ Annäherung an die Problemfelder unterwandert. In seinen

1

Sparrow, Norbert: »›Ich lasse die Zuschauer fühlen und denken‹: Rainer Werner Fassbinder über Douglas Sirk, Jerry Lewis und Jean-Luc Godard«, in: Robert Fischer (Hg.), Fassbinder über Fassbinder, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 2004, S. 405-414, hier S. 409f.

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Filmen geht es nicht allein darum, die politischen und psychologischen Effekte des Ausschlusses sowie die Funktion der Exkludierten für die Mehrheitsgesellschaft zu veranschaulichen, 2 sondern Fassbinder erklärt die Randbezirke der Gesellschaft zum exemplarischen Ort, an dem sich die allgemeine Struktur der Herrschaftsverhältnisse laborhaft analysieren und veranschaulichen lässt. Diese Perspektivierung, welche die Spezifizität der einzelnen Leidensgeschichten des Außenseitertums gewissermaßen universalisiert, stieß häufig auf Ablehnung und erntete nicht selten harsche Kritik bei den ›Betroffenen‹ selber: Die Darstellungen der Homosexuellen in FAUSTRECHT DER FREIHEIT, IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN oder DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT trugen ihm von eben jenen den Vorwurf der Homophobie ein, und viele Frauen fanden seine Darstellungen weiblicher Unterdrückung misogyn, da diese als Rollenspiel suggeriert wurde. Seine Repräsentation eines reichen jüdischen Immobilienspekulanten in »Der Müll, die Stadt und der Tod« provozierte posthum einen der größten Theaterskandale in Deutschland und für DIE DRITTE GENERATION fand Fassbinder politisch keine Zustimmung – vor allem nicht im eigenen Lager.

I NFRAGESTELLUNG

HOMOGENER I DENTITÄTEN

Die zwiespältigen und umstrittenen sozialkritischen Psychogramme Exkludierter stehen im Mittelpunkt von Fassbinders Werk und haben auch in formaler Hinsicht seinen Stil geprägt. Das Zentrum, um das die Diskussion stets aufs Neue kreist, bildet daher die rezeptionsästhetische Frage nach einer Affirmation der Stereotype durch deren kritische Darstellung: Inwiefern gelingt es Fassbinder tatsächlich, die Klischees zu dekonstruieren, ohne sie zu besiegeln?3

2

Vgl. hierzu allgemein weiterführend Bohn, Claudia: Inklusion, Exklusion

3

Diese Problematik stellt sich in vielfältigen Bereichen der (künstlerischen

und die Person, Konstanz 2006. oder theoretischen) Auseinandersetzung mit minoritären oder diskriminierten Identitäten: von Passing-Bewegungen, über Diskussionen um literarischen Antisemitismus bis zur Erfüllung von Geschlechterklischees. So sah sich etwa Judith Butler dem Vorwurf ausgesetzt, das subversive Potential der Travestie überzubewerten, während sie sich dagegen verwahrte, dass

E INLEITUNG | 9

Fassbinders strategische Hauptwaffe gegen eine indirekte Bestätigung der Vorurteile ist die ironische Distanzierung, die jede Aussage zur Pose gefrieren lässt – eine Strategie, die jedoch angesichts der Ernsthaftigkeit der Probleme und der offensichtlichen Notwendigkeit, politisch und gesellschaftlich darauf zu reagieren, von vielen als unangemessen empfunden wurde und wird. Die Erregung vieler Betroffener wird dabei noch durch die Tatsache gesteigert, dass seine Filme keinesfalls eine Provokation von außen darstellen, sondern dass Fassbinder – als Scheidungskind, bisexueller Außenseiter und künstlerische Ausnahmeerscheinung – selber Teil dieser Minoritäten ist. Die meisten seiner Leidensgeschichten spielen, gleich ob ein Einzelschicksal oder kollektive Mechanismen im Mittelpunkt stehen, auf einer autobiographischen Folie und die meisten seiner (Anti-)Held_innen spiegeln seine eigene gebrochene Identität. Doch auch minoritäre Existenzen können in eindimensionaler Beschreibung schnell im Kitsch enden – zumal Fassbinder eine bekannte Vorliebe für das Genre des Melodrams hegte, das strukturell auf Schwarz-Weiß-Darstellungen basiert. Einfachen Erklärungsmustern und Lösungen (und sei es in Form einer Utopie) entzieht sich Fassbinder jedoch, indem er der Vorstellung einer homogenen Identität (und sei es die eines Genres) konsequent widerspricht.4 Die Randgruppen in

diese »parodistischen Identitäten entweder, was die Travestie und den Kleidertausch betrifft, als Herabsetzung der Frauen oder, besonders im Fall der lesbischen butch/femmes-Identitäten, als unkritische Aneignung einer stereotypen Geschlechterrolle verstanden [werden], die aus dem Repertoire der Heterosexualität stammt.« Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 202. Ähnlicher Kritik sieht sich das Passing ausgesetzt, das zwar die Möglichkeit der Irritation von stereotyp ethnisierten Identitäten bietet, dabei aber immer auch Gefahr läuft, die aufgezeigte Binarität implizit zu bestätigen – nach Ann Pellegrini zeigt sich hier »[t]he problem of dealing with difference without reasserting opposition or checking of either/or«. Pellegrini, Ann: Performance Anxieties: Staging Psychoanalysis, Staging Race, New York: Routledge 1997, S. 11. 4

Dass das Subjekt ein Ort konfligierender Entwürfe ist, wurde in den Gender und Postcolonial Studies verschiedentlich ausgearbeitet. Für Teresa de Lauretis zum Beispiel gibt es keine homogene Kategorie Frau, sondern lediglich ein Ensemble konfligierender Identitätszuschreibungen (Race,

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seinen Filmen erscheinen nicht als bemitleidenswerte Unterdrückte oder »eindimensionale Helden«, sondern veranschaulichen vor allem den »Doppelcharakter jedes Menschen«5: Es handelt sich um in ihrer psychologischen Motivation zuweilen undurchdringbare Individuen, die mitunter ebenso schockierende oder zumindest irritierende Verhaltensweisen an den Tag legen wie ihre Unterdrücker und so die Gewalt als strukturell in der Gesellschaft verankerte anthropologische Grundkonstante entlarven. In dieser systemischen Analyse der Herrschaftsverhältnisse ist Fassbinder seiner Zeit deutlich voraus: Weder wird versucht, die Gesellschaftskritik ideologisch einzufärben, noch auf allgemeine aufklärerische Verbesserungsmechanismen gesetzt, das heißt Fassbinder weigert sich – eine deutliche Parallele zu Brecht – positive Exempel zu statuieren. Seine hartnäckigen und (im Blick auf sein Gesamtwerk) bisweilen redundant wirkenden Verweise auf die paradoxe Komplexität des Minoritätenproblems geben aber nicht nur einen pessimistischen Bescheid über die Unwahrscheinlichkeit einer grundsätzlichen Veränderung gesellschaftlicher Systeme und ihrer strukturellen Gewaltelemente, sondern konstruieren durch die Zertrümmerung ste-

Class); sie plädiert deshalb für »feminist deasthetics«; Lauretis, Teresa de: Technologies of Gender. Essays on Theory, Film, and Fiction, Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press 1987, S. 146; Auch Homi K. Bhabha begreift das Subjekt als Kreuzungspunkt konfligierender Zuschreibungen und Rollen. Sowohl das herrschende Subjekt wie das beherrschte zeichnen sich durch Hybridität aus und können mithin nicht auf eine ethnische Position festgelegt werden. Sie werden »als Überschreitung jener verschiedenen Teilaspekte der divergierenden ethnischen, klassenoder geschlechtspezifischen Zugehörigkeiten begriffen, […] die nur als Verknotung die kulturelle Identität des Individuums ausmachen«, wie Elisabeth Bronfen in ihrem Vorwort zu Homi K. Bhabhas Aufsatzsammlung Die Verortung der Kultur festhält; Bronfen, Elisabeth: Vorwort, in: Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur. Mit einem Vorwort von Elisabeth Bronfen, Tübingen: Stauffenburg 2000, S. IX-XIV, hier S. IX. 5

Braad Thomsen, Christian: »Der doppelte Mensch«, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Rainer Werner Fassbinder, text+kritik 103 (Juli 1989), S. 3-9, hier S. 9.

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reotyper Darstellungsweisen im Innern der Minoritätendiskurse ein Konzept der Intrakulturalität avant la lettre.6

U NIVERSALISIERUNG

DES

M INORITÄTSPROBLEMS

Aufgrund der Tatsache, dass die dargestellten Außenseiter ihre Rolle in der Regel nicht heldenhaft affirmieren – indem sie beispielsweise unter Beweis stellen, dass auch Exkludierte wertvolle Mitglieder der Gesellschaft sein können –, befindet sich Fassbinders Schilderung der sozialen Randzonen immer auch in einem potenziell konfliktuellen Verhältnis zu den Zuschauer_innen, denen eine plane Einfühlung in die sich in einer Identitätskrise befindlichen Protagonist_innen prinzipiell verweigert wird. In diesem Sinne folgt der Theatermann Fassbinder in seinen Filmen der Brecht’schen Logik auf seine Weise und entwickelt eigene Formen des V-Effektes. Gleichzeitig stellt Fassbinder durch die gebrochene Darstellung der Außenseiter aber auch die Sinnhaftigkeit einer Politisierung der Minderheiten in Frage. So ist Fassbinder immer wieder vorgeworfen worden, seine Schilderung von Minoritäten als ›ganz normale Menschen‹ münde in eine Universalisie-

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Stuart Hall extrapoliert drei Kennzeichen der Stereotypisierung: 1. die Reduktion, Essentialisierung, Naturalisierung und Fixierung von ›Differenz‹, 2. die Schließung und – damit zwangsläufig verbunden – auch die Ausschließung, den Ausschluss durch mit ihrer Hilfe errichteter symbolischer Grenzen, und schließlich 3. ihr Auftauchen immer dort, wo Machtasymmetrien bestehen. Vgl. Hall, Stuart: Das Spektakel des ›Anderen‹, in: ders., Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4. Herausgegeben von Juha Koivisto und Andreas Merkens, Hamburg: Argument 2004, S. 108-165, hier S. 144. Er führt aus: »Mit anderen Worten ist Stereotypisierung Teil der Aufrechterhaltung der sozialen und symbolischen Ordnung. Sie errichtet eine symbolische Grenze zwischen dem ›Normalen‹ und dem ›Devianten‹, dem ›Normalen‹ und dem ›Pathologischen‹, dem ›Akzeptablen‹ und dem ›Unakzeptablen‹, dem was ›dazu gehört‹ und dem, was ›nicht dazu gehört‹ oder was ›das Andere‹ ist, zwischen ›Insidern‹ und ›Outsidern‹, Uns und Ihnen. Sie vereinfacht das ›Zusammenbinden‹ oder ›Zusammenschweißen‹ zu einer ›imaginierten Gemeinschaft‹; und sie schickt alle ›Anderen‹, alle diejenigen, die in irgendeiner Weise anders, ›unakzeptablel‹ [sic!] sind, in ein symbolisches Exil.« Ebd.

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rung, welche einer wünschenswerten Solidarisierung innerhalb der Gruppen entgegenstehe.7 Tatsächlich spricht Fassbinders Befund, dass die peripheren Zonen der Gesellschaft strukturell in gleicher Weise funktionieren wie das Zentrum, gegen eine positive Identifikation der Ausgegrenzten als Ausgegrenzte und ihre politische Mobilmachung. So inszeniert Fassbinder in seinem Universum stets die provokative Ver- und Durchmischung der Sphären und stellt sich damit gegen die Idee respektierter Randzonen oder Minoritäten-Ghettos, in denen die Betroffenen ihr Anderssein affirmiert ausleben dürfen. Diese Dekonstruktion homogener Identitätskonzepte unterwandert damit aber auch die positive Bewusstwerdung der eigenen Zugehörigkeit zu einer Minorität.

V ERSCHRÄNKUNG

VON

M INORITÄTSDISKURSEN

Eine der Hauptstrategien Fassbinders besteht in der Verschränkung von unterschiedlichen Minoritätsdiskursen, die gedoppelt und zumeist chiastisch gegenübergestellt werden. So sind seine Protagonist_innen in der Regel mehrfach in sich gebrochen und stellen bereits innerhalb der Außenseitergruppe eine Minorität dar; des Weiteren sind die Gegenspieler der exkludierten Anti-Held_innen oft selber Teil einer (anderen) Randgruppe, in der sie Gewalt- und Unterdrückungsmechanismen in Gang setzen oder Identitätskrisen durchleben; sie sind Exkludierende und Exkludierte zugleich.8 Auf diese Weise wird der Minori-

7

Auch in der Politikwissenschaft wird die Homogenisierung von Minderheiten als Effekt ihrer positiven Diskriminierung – z.B. durch die Zuerkennung gruppenspezifischer Rechte für ethnische Minderheiten – kontrovers diskutiert. Hierbei steht die Frage, ob eine solche Homogenisierung Solidarität untereinander fördert oder im Gegenteil verhindert bzw. mit der Exklusion von Subgruppen einhergeht, im Mittelpunkt. Vgl. hierzu etwa die Debatten um die Arbeiten von Iris Marion Young, von ihr selbst reflektiert in Young, Iris Marion: Inclusion and Democracy, Oxford: Oxford University Press 2000.

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Eine Beschreibung der Gesellschaft mit asymmetrischen Gegenbegriffen bleibt konsequent aus. Vgl. Koselleck, Reinhart: Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, in: Harald Weinrich (Hg.), Posi-

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tätseffekt gewissermaßen verdoppelt. Bei genauerer Betrachtung bleibt Fassbinder damit dem Konzept der klassischen griechischen Tragödie treu, in der das Pathos Täter und Opfer umschlingt, sich vom einen zum anderen bewegt und weder causa noch effectus, sondern das Prinzip des Übergangs selbst repräsentiert. Trotz dieser Vernetzung der Kategorien ›Tun‹ und ›Leiden‹ stellt sich im Blick auf den jeweiligen Ausgang der Geschichte aber auch – so beispielsweise im Falle von LILLI MARLEEN und Der Müll, die Stadt und der Tod – die Frage einer Hierarchisierung von gender- oder queerbezogenen, ethnischen oder sozialen Ausgrenzungen. Reproduziert Fassbinder mit der Darstellung des künstlerischen, historischen und moralischen ›Sieges‹ des jüdischen Mannes über die nicht-jüdische Frau in LILLI MARLEEN nicht die patriarchalische Asymmetrie? Bleiben – gerade im Blick auf den Vorwurf eines ›sekundären Antisemitismus‹ der beiden genannten Werke – die Fragen zu Fassbinders angeblich verächtlicher Haltung den Ausgeschlossenen und Unterdrückten gegenüber offen, so lassen sich diese kritischen Einsprüche in einer Gegenüberstellung verschiedener Stücke und Filme relativieren, da auf diese Weise Fassbinders wiederkehrende narrative und ästhetische Strategien bei der Darstellung von Randgruppen erkennbar werden. Aus diesem Grund erscheint eine multiperspektivische Annäherung an den zentralen Themenkomplex der Minoritäten bei Fassbinder sinnvoll, der sich weder auf bestimmte Filme noch bestimmte Aspekte (wie Gender- bzw. Queerzuschreibungen, ethnische oder soziale Zugehörigkeit) beschränkt. Gerade mit Blick auf die zentrale Streitfrage nach dem hierarchischen Verhältnis der Minoritäten untereinander ermöglicht ein muliperspektivischer Zugriff auf das Werk Fassbinders, in dem jeder Film wie das Steinchen eines Mosaiks erscheint, bestimmte Vermutungen zu überprüfen. Aus diesem Grund rückt der vorliegende Band Fassbinders Repräsentationen verschiedener minoritärer Gruppen in den Fokus und untersucht diese aus interdisziplinärer Perspektive im filmischen und dramatischen Werk. Dabei werden neben Genrefragen (wie Fassbinders Affinität zum Melodram), psychoanalytischen Ansätzen (zur Bedeutung sadomasochistischer Motive) und (politischen) Identitätszuschreibungen vor allem die Kopplung von gesellschaftlichen Ausschlussstrategien und die Verschränkung

tionen der Negativität, München: Fink 1975 (Poetik und Hermeneutik, Bd. 6), S. 65-104.

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von Minoritätsdiskursen analysiert.9 Um die Interdependenz und Vernetzung der einzelnen Minoritätsdiskurse bei Fassbinder deutlich zu machen, ist der Band nicht perspektivisch, sondern weitgehend chronologisch strukturiert. Er beginnt mit dem Beitrag »Töte Amigo!« von Rolf G. Renner zur Figur des Außenseiters als Einzelgänger in Fassbinders frühem Film LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD, der zusammen mit GÖTTER DER PEST und DER AMERIKANISCHE SOLDAT als eine »Trilogie der Einsamkeit« (Herbert Spaich) bezeichnet werden kann. Dabei ist, so Renner, der kriminalistische Plot als ein »Modell für die wechselseitige Bedingtheit individueller und gesellschaftlicher Beziehungen« zu lesen. Gewalt ist in den Filmen Fassbinders niemals Zuspitzung einer sozialen, politischen oder persönlichen Auseinandersetzung, sondern markiert eine generelle Struktur des gesellschaftlichen Zusammenlebens als »tödlichen Handlungszwang einer unkontrollierbaren Realität«. Aus dieser Perspektive erweisen sich Fassbinders Geschichten als paradigmatische Beispiele »für die Verflechtung von individueller Erfahrung und überindividueller Gegebenheit«, in der jede Besonderheit

9

Auch Judith Butler hat sich wiederholt mit dem Verhältnis von minorisierenden Aspekten beschäftigt. In der Dokumentation PARIS IS BURNING (USA 1991) über die Bälle von afroamerikanischen Transvestiten in Harlem werden die Interferenzen von Race und Gender sichtbar, die die Akteure in einem widersprüchlichen Geflecht aus ethnischen und geschlechtlichen Zuschreibungen situieren. Spielt ein Latino eine weiße Frau aus der upper class, so verbindet sich eine Chiffre der Macht (weiße Haut) mit einem Zeichen der Ohnmacht (Frausein), die dem Status des feminisierten schwarzen Mannes entspricht. »Das Subjekt ist [...] die inkohärente und mobilisierende Verzahnung von Identifizierungen« (Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin: Berlin Verlag 1995, S. 177), wobei die sexuelle Differenz der ethnischen nicht vorausgeht. Der Film mache deutlich, »daß die Ordnung der sexuellen Differenz gegenüber derjenigen von Rasse oder Klasse in der Subjektkonstitution nicht vorgängig ist: ja, daß das Symbolische tatsächlich zugleich auch in einer Anzahl rassisierender Normen besteht und daß die Normen der Echtheit, von denen das Subjekt hervorgebracht wird, rassisch geprägte Konzeptionen des ›biologischen Geschlechts‹ sind« (ebd., S. 176). Erst Gender, Class und Race gemeinsam lassen das Subjekt entstehen, das damit zu einem Ort widersprüchlicher Zuschreibungen wird.

E INLEITUNG | 15

eine Verallgemeinerung darstellt. Renner gelangt zu der Überzeugung, dass die Filmbilder infolge dieser Strategie in einer Wechselbeziehung von Analyse und Reduktion stehen, »indem sie soziale Codierungen vornehmen, diese im gleichen Zug aber auch schon wieder aufheben und auf ein Grundmuster reduzieren«: Die überschaubare Figurenkonstellation und die Kargheit des Inventars stellen eine ästhetisch generierte Komplexitätsverminderung dar, welche die Muster gesellschaftlicher Strukturen deutlich werden lässt und in diesem Sinne eine aufklärerische, analytische Funktion besitzt. Es folgen zwei Artikel zu dem frühen, bisher weitgehend ignorierten Film WHITY, Fassbinders erster Zusammenarbeit mit dem Kameramann Michael Ballhaus. Wie Claudia Liebrand in ihrem Beitrag zeigt, erweist sich die hier anzutreffende Verbindung von RaceMelodram und (Anti-)Western als ein besonders wirksamer Kunstgriff, sich des Minoritätenproblems anzunähern: So steht die Hauptfigur Whity, unehelicher Sohn eines weißen Plantagenbesitzers und dessen Köchin, stellvertretend für eine Minderheit der Minderheit: für Afroamerikaner, die entweder aufgrund ihrer Herkunft (als ›Mischlinge‹) oder ihrer äußeren (hellhäutigen) Erscheinung nicht eindeutig als ›Schwarze‹ definiert werden können und in ihrem Zugehörigkeitsgefühl doppelt irritiert werden. Ihr Versuch einer Integration in die Mehrheitsgesellschaft wird von den ›Weißen‹ als Anmaßung brutal zurückgewiesen, die ›Schwarzen‹ werten ihr anbiederndes Verhalten hingegen als Verrat. WHITY greift laut Liebrand einerseits den für das Genre Melodram charakteristischen Verstoß gegen die gesellschaftliche Ordnung auf, benutzt andererseits aber auch Motive des Western und verkehrt sie in ihr Gegenteil. Anstatt allein dem Sonnenuntergang entgegenzureiten, geht Whity schlussendlich mit einer Frau zu Fuß gen Osten. Ort der gemeinsamen Sehnsucht ist nicht der ›Wilde Westen‹, sondern der ›zivilisierte Osten‹, den sie allerdings aller Wahrscheinlichkeit nach nicht erreichen werden. Das Schlussbild zeigt die beiden Liebenden tanzend, aber ohne Wasservorräte in der Wüste. Mit Michel Foucault gedacht wird die Wüste auf diese Weise, so Liebrand, zur »Heterotopie«, das heißt zu einem »Ort, an dem der ›Mischling‹ mit der weißen Freundin, die als Prostituierte auch eine Außenseiterin ist, zusammenkommen kann«. Insofern will Liebrand Whitys häufig (auch von Fassbinder selbst) kritisierte Bereitschaft zum Gehorsam, seinen mangelnden Widerstandsgeist und seine fehlende Solidarität mit anderen Unterdrückten relativiert wissen. Ihrer Meinung nach besitzen die

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Nicholsons als Gruppe kein Zentrum und folglich auch keine Peripherie. Alle Figuren sind auf ihre Weise als randständig stigmatisiert; Whity besetzt nur eine prekäre Position (unter anderen) in diesem Herrschaftssystem. Diesem Befund Claudia Liebrands stimmt Priscilla Layne zu, die ebenfalls Whitys absoluten Gehorsam zu hinterfragen sucht – hier allerdings (im Rückgriff auf Kaja Silverman) aus der Perspektive des Sadomasochismus als einem zentralen Element in Fassbinders dystopischem Universum. Anders jedoch als Silverman, die den Sadomasochismus als Strategie begreift, um Maskulinität zu dekonstruieren, richtet Layne ihr Augenmerk darauf, wie auf diese Weise soziale Hierarchien problematisiert werden. Die Sexualität erweist sich als ›Störfaktor‹ etablierter Hierarchien. So erlangt der ethnisch und ökonomisch unterlegene Whity mithilfe seiner ambivalenten und stark ausgeprägten Sexualität durchaus sehr konkret Macht über seine weißen Herrscher. Während die Figuren, die in anderen Filmen (wie KATZELMACHER, ANGST ESSEN SEELE AUF und DIE EHE DER MARIA BRAUN) ›das Andere‹ repräsentieren, ›Others-from-Without‹ sind, handelt es sich bei Whity um einen ›Other-from-Within‹, der die Erinnerung an das ›schwarze‹ Begehren seines ›weißen‹ Vaters auf Dauer stellt und auf diese Weise dessen Superioritätsanspruch unterwandert. Zudem dient der Einsatz sadomasochistischer Praktiken auch auf diskurstheoretischer Ebene der Befreiung Whitys, weil sie ihn aus dem schwarzen Stereotyp lösen. Bei Whitys ultimativem Akt der Befreiung, dem Mord an seiner Familie, handelt es sich allerdings um einen persönlichen, keinen politisch motivierten Racheakt. In diesem Sinne ist Whity, so Layne, kein Rollenmodell für die Revolution; der Sadomasochismus hilft Whity einen Ausweg aus seiner Opferrolle zu finden, sein Fehler besteht jedoch darin, dass er, wie viele Figuren Fassbinders, im System, das ihn unterdrückt, mitspielt. Hier zeigen sich Parallelen zu Fassbinders DIE DRITTE GENERATION: Laut Layne benutzt Fassbinder das ungewöhnliche Setting des amerikanischen Western und die Thematisierung der amerikanischen Sklaverei auch zur Annäherung an den deutschen Terrorismus, um also über die Darstellung der unterschiedlichen Beziehungskonstellationen zwischen Unterdrückern und Unterdrückten Wege auszuloten, wie Freiheit zu erlangen ist, das heißt zu zeigen, wie man sich wehren kann, »ohne dabei in der Wüste zu landen« (Fassbinder).

E INLEITUNG | 17

Whity, dessen Geschichte letztlich auch auf das Problem der afrodeutschen ›Mischlingskinder‹ schwarzer GIs nach dem Zweiten Weltkrieg anspielt, verweist in diesem Sinne indirekt auf ein weiteres Phänomen bundesdeutscher Aktualität der 1960er und 1970er Jahre: das der so genannten Gastarbeiter aus Portugal, Spanien, Italien, Jugoslawien und der Türkei, das heißt der »Neger Europas« (Ernst Klee) – ein Problemfeld, das Fassbinder in KATZELMACHER und ANGST ESSEN SEELE AUF thematisiert. Özkan Ezli zeigt in seiner Analyse der beiden Filme, in welcher Weise Fassbinder ausgehend von der Peripherie der Gesellschaft zu erklären versucht, wie in ihrem Zentrum Faschismus entsteht und wirkt. Im Mittelpunkt der Fassbinder’schen Versuchsanordnung stehen dabei die Vermessung von Distanzen zwischen Peripherie und Zentrum und die Verortung der damit einhergehenden Grenzziehung, die sich jedoch als hybrid erweist: Der Fremdenhass scheint Teil des Zentrums zu sein, tatsächlich gehört die gezeigte Gruppe jedoch zur Peripherie. Gleiches gilt für das Verhalten des so genannten Gastarbeiters, dessen Position sich nicht auf die Opferrolle beschränken lässt. Laut Ezli gelingt es Fassbinder in seiner vor allem auf räumliche Aspekte konzentrierten Aufschlüsselung des Gruppenverhaltens zu zeigen, von welchen Spannungen die Beziehungen geprägt sind. So wird mögliche Intimität sowohl sprachlich als auch räumlich verhindert: durch totale Kommunikation qua absoluter Indiskretion bzw. Denunziation sowie ein gänzlich undifferenziertes Verhältnis zwischen öffentlichem und privatem Raum, d.h. einer weitgehend aufgehobenen Innen-Außen-Unterscheidung und die faktische Beziehungslosigkeit der Gruppe, die allein durch die ausbeuterischen Machtverhältnisse zusammengehalten wird. In ANGST ESSEN SEELE AUF setzt sich die Irritation der Repräsentationslogik von Peripherie und Zentrum dann bis ins Innere der Beziehung von Ali und Emmi fort. Auf diese Weise wird eine Vieldeutigkeit generiert, die zeichentheoretisch nicht mehr aufgeschlüsselt werden kann. Die Position Emmis ist, so Ezli, nicht auf die Opferrolle beschränkt, da sich diese diskursanalytisch nicht von der Mehrheitsgesellschaft trennen lässt. Ihr Verhalten spiegelt auf diese Weise nicht nur die heterogene Struktur der Randzonen, sondern auch die ihres Zentrums. Kati Röttger und Maren Butte analysieren in ihrem Betrag zu den Filmen ANGST ESSEN SEELE AUF, DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT und DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS Fassbinders enges und zugleich ›entfremdetes‹ Verhältnis zum Genre des Melo-

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drams insbesondere in räumlicher Hinsicht. Dabei begreifen sie, Thomas Elsaesser folgend, die »Achse des Sehens und Gesehen-Werdens« in Fassbinders Figur-Bild-Komposition als konstitutives Moment für Beziehungen, Körperkontakte und soziale Hierarchien. So stellt das Fremde des Fassbinder’schen Melodramas kein statisches Moment, sondern einen Prozess des Fremd-Werdens dar, der durch eine spezifische spannungsreiche Dramaturgie der Blicke und Räume erzeugt wird; diese lässt die soziale und ästhetische Fremdheit ineinander greifen. Statische Momente und fließende Bewegung sind in der Verschaltung von Körpern, Objekten und Medien verdichtet und (de-)regulieren nicht nur Machtverhältnisse, sondern konterkarieren auch Bilder von Anderen mit fremden Blicken. Fassbinder nutzt die im Melodram üblichen Muster von Beherrschung und Unterdrückung in Verbindung mit Moral, Liebe und Leidenschaft, um einerseits die individuelle Sehnsucht nach Zugehörigkeit, andererseits aber auch Momente der Entfremdung, Einsamkeit und emotionalen Ausbeutung zu zeigen. Auf diese Weise, so der Befund der beiden Autorinnen, gelingt Fassbinder eine paradoxe Reformulierung des Melodrams als Genre der Beunruhigung sowie die Sichtbarmachung von Exklusion und Inklusion als Prozess. An diesen Befund knüpft der Artikel von Nicole Colin an, der das Schlachtfeld der Liebe als »das beste, hinterhältigste und wirksamste Instrument gesellschaftlicher Unterdrückung« (Fassbinder) thematisiert. Colin kommt mit Renner überein, dass die Besonderheiten der von Fassbinder geschilderten ›Fälle‹ immer auch einen verallgemeinernden Charakter besitzen. So erweist sich – nimmt man Fassbinder beim Wort und interpretiert den Film MARTHA als eine Variation des Romans Effi Briest von Fontane – die Opfer-Täter-Struktur in MARTHA nicht als Sonderfall sadomasochistischer Perversion, sondern als Spiegel der strukturellen Grundkonstante aller Beziehungen. Die von Fassbinder immer wieder perspektivierten Unterdrückungsmechanismen ›ganz normaler Verhältnisse‹ innerhalb minoritärer Gruppen werden dabei nicht in ihrer vernichtenden Wirkung problematisiert, sondern, ganz im Gegenteil, in ihrer gesellschaftlichen Vitalität gezeigt, von der Täter und Opfer gleichermaßen abhängen. Damit liefert Fassbinder eine ›außermoralische‹ Beschreibung von Unterordnung, Anpassung, Qual und Leiden als aktiven, performativen, somit auch kreativen und Macht produzierenden Vorgängen, oder, mit Foucault gesprochen, als positiv, diskursvermehrend, lusterregend und wissens-

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produzierend. Diese Perspektive, die letztlich eine radikale Infragestellung des klassischen Täter-Opfer-Verhältnisses impliziert, muss als das eigentlich skandalöse Moment des Filmes bezeichnet werden. So entspricht die provokante Nüchternheit der Fassbinder’schen Analyse sexueller Machtmechanismen einer drastischen ›anti-aufklärerischen‹ Empathie- und Utopielosigkeit. Carol Poore weist in ihrem Artikel darauf hin, dass das Phänomen der Behinderung in Fassbinders Film CHINESISCHES ROULETTE bisher kaum Aufmerksamkeit erregt hat. So wird dem Film gemeinhin zwar ästhetische Brillanz bescheinigt, sozialpolitische Relevanz jedoch abgesprochen. Dieser Einschätzung widerspricht Poore und fokussiert in ihrer Beweisführung die Darstellung der Behinderung – verstanden nicht als individuelles oder medizinisches Problem, sondern vielmehr als kulturelles Konstrukt und daher Schlüssel zu den sozialpolitischen Statements des Films. CHINESISCHES ROULETTE gehört, so ihre These, nicht zuletzt durch die deutlichen Verweise auf Euthanasie und Konzentrationslager, zu der Gruppe von Fassbinders Filmen, die sich mit den Machtverhältnissen und Kontinuitäten der deutschen Vergangenheit beschäftigen. Lässt sich, Priscilla Layne folgend, in WHITY Sexualität als ›Störfaktor‹ bezeichnen, übernimmt diese Funktion hier Angelas Gehbehinderung: Der ungewohnte Anblick ihrer Beinschiene und die Geräusche, die von ihrem Körper ausgehen, verhindern einen Austausch und eine Verständigung mit der Mehrheitsgesellschaft. Gleichzeitig prädestiniert die Außenseiterposition Angela zur Beobachterin und damit zum Mittelpunkt des im Film thematisierten Spiels des Verschleierns und Enthüllens der Wahrheit, für welches das Chinesische Roulette als Chiffre steht. So werden Aussagen der verschiedenen Figuren wiederholt durch unterschiedliche Perspektivierungen in Frage gestellt und als doppelbödige Wahrheiten gezeigt. Selbst Angelas Gehbehinderung wird durch das Auftauchen eines ›falschen Bettlers‹ (als Verweis auf die Möglichkeit des Simulierens) in ihrer Glaubwürdigkeit unterwandert. Dabei bedient sich Fassbinder, so Poore, vorherrschender kultureller Stereotype von Menschen mit Behinderungen: einerseits des schwachen, hilflosen Opfers, andererseits des (starken) Menschen, aus dessen physischer Andersartigkeit eine bösartige und unter Umständen auch gefährliche Verbitterung und Rachsucht erwachsen kann. Das Ergebnis ist eine Doppelrolle, die zwischen diesen beiden Polen oszilliert. So verkörpert Angela einerseits das monströse, verzogene, bösartige Kind aus einem Horrorfilm, andererseits das mit-

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leiderregende Opfer im Rüschenkleid. Problematisch ist der Film, weil er die von ihm klischeehaft eingesetzten Stereotype nicht nachhaltig reflektiert. Anders als Fassbinders Figur des »Reichen Juden« in Der Müll, die Stadt und der Tod provozierte die hilflose und zugleich bösartige Angela allerdings keinerlei Proteste – was, so Poore, aus heutiger Perspektive als das eigentliche Skandalon erscheint. Franziska Schößler wirft in ihrer Analyse der Filme IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN und DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS die Frage nach der ›Vergleichbarkeit‹ von Exkludierten bei Fassbinder auf. So werden in beiden Filmen sowohl queere als auch jüdische Figuren in ihren Traumatisierungen und Funktionen für das kapitalistische Ausbeutungssystem untersucht. Da Fassbinder bei seiner Darstellung von Minoritäten keiner planen Opfer-Täter-Dichotomie folgt, sondern die Ausgegrenzten in ihrer (mitunter Lust erzeugenden) Anpassung an die Unterdrückung zeigt, das heißt inkludierende Exklusionen und exkludierende Inklusionen, wechseln die Positionen des Stärkeren und Schwächeren beständig. Die gesellschaftliche Hierarchie wird nicht essentialistisch, sondern performativ verstanden, und das Verhältnis von Oben und Unten spiegelt sich entsprechend innerhalb der Randbezirke. Dabei kommt Schößler zur Auffassung, dass beide Filme auf der Annahme basieren, der ›kalte‹ Kapitalismus sei eine unmittelbare Fortführung des Nationalsozialismus und würde in seinem Funktionieren von instrumentalisierten (unangreifbaren) jüdischen Überlebenden der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gestützt. Fassbinder konterkariert zwar die queeren Identitätsdiskurse seiner Zeit, bietet in ethnischer Hinsicht jedoch eine antijüdische Identitätskonstruktion an, die historische Klischees fortschreibt. Die zentrale allegorische Schlachthofszene von IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN verunklart das Verhältnis der Minoritäten allerdings und legt eine enthistorisierende Lesart allgemeinen Leidens nahe, die der zeitgeschichtlichen Situierung widerspricht. Sehr viel deutlicher sind in DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS die ›kalten‹ Ausbeutungsmaschinerien als jüdisch und amerikanisch markiert. Mit der Ärztin Marianne Katz und dem unkommentierten Reichtum des (morphinsüchtigen) Paares schreibt der Film die problematische Zuordnung von Reichtum und Judentum und damit die antisemitische Kapitalismuskritik des 19. Jahrhunderts fort. Fraglich bleibt daher, so Schößler, ob nicht angesichts der fatalen Ähnlichkeit der neuen Opfer der Nachkriegszeit mit den ›jüdischen Monstren‹ der antisemitischen Propaganda eine Analy-

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se des gesellschaftlichen Machtzentrums geeigneter gewesen wäre, um die bundesdeutschen Hierarchien vorzuführen. Volker Woltersdorff analysiert, ob es sich bei den von Fassbinder dargestellten Homosexuellen tatsächlich um Angehörige einer Minorität handelt, oder ob Homosexualität vielmehr, der Annahme Freuds folgend, als ein bei allen Menschen angelegtes Potenzial zu verstehen ist. Diese beiden gegensätzlichen Auffassungen münden in zwei unterschiedliche Konzepte zur Bekämpfung der Homophobie: Während das universalistische darauf aus ist, die gesamte Gesellschaft zu verändern, zielt die minorisierende Sicht auf eine Politisierung der Betroffenen und Schärfung ihres Bewusstseins als Angehörige einer unterdrückten Minderheit. Woltersdorff vertritt die These, dass Fassbinder, anders als die Homosexuellenbewegung der 1970er und 1980er Jahre, in seinen Filmen homosexuelle Identität durch Klassenwidersprüche oder Konflikte um Alter, Rassismus und Geschlechterkonformität sprengt, also keine Stimulierung kollektiver Solidarität, sondern eine Betonung der Machtkonflikte innerhalb der schwulen Community anstrebt. Woltersdorff präsentiert drei zentrale anti-identitäre Strategien Fassbinders: Das Prinzip der Universalisierung (wie wir es in FAUSTRECHT DER FREIHEIT und DEUTSCHLAND IM HERBST finden) geht von einer Dominanz der Klassenlage gegenüber der sexuellen Identität aus und versteht die Probleme Homosexueller lediglich als Spiegel der Gesamtgesellschaft. Die zweite Strategie, Camp genannt, wird von Fassbinder so eingesetzt, dass die »subkulturalistische Homosexualität« (Diedrich Diederichsen) zum Maßstab aller Dinge avanciert. Auf diese Weise wird, so Woltersdorff, das Minoritäre nicht nur affirmiert, sondern in einer Weise totalisiert, dass es letzten Endes (wie in DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT und QUERELLE) ins Universelle umschlägt. Die dritte Methode besteht in der Dekonstruktion von Identität (beispielsweise bei IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN), indem die Unterscheidung zwischen heterosexueller, homosexueller und transsexueller Identität demontiert und die Frage nach der geschlechtlichen oder sexuellen Identität neben andere gesellschaftliche Widersprüche gerückt wird. Fassbinders ästhetische Absage an die Idee einer homosexuellen Minorität führen schlussendlich zu dem politischen Projekt des Minoritär-Werdens, verstanden als sexuelle Dissidenz, die nicht zu einer homosexuellen Identität gerinnt – ein Ansatz, der Fassbinder zu einem Vorreiter der Queer-Bewegung macht.

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Auch Senta Siewert setzt sich mit Fassbinders Film IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN auseinander, der ihrer Meinung nach eine neue Sicht auf die Frage nach Geschlechtlichkeit und Gesellschaftlichkeit entwickelt. Siewert bezieht sich (ähnlich wie Priscilla Layne) auf Kaja Silverman, welche (ausgehend von Freud) die physische Degradierung in den Vordergrund stellt. Elvira gleicht laut Silverman einem Sadomasochisten, der den Körper, dem er Schmerzen zufügt, »beherrscht«. Silvermans Interpretation des Films als eine Auseinandersetzung Fassbinders mit dem Selbstmord seines Ex-Liebhabers Armin Meier, der hier in eine Frau verwandelt werde, damit Fassbinder ihn als Elvira durchdringen und eine Einswerdung mit ihm – als eine Art letzter Sexualverkehr – erreichen könne, stimmt Siewert indes nur bedingt zu, da die Frage der Begehrenslogik auf diese Weise unterbelichtet wird. Gleichermaßen kritisiert die Autorin Silvermans Deutung des Scheiterns Elviras als Masochismus, der damit zur Grundlage der Filminterpretation avanciert. Im Gegensatz dazu orientiert sich Siewert an Thomas Elsaessers politischer Interpretation, die Elvira als ein »nobody« liest: Der Film entziehe sich jeder festgelegten Identität. In der »utopischen« Figur der Elvira werde der Drang zur Wiedergutmachung von etwas Unwiderruflichem – des Holocaust – in den Körper eingeschrieben. Die Figuren haben dabei (wie in Der Müll, die Stadt und der Tod) die historischen Rollen vertauscht, der Jude wird zum Täter, die nicht-jüdische Deutsche zum Opfer. Neben Silvermans psychoanalytischer und Elsaessers politischer Deutung sollte nach Siewert darüber hinaus die formale Struktur des Films Berücksichtigung finden: Der geschlagene, gedemütigte und kastrierte Körper findet auf verschiedensten Ebenen im Motiv des Zerschneidens eine Entsprechung: So erhält es über Toncollagen eine akustische sowie durch fragmentierte Handlungsorte eine räumliche Dimension und erzeugt so das Gefühl einer absoluten Orientierungslosigkeit der Protagonisten, die sich auf den Rezeptionsprozess überträgt. Nike Thurn behandelt in ihrem Artikel die Repräsentation von Juden und Antisemiten in Fassbinders Theaterstück Der Müll, die Stadt und der Tod, das eine der größten kulturpolitischen Kontroversen der Bundesrepublik auslöste. Trotz der historischen Distanz von 35 Jahren kann in der Forschung immer noch keine Einigkeit darüber erzielt werden, ob das Stück tradierte antisemitische Stereotype fortschreibt oder aber vorführt und destruiert. Ausgehend von der Frage, ob Fassbinders Text ein anderes Skandalon als das des negativen Judenbildes

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enthält, konzentriert sich Thurn in ihrer Analyse der jüdischen Figur auf die vielfach unbeachtet gebliebenen vermeintlichen Nebenfiguren aus der Mehrheitsgesellschaft. Dabei entlarvt sie den zuweilen wie eine antisemitische Zerrfigur wirkenden »Reichen Juden« als Projizierung von Klischees, die durch das ihn umgebende, fragwürdige Figurenensemble demontiert werden. Auf diese Weise erweisen sich die antisemitischen Stereotype als übertragene Vorurteile und stellen letztlich, so Thurn, den »Mythos der Normalisierung« der deutschen Nachkriegsgesellschaft in Frage. Die Fassbinder-Kontroversen enthalten insofern noch zahlreiche »blinde Flecken«, deren Beschreibung gesellschaftspolitische Aufschlüsse verspricht. Uwe Jun und Tilman Heisterhagen untersuchen in ihrem Beitrag zu Fassbinders DIE EHE DER MARIA BRAUN den Stellenwert der Fußballreportage als Mythos der deutschen Nachkriegsgeschichte bzw. als Gründungsmythos der Bundesrepublik Deutschland und dessen Dekonstruktion durch Fassbinder. Nach einer operativen Definition des Begriffs des politischen Mythos und seiner Funktion im gesellschaftlichen Kontext konstatieren die Autoren die kollektive Bereitschaft von Historikern und Publizisten, den 1954 errungenen Weltmeistertitel zu einem markanten Datum der Bundesrepublik zu erklären. Der Treffer von Helmut Rahn und dessen glückliche Verteidigung bis zum Abpfiff des Spieles haben sich insbesondere durch die emotionalisierende Reportage Herbert Zimmermanns ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Ausgehend von diesem Ergebnis sehen Jun und Heisterhagen in der Schlusssequenz des Films DIE EHE DER MARIA BRAUN, dessen letzte achteinhalb Minuten von der Reportage Zimmermanns aus dem Off begleitet werden, eine mythenkritische Umcodierung des »Wunders von Bern«. Die durch Maria ausgelöste Explosion am Ende des Filmes wird durch das »Aus, aus, aus« der sich überschlagenden Stimme Zimmermanns, das den triumphalen WM-Erfolg beschließt, zum Kommentar auf das katastrophale Ende der privaten Geschichte von Maria und Hermann, betreibt gleichzeitig aber auch eine sehr wirkungsvolle Entsakralisierung jenes »Wunders«. Indem Fassbinder hierdurch indirekt auf den emotionalen und politischen Niedergang verweist, welchen die Nachkriegsgesellschaft in den 1950er Jahren durchlebte, dementiert er auch den Anspruch des Fußballs, Integrationsmedium des Nationalen zu sein und spricht dem Bern-Mythos die Kraft zur Orientierung in Gegenwart und Zukunft ab.

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Irina Gradinari analysiert die Umcodierung der Kriegs- und Holocaustnarrative in LILI MARLEEN und deren Bedeutung für die Darstellung von Minoritäten. Ausgehend von der harschen Kritik an dem Film, dem man unter anderem seine Imitation der nationalsozialistischen Ästhetik vorwarf, in der sich Fassbinders Faszination für den Faschismus zeige, stellt Gradinari die Frage, auf welche Weise rassistische Bilder überhaupt thematisiert werden können, ohne den Diskurs fortzuschreiben. Im Rückgriff auf Judith Butler verweist die Autorin auf die Gefahr, den Rassismus in seiner Kritik beschreibend zu affirmieren, kommt im Blick auf LILI MARLEEN jedoch zu dem Ergebnis, dass Fassbinder in seiner Nachahmung der NS-Ästhetik die rassistischen nationalsozialistischen Stereotype zwar aufruft, diese jedoch durch diverse Verfremdungsverfahren ironisiert. Dies geschieht unter anderem, ähnlich wie in Der Müll, die Stadt und der Tod und IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN über die inszenierte Verschränkung von Minorisierungsdiskursen: Willies Position als Mitglied der Mehrheitsgesellschaft (in ethnischer Hinsicht) wird durch ihr Frausein hierarchisch konterkariert. Gleichzeitig avancieren – dadurch, dass die NS-Diktatur als die historische ›Abweichung‹ dargestellt wird – die (eigentlich minoritären, exkludierten) jüdischen Figuren als Repräsentanten der Vorund Nachkriegsordnung zur ›Norm‹. Auf diese Weise unterläuft Fassbinder zwar, wie Gradinari betont, die antisemitischen Stereotype, reproduziert jedoch – mit der Opposition des ›wahren‹, über der Zeit stehenden männlichen Künstlers und der der trivialen, vergänglichen Massenkultur angehörenden weiblichen Schlagersängerin – nolens volens eine patriarchale Asymmetrie. Trotz ambivalenter Erzählstrategien und Verfremdungsverfahren bleiben die binären GeschlechterSemantiken im Kontext der Kontrafaktur der jüdischen Opferposition also bestehen. Valentin Rauer beschäftigt sich mit der Frage, inwiefern die Terroristen in Fassbinders DIE DRITTE GENERATION – einem Film, der weder im linken noch im konservativen Milieu der damaligen Zeit auf Begeisterung stieß – eine Imagination des Minoritären darstellen. Der Film, so Rauer, konstruiert minoritäre Positionen nicht anhand ethnischer oder gegenderter Diskurse, sondern durch intertextuelle politische Bezüge. Ausgehend von einer allgemeinen Beschreibung des soziologischen Generationenkonzepts untersucht Rauer, wie Fassbinder dieses Prinzip auf politische, familiäre und historische Generationen überträgt und welche kollektiven Kategorien und Kollektivsingu-

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lare er generiert. Auf diese Weise wird die Geschichte um die so genannte »Dritte Generation« einer linksterroristischen Gruppe in den makrohistorischen Zusammenhang der deutschen Nationalgeschichte gestellt. Durch transhistorische und intertextuelle Bezüge entsteht eine ›Dritte Protest Generation‹ nach 1968, welche die Ereignisse von 1848 und 1919 symbolisch wiederholt und auf diese Weise den Bruch der Generation mit der Kontinuität der Nation verbindet. Fassbinder entwirft laut Rauer das Bild einer politischen Generation als ›Erfahrungsminderheit‹, die dadurch entsteht, dass die historischen Erfahrungen einer idiosynkratischen Generation stets als singulär, exklusiv und irreversibel gelten. Generationen können daher minoritäre Positionen unter den Angehörigen eines majoritären Kollektivs subdifferenzieren, die noch exklusiver als ethnische Gruppen sind. Auf der gleichen Ebene dekonstruiert der Film jedoch auch die Selbstpositionierung des dargestellten Milieus als politische Minderheit, denn die ›Enkel‹ leben, insbesondere mit Blick auf die Genderordnung, ebenso bürgerlich, wie die Welt, die sie zu bekämpfen trachten. In diesem Sinne gelingt es Fassbinder, über den Begriff der Generation den Widerspruch zwischen einem politischen Bruch und der Fortschreibung kollektivistischer Semantiken und Deutungsmuster zu veranschaulichen. Abschließend setzt sich Alexander Zons in seinem Artikel noch einmal grundsätzlich mit der filmsemantischen Veranschaulichung politischer Verhältnisse bei Fassbinder auseinander. Ausgehend von den Überlegungen Jacques Rancières zum Verhältnis von Ästhetik und Politik konstatiert Zons die generelle Notwendigkeit, »dem mimetischen Drang etwas entgegenzusetzen« und die Narrative mit Bildern zu konfrontieren, die allzu stereotypen Erzählmustern widersprechen. Ähnlich wie Woltersdorff kann Zons bei Fassbinder keinerlei engagierte Parteinahme für Minderheiten entdecken, sondern konstatiert die schonungslose Gleichbehandlung, mithin Universalisierung der Figuren. Ausgehend von einer Verlierer-Dramaturgie wendet sich Fassbinder dabei dem Melodram zu, wobei von den vier Merkmalen, die das Genre für Fassbinder interessant erscheinen lassen – Figurenzeichnung, gesellschaftlicher Bezug, Begehren und Zuschauereinbindung – Zons die Hinwendung zum Publikum als den entscheidenden Impuls wertet, der sich auch in Fassbinders affirmativem Verhältnis zu Hollywood spiegele: Angesichts der Tatsache, dass sich die politische Wirksamkeit in erster Linie im Blick der Zuschauer_innen entfaltet,

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heißt Sein für Fassbinder vor allem wahrgenommen zu werden. Dabei wird dieses Verhältnis des Sehens und Beobachtens über die Filmästhetik bzw. -sprache auch in den Film selber transponiert, wobei der Blick das Opfer markiert, das sich im missbilligenden Blick seiner Beobachter_innen spiegelt; die starre Haltung der Kamera entspricht dem starren Blicken der Zuschauer_innen. In dieser selbstreflexiven Thematisierung des Mediums Film deutet sich laut Zons die utopische Möglichkeit der Kamera an, Stereotype multiperspektivisch aufzubrechen und klischeehafte Narrative zu konterkarieren. An dieser Stelle schließt sich der Kreis zur zentralen Streitfrage der möglichen Bestätigung von Vorurteilen durch ihre kritische Vorführung: In diesem Sinne lässt sich – wenngleich nicht abschließend – konstatieren, dass es Fassbinder mithilfe unterschiedlichster Strategien immer wieder gelungen ist, den Zuschauer zu irritieren und durch die Darstellung intrakultureller Konflikte Exkludierter die Vorstellung homogener Identitäten als Konstrukt zu unterwandern und beunruhigend nutzbar zu machen. Dabei bediente er sich vielfach subversiver Identitätsdispositive, die erst weit später als solche erkannt wurden und Einzug in den theoretischen ›Mainstream‹ erhielten. Ungebrochen asymmetrische Gegenbegriffe, starr manichäische Erklärungskonstrukte weichen der Darstellung flexibler und fluider In- und Exklusionsmechanismen. Seine Gesellschafts- und Minoritätenporträts arbeiten mit so unterschiedlichen Konzepten wie Passing, Mimikry und performativen Gender-, Race- und Class-Auffassungen, die Fassbinder lange vor ihrer Etablierung einsetzt und deren Provokation in der Dekonstruktion traditioneller Imagines von ›Anderen‹ besteht. Die Ermächtigung seiner liminalen Figuren, die in der Schwebe bleiben, schwer zu fassen und zu verorten sind, ist durch ihre widerständige Darstellung mitunter zwar weniger offensichtlich, dafür aber umso nachdrücklicher wirksam. Indem sie der Codierung des ›hehren Opfers‹ widersprechen und dem aufgezwungenen Gestus des Duldens bisweilen mit vehementen Täter-Attributen entgegentreten, werden sie vom Objekt zum handelnden, selbst bestimmten Subjekt.10 Durch die

10 Umgekehrt wird das vermeintlich souveräne Agieren der Vertreter einer behaupteten Mehrheitsgesellschaft als Fassade gezeigt, durch die eine eigene ›Randständigkeit‹ nur notdürftig verdeckt oder gezielt konterkariert wird.

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systemischen Kopplungen von Exklusionen werden diese Grenzgänger zudem ausdifferenziert und gewinnen eine Komplexität, die Minoritätendarstellungen für gewöhnlich – bis heute – vermissen lassen. Der Band entstand auf der Grundlage eines interdisziplinären Workshops im Rahmen des Teilprojekts C9 des Sonderforschungsbereichs »Fremdheit und Armut. Wandel von Inklusion- und Exklusionsformen von der Antike bis zur Gegenwart« an der Universität Trier, dem an dieser Stelle ganz herzlich für die Finanzierung dieser Publikation gedankt sei. Ohne die tatkräftige und unermüdliche Hilfe von Kathrin Wirtz, Carolin Amlinger und Mirjam Knapp wäre sie nicht in dieser Form möglich gewesen: Auch ihnen möchten wir daher ganz besonders danken.

L ITERATUR Bohn, Claudia: Inklusion, Exklusion und die Person, Konstanz: UVK 2006. Braad Thomsen, Christian: »Der doppelte Mensch«, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Rainer Werner Fassbinder, text+kritik 103 (Juli 1989), S. 3-9. Bronfen, Elisabeth: Vorwort, in: Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur. Mit einem Vorwort von Elisabeth Bronfen, Tübingen: Stauffenburg 2000, S. IX-XIV. Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin: Berlin Verlag 1995. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991. Hall, Stuart: Das Spektakel des ‚Anderen‘, in: ders., Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4. Herausgegeben von Juha Koivisto und Andreas Merkens, Hamburg: Argument 2004, S. 108-165. Koselleck, Reinhart: Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, in: Harald Weinrich (Hg.), Positionen der Negativität, München: Fink 1975 (Poetik und Hermeneutik, Bd. 6), S. 65-104.

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Lauretis, Teresa de: Technologies of Gender. Essays on Theory, Film and Fiction, Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press 1987. Pellegrini, Ann: Performance Anxieties: Staging Psychoanalysis, Staging Race, New York: Routledge 1997. Sparrow, Norbert: »›Ich lasse die Zuschauer fühlen und denken‹: Rainer Werner Fassbinder über Douglas Sirk, Jerry Lewis und JeanLuc Godard«, in: Robert Fischer (Hg.), Fassbinder über Fassbinder, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 2004, S. 405-414. Young, Iris Marion: Inclusion and Democracy, Oxford: Oxford University Press 2000.

Töte Amigo! Zur Archäologie von Fassbinders Filmen in LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD

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Von einem »melancholischen Film«1 spricht der nicht begeisterte Rezensent, damals selbst ein enfant terrible des Kulturbetriebs, und kritisiert die Untauglichkeit der Mittel, die der Regisseur gewählt habe, um die Melancholie zu bebildern, er beschreibt »Figuren, die langsam, mit dem Profil zum Zuschauer, ins Bild kommen, eine kahle Wand entlang durchs Bild gehen und wieder aus dem Bild verschwinden, starre Blicke in die Kamera vor den gleichen kahlen Wänden« und blickt befremdet auf eine »manierierte Geometrie der Personen« 2. Dies alles, so führt er weiter aus, verleihe »dem Film einen falschen NiemandslandCharakter«3. Was der Kritiker Peter Handke auf der Leinwand sieht, mag sein Urteil begründet erscheinen lassen, denn für ihn zählt allein das Kriterium einer visuellen Evidenz, die er selbst immer wieder auch im Schreiben zu erreichen versucht, indem er sich an Bildern und Filmbildern orientiert. In der Tat erkennt der Autor sehr genau die Besonderheit der Fassbinder’schen Bildstrategie in dessen Film LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD (BRD 1969). Der Regisseur arbeitet vorwiegend 1

Handke, Peter: »Ah, Gibraltar!«, in: Die Zeit Nr. 28 vom 11.07.1969, S. 13-14, hier S.14

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mit statischen Einstellungen, häufig zeigt die Kamera die Protagonisten von vorn, nicht selten auch nebeneinander arrangiert. Dabei blicken sie wie bei einem Polizeifoto direkt in die Kamera, die Überbelichtung betont diese Fixierung des Augenblicks. Die Kamera, die diese Bilder präsentiert, erscheint deshalb wie eine autonom agierende Instanz innerhalb der Kriminalgeschichte, die der Film erzählt. Auch die Filmmusik von Peer Raben und Holger Münzer fungiert in der Regel nicht wie die mood music Hollywoods, vielmehr ist sie durchweg kontrapunktisch eingesetzt. An den wenigen Stellen, in denen zugleich aktuelle Schlagermusik zu hören ist, wie im Supermarkt oder in der intimen Szene zwischen Bruno und Joanna, baut die Tonspur eine Spannung zur Handlung auf. Darüber hinaus bewirken die konstruierten Bilder Fassbinders, die häufig wie Stills wirken, in der Abfolge der filmischen Einstellungen selbst einen Illusionsbruch, wie er sonst kinematographisch nur im Wechsel von bewegtem Filmbild und Aufblende zum Ausdruck gebracht werden kann. Das Kriminalschema des Films findet seine Ergänzung in einer Bildstrategie, welche die kriminalistische Konstruktion der Handlung mit ihrer medialen Rekonstruktion parallelisiert. Der Verzicht auf technisch hergestellte Illusionen und die perfektionierte Simulation von Realität, die vor allem auf die begrenzten Mittel zurückzuführen sind, die Fassbinder für sein Filmprojekt zur Verfügung standen, unterstreichen diese ästhetische Strategie entschieden. In einer Zeit, in der sich der Italo-Western auch durch eine ausgefeilte Tontechnik profiliert, die nicht nur in der Filmmusik, sondern vor allem im artifiziell erzeugten Klang der Schusswaffen deutlich wird, klingen die tödlichen Schüsse in Fassbinders Film, als seien sie aus Spielzeugpistolen abgefeuert. Die Erschossenen sinken ohne Blut zu Boden, als würden Kinder Gewaltszenen spielen und die Kamera scheint an diesen tödlichen Vorgängen nicht besonders interessiert, verzichtet gerade bei ihnen auf Nahaufnahmen oder schnelle Bewegung. Zuweilen präsentieren sich die von ihr aufgezeichneten Szenen wie abgebrochene Spielzüge in einem Laientheater. Dem Desinteresse an den kriminalistisch relevanten Wendepunkten korrespondiert ein entschiedener Verzicht auf jede psychologische Modellierung der Protagonisten. Fassbinder, der den Franz spielt, spricht fast ohne Betonung, Bruno äußert sich sehr wenig und in der Kommunikation aller Personen miteinander dominieren unvollständige oder elliptische Sätze.

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Deutlich wird das bewusste Abrücken von einer nachvollziehbaren psychologischen Konturierung der Protagonisten in einer Szene, die Fassbinder selbst als Zentralstelle seiner Filmstrategie hervorgehoben hat. Nach dem ersten Mord zeigt eine lange Kamerafahrt Franz, Bruno und Joanna, die eine Straße entlanggehen und dabei auf die Kamera zukommen. Sie sprechen nicht, die Kamera vor ihnen fährt in gleichbleibendem Abstand zu den Figuren rückwärts. Am Straßenrand gibt es keinerlei irgendwie auffallende Objekte oder Orientierungspunkte. Dies dauert gut drei Minuten, in denen sich der Zuschauer zu fragen beginnt, welche dramatische Funktion diese Szene haben mag, bis sich herausstellt, dass sie nur eine lange kommentarlose Überleitung zum nächsten Mord, diesmal an einem Polizisten ist. Im Nachhinein erweist sich diese Passage als ein für Fassbinder typisches Experiment, das auf einem mit kinematographischen Mitteln erzeugten Wechselspiel von Depotenzierung und Potenzierung filmischer Zeichen beruht. Die Fixierung der Kamera auf die Protagonisten lässt die unmittelbar folgende dramatische Zuspitzung der Handlung nicht vermuten, denn der Zuschauer erwartet zunächst, dass sich die Beteiligten zum vorangegangenen Mord äußern, doch dieser bleibt unkommentiert. Dagegen führt die Kontrolle durch einen auffällig unprofessionell wirkenden Streifenpolizisten schon zum nächsten Mord, der wiederum gar nicht gezeigt wird. Dieser Wechsel zwischen der Präsentation und der Aussparung von Handlung und das damit verbundene Oszillieren zwischen der Depotenzierung und Potenzierung von Zeichen unterstreichen Fassbinders Auffassung, dass sich individuelle Handlungen und gesellschaftliche Konflikte in einer Weise vollziehen, die der endgültigen Kontrolle durch die handelnden Subjekte entzogen ist. Das vordergründig bewusst handelnde Subjekt wird somit ausgerechnet im Schema der Kriminalgeschichte, die seit Beginn der Moderne das Kalkül einzelner Handelnder beschreiben will, als ohnmächtig gezeigt. Selbst die gewaltsame Aktion der Protagonisten, die im Mord kulminiert, erscheint nur noch wie ein Spielzug, der durch Entwicklungen notwendig geworden ist, die sich der Kontrolle der Handelnden entziehen. Wie diese Beispiele bereits andeuten, geht Handkes ablehnendes Urteil über das Filmprojekt Fassbinders entschieden fehl, denn dieses operiert keineswegs im Niemandsland. Vielmehr steckt es sehr genau das Terrain ab, aus dem sich seine eigenen Bilder herleiten lassen,

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gleichzeitig entwirft es eine zentrale Konfiguration, die in den späteren Filmen Fassbinders wiederkehrt, erweitert und variiert wird. Diese besteht nicht allein aus einer zentralen Figuren- und Beziehungskonstellation, sondern auch aus einem Setting von intertextuellen und intermedialen Referenzen, das Fassbinders Filme zugleich als Zitatspiele kennzeichnet, die sich an cineastisch wie literarisch gebildete Zuschauer richten. Gerade in der späteren Produktion werden dabei die Bezüge auf die Literatur nicht nur dichter, sondern auch bedeutender. Signifikant wird deren intermediale Vermittlungsstruktur nicht selten dadurch, dass Fassbinder selbst als Kommentator oder Leser im Off eine Verbindung von Bild und Text herstellt. So wird der Regisseur Fassbinder beispielsweise in BERLIN ALEXANDERPLATZ (BRD 1980) zu einem Sprecher, der im Off den Text Döblins liest, so wie er sich schon in seiner Verfilmung von Effi Briest, FONTANE EFFI BRIEST (BRD 1974) nie ausschließlich auf die eigenen Bilder, sondern immer nur auf deren Koppelung und Interaktion mit Fontanes Textvorlage verlässt, die entweder als gesprochenes Wort auf der Tonspur, wiederum mit dem Regisseur als Leser, oder als Text-Insert die filmische Strategie der Illusionierung bricht. Zunächst werden mit dieser Doppelstrategie von intermedialer Referenz und der entschiedenen Stilisierung von Handlungen wie Beziehungen nicht nur wiederkehrende Konflikte konstruiert, die unterschiedliche Filme durchziehen, sondern auch Konstellationen begründet, die mehrere der Filmprojekte Fassbinders miteinander bilden. So entspricht den späteren Filmen über Frauen in der deutschen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts wie DIE EHE DER MARIA BRAUN (BRD 1979), DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS (BRD 1982), LOLA (BRD 1981) und LILI MARLEEN (BRD 1981) eine Gruppe von Filmen über Einzelgänger, der LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD (BRD 1969) zusammen mit GÖTTER DER PEST (BRD 1970) und DER AMERIKANISCHE SOLDAT (BRD 1970) angehört und die man mit guten Gründen als eine »Trilogie der Einsamkeit« 4 apostrophiert hat. Der Rezensent Peter Handke hat einen der intermedialen Bezüge, die Fassbinders Film eröffnet, selbst benannt, es ist Jean-Pierre Melvilles EISKALTER ENGEL (F/I 1967), nach dessen Hauptdarsteller Alain Delon zweifelsohne auch Ulrich Lommel stilisiert ist, der bei Fassbin-

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Spaich, Herbert: Rainer Werner Fassbinder. Leben und Werk, Weinheim: Beltz 1992, S. 117-135.

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der Bruno, den Gegenspieler von Franz verkörpert. Die Faszination des Filmemachers Fassbinder von den französischen Regisseuren kommt hier zum Ausdruck, seine grundsätzliche Orientierung am Film Noir und an dessen Darstellungstechniken. Im Hintergrund stehen auch die amerikanischen Filme von Howard Hawks und Raoul Walsh und das Milieu amerikanischer Gangsterfilme, das nicht nur den Regisseur Fassbinder, sondern auch junge Autoren wie etwa Peter Handke nach 1945 beeindruckt. Mit diesen Referenzen folgt der Regisseur dem Bedürfnis eines kulturellen Neubeginns, der sich nicht mehr an der eigenen nationalen Tradition, sondern ganz entschieden an international wirksamen Vorbildern orientiert. Gleichzeitig überzeichnet Fassbinder offensichtlich die auch in internationalen Filmen immer prägender werdende Spur von Sex und Gewalt. Gerade Straub betont dies: »Ich kenne keinen, der so viel Gewalt in seinen Filmen hat« 5, bemerkt er über Fassbinders frühe Kurzfilme. Besondere Bedeutung erhält dieser Sachverhalt, wenn man berücksichtigt, dass Fassbinder seinen ersten Spielfilm nicht nur Filmemachern wie Jean-Marie Straub, von dem eine ganze Passage in seinen Film einmontiert ist, Eric Rohmer und Claude Chabrol widmet – obwohl Godards VIVRE SA VIE (F 1962) eine Vorlage bildet6 –, sondern auch Lino & Cuncho, in Wahrheit El Nino und El Chuncho, den Protagonisten von Damiano Damianis QUIÉN SABE? (I 1966), der unter dem Titel TÖTE AMIGO! in die deutschen Kinos kam. Gerade dieser Bezug verändert das Kriminalschema, dem LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD folgt, in doppelter Hinsicht. Zum einen steht im Zentrum einer tödlichen Begegnung von Gangstern und Polizei – nicht anders als in

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Mengershausen, Joachim v.: »›Unsere Vorstellungen von Anarchie haben nichts mit Chaos zu tun‹. Rainer Werner Fassbinder über LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD

und das antiteater«, in: Robert Fischer (Hg.), Fassbinder

über Fassbinder, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 2004, S. 179-203, hier S.189. Vgl. auch die gekürzte, umstrukturierte Fassung des Interviews »… eine Wut, wie ich sie habe«, in: Film 8/1969, S. 19-22. 6

Vgl. Limmer, Wolfgang/Rumler, Fritz: »›Alles Vernünftige interessiert mich nicht‹. Rainer Werner Fassbinder über sein künstlerisches Selbstverständnis und die Wurzeln seiner Kreativität«, in: Fischer, Fassbinder über Fassbinder, S. 493-555, hier S. 514. Vgl. Erstdruck des Interviews in: Limmer, Wolfgang: Rainer Werner Fassbinder. Filmemacher, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1981, S. 43-183.

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der Vorlage von Damiani – der Konflikt zweier Männer, die durch äußere Verhältnisse in eine Auseinandersetzung gezwungen werden, welche die geheime Attraktion durchkreuzt, die sie unausgesprochen für einander empfinden. Zum anderen wird der kriminalistische Plot zu einem Modell für die wechselseitige Bedingtheit individueller und gesellschaftlicher Beziehungen. Gerade darin folgt Fassbinder Damiani, der eine typische Konfliktkonstellation des Italo-Western in die politischen Auseinandersetzungen der mexikanischen Revolution verlegt und damit das Handlungsschema des Western in eine politische Konstellation einbettet, die jede individuelle Entscheidung zu einer politisch-gesellschaftlichen werden lässt. Exakt dies entspricht dem Blick Fassbinders auf die Gesellschaft, der seiner Faszination von Kriminalgeschichten eine neue Dimension verleiht. Explizit formulierte er in einem Interview: »Ich weiß nicht, ich finde, dass alles Kriminalgeschichten sind. Ich finde, es gibt nichts, was nicht letztlich kriminell ist. Ich finde auch die ganz normale Unterdrückung von Leuten ist kriminell. Ich könnte fast so weit gehen zu sagen, dass man überhaupt nichts anderes machen kann als Kriminalsachen. Man müsste alles als kriminell deklarieren.«7

Es gehört zur Besonderheit von Fassbinders Filmarbeit, dass er diese Verknüpfung von individuellem Verhalten und gesellschaftlicher Situation grundsätzlich schematisiert und auf der Leinwand in einfachen visuellen Konstellationen präsentiert. Immer wieder konzentriert er sich auf Zweier- oder Dreiergruppen, welche die Darsteller im Fokus der Kamera bilden. Gerade weil diese Figurenkonstellationen gleichzeitig durch die Kargheit des Inventars, einen bloß weißen Hintergrund oder die zu Ausschnitten verkürzten Außenaufnahmen wie Bühnenarrangements wirken, erscheinen die visuellen Konstellationen zugleich als Muster gesellschaftlicher Strukturen, die der Regisseur offensichtlich nur reduktiv, durch Komplexitätsreduzierung zeigen zu können glaubt. Dass Fassbinders Gangsterfilm, wie Alf Brustellin schreibt, »nicht auf der Ebene von schwarzen Limousinen, Maschinengewehrsalven,

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J. v. Mengershausen: »Unsere Vorstellungen von Anarchie haben nichts mit Chaos zu tun«, S. 182.

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sich räkelnder Blondinen und detektivischer Leistungen«8 spielt, ist nur insofern zutreffend als das Inventar auf einzelne Elemente reduziert wird, die durch ihre Losgelöstheit vom Kontext wie Überreste aus einer anderen Welt, zumindest aber aus einem anderen Film erscheinen. Aber immerhin ist der Gangster Bruno nicht nur im Stil der 1950er Jahre gekleidet, er fährt auch kurzzeitig die für den französischen film policier charakteristische schwarze Citroën-Limousine und beim Banküberfall einen schwarzen amerikanischen Straßenkreuzer, die Verabredung zu einer Ermordung erfolgt schließlich an einem Spielautomaten. Ähnlich doppeldeutig ist die soziale Codierung der Protagonisten. Denn diese sind nicht einfach »Kleinbürger und Kaufhausdiebe«9, sondern Abbreviaturen sozialer Typen: »Es sind Leute, die, um leben zu können, was ihnen lebenswert erscheint, sich halt in Rollen begeben, die eigentlich nicht die ihren sind.«10 In diesem Kontext lässt sich die für Fassbinder charakteristische Form der Darstellung von Gewalt verstehen. Bereits LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD begründet dabei eine Doppelstruktur, der spätere Filme nachfolgen werden. Gewalt ist in den Filmen dieses Regisseurs niemals allein Element einer durch besondere soziale, politische oder persönliche Beziehungen bedingten Auseinandersetzung, vielmehr erscheint sie immer zugleich als eine generelle und nicht hintergehbare Gegebenheit gesellschaftlichen Zusammenlebens. Gerade dieser Sachverhalt macht es problematisch, bei der Analyse von Fassbinders Filmen die Darstellung bestimmter sozialer Gruppen selbst in den Vordergrund zu rücken. Sowohl einzelne Protagonisten als auch Gruppen oder Randgruppen sind bei Fassbinder in der Regel nur Paradigmen einer überindividuellen Konstellation, die jede Form menschlichen Zusammenlebens bedingt und im Lauf der Geschichte immer wiederkehrt. Fassbinder selbst hebt darauf ab, dass er in seinem ersten Spiel-

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Alf Brustellin in der SZ vom 6.11.1970. Hinweis bei H. Spaich: Rainer

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Ebd.

Werner Fassbinder, S. 127. 10 Wiegand, Winfried: »›Ich weiß über nichts als über den Menschen Bescheid‹. Rainer Werner Fassbinder über sich und seine ersten zwanzig Filme«, in: Fischer, Fassbinder über Fassbinder, S. 273-300, hier S. 290. Vgl. Erstveröffentlichung des Interviews in: Jansen, Peter W./Schütte, Wolfram (Hg): Rainer Werner Fassbinder, München: Hanser 1974, S. 6389.

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film Menschen zeige, deren »Armut« darin bestehe, dass sie nichts mit sich anfangen konnten, »die einfach so hingesetzt werden, wie sie sind, und denen keine Möglichkeit gegeben wurde… Soweit wollen wir da gar nicht gehen. Die einfach keine haben, die schlichtweg keine Möglichkeit haben«11. Entschieden betont der Regisseur, dass gegenüber den 70 Minuten, in deren Verlauf sein Film diesen Zustand schildere, dort nur »10 Minuten«12 Totschlag zu verzeichnen seien. Deshalb verlangt auch LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD nach einer paradigmatischen Deutung. Zum einen folgt die dort dargestellte Gewalt aus der im Kriminalschema vorgegebenen Konstellation. Franz, den das »Syndikat« in seine Dienste zwingen will, möchte sich keinesfalls der damit verbundenen Gewaltausübung entziehen, sondern lediglich allein seine Handlungen bestimmen können, die ebenfalls allesamt auf Gewalt gegründet sind. Seine Formel »Ich will frei sein« 13 ist nicht wirklich Anspruch der Selbstverwirklichung, denn auch das unabhängige Handeln, das der Protagonist einfordert, folgt nur dem tödlichen Handlungszwang seiner aus den Fugen geratenen Welt. Es ist auffällig, dass sich schon zu Beginn des Films im Bereich dieser neuen Machtordnung des »Syndikats« physische Gewalt und Sexualität überlagern und dabei eine homosexuelle Codierung deutlich wird, wenn einer der Gangster Pistole und Schulterhalfter auf dem nackten Oberkörper trägt. Durch die tödlichen Aktionen des vom »Syndikat« entsandten Bruno, der zunächst einen Konkurrenten von Franz und dessen Tochter, schließlich einen Polizisten ermordet, wird diese Struktur, der Franz ohnehin untersteht, nur überzeichnet und um eine weitere Abhängigkeit ergänzt. Franz wird zur Teilnahme an einem gewaltsamen Überfall gezwungen, dem am Ende Bruno selbst zum Opfer fällt. Daraus ergibt sich allerdings ein durchaus doppeldeutiger Schluss. Zwar können sich Franz und Joanna am Ende sowohl dem Zugriff der Polizei als auch der Verfolgung durch das »Syndikat« entziehen; es besteht aber kein Zweifel daran, dass sich die Geschichte der Gewalt, deren Opfer Franz eine Zeit lang war, fortsetzen wird. Nichts spricht dafür,

11 J. v. Mengershausen: »Unsere Vorstellungen von Anarchie haben nichts mit Chaos zu tun«, S. 182. 12 Ebd. 13 LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD (BRD 1969, R: Rainer Werner Fassbinder)

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dass sie je aufhören kann, dagegen ist gewiss, dass Franz wieder ein Täter sein wird. Es ist nicht nur für diesen Film charakteristisch, dass Fassbinder darüber hinaus immer wieder deutlich werden lässt, dass im Kontext einer nicht hintergehbaren Kontinuität von Gewalt in Geschichte, Gesellschaft und individuellem Leben die Positionen von Tätern und Opfern grundsätzlich vertauschbar erscheinen. Unter diesen Voraussetzungen wird jede einzelne Geschichte Fassbinders zu einem Paradigma für die Verflechtung von individueller Erfahrung und überindividueller Gegebenheit, jede historische, gesellschaftliche oder persönliche Präzisierung zielt zugleich auf eine Verallgemeinerung. Gleichzeitig erscheinen die unterschiedlichen sozialen Welten, die der Regisseur präsentiert, als geschlossene Systeme, in denen sich wie bei Franz Kafka oder Thomas Bernhard Gewalt in einer Weise reproduziert, die der Kontrolle der handelnden Subjekte entzogen scheint. Deutlich wird dies nicht nur an der Art und Weise, wie individueller Handlungsanspruch und die Anforderungen der kriminellen Parallelwelt miteinander in Konflikt geraten, sondern vor allem bei der Modellierung der persönlichen und ganz privaten Beziehungen. Zum einen lassen fast alle Gewaltszenen zwischen den Männern einen geheimen Subtext erkennen. Dieser verbindet den Herrschaftsanspruch auf der Ebene der kriminellen Aktion unmittelbar mit einem sexuellen Verfügungsanspruch, der homosexuell codiert ist. Die Kamera macht dies mit durchaus zweideutigen Bildeinstellungen deutlich. Zum einen dadurch, dass das Unterwerfungsritual der körperlichen Misshandlung durch das »Syndikat« in seiner extremen Stilisierung fast an eine SMSzene erinnert, zum andern weil Bruno, der vom »Syndikat« entsandte »eiskalte Engel«, von der Kamera in langen Einstellungen, die sein Gesicht wie ein Porträt zeigen, auch als ein schöner Engel dargestellt wird, der sich wie ein traditioneller Verführer und ein Abgesandter Hollywoods zugleich mit Staubmantel und Borsalino durch die durchweg tristen Stadtlandschaften bewegt. Als Verführer erscheint er selbst als Reisender im Zug, wo offenbar schon sein Aussehen eine gegenüber sitzende Mitfahrerin so erregt, dass sie sich ihm anbietet, indem sie, immer den Mann betrachtend, den Ausschnitt ihres Kleides weit öffnet und sich selbst streichelt. Bemerkenswert an dieser Verführungsszene ist einerseits, dass die Frau den aktiven Part übernimmt, und andererseits, dass die sexuelle Verführung als Zeichenspiel vorgeführt wird: Die Frau zieht eine Zi-

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garette mit ihrem Mund aus der Schachtel, während sie den ›Verführer‹ fixiert und diesem einen Apfel offeriert, den sie bereits mit ihrem Mund berührt hat, schließlich öffnet sie ostentativ ihre Handtasche, bevor sie diese vor dem Mann hinstellt. Der so intendierte männliche Zugriff bleibt ebenfalls auf der Ebene eines Zeichenspiels: Der Mann entnimmt aus der geöffneten Tasche der Frau die Geldbörse und aus dieser Geld, bevor er sich eine Zigarette ansteckt. Erst dann beginnt er ein Gespräch. Es ist allerdings keine Verführungsrede, sondern eine Erzählung seiner bisherigen Gewalttaten, mit der er sich präsentiert. Sexualität und Gewalt, sexuelle und materielle Inbesitznahme, virtuelle Verführung und symbolische Unterwerfung verwandeln sich in eine Kette von symbolischen Handlungen, in deren Verlauf sich zudem die Positionen von Subjekt und Objekt vertauschen. Damit ist ein Grundmuster präsentiert, das auch die nachfolgende Überkreuzung von kriminellem Verhalten und erotischer Verführung in der Beziehung von Franz und Bruno bestimmt. Die Szene im Zug zeichnet diese in heterosexueller Codierung vor und macht bereits deutlich, dass in Fassbinders Film jede erotische oder sexuelle Beziehung asymmetrisch ist und stets das Grundmuster von Ausbeutung variiert. Dies wird besonders dann deutlich, wenn homosexuelle und homoerotische Beziehung miteinander konkurrieren. Die Zuneigung zu Bruno und zu Joanna zugleich, eine signifikante Überlagerung von homosexueller und heterosexueller Empfindung, zeigt sich bei Franz dann, wenn er die Verführung seiner Freundin durch Bruno inszeniert und zugleich voyeuristisch beobachten will. Dieser Voyeurismus erscheint ebenfalls als eine Form von Gewalt, die er über seine Geliebte ausübt. Ihren Ausdruck findet diese Doppelung des Gefühls in einem elliptischen Kommentar, der weder geeignet ist, Franz’ Haltung der Frau gegenüber zu erklären, noch bereit ist, angemessen auf deren Gefühle für ihn zu antworten. Vielmehr kalkuliert Franz diese zynisch ein, wenn er Joanna schlägt und als Begründung anführt: »Weil du Bruno ausgelacht hast und Bruno ist mein Freund«14 und auf die Gegenfrage, was sie ihm bedeute, antwortet: »Du, du liebst mich sowieso.«15 Entsprechend dazu scheint sich die Beziehung zwischen Bruno und Joanna wie beiläufig und allein situationsbedingt zu entwickeln. Sie

14 Ebd. 15 Ebd.

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schlafen miteinander, als sie beide allein in der Wohnung sind, während Franz bei der Polizei verhört wird. Der sexuelle Akt widerspricht einer früheren Bemerkung Joannas, die sich gegenüber Franz über Bruno mit den Worten äußert: »Ich steh nicht auf ihn, körperlich«16; auch er scheint keineswegs einem wirklichen Gefühl zu folgen. Die intime Szene zwischen den beiden vollzieht sich wortlos im kalten Licht der Filmbilder und der gemeinsame Neuanfang der beiden ist der Besuch eines Supermarkts. Dort folgt ihnen die Kamera bei einem ziellosen Weg durch die Gänge zwischen den Verkaufsregalen, wie wahllos geraten dabei die gestapelten Produkte ins Bild, unter ihnen besonders viele Pakete des Waschmittels Der weiße Riese. Am Ende dieses gemeinsamen Ausflugs des neuen Paares aber steht nichts anderes als der Einkauf von Toilettenpapier, der die Bedeutungslosigkeit dieser Beziehungsgeschichte in zynischer Verzerrung deutlich macht. 17 Zweifellos folgt Fassbinder mit dieser Strategie Prinzipien theatralischer Präsentation, wie sie bereits von Piscator und Brecht entwickelt wurden. Seine Filmbilder präsentieren nicht Realität, sondern verfremden diese, allerdings erfolgt dies durchaus in einem Wechsel von distanzierenden, stilisierenden Bildern und solchen, die Empathie herausfordern. Vor allem bei seinem frühen Filmprojekt setzt Fassbinder auf diese Doppelstrategie, die ihm intellektuelle Analyse ebenso ermöglicht wie eine auf Emotionen gegründete Gegenreaktion. Eine Begründung für diesen kalkulierten Wechsel liefert er selbst: »Ich musste meinen Film einfach so machen, musste ihn stellenweise stilisieren und stellenweise nicht. Das schien mir die einzige Möglichkeit zu sein, den Film an die richtigen Leute zu bringen, von denen ich will, dass sie eine Wut kriegen, wie ich sie habe.«18

Wie bereits angedeutet, kommt in diesem Setting von Strategien der Verfremdung der spezifisch kinematographischen Technik der Beleuchtung besondere Bedeutung zu. In LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD erscheinen fast alle Szenen überbelichtet, auch dies bricht die Illusion, die der Zuschauer vom Filmbild erwartet, und schafft entschieden Di16 Ebd. 17 Vgl. J. v. Mengershausen: »Unsere Vorstellungen von Anarchie haben nichts mit Chaos zu tun«, S. 180. 18 Ebd., S. 183.

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stanz. Insofern bildet gerade dieser frühe Film einen scharfen Kontrast zu den dunklen, psychologisierenden Filmbildern, die BERLIN ALEXANDERPLATZ dominieren. Im frühen Film orientiert sich Fassbinder an der »extremen Künstlichkeit« 19, die Josef Sternberg durch das Licht seiner Filmbilder zu erzeugen vermochte, die Arbeit mit dem Licht ist auch für ihn selbst eine Methode, »Geschichten nicht direkt zu erzählen, sondern auf einem Umweg…«20. Was der Regisseur hier beginnt, variiert er in seinen späteren Filmen, die häufig dann, wenn sie das Augenmerk auf gesellschaftliche Konstellationen lenken wollen, mit einer Aufblende in Weiß oder einem Insert innerhalb einer weißen Aufblende arbeiten, wie zum Beispiel FONTANE EFFI BRIEST oder BERLIN ALEXANDERPLATZ. Deshalb ist die weiße Aufblende bei Fassbinder nicht nur ein Element des bewussten Illusionsbruchs, häufig markiert sie auch eine intermediale Verknüpfung von Filmbild und Text, von Film und Filmvorlage, die zugleich thematisch funktionalisiert wird. Bei den genannten Beispielen schärft sie den Blick für den Sachverhalt, dass die Protagonisten im gesellschaftlichen Zusammenhang unterdrückt sind oder ausgegrenzt werden. Unterdrückung, Ausgrenzung und Gewalt erscheinen in diesen Filmen auch auf diese Weise als allgemeine gesellschaftliche Gegebenheiten, die nicht allein die soziale Gruppe betreffen, der die Protagonisten angehören. Ebenfalls in einer weißen Aufblende von FONTANE EFFI BRIEST erscheint bereits zu Beginn neben dem Filmtitel die programmatische Bemerkung: »Viele, die eine Ahnung haben von ihren Möglichkeiten und ihren Bedürfnissen und trotzdem das herrschende System in ihrem Kopf akzeptieren durch ihre Taten und es somit festigen und durchaus bestätigen.«21 Ähnlich verfährt die Koppelung von weißen Aufblenden und Textinserts in BERLIN ALEXANDERPLATZ. Mit intertextuellen Bezügen wie dem Psalm Jegliches hat seine Zeit oder dem Lied Lieb Vaterland magst ruhig sein werden dort zugleich der Referenztext Döblins als auch dessen einmontierte Texte präsentiert. 22

19 W. Wiegand: »Ich weiß über nichts als über den Menschen Bescheid«, S. 280. 20 Ebd. 21 Vgl. FONTANE EFFI BRIEST (BRD 1974, R: Rainer Werner Fassbinder) 22 »Aller Anfang ist schwer. Lieb Vaterland, magst ruhig sein. Ich hab die Augen auf und fall nicht rein.« – Döblins Text und Fassbinders Textein-

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Im Zusammenhang mit einer Erörterung dieser ästhetischen und kinematographischen Strategien betont Fassbinder entschieden die gesellschaftskritische Dimension, die er bereits für seine erste Verfilmung beansprucht. Auch schreibt er den präsentierten individuellen Konflikten eine gesellschaftliche Bedeutung zu. Gerade in diesem Zusammenhang wendet er sich gegen den Vorwurf, sein erster Film folge einer Form anarchischen Protests. In einem Interview betont er, dass seine »Vorstellungen von Anarchie«23 gerade »nichts mit Chaos«24 zu tun hätten, sondern mit einer »ganz natürlichen Ordnung«25, die ihn an »Idealvorstellungen des Marxismus«26 heranführe. Damit beansprucht er für seine Filme eine dialektische Strategie. Indem er beschädigte Beziehungen zeigt, will er die Bedingungen eines gesellschaftlichen Systems deutlich machen, das keine herrschaftsfreien Formen des Zusammenlebens mehr zulässt. »Das abendländische System, oder wie man das immer nennen will, ist so wahnsinnig fein und so wahnsinnig in sich versponnen, dass es ungeheuer schwer ist, innerhalb dieses Systems mit Leuten, die auch aus diesem System kommen und durch dieses System gepolt worden sind, eine Gemeinschaft aufzubauen, in der alles gleichberechtigt ist.«27 Fassbinder bezieht sich damit zweifellos einerseits auf die seit 1968 den linken Diskurs bestimmende These von der ›strukturellen Gewalt‹ des Systems, den Kluge und Negt in der Formel von der »Gewalt des Zusammenhangs«28 aufnehmen. Mit letzteren verbindet ihn die Auffassung, dass die einzige Möglichkeit der Opposition in einer Subversion besteht, welche die herrschenden Strukturen aufnimmt und von innen zu verändern sucht. Die auf der Leinwand domi-

blendung rekurrieren auf Max Schneckenburgers bekanntes Gedicht Die Wacht am Rhein (1840). 23 J. v. Mengershausen: »Unsere Vorstellungen von Anarchie haben nichts mit Chaos zu tun«, S. 194. 24 Ebd. 25 Ebd. 26 Ebd. 27 Ebd., S. 192. 28 Vgl. Kluge, Alexander/Negt, Oskar: Geschichte und Eigensinn, Frankfurt a.M.: Zweitausendeins 1981, S. 771-1283. Als »Gewalt des Zusammenhangs« untersucht Teil III die Geschichte und den Eigensinn von Krieg und Liebe als Beziehungsverhältnissen.

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nierenden Bilder schildern in nüchterner, fast aggressiver Distanz eine »Gesellschaft, die zum Beispiel dem Geld zu große Bedeutung zumisst, die die Frauen und alle anderen Minderheiten zwingt, sich auf eine ganz bestimmte Weise zu benehmen, um überleben zu können«29. Bemerkenswert allerdings ist, dass diese Präsentation kalter Bilder von Beziehungen und Handlungen bisweilen als ihren Subtext eine fast sozialromantische Phantasie erkennen lässt, die Fassbinder gerade im Zusammenhang mit seinem frühen Film zum Ausdruck bringt. Auf die Frage, ob er an die Liebe glaube, antwortet er: »In allem, was wir von der Liebe kennen, gibt es immer diese Forderung: irgendetwas muss irgendwie… Ganz gleich, ob es sich dabei um die Ehe oder um etwas anderes handelt. Ich kann mir eine Liebe vorstellen, die von überhaupt nichts besetzt wäre, die von nichts überflügelt würde – das wäre eine Liebe, die für den Mensch [sic] eine ganz außergewöhnliche Unterstützung wäre.«30

In diesem dialektischen Wechselspiel völlig konträrer Orientierungen entfaltet sich schließlich Fassbinders Vorstellung von den Möglichkeiten und Aufgaben seines ästhetischen Realismus, der sich dadurch auszeichnen muss, dass er diese Spannung erfassen kann. Gerade sie versucht er durch die Wirkung seiner Filmbilder zu entfalten, die nicht einfach Wirklichkeit abbilden, sondern eine psychologisch beschreibbare Interaktion von Film und Zuschauer, von Bild und Blick freisetzen und damit die Spannung wirksam werden lassen, aus der sie hervorgehen. Gerade dies mag die radikale Überzeichnung erklären, die vor allem Fassbinders Darstellung offener oder latenter sexueller Beziehungen prägt. »Der Realismus, den ich meine und den ich will, das ist der, der im Kopf der Zuschauer passiert, und nicht der, der da auf der Leinwand ist, der interessiert mich überhaupt nicht, den haben die Leute ja jeden Tag. Was ich will, ist ein 29 Bensoussan, Georges: »›Wir sitzen auf einem Vulkan‹. Rainer Werner Fassbinder über Deutschland, Antisemitismus und Homosexualität«, in: Fischer, Fassbinder über Fassbinder, S. 557-577, hier S. 565. Vgl. Erstdruck des französischen Interviews »Entretien avec R.W. Fassbinder« in: Cahiers du Cinéma 322/1981, S. 15-21. 30 G. Bensoussan: »Wir sitzen auf einem Vulkan«, S. 571.

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offener Realismus, einer, der einen Realismus zulässt und nicht provoziert, dass die Leute sich zumachen.«31

Offensichtlich setzen Fassbinders kinematographische Strategien auf spontane Reaktionen des Zuschauers, der Verknüpfungen nach dem psychischen Prinzip der Bahnung herstellt. Ganz explizit spricht er diesen Reaktionen auch eine konkrete politische Kraft zu. Seine Strategie, die Zuschauer ihre »eigenen, ganz privaten Gefühle«32 überprüfen zu lassen, findet er »politischer oder politisch aggressiver und aktiver, als […] jemandem die Polizei als die großen Unterdrücker«33 zu zeigen. Nicht minder prägend als diese zugleich kinematographische, dramatische und ideologiekritische Strategie der Verallgemeinerung ist die gegenläufige der Identifikation. Sie verleiht Fassbinders Filmen eine psychische Einschrift, die unmittelbar mit der Perspektive ihres Regisseurs zu tun hat, der lapidar über seine Filme sagt: »Ich bin meine Filme.«34 Bemerkenswert allerdings ist, dass gerade diese psychische Einschrift auch da, wo sie sehr eng mit der homosexuellen Disposition verknüpft ist, nicht nur durch die Eröffnung intermedialer und intertextueller Referenzen entwickelt wird, sondern dass sie sich vor allem am Vorbild Döblins entfaltet. Nicht zufällig heißt bereits der Protagonist des ersten Films Franz, auffällig genug sagt der Regisseur einmal selbstkritisch: »Ich wollte immer den Reinhold spielen.«35 Ausdrücklich auch spricht er in einem Kommentar zu seiner Verfilmung von BERLIN ALEXANDERPLATZ davon, dass er »Döblins Phantasie zu [s]einem Leben«36 gemacht habe. Zudem ist diese späte Verfil-

31 W. Wiegand: »Ich weiß über nichts als über den Menschen Bescheid«, S. 293. 32 J. v. Mengershausen: »Unsere Vorstellungen von Anarchie haben nichts mit Chaos zu tun«, S. 187. 33 Ebd., S. 188. 34 G. Bensoussan: »Wir sitzen auf einem Vulkan«, S. 564. 35 W. Limmer/F. Rumler: »›Alles Vernünftige interessiert mich nicht‹. Rainer Werner Fassbinder über sein künstlerisches Selbstverständnis und die Wurzeln seiner Kreativität«, S. 517. 36 Fassbinder, Rainer Werner: »Die Städte des Menschen und seine Seele. Einige ungeordnete Gedanken zu Alfred Döblins Roman BERLIN ALEXANDERPLATZ«,

in: Ders.: Berlin Alexanderplatz. Mit dem gesamten Dreh-

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mung durch einen Epilog abgeschlossen, der Fassbinders Blick auf Döblin, auf dessen Welt und auf die eigene Gegenwart in einer Kreuzigungsszene verdichtet, welche die Identität von Fassbinder und Franz Biberkopf zur Deckung bringt. Deshalb folgt die zentrale Beziehungskonstellation zwischen Franz und Bruno zweifellos nicht nur dem Schema, das Damianis TÖTE AMIGO! prägt, sondern auch der Beziehung zwischen Franz und Reinhold in BERLIN ALEXANDERPLATZ. Eine Freundschaft, die auf Abhängigkeit und Gewalt, Zuneigung und Ausnutzung gleichermaßen gegründet ist und in der Frauen zum Tauschobjekt von Männern werden, deren Beziehung zueinander auch durch eine homosexuelle Faszination bestimmt ist, prägt Döblins Text und dessen Verfilmung durch Fassbinder ebenso wie den ersten Spielfilm des Regisseurs. Während im ersten Film der homosexuelle Subtext jedoch niemals eindeutig bebildert ist, entfaltet die Döblin-Verfilmung eine dezidiert homosexuelle Ästhetik, so etwa bei der Darstellung des Boxkampfes zwischen Franz und Reinhold und bei der Darstellung von Franz’ Aufenthalt im Gefängnis. In dieser späten Verfilmung wird die Verknüpfung von Sexualität und Gewalt ebenso wie ihre Ästhetisierung, die im ersten Spielfilm nur durch die reduktive Bildstrategie deutlich wird, zudem entschieden perfektioniert, sie entfaltet zunehmend autonome Bildwelten. Mit Blick auf Döblins Text ist sich Fassbinder allerdings durchaus des Sachverhalts bewusst, dass er diesen »sehr viel homoerotischer 37 38 gesehen und gelesen« habe als er »vielleicht ist« . Doch entscheidend ist, dass er die homosexuelle Spur, die er betont, keineswegs als Signatur einer Randgruppe behandelt, sondern sie ebenfalls ins Zentrum einer verallgemeinernden gesellschaftlichen Reflexion rückt. Dass dies schon von Anfang an ein Ziel seiner Regietätigkeit ist, bestätigt in signifikanter Weise sein Beitrag zu der von Kluge und Böll realisierten Gemeinschaftsproduktion von DEUTSCHLAND IM HERBST

buch herausgegeben von Klaus Biesenbach. Mit Texten von Rainer Werner Fassbinder, Klaus Biesenbach und Susan Sontag. München: KW Institute für Contemporary Art/ Schirmer, Mosel 2007, S. 55-59, hier S. 57. 37 W. Limmer/F. Rumler: »›Alles Vernünftige interessiert mich nicht‹. Rainer Werner Fassbinder über sein künstlerisches Selbstverständnis und die Wurzeln seiner Kreativität«, S. 524. 38 Ebd.

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(BRD 1978). Während fast alle anderen Beiträge einer ideologischen Konditionierung unterliegen, die bereits ab 1989 eigenartig überholt erschien, ist Fassbinder der einzige, der die politische und mentale Situation der Bundesrepublik auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung mit der RAF auf radikale Weise allein aus einem persönlichen Blickwinkel heraus betrachtet. Er stellt nicht nur die eigene Sozialisation, die Auseinandersetzung mit der Mutter und seine homosexuelle Disposition ins Zentrum, sondern zeigt zugleich, dass sich diese Disposition auf eine Weise entfaltet, die Sexualität und Gewalt unlösbar miteinander verknüpft. Gerade die Konzentration auf das Thema der Homosexualität entwickelt Fassbinder dabei in einer Weise, die Anforderungen nicht nur an die Gesellschaft, sondern auch an diese Gruppe selbst stellt, er verweigert sich jedem Versuch, diese sexuelle Orientierung als eine zu propagierende oder zu verteidigende besondere sexuelle Disposition zu behandeln. Auch bei der Darstellung von Homosexualität interessiert ihn vor allem, dass diese eine herrschende gesellschaftliche Struktur reproduziert und nicht als Gegenhaltung zu herrschenden gesellschaftlichen Verhaltensweisen zu bewerten ist. Lapidar bemerkt er: »[Homosexuelle] sind nicht unglücklicher als andere Personen. Sie sind eine ganz spezielle Minderheit. Bewusster als die Bourgeoisie versuchen sie, sich wie die Bourgeoisie zu benehmen, und deshalb wirken manche Aspekte ihres Verhaltens so fremd.«39

An dieser Konstellation zeigt sich eine typische Struktur des frühen Films Fassbinders, die sich in allen späteren fortschreibt. Durchweg generieren die Filmbilder nicht nur ein Wechselspiel von Analyse und Reduktion, indem sie soziale Codierungen vornehmen, diese im gleichen Zug aber auch schon wieder aufheben und auf ein Grundmuster reduzieren. Die auffällige Distanz und Kälte, die alle Bilder konfiguriert, geht in Wahrheit auch aus einer Mischung von Pathos und Distanz hervor. Auf der einen Seite setzt Fassbinder alles daran, dass der Zuschauer »über die Figuren Gefühle und Dinge«40 selbst emotional

39 G. Bensoussan: »Wir sitzen auf einem Vulkan«, S. 568. 40 W. Wiegand: »Ich weiß über nichts als über den Menschen Bescheid«, S. 296.

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aktivieren soll, auf der anderen Seite will er »in der Struktur der Sache selber die Möglichkeit zur Reflexion«41 entstehen lassen. Noch überraschender aber ist die Ambivalenz der Gefühle, an der Fassbinder nicht nur in seinem ersten Film, sondern auch später noch festhält. Als »Nutte«42 bezeichnet Franz in der letzten Einstellung von LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD Joanna, doch seine zynischen Formeln beim Polizeiverhör – »Wir sind anständig geworden«43 und »Ich bin ein Kavalier«44 – stehen in eigentümlichem Kontrast zur äußerlichen Ordnung seines Zusammenlebens mit dieser Prostituierten, die auch in angespannten Situationen mitunter wie eine Hausfrau dargestellt wird, die den Tisch abräumt, bevor Franz sie Bruno als sexuelles Tauschobjekt anbietet, und die an ihrem Kleid näht, während sich die Männer auf einen Banküberfall vorbereiten.45 Am Ende allerdings hebt eine kinematographische Strategie diese Widersprüche auf. Unmittelbar auf das Wort »Nutte«46 folgt eine Aufblende in Weiß, das dissonante Grundmuster sozialer Orientierungen, das diesen Film prägt, wird gelöscht, allerdings nur, um in nachfolgenden Filmen Fassbinders wieder aufgenommen zu werden.

L ITERATUR Bensoussan, Georges: »Entretien avec R.W. Fassbinder«, in: Cahiers du Cinéma 322/1981, S. 15-21. Ders.: »›Wir sitzen auf einem Vulkan‹. Rainer Werner Fassbinder über Deutschland, Antisemitismus und Homosexualität«, in: Fischer, Fassbinder über Fassbinder, S. 557-577. Fischer, Robert (Hg.), Fassbinder über Fassbinder. Die ungekürzten Interviews, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 2004. Handke, Peter: »Ah, Gibraltar!«, in: Die Zeit, Nr. 28 vom 11.07.1969, S. 13-14.

41 Ebd. 42 LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD (BRD 1969, R: Rainer Werner Fassbinder) 43 Ebd. 44 Ebd. 45 Ebd. 46 Ebd.

T ÖTE A MIGO ! | 47

Jansen, Peter W./Schütte, Wolfram (Hg): Rainer Werner Fassbinder. München: Hanser 1974. Kluge, Alexander/Negt, Oskar: Geschichte und Eigensinn. Frankfurt a.M.: Zweitausendeins 1981. Limmer, Wolfgang/Rumler, Fritz: »›Alles Vernünftige interessiert mich nicht‹. Rainer Werner Fassbinder über sein künstlerisches Selbstverständnis und die Wurzeln seiner Kreativität«, in: Fischer, Fassbinder über Fassbinder, S. 493-555. Limmer, Wolfgang: Rainer Werner Fassbinder. Filmemacher. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1982. Mengershausen, Joachim v.: »›Unsere Vorstellungen von Anarchie haben nichts mit Chaos zu tun‹. Rainer Werner Fassbinder über LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD und das antiteater«, in: Fischer, Fassbinder über Fassbinder, S. 179-203. Ders.: »›… eine Wut, wie ich sie habe‹«, in: Film 8/1969, S. 19-22. Spaich, Herbert: Rainer Werner Fassbinder. Leben und Werk. Weinheim: Beltz 1992. Wiegand, Winfried: »›Ich weiß über nichts als über den Menschen Bescheid‹. Rainer Werner Fassbinder über sich und seine ersten zwanzig Filme«, in: Fischer, Fassbinder über Fassbinder, S. 273300.

F ILME BERLIN ALEXANDERPLATZ (BRD 1980, R: Rainer Werner Fassbinder) DER AMERIKANISCHE SOLDAT (BRD 1970, R: Rainer Werner Fassbinder) DER EISKALTE ENGEL (F 1967, R: Jean-Pierre Melville) DEUTSCHLAND IM HERBST (BRD 1978, R: Alf Brustellin, Hans Peter Cloos, Rainer Werner Fassbinder) DIE EHE DER MARIA BRAUN (BRD 1979, R: Rainer Werner Fassbinder) DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS (BRD 1982, R: Rainer Werner Fassbinder) FONTANE EFFI BRIEST (BRD 1974, R: Rainer Werner Fassbinder) GÖTTER DER PEST (BRD 1970, R: Rainer Werner Fassbinder) LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD (BRD 1969, R: Rainer Werner Fassbinder)

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LILI MARLEEN (BRD 1981, R: Rainer Werner Fassbinder) LOLA (BRD 1981, R: Rainer Werner Fassbinder) QUIÉN SABE? (I 1966, R: Damiano Damiani) VIVRE SA VIE (F 1962, R: Jean-Luc Godard)

Western Goes East Fassbinders W HITY als Race-Melodrama

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WHITY (BRD 1971), einer der frühen Filme Rainer Werner Fassbinders, fällt in die Kategorie der selbst von Fans des Regisseurs ignorierten Produktionen.1 Nach seiner Präsentation auf der Berlinale schaffte es der Western nach miserablen Kritiken nicht einmal ins Kino. Schauspieltechnisch steht WHITY noch stark in der Tradition des antiteaters, filmisch aber gibt es hier erstmals Kameraarbeit von Michael Ballhaus und weitere technische Finessen, handelt es sich doch um den einzigen Film Fassbinders im Westernformat Cinemascope. Rekurriert wird in WHITY auf die im klassischen Hollywoodkino oft zu findende Verbindung von Race-Melo und Western,2 wie sie etwa in Cecil B. 1

Als Rezensionen zu WHITY sind aufzuführen: Anderson, Jeffrey M.: »Rez.: Whity«, http://www.combustiblecelluloid.com/whity.shtml (03.08. 2012); Ulrich Behrens: »Rez.: Whity«, in: filmzentrale.com, http:// www.filmzentrale.com/rezis/whityub.htm (03.08.2012); Ed Gonzalez: »Rez.: Whity«, http://www.slantmagazine.com/film/review/whity/703 (03. 08.2012); Dennis Schwartz: »Rez.: Whity«, http://homepages.sover. net/~ozus/whity.htm (03.08.2012).

2

Vgl. zu diesem Genre-Phänomen unter anderem Fojas, Camilla: »Mixed Race Frontiers. Border Westerns and the Limits of ›America‹«, in: Dies./ Mary Beltrán (Hg.), Mixed Race Hollywood, New York/London: NY UP 2008, S. 45-63; Glasenapp, Jörn: »Jenseits des Rio Grande. Mythische Strukturen im US-amerikanischen Mexikowestern«, in: Manfred Engelbert u.a. (Hg.), Märkte, Medien, Vermittler. Fallstudien zur interkulturellen

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DeMilleS NORTH WEST MOUNTED POLICE (USA 1940), King Vidors DUEL IN THE SUN (USA 1946), John Fords THE SEARCHERS (USA 1956) und John Hustons THE UNFORGIVEN (USA 1960) exponiert wird. Im Folgenden geht es um diese Koppelung von Race-Melodrama und Western, schreibt Fassbinders WHITY doch in die ›Hohlform‹, in die Matrix des Westerns Vorgaben des Race-Melodramas ein – eines Genres, das aufgerufen und gleichzeitig mit den Strategien des antiteaters hintertrieben wird. Zu nennen als Bezugsfilm, auf den Fassbinder im Kontext von WHITY selbst verweist, ist Raoul Walsh’ Südstaatenepos BAND OF ANGELS (USA 1957). Auf diesen Film und auf ein weiteres Race-Melodrama, Douglas Sirks IMITATION OF LIFE (USA 1959), ist zunächst einzugehen, bevor Fassbinders Umschrift WHITY ausführlicher in den Blick genommen werden kann.

»P ASSING «-F IGURATIONEN : W ALSH ’ B AND A NGELS UND S IRKS I MITATION OF L IFE

OF

In einem Gespräch, das er im Juli 1971 mit Christian Braad Thomsen führte, erläuterte Fassbinder: »Bevor ich WHITY gedreht habe, habe ich einige Filme von Raoul Walsh gesehen. Vor allem BAND OF ANGELS ist einer der tollsten Filme, die ich überhaupt kenne, mit Clark Gable, Yvonne de Carlo und Sidney Poitier. Ein weißer Farmer stirbt, er hatte eine Tochter mit einer schwarzen Frau. Die Tochter ist vollkommen weiß, so dass man ihr gar nicht ansieht, dass sie ein Mischling ist. Aber sobald der Alte, der einen Berg Schulden hatte, tot ist, wird sie verkauft. Clark Gable, der ein Sklavenhändler ist, kauft sie, weil er weiß, dass sie ein Mischlingsmädchen ist, und sie weiß, dass er ein Sklavenhändler ist. Dann fängt der Bürgerkrieg an. Sidney Poitier ist der treue Diener des Sklavenhändlers, und obwohl er auf der anderen Seite kämpft, verhilft er seinem Herren und dem Mischlingsmädchen zur Flucht, und dann ist alles gut – oder doch nicht?

Vernetzung von Literatur und Film, Göttingen: Wallstein Verlag 2001, S. 355-386; Mulvey, Laura: »Afterthoughts on ›Visual Pleasure and Narrative Cinema‹ inspired by King Vidor’s DUEL IN THE SUN (1946)«, in: Dies. (Hg.), Visual and Other Pleasures, London: Palgrave Macmillan 1989, S. 29-37.

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Die guten Regisseure können Happy Ends liefern, so dass man mit dem Schluss des Films trotzdem nicht zufrieden ist. Man weiß irgendwie, da stimmt was nicht – so geht das eben doch nicht.«3

Das Race-Melodrama, mit dem wir es im Falle von BAND OF ANGELS zu tun haben, versucht erkennbar an die bis dahin erfolgreichste Produktion der Filmgeschichte, Victor Flemings GONE WITH THE WIND (USA 1939) anzuschließen. GONE WITH THE WIND, großes, hyperbolisches Gefühlskino, Familien-, Liebes- und Südstaatenmelo, lässt die untergegangene southerness-Welt in opulenten Bildern wieder erstehen und fokussiert das Schicksal der Plantagenbesitzer, die als Konföderierte gegen die Union, gegen die Armee der Nordstaaten, kämpfen und von dieser besiegt werden. Schwarze, Sklaven bilden hier einen vor allem pittoresken Hintergrund. Wenn sie ein wenig aus der Reihe hervortreten, wie etwa die als fürsorglich-tapsig inszenierte SklavenNanny, die Hattie McDaniel in GONE WITH THE WIND und vielen anderen Filmen verkörperte, werden sie als comic relief eingesetzt. BAND OF ANGELS verweist ebenfalls auf diese southerness-Welt, allerdings wird die Story, die Walsh’ Film erzählt, von der Protagonistin perspektiviert, die nicht ›weiß‹ ist – zumindest nicht nach dem Regelsystem der Gesellschaft, in der sie lebt –, sondern nur im Glauben aufwächst, sie sei es. Die von Yvonne de Carlo gegebene Amantha Starr lebt als Tochter eines Plantagenbesitzers ein privilegiertes Leben. Ihre Mutter, an die sie sich nicht erinnern kann, eine Sklavin, ist längst gestorben. Sie genießt die Erziehung einer höheren Tochter, erfährt aber nach dem Tod ihres Vaters, dass sie, obgleich caucasian aussehend, als ›Schwarze‹ gilt und als Sklavin verkauft werden soll, um die Gläubiger ihres Vaters zufriedenzustellen. Mit dem Kunstgriff, einen sehr hellen ›Mischling‹ ins Zentrum des Melodramas zu stellen, verweist Walsh’ Film auf die kulturellen Konstruktionsmechanismen von Race und deren ökonomische Hintergründe, die die race studies inzwischen differenziert entfaltet haben, gerade was das Kontingente und Willkürliche der Zuordnung zu einer Rasse

3

Thomsen, Christian Braad: »›Meine Filme handeln von Abhängigkeit‹ (1971). Rainer Werner Fassbinder über WHITY«, in: Robert Fischer (Hg.), Fassbinder über Fassbinder. Die ungekürzten Interviews, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 2004, S. 221-228, hier S. 221.

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oder Ethnie angeht.4 Walsh’ Heldin Amantha Starr wird nach dem Tod ihres Vaters vom Plantagenbesitzer und ehemaligen Sklavenhändler Hamish Bond für den exorbitanten Preis von 5.000 Dollar gekauft. In dessen Haushalt leben viele Sklaven, wie etwa die Haushälterin Michele oder der von einem sehr jungen Sidney Poitier gegebene RauRu, den Hamish wie einen Sohn erzogen hat und der für ihn geschäftliche Angelegenheiten regelt. Zu allen Sklaven verhält sich Hamish freundlich und wertschätzend. Amantha fühlt sich zwar im Haus ihres Käufers eingesperrt, verliebt sich aber in den Gentleman: Sie sinkt ihm in grandioser Unwetterkulisse – keine sehr dezente Metapher für den Aufruhr der Gefühle – in die Arme und wird seine mistress. Schließlich schickt Hamish die Geliebte weg, damit sie als Freie leben kann. Nach zahllosen Irrungen und Wirrungen findet sich das Paar, auch der als Hamish’ Sohn aufgewachsene Rau-Ru stößt dazu, wieder zusammen – in einem Happy End, das, so die bereits zitierte Einschätzung Fassbinders, wie viele Happy Ends auch ein prekäres ist. Mit seiner Protagonistin Amantha, die caucasian erscheint, ohne es zu sein, setzt Walsh eine Konfiguration in Szene, die zwei Jahre später wesentlich erfolgreicher von dem – von Fassbinder als MelodramaRegisseur verehrten – Douglas Sirk verhandelt wurde.5 In Sirks IMITA6 TION OF LIFE, einem der ›Muster-Melos‹ der späten 1950er Jahre, wird neben anderem die Geschichte des jungen Mädchens Mary Jane erzählt, die, obgleich Afroamerikanerin, so hellhäutig ist, dass sie als

4

So griffen etwa US-amerikanische Behörden im 19. Jahrhundert zu unterschiedlichen ›Nachweisen‹, um African Americans oder American Natives als solche zu kategorisieren: Als African Americans wurden all jene eingestuft, bei denen ein einziger schwarzer Vorfahre ausfindig gemacht werden konnte. Dagegen musste für die Kategorisierung als American Natives eine bestimmte Prozentzahl an ›indianischen‹ Vorfahren nachgewiesen werden. Entsprechend konnten Kinder schwarzer Mütter leicht zu Sklaven ernannt werden, die Landansprüche zahlreicher American Natives dagegen abgelehnt werden.

5

Als ausdrückliche Sirk-Hommage aufzufassen ist Fassbinders ANGST ESSEN

SEELE AUF (BRD 1974), als Remake von Sirks ALL THAT HEAVEN

ALLOWS (USA 1955). 6

Sirks IMITATION OF LIFE, das Remake des gleichnamigen Filmes von John M. Stahl von 1934, verhandelt verschiedene Passing-Konfigurationen; das Sujet ist nicht auf Mary Jane und ihr ›Durchgehen als Weiße‹ beschränkt.

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›Weiße durchgeht‹ (im Amerikanischen: »to pass for white«). Gegenüber Jon Halliday führte Douglas Sirk in Bezug auf seinen Film aus: »Das einzig Interessante ist der Handlungsstrang, der die Frage der Schwarzen berührt (the Negro angle): die junge schwarze Frau, die versucht, ihren realen Umständen zu entkommen, die bereit ist, ihre freundschaftlichen und familiären Zugehörigkeiten für gesellschaftliche Anerkennung zu opfern, und die versucht, in der auf Imitation ausgerichteten Welt des Vaudeville zu verschwinden. Die Imitation des Lebens ist nicht das reale Leben. [...] Die junge Frau […] wählt eine Imitation des Lebens anstelle ihrer schwarzen Identität. Der Film ist ein Stück Sozialkritik. Du kannst vor dem, was du bist, nicht fliehen. [...] Ich wollte daraus einen Film über gesellschaftliches Bewußtsein machen – nicht nur über ein weißes Bewußtsein, sondern auch über ein schwarzes. Sowohl die Weißen als auch die Schwarzen leben imitierte Leben.«7

Der Regisseur ist hier nicht der beste Interpret seines Œuvres. Sirks IMITATION OF LIFE führt präzise das vor, was Sirk leugnet, dass racial identities performativ verfasst sind. Man kann durchaus vor dem, was man vorgeblich ›ist‹, fliehen. Es zeigt sich, dass eine Trennlinie zwischen dem Leben und dessen ›Imitation‹ gerade nicht gezogen werden kann. Sirk fokussiert die Konfiguration des ›passing‹ als energetisches Zentrum des Films. Die Maskierung der Protagonistin als ›Weiße‹ wird in IMITATION OF LIFE nicht als souveränes Spiel mit gesellschaftlichen Vorgaben gewertet, sondern als Regelverstoß gegen gesellschaftliche Grenzziehungen stigmatisiert, der geahndet, der bestraft werden muss. Das Passing-Sujet, das Sirks Film zentriert, macht IMITATION OF LIFE also nicht zufällig zu einem in der Forschung viel diskutierten paradigmatischen Melodrama, dem Genre, für das das Moment der Überschreitung, der Verstoß gegen gesellschaftliche Ordnung und symbolische Repräsentationssysteme konstitutiv ist – und das gerade deshalb Fassbinder so attrahierte. In BAND OF ANGELS bekommt die Protagonistin – aufgrund einer Laune der Natur, ihrer besonders hellen Haut – ebenfalls die Chance, ein Leben ›als Weiße‹ zu führen. ›Weiß‹ zu sein, das ist für sie ein dezisionistischer Akt. Auch Amantha wird aber immer wieder von ihrer Vergangenheit eingeholt: Diejenigen, die wissen, dass sie eigentlich

7

Zitiert nach Bronfen, Elisabeth: Heimweh. Illusionsspiele in Hollywood, Berlin: Verlag Volk und Welt 1999, S. 298.

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nicht ›weiß‹ ist, behandeln sie nicht immer wie eine Lady, sondern glauben etwa, sexuelle Gefälligkeiten von ihr erwarten zu können. Das erbittert Amantha, die sich, anders als etwa Rau-Ru, dem man seine afrikanische Deszendenz an der Hautfarbe ansieht, nicht tatsächlich zur Gruppe der Schwarzen, der Sklaven rechnet. Auch für den überzeugend von Sidney Poitier gespielten Rau-Ru ist diese Zugehörigkeit aber insofern nicht unproblematisch, als er, der von den besten Lehrern erzogen wurde und als Hamish’ Erbe mit erheblichen finanziellen Mitteln ausgestattet ist, die Freundlichkeit und die Unterstützung seines weißen Förderers, dem er buchstäblich sein Leben verdankt, hasst. Unter Einsatz seiner Gesundheit und seines Wohlergehens rettete Hamish vor Jahrzehnten dem damals zwei Monate alten Rau-Ru das Leben, um ihn danach wie einen Sohn aufzuziehen. Gerade deshalb will RauRu seinen väterlichen Förderer töten, dem er dankbar sein muss; obgleich er juristisch sein Sklave ist, kann er Hamish dieses Zu-Dankverpflichtet-Sein doch nicht verzeihen. Erst zum guten Schluss des Melodrams entscheidet sich Rau-Ru, Hamish nicht zu verfolgen, sondern zu retten, ihn nicht als Vertreter eines gewalttätigen und auf Segregation setzenden gesellschaftlichen Ordnungssystems zu verurteilen, sondern Hamish’ individuelles Bemühen um caritas zu validieren, ihn als sozialen Vater zu sehen, dem geholfen werden muss.

F AMILIENDESASTER

IN

F ASSBINDERS W HITY

Rau-Rus Entwicklung in BAND OF ANGELS lässt sich also als eine beschreiben, die sich von der Verurteilung struktureller Gewalt zu einem Blick auf die Verhältnisse verschiebt, der verständnisvoll auch mit den Menschen umgeht, die auf der Seite der Unterdrücker stehen, und auf Vergebung, auf forgiveness setzt. Fassbinders WHITY führt dagegen eine gegenläufige Bewegung vor: von der Subordination, von der internalisierten Repression zur Auflehnung. Fassbinders Poitier ist Günter Kaufmann, der den Whity des gleichnamigen Westerns gibt, der im Jahr 1878 in einem südwestlichen Bundesstaat der USA spielt, einige Jahre nach der Zeit, in der BAND OF ANGELS beginnt (1853). Die Handlung lässt sich wie folgt zusammenfassen: Der Protagonist, der uneheliche Sohn des Ranchbesitzers Ben Nicholson (gegeben von Ron Randell) und einer schwarzen Köchin, lebt als livrierter Diener bei den Nicholsons. Zu der Familie Nicholson gehören Whitys

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Halbbrüder, von denen der eine, Davy (Harry Baer), debil und der andere, Frank (Ulli Lommel), schwul ist, sowie der despotische Vater und dessen nymphomanische junge Frau Katherine (Katrin Schaake). Whity – schon der Name, ein nickname, der den Protagonisten ironisch als das markiert, was er gerade nicht ist, zeigt, wie abwertend und zynisch mit dem Titelhelden umgegangen wird – leidet unter dem intriganten und gewalttätigen Familienklima. Die Demütigungen, die er ertragen muss, scheint er auszuhalten, ohne Ressentiments zu entwickeln. Sozialpsychologisch wäre Whity als Unterdrückter zu beschreiben, als Opfer von Gewalt, das sich mit denjenigen, die ihm Gewalt antun, identifiziert und deren Repressionsapparat verinnerlicht hat. Er ist sorgend um die Familie bemüht. So kümmert er sich um seinen debilen Halbbruder, lässt sich anstelle von Davy durch Ben Nicholson auspeitschen. Whity liebt seine Familie, die – lebt er doch als Diener bei den Nicholsons – gleichzeitig seine Herrschaft ist. Abbildung 1: Gewalt in der Familie

Quelle: WHITY (BRD 1971, R: Rainer Werner Fassbinder), DVD, Kinowelt (2006)

Der einzige außerfamiliäre Kontakt Whitys scheint der zu seiner Freundin, der Saloon-Sängerin und Prostituierten Hanna (gespielt von Fassbinders Lieblingsschauspielerin Hanna Schygulla), zu sein. Vergeblich versucht sie, den Geliebten dazu zu überreden, gemeinsam in den Osten zu gehen: Whity ist so sehr in das Familiendesaster der

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Nicholsons verstrickt, dass er sich nicht vorstellen kann, diese zu verlassen. Das Familiensystem der Nicholsons implodiert aber zunehmend. Whity wird gleich von mehreren Familienmitgliedern aufgefordert, zum Mörder zu werden. Auch Hanna plädiert für einen mörderischen Rundumschlag. Frank, der eine sexuelle Annäherung an Whity wagt, befiehlt dem Halbbruder, den Vater zu töten. Katherine versucht, Whity zu verführen und ihn zu veranlassen, Frank, den Erben des vorgeblich todkranken Ben, zu ermorden. Und auch Ben Nicholson beauftragt Whity, seine beiden Halbbrüder und Katherine zu ermorden. Whity sei der einzige von seinen Söhnen, der ihm, Ben, etwas bedeute. Abbildung 2: Sex in der Familie

Quelle: WHITY (BRD 1971, R: Rainer Werner Fassbinder), DVD, Kinowelt (2006)

Der viel gebetene Mörder kommt den Wünschen schließlich nach: Whity erschießt Ben, bevor er auch Katherine und Frank tötet und zuletzt Davy. Die letzten Einstellungen des Films zeigen Whity und Hanna zusammen in der Wüste, beide haben sich in den Osten aufgemacht, so kann man mutmaßen, war doch von diesem so viel die Rede. Allerdings sind die Wasservorräte zu Ende. Unbeeindruckt davon umarmen sich die Liebenden, nachdem sich Whity seiner Livreejacke entledigt hat, und tanzen miteinander. Die Wüste wird für sie zum Ort, an

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dem der ›Mischling‹ mit der weißen Freundin, die als Prostituierte auch eine Außenseiterin ist, zusammenkommen kann. Im bereits zitierten Gespräch mit Christian Braad Thomsen kommentiert Fassbinder die Auflehnung Whitys und die Schlusskonfiguration in der Wüste wie folgt: »Ja, WHITY endet mit einer Auflehnung, aber in Wirklichkeit wendet sich ja der ganze Film gegen den Neger, weil er die ganze Zeit zögert und sich nicht gegen die Ungerechtigkeiten verteidigt. Zum Schluss schießt er zwar die Leute nieder, die ihn unterdrückt haben, aber danach geht er in die Wüste, wo er dann auch stirbt, weil er zwar viel erkennt, aber nicht zu handeln vermag. Er versteht seine Situation, aber er handelt nicht danach. Er geht in die Wüste, weil er nicht wagt, die vollen Konsequenzen zu ziehen. Ich finde es verständlich, dass er seine Unterdrücker ermordet, aber es ist nicht okay, dass er danach in die Wüste geht, denn damit akzeptiert er halt doch die Übermacht der anderen. Wenn er wirklich an seine Handlung geglaubt hätte, dann hätte er sich mit anderen Unterdrückten solidarisiert, hätte sich mit ihnen zusammengetan, und dann hätten sie gemeinsam handeln können. Diese Einzelaktion am Ende des Films ist keine Lösung, und deshalb richtet sich der Film zum Schluss auch gegen den Neger.«8

Das sozialrevolutionäre Bewusstsein also, so der Regisseur, fehle dem Protagonisten. Der sich auflehnende ›Neger‹ – Fassbinder benutzt den Terminus ohne Anführungszeichen 1971 noch mit großer Selbstverständlichkeit – habe versäumt, die Verbrüderung aller Unterdrückten voranzubringen und finde deshalb zu Recht in der Wüste den Tod. Die gleichzeitig hölzern und holzschnittartig anmutenden politischen Theoreme, die Fassbinder hier als Schlüssel zum Werk anbietet, sein kommentierender Blick auf den Film, verdienen ihrerseits einen Kommentar. Schon die umstandslose Rubrizierung des Patrizids, Matrizids und Fratrizids als ›Auflehnung‹ reduziert die komplexe Konfiguration, die der Film präsentiert – changiert Whitys Aktion doch zwischen Auflehnung, Revolte, Rache für die erlittenen Demütigungen einerseits und einem hyperbolischen Gehorsam, einer BefehlsÜbererfüllung andererseits. Der Mörder kommt auf seine Weise den

8

Thomsen, Christian Braad: »›Meine Filme handeln von Abhängigkeit‹ (1971). Rainer Werner Fassbinder über WHITY«, in: Fischer, Fassbinder über Fassbinder: S. 221-227: hier S. 223.

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Bitten seiner Familienmitglieder nach. Auch das shootout gegen Ende des Films lässt im Unklaren, ob sich hier ein Unterdrückter zum Subjekt seines Handelns macht und agency erwirbt, oder ob eine gequälte Kreatur irgendwie doch die ihr gegebenen Befehle umsetzt, also Handlanger und Erfüllungsgehilfe bleibt. Abbildung 3: Begegnung mit Waffe

Quelle: WHITY (BRD 1971, R: Rainer Werner Fassbinder), DVD, Kinowelt (2006)

Auch die Gleichsetzung von Wüste und Tod ist prekär, unterschlägt sie doch, dass die Bilder, die wir am Schluss des Filmes von den Liebenden vorgeführt bekommen, voller Serenität, ja voller Glück sind. Es mag ja sein, dass die Liebe zwischen den beiden, die wir sehen, eine todgeweihte ist. Der Tod, das Ende der Beziehung wird filmisch aber gerade nicht dargestellt. Nach Hause geschickt werden die Kinozuschauer mit Bildern, die zwei glückliche, unangestrengte Menschen an einem Ort zeigen, den man mit dem Foucault’schen Konzept der Heterotopie beschreiben könnte. Es gebe – so Michel Foucault – in jeder Kultur, in jeder Zivilisation »wirkliche Orte, […] die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplazierungen oder Widerlagen, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können. Weil diese Orte ganz ande-

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re sind als alle Plätze, die sie reflektieren oder von denen sie sprechen, nenne ich sie im Gegensatz zu den Utopien die Heterotopien.«9

Die Heterotopie vermöge – so fährt Foucault fort – »an einen einzigen Ort mehrere Räume, mehrere Plazierungen zusammenzulegen, die an sich unvereinbar sind«.10 In WHITY ist die Wüste ein Ort, für den das von Foucault Formulierte gilt – ein Ort, der unvereinbare »Plazierungen« zusammenbringt, dessen ›Leere‹, Kargheit, Todesverfallenheit zur ›Fülle‹, zum endlich möglichen Zusammensein, zum selbstvergessenen Tanz wird. Gekoppelt sind die von Foucault beschriebenen Heterotopien mit Heterochronien, Räumen, die mit der »herkömmlichen Zeit brechen«11 und den Eindruck von Quasi-Ewigkeit erwecken. Angesichts dieser Schlussbilder verlieren Spekulationen, auch Spekulationen des Regisseurs, über ein Versterben der Protagonisten nach dem Abspann des Films an Überzeugungskraft. Abbildung 4: Die Wüste als Ballsaal

Quelle: WHITY (BRD 1971, R: Rainer Werner Fassbinder), DVD, Kinowelt (2006)

9

Foucault: Michel: »Andere Räume (1967)«: in: Karlheinz Barck (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam 1993, S. 34-46, hier S. 39.

10 Ebd., S. 42. 11 Ebd., S. 43.

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Schließlich ist noch auf die Einschätzung Fassbinders einzugehen, der Film richte sich »gegen den Neger«, weil er versäume, »sich mit anderen Unterdrückten« zu solidarisieren. Nun sind die dramatis personae in WHITY im Wesentlichen aus der Nicholson’schen Familie, den »Unterdrückern«, zusammengesetzt. Mit wem sollte sich der Protagonist also verbrüdern? Wenn er am Endes des Films mit Hanna aufbricht, tut er sich mit der einzigen wichtigen Figur, die außerhalb seiner Familie steht, der Hure, zusammen, folgt also so gut wie möglich dem zitierten Postulat. Hätte das Solidarisierungssujet vorrangig gestaltet werden sollen, hätten vom Filmemacher Fassbinder schlicht mehrere Outcasts eingeführt werden müssen. Die Story, die WHITY erzählt – und das ist eine Stärke und kein Versäumnis des Films –, setzt gerade keine filmische Variation des Kommunistischen Manifests, dass alle Unterdrückten sich zu vereinigen hätten, in Szene. Sie zeichnet eher das luzide Sozio- und Psychogramm einer Gruppe, die ineinander verstrickt ist, die komplexe sadomasochistische Spielkonfigurationen ausgebildet hat, die sich zerfleischt. Whity besetzt eine prekäre Position in diesem Familien- und Herrschaftssystem, aber eben nur eine. Prekär ist auch die Position des debilen Davy, den seine Stiefmutter »einschläfern« lassen will, oder die des homosexuellen Frank, der von seinem Vater ausgepeitscht wird. Und auch Bens junge Frau Katherine glaubt nur, sie agiere souverän. Sie betrügt ihren Ehemann mit einem Mexikaner. Der allerdings wird von ihrem Mann bezahlt, um sie glauben zu lassen, er, Ben, sei todkrank. Die Intrigantin ist selbst Opfer einer Intrige. Die Gefühlsökonomie in der Familie ist bestimmt durch Kippfiguren von Liebe und Hass, durch sadistische Ausbrüche. Die Unterdrücker sind gleichzeitig Unterdrückte, alle sind voneinander abhängig, das Netz der libidinösen Verstrickungen ist engmaschig. Inzest liegt in der Luft. Katherine versucht ihren ›Stiefsohn‹ Whity zu verführen, auch Frank in Korsage, Netzstrümpfen und Strapsen macht seinem Halbbruder erotische Avancen. Wir haben es mit einem Familiendesaster ohnegleichen zu tun, die Nicholsons lassen sich als Modellkonfiguration von Dekadenz, Maliziosität und Perversion lesen. Das, was als ›normal‹ gilt, die Familie, lässt sich in Fassbinders Film nur als ›Pool‹ beschreiben, in dem sich Deviantes, Anormales, Randständiges versammelt. Die von der Kamera in den Blick genommene Gruppierung kann nicht als eine skizziert werden, die ein Zentrum hat und an deren Rand einzelne abgedrängt werden. Alle – sogar, wenn-

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gleich weniger als die anderen Figuren, der Patriarch Ben – sind auf eine Weise randständig, sind stigmatisiert und gezeichnet. Abbildung 5: Inzest liegt in der Luft

Quelle: WHITY (BRD 1971, R: Rainer Werner Fassbinder), DVD, Kinowelt (2006)

Insofern geht es in Fassbinders Film, der mit seiner Entscheidung, einen ›schwarzen‹ Protagonisten in einer ›weißen‹ Familie zu positionieren, an Race-Melodramen des klassischen Hollywoodkinos anschließt, nicht nur um die Analyse rassistischer Gewalt – sondern um die Analyse von Gewalt, die unterschiedlich motiviert ist – auch eben rassistisch. In dem bereits zitierten Interview mit Thomsen erläutert Fassbinder: »Als ich ›Whity‹ gedreht habe, hatte ich mir nicht vorher überlegt, einen Film über Rassismus zu drehen, und als ich ›Katzelmacher‹ gedreht habe, habe ich auch nicht gesagt, so, jetzt mach ich einen Film über Gastarbeiter – obwohl man das später über ›Katzelmacher‹ behauptet hat und mir dafür Preise gegeben hat. Mit dem Film ›Der amerikanische Soldat‹ wollte ich auch keinen Film über Vietnam drehen, für mich war immer wichtig, Filme über Menschen und deren Verhältnis zueinander zu drehen, über deren Abhängigkeit voneinander und ihre Abhängigkeit von der Gesellschaft. Meine Filme handeln von Abhängigkeit, und das ist ja eigentlich sehr sozial, denn Abhängigkeit macht Men-

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schen unglücklich, und wenn man das bewusst macht, dann arbeitet man halt sozial.«12

Die Frage bleibt, ob ›Abhängigkeit‹ tatsächlich eine Größe ist, die als Matrix gesellschaftlicher Gewaltanalyse brauchbar erscheint, oder ob es nicht plausibler wäre, die jeweils spezifischen Dependenzkonfigurationen, wie es ja auch beispielsweise die race studies, sm studies, disability studies, gender studies, queer studies vorführen, in ihren jeweiligen Funktionsmechanismen zu untersuchen. Fassbinders generalisiertem Labeling zum Trotz setzt aber auch WHITY nicht einfach ›Abhängigkeit‹ in Szene, sondern entwirft eine Konfiguration, in der die schwierige Situation des schwarzen Protagonisten dargestellt, aber nicht isoliert wird, sondern in Bezug gesetzt ist zu anderen sozialen und psychischen Verwerfungen. In der Fassbinder-Literatur ist wiederholt beschrieben worden, dass das Familienbild, das der Western WHITY zeichnet, auch eine Momentaufnahme, gewissermaßen das Schlussbild der antiteater-Gruppe ist. Herbert Spaich formuliert: »Die Arbeit an ›Whity‹ beendete endgültig das Experiment einer ›antiteater‹Kommune. Ein Stück Trauerarbeit wird Fassbinder im Herbst 1970 mit ›Warnung vor einer heiligen Nutte‹ drehen. Fassbinder später in einem Interview: ›Die Gruppe kam bei den Dreharbeiten zu ›Whity‹ aus dem Münchner Eintopf heraus und begriff dann erst, daß sie nie eine Gruppe gewesen war.‹ Kühn interpretiert läßt sich ›Whity‹ durchaus als Schlüsselgeschichte auf das Ende einer ›Gruppe‹ betrachten. Zum Schluß des Films wird die ganze verdorbene Sippschaft, um die sich die Geschichte dreht, vom [Titel-]Helden umgebracht.«13

Was backstage passierte, was sich am Rande der Drehtage ereignete, unterschied sich (glaubt man den Äußerungen der damals Beteiligten) kaum von dem, was von der Kamera aufgenommen wurde. Die anti-

12 Thomsen, Christian Braad: »›Meine Filme handeln von Abhängigkeit‹ (1971). Rainer Werner Fassbinder über WHITY«, in: Fischer, Fassbinder über Fassbinder, S. 221-227, hier S. 224. 13 Spaich, Herbert: Rainer Werner Fassbinder. Leben und Werk, Weinheim: Beltz-Quadriga 1992, S. 138.

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teater-Gruppe implodierte, und was im Film mit der NicholsonFamilie geschieht, lässt sich als Protokoll dieser Implosion lesen. Insofern kann Günter Kaufmanns shootout – on screen wird etwas in Szene gesetzt, das deutliche off-screen-Bezüge hat – als phantasmatisches ›Ausradieren‹ der mit Konflikten zum Bersten gefüllten Gruppe verstanden werden. Abbildung 6: Familienbild

Quelle: WHITY (BRD 1971, R: Rainer Werner Fassbinder), DVD, Kinowelt (2006)

W HITY

UND DAS

G ENRE ›W ESTERN ‹

Mit diesem shootout am Ende des Films schließt WHITY an WesternKonventionen an, ist der Westerner der Tradition doch eine Figur, die ihr Schicksal und damit auch das Gesetz selbst in die Hand nimmt. Der Western feiert den Mann als autonomes Subjekt, das sich nicht binden lässt und zu dessen Lebensform die Wanderschaft gehört. Am Ende des Westerns zieht der gunfighter in der Regel weiter. Nicht selten sehen wir als Schlussbild eines Westerns ein Paar, zwei Männer, dem Horizont entgegen reiten, immer auf der Suche nach neuen Gelegenheiten ihre Männlichkeit zu beweisen, das Projekt autonomer Subjektsetzung weiterzuverfolgen. Dieses Skript, das dem Western zugrunde liegt, ist eines, das der Geschichte des drangsalierten Outcasts, die Fassbinder erzählt, diametral entgegensteht. In diesem Verfehlen des Männlichkeits- und Autonomieprojekts verweist Fassbinders Film in-

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vers auf das Genre, in dessen Hohlform er sein Race-Melodrama einschreibt: auf den Western. Fassbinders Protagonisten lassen sich in das Western-Projekt nicht einbinden. Whity macht sich am Ende des Films nicht mit einem gunfighter, sondern mit der Geliebten auf. Hanna und Whity sind nicht zu Pferde, sondern zu Fuß und sie gehen wohl nach Osten, folgen nicht der Bewegung nach Westen, die der klassische Western in Szene setzt. Den Film hindurch hatte Hanna Whity immer wieder vorgeschlagen, gemeinsam in den Osten aufzubrechen. Der Osten wird zu einer Metapher für ein Leben, das von social und racial barriers weniger beschränkt ist. Fassbinders Produktion ist also eine, die das Grundmuster des klassischen Western Go West! invertiert. Markierter Sehnsuchtsraum ist nicht das offene, noch nicht verkartete West, sondern jener Bereich Amerikas, der als zivilisatorisch erschlossen galt. Gefilmt wurde der Western WHITY – insofern bewegt sich nicht nur der Protagonist nach Osten, sondern auch der Western wird, was seinen Drehort betrifft, weit in den Osten verschoben – in Spanien, nördlich von Alméria, in den Landschaften und Set-Designs, in denen die Italo-Western von etwa Sergio Leone, Sergio Corbucci und Sergio Sollima produziert wurden. Und es lassen sich durchaus vereinzelte Punkte nennen, in denen Fassbinders Western an italienische Genrefilme à la LEICHEN PFLASTERN SEINEN WEG (1968)14 oder ZWEI GLOR15 REICHE HALUNKEN (1968) anschließt. Sind Fassbinders Filme dann ›aus‹, wie immer wieder pointiert formuliert wird, wenn alle Figuren denunziert sind, präsentieren auch Italo-Western ein Personal, das durch schäbige und eigennützige Antihelden charakterisiert wird. In den Italo-Western gilt das Wertesystem, für das die gunfighter des klassischen Hollywood-Western noch in den Kampf ziehen, nicht mehr. Die Differenz zwischen gut und böse ist aufgehoben. Alle Figuren sind verworfen. Die Helden der Italo-Western sind destruktive Anarchisten, sie befassen sich nicht damit, das Gesetz wiederherzustellen, für die gesellschaftliche Ordnung einzustehen. Kameratechnisch ist WHITY noch weit von der prägnanten Bildsprache der Italo-Western entfernt. Jene schöpfen das Potenzial von

14 LEICHEN PFLASTERN SEINEN WEG (I/F 1968, R: Sergio Corbucci, ital. Titel: IL GRANDE SILENZIO). 15 ZWEI GLORREICHE HALUNKEN (I/ES/BRD 1966, R: Sergio Leone, ital. Titel: IL BUONO, IL BRUTTO, IL CATTIVO).

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Cinematoscope gänzlich aus und sind gekennzeichnet durch den Einsatz von extremen Nah- bis Detailaufnahmen, beispielsweise von Gesichtern, die bis zur italienischen Einstellung reichen, in der nur noch die Augen einer Person die Leinwand füllen. Und sie setzen auf schnelle Schnitte, etwa zwischen Gesichtern und Händen und Pistolen beim shootout. WHITY ist zwar bereits durch viele amerikanische und Panorama-Einstellungen gekennzeichnet, auf ›extreme‹ Einstellungen und auffällige Schnitte verzichtet die Produktion aber. Fassbinder entdeckt in WHITY die Vorzüge einer ›filmischeren‹ Kameraarbeit, allerdings bleibt sein Film noch eng an das Dispositiv Theater gebunden. Fast alle Szenen spielen in Innenräumen, im Haus der Nicholsons oder im Saloon. Fassbinders Film kann Außenaufnahmen nicht ganz vermeiden. Was aber, mit Ausnahme der die Wüste inszenierenden letzten Sequenz, konsequent ausgespart wird, sind Landschaften. Lässt sich der klassische und auch der Italo-Western gar nicht denken ohne opulente Aufnahmen jenes weiten unzivilisierten Westens, der Prärie, die als der Raum markiert ist, in dem der Westerner sich zu bewähren hat, haben wir es bei Fassbinder mit einem Zimmer-Western zu tun, einem Kammerspiel, das einen Teil seiner klaustrophobischen Intensität auch dadurch gewinnt, dass niemand hinausgeht. Überdies rekurriert WHITY eher auf Schminke als Theater-Dispositiv als auf Schminke als filmtechnisches Dispositiv. Sowohl Theater als auch Film sind auf die ›Maske‹, das Make-up-Department, verwiesen. Allerdings sind die Mittel und Strategien, die Gesichter auf der Bühne und im Film herstellen, in der Regel unterschiedliche. Während erstere auf gröbere, auch in den letzten Reihen noch sichtbare Schminkeffekte setzen muss, richtet der Film ›seine Gesichter‹, möglichst ›perfekte‹ Gesichter, für die Kamera her.16 Die Gesichter von Fassbinders Nicholsons

16 Von dieser in den Blick genommen werden konnte das ›makellose‹ Gesicht seit Beginn der 1920er Jahre – seit der Entwicklung einer Grundierung durch den amerikanischen Drogisten und Friseur Max Factor, »die auch bei Nahaufnahmen des Gesichts keine Risse zeigte. Was als Produkt für die Filmindustrie begonnen hatte, wurde bald zum gefragten Luxusartikel. Factor entwickelte ein ›Society-Make-up‹, elegant verpackte kosmetische Massenware, die jeder Amerikanerin versprach, so auszusehen wie die Hollywood-Stars« – jedenfalls jeder ›weißen‹ Amerikanerin (Ankum, Katharina von: »Karriere – Konsum – Kritik. Zur Ästhetik des weiblichen

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dagegen sind häufig so auffällig weiß (weißlich-grün) geschminkt, dass sie an die von Pantomime-Darstellern erinnern. Das Gesicht und die Hände Elaine Bakers, die die Mutter Whitys gibt, sind grotesk geschwärzt (und rufen damit Schmink-Techniken für Minstrel-Shows ins Gedächtnis). Abbildung 7: Fassbinders Minstrel-Show

Quelle: WHITY (BRD 1971, R: Rainer Werner Fassbinder), DVD, Kinowelt (2006) Am Schluss von WHITY sind nicht nur alle denunziert, sondern die meisten tot. Auch die beiden, die überlebt haben, Hanna und der Titel-

Gesichts«, in: Claudia Schmölders/Sander L. Gilman [Hg.], Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte, Köln: Dumont 2000, S. 175-190, hier S. 182, vgl. auch Peiss, Kathy: »Feminism and the History of Face«, in: Theodore R. Schatzki [Hg.], The Social and Political Body, New York u.a.: Guilford Press 1996, S. 161-180, und Castelbajac, Kate de: The Face of the Century. 100 Years of Makeup and Style, New York: Rizzoli 1995). Die Kosmetikindustrie konzentrierte sich lange darauf, Make-ups und Grundierungen für ›weiße‹ Gesichter zu entwerfen – und auch die Make-up-Departments des Hollywood-Films befassten sich bis in die jüngste Zeit kaum mit der Entwicklung von Makeup-Know-how für andere Hauttypen, etwa für African Americans. Ein attraktives ›weißes‹ Äußeres, diesen Glaubenssatz predigte die Kosmetikindustrie schon zu Factors Zeiten – und sie predigt ihn noch heute –, ist eine Frage des richtigen Make-ups.

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held, das interracial couple, sind (so sieht es zumindest der Regisseur) dem Tod Geweihte. Sie haben es aber – wenn auch als Morituri – zumindest ins Freie geschafft, in die Wüste, in die Prärie, jenen Raum, in dem die Western-Helden ihrem Autonomieprojekt nachgehen.

L ITERATUR Anderson, Jeffrey M.: »Rez.: Whity«, http://www.combustible celluloid.com/whity.shtml (03.08.2012). Ankum, Katharina von: »Karriere – Konsum – Kritik. Zur Ästhetik des weiblichen Gesichts«, in: Claudia Schmölders/ Sander L. Gilman (Hg.), Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte, Köln: Dumont 2000, S. 175-190. Behrens, Ulrich: »Rez.: Whity«, http://www.filmzentrale.com/rezis/ whityub.html (03.08.2012). Castelbajac, Kate de: The Face of the Century. 100 Years of Makeup and Style, New York: Rizzoli 1995. Fojas, Camilla: »Mixed Race Frontiers. Border Westerns and the Limits of ›America‹«, in: Dies./Mary Beltrán (Hg.), Mixed race Hollywood, New York/London: NY UP 2008, S. 45-63. Foucault, Michel: »Andere Räume (1967)«, in: Karlheinz Barck (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam 1993, S. 34-46. Glasenapp, Jörn: »Jenseits des Rio Grande. Mythische Strukturen im US-amerikanischen Mexikowestern«, in: Manfred Engelbert u.a. (Hg.), Märkte, Medien, Vermittler. Fallstudien zur interkulturellen Vernetzung von Literatur und Film, Göttingen: Wallstein Verlag 2001, S. 355-386. Gonzalez, Ed: »Rez.: Whity«, http://www.slantmagazine.com/film/ review/whity/703 (03.08.2012). Mulvey, Laura: »Afterthoughts on ›Visual Pleasure and Narrative Cinema‹ inspired by King Vidor’s DUEL IN THE SUN (1946)«, in: Dies. (Hg.), Visual and Other Pleasures, London: Palgrave Macmillan 1989, S. 29-37. Peiss, Kathy: »Feminism and the History of Face«, in: Theodore R. Schatzki (Hg.), The Social and Political Body, New York u.a.: Guilford Press 1996, S. 161-180.

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Schwartz, Dennis: »Rez.: Whity«, http://homepages.sover.net/~ozus/ whity.htm (03.08.2012). Spaich, Herbert: Rainer Werner Fassbinder. Leben und Werk, Weinheim: Beltz-Quadriga 1992. Thomsen, Christian Braad: »›Meine Filme handeln von Abhängigkeit‹ (1971). Rainer Werner Fassbinder über WHITY«, in: Robert Fischer (Hg.), Fassbinder über Fassbinder. Die ungekürzten Interviews, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 2004, S. 221-227.

FILME ALL THAT HEAVEN ALLOWS (USA 1955, R: Douglas Sirk) ANGST ESSEN SEELE AUF (BRD 1974, R: Rainer Werner Fassbinder) BAND OF ANGELS (USA 1957, R: Raoul Walsh) DUEL IN THE SUN (USA 1946, R: King Vidor) GONE WITH THE WIND (USA 1939, R: Victor Fleming) IMITATION OF LIFE (USA 1959, R: Douglas Sirk) LEICHEN PFLASTERN SEINEN WEG (I/F 1968, R: Sergio Corbucci, ital. Titel: IL GRANDE SILENZIO) NORTH WEST MOUNTED POLICE (USA 1940, R: Cecil B. DeMille) THE SEARCHERS (USA 1956, R: John Ford) THE UNFORGIVEN (USA 1960, R: John Huston) WHITY (BRD 1971, R: Rainer Werner Fassbinder) ZWEI GLORREICHE HALUNKEN (I/ES/BRD 1966, R: Sergio Leone, ital. Titel: IL BUONO, IL BRUTTO, IL CATTIVO

»Schrei, Whity, schrei« Sadomasochismus und Dynamiken der Macht in Fassbinders W HITY1

P RISCILLA L AYNE

F ASSBINDERS »D EEP S OUTH M ELODRAMA « Die Titelfigur in Rainer Werner Fassbinders WHITY (BRD 1971), dargestellt von dem afrodeutschen Schauspieler Günther Kaufmann, ist der uneheliche Sohn des weißen Plantagenbesitzers Ben Nicholson und dessen schwarzer Köchin Marpessa. Whity lebt und arbeitet als Diener im Haus der Nicholsons und wird dort wiederholt geschlagen und gedemütigt. Whitys Verhalten wurde von der Kritik als übertriebener Gehorsam beschrieben, der fast wie die Parodie eines schwarzen Sklaven in einer Minstrel-Show wirkt. Wallace Steadman Watson behauptet: Whity »obsequiously does the bidding of the members of

1

Eine andere Version dieses Artikels ist im Companion to German Cinema erschienen. Vgl. Layne, Priscilla: »Lessons in Liberation: Fassbinder’s WHITY at the Crossroads of Hollywood Melodrama and Blaxploitation«, in: Terri Ginsberg/Andrea Mensch (Hg.), A Companion to German Cinema, Malden, Mass.: Wiley-Blackwell 2012, S. 260- 286. Mein Dank gilt David Gramling, Assistant Professor des Department of German Studies an der University of Arizona, sowie den Lehrenden und Studenten des Department of Germanic and Slavic Languages and Literatures der University of North Carolina in Chapel Hill für ihre Anmerkungen und Anregungen zu einer früheren Version dieses Textes.

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what he calls ›my family‹, no matter how unreasonable«2 und Christian Braad Thomsen beschreibt Whity als »the ideal slave type to such a degree that he hardly sees himself as oppressed. He thinks his status is natural and just makes it a point of honour to satisfy his masters«.3 Herbert Spaich geht sogar so weit, Kaufmanns Spiel mit Al Jolsons Blackface-Darstellung in THE JAZZ SINGER (USA 1927) zu vergleichen.4 Als WHITY kürzlich auf DVD erschien, wurde in deutschen Zeitungen die Titelfigur als schwarzer Bediensteter beschrieben, »dessen Unterwürfigkeit keine Grenzen zu kennen scheint«5 und der »schikaniert und gedemütigt [wird], wann immer es geht. Seine Mutter bespuckt ihn, der Hausherr peitscht ihn aus, im Saloon wird er aus rassistischen Gründen halb zu Tode geschlagen«.6 In einem neueren Artikel über den Film beschreibt Page Laws Whity als »Uncle Tom trying desperately to be white«.7 Sie vergleicht ihn mit dem »Americanism ›Oreo‹«8 und charakterisiert ihn als »hunky but clueless character«,9 »far too passive to be a model of any kind«.10 Laws liegt richtig in ihrer Einschätzung, dass Whity nicht als Rollenmodell dient. Seiner »aesthetics of pessimism« folgend hat Fassbinder auch hier jegliche

2

Watson, Wallace Steadman: Understanding Rainer Werner Fassbinder: Film as Private and Public Art, Columbia, SC: University of South Carolina Press 1996, S. 86.

3

Thomsen, Christian Braad: Fassbinder: The Life and Work of a Provocative Genius, London: faber and faber 1997, S. 76.

4

Spaich, Herbert: Rainer Werner Fassbinder: Leben und Werk, Beltz/Weinheim: Quadriga 1992, S. 146.

5

Westphal, Sascha: »Ungewollt rassistisch«, in: Frankfurter Rundschau

6

Knörer, Ekkehard: »Der Mulatte bäuchlings im Sand: Rainer Werner Fass-

vom 08.04.2006, S. 45. binders Western WHITY ist bis heute das unbekannteste Werk des Regisseurs«, in: die tageszeitung vom 09.02.2006, S. 16. 7

Laws, Page R.: »Rainer and Der Weiße Neger: Fassbinder’s and Kaufmann’s On and Off Screen Affair as German Racial Allegory«, in: Maria I. Dietrich/Jürgen Heinrichs (Hg.), From Black to Schwarz: Cultural Crossovers between African America and Germany, Berlin: LIT Verlag 2010, S. 245-264, hier S. 252.

8

Ebd.

9

Ebd.

10 Ebd., S. 254.

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Klassifizierung von Whity als Held unmöglich gemacht.11 Indes: Trotz seines Status’ als typischer Antiheld teile ich nicht die Meinung, dass Whity es verdient, ausschließlich als unterdrückte oder unterwürfige Figur problematisiert zu werden. Denn sieht man von Whitys finalem Akt der Rebellion einmal ab, so sind die über den gesamten Film verstreuten Beispiele für seinen Widerstand, mit dem er die Autorität der Familie Nicholson untergräbt, den meisten Kritikern keiner Erwähnung wert. Auch wenn Whity mehrfach gedemütigt und misshandelt wird, übernimmt er doch in mehreren Szenen des Films die Kontrolle über seine weißen Herren. Dieser Aufsatz versucht, in Ergänzung zur bestehenden Forschungsliteratur über Whity, die Figur Whity nicht als inhärent devot zu interpretieren. Meiner Ansicht nach lässt sich Whitys übertriebene Unterwürfigkeit vielmehr zu seinem stark autoritär geprägten Verhalten in Beziehung setzen, wenn man sein Verhältnis zu den anderen Figuren des Films aus der Perspektive des Sadomasochismus betrachtet. Eine der bedeutendsten Analysen des Sadomasochismus im Werk Fassbinders hat Kaja Silverman in ihrer bahnbrechenden Studie Male Subjectivity at the Margins geliefert, in der sie in überzeugender Weise den Sadomasochismus als einen Teil von Fassbinders Projekt darlegt, Maskulinität zu dekonstruieren. Ich stimme mit Silverman insoweit überein, dass ich den Sadomasochismus als eine der Grundlagen von Fassbinders prinzipiell anti-utopischer Haltung bezeichnen würde. So bieten die sadomasochistischen Szenen in seinen Filmen den Figuren kurze Momente der Befriedigung, ohne ihnen jedoch zu ermöglichen, dem »vicious circle of pain and oppression«12 zu entkommen. Anstatt den Fokus jedoch darauf zu richten, wie die sadomasochistischen Szenen in WHITY traditionelle Vorstellungen von Maskulinität demontieren, möchte ich vielmehr analysieren, auf welche Weise diese Szenen soziale Hierarchien in Frage stellen. In Imperial Leather: Race, Gender and Sexuality in the Colonial Contest interpretiert Anne McClintock Sadomasochismus als Verweigerung einer natürlichen so-

11 Thomsen, Christian Braad: »›Meine Filme handeln von Abhängigkeit‹ (1971). Rainer Werner Fassbinder über WHITY«, in: Robert Fischer (Hg.), Fassbinder über Fassbinder. Die ungekürzten Interviews, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 2004, S. 221-227, hier S. 223. 12 Silverman, Kaja: Male Subjectivity at the Margins, New York: Routledge 1992, S. 255.

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zialen Ordnung. Die Fokussierung darauf, dass Whity und seine weißen Herren sich abwechselnd gegenseitig dominieren bzw. dominiert werden, unterminiert, dass die Machtverhältnisse zwischen beiden Seiten stabil sind. Tatsächlich hinterfragen die sadomasochistischen Szenen die binäre Opposition von (weißem) Unterdrücker und (schwarzem) Unterdrückten, was sich am deutlichsten im Titelhelden selbst verkörpert findet. Whitys bloße Existenz als ›Mulatte‹, der die Kluft zwischen der ›Rasse‹ der weißen Herren und deren schwarzen Sklaven überbrückt, unterläuft die Auffassung, dass schwarz und weiß bzw. Opfer und Unterdrücker trennscharfe und tragfähige Kategorien sind. Sein sehr persönlich motivierter Mord am Vater – als Verwandtem und Unterdrücker – ermöglicht es zudem, Whitys Status als ›Mulatte‹ in eine Verbindung zum Terrorismus zu stellen, so wie es Christian Braad Thomsen getan hat.

S EXUALITÄT ETHNISCHER

S TÖRFAKTOR H IERARCHIEN

ALS

Fassbinder hat zu Beziehungen, die über Unterdrückung funktionieren, geäußert: »es ist immer noch besser, die Schmerzen zu genießen, als sie nur zu erleiden. Das gilt übrigens für alle Minderheiten«,13 und dieser Einstellung scheint Whity zu folgen. Besonders am Anfang des Filmes wird Whity als ›Uncle Tom‹ oder ›tragischer Mulatte‹ dargestellt. Während die Nicholson-Familie beim Abendessen sitzt, betritt Whity das Zimmer mit einem Tablett, woraufhin Kate einen Schrei von sich gibt. Als Sklave, also jemand, der ethnisch und ökonomisch unterlegen ist, soll Whity ebenso wie seine Arbeit unsichtbar sein. Aus diesem Grund löst seine Präsenz bei Kate einen Schrei aus. Als Strafe für sein Vergehen peitscht Ben Whity aus, während er sich bückt, um das Tablett aufzuheben. Whity krümmt sich hilflos auf dem Boden. Sein gesamter Torso füllt das Bild, wodurch er überlebensgroß erscheint – ein Effekt, der in starkem Kontrast steht zu seiner unterwürfigen Antwort auf Bens Misshandlung: »Ich danke, Massa.«

13 Thomsen, Christian Braad: »›Es ist besser die Schmerzen zu genießen, als sie nur zu erleiden‹ (1977). Rainer Werner Fassbinder über SATANSBRATEN,

CHINESISCHES ROULETTE, DESPAIR und zwei Projekte«, in: Fischer:

Fassbinder über Fassbinder, S. 391-404, hier S. 393.

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Ein Dialog zwischen Whity und seiner Mutter Marpessa, welcher der Szene mit der Peitsche folgt, zeigt, dass Whity eventuell von einem internalisierten Rassismus geprägt ist und die weiße Hegemonie uneingeschränkt akzeptiert. Whity betritt die Küche und weist Marpessa darauf hin, dass die Nicholsons mit dem Essen nicht zufrieden sind: WHITY:

Sie sagen der Pudding schmeckt nicht.

MARPESSA:

Denen schmeckt manches nicht.

WHITY:

Ich glaube, du verstehst mich nicht. Ich möchte, dass ihnen alles gefällt, was wir ihnen machen. Whity beginnt seine Stiefel zu putzen. Seine Mutter sieht ihn angewidert an. Sie warten.

Nach diesem kurzen Austausch kehrt Marpessa wieder zu ihrer Arbeit zurück und singt dabei Sklavenlieder. Whity reagiert auf den Gesang seiner Mutter mit dem Vorwurf: WHITY:

Du sollst diese Lieder nicht immer singen.

MARPESSA:

Welche Lieder?

WHITY:

Schwarze Lieder.

Nach dieser Antwort geht Marpessa langsam auf Whity zu, spuckt ihm ins Gesicht und zischt »Whity« – seinen ihn lächerlich machenden Spitznamen. Sein tatsächlicher Name ist Samuel King. Eventuell wählte Fassbinder »Whity«, da dieser Ausdruck, meistens allerdings »whitey« geschrieben, von William Van Deburg als negativ konnotierter Begriff geprägt wurde, den schwarze Revolutionäre gegen Weiße verwenden konnten und der in linken Studentenkreisen zirkulierte.14 In den beschriebenen Szenen erscheint Whity als jemand, der sich der rassistischen Hegemonie angepasst hat und zumindest nach außen hin seine unterlegene Position akzeptiert, auch wenn er sich insgeheim wünscht, als Weißer akzeptiert zu werden. Claudia Liebrand führt daher in ihrem Aufsatz in diesem Band, in dem sie WHITY mit

14 Vgl. Ege, Moritz: Schwarz Werden: ›Afroamerikanophilie‹ in den 1960er und 1970er Jahren, Bielefeld: transcript 2007, S. 104 und 123.

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BAND OF ANGELS vergleicht,15 aus, dass Whity (bzw. Günther Kaufmann) Fassbinders Sidney Poitier ist. Sie bezieht sich damit auf die Parallelen im Verhalten von Whity und dem von Poitier gespielten gehorsamen Sklaven Rau-Rau, der seinem gütigen Herren völlig ergeben ist und ihn im Bürgerkrieg vor der Union Army rettet. Wenngleich Whity zu Beginn genauso gehorsam ist wie Rau-Rau, führt er am Ende jedoch die Rebellion aus, die der andere nur in Erwägung zieht. Bei Whity besteht ein Großteil seiner Macht aus seiner ambivalenten und stark ausgeprägten Sexualität. Im Vergleich mit den Nicholsons, die ziemlich kränklich erscheinen, strahlt Whity Lebenskraft aus. Man würde erwarten, dass Whity als Diener eine weiße oder zumindest helle Uniform auf der Plantage der Nicholsons trägt, da Weiß mit Sauberkeit und Ordnung assoziiert wird. Die Tatsache, dass er seinen weißen Anzug nur in seiner Freizeit trägt, bei der Arbeit hingegen einen roten, betont seine Vitalität und sein Rebellionspotenzial. Die Nicholsons sind nicht nur auf seine Arbeit und seine Loyalität als Sklave angewiesen – immerhin vertrauen sie ihm ihre dunkelsten Geheimnisse an –, sondern können zudem seiner sexuellen Anziehungskraft nicht widerstehen, einer Anziehungskraft, die auf sein muskulöses und exotisches Äußeres zurückzuführen ist. Whity steht für das Paradox des schwarzen Sklaven, der in der weißen Imagination widersprüchliche Phantasien von Macht (weil er versklavt ist) und Unterwerfung (weil er der hypersexuelle andere ist) auslöst. Alle vier Nicholsons fühlen sich einerseits von Whitys Körper angezogen, haben andererseits aber auch Angst vor seinem Potenzial, ihnen etwas anzutun. In diesem Kontext erscheint Anne McClintocks Argumentation in Imperial Leather hilfreich, um das sadomasochistische Spiel zwischen Whity und seinen weißen Herren zu verstehen. McClintock beschreibt das Verhältnis zwischen Arthur Munby, einem bürgerlichen Geschäftsmann, und dem Hausmädchen Hanna Culwick im viktorianischen England16 und zeigt, dass es in deren sadomasochi-

15 Fassbinder erklärte, dass WHITY von Raoul Walsh’s plantation melodrama BAND OF ANGELS (USA 1957) mit Clark Gable als ›gutem‹ Sklavenbesitzer und Sidney Poitier als seinem treuen Sklaven inspiriert wurde. 16 Cullwick war jedoch nicht Munbys Dienerin. Die beiden führten eine ganze Reihe von S/M-Rollenspielen aus: Cullwick kostümierte sich als Dame der Upper Class, als Mann und als schwarze Sklavin; sie trug eine Kette um ihren Hals und ein ledernes Sklavenband, um ihrer Unterwerfung Aus-

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stischer Beziehung nicht um einen mächtigen Herrn geht, der seine schwache Dienerin dominiert: »with its exaggerated emphasis on costumery, script and scene, S/M reveals that social order is unnatural, scripted and invented […]. Since S/M is the theatrical exercise of social contradiction, it is self-consciously antinature, not in the sense that it violates natural law, but in the sense that it denies the existence of natural law in the first place. S/M presents social power as sanctioned, neither by nature, fate nor God, but by artifice and convention and thus as radically open to historical change. S/M flouts social order with its provocative confession that the edicts of power are reversible.«17

Cullwick ging es darum, den Wert ihrer Arbeit zu betonen. Im viktorianischen England, wo weibliche Hausarbeit nicht anerkannt war und unsichtbar gemacht wurde, können Cullwicks zwanghaftes Zählen der Stiefel, die sie geputzt hat, ihr Posieren in schmutziger Kleidung und ihr Tragen eines Sklavenbandes, welches für ihre Dienstherren deutlich sichtbar war, als Trotzaktionen gesehen werden. Cullwick bestand darauf, dass sie nicht wirklich Munbys Sklavin war; es war ihre Entscheidung, sich als Sklavin zu verkleiden – ein Übereinkommen, welches zunächst nur für die beiden privat bestimmt war. Wenn Munby von Cullwick erwartete, sich öffentlich als seine Dienerin auszugeben, lehnte sie dieses rigoros ab und als die beiden schließlich heirateten, bestand Cullwick darauf, weiterhin ein Gehalt für ihre Arbeit zu bekommen. Weit entfernt davon, in einem Verhältnis zu leben, in dem der männliche Herr die weibliche Dienerin unterdrückt, hatte Cullwick also tatsächlich genau so viel, wenn nicht noch mehr, Macht. Meiner Meinung nach kann das Verhältnis zwischen Whity und den Nicholsons mit dem zwischen Cullwick und Munby verglichen werden. Wie die Beschreibung der Peitschenszene im Esszimmer verdeutlicht hat, spielt Whity hier den gehorsamen Diener. Schaut man sich die Unterwerfungsszenen insgesamt genauer an, erkennt man,

druck zu verleihen. Darüber hinaus beschreibt Cullwick in ihren Tagebüchern die Freiheit, die sie durch ihre Verkleidungen erlangte, wenn sie etwa als Dienstmädchen auf den Straßen von London unterwegs war oder als männlicher Fahrer verkleidet mit Munby reiste. 17 McClintock, Anne: Imperial Leather: Race, Gender and Sexuality in the Colonial Contest, New York: Routledge 1995, S. 143f.

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dass er nicht nur ein Spiel spielt, sondern auch die Artifizialität des Verhältnisses der Nicholsons untereinander und ihm gegenüber genau erkennt. Die Mitglieder der Nicholson-Familie gehen davon aus, dass Ben bald sterben wird. Gierig auf sein Erbe, fordert Frank Whity auf, Ben zu töten. Kate will hingegen, dass Whity Frank tötet, damit sie seinen Anteil der Erbschaft bekommt. Als Frank und Kate ihren Rassismus Whity gegenüber offen zum Ausdruck bringen, ist sich Whity bewusst, dass ihr Zorn in Wirklichkeit nicht rassisch motiviert ist, sondern sich in ihrer Frustration darüber begründet, dass er ihre Wünsche nicht ausgeführt hat. In einer Szene empört sich Kate zudem darüber, dass er Frank beleidigt hat. Sie fragt ihn: »Seit wann darf ein Schwarzer einen weißen Mann beleidigen?« Anschließend nennt sie ihn »das Kreuz dieser Familie«. Dieser Vorwurf scheint einen Nerv bei Whity zu treffen, denn er bringt ihn dazu, eine einzelne Träne zu vergießen. Kates Reaktion ist kalt und gefühllos: »Guck mal, er weint. Tatsächlich, er weint. Eine menschliche Regung. Und ich war der Meinung, ihr Schwarzen seid keine Menschen.« Obwohl Kate so tut, als sei ihre Wut auf Whity rassistisch motiviert, kann er ihre Kritik nicht ernst nehmen. Warum sollte sie sich auch dafür interessieren, wie Whity Frank behandelt, wenn sie eigentlich doch will, dass er Frank tötet? Kates Sorge um Frank ist ein performatives Spiel; wenn sie daher zu Whity sagt: »Du weißt, dass du bestraft werden musst«, erscheint seine trockene Antwort wenig überzeugt: »Ja, ich habe es verdient.« Diese Reaktion ist kein Ausdruck eines internalisierten Rassismus und Selbsthasses. Seine Unterwerfung ist eine ebenso große Farce wie Kates angebliche Sorge um Frank. Kate bezieht sich auf eine Beleidigung in einer früheren Szene, in der es so scheint, als wolle Frank Whity verführen. Frank ist in seinem Schlafzimmer zu sehen und trägt die Unterwäsche seiner Mutter. Seine Schminke und die Unterwäsche ähneln in verdächtiger Weise jener von Whitys Geliebten, der Prostituierten Hanna, gespielt von Hanna Schygulla. Franks Maskerade scheint anzudeuten, dass er Whity durch die Imitation einer bestimmten weiblichen Erscheinung verführen will. Während sich Frank hier der Kleidung seiner Stiefmutter bedient, hat er sich in einer früheren Szene ihres Verhaltens bemächtigt, als Kate und er Whity verhöhnen, indem sie die Glocke läuten und ihn herumkommandieren. Kate bittet ihn um ein Glas Wasser, nur um ihn anschließend mit diesem sofort wieder fortzuschicken; beide bitten Whity, ihnen Süßigkeiten zu reichen, die auf Armeslänge in einer Schale

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liegen. Ihre absurden Befehle drücken die Willkürlichkeit ihrer Macht aus. Franks Travestie deutet sowohl auf sein homosexuelles (queeres) Begehren als auch auf seine Identifikation mit seiner Stiefmutter – womit der Film westliche patriarchale Hierarchien hinterfragt. Über Schminke, Frauen-Unterwäsche, Strümpfe und Strapse hinaus trägt Frank Stiefel im Bett. Diese Inszenierung verweist auf sadomasochistische Praktiken und ein In-Szene-Setzen von Macht, da der Reiz von Stiefeln im sadomasochistischen Spiel vor allem darauf beruht, dass sie schmutzig sind und nicht ins Bett gehören. Das Tragen von Stiefeln im Bett unterminiert auf diese Weise ›feste‹ Kategorien wie sauber/ schmutzig und angemessen/unangemessen. Frank ruft Whity mit einer Glocke, während er mit gespreizten Beinen in einladender Pose auf seinem Bett sitzt. Obwohl Frank die Begegnung initiiert, ist es Whity, der bestimmt, wie weit diese geht. Frank bittet ihn: »Komm her, mein Kleiner, und kämm mir die Haare. Du darfst mir nicht weh tun, ja?« Er streicht mit seinen Fingern über Whitys Lippen und fragt: »Hab ich zarte Hände, Whity?« Mit dieser verspielten, süßlichen Anmache versetzt sich Frank eindeutig in die feminine Rolle. Er appelliert an Whitys Fürsorglichkeit, gleichzeitig erkennt er dessen Stärke und Potenzial, ihn zu verletzen, und ist dadurch verängstigt und erregt. Während Whity sein Haar kämmt, wiederholt Frank den Befehl seinen Vater zu töten. In der gesamten Szene übernimmt er dem schwarzen Sklaven gegenüber bereitwillig die Rolle des Unterworfenen. Erst als Whity sich weigert, den Befehl auszuführen und weggeht, versucht Frank, aus dieser Rolle herauszutreten und über ethnische Kategorien seine Dominanz wiederherzustellen, indem er ihm nachruft: »Bleib stehen, dreckiger Neger!« Genau wie die oben beschriebene rassistische Bemerkung von Kate maskiert Franks Äußerung nur seine Wut darüber, dass Whity sich weigert, seinen Vater zu töten. Wäre Whity tatsächlich nur ein gehorsamer Diener, würde er Frank um Vergebung bitten; stattdessen ignoriert er ihn jedoch und verlässt den Raum ohne ein weiteres Wort. Dies ist nicht die einzige Szene, in der Frank als Unterlegener dargestellt wird. An einer anderen Stelle kniet er auf dem Boden und trägt eine Ku-Klux-Klan-Kapuze, die seinen Versuch illustriert, durch Rollenspiele unterschiedliche Identitäten anzunehmen – die einer heißblütigen Prostituierten bzw. Varietétänzerin und die eines dominanten weißen männlichen Aggressors, der allerdings sofort von seiner Stiefmutter, die ihn schlicht auslacht, entmannt wird. So wie in Fassbinders früherem Film KATZEL-

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(BRD 1969) wird auch in WHITY Rassismus als Konstrukt entlarvt: als ein Hass, der sich gegen das Andere richtet, eigentlich aber auf einer ganzen Reihe von zwischenmenschlichen Problemen wie Unsicherheit über die Geschlechteridentität oder Gier gründet. Whitys Durchsetzungsfähigkeit und sexuelle Anziehungskraft werden auch in einer anderen Szene mit seinem zweiten Halbbruder, dem psychisch kranken Davy, deutlich. Während des ganzen Films scheint sich Davy mit Marpessa und Whity als den ethnisch Anderen zu identifizieren. In einer Einstellung sieht man ihn, wie er in der Küche sitzt und Marpessa dabei hilft, Kartoffeln zu schälen. Als Whity ihn ablöst und aus der Küche schickt, kehrt er erneut zurück. Am Ende des Films, als Whity sich langsam durch das Haus bewegt und nach und nach alle Nicholsons exekutiert, geht Davy neben ihm her, als ob Whitys Gefühle seine eigenen wären. Schließlich scheint er seiner Exekution durch Whity zuzustimmen, indem er kurz nickt, bevor dieser den Schuss abgibt. In der Szene, in der Ben, Kate und Frank die weitere Behandlung ihrer Sklaven diskutieren, verlässt Davy das Zimmer. Es wird nicht klar, ob dies aus Desinteresse geschieht, Davy sich in einem seiner eigenartigen katatonischen Zustände befindet, oder ob er angewidert davon ist, wie seine Familie mit den Sklaven umgeht. Seinen Vater, der ihn zurückruft, scheint er jedenfalls bewusst zu ignorieren. Er geht in den Stall, wo er Whity findet. Nachdem Davy den Stall betreten hat, zoomt die Kamera von ihm weg und zeigt Whity, mit dem Effekt, dass Davy Whity gegenüber als Zwerg erscheint. Whity lockt Davy zu sich hinüber. Er striegelt eines der Pferde und gibt Davy dann den Striegel. Als er ihm zeigt, wie das Pferd zu bearbeiten ist, berührt er Davys Hand – ein Akt, der deutliche erotische Untertöne hat. Dadurch, dass er das Pferd striegelt, bringt sich Davy abermals in die Position des Dieners. Barbara Mennel weist in ihrer Interpretation von ANGST ESSEN SEELE AUF darauf hin, dass Fassbinders häufig verwendete masochistische Ästhetik »allow[s] for a position of liberalism that includes a humanist sacrifice for the Other and a disavowal of racism«; dem liberalen Deutschen werde die Möglichkeit gegeben, den Rassismus dadurch zu ersetzen, dass er sich für das oder den Andere(n) opfert.18 Das Pferd kann darüber hinaus als Substitut für MACHER

18 Mennel, Barbara: »Masochistic Fantasy and Racialized Fetish in Rainer Werner Fassbinder’s ALI: FEAR EATS THE SOUL«, in: Michael C. Nie-

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Whity gesehen werden, als Anspielung auf die animalische Vitalität, die er für Davy repräsentiert. Dies bringt uns zu einer Beobachtung von Frantz Fanon, der in Peau Noire, Masques Blancs anmerkt: »J’ai toujours été frappé par la rapidité avec laquelle on passe de ›beau jeune Noir‹ à ›jeune poulain, étalon‹«.19 Zu einem sentimentalen Soundtrack zoomt die Kamera in eine Nahaufnahme von Davys Augen; als nächstes sehen wir eine Nahaufnahme von Whity, wie er zurückstarrt. Davy sinkt unterwürfig auf die Knie und beginnt, Whitys Hand zu küssen. Whity gibt ihm einen leichten Klaps, als ob er seine Avancen ablehnen würde, beginnt dann aber, Davys Haar zu streicheln und ihn zu küssen. Die mit Abstand am stärksten sexuell aufgeladene Szene findet jedoch zwischen Whity und seinem Vater Ben statt, einer Beziehung mithin, in der Whity die untergebene Rolle zukommt. In der Szene, die Page Laws als »primal scene« 20 beschreibt, überrascht Whity Ben dabei, wie dieser seinen Bruder Davy auspeitscht. Als Whity sich anbietet, anstelle von Davy die Peitschenhiebe zu empfangen, stimmt Ben zu und befiehlt ihm, sich auszuziehen. Whity zieht sein Hemd aus – eine von mehreren Szenen, in denen sein nackter Torso gezeigt wird. In einer späteren Szene in Hannas Zimmer liegt Whity mit geöffnetem Hemd auf ihrem Bett und hält ihr eine Handvoll Geld entgegen, ein deutlich sexuelles Angebot. Anstelle hier auf das Geld oder die Frau als Objekt der Begierde zu fokussieren, macht die Kamera einen 180Grad-Schwenk zu einer halbnahen Einstellung von Whitys Gesicht und seinem nackten Oberkörper.21 Da Hanna unbeweglich bleibt, kann

kerk/Carl Niekerk Finke (Hg.), One Hundred Years of Masochism, Amsterdam: Rodopi 1995, S. 191-206, hier S. 192. 19 Fanon, Frantz: Peau Noire, Masques Blancs, Paris: Éditions du Seuil 1952, S. 155. 20 P.R. Laws: Rainer and Der Weiße Neger, S. 253. 21 Verschiedene Filmkritiker und -wissenschaftler haben sich über die Funktion der Blicke in den Werken Fassbinders geäußert. Im Blick der Anderen wird Identität von außen produziert; hier zeigt sich, wie abhängig die Charaktere vom Blick Anderer sind, um ihr ›Selbst‹ zu erfahren, vgl. K. Silverman: Male Subjectivity at the Margins; Mayne, Judith: »Fassbinder and Spectatorship«, in: New German Critique 12 (1977), S. 61-74 und Elsaesser, Thomas: »Primary Identification and the Historical Subject: Fassbinder and Germany«, in: Ron Burnett (Hg.), Explorations in Film Theory:

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es sich hier nicht um ihren Blickwinkel handeln. Diese Szene kommt ohne Schnitte aus und wirkt deshalb extrem langsam; die Aufmerksamkeit wird auf den Wunsch eines unbestimmten Voyeurs gelenkt, den schwarzen Mann zu konsumieren. Als Whity sich während der »primal scene« auszieht, spielt Ben mit seiner Peitsche, wobei die Peitsche als Phallussymbol und sadomasochistisches Instrument fungiert. Unmittelbar bevor Ben beginnt, Whity auszupeitschen, fängt die Kamera alle drei in einer Einstellung ein, die auf Franks und Kates Blick anspielt, die vom Balkon aus die Szene beobachten. Als Ben Whity auspeitscht, zeigt die Kamera die beiden aus der Froschperspektive, wobei Ben links hinter Whity erscheint; nur die Oberkörper der beiden sind sichtbar. Dadurch, dass Whitys Oberkörper unbekleidet ist und man den Rest seines Körpers nicht sehen kann, wirkt die Szene wie ein sexueller Akt. Das Auspeitschen von Whity als Vertreter Davys ersetzt hier gewissermaßen den Geschlechtsverkehr, zu dem der impotente Ben nicht in der Lage ist. Den Grund für die Bestrafung des Sohnes benennt Kate: »Davy hat [Kate und Ben] letztens zugeschaut. Ben hat versagt.« Während seine Frau ihn nicht mehr erregen kann, erlangt Ben offensichtlich Befriedigung aus dem Auspeitschen von Whity. Währenddessen ruft er »Schrei, Whity, schrei… Es ist besser zu tun, was ich will«, und er hört erst dann auf, als Whity einen Schrei ausstößt, der an einen Orgasmus erinnert. Ben endet mit einem herablassenden Kommentar, der an das Bettgeflüster zwischen Partnern erinnert: »Das war doch schon ganz gut, Whity.« Obwohl Whity in dieser Szene misshandelt wird, zeigt er doch eine gewisse Stärke. Ähnlich wie bei Cullwick, die ihren Gehorsam gezielt einsetzt, ist es Whity, der bestimmt, wann und wo er geschlagen wird. So wie Cullwick die Stiefel zählt, die sie geputzt hat, zeigt auch Whity seine Stärke deutlich und voller Stolz. Er empfängt die Schläge, ohne dabei, wie Davy, gefesselt zu sein. So wie in der Szene, in der Whity auf Hannas Bett liegt, erlaubt er Ben während des Auspeitschens, aus der Bloßstellung seines Körpers Befriedigung zu ziehen. Seine Kontrolle über seine sexuelle Anziehungskraft macht einen großen Teil seiner Macht aus, die im Gegensatz zur weißen Überlegenheitsideolo-

Selected Essays from Ciné-Tracts, Bloomington: University of Indiana Press 1991, S. 86-99.

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gie steht.22 Bens, Kates und Franks Blicke auf Whitys misshandelten Körper drücken »erotic yearning«23 aus. Während der amerikanischen Sklaverei wurde sexuelle Kontrolle ausgeübt, um Versklavung und ethnische Hierarchien zu reproduzieren.24 Als erotischer Akt erlaubt das Auspeitschen von Whity Ben, seine sexuelle Anziehung zu Schwarzen auszuleben, gleichzeitig aber auch die schwarze männliche Sexualität zu beherrschen und damit seine Kastrationsangst zu unterdrücken.25 Die Kehrseite der Idolisierung schwarzer Maskulinität durch Weiße ist Angst – in den Worten von Kobena Mercer: »The big black phallus is a threat not only to the white master (who shrinks in importance from the thought that the subordinate black male is more potent and sexually powerful than he), but also to civilization itself, since the ›bad

22 In ihrer Interpretation von MUTTER KÜSTERS FAHRT ZUM HIMMEL (BRD 1975) stellt Kaja Silverman fest: »some limited power is available to the subject who recognizes her necessary subordination to the gaze, but finds potentially transgressive ways of ›performing‹ before it«; K. Silverman: Male Subjectivity at the Margins, S. 128. 23 Ebd., S. 130. 24 Hartman, Saidiya: Scenes of Subjection: Terror, Slavery, and Self-Making in Nineteenth-Century America, New York: Oxford University Press 1997, S. 84. 25 Es scheint, dass die Kastrationsangst, die der schwarze männliche Körper auslöst, in Fassbinders letztem Film QUERELLE (BRD 1982) besonders deutlich in Szene gesetzt wird. Hier spielt Kaufmann Nono, einen schwarzen Bordellbesitzer, mit dem Männer, die mit seiner Frau schlafen wollen, ein Würfelspiel spielen müssen. Wenn Nono gewinnt, darf er die Männer vergewaltigen. Nono, ausgewiesen homophob, behauptet, dass nicht er schwul sei, sondern die Männer, die ihm erlaubten, sie zu vergewaltigen. Nach seiner eigenen Aussage nimmt Nono nur an diesem Ritual teil, um sagen zu können, dass alle Männer, mit denen seine Frau schläft, Arschlöcher sind. Als Querelles Bruder Robert erfährt, dass Querelle mit Nono geschlafen hat, schlägt er ihn und sagt »You let a nigger fuck you.« Nicht die Homosexualität Querelles scheint Robert zu beunruhigen, sondern dass sein Bruder sexuelle Beziehungen zu Schwarzen unterhält. In WHITY kann der weiße Mann seine Angst vor schwarzer Sexualität durch körperliche und verbale Misshandlungen unterdrücken; in QUERELLE gelingt es dem schwarzen Mann, den Spieß umzudrehen.

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object‹ represents a danger to white womanhood and therefore miscegenation and racial degeneration«.26

Die Bedrohung, die Whity für die weibliche Keuschheit darstellt, wird illustriert durch die Anziehung, die er auf Kate ausübt. Als sie seine Wunden versorgt, nutzt sie diese Situation, um seinen nackten Oberkörper zu bewundern; in mehreren Szenen drängt sie ihn in die Ecke und versucht ihn zu küssen – nur um jedes Mal aufs Neue abgewiesen zu werden. Während des Auspeitschens, das Kate heimlich vom Balkon aus verfolgt, stößt sie hervor: »Er lässt sich für Davy schlagen, wahnsinnig!« Dieses »wahnsinnig« würde sprachlich eher zu einem jungen Mädchen passen, das seiner Bewunderung Ausdruck verleiht. In diesem Moment scheint Kate Whity zu begehren und ihn gleichzeitig dafür zu bewundern, vielleicht sogar zu beneiden, dass er von Ben misshandelt wird. Die Erregung, die dies in Kate auslöst, verweist auf einen femininen Masochismus. Kate versetzt sich in Whitys Position, in der sie endlich die sexuelle Aufmerksamkeit erhält, die der Ehemann ihr sonst versagt. Als »wahnsinnig« scheint Kate ihr Begehren des ethnisch Anderen zu empfinden – denn dieses Wort ruft sie auch während einer sexuellen Begegnung mit Garcia, dem mexikanischen »Arzt«, aus, während dieser sie auf ihren Wunsch hin schlägt. Man bekommt den Eindruck, dass sowohl Ben als auch Kate keinen sexuellen Höhepunkt miteinander, sondern nur durch gewalttätige Interaktionen mit dem ethnisch Anderen erleben können.

U NTERDRÜCKTES O PFER ODER RACHSÜCHTIGER A NTIHELD ? Die sadomasochistischen Rollenspiel-Szenen, in denen die Grenzen zwischen Schmerz und Befriedigung, Bestrafung und Belohnung verwischt werden, lassen einen binären Interpretationsansatz, in dem Whity und die Nicholsons entweder als Unterdrückende oder als Unterdrückte gesehen werden, unmöglich erscheinen. Die oben beschriebenen Szenen machen deutlich, dass Whity, Kate, Davy und Frank

26 Mercer, Kobena: »Skin Head Sex Thing: Racial Difference and the Homoerotic Imaginary«, in: Rachel Adams/David Savran (Hg.), Masculinity Studies Reader, Malden, MA: Blackwell 2002, S. 188-200, hier S. 191.

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selbst entscheiden, ob sie Subjekte oder Objekte sind. Und obwohl Ben sich niemals in der passiven Rolle positioniert, belegen die Unsicherheiten über seine Maskulinität und seine weiße Überlegenheit, dass seine Machtposition ebenso instabil ist wie die der anderen. Zudem deutet der Film darauf hin, dass es bei Gewalt und Rassismus nicht nur darum geht, dass die jeweils Stärkeren die Schwächeren dominieren, sondern es sich häufig um den Ausdruck unterdrückter Spannungen handelt. In seinem Verhalten entspricht Whity teilweise gängigen Stereotypen von Schwarzen aus der amerikanischen Literatur und dem amerikanischen Film wie Uncle Tom, dem ›tragischen Mulatten‹, oder dem gewalttätigen Lüstling.27 Ab einem gewissen Punkt wechselt der Film jedoch von der Eingrenzung des Schwarzseins zu einer Befreiung seines Protagonisten. Diese Befreiung beginnt mit Whitys sadomasochistischem Verhältnis zu den Nicholsons. Das performative Element des Sadomasochismus befreit ihn davon, lediglich der gehorsame ›Tom‹ oder der gewalttätige ›Lüstling‹ zu sein. Sein ultimativer Akt der Befreiung ist jedoch wahrscheinlich der Mord an seiner Familie. Vor seiner Exekution der Nicholsons ist Whity in Hannas Zimmer, wo sie ein letztes Mal versucht, ihn davon zu überzeugen, mit ihr zu flüchten. Sie erzählt Whity von Bens Mord an dem Mexikaner Garcia, der mit Kate fremd gegangen ist. Zusätzlich händigt sie ihm das Bestechungsgeld, das Ben ihr für das Schweigen über den Mord gab, als Beweis aus. Während dieser Szene steht Whity befangen mit gefalteten Händen und gesenktem Blick in der Ecke. Hanna packt ihn schließlich, zwingt ihm einen Kuss auf und verlangt: »Bring sie um. Bring sie alle um. Du musst dich frei machen von ihnen. Du bist doch auch ein Mensch.« Ihr überdramatisierter Aufruf ist ein Beispiel für die übertriebenen moralischen Register, die der Film bedient. Und ihr Appell an seine Menschlichkeit scheint einen direkten Effekt auf sein Verhalten zu haben. Im Anschluss an diese Szene betritt Whity den

27 Whitys inzestuöse Beziehungen zu seinem Vater und seinen Halbbrüdern erinnern an Freuds Behauptung in Totem und Tabu, dass so genannte ›primitive‹ Menschen stärker zu Inzest neigen, die Fassbinder als eine von vielen rassistischen Vorurteilen und Phantasien über ethnische Andere entlarvt und bloßstellt. Freud, Sigmund: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, Leipzig/Wien: Internationaler Psychoanalytischer Verlag 1920, S. 13.

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Saloon, indem er die Treppe von Hannas Zimmer heruntergeht. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er ihr Zimmer ausschließlich von außen, an der Seite des Gebäudes hochkletternd, betreten. Jetzt hingegen besitzt er genug Selbstsicherheit, um zu seiner Beziehung mit Hanna zu stehen. Als Whity aus Hannas Zimmer in die Bar kommt, scheinen ihm das Geld und sein Wissen über den von Ben verübten Mord Stärke und Maskulinität zu geben. Bei seinem ersten Betreten des Saloons am Anfang des Films wurde er nicht nur verprügelt und herausgeworfen (von einem Cowboy, gespielt von Fassbinder), sondern leistete auch keinerlei Widerstand; die Szene endet damit, dass er mit dem Gesicht nach unten vor dem Saloon liegt. Im Gegensatz zu dieser Schwäche hält er nun auf der Treppe inne und erwidert trotzig die Blicke der Gäste. Dann geht er zur Bar und trinkt eine halbe Flasche Whisky. Auch diese Szene ist, wie die zuvor auf Hannas Bett, ohne Schnitt gedreht, wodurch die Handlung verlangsamt und hervorgehoben wird. Als er das Geld herausholt und seine Maskulinität durch das Trinken des Whiskys demonstriert, wird er von den anderen akzeptiert. Wegen seines Geldes und seiner neu gewonnenen Stärke erlauben ihm die weißen Cowboys, die ihm zuvor den Zugang zu ihrer Gruppe versagt hatten, an ihrem Kartenspiel teilzunehmen. Die Akzeptanz, die Whity hier erfährt, gründet jedoch nicht auf einer wirklichen Veränderung, sondern auf Geld und der Darstellung von Männlichkeit. Nur weil die Cowboys ihn einladen, an ihrem Spiel teilzunehmen, heißt dies nicht, dass sie ihre rassistischen Ansichten geändert hätten. Whitys Eingliederung in die Gruppe zeigt, dass er keine Revolution plant, sondern sich nur für seine eigene Integration interessiert – eine Parallele zu dem griechischen Gastarbeiter Jorgos in KATZELMACHER. Katrin Sieg weist darauf hin, dass KATZELMACHER »establishes Jorgos’s own ethnic chauvinism by his disparaging remarks about a prospective Turkish coworker«.28 WHITY zeigt, dass weder Whitys Integration noch seine Rebellion und sein Tod zu wirklichen Veränderungen führen.29 Die Ermordung der Familie ist ein persönlicher Racheakt und kein politisches oder gesellschaftskritisches Auflehnen gegen Rassismus. Dies könnte erklären, warum Whity sei-

28 Sieg, Katrin: Ethnic Drag. Performing Race, Nation, Sexuality in West Germany, Ann Arbor: The University of Michigan Press 2002, S. 166. 29 C.B. Thomsen: »Meine Filme handeln von Abhängigkeit«, S. 223.

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nen roten Anzug nur auf der Plantage der Nicholsons trägt – sein Rebellionspotenzial ist an den häuslichen Raum gebunden. Zwar erfährt Whity vor seiner Rebellion, dass Ben Garcia ermordet hat, jedoch ist es nicht das plötzliche Erkennen von Bens falscher Moral, das zu seiner Verhaltensänderung führt, sondern vielmehr das Geld, das Hanna ihm gibt. Dieses Mittel ermöglicht es ihm, sich in die Gruppe der Cowboys zu integrieren. Whity zeigt sich hier nicht als unschuldiges Opfer, sondern als Teil genau des Systems, das ihn unterdrückt. Er verzichtet entsprechend darauf, andere unterdrückte Menschen zu suchen; Thomsen zufolge zeigen ihn die aus dem Drehbuch gestrichenen Szenen »together with other slaves who are working in the fields. He despises their revolutionary songs when he rides over the fields with his white masters and uses his whip on members of his own race if they’re not working fast enough. Over the oppressed, Whity can enjoy to the full the sweetness of power and experience his own worth«.30

Sowohl die sadomasochistischen Szenen als auch Whitys Verhalten im Saloon (und auf den Feldern) verweisen darauf, dass sein Verhalten kaum nach simplen Kategorien wie Unterdrücker/Unterdrückter oder Opfer/Täter beurteilt werden kann. Wie bereits erwähnt, steht Whitys mehrdeutige Position in der Gesellschaft in enger Verbindung zu seinem Status als ›Mulatte‹, wodurch er sich von anderen ethnischen Minoritäten in Fassbinders Filmen unterscheidet. Die ›das Andere‹ repräsentierenden Charaktere in KATZELMACHER, ANGST ESSEN SEELE AUF und DIE EHE DER MARIA BRAUN (BRD 1979) sind allesamt »Others-from-Without«: ein griechischer und ein marokkanischer Gastarbeiter sowie ein afroamerikanischer GI.31 Diese Anderen sind niemals wirklich mit den Weißen in

30 C.B. Thomsen: Fassbinder: The Life and Work, S. 77. 31 Ich verwende hier die von Michelle M. Wright geprägte Terminologie des »Other-from-Within« und »Other-from-Without«. Ein »Other-fromWithin« wird zwar als anders angesehen, jedoch trotzdem als Teil der nationalen Gemeinschaft betrachtet, während ein »Other-from-Without« ausschließlich fremd ist. Wright, Michelle M.: »Others-from-Within from Without: Afro-German Subject Formation and the Challenge of a CounterDiscourse«, in: Callaloo 26.2 (2003), S. 296-305.

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den Filmen vertraut und werden nicht als Teil der deutschen Gemeinschaft akzeptiert. Bei Whity handelt es sich jedoch um einen »Otherfrom-Within«. Er ist der Sklave »within the social system, and even the blood […] a native-born slave, the subject-other within the household itself«.32 Whitys Präsenz ist eine ständige Erinnerung an Bens Begehren des schwarzen Körpers, ein Begehren, das der weißen Superiorität entgegensteht. Wie in Douglas Sirks33 Melodram IMITATION OF LIFE (USA 1959), in dem Annies Spiel als schwarzes Hausmädchen Loras Karriere ermöglicht, löst Whitys Darstellung des schwarzen Dieners die Spannungen im Haushalt, indem sie die weiße Vormachtstellung stärkt.

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In ihrer Interpretation von Fassbinders DIE DRITTE GENERATION (BRD 1979) vertritt Imke Lode die These, dass Fassbinder in diesem Film den Sadomasochismus einsetzt, um den Minoritäten einen Ausweg aus der Opferrolle zu ermöglichen. Lode zufolge untergräbt Fassbinder »the distinction between the Law and violent political subversion through his insistence that the two practices engage in a similar form of rationally organized and callously executed violence […] the terrorists take part in the same social order they are trying to fight […]. [This] mirroring effect between society and terrorists can be understood in terms of sadomasochistic power relations that both state-supported and subversive violence engage in and perpetuate«.34

32 Middleton, Richard: Voicing the Popular: On the Subjects of Popular Music, New York/London: Routledge 2006, S. 71. 33 Fassbinders ANGST ESSEN SEELE AUF gilt als Remake von Sirks ALL THAT HEAVEN ALLOWS (USA 1955), vgl. Reimer, Robert: »Comparison of Douglas Sirk’s ALL THAT HEAVEN ALLOWS and R.W. Fassbinder’s ALI: FEAR EATS THE SOUL; Or, How Hollywood’s New England Dropouts Became Germany’s Marginalized Other«, in: Literature Film Quarterly 24.3 (1996), S. 281-287. 34 Lode, Imke: »Terrorism, Sadomasochism, and Utopia in Fassbinder’s THE THIRD GENERATION«, in: Terri Ginsberg/Kristen Moana Thompson (Hg.),

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Über WHITY sagte Fassbinder einmal: »In Wirklichkeit wendet sich ja der ganze Film gegen den Neger. […] Zum Schluss schießt er zwar die Leute nieder, die ihn unterdrückt haben, aber danach geht er in die Wüste, wo er dann auch stirbt. […] Wenn er wirklich an seine Handlung gedacht hätte, hätte er sich mit anderen Unterdrückten solidarisiert«.35

Wenn die sadomasochistischen Untertöne in DIE DRITTE GENERATION suggerieren, dass die Terroristen dieselbe Form von Gewalt wie der Staat anwenden, dann können die sadomasochistischen Szenen in WHITY so gelesen werden, dass hier dezidiert kein Mitleid mit dem Protagonisten erzeugt werden soll. In einem Interview mit Norbert Sparrow äußerte sich Fassbinder wie folgt: »Das wirklich Schlimme ist, dass man Unterdrückung nicht zeigen kann, ohne auch die unterdrückte Person zu zeigen, die auch ihre Fehler hat. […] Ich vertrete strikt den Standpunkt: Man muss das Opfer mit seinen Qualitäten und mit seinen Mängeln zeigen, seine Kraft und seine Schwäche, seine Fehler«.36

Whitys Fehler besteht darin, im System, das ihn unterdrückt, mitzuspielen, wie die Szene in der Bar zeigt. Als er schließlich rebelliert, bleibt dieser Akt auf das Persönliche, die Familie, begrenzt. Whity wird misshandelt, aber er misshandelt auch selbst. Er wird vom System unterdrückt, aber wie seine Freude über seine Integration im Saloon zeigt, trägt er zu seiner Aufrechterhaltung bei und profitiert davon. Lodes Gedanken über DIE DRITTE GENERATION führen mich zu einer abschließenden Anmerkung zu WHITY als Kommentar über den Terrorismus. Vielleicht liegt der Grund dafür, dass Whity in der Wüste stirbt, statt als Vorbild für Afrodeutsche und andere Minoritäten in ihrer Auseinandersetzung mit der deutschen Hegemonie zu überleben,

Perspectives on German Cinema, New York: G.K. Hall & Co 1996, S. 415-434, hier S. 415f. 35 C.B. Thomsen: »Meine Filme handeln von Abhängigkeit«, S. 223. 36 Sparrow, Norbert: »›Ich lasse die Zuschauer fühlen und denken‹: Rainer Werner Fassbinder über Douglas Sirk, Jerry Lewis und Jean-Luc Godard«, in: Fischer, Fassbinder über Fassbinder, S. 405-414, hier S. 409f.

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darin, dass es Fassbinder nicht um den Kampf der Schwarzen gegen ihre Unterdrücker ging, sondern um weiße Deutsche wie ihn selbst. Katrin Sieg interpretiert die Darstellungen des ›Anderen‹ durch linksgerichtete deutsche Künstler dieser Zeit nicht als ein Eintreten für Minderheiten, sondern als egozentrische Suche nach einem revolutionären Subjekt.37 Der Konflikt des ›Mulatten‹ ermöglicht Fassbinder eine einzigartige Annäherung an das Thema des deutschen Terrorismus. Die Fragen, die er in WHITY stellt, lauten: Wie kann Whity seine Existenz als Sohn des Unterdrückers damit vereinbaren, dass er selbst unterdrückt wird? Wie kann man Widerstand gegen Unterdrückung leisten, ohne dabei auf individualistische Gewaltakte zurückzugreifen, die zu keinem eigentlichen Wandel führen? Kann ein Sohn erfolgreich gegen eine Kultur rebellieren, von der er selbst ein Teil ist? Und kann man die Methoden, sprich die Gewalt seiner Vorfahren dafür nutzen, die Welt zu verbessern? Neben seinem Interesse für die Genrefilme von Douglas Sirk und Raoul Walsh wählte Fassbinder meiner Meinung nach das ungewöhnliche Setting des amerikanischen Westens im 19. Jahrhundert für WHITY, weil die Thematisierung der amerikanischen Sklaverei und das Stereotyp des ›tragischen Mulatten‹ ihm den Raum gaben, unterschiedlichste Beziehungen zwischen Unterdrückern und Unterdrückten darzustellen sowie unterschiedliche Wege, Freiheit zu erlangen, auszuloten. Genau wie die deutschen 68er mit ihren Vorfahren verwandt sind, ist der ›Mulatte‹ des plantation melodrama mit dem Unterdrücker verwandt, den er bekämpft. Whity schießt auf Ben erst, als dieser seine Vaterschaft eingesteht – wobei er behauptet, dass dieser sein einziger würdiger Sohn sei – und Whity bittet, die anderen zu töten. Damit instrumentalisiert Fassbinder die Situation des amerikanischen ›Mulatten‹, um der Bedeutung des Kampfes seiner eigenen Generation Ausdruck zu verleihen. Wie bei Whity handelt es sich um die Nachkommen von Tätern, die gleichzeitig aber Mitgefühl mit deren Opfern hatten und sich von einem Vermächtnis befreien wollten, von dem sie bereits ein Teil waren. Christian Braad Thomsen argumentiert, dass Whitys Akt der Rebellion

37 K. Sieg: Ethnic Drag: Performing Race, Nation, Sexuality in West Germany, S. 154.

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aufgrund seiner ausschließlich persönlichen Motive und seines sinnlosen Ziels zum Tod in der Wüste führt: »As long as the oppressed unconsciously adopt the norms of the system that oppresses them, then their rebellion will only reproduce what they are rebelling against. Whity must be destroyed along with his masters because even in his ostensible rebellion he sticks with their perverted individualism. Expressed in contemporary terms, Whity’s action ends in terrorism, and Fassbinder’s critique of Whity points forward to the more concrete critique of terrorism in his later work.«38

Liest man WHITY als Kritik des Terrorismus, so ist der naheliegende Bezugspunkt die Rote Armee Fraktion (RAF). Obwohl die RAF erst 1970 gegründet wurde, hatten ihre Mitglieder, unter anderem Andreas Baader und Gudrun Ensslin, bereits 1968 Brände in Münchner Warenhäusern gelegt, um gegen den Vietnamkrieg zu protestieren. In einem Interview mit Thomsen aus dem Jahre 1973 behauptet Fassbinder, Whitys Akt der Gewalt »[war] in Wirklichkeit der Versuch der Unterdrückten, sich zur Wehr zu setzen. Das ist nur nicht die richtige Art, und hier muss die Aufklärung einsetzen, man muss den Leuten zeigen, wie sie sich wehren können, ohne dabei in der Wüste zu landen«.39

Fassbinders Wunsch, seinem Publikum zu zeigen, wie man Widerstand gegen Unterdrückung leisten kann, ohne dabei »in der Wüste zu landen«, klingt wie ein Aufruf, nicht auf Gewalt zurückzugreifen, ohne einen Plan zu haben, was danach kommen könne. Indem er sich schließlich der Gewalt bedient, gehorcht Whity nicht nur weiterhin den Befehlen der Nicholsons, sondern folgt auch seinem Vater in dessen Fußstapfen. Obwohl mehrere Figuren von Mord reden, bringen nur Ben und Whity tatsächlich jemanden um. Whity nutzt also in der Re-

38 C.B. Thomsen: Fassbinder: The Life and Work, S. 77. 39 Thomsen, Christian Braad: »›Die Ästhetik der Hoffnung‹ (1973). Rainer Werner Fassbinder über DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT, ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG, WELT AM DRAHT und

ein Projekt, aus dem

ANGST ESSEN SEELE AUF werden wird«, in: Fischer, Fassbinder über Fassbinder, S. 257-265, hier S. 258.

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bellion gegen seinen Vater dessen eigene Methoden. Anstatt einen Film zu machen, der sich explizit mit dem deutschen Terrorismus auseinandersetzt, was Fassbinder später in DIE DRITTE GENERATION und in seiner Kollaboration mit Volker Schlöndorff, Alexander Kluge u.a. in DEUTSCHLAND IM HERBST (BRD 1977) nachholen wird, zieht er in WHITY eine Parallele zwischen dem versklavten ›Mulatten‹ und dem deutschen Rebellen. Aus dem Englischen übersetzt von Swantje Möller.

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»S CHREI , W HITY , SCHREI « | 91

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F ILME ANGST ESSEN SEELE AUF (BRD 1974, R: Rainer Werner Fassbinder) BAND OF ANGELS (USA 1957, R: Raoul Walsh) DEUTSCHLAND IM HERBST (BRD 1978, R: Rainer Werner Fassbinder u.a.) DIE DRITTE GENERATION (BRD 1979, R: Rainer Werner Fassbinder) DIE EHE DER MARIA BRAUN (BRD 1979, R: Rainer Werner Fassbinder) IMITATION OF LIFE (USA 1959, R: Douglas Sirk) KATZELMACHER (BRD 1969, R: Rainer Werner Fassbinder) MUTTER KÜSTERS FAHRT ZUM GLÜCK (BRD 1975, R: Rainer Werner Fassbinder) QUERELLE (BRD 1982, R: Rainer Werner Fassbinder) THE JAZZ SINGER (USA 1927, R: Alan Crosland) WHITY (BRD 1971, Regie: Rainer Werner Fassbinder)

Peripherien zwischen Repräsentation und Individuation Die Körper der Minderheiten in Fassbinders KATZELMACHER und ANGST ESSEN SEELE AUF

Ö ZKAN E ZLI

Er und einige andere seiner Kollegen hätten Glück gehabt, dass sie zwischen Mitte und Ende der 1960er Jahre in der deutschen Filmgeschichte an einem Nullpunkt gestanden hätten und den deutschen Film neu erfinden konnten, bemerkte Rainer Werner Fassbinder in einem Interview 1977.1 Mit zu diesem Neuanfang gehörte Ende der 1960er Jahre auch, eine neue deutsche Filmsprache von der gesellschaftlichen Peripherie ausgehend zu entwickeln. Denn es ist mehr als auffällig, welch wichtige Rolle und Funktion Minderheiten in Fassbinders Filmen einnehmen – von seinen Anfängen mit den Kurzfilmen DER STADTSTREICHER (BRD 1965) und DAS KLEINE CHAOS (BRD 1966) sowie den ersten beiden abendfüllenden Spielfilmen LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD (BRD 1969) und KATZELMACHER (BRD 1969) über DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT (BRD 1972), ANGST ESSEN SEELE AUF (BRD 1974) bis hin zu MARTHA (BRD 1973), FONTANE EFFI BRIEST (BRD 1974) und FAUSTRECHT DER FREIHEIT (BRD 1975). Die Randbereiche der Gesellschaft gelten für Fassbinder als Umschlagplätze individueller und gesellschaftlicher Kommunikation. Dieses besondere Verhältnis zur Peripherie finden wir ebenso in seinen 1

Portrait des Künstlers »RWF, 1977« (DVD-Extra), in: Fontane Effi Briest (BRD 1975, R: Rainer Werner Fassbinder), DVD, Kinowelt (2005).

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vier Theaterstücken vor, die zwischen 1966 und 1969 mit der Antiteater-Gruppe in München inszeniert wurden.2 Jedoch ist die Peripherie in Fassbinders Filmen nicht einfach Peripherie als getrennter Randbereich vom Zentrum, der Mehrheitsgesellschaft. Vielmehr stehen die Figuren in Fassbinders Werk in einem komplexen Verhältnis zur Gesellschaft der Bundesrepublik – aber auch zu ihrer Vorgeschichte bis ins späte 19. Jahrhundert, wie es seine Interpretation von Effi Briest zeigt, denn »Fassbinder stellte seine Personen nie als eindimensionale Helden dar, sondern zeigte den Doppelcharakter jedes Menschen, Frauen, Schwule, Juden, Neger, Arbeiter und Aufrührer, sie alle sind von der Gesellschaft, gegen die sie zu Recht opponieren, derartig gezeichnet und geschädigt, daß sie noch in ihrem Versuch auszusteigen, in ihrer eigenen Struktur und in ihren Handlungen nur das wiederholen, wogegen sich ihre Auflehnung richtet«.3

Diese Brüchigkeit und Multipositionalität der Akteure, die sie nicht auf die Opferrolle beschränkt, zeigt nicht nur die heterogene Struktur der Randzonen, sondern auch ein heterogenes Zentrum. Ähnlich wie bei Fassbinder geht bei dem russischen Kulturtheoretiker Jurij M. Lotman die Dynamik von Kulturen von den Peripherien aus. Grenzziehungen in Gesellschaften und Kulturen erfüllen bei Lotman unterschiedliche Funktionen, die zugleich unterschiedlich konsistent sind. In seinem programmatischen Aufsatz Über die Semiosphäre notiert Lotman, dass Grenzen zwei Aufgaben erfüllen, zum einen schaffen sie ein organisiertes Innen und eine ›nichtorganisierte‹ äußere Umgebung und erfüllen so eine repräsentativ identitätsstabilisierende Funktion zwischen Zentrum und Peripherie, zum anderen – hierauf liegt das besondere Augenmerk Lotmans – sind sie

2

Töteberg, Michael: Rainer Werner Fassbinder, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2002, S. 40f.

3

Braad Thomsen, Christian: »Der doppelte Mensch«, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Rainer Werner Fassbinder, text+kritik 103 (Juli 1989), S. 3-9, hier S. 9.

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»der Bereich beschleunigter semiotischer Prozesse, die immer aktiver an der Peripherie der kulturellen Ökumene verlaufen, um von dort aus in die Kernstrukturen einzudringen und diese zu verdrängen«.4

Bedingt durch die unterschiedlichen Geschwindigkeiten in/zwischen Zentrum und Peripherie unterscheidet Lotman noch kalte (Zentrum) und heiße Zonen (Peripherie). Mit dieser vielschichtigen Funktion von Grenzen ist verbunden, dass die Semiosphäre, die Zentren und Peripherien bindet, heterogen strukturiert ist und aus Asymmetrien und dadurch unterschiedlichen Teilbereichen besteht, die jedoch nicht voneinander getrennt, sondern über durchlässige Grenzziehungen komplex miteinander verwoben sind. Sie stellt »eine gewisse Menge miteinander verbundener, aber verschiedener Systeme« dar, und »Asymmetrie zeigt sich im Verhältnis zwischen dem Zentrum der Semiosphäre und ihrer Peripherie. Das Zentrum der Semiosphäre bilden die am weitesten entwickelten und strukturell am stärksten organisierten Sprachen. […] Die höchste Stufe der strukturellen Organisation eines semiotischen Systems ist das Stadium der Selbstbeschreibung. Mit der Schaffung einer Grammatik, der Kodifizierung von Sitten und Gebräuchen, der Festlegung juristischer Normen ist ein neues Organisationsniveau erreicht.«5

Mit und gegen diese Verkrustung und Systematisierung nach Innen entsteht zugleich ein heißes und spannungsgeladenes Außen, »where new languages come into being«.6 Die neue Sprache ist ein Produkt der Dynamik des Undynamischen, des Gesetzten, einer kodifizierten Selbstbeschreibung, die durch die Schaffung neuer und unvorhersagbarer Bindungen zwischen Peripherie und Zentrum geschaffen wird. Nach dem Freiburger Historiker Ulrich Herbert waren von der Gründung der Bundesrepublik bis in die Mitte der 1960er Jahre der wirtschaftliche Wiederaufbau, der wachsende Wohlstand und die soziale Absicherung die bedeutsamsten und wichtigsten Faktoren in der Gesellschaft, die von wirtschaftlichen, technischen und politisch-

4

Lotman, Jurij M.: »Über die Semiosphäre«, in: Zeitschrift für Semiotik 12/4 (1990), S. 287-305, hier S. 293.

5

Lotman, Jurij M.: Die Innenwelt des Denkens. Eine semiotische Theorie

6

Ebd., S. 133.

der Kultur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2010, S. 169.

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bürokratischen Modernisierungen stark beeinflusst wurde.7 Diese sich zum Code des Wirtschaftswunders etablierende Selbstbeschreibung verdrängte besonders in den 1950er Jahren die nationalsozialistische – damals ganz frische – Vergangenheit in die Peripherie, was das deutsche Heimat- und Illusionskino der 1950er Jahre ›abbildete‹.8 Der neue deutsche Film, der Mitte und Ende der 1960er Jahre mit Werner Herzog, Wim Wenders, Peter Lilienthal und Rainer Werner Fassbinder seinen Anfang nahm, wurde insbesondere als ein Kino der neuen Sprache interpretiert, die die deutsche Nachkriegsgesellschaft in prekäre und liminale Panoramen und Spannungsfelder übersetzte und damit indirekt eine Antwort auf die ›deutsche Frage‹ gab, wie sie beispielsweise Ralf Dahrendorf 1966 in seinem bekannten Buch Gesellschaft und Demokratie in Deutschland formulierte: »Wir wollen die deutsche Geschichte und Gesellschaft an einem allgemeinen Maßstab messen, oder genauer – da das Messen an vorgegebenen Maßstäben nur beschreibende Befunde erlaubt – zu erklären versuchen, warum Deutschland sich der Demokratie in ihrem liberalen Verstande versperrt hat«.9

Fassbinders Filme leben, wie oben angedeutet, grundlegend von Heterogenitäten. Jedoch sind diese an ein Zentrum gebunden, das eng mit der ›deutschen Frage‹ zusammenhängt. Die Offenlegung und Problematisierung dieser Bindungen war für Fassbinder nur aus der Peripherie möglich. Die Darstellung der Funktion der Randzonen in Fassbinders Filmen KATZELMACHER aus dem Jahre 1969 und ANGST ESSEN SEELE AUF aus dem Jahre 1973 mit dem besonderen Verhältnis zum Zentrum steht im Fokus des folgenden Beitrags. Dabei interessieren mich besonders die Distanzen und die damit einhergehenden Grenzziehungen

7

Herbert, Ulrich: »Liberalisierung als Lernprozess. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte. Eine Skizze«, in: Ders. (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 19451980, Göttingen: Wallstein 2002, S. 19.

8

Dokumentation »Eine deutsche Geschichte« (DVD-Extra), in: DIE EHE DER

MARIA BRAUN (BRD 1979, R: Rainer Werner Fassbinder), DVD, Ki-

nowelt (2005). 9

Dahrendorf, Ralf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München: Piper 1966, S. 26.

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zwischen Peripherie (Minderheit) und Zentrum (Mehrheit), die die jeweiligen Konstitutionsweisen von Randzonen und Mitte der Gesellschaft bestimmen. Folgen sie aufeinander, werden sie gleichzeitig dargestellt, unterliegen sie einer Identitätslogik, die Minderheiten und Mehrheiten repräsentativ darstellt, oder werden die Positionen problematisiert? Um diesen Überlegungen in Fassbinders Filmen folgen zu können, wird neben den formalen Aspekten einer Filmanalyse (Kameraeinstellungen, Kamerabewegungen, Lichtverhältnisse etc.) besonders auch der Körper der Akteure als Austragungsort individueller und gesellschaftlicher Konflikte und Kommunikationen im Vordergrund stehen.

G ESELLSCHAFT

ALS TOTALE

O BERFLÄCHE

»Ein Film geht einerseits von dem aus, was wir wissen, von den Gegebenheiten unserer Kultur, […] andererseits aber redet er mit uns in einer ungewohnten, neuen Sprache, und wir müssen anhand eines Textes diese Sprache lernen.«10

Ein Film ist zugleich Fremd- und Muttersprache. Ähnlich wie Jurij Lotman in seiner frühen Publikation Die Struktur literarischer Texte Literatur mit einer besonderen kulturellen Funktion bedachte, die zwischen immanenten Strukturen der Literatur und dem kulturellen System der jeweiligen Epoche pendelt, attestierte er dem Film in seinen filmtheoretischen Schriften noch eine besondere Zusatzfunktion, die sich vom »komplexen Geflecht aus Ikonizität und Konventionlität«11 herleitet. Neben der Analogie zur Literatur, die ebenso frei gestalten und erzählen kann, koppelt der Film das bewegte Bild, die filmische Narration, mit der Anschaulichkeit, der Momentaufnahme des Ikonischen. »Im Kino stellen wir keine Überlegungen an, sondern sehen. Das hängt damit zusammen, dass die Logik, die unser Denken nach ihren Gesetzen organisiert,

10 Lotman, Jurij M.: »Mögliche Welten. Gespräch über den Film«, in: montage/av. Zeitschrift für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommunikation 3/2 (1994), S. 139-150, hier S. 148. 11 Ebd., S. 139.

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welche die genaue Geregeltheit von Ursachen und Folgen, Prämissen und Konklusionen erfordern, im Film oft dem Alltagsbewusstsein mit dessen spezifischer Logik Platz macht. […] Der Zuschauer nimmt die zeitliche Aufeinanderfolge als eine ursächliche wahr.«12

Jedoch ist der Film zugleich montiert und unterliegt narrativen Strukturen, denn er ist ebenso syntagmatisch aufgebaut wie ein Text. Dieses Geflecht von unmittelbarem Sehen von Bild und – seit es den Tonfilm gibt – Akustik gekoppelt mit der Gemachtheit (Montage) des Films, zeigt die hybride Textstruktur dieses Mediums, die »zwischen Archaik und Moderne, zwischen der Legende als ›einfacher Form‹ (Jolles) und der diskontinuierlichen Montage als Auslöser einer ›gebremsten, erschwerten Wahrnehmung‹ (Slovskij)« oszilliert.13 Dieses Wechselverhältnis zwischen Bild als Generierung von Wirklichkeit und Narration als Generierung von Möglichkeit, die einen Konflikt zwischen naivrealistischem und formal-grammatischem Herangehen impliziert, wird uns mitunter bei unserer Analyse behilflich sein, um die Verortungen von und Grenzziehungen zwischen Zentrum und Peripherie in Fassbinders Filmen auszuloten. Der eigentliche Plot, die »einfache Form«, von KATZELMACHER – die Vorlage des Films ist ein Theaterstück – ist schnell erzählt: In der ersten Hälfte des Films wird der Alltag von vier Paaren in der bayerischen Provinz dargestellt, deren Bindungen untereinander sich besonders auf sexueller Ebene in einem sehr labilen Gleichgewicht befinden. In der ARD-Broschüre aus dem Jahre 1973 heißt es zum Film: »Marie gehört zu Erich, Paul schläft mit Helga, Peter läßt sich von Elisabeth aushalten, Rosy treibt es für Geld mit Franz.«14 Diese Beziehungsordnung wird im Laufe des Films durcheinander gebracht, denn Erich wird mit Helga schlafen, die mit Paul verlobt ist, Paul selbst hat ein homosexuelles Verhältnis gegen Geld mit Klaus, einem Nebendarsteller in diesem Film, und alle Männer werden gegen Geld auch mit Rosy schlafen, die mit dem Geld versuchen will, als Fotomodell aus der

12 Lotman, Jurij M.: »Die Natur der Filmerzählung«, in: montage/av. Jurij Lotman. Das Gesicht im Film. Zeitschrift für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommunikation 13/2 (2004), S. 107-121, hier S. 112. 13 J. M. Lotman: Mögliche Welten, S. 140. 14 Fassbinder, Rainer Werner: Katzelmacher/Preparadise sorry now, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 1982, S. 8.

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bayerischen Provinz herauszukommen. Zu diesem labilen Beziehungsgeflecht stößt ab der Mitte des Films der Gastarbeiter Jorgos hinzu, der zur Untermiete bei Elisabeth und Peter einzieht. Instinktive Abneigung gegen den Fremden vereint die zuvor von Misstrauen und Neid bestimmte Gruppe und treibt ihren Zusammenhalt auf einen Höhe- bzw. Tiefpunkt, nachdem Erich, Paul und Franz von Peter erfahren, dass der »Grieche von Griechenland« im Genitalbereich viel besser bestückt sei als die Deutschen. Begleitet wird dieser Sexualneid von der durch Gunda, einer weiteren Frau aus der Gruppe, verbreiteten Lüge, der »Grieche von Griechenland« habe versucht, sie zu vergewaltigen. Diesem schließt sich kolportagehaft das Gerücht an, die Vermieterin Elisabeth habe mit ihrem griechischen Untermieter ein sexuelles Verhältnis, und gipfelt schließlich im Ausbruch Maries (gespielt von Hanna Schygulla) aus der Gruppe, die mit Jorgos geht, weil er im Vergleich zu den anderen »eine Geradheit im Blick« habe und man »was spüre«, wenn er einen anfasse.15 Als Reaktion auf diesen ›Ordnungsverlust‹ bekommt Jorgos von den vier Männern eine brutale Abreibung und den Rat, den Ort zu verlassen. Jedoch möchte Elisabeth den Griechen als Mieter und Geldquelle behalten, da sie ihm eine völlig überhöhte Miete abfordert. Mit dem Hinweis auf die Ausbeutung des Griechen, die letztlich aus produktionstechnischer und wirtschaftlicher Sicht Deutschland zu Gute komme, lassen sich die Gemüter beruhigen. Zum Schluss wollen Helga und Paul heiraten, zuerst, weil Helga ein Kind erwartet, dann, obwohl er das Embryo tötet. Erich kündigt an, dass er zur Bundeswehr gehen werde, da dies besser sei als zu arbeiten. Die Zukunft von Marie und Jorgos bleibt offen. Diese hier kurz beschriebene Rahmenhandlung verteilt sich im Film auf einige wenige Räume, auf zwei Treppenhäuser, einen Wirtshaustisch, ein Geländer vor einem Haus, auf dem in wechselnden Gruppierungen die Personen sitzen, auf einen Hinterhof und eine Parkbank. Alle Räume sind karg ausgestattet. Aus dieser knappen Zusammenfassung lässt sich herauslesen, dass eine repräsentative identitätslogische Unterscheidung zwischen Zentrum (Mehrheitsgesellschaft) und Peripherie (Minderheit) nur bedingt greifen kann. Denn Peripherien und Zentren haben in KATZELMACHER eine kurze Konstitutionsdauer und sie bestehen oft nur aus Momentaufnahmen. Auf den ersten Blick scheint der Fremdenhass eine Kon-

15 Ebd., S. 21.

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stante zu sein, die es erst ermöglicht, von einem Zentrum sprechen zu können. Die bayerische Gruppe wird jedoch in der ersten Hälfte des Films in einer Form gezeichnet, die keine Identifikation mit etwas Repräsentativem (wie der eigenen Provinz oder Deutschland) erlaubt. Vielmehr sind es die ausbeuterischen Machtverhältnisse – von völliger Indiskretion und Denunziation untereinander geprägt –, die paradoxerweise die Gruppe zusammen halten. Auch die Liebe, die als verbaler sowie insbesondere choreographischer Ausdruck häufige Verwendung im Film findet, impliziert keine zusammenführende Kraft. Der Fremdenhass, der ab der zweiten Hälfte des Films mit einer faschistoiden Vehemenz artikuliert wird, scheint eine Verlängerung der vor der Ankunft des Gastarbeiters gezeichneten Gruppenverhältnisse zu sein. Um einen Eindruck von diesem Gruppenaufbau geben zu können, möchte ich kurz auf eine Szenenreihung aus der ersten Hälfte des Films genauer eingehen. Erich und Paul planen ein Kapitalverbrechen, was aber allein andeutungsweise vom Zuschauer verstanden werden kann, da davon nur ab und an in kaum kontextualisierbaren Halbsätzen die Rede ist. Die geplante Tat wird nie genau benannt. Wir sehen in einer Frontalaufnahme Paul mit seiner Freundin Helga stakkatoartig darüber sprechen. Helga will damit nichts zu tun haben und fordert implizit von Paul, sich von den anderen und vor allem von Erich zu lösen. Paul reagiert auf die Forderung brachial mit einem »Halt’s Maul« und schlägt ihr, ohne sich ihr zuzuwenden, mit der Innenseite seiner Hand flach auf den Kopf. Ein zielloser, unkommunikativer Schlag, auf den Helga mit einem ziellosen Blick reagiert. Es folgt eine Treppenhausszene mit Erich und Marie, die das Paar choreographisch erfasst: eine statischverschlungene bewegungslose Szene der beiden Protagonisten mit dem gleichen Gesprächsthema, hier in gewaltfreier Ausführung, doch mit einer trüb-melancholischen Stimmung. Anschließend sehen wir Rosy und Franz in einer dialogisch intimen Szene im Treppenhaus und hören Rosys Forderung an Franz, nicht weiter zu erzählen, dass sie ihren Körper an ihn verkauft habe. Diese mögliche Intimität wird jedoch in der nächsten Szene zwischen Franz und Paul durch eine fast stumme Kommunikation desavouiert. Die Kamera nimmt Paul frontal auf, der am Wirtshaustisch sitzt. Franz, der zuvor noch im Treppenhaus Rosy versprochen hat, den anderen nichts von ihrer Beziehung zu erzählen, setzt sich zu ihm. Beide blicken zunächst stumm mehrere Sekunden lang den Tisch an, an dem sie sitzen.

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PAUL:

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Und?

FRANZ:

Was?

PAUL:

Stimmt’s?

FRANZ:

Genau.

PAUL

nickt.

FRANZ:

Der ist echt, der Busen von der.

PAUL:

Wenn ich was sag, dann hab ich immer recht.

16

In der abschließenden Szene dieser Sequenz sehen wir Gunda zu Besuch bei Rosy. Kurze Zeit geht Rosy aus dem Zimmer, um die Fotoromane zu holen, die Gunda ihr ausgeliehen hat. Währenddessen überfliegt Gunda heimlich einen Brief an Rosy und legt diesen schnell wieder auf den Tisch, bevor Rosy zurückkommt. Rosy kommt mit den Heften zurück und liest unaufgefordert eine Passage aus einem der Romane vor: »Er hob seine Augen über den türkisfarben übersäten Himmel. Dann wandte er sich zu mir: ›Alles an Ihnen verrät intensives Leben. Logischerweise sollten Sie…‹. Ich unterbrach ihn: ›Sie messen der Logik zuviel Bedeutung bei und zuviel Macht‹. Dann stieg in mir für wenige Sekunden ein bitteres Gefühl des Triumphs hoch: Kein gebrochenes Herz mehr, keine Angst mehr, ein neues Leben beginnen zu können, keine indiskreten Fragen mehr zu gewärtigen, bei denen man seine Niederlage zu verheimlichen versuchte. Wirklich eine elegante Art, aus dieser Sackgasse heraus zu kommen.«17

Auf diesen romantisch-kitschigen Text reagiert Gunda teilnahmslos mit einem denunziatorischen Kurzbericht über den Ehestreit der Nachbarn Elisabeth und Peter. Allein diese Momentaufnahmen zeigen, welche Spannungen aus Gewalt, Starrheit, Denunziation und Sprachlosigkeit die Beziehungen bestimmen. Intensivierend unterstützt werden diese kurzen Sequenzen besonders durch formale Aspekte: Kameraeinstellungen, Lichtverhältnisse, Räume und Blickrichtungen der Akteure, die auf der einen Seite die Legende des Films unterstützen, auf der anderen Seite jedoch die Bildkompositionen und die diskontinuierliche Montage auf eine komplexe Art entorten. Denn die Einstellungen der Kamera sind hier

16 KATZELMACHER (BRD 1969, R: Rainer Werner Fassbinder) 17 Ebd.

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durchweg insistierend statische, die Akteure und Räume frontal fotografieren. Sie zwingen den Beobachter zu einem konzentrierten Blick auf bewegungslose Akteure und den sie umgebenden Raum. Das Licht ist in allen Szenen leicht grell und macht die eigentlich unterschiedlichen Räume fast ununterscheidbar. Es dominiert durchweg eine Technik der Überblendung. Die Wände sind karg ohne Bilder und es ist fast keine Differenz zwischen öffentlichem Raum (Wirtschaft) und privatem Raum (Rosys Wohnung) sowie Übergangsräumen (Treppenhaus) auszumachen. Diese kaum wahrnehmbaren Grenzziehungen werden durch den Wortbruch von Franz, der mit dem Übergang von privatem Raum über das Treppenhaus hin zur Wirtschaft eingeleitet wird, und durch die heimliche Brieflektüre Gundas verstärkt. Zudem geben die Räume eine Enge und Kargheit vor, die sich in der rohen Sprache wiederfindet, welche die einfache, dialektale Sprache der Provinz mit einer nominalisiert verfremdeten koppelt. Dies zeigt sich schon in den ersten Sätzen der beiden Anfangseinstellungen des Films, die mit den beschriebenen formalen Mitteln arbeiten. Einstiegssequenz im Film: Marie setzt sich zu Erich ins Auto. MARIE:

Aber wenn es schief geht? Ist eine Einsamkeit dann.

ERICH:

Von schief gehen ist keine Rede nicht.

Cut Peter und Elisabeth beim Essen. PETER:

Ich will nichts zum tun haben mit solchen Sachen.

ELISABETH:

Das ist meine Sache und nicht die Deine.18

Später wird Marie auf die Frage, wie sie sich den »Griechen von Griechenland« denn habe aussuchen können, antworten: »Wo ich meine Liebe hintue, bleibt mir überlassen«.19

18 Ebd. 19 Ebd., s. auch: R.W. Fassbinder: Katzelmacher/Preparadise sorry now, S. 33.

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Keine Person wird in einer Close-up-Aufnahme gezeigt. Es gibt kein Schuss-Gegenschuss-Gespräch wie im klassischen amerikanischen Film, der dem Zuschauer den Dialog zwischen zwei Individuen bildsprachlich veranschaulicht. Im Gegenteil weiß der Zuschauer nie, wohin die Akteure unmotiviert in ihren sprachlich kargen Gesprächen blicken. Die Blickrichtungen sind zum Großteil ortlos: Sie schauen auch nicht in die Kamera, die sie eigentlich frontal aufnimmt und die Blicke zirkulieren auch nicht untereinander. In diesem Sinn steht auch das von Rosy vorgelesene Fragment den vorherigen Szenen diametral entgegen. Ein gelingender Dialog, der mit dem Blick des Mannes zum türkisfarbenen Himmel ansetzt, der seinen Blick auf die Frau lenkt und den Dialog mit dem Satz einleitet: »Alles an ihnen verrät intensives Leben. Logischerweise sollten sie …« Sie erzählt daraufhin in poetischer Diktion von einem Leben ohne Indiskretion, das einem elegant die eigenen Niederlagen ersparen und aus der Sackgasse verhelfen würde. Dieser fiktive Dialog ist in Sprache und Blick ein zugewendeter, und gibt zum Ausdruck, dass nur ein Leben ohne Indiskretion aus der Sackgasse führt. Das Motiv der Sackgasse ist das bestimmende Thema im ersten Teil des Films, das besonders durch die »zugemauerten« Räume und die richtungslosen Blicke der Akteure intensiv auf die Spitze getrieben wird. Eindringlich spiegeln dies die immer wiederkehrenden Hofszenen als seltene Momente, in denen sich die Kamera bewegt und Musik eingesetzt wird. Alle Akteure des Films, Jorgos eingeschlossen, laufen in diesen Sackgassenszenen paarweise durch den Hof, während sie die Kamera in der Rückwärtsbewegung frontal aufnimmt und Franz Schuberts »Sehnsuchtswalzer« ihre Dialoge kommentiert. Die Gespräche sind ähnlich karg strukturiert und die Blicke der Akteure führen richtungslos aus dem Bild. Die gleichfarbigen grell-weißen überblendeten Häuserfassaden hinter sowie rechts und links neben den Akteuren markieren den Weg von vorne nach hinten als eine Sackgasse und zeigen eine unausweichliche Enge des Raumes. Ebenso eng wie diese immer wiederkehrende Hofszene sind auch die Wirtshaus-, Zimmer-, Treppenhaus- und Geländeraufnahmen vor dem Haus. Immer befinden sich parallel zu den Akteuren Wände hinter ihrem Rücken. Der durchgehende grellweiße Farbduktus des Films, die stakkatoartige derbeinfache Sprache der Akteure, die Kargheit der Räume und die nicht untereinander kreisenden, sondern orientierungslos aus den Einstellungen hinausweisenden Blicke der Akteure heben jede Form einer

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Innen/Außen-Unterscheidung wie Ich/Gesellschaft, Ich/Gemeinschaft, privat/öffentlich und Innen-/Außenraum auf. Wenn die Legende die Geschichte der Gruppe erzählt, zeigen die Bilder und die Montage bindungslose Figuren, die nur die reale und vorgestellte Zirkulation des Geldes zusammenhält: Franz bezahlt Rosy für die Liebe, Paul erhält Geld für Sex von Peter, Paul und Erich planen gemeinsam den Raubüberfall. Es gibt eigentlich nur zwei Szenen, in denen die Blicke, aber auch die Sprache zusammenfinden: Es handelt sich um die beiden Sequenzen, in denen der Gastarbeiter Jorgos am Geländer des Hauses vorbeiläuft, d.h. die Szene, die ihn einführt, und die, in der er eine Abreibung erhält. Zwischen diesen beiden Momenten, die den zweiten Teil des Films rahmen, wird ein verstärkt faschistoider Diskurs aufgebaut, der sich vor allem auf den Körper des Gastarbeiters fokussiert. Erst durch Jorgos’ Eintritt in die provinzielle Welt wird die Gruppe zur Gruppe. Seine Präsenz überspielt die Beziehungslosigkeit und wird durch die totale Sexualisierung des Griechen zum bindenden Thema zwischen den Akteuren. Er habe versucht, Gunda zu vergewaltigen, er habe ein sexuelles Verhältnis mit Elisabeth, er wasche sich nicht, sei »eine dreckige Sau« und total triebgesteuert. Alle diese Zuschreibungen ruft die Bezeichnung »Katzelmacher« auf, die in den 1950er bis 70er Jahren in Bayern auf Ausländer, vor allem Italiener,20 angewendet wurde, die angeblich wie Straßenkatzen umherziehen, die einheimischen Frauen verführen, ihnen Kinder zeugen und dann wieder verschwinden würden. Auch, dass sich Marie von Jorgos angezogen fühlt, ist grundlegend an den Körper des Gastarbeiters gebunden. »Wenn er mich anfasst, da spürt man was.«21 Dass er nicht sprechen könne, sei das Beste

20 Vgl. Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 24. durchgesehene und erw. Auflage, Berlin: Walter de Gruyter 2002, S. 478. 21 Eine invertierte zeitgenössische Analogie zu dieser Aussage von Marie finden wir in dem Bericht des Westfälisch-Lippischen Landwirtschaftverbands »Beschäftigung türkischer landwirtschaftlicher Praktikanten im Raum Soest« (13.10.1956) an die BAVAV. Dort heißt es, die Türken würden sich sehr gut anpassen. »Der Türke scheint sich, wenn er richtig angefaßt wird, durchaus einzufügen und brauchbar zu sein.« Zitiert nach Hunn, Karin: »Gastarbeiter und Gastarbeiterpolitik in der Bundesrepublik. Vom Beginn der offiziellen Anwerbung bis zum Anwerbestopp (1955-1973)«,

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für sie. Anders ausgedrückt: Dass er an der Zirkulation von Denunziationen, Misstrauen, Neid sowie den ausbeuterischen Verhältnissen und insbesondere an der totalen Indiskretion nicht teilhat, macht ihn aus der Sicht Maries anders. So beschreibt Marie ihn auch als jemanden, 22 »der eine Geradheit im Blick« habe und dadurch Bindungen schaffen könne. Allerdings versucht Jorgos auch vor Marie zu verheimlichen, dass er in Griechenland eine Frau und zwei Kinder hat. Dass sich die inhärent bindungslose Gruppe gegen Ende des Films etwas sammelt und anfängt, sich zu konstituieren, ahnt Marie als sie neben Jorgos sitzend auf der Parkbank äußert, »dass sie [die anderen] was vorhaben mit der Gewalt«.23 Die Pläne für ein Kapitalverbrechen oder die Flucht aus der provinziellen Welt werden im ersten Teil des Films nie wirklich konkretisiert, doch die Rache am Fremdarbeiter – der Begriff ist eine Reverenz an die nationalsozialistische Vergangenheit –, d.h. der Wunsch ihn zu kastrieren, wird in sehr genauen Beschreibungen wiedergegeben. Die Provinz, die im ersten Teil des Films noch eine Sackgasse des Lebens ist, wird durch den Eintritt des Fremden zum eigenen Territorium, das es rein und in Ordnung zu halten gilt. Bemerkenswert ist, dass Fassbinder diesen Wandel schon zu Beginn des Films ankündigt, als Gewalt und Denunziation noch ziellos eingesetzt werden. In den Wirtshausszenen im ersten Teil sehen wir an der Wand hinter den Akteuren eine große Radierung, die eine mittelalterliche Stadt mit einem sehr klar erkennbaren Stadtring zeigt, der die eindeutige Grenze zum Außen markiert. Diese Bezugnahme auf die Vormoderne geht mit einem Kernmotiv des Films einher, nämlich zu zeigen, in welcher Weise faschistoide Substrukturen in der deutschen, besonders kleinbürgerlichen Gesellschaft weiter existieren. In KATZELMACHER haben wir es daher nicht mit einer repräsentativen Unterscheidung von Zentrum und Peripherie zu tun. Eine zutiefst fragile Gruppe generiert durch die Anwesenheit des Fremden ein kurzzeitiges Zentrum, das am Ende wieder an den Staat abgegeben werden muss, denn der Ausländer soll bleiben, weil es gut für Deutschland ist.

in: Axel Schildt (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg: Christans Verlag 2000, S. 272-310, hier S. 283. 22 R.W. Fassbinder: Katzelmacher/Preparadise sorry now, S. 32. 23 Ebd., S. 34.

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Die Historikerin Karin Hunn hält in ihren Artikeln und besonders in ihrem Buch zur Geschichte der türkischen Gastarbeiter Nächstes Jahr kehren wir zurück fest, dass mit dem Beginn der kurzen Rezession des Jahres 1967 in der Bundesrepublik die öffentliche Ablehnung gegenüber den Migranten »durch Teile der Einheimischen« deutlich anstieg.24 In vielen Zeitungen wurde vorgerechnet, was die Gastarbeiter der Bundesrepublik finanziell einbrachten: »ein Gastarbeiter dürfte das Sozialprodukt der Bundesrepublik Deutschland um etwa zwanzigtausend Mark jährlich vermehren. Der ihm ausgezahlte Lohn liegt wohl durchschnittlich in der Größenordnung von 10 000 Mark, während aus seinem Arbeitsprodukt ein Betrag von 10 000 Mark in Gestalt von Steuern, Sozialbeiträgen und Bruttogewinn des Arbeitsgebers anfällt. Bei den Sozialbeiträgen stellt er zumindest für die Krankenversicherung ein sehr günstiges Risiko dar, da seine Neigung, sich bei kleinen Unpässlichkeiten krankschreiben zu lassen, viel geringer ist als seine Neigung, in der Zeit, in der er in Deutschland ist, möglichst viel zu verdienen und zu sparen […]. Die Vermehrung der Zahl der Gastarbeiter zunächst von einer Million auf 1,5 oder auch 2 Millionen würde nicht zuviel sein. Die kräftige Aufstockung unseres Bestandes an – möglichst gut ausgebildeten – Gastarbeitern wird für unsere innere Wirtschaftsrechnung sehr nützlich sein.«25

Im Film ist es Elisabeth, die Peter – nachdem Jorgos seine ›Abreibung‹ erhalten hat – vorschlägt, noch ein Zimmer in der Wohnung zu teilen, um einen weiteren Gastarbeiter aufnehmen zu können, denn sie bringen ja Profit. Elisabeth ist auch diejenige, die den anderen beibringt, dass man nicht mehr »Fremdarbeiter«, sondern »Gastarbeiter« sage. Mit der Äußerung in der letzten Sequenz des Films, die Gastarbeiter seien für die Wirtschaftskraft Deutschlands wichtig, wird auf die Eindimensionalität der Bevölkerung verwiesen, der es nur um den Aufschwung und die Absicherung des Wohlstands durch Geld geht; alles andere spielt keine Rolle und wird in die Peripherie gedrängt. Jedoch wird in KATZELMACHER nicht nur der Ausländer ausgebeutet,

24 K. Hunn: Gastarbeiter und Gastarbeiterpolitik, S. 296f. Siehe auch Hunn, Karin: »Nächstes Jahr kehren wir zurück…«. Die Geschichte der türkischen ›Gastarbeiter‹ in der Bundesrepublik, Göttingen: Wallstein 2005, S. 122. 25 Ebd, S. 301.

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sondern das Geld ist auch in anderen Beziehungen Ausbeutungsmedium und zugleich das einzige Bindungselement der Gruppe vor der Ankunft Jorgos’. Nach eigener Aussage sei es Fassbinder nicht darum gegangen, zu erklären, was der Faschismus sei, sondern vielmehr, wie er entstehe und wirke und dies sei alles andere als abstrakt.26 Denn anstelle einer Identitätsbildung auf der Folie einer abstrakten Zuschreibung (wie z.B. Deutschland) konstruiert der Film eine immanente dingbezogene Struktur. Die Bilder und die Montage der kargen Wände, des sackgassenartigen Hofs, des durchgehend überblendeten milchgrauen Farbtons, die Zwei-Dimensionalität der Akteure (die nur in Frontalaufnahmen zu sehen sind), die Aufhebung von privatem und öffentlichem Raum sowie die verfremdet wirkende einfache, karge Sprache intensivieren sich gegenseitig und schaffen so eine totale Oberfläche. Weder Zentrum noch Peripherie kann ein Innenraum zugewiesen werden. Das Zentrum der und um die Gruppe entsteht durch die Bündelung der vorher vorhandenen ortlosen Blicke und der ziellosen Gewalt. Es geht in KATZELMACHER um den Zusammenhang des Sichtbaren oder, wie Fassbinder selbst formulierte: »Es ist alles einfach so da, wie es da ist«.27 Wenn nach Jurij Lotman die Dynamik von Kulturen davon lebt, das Undynamische zu dynamisieren, in Bewegung zu bringen, so ist KATZELMACHER ein Frontalangriff auf eine Bundesrepublik, die durch Politiker, Intellektuelle und Vertreter aus der Wirtschaft in den 1950er Jahren anfing, eine Form der Selbstbeschreibung als westlich, bürokratisch-demokratisch und letztlich modern zu generieren, die dieser Moderne jedoch nicht unbedingt in die privaten Lebenswelten Einlass gewähren wollte.28 In Fassbinders Film wird diese Innen/AußenUnterscheidung zwischen kapitalistischer Außen-Demokratie und traditionsverhangener und, nach Dahrendorf, nicht konfliktaustragungsfähiger, autoritätslastiger Innenwelt aufgehoben und zusammenge-

26 M. Töteberg: Rainer Werner Fassbinder, S. 44. 27 Ebd., S. 46. 28 Vgl. Scheibe, Moritz: »Auf der Suche nach der demokratischen Gesellschaft«, in: Ulrich Herbert (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945-1980, Göttingen: Wallstein 2002, S. 245-277, hier S. 268-272.

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führt.29 Diese Aufhebung führt jedoch nicht wie in Dahrendorfs politischem Diktum der liberalen Demokratie zu einer Expansion der Demokratie in die privaten deutschen Lebenswelten und von dort aus zurück in den öffentlichen Raum. Im Gegenteil expandiert der Faschismus – allerdings nicht aus einem Innenraum, da es einen solchen von Anfang an im Film nicht gibt. In KATZELMACHER wird im wahrsten Sinne des Wortes ein ›nackter‹, historisch und kulturell nicht verortbarer Faschismus gezeigt, der eindeutig über die nationalsozialistische Vergangenheit hinausgeht. Die Kopplung von Provinz als Erkennungszeichen mit kargen Wänden, karger entfremdeter Sprache, statischen und fast bewegungslosen Akteuren und einer totalen Indiskretion als normiertem Verhalten, die mit einer Oszillation zwischen Archaik und Moderne gerahmt wird, gibt dem Faschismus Raum und doch keinen Ort. Die Kritiken zu dem Film besaßen eine entsprechende Bandbreite: Als eine bis zum Exzess betriebene, unausgegorene, pauschalisierend-beleidigende Form der Abstraktion beschrieb Erika Reimer-Haala im film-dienst 1969 die ortlose Variante; Leo Schönecker hielt in der Süddeutschen Zeitung im selben Jahr fest, dass nur nach einer solchen notwendigen und gescheiten Diagnose eine wirksame Therapie folgen könne.30 »Die Umstellung von Elementen unter Beibehaltung der Gesamtauswahl irritiert in der Regel besonders ein in Stereotypen denkendes Publikum. […] Die verkehrte Welt basiert auf der Dynamik des Nicht-Dynamischen.«31 Dieses Moment der Gleichsetzung von Heterogenitäten ist mit Lotman als ein dynamischer Motor in der Kultur zu lesen, der neue Räume und neue Sprachen zusammensetzen kann, wie Fassbinder nach dem Wandel seiner Filmsprache zu Anfang der 1970er Jahre in ANGST ESSEN SEELE AUF eindrücklich aufzeigt.

29 Dahrendorf, Ralf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München: Piper 1966, S. 48-58. 30 Vgl. Reimer-Haala, Erika: »Rez. zu KATZELMACHER«, http://www. filmportal.de/node/51825/material/699775 und Schönecker, Leo: »Rez. zu KATZELMACHER«, http://www.filmportal.de/node/51825/material/699777 (03.08.2012) 31 Lotman, Jurij M.: »Das verkehrte Bild«, in: Ders., Kultur und Explosion, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 103-146, hier S. 104.

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I NDIVIDUATIONEN ALS B INDUNG H ETEROGENITÄTEN

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VON

Wir sehen eine ältere rothaarige Frau mit grünem Mantel und brauner Tasche in eine Kneipe eintreten. Sie bleibt stehen und blickt hinüber zur Theke, die wir erst in der nächsten Einstellung mit ausländischen (arabischen) Kunden und der blonden Wirtsfrau sehen. Alle blicken leicht argwöhnisch zur alten Frau hinüber, die sich in der nächsten Szene an den Tisch neben der Eingangstür setzt. Im Folgenden wird sie eine Cola bestellen, einer der arabischen Gäste wird sie zum Tanz auffordern, mit ihr reden und sie nach Hause begleiten. Im Treppenhaus zur eigenen Wohnung wird die alte Frau den Marokkaner Ali fragen, da es draußen noch in Strömen gießt, ob er nicht auf einen Kaffee und einen Cognac für ein Viertelstündchen mit zu ihr in die Wohnung kommen wolle. Nachdem die letzte Straßenbahn verpasst wurde, werden sie gemeinsam die Nacht verbringen. Was sich hier in der Rahmenbeschreibung der ersten 15 Minuten des Films wie eine von den Akteuren intendierte Verführungsgeschichte nur mit invertiertem Vorzeichen lesen lässt – eine alte (nicht junge) deutsche Frau (nicht Mann) schleppt einen Ausländer ab –, zeigt sich in der Formalanalyse ganz anders. Emmi, gespielt von Brigitte Mira, eine etwa sechzigjährige verwitwete Putzfrau, wird in der ersten Einstellung des Films von der Kamera aus der Tiefe der Ausländerkneipe aufgenommen. Dazu hört man arabische Musik, die auch während des Vorspanns als Einleitungsmusik zu hören ist. Die nächste Szene zeigt die Theke mit der Wirtsfrau, arabischen Männern und zwei deutschen Frauen in leicht lasziver Kleidung, die alle in statischer Positionierung zu Emmi blicken. In der darauf folgenden Szene sehen wir Emmi, die vorsichtig und unsicher zu den Personen an der Theke hinüberblickt. Als nächstes setzt sich Emmi an den Tisch neben der Ein- und Ausgangstür; die Wirtsfrau Barbara durchläuft den ganzen Raum und kommt zu Emmi, um ihre Bestellung aufzunehmen. Währenddessen bewegt sich die Kamera gegen die Laufrichtung der Wirtsfrau, bis die Kamerabewegung mit einer seitlichen Close-up-Aufnahme des zweiten Protagonisten des Films, Ali, endet. Emmi erzählt, dass sie in das Lokal gekommen sei, weil es zum einen regne und sie zum anderen jeden Abend an dem Lokal vorbeilaufe, immer diese fremdartige Musik vernommen habe, sich aber bisher nie getraut habe, mal hereinreinzuschauen.

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EMMI:

Emmi, hab ich gedacht, geh doch einfach rein in die Wirtschaft. Ich komme nämlich jeden Abend hier vorbei und höre die fremde Musik draußen. Was ist das für eine Sprache, was die da singen?

KNEIPENWIRTIN BARBARA:

Das ist arabisch.

EMMI:

Ah, arabisch. So, so.

KNEIPENWIRTIN BARBARA:

Ja wir haben aber auch deutsche Sachen in der Musikbox, fast die Hälfte. Aber die hören natürlich nur Sachen aus ihrer Heimat.32

Emmi wendet den Blick von der Wirtin ab und blickt versteinert in Richtung Theke und sagt verständnislos: »Natürlich«. In der nächsten Einstellung sehen wir wieder die Theke mit den Arabern, die in statischer Position zu Emmi hinüberblicken. Die folgende Szene zeigt die etwas lasziv gekleidete deutsche Frau, die zur Theke an die Seite Alis geht und ihn fragt, ob er heute Abend kommen würde. Dieser verneint, weil sein »Schwanz kaputt« sei. Daraufhin geht sie enttäuscht an die Jukebox, wählt, nachdem das arabische Stück beendet ist, einen deutschen Walzer aus den 1930er Jahren und fordert Ali auf, mit der alten Frau zu tanzen. Ali erwidert mit dem Gehorsamszeichen eines Soldaten und bittet die alte Frau zum Tanz, die überrascht und erfreut zusagt. Nach dem Tanz werden sie gemeinsam zu ihr nach Hause gehen. Im Unterschied zur inhaltlichen Zusammenfassung dieser ersten Sequenz zeigt die Formanalyse eine komplexe Struktur, die den Liebesakt zwischen Ali und Emmi keineswegs vorbereitet, sondern den Ausgang durch die Bildkomposition, die Verortung der Akteure und Dinge sowie die Montage offen lässt. Die erste Sequenz des Films zeigt deutliche Unterschiede zu KATZELMACHER, aber auch gewisse Ähnlichkeiten. Neben dem sehr evidenten Unterschied, dass es sich um einen Farbfilm handelt, fängt die Kamera Raum und Personen mit Bewegungen ein. Die erste Szene schafft zunächst den Raum durch die Distanz zwischen Eingangstür und Theke, dann folgen Close-ups auf die Gruppe und einzelne Personen in der Form von Schuss/Gegenschuss und mithilfe von Kamerabewegungen hin zu den Akteuren. Nicht nur die Kamera richtet sich viel stärker auf die Akteure aus, auch die Blickrichtungen der Akteure

32 ANGST ESSEN SEELE AUF (BRD 1974, R: Rainer Werner Fassbinder).

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untereinander werden im Laufe des Films noch eine sehr wichtige Rolle spielen. Jedoch sind die Akteure in dieser ersten Sequenz auch sehr statisch, was an KATZELMACHER erinnert; ebenso werden die Mimiken zum Großteil trotz Farbe eher schemenhaft als profiliert gezeigt. Zudem verweist der Kurzdialog (»Schwanz kaputt« klingt hier wie »Maschine kaputt«) zwischen Ali und der deutschen Frau auch auf die Ausbeutung des Körpers und den Konnex von Körper und Maschine. Dennoch ist hier eindeutig eine Verlebendigung des Raums auszumachen. An die Stelle der Flachheit tritt ein voluminöser Körper, der neben den Personenaufnahmen durch die Wanddekorierungen verstärkt wird, deren Überladenheit (wir sehen viele Bilder, Fotos und einen orientalischen Wandteppich) mit den kargen Wänden in KATZELMACHER kontrastieren. Was diesen Raumkörper unterstreicht, ist auch das Plakat hinter der Theke, das man kurz sieht. Hatten wir im KATZELMACHER ein mittelalterliches Stadtbild über den Köpfen der Akteure, sehen wir in ANGST ESSEN SEELE AUF über der Theke das Bild eines halbnackten, nur mit Fellhosen bekleideten Frau-Mann-Paares in der Natur. Zwei Assoziationen löst diese Abbildung aus: Zum einen deutet sich an, dass es in diesem Film um ein Paar und nicht um ein Territorium gehen wird, zum anderen wird ein Bezug zu einem vorzivilisatorischen, jenseits von Kultur und Gesellschaft liegenden Ort hergestellt. Die Verlebendigung des Raums, wie sie in der Wirtshausszene stattfindet, ist auch in der sich anschließenden Treppenhausszene zentral. Der Wirtshausszene entgegengesetzt zeigt die Einstellung hier nun aus der Tiefe heraus Ali an der Haustür im Treppenhaus, während Emmi in einer Nahaufnahme mit ihm ein Gespräch über Beruf und die eigene Familie führt, das beide als Ausgeschlossene der Gesellschaft ausweist. Durch diese Bedeutungen von Raum, Bewegung, langen Einstellungen und statischen Positionierungen der Akteure bekommt die anfangs beschriebene Legende der ersten Sequenzen, die sehr zielgerichtet wirkt, eine ganz andere Färbung. Dass Emmi und Ali am Ende die Nacht gemeinsam verbringen werden, ist in der Szenenabfolge nicht angelegt, sondern wird von Zufälligkeiten und einer Mischung aus Unsicherheit und Bedürfnis/Wunsch/Entschiedenheit der Akteure bestimmt. Am nächsten Morgen wird Emmi aufstehen und zunächst ganz schockiert feststellen, dass sie in ihrer Wohnung, in ihrem Bett mit einem Farbigen die Nacht verbracht hat, obwohl sie den Abend davor nur Cola und Kaffee getrunken hatte. In der nächsten Szene umarmt sie zwischen Angst und Gefühls- und Körperbedürftigkeit Ali im

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Bad. Dieses hier angedeutete heterogene und brüchige Verhältnis zwischen Akteur und Folgen der Aktion wird uns später als ein wichtiger Schlüssel für den gesamten Film dienen, da er das vorindividuelle Verhältnis von Peripherie und Zentrum in seiner Repräsentationslogik grundlegend irritieren wird. Ali zieht bei Emmi ein und sie werden heiraten. Emmis Nachbarn reagieren auf den Einzug des Marokkaners und die Heirat denunziatorisch-faschistoid und fragen den Sohn des Vermieters, ob man dagegen nichts unternehmen könne. Die drei verheirateten Kinder Emmis schämen sich ihrer Mutter, der Lebensmittelhändler bedient ihren Mann beim Einkauf nicht und verweist Emmi auf ihren Protest hin in Hitler’scher Manier (»Verlassen Sie mein Geschäft, oder ich entferne Sie«) aus seinem Laden.33 Auch Emmis Arbeitskollegen verachten sie. Diese Vervielfachung der Ausschließungen des Paares generiert vordergründig recht klare Peripherie/Zentrum-Verhältnisse, die in der Biergartenszene des Films ihren Höhepunkt erfahren. Diese ist zugleich auch die zeitlich längste Einstellung von sehr wenigen Außenaufnahmen im Film. Zu Beginn des letzten Drittels des Films setzt die Biergartenszene – bei Tag, es hat gerade erst geregnet – mit einer TiefenaufnahmenEinstellung ein, die das sitzende Paar seitlich von weitem fotografiert. Zwischen der Kamera und den Akteuren sind viele gelbe Stühle und Tische. In der Einstellung darauf sehen wir Ali in einer Nahaufnahme und in Distanz im Hintergrund das Biergartenpersonal, das statisch unter dem Vordach der Wirtschaft steht und regungslos auf das Paar blickt. Cut. Ali in Nahaufnahme:

Alle gucken.

Emmi in Nahaufnahme (in wütendem Ton):

Mach Dir nichts draus. Sind bloß neidisch die Leute.34

In der nächsten Einstellung sehen wir Ali und Emmi, wie sie sich über den Tisch hinweg die Hände halten. Emmi erklärt Ali, was neidisch

33 Ebd. 34 Ebd.

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sein bedeutet und fängt dabei an zu weinen. Die Kamera fährt an Alis Profil heran. Ali:

Warum weint Du?

Emmi:

Weil ich so glücklich bin auf der einen Seite und auf der anderen Seite halte ich das alles nicht mehr aus. Dieser Hass von den Menschen. Von allen, allen. Manchmal wünsch ich mir, ich wäre mit Dir ganz allein auf der Welt und keiner um uns herum.35

Emmi schreit das Personal vom Tisch aus an (»ihr Schweine, ihr Schweine, das ist mein Mann«) und wir sehen in der Einstellung Ali nah und das Personal als Gruppe leicht verschwommen im Hintergrund. Ali tröstet sie und sie versichern sich ihrer Liebe. Emmi schlägt daraufhin vor, für zwei Wochen in den Urlaub zu fahren und äußert die Hoffnung, dass danach sicher alles anders sein werde und die anderen netter zu ihnen sein würden. Danach bewegt sich die Kamera seitlich nach hinten und lässt die Protagonisten allein. Nach dem Urlaub, der keine Szene im Film hat, ändern die anderen ihr Verhalten. Aber nicht nur die anderen. Emmi ändert sich auch. Aus dem Urlaub zurück, wird das Paar von der plötzlichen Freundlichkeit der Kinder, Nachbarn und Kolleginnen überrascht. Die Wandlung entspringt indes vor allem ökonomischem Kalkül. Alle nützen Emmi nun aus. Der Lebensmittelhändler braucht Kundschaft wegen der entstehenden großen Supermärkte, Peter, ihr Sohn, und seine Frau benötigen jemanden, der auf ihr Kind aufpasst usw. Als der im ersten Teil des Films dramaturgisch gelungene Aufbau des Drucks der anderen, der Konstitution einer Mehrheit gegen Ali und Emmi nachlässt, entwickelt sich indes in ihnen eine Spannung und Fragilität, die auf handlungsbezogener Ebene nicht zu erwarten war, besonders nach der emotional starken Biergartenszene, die zugleich die klarste Szene der Trennung von Peripherie (Paar) und Zentrum (Mehrheit) ist. Auf seinen Wunsch, Couscous zu essen, erwidert Emmi, dass sie das nicht kochen wolle und er sich langsam den deutschen Verhältnissen anpassen solle. Die Szene danach deutet einen Wandel bei Emmi an. Bei ihren Arbeitskollegen wieder aufgenommen, wird eine neu dazugekommene ausländische Putzfrau namens Yolanda ebenso ausgeschlossen wie zuvor Emmi. Dabei setzt Fassbinder dieselbe Einstellung im Treppenhaus ein,

35 Ebd.

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nur dass an der Stelle von Emmi jetzt Yolanda sitzt. Auf den Hinweis ihrer Kolleginnen, dass Yolanda weniger Geld als die deutschen Putzfrauen bekomme, erwidert Emmi, »die da oben werden ja wissen, wie so was läuft«.36 Emmi macht hier mehr oder weniger als Teil der Gruppe mit. Als dann ihre Kolleginnen zu Besuch kommen, führt sie Ali als einen sich waschenden Marokkaner mit eigenem Kopf vor, doch auch mit einem Bewusstsein, dass sie etwas Falsches tut. Diese Spannung und Fragilität wird in der Besuchssequenz sehr eindrücklich gezeigt. Die Sequenz davor schließt mit der Einstellung, wie Yolanda ausgeschlossen ihr Pausenbrot isst. Die nächste Sequenz und ihre erste Einstellung beginnt in dem Wohnzimmer Emmis, in dem wir Ali für ein, zwei Sekunden statisch vor dem Fernseher sitzend sehen, der Fernseher ist aus. Emmi kommt mit ihren Kolleginnen ins Zimmer. »EMMI sich ihren Kolleginnen zuwendend: Das ist der Ali. Zu Ali sich wendend: Sag mal schön ›Guten Tag‹«. Ihre Kolleginnen setzen sich und wundern sich, wie sauber Ali ist, da sie davon ausgegangen seien, dass Ausländer sich nie waschen würden. »Der ja, der wäscht sich. Der duscht sogar. Jeden Tag.« Fasziniert von seinen Muskeln bewegen sich Emmi und ihre Kolleginnen um Ali herum und fassen seinen Bizeps an. Emmi ist guter Laune und Ali verlässt schließlich genervt von der Körperschau den Raum. Auf die Frage der Freundinnen, was er denn habe, antwortet Emmi, dass er aufgrund seiner fremden Mentalität manchmal »seinen eigenen Kopf« habe. In der nächsten Einstellung, einer Tiefenaufnahme, sehen wir Ali nach einem kurzen Blickkontakt die Wohnung verlassen und Emmi ihm dabei mit schlechtem Gewissen zusehen. Ali wird zur Kneipenwirtin Barbara zurückgehen, mit der er vor dem Zusammenkommen mit Emmi schon ein sexuelles Verhältnis hatte. Wir sehen Emmi, nachdem Ali die Wohnung verlassen hat, an der Türschwelle zwischen Flur und Wohnzimmer ihre Kolleginnen ansehen, die sie anlächeln, sie lächelt erfreut zurück und senkt danach, ohne ein Lächeln, den Kopf nach unten.37 Der Übergang vom Strahlen in ihrem Gesicht zum gesenkten Kopf bündelt die Zeit vor dem Urlaub, in der sie eine periphere Person war, und konfrontiert sie mit der nach dem Urlaub, in der sie wieder zu einer anerkannten Mehrheit gehörenden Person wurde. So repräsentiert Emmi nicht mehr einfach die Peripherie, vielmehr spiegelt sich in ihrer

36 Ebd. 37 Ebd.

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Handlung und körperlichen Geste das Zentrum – jedoch, und das ist wichtig, mit einer sehr engen Bindung an die Peripherie. Diese Nähe zwischen Peripherie und Zentrum wird schon in der auf den ersten Blick klaren Ausschlussgeschichte im ersten Teil des Films gesetzt. In einer Küchenszene in Emmis Wohnung versucht Ali, Emmi Geld zu geben, weil er schon eine ganze Zeit bei ihr wohnt und seinen Teil für die Kosten beitragen möchte. Emmi reagiert darauf sehr emotional und antwortet Ali, dass sie das Geld nicht annehmen wolle, weil Geld alle Gefühle kaputt mache und sie Angst habe, dass sie ihre Liebe wegen des Geldes verlieren könnten. In KATZELMACHER ist es genau umgekehrt: Das Geld ist Ziel und Grundlage aller Bindungen. Unmittelbar nach diesem Bekenntnis zu einer reinen Liebe fragt Emmi Ali beiläufig, als ob dies ein alltägliches Thema sei, ob er Hitler kenne. Ja, er kenne Hitler, erwidert Ali. Darauf erzählt Emmi kurz die Geschichte ihrer Familie und die ihres Mannes: Ihr Vater und sie selber waren in der »Partei vom Hitler«, ihr Mann stammte jedoch aus Polen (Emmi heißt mit Nachnamen Kurowski). Aus diesem Grund hatten ihr Vater und ihr Mann große Probleme miteinander. Diese Nähe von Alltag, Familie und Hitler wird einige Sequenzen weiter im ersten Teil des Films kurz vor der Biergartenszene erneut, wenngleich different veranschaulicht. Nach der Trauung, zu der Emmi niemanden eingeladen hat, gehen beide in Hitlers Lieblingsrestaurant in München »fein essen«, weil Emmi, die genau weiß, dass Hitler dort zwischen 1929 und 1933 oft gegessen hat, immer schon einmal dorthin wollte. Der hier konstruierte enge Zusammenhang von Liebe und nationalsozialistischer Vergangenheit bündelt im Spiegel der Vergangenheit Individualität und Kollektivität sowie Peripherie und Zentrum und generiert nicht Erwartbares. Um diese Unerwartbarkeiten verstehen zu können, hilft ein Blick auf die formale Struktur des Films, d.h. auf die ikonische Struktur bzw. das Bild. So ist auf der Ebene der Bildkomposition eine formal sehr interessante Grenzverschiebung zu beobachten. Im ersten Teil des Films beginnt die Beziehung der beiden Protagonisten mit der Zusammenführung und Beobachtung der anderen in der Kneipe. Während des Tanzes werden sie in Schuss/GegenschussAufnahme beobachtet. Emmis Nachbarin Frau Karges hört ihr erstes Gespräch im Treppenhaus, macht sich gleich darauf bemerkbar, um zu sehen, wen Frau Kurowski mit nach Hause gebracht hat und informiert darüber sofort eine weitere Hausbewohnerin. Nach der ersten Nacht

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verabschiedet sich das Paar morgens unbeholfen zärtlich, und der Zuschauer glaubt zunächst, der einzige Voyeur dieser Szene zu sein. Dann jedoch schwenkt die Kamera nach oben und wir sehen Frau Karges als Beobachterin der Szenerie. Nach dem Urlaub werden die Akteure Ali und Emmi nicht mehr von den anderen beobachtet, sondern nur noch einengend in Türrahmungen fotografiert. Außenaufnahmen verschwinden gänzlich. Während es vor dem Urlaub noch eine klare Außenperspektive gab, die durch die (fast) ständige Anwesenheit von Beobachtern intensiviert wurde, verschiebt sich diese Grenze zwischen Peripherie und Zentrum in die Beziehung und in die Akteure und leitet subtil das äußerst heterogene Spannungsfeld zwischen reinem Herzen und Faschismus in den Innenraum. Nicht mehr die anderen allein sind das Problem für das Paar, sondern sie werden sich selbst zum Problem. Die beschriebene Szene, in der Emmi auf der Türschwelle steht, ihr Mann enttäuscht die Wohnung verlässt, sie auf der einen Seite ihren Kolleginnen zulächelt und danach den Kopf nach unten senkt, ist der Höhepunkt dieser Grenzverschiebung. Hier kann an die Definition des Begriffs der Individuation von Deleuze angeknüpft werden, der den Individuationsakt als ein »problematisches Feld« bezeichnet, »das durch die Entfernung zwischen heterogenen Ordnungen bestimmt wird«.38 Dieses problematische und hier problematisierte Feld, das Zentrum und Peripherie einschließt, agiert sich implizit in den Akteuren aus. Die Individuation tritt hier »als die Aktualisierung des Potentials und die Herstellung einer Kommunikation zwischen den Disparata zutage. Der Individuationsakt besteht nicht in der Aufhebung des Problems, sondern darin, die Elemente der Disparation in einen Zustand von Kopplung zu integrieren, die deren innere Resonanz gewährleistet.«39

Der somit geschaffene Raum generiert eine Vieldeutigkeit und Vielsprachigkeit, die in der zeichentheoretischen Sprache nicht mehr repräsentativ durch Signifikant und Signifikat gebündelt werden kann. Ist Emmi faschistisch oder nicht? Diese Frage kann nicht beantwortet

38 Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, München: Wilhelm Fink 1992, S. 311. 39 Ebd.

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werden, weil die Fassbinder’sche Strukturierung der Person über diese hinausreicht, somit zugleich unbedingt auch gesellschaftlich zu lesen ist. Diskursanalytisch gesprochen kann man die Propositionen der Akteure nicht voneinander trennen, denn sie gehören dem selben Aussagesystem an, d.h. dem heterogenen kulturellen System der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Jedoch erschöpft sich die Interpretation auch nicht allein im Gesellschaftlichen, denn im Unterschied zu KATZELMACHER schafft es ANGST ESSEN SEELE AUF jenseits einer ausbeuterischen kapitalistischen Logik mit dieser Paradoxie umzugehen. Trotz dieser Grenzverschiebungen und der Gleichzeitigkeit von Heterogenitäten setzt sich gegen Ende des Films die intime Bindung zwischen Emmi und Ali durch, die durch die Darstellung ihrer Bedürfnisse und Einsamkeiten im ersten Teil geschaffen wurde. Emmi und Ali finden wieder zueinander. Wie zu Beginn und in der Mitte des Films vor ihrer Hochzeit und nun am Schluss des Films tanzen sie in der Kneipe von Barbara. Während des Tanzes kommt es zu folgendem Dialog: ALI:

Ichk schläft mit anderer Frau, aber…

EMMI:

Das ist doch nicht wichtig, Ali. Das ist überhaupt nicht wichtig.

ALI:

Ichk nicht will, aber immer ichk bin so nervös.

EMMI:

Du bist doch ein freier Mensch. Du kannst doch machen, was Du willst. Ich weiß doch, wie alt ich bin. Ich sehe mich ja jeden Tag im Spiegel. Ich kann Dir doch nichts verbieten. Wenn wir zusammen sind, dann müssen wir gut sein zueinander, sonst ist das ganze Leben nichts wert.

ALI:

Ichk will nicht andere Frau, ichk liebe nur Dichk.

EMMI:

Ich liebe Dich auch, zusammen sind wir stark.

40

Nach dieser Aussage bricht Ali unter starken Schmerzen zusammen. Im Krankenhaus wird ein Magengeschwür festgestellt, wie es bei Gastarbeitern üblich sei, so der Arzt, wegen des Stresses, unter dem sie stünden. Auch wenn er wieder gesund werden würde: In einem halben Jahr läge er wieder da, prognostiziert der Arzt. Vor dem körperlichen Zusammenbruch Alis wird die Spannung, die der Film zwischen wahrer Liebe und Faschismus aufbaut, durch die Liebe zwischen den beiden als ein Verhältnis der Diskretion aufgelöst – im Gegensatz zur Dominanz der totalen Indiskretion in KATZELMACHER.

40 ANGST ESSEN SEELE AUF (BRD 1974, R: Rainer Werner Fassbinder).

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Während dort mehr die Grundfragilität einer Gruppe als Zentrum untersucht wird und dabei der ›andere‹ ein repräsentativer Körper ist, sehen wir in ANGST ESSEN SEELE AUF eine spiegelbildliche Darstellung der Grundfragilität in einer Peripherie, die jedoch – grundlegend anders als in KATZELMACHER – die Körper der Akteure individuiert und dadurch einen Innenraum schafft, der aber nicht ohne die gesellschaftlichen Unterdrückungsmechanismen gedacht und dargestellt werden kann. Bei KATZELMACHER entladen sich die zuvor zirkulierenden Denunziationen und ziellosen Gewaltausbrüche in dem Angriff auf Jorgos, in ANGST ESSEN SEELE AUF brechen die beständigen negativen Zuschreibungen und Beobachtungen des Fremden durch die Deutschen in den Körper des Migranten ein und dort den Magen auf. In diesen Relationen scheinen mir KATZELMACHER und ANGST ESSEN SEELE AUF zwei Seiten derselben Medaille zu sein, der von Peripherie und Zentrum.

S CHLUSS In den 1960er Jahren wurden mit dem Nationalsozialismus vor allem die Judenverfolgung und die Rassenlehre konnotiert, hält Ulrich Herbert fest, und »daneben […] auch das herrische Gebaren der Parteifunktionäre, vor allem in der letzten Kriegsphase«.41 Andere Bereiche, beispielsweise »die Verfolgung bestimmter Minderheiten wie der Zigeuner und ebenso die Heranziehung ausländischer Arbeitskräfte zu Zwangsarbeit«, wurden hiermit hingegen nicht in Verbindung gebracht.42 Vergleicht man die politische Situation in den Anfängen der Bundesrepublik 1948/49 mit Mitte der 1970er Jahre, könnten die Unterschiede laut Herbert kaum größer sein. Wenn zwischen der Gründung der Bundesrepublik bis in die Mitte der 1960er Jahre der wirtschaftliche Wiederaufbau, der wachsende Wohlstand und die soziale Absicherung die bedeutsamsten und wichtigsten Faktoren für die damaligen Zeitgenossen waren, erscheine der Liberalisierungsprozess in Deutschland bis Mitte der 1970er »atemverschlagend«, wenn »man das Ausmaß und die Intensität der gesellschaftlichen Kontinuitäten aus der NS-Zeit in die frühe Bundesrepublik hinein tatsächlich wahrnimmt

41 U. Herbert: Liberalisierung als Lernprozess, S. 17. 42 Ebd.

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und berücksichtigt«.43 Ähnlich wie Ralf Dahrendorf in Gesellschaft und Demokratie in Deutschland 1966 einen grundlegenden Mangel der liberalen Demokratie in Westdeutschland in den 1950er und 1960er Jahren vermerkt, konstatiert die ehemalige Freiburger Forschungsgruppe für die Liberalisierungsprozesse in Deutschland von 1950 bis 1980 eine grundlegende Spannung zwischen politischer und gesellschaftlicher Demokratisierung. Diese kann nur wahrgenommen werden, wenn man drei Prozesse der Modernisierung und Liberalisierung voneinander unterscheidet: erstens die wirtschaftliche und technische Entwicklung, zweitens die politischen und sozialen Veränderungen und drittens die Modernisierung der Lebensweisen. 44 Den Innenraum der Lebensweisen in die Modernisierungs- und Liberalisierungsprozesse zu integrieren, war Dahrendorfs, aber auch Jürgen Habermas’ großes Anliegen in den 1960er Jahren. »Die deutsche Frage ist die Frage nach den Hemmnissen der liberalen Demokratie in Deutschland. Die liberale Demokratie ist ein politisches Prinzip, wenn nicht ein politisches System. Politische Strukturen aber schweben nicht in der Luft. […] Zu den politischen Verfassungen gehören bestimmte soziale Strukturen in dem Sinne, daß die Verfassung nicht wirksam werden kann, ohne daß die sozialen Strukturen gegeben sind.«45

Dass die Entwicklung der politischen Außenstrukturen der Bundesrepublik bis in die 1960er Jahre – wie die Parlamentarisierung von politischen Entscheidungen und die Demokratisierung der Verwaltung –, nicht mit der Demokratisierung von lebensweltlichen Innenstrukturen in der deutschen Geschichte einherging, sieht Dahrendorf in der fatalen Kopplung von modernen Wirtschaftsformen mit autoritärer politischer Ordnung begründet, die er bis in die wilhelminische Zeit zurückführt.46 Nach Moritz Scheibe verwiesen Dahrendorf und Habermas in den 1960ern auf eine gesellschaftliche Problemkonstellation, »dass nämlich eine moderne Gesellschaft auf demokratischen Normen und Verhaltensweisen beruhen musste und dass die Gesellschaft der Bun-

43 Ebd., S. 19. 44 Vgl. ebd., S. 44f. 45 R. Dahrendorf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, S. 237. 46 Ebd., S 56.

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desrepublik von diesem Ziel noch weit entfernt war«.47 Der Weg, der die Kopplung von Innen- und Außenstrukturen schaffen sollte, war im Falle Dahrendorfs nichts anderes als die Ausweitung der Demokratie über die staatlichen Institutionen hinaus in das gesellschaftliche Innenleben der Bundesrepublik. Der Schlüssel für diese Entwicklung ist nach Dahrendorf der Umgang mit Konflikten, nämlich einer der rationalen Kanalisierung, die keiner Autorität bedarf: eine Demokratisierung von unten. Eine solche Perspektive von unten findet sich auch in den Filmen Rainer Werner Fassbinders – weit über die beiden hier besprochenen hinaus –, jedoch mit einer ganz anderen Bearbeitung der Innen/AußenUnterscheidung: Diese nimmt keine Durchdemokratisierung der Gesellschaft für sich als Ziel in Anspruch, wie wir sie in der hier beschriebenen Debatte vorfinden. Fassbinders ›Unten‹ ist zudem nicht die private Welt der deutschen Gesellschaft, sondern vielmehr ihr Verhältnis zu Peripherien, zu den Randfiguren, den Gastarbeitern, den Frauen, den Alten, den Homosexuellen usw. Seine Filmsprache kommt aus diesem Grenzbereich, der damals wissenschaftlich noch nicht erschlossen war. So ist für Fassbinder wie für Lotman die Gesellschaft als kulturelles System vielsprachig, heterogen und es existieren unterschiedliche Epochen zugleich.48 Mit dem Komplexitätszuwachs von kulturellen Systemen nehmen die Autonomie einzelner Teile von Semiosphären, aber auch die Gefahren zu. »Der gerade mit dem Wesen des Mechanismus der Kultur zusammenhängende Zuwachs an vielfältigen geschlossenen semiotischen Gebilden ist der Erhöhung des Umfangs der innerhalb der betreffenden Kultur zirkulierenden Information und folglich der Effektivität ihrer Orientierung in der Welt außerordentlich förderlich. Doch trägt er ebenso die Gefahr einer spezifischen ›Schizophrenie der Kultur‹ in sich, ihres Zerfalls in zahlreiche wechselseitig antagonistische ›kulturelle Persönlichkeiten‹; die Situation des kulturellen Polyglottis-

47 M. Scheibe: Auf der Suche nach der demokratischen Gesellschaft, S. 258. 48 Lotman, Jurij M.: »Der Platz der Filmkunst im Mechanismus der Kultur«, in: montage/av. Jurij Lotman. Das Gesicht im Film. Zeitschrift für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommunikation 13/2 (2004), S. 92-106, hier S. 98.

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mus kann umschlagen in die Verhältnisse einer ›Babylonischen Verwirrung‹ der Semiose der betreffenden Kultur«,49

oder in der Fassbinder’schen Filmsprache im Falle der jungen Bundesrepublik in eine Expansion des Faschismus. Diese Bindungslosigkeit, die eine Art Kulturlosigkeit der Kultur hervorbringt, könne das kulturelle System nach Lotman, um die in einer ›Schizophrenie der Kultur‹ entstandenen Lücken zwischen den Teilen wieder zu schließen, nur durch einen stereoskopischen Charakter wettmachen. 50 Und es ist, denke ich, genau der Prozess, der zwischen KATZELMACHER und ANGST ESSEN SEELE AUF liegt. Während im ersten Film Bindungslosigkeit, totale Indiskretion und die Abhängigkeit von Liebe und Geld dominieren, die mit einer totalen Oberfläche dargestellt werden und schlussendlich mit dem Auftauchen des Gastarbeiters einen kollektiven Rassismus entfesseln, wird in ANGST ESSEN SEELE AUF von Anfang an formal Raum geschaffen, um die Heterogenitäten zwischen Liebe, Kapital und Faschismus binden zu können, ohne dabei in eine totale Indiskretion, in Spaltungen (Schizes) auseinanderfallen zu müssen. Die Aufhebung der Unterscheidung zwischen Innen und Außen und besonders zwischen privatem und öffentlichem Raum durch Sprachlosigkeit, Denunziationen, das Kapital als ultimativem Gut für Person und Staat, die Ausbeutung von Gefühlen und, mit all dem verbunden, durch die faschistoide Vehemenz gegenüber dem Ausländer trifft in KATZELMACHER die gesellschaftspolitische Debatte der 1960er und frühen 1970er Jahre in der Bundesrepublik im Kern und problematisiert sie auf vielen Ebenen, ohne dabei auf eine alle Probleme lösende Idee der liberalen Demokratie im Alltag verweisen zu wollen oder zu können. Auf diesen tabula-rasa-artigen Film, der kein Subjekt, keine Gruppe, keinen Staat und keine Gesellschaft dem Mammon widerstehen lässt, folgt mit ANGST ESSEN SEELE AUF eine Raum- und zugleich Kulturschaffung, die versucht, die Heterogenitäten der deutschen Nachkriegsgesellschaft so zu binden, dass in ihr eine Kultur der Diskretion Platz findet.

49 Ebd., S. 96. 50 J. M. Lotman: Der Platz der Filmkunst, S. 95.

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L ITERATUR Braad Thomsen, Christian: »Der doppelte Mensch«, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Rainer Werner Fassbinder. Edition text+kritik 103 (Juli 1989), S. 3-9. Dahrendorf, Ralf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München: Piper 1966. Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, München: Wilhelm Fink 1992. Fassbinder, Rainer Werner: Katzelmacher/Preparadise sorry now, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 1982. Hunn, Karin: »Gastarbeiter und Gastarbeiterpolitik in der Bundesrepublik. Vom Beginn der offiziellen Anwerbung bis zum Anwerbestopp (1955-1973)«, in: Axel Schildt (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg: Christans Verlag 2000, S. 272-310. Dies.: »Nächstes Jahr kehren wir zurück…«. Die Geschichte der türkischen ›Gastarbeiter‹ in der Bundesrepublik, Göttingen: Wallstein 2005. Herbert, Ulrich: »Liberalisierung als Lernprozess. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte. Eine Skizze«, in: Ders. (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945-1980, Göttingen: Wallstein 2002, S. 7-49. Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 24. durchgesehene und erw. Auflage, Berlin: Walter de Gruyter 2002. Lotman, Jurij M.: »Über die Semiosphäre«, in: Zeitschrift für Semiotik 12/4 (1990), S. 287-305. Ders.: »Mögliche Welten. Gespräch über den Film«, in: montage/av. Zeitschrift für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommunikation 3/2 (1994), S. 139-150. Ders.: »Der Platz der Filmkunst im Mechanismus der Kultur«, in: montage/av. Jurij Lotman. Das Gesicht im Film. Zeitschrift für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommunikation 13/2 (2004), S. 92-106. Ders.: »Die Natur der Filmerzählung«, in: montage/av. Jurij Lotman. Das Gesicht im Film. Zeitschrift für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommunikation 13/2 (2004), S. 107-121.

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Ders.: »Das verkehrte Bild«, in: Ders., Kultur und Explosion, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 103-146. Ders.: »Die Innenwelt des Denkens«, Berlin: Suhrkamp 2010. Reimer-Haala, Erika: »Rez. zu KATZELMACHER«, http://www. filmportal.de/node/51825/material/699775 (03.08.2012). Schönecker, Leo: »Rez. zu KATZELMACHER«, http://www.filmportal. de/node/51825/material/699777 (03.08.2012). Töteberg, Michael: Rainer Werner Fassbinder, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2002.

FILME ANGST ESSEN SEELE AUF (BRD 1974, Regie: Rainer Werner Fassbinder) DAS KLEINE CHAOS (BRD 1966, R: Rainer Werner Fassbinder) DER STADTSTREICHER (BRD 1965, R: Rainer Werner Fassbinder) DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT (BRD 1972, R: Rainer Werner Fassbinder) FONTANE EFFI BRIEST (BRD 1974, R: Rainer Werner Fassbinder) FAUSTRECHT DER FREIHEIT (BRD 1975, R: Rainer Werner Fassbinder) GEGENSCHUSS – AUFBRUCH DER FILMEMACHER (BRD 2007, R: Dominik Wessely) KATZELMACHER (BRD 1969, R: Rainer Werner Fassbinder) LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD (BRD 1969, R: Rainer Werner Fassbinder) MARTHA (BRD 1973, R: Rainer Werner Fassbinder)

Das andere Melodrama Vom Pathos der Fremdheit in Fassbinders ANGST ESSEN SEELE AUF, DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS und DIE BITTEREN TRÄNEN DER

PETRA VON KANT

K ATI R ÖTTGER UND M AREN B UTTE

FÜR ROSEL ZECH († 31.8.2011)

Ein expressiver Filmmoment: Eine ältere Frau im blau-karierten Morgenmantel und mit dürftig getöntem rotem Haar öffnet hastig die Tür ihrer Münchner Altbauwohnung und stürzt ins Treppenhaus. Sie ruft mit verzweifelter Stimme Ali, ihren Geliebten, einen marokkanischen Einwanderer (El Hedi ben Salem), mit dem sie allen Widerständen zum Trotz zusammenlebt. Doch er kommt nicht zurück. Emmi (Brigitte Mira), die verzweifelt Liebende und mit dem Missfallen ihrer Freunde und Kinder kämpfende Figur, bricht in Tränen aus, lehnt sich gegen den leicht schäbigen, weiß gestrichenen Türrahmen und weint zitternd (Abb. 1). Dieser Moment in Fassbinders ANGST ESSEN SEELE AUF (BRD 1974) folgt dem Schema eines sentimentalen Liebesfilms im Stile Hollywoods, in dem eine zumeist weibliche Figur Opfer einer sozial nicht tragbaren Liebesbeziehung wird. Ihr Pathos gerinnt in einem Moment des exaltierten leidvollen Ausbruchs zu einem emotionalen Bild.1 Die Szene von Emmis Verzweiflung verweist demnach auf 1

Zu dieser Form des melodramatischen Ausdrucks vgl. Kappelhoff, Hermann: Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der

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eine prototypisch melodramatische Situation, nämlich die Inszenierung eines tragischen Konflikts, der sich nicht wirklich entladen will; 2 ein intimer, innerer Konflikt, der sich in einer ästhetisierten Passion veräußert, in einer ›Sprache‹ des Gefühls. Abbildung 1: Brigitte Mira

Quelle: ANGST ESSEN SEELE AUF (BRD 1974, R: R.W. Fassbinder), DVD, Kinowelt (2007)

Und doch passt diese so typisch melodramatisch inszenierte Szene nicht recht ins übliche Bild. Emmi ist nicht die reife, hingebungsvolle Schönheit, deren Mimik und Gestik sich stilvoll in die Filmikonographie fügt. Und Ali ist nicht der stramme Naturbursche à la Rock Hudson, dessen entwaffnende Aufrichtigkeit das Herz der Heldin erobert – so die Konstellation in Douglas Sirks Hollywood-Melodram ALL THAT HEAVEN ALLOWS (USA 1955), an dem sich Fassbinder in

Empfindsamkeit, Berlin: Vorwerk 2004; Heeg, Günther: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M.: Stroemfeld 2000 sowie Butte, Maren: Melodramatische Figuren. Affektive Bilder im Wechsel der Medien (= Unveröffentlichte Dissertation 2011). 2

Vgl. Elsaesser, Thomas: »Tales of Sound and Fury. Observations on the Family Melodrama«, in: Christine Gledhill (Hg.), Home is where the heart is. Studies in Melodrama and the Woman’s Film, London: Brit. Film Institute 1987, S. 43-69.

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ANGST ESSEN SEELE AUF bekanntermaßen orientierte.3 Es gibt etwas anderes in Fassbinders Melodramen.4 Dieses Andere liegt nicht nur in der sozialen Fremdheit der Figuren, ebenso wenig in einem Anachronismus von Kitsch und Kunst, Ernst und Lächerlichkeit der Leidenschaften, wie sich in Fassbinders Exposé zum Film andeutet: »Zur Minderheit der Alten und Einsamen gehört die Witwe Emmi (Brigitte Mira). Zur Außenseiterkaste der Gastarbeiter zählt Ali, ein junger Marokkaner (El Hedi Salem). Sie begegnen einander in einer Ausländerpinte, wagen einen linkischen Tango und gehen zu Emmi nach Hause. Dann heiraten sie. Und als Kolleginnen, der Kaufmann, Hausbewohner, die eigenen Kinder von Mutter Emmi nichts mehr wissen wollen, als Ali bei der üppigen Kneipenwirtin (Barbara Valentin) fremd geht – da bewährt sich ihr Verhältnis erst recht. Zusammen sind sie stark. Und ihre Solidarität überwindet Angst und Vorurteile.«5

Das Andere des Fassbinder’schen Melodramas – so lautet unsere These – lässt sich vielmehr als ein Pathos des Fremd-Werdens beschreiben, als ein struktureller Prozess, der durch spezifische Dramaturgien des Sehens und Beobachtetwerdens6 ausgelöst wird. Den Prozess der

3

Vgl. Fassbinder, Rainer W.: »Imitations of Life. Über die Filme von Douglas Sirk«, in: Michael Töteberg (Hg.), R.W. Fassbinder. Filme befreien den Kopf. Essays und Arbeitsnotizen, Frankfurt a.M.: Fischer 1992, S. 1124, hier S. 12-14 sowie den Abschnitt: Gesehen-Werden. Das soziale Tableau in ANGST ESSEN SEELE AUF im vorliegenden Beitrag.

4

Die Forschungsliteratur betont Fassbinders Affinität zum melodramatischen Hollywoodfilm. Vgl. Elsaesser, Thomas: Fassbinder’s Germany. History, Identity, Subject, Amsterdam: UP 1996; Wojtko, Nikolai: »NachAhmungen oder: Wieviel Text steckt in einem Film? Zu ALL THAT HEAVEN

ALLOWS von Douglas Sirk und HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN

von Rainer Werner Fassbinder«, in: Margrit Frölich/Klaus Gronenborn/Karsten Visarius (Hg.), Das Gefühl der Gefühle. Zum Kinomelodram, Marburg: Schüren 2008, S. 142-153; Allmer, Tillman: Zur Funktion des Melodramatischen in Fassbinders Film LOLA, München: Grin 2008. 5

So zu lesen auf dem Cover der DVD, erschienen bei e-m-s, Rainer Werner

6

»Ich bin nicht interessiert, Beobachtungen zu zeigen, sondern eher die Na-

Fassbinder Collection Spielfim, Werksverzeichnis 23. tur des Beobachtet-Werdens«, R.W. Fassbinder zitiert nach: Hughes,

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Fremdwerdung verstehen wir dabei mit Bernhard Waldenfels als eine Bewegung der ständigen Verschiebung.7 Unter dieser Prämisse möchten wir zeigen, dass Fassbinder gängige Elemente des Melodramatischen verwendet, diese aber neu anordnet und sie in ein anderes Melodram transformiert – besonders hinsichtlich einer wechselhaften Politik der Gefühle, die soziale Dramen verursacht und in diesen wirksam ist. Dabei greifen soziale und ästhetische Fremdheit in der Inszenierung von Befremdung ineinander. In der Bildsprache Fassbinders scheinen die zwischenmenschlichen Beziehungen und sozialen Hierarchien in einer Logik des Sehens und Gesehen-Werdens zu entstehen, wie auch Thomas Elsaesser in seiner Monographie zu Fassbinder immer wieder betont.8 Im Folgenden wollen wir diesen Gedanken weiterführen. Am Beispiel der drei kanonischen Filmdramen ANGST ESSEN SEELE AUF, DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS (BRD 1982) und DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT (BRD 1972) sollen Strategien der erzählten, sozialen Fremdwerdung und der ästhetischen »Fremdmachung«9 aufgezeigt werden. Dabei wird sich zeigen, dass die melodramatische Ästhetik oder die ›Sprache des Gefühls‹ nicht zuletzt an eine ›Sprache der (Bild-)Räume‹ gebunden ist, die Fremdheit auf unterschiedliche Weise in Szene setzen. Während sich DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT ausschließlich im klaustrophobisch erscheinenden Privatraum abspielt, erweitert ANGST ESSEN SEELE AUF diesen in den sozialen Raum der unmittelbaren Nachbar-

John/McCormick, Ruth: »Rainer Werner Fassbinder and the Death of Family Life«, in: Thousand Eyes Magazine April (1977), S. 4-5, hier S. 4. 7

Vgl. Waldenfels, Bernhard: Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S.37f.: »Die Bewegung des Fremdwerdens kann nicht nur wechselnde Steigerungsgrade durchlaufen, sie kann auch verschiedene Richtungen einschlagen. Daraus entstehen verschiedene Fremdheitsvektoren. Fremdwerden kann darin bestehen, daß ich, getragen durch eine Wir-Gruppe, die Anderen als Fremde erfahre, oder darin, daß ich mich selbst anderen gegenüber als Fremder fühle, so wie ich mich primär um meinen eigenen Tod oder um den Tod Anderer ängstigen kann.«

8

Vgl. Elsaesser, Thomas: Rainer Werner Fassbinder, Berlin: Bertz und Fischer 2000.

9

Wir vermeiden an diesem Punkt explizit den Begriff der Verfremdung, der zu eindeutig mit dem Epischen Theater Bertolt Brechts assoziiert ist.

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schaft der Lebenswelt von Emmi und Ali. DIE SEHNSUCHT DER VEROschließlich überblendet private und soziale Räume mit dem psychischen Raum der Imaginationen. Wie werden in diesen Räumen Blicke, Körper und Gefühle so zueinander in Beziehung gesetzt, dass »klassische« Machtstrukturen mit Fremdheit durchzogen werden und ein Raum der Differenz oder eine Sphäre des Andersseins entsteht?

NIKA VOSS

G ESEHEN - WERDEN . D AS SOZIALE T ABLEAU A NGST ESSEN S EELE AUF

IN

Fassbinder bezog sich mit ANGST ESSEN SEELE AUF auf die Arbeiten des Hollywoodregisseurs Douglas Sirk. Beide hatten während ihrer Zeit als Theaterdramaturg und -regisseur eine je eigene, symbolische Bildsprache entwickelt,10 die auf je unterschiedliche Weise in ihren Filmen anwesend ist, bei Sirk vor allen in seinen Hollywood-Filmen der 1950er Jahre.11 Diese family melodramas, die sich durch ein expressives Szenenbild auszeichnen und in denen die ›Handschrift des Autors‹ deutlich sichtbar ist,12 wurden für ein vorwiegend weibliches Publikum gedreht. Im Vordergrund standen jeweils familiäre Geschichten, deren Beziehungs-, Geld- und Machtkonflikte aus einer weiblich bestimmten Erzählperspektive gezeigt wurden. Auf diese

10 Der dänisch-deutsche Hans Detlef Sierck (1897-1987) arbeitete von 1920 bis 1921 als Dramaturg am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Von 1929 bis 1935 war er Intendant des Alten Theaters Bremen und auch in Berlin tätig. Er inszenierte u.a. Shakespeare, Strindberg und Brecht. Nach ersten Kurzfilmen wurde Fassbinder 1967 im Ensemble des jungen Action-Theaters um Ursula Strätz, Peer Raben und Kurt Raab als Mitglied aufgenommen. Daraus ging das antiteater hervor. 11 Vgl. Läufer, Elisabeth: Skeptiker des Lichts. Douglas Sirk und seine Filme, Frankfurt a.M.: Fischer 1987. Diese Bildsprache war u.a. geprägt durch Leopold Jeßner, der am Thalia Theater bereits zwischen 1904 und 1914 mit atmosphärischen und symbolischen Farbflächen und Licht anstatt mit Dekor gearbeitet hatte, sowie durch seine Begegnung mit Max Reinhardt, Mary Wigman und La Argentina zwischen 1926 und 1929. 12 Vgl. Gledhill, Christine: »The Melodramatic Field. An Investigation«, in: Dies., Home is where the heart is. Studies in Melodrama and the Woman’s Film, London: Brit. Film Institute 1987, S. 5-39.

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symbolische Formen- und Farbsprache, die den Dialog zugunsten einer visuell-erzählenden mise en scène zurückdrängte, bezog sich Fassbinder, indem er den melodramatischen Grundkonflikt einer prekären Liebesbeziehung übernahm und variierte. Wurde in ALL THAT HEAVEN ALLOWS die Protagonistin Cary Scott (Jane Wyman) von ihrem sozialen Umfeld ausgegrenzt, weil sie sich in ihren jüngeren Angestellten (Rock Hudson) verliebt hatte, so ist in Fassbinders Melodrama der Konflikt übertragen auf die Liebesbeziehung zwischen der älteren verwitweten Putzfrau Emmi Kurowski und dem jüngeren Ausländer Ali im Deutschland der 1970er Jahre. Die Alters- und Herkunftsdifferenz der Figuren erscheint damit wiederholt und verstärkt. Brigitte Mira ist in der Rolle der Emmi darüber hinaus auf ähnliche Weise ins Filmbild gebannt: Cary Scott wurde von Sirk immer wieder hinter Fensterglas oder eingesperrt in ihrem reich dekorierten Haus gezeigt und wirkt dabei wie leidend ›in den Film gemalt‹. Auch Emmi ist mit viel Pathos bildhaft dargestellt, eingesperrt im Setting, in dem – in Referenz auf Sirk – die Pastellfarben dominieren und wechselnde Eindrücke der Ausgrenzung gezeigt werden. Die Figur der liebenden Frau, die zum Opfer von seelischer oder körperlicher Gewalt wird und die im Raum der Blicke schön in Szene gesetzt wird, nutzen beide Regisseure als Dreh- und Angelpunkt der sozial-melodramatischen Geschichten, aber mit unterschiedlichem Ergebnis. Fassbinder lässt nicht nur die obligatorische musikalische Untermalung, das Melos,13 aus, er verlegt auch den Handlungskonflikt weiter und prägnanter aus der privaten in die soziale Sphäre.14 In einer vergleichenden Lektüre der Filme Sirks und Fassbinders macht Douglas Kellner darauf aufmerksam, dass beide Autoren patriarchale, ökonomische und sexuell-repressive Machtmechanismen über Geschichten und Figuren unterschwellig darstellten. Doch sei in Sirks Arbeiten stets ein gewisser Restgrad an Affirmation und Idealisierung anwesend; das zeige auch das obligatori-

13 Zum Melos siehe den Abschnitt: Passion der Banalitäten. DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT im vorliegenden Beitrag. 14 Der Arbeitstitel des Films von 1974 lautete ALLE TÜRKEN HEIßEN ALI und beleuchtet Ausländerfeindlichkeit im Zusammenhang mit der heterogenen Liebesthematik.

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sche Happy End.15 Fassbinder hingegen schöpfe das sozialkritische Potenzial der melodramatischen Bildsprache aus.16 Dafür verwendet er besondere, die Bildsprache radikalisierende Verfahren: szenische Langsamkeit und Schwere, eine extreme Tiefenschärfe der Einstellungen sowie ein verstärkt gestisches Spiel der Darsteller, das aus der Fiktion und einer melodramatischen Inszenierung der Gefühle hervorsticht und die Zuschauer immer wieder irritiert und ›denken‹ lässt. Fassbinders Melodramen sind aufgrund dieser Ästhetik beispielsweise auch als »Verkörperungen einer Latenz« interpretiert worden, die man mit dem Nachkriegs- und Nachaufschwungsdeutschland assoziieren kann, mit einem Klima des Traumas, der Verdrängung und Unsicherheit allem Fremden gegenüber.17 Dabei ist besonders für ANGST ESSEN SEELE AUF – auch im Gegensatz zu melodramatischen HollywoodFiguren – zu bemerken, dass weder die Heldin noch der Held rein positiv oder negativ im Sinne einer vereinfachenden (Mit-)Täterschaft bewertet werden können: In der Geschichte betrügt Ali Emmi, während Emmi ihren Kolleginnen bei einem Besuch den nackten, schönen und exotischen Körper ihres jungen Liebhabers in einem hemmungslosen Zurschaustellen präsentiert, um Anerkennung und Aufnahme in die Gemeinschaft zu erfahren. Macht, Ausbeutung, Exklusionen, aber auch Liebe, Gemeinschaft und Menschlichkeit sind also variabel, ja geradezu prekäre Konstellationen. Sirk und Fassbinder entfalten also mehr oder minder kritische Perspektiven und konzentrieren sich bei der Darstellung des Konflikts auf weibliche Figuren, die zunächst eine Minorität im Sinne einer Ohnmacht (der Gefühle) repräsentieren. In seinem Artikel über Philosophie und Minorität schreibt Gilles Deleuze, dass der Minorität ein »potentielles Werden« eigen sei, während sich die Majorität aus einer Konstante herleite:

15 Vgl. Brandt, Stephan: Film as Symbolic Action. Douglas Sirks IMITATION OF

LIFE (1959) als Paradigma kultureller Selbstverständigung im Amerika

der 1950er Jahre, Berlin: FUP 1999. 16 Ebd., S. 29. 17 Zum Begriff des Traumatischen in den Filmen Fassbinders vgl. Chappuzeau, Bernhard: Transgressionen und Trauma bei Pedro Almodóvar und R.W. Fassbinder. Gender – Memoria – Visum, Tübingen: Narr 2005, S. 11.

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»Zwischen Minorität und Majorität besteht ein nicht nur quantitativer Gegensatz. Majorität impliziert eine Idealkonstante, gleichsam ein Standardmaß, an dem sie berechnet, verbucht wird. Nehmen wir an, die Konstante oder das Maß lautete: Mensch – weiße Hautfarbe – männlich – erwachsen – vernünftig – heterosexuell – Stadtbewohner – eine Standardsprache sprechend […]. Es liegt auf der Hand, daß der Mann die Majorität hat, selbst wenn er weniger zahlreich ist als die Mücken, die Kinder, die Frauen, die Schwarzen, die Bauern, die Homosexuellen usw. Das kommt daher, weil er zweifach auftaucht, einmal in der Konstante, einmal in der Variablen, aus der die Konstante gezogen wird.«18

Diese Logik des Minoritärwerdens beschreibt hier eine Reibung der Konstanten und der Variablen, von Dominanz und Potenzialität. Deleuze bestimmt hier Prekarität auf eine Weise, dass beispielsweise auch das Weibliche als minoritär zu denken wäre, obwohl es laut Statistiken mehr Frauen als Männer auf der Welt gibt. Als eine symbolische Konstellation verstanden kann dieses Modell für die Filme Sirks und Fassbinders gelten, die sich mit Prozessen der Ausgrenzung in der Bildsprache des Melodramas befassen: Konstanten und Variablen der Macht verschieben sich und schaffen in der besonderen Bildästhetik Fassbinders neue Machtgefüge aus Blicken, Körpern, Gefühlen und Räumen. In einem Essay von 1971 schreibt Fassbinder, dass Sirk Filme mit »wahnsinnigen Sachen«, genauer mit Menschen, mit Blut, Spiegeln, Blumen, Tränen, Gewalt und Liebe gemacht und gesagt habe, »das Licht und die Einstellung« seien die »Philosophie des Regisseurs«.19 Fassbinder bestimmt hier nicht nur die Gegenstände, mit denen man etwas erzählt, er legt auch das Grundelement der Ästhetik und der Repräsentation von (Ohn-)Macht offen: die Einstellung als »Philosophie«, als eine Perspektivierung der Repräsentation der Dinge. Dies ist nicht nur als Erklärung der Autorschaft des Filmemachers zu verstehen, sondern auch als eine spezifische Verräumlichung einer Machtordnung oder auch als eine Politik des Sehens. Wie ist die Politik des Sehens in ANGST ESSEN SEELE AUF zu bestimmen? In der eingangs beschriebenen Szene bricht Emmi an der Türschwelle zusammen und schluchzt, völlig entkräftet von den Er-

18 Deleuze, Gilles: »Philosophie und Minorität«, in: Joseph Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 205-207, hier S. 205. 19 Fassbinder: Imitations of Life, S. 11.

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eignissen. Doch es ist ein anderes Weinen als das Weinen in ALL THAT HEAVEN ALLOWS, das zumeist musikalisch untermalt ist und einer konsistenten Dramaturgie des Schönen und Sentimentalen folgt. In ANGST stellt sich in solchen Momenten sogleich eine Form der Beunruhigung ein. In der Filmsequenz, die Emmis Zusammenbruch zeigt, ist die Bildkomposition leicht diagonal angeschnitten und die Kamera zeichnet den Moment von unten auf; man sieht Emmis Körper weniger als zur Hälfte, das sehr hoch angebrachte Schloss der Tür verstärkt den Eindruck des kleinen Körpers. Auf diese Weise erscheint Emmi wie Sirks Figuren symbolisch eingesperrt in den Verhältnissen eines Bildes, das ihr Leben repräsentiert, und gefangen in ihrer Emotion, die dem Körper wie eingeschrieben ist; doch wirkt Emmis Weinen im Vergleich wahrhaftiger.20 Obwohl ähnliche Bildstrategien wie bei Sirk verwendet werden, droht hier ein Kippen ins Hässliche und Groteske; das Analytische drängt den sentimentalen Genuss zurück.21 Die Perspektivierung tritt deutlich kommentierend hervor – aufgrund einer verschärften Dramaturgie der Blicke und Räume. In den Figur-BildKomposition ist das Sehen und Gesehen-Werden stärker als bei Sirk auf eine Schnittstelle des Sozialen, Ästhetischen und Philosophischen bezogen. Dies zeigt sich in mehreren Szenen. Nachdem Emmi und Ali geheiratet haben, erfahren sie von allen Seiten Skepsis und andere Formen mehr oder minder subtiler Gewalt – im Lebensmittelgeschäft wird Ali nicht bedient, Emmis (Schwieger-)Kinder wenden sich empört von ihr ab, ihre Kolleginnen lassen sie in der Mittagspause allein auf der Treppe essen. »Keiner schaut einem mehr richtig ins Gesicht«, beklagt sich Emmi in einer Szene. Sie möchte gesehen werden – in der Gruppe, in der Gemeinschaft und in der Beziehung.22 Sehen heißt hier Sein und Anerkanntwerden im sozialen Sinne; Gesehen-Werden ist hier für Identität und für emotionale Stabilität grundlegend und in Filmen Fassbinders in keiner Weise als banal zu verstehen, sondern als unausweichliche Machtkonstellation, verdeutlicht in symbolischen Bildern. In seiner Studie zu Fassbinder beschreibt Thomas Elsaesser

20 »Wahrhaftigkeit« ist für Fassbinder ein zentraler Begriff – bereits in seiner Theaterarbeit. Vgl. Freybourg, Anne Marie: Bilder lesen. Visionen von Liebe und Politik bei Godard und Fassbinder, Wien: Passagen 1996, S. 53. 21 Zum Begriff des sentimentalen Genießens vgl. H. Kappelhoff: Matrix der Gefühle, S. 20. 22 Vgl. die Szene im Biergarten in ANGST ESSEN SEELE AUF (ca. 57. Min.).

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dieses Gesehen-Werden als Grundfiguration. Die Figuren seien regelrecht »image-personators« und würden sich selbst in den Blick der Kamera bewegen: »Esse est percipi in Fassbinder’s films. Yes, but the inverse also applies: if in order to exist one has to be perceived, it is also true that in order to be perceived, one has to be an ›image‹, a recognizable representation: this, for instance, is the way the classical Hollywood cinema ›sutures‹ the field of the visible and the field of the look. However, as argued above, the look in Fassbinder is also a kind of imposture, because there is already another look in which the stare, the hostile or desiring look of the characters is enfolded, ›held‹.«23

Emmi positioniert sich also in einem ›Feld des Sichtbaren‹, um wahrgenommen zu werden und zwar in einem mehr als metaphorischen Sinne. Elsaesser erklärt hier die Bildwerdung der Figuren an der Schwelle zwischen Sozialität, Philosophie und Ästhetik, indem er die Bildkomposition dreifach ausdeutet. Zentral wird hier die Dimension des Kamerablicks, die sich mit dem des Zuschauers überblendet. In dieser wiederkehrenden Blickkonstellation wird das Leben der beiden Helden aus einer voyeuristisch-anmutenden Perspektive dargestellt und gleichsam seziert. Die einzelnen Szenen scheinen sich in dieser Hinsicht wie Tableaux im bewegten Film aneinanderzureihen. Das Tableau vivant als eine ästhetische und intermediale Kategorie,24 in der sich die Figuren kurzzeitig in einer bedeutungsvollen Weise gruppieren, ist in ANGST ESSEN SEELE AUF auf die Spitze getrieben. In der

23 T. Elsaesser: Fassbinder’s Germany, S. 68. 24 Das Tableau beschreibt als theatrale Praxis und als gesellschaftliche Unterhaltungsform seit seiner Entstehung im 18. Jahrhundert einen Moment der Stasis, eine Art Bildwerdung des Köpers für eine kurze Dauer. Zu Geschichte und Ästhetik des Tableau vivant im Medienwechsel vgl. Jooss, Birgit: Lebende Bilder. Körperliche Nachahmung von Kunstwerken in der Goethezeit, Berlin: Reimer 1999; Barck, Joanna: Hin zum Film, Zurück zu den Bildern. Tableaux Vivants: Lebende Bilder in Filmen von Antamoro, Korda, Visconti und Pasolini, Bielefeld: transcript 2008; Folie, Sabine/Glasmeier, Michael (Hg.), Tableaux Vivants. Lebende Bilder und Attitüden in Fotografie, Film und Video (= Ausstellungskatalog Tableaux Vivants 24.5.-25.8.2002), Wien: Kunsthalle 2002.

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Anordnung der Räume und Körper werden Sphären der Macht und der Andersheit als soziale Konfigurationen inszeniert. Das Schauspiel erscheint hier im Sinne Brechts episch und wird in dieser Geste produktiv fremd.25 Eine Szene des Films veranschaulicht diese Politik des Sehens eindrücklich: Nur einige Filmminuten vor Emmis Zusammenbruch an der Türschwelle verbringt das Ehepaar einen Nachmittag im Biergarten. Es ist verregnet, sie sind die einzigen Gäste, umringt von gelben Plastikstühlen, die einen ironisch-fröhlichen Kontrast zur düsteren Stimmung bilden. Während die Kamera an Emmi heranfährt, die am liebsten mit Ali allein auf der Welt wäre und die anderen als neidische »Schweine« beschimpft, formiert sich erneut eine prägnante Konstellation, ein Blickfeld der Macht. Zunächst ist das Paar in der Distanz sichtbar, gerahmt von zwei Bäumen, wobei die Perspektive erneut wie in Anführungszeichen angeschnitten ist. Man sieht wie Ali sich umdreht und die nächste Einstellung zeigt, was er sieht: eine Gruppe von Menschen, die in einem Tableau vivant verharrend das Liebespaar anstarren (Abb. 2). Es handelt sich um zwei Kellner sowie ein älteres und ein junges, modisch gekleidetes Paar, die zu einer Spitze angeordnet sind: Vorne steht der Oberkellner und jeweils zu seinen Seiten stehen asymmetrisch gruppiert die weiteren Repräsentantinnen und Repräsentanten der Gesellschaft. Der Blickpfeil als symbolisches Bild wirkt in seiner Diagonalen dynamisch und trotz der Stasis und geordneten Unbewegtheit aggressiv; er lässt das Paar in einer intimen, liebevollen Isolation hervortreten. Dann fährt die Kamera näher heran, umkreist Emmi und bleibt schließlich in der Blickperspektive Alis stehen: Sein wiederum durch die Kadrage angeschnittener Hinterkopf und seine Schulter bleiben seitlich sichtbar, Emmi ist in der Frontalen, aber wiederum aus dem Zentrum versetzt zu sehen. Sie kämpft mit den

25 Aufbauend auf einer marxistischen Gesellschaftskritik, angeregt von Erwin Piscators proletarischem Theater und beeinflusst von der Peking-Oper entwickelte Brecht in den 1930er Jahren das Epische Theater als Gegenmodell zum dramatischen oder aristotelischen, in dem durch den einfühlenden Nachvollzug der Handlung die Zuschauer geläutert werden sollten (Katharsis). Im (beispielsweise durch einen Erzähler oder Chor) episierten Theater sollte das kritische Denken der Zuschauer angeregt werden. Die Begleitung durch geschriebene und gesprochen-kommentierende Sprache nimmt den Akt der Interpretation bereits vorweg, vgl. Brecht, Bertolt: Kleines Organon für das Theater, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1961.

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Tränen, während schließlich ihr Kopf auf die Hände herabsinkt und sie so versucht, sich dem Machtfeld der Blicke zu entziehen. Abbildung 2: Tableau vivant

Quelle: ANGST ESSEN SEELE AUF (BRD 1974, R: R.W. Fassbinder), DVD, Kinowelt (2007)

Die Szene wirkt durch die Distanz der Einstellung und in der Anordnung der Beobachter zu einem Tableau vivant theatralisch und bühnenhaft – und dennoch auf gewisse Weise ›wirklich‹ im Sinne eines Nachvollzugs einer Erfahrung. Man könnte diese Art des WirklichWerdens mit dem Konzept der Grausamkeit von Antonin Artaud in Verbindung setzen.26 Insgesamt scheint es aber eine Frage des Verfahrens Fassbinders und der Form dieser Szene zu sein. In seinem Artikel über eine Politik der Form in Fassbinders Filmen bearbeitet Hermann Kappelhoff jene Frage der »physischen Verortung der individuellen Existenz im Raum des Sozialen« und weist darauf hin, dass diese Art medialer Inszenierung nicht als »Repräsentation« von abstrakten

26 Zu Momenten des Theatralen im Sinne Antonin Artauds vgl. die Argumentation von Peucker, Brigitte: Incorporating Images. Film and the Rival Arts, Princeton: UP 1995, S. 147-155 sowie Artaud, Antonin: Das Theater und sein Double, München: Matthes u. Seitz 1996. Artaud stellt in dieser Schrift das Konzept eines antimimetischen Theaters vor, das der Sprache eine starke, authentische Physikalität im Ausdruck entgegensetzen will.

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Macht-, Hierarchie- und Abhängigkeitsverhältnissen zu verstehen sei. Vielmehr sei hier ein »Modus«, der die Erfahrungsmöglichkeiten Einzelner zum Ausgangspunkt mache, inszeniert. 27 Vor diesem Horizont der Erfahrung von Gruppenzugehörigkeit, Vereinzelung und Exklusion bewegt sich die Bilderzählung Emmis und synchronisiert sie mit den Erfahrungen ihrer Zuschauerinnen und Zuschauer.

P OSIEREN . G ESEHEN - WERDEN -W OLLEN D IE S EHNSUCHT DER V ERONIKA V OSS

IN

Dieses Verfahren eines blickmächtigen Figurenarrangements, das eine einzelne Figur zum Objekt eines Andersseins, von Blicken und Gewalt macht und diese Vorgänge gleichsam in ihrer Form erfahrbar werden lässt, findet seine Wiederholung in Fassbinders spätem Melodram DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS. Der Film erzählt die Geschichte der ehemaligen UFA-Schauspielerin Veronika Voss (Rosel Zech) im München der 1950er Jahre, die von ihrer Ärztin Dr. Marianne Katz (Annemarie Düringer) und deren Assistenten ihres Geldes wegen medikamentenabhängig gemacht und nach einem jahrelang andauernden Leidensweg in einen qualvollen Tod getrieben wird. Fassbinder setzt auch hier ein Drama der Blicke und des Sich-Positionierens im sozialen Feld des Sichtbaren in Szene. Allerdings steht bei Veronika Voss – mehr als bei Emmi und Ali – das Moment des Posierens im Vordergrund. Das Posieren stellt dabei einen Schutz- und Manipulationsmechanismus dar28 und beleuchtet Prozesse des Fremdwerdens noch einmal neu und anders. Veronika Voss posiert unaufhörlich und doppelt für die Blicke: einerseits für die Augen der Figuren innerhalb der Geschichte, andererseits auch für die Kamera selbst, also für die Zuschauerinnen und Zuschauer. Damit setzt sich die Figur aus Posieren und ständigen Blickverschiebungen zusammen. Die nervöse Veronika

27 Kappelhoff, Hermann: »Utopie Film. R.W. Fassbinder und die Frage nach einer Politik der Form«, in: Armen Avanessian/Franck Hofmann/Susanne Leeb u.a. (Hg.), Form. Zwischen Ästhetik und künstlerischer Praxis, Zürich/Berlin: Diaphanes 2009, S. 259-272, hier S. 259. 28 Vgl. Owens, Craig: »Posieren«, in: Herta Wolf (Hg.), Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Bd. I und II, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 92-114.

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Voss ist in einer Traumwelt ihrer Erinnerung gefangen und hält sich, wahrscheinlich auch aufgrund der Medikamente, teils noch für die erfolgreiche UFA-Schauspielerin, die sie längst nicht mehr ist. Sie möchte auf bestimmte Weise gesehen und anerkannt werden, versucht ein Bild von sich zu inszenieren und zu manipulieren, scheitert jedoch damit. Auf diese Weise wird die verzweifelte Figur zunehmend zur Ausgegrenzten, die jede Kontrolle verloren hat.29 Die Schlussszene des Films bildet ein Amalgam aus dem heftigen körperlich-seelischen Todeskampf der Voss, eingesperrt im Krankenzimmer, und der als Parallelhandlung gezeigten, von Voss imaginierten Abschiedsfeier, in der sie im Fokus der Aufmerksamkeit steht. ›Reale‹ und imaginäre Räume verschmelzen in diesem sozialen Drama der Blicke miteinander. Der gesamte, statuarisch anmutende Film erscheint gar als eine verräumlichte Imagination der Voss – in der irritierten Fremdbeobachtung – und als ein bewegter Katalog von dunklen Affekten, eines wechselnden Posierens von Rosel Zech: Angst, Trauer, gespielte Fröhlichkeit, Verzweiflung, Abscheu und ein Wanken zwischen Narzissmus und Selbsthass manifestieren sich im mimischen und gestischen Spiel. Zech verkörpert die Rolle mit sehr viel Präsenz, betont theatralisch und übertrieben. Dieser Eindruck entsteht nicht nur durch die häufige, distanziert bühnenhafte Totale, sondern auch dadurch, dass sich Zechs Körper immer wieder auf viele Blickrichtungen hin auszurichten scheint. Dabei wird ihr Sprechen so intoniert, als müsse sie einen ganzen Zuschauerraum erreichen. Der Sprachduktus erinnert an die übertrieben deutliche bis naiv wirkende Prosodie der UFA-Filme und suggeriert eine altmodische Vornehmheit. Das Melos, die musikalische Untermalung durch Peer Raben, ist hingegen weitestgehend in den Hintergrund gedrängt.30 Diese nahezu solistisch-gestische Spielweise, die ein Psychodrama zwischen Privat und Öffentlich inszeniert, lässt

29 Bezeichnenderweise wird das Melodram auch weniger aus der Perspektive der weiblichen Hauptfigur erzählt, sondern aus der eines Beobachters, des Sportreporters Robert Krohn (Hilmar Thate). 30 Zwar finden sich leitmotivische Melodien – beispielsweise erklingt bei Krohns Recherchen eine zwischen konventioneller Krimi-Musik und dem Zitterspiel in DER DRITTE MANN (UK 1949, R: Carol Reed/Graham Greene) changierende, fast heitere Musik und in der Sterbeszene hört man ein Oster-Oratorium –, dennoch überwiegt der Eindruck der statischen Stille und bedeutsamen Schwere der Posen.

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die Blicke der Anderen als Gegenspieler auftreten, die sie aber nicht als Subjekt zeigen, sondern als Brechungen eines Anderen, Fremden, Irrationalen stigmatisieren. Zu den Affektgesten der Voss treten erneut Tableau-vivant-Figurenanordnungen ins Filmbild, welche die Figur in einem Blickfeld der Macht als minoritär kennzeichnen.

P ASSION DER B ANALITÄTEN . D IE T RÄNEN DER P ETRA VON K ANT

BITTEREN

»Ein Krankheitsfall. Gewidmet dem, der Marlene wurde«31

In DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT spielen sich schließlich (Blick-)Prozesse des Fremdwerdens im privaten Raum einer Modeschöpferin in Bremen ab. Auch dieses Film-Drama veranschaulicht zwischenmenschliche (Macht-)Beziehungen in emotionalen Zuständen. Es zeigt, »was es heißt, Macht über das Liebesbedürfnis eines anderen zu haben und inmitten wechselseitiger Abhängigkeiten zu leben«.32 Ähnlich wie ANGST ESSEN SEELE AUF changiert der Film zwischen Melos und (sozialem) Drama, jedoch in einer Minimalanordnung arrangiert. Melos ist dabei nicht im ursprünglichen Sinne einer musikalischen Untermalung zu verstehen – viele von Fassbinders Filmen verzichten weitgehend auf Musik –, sondern als eine besondere Form der »Orchestrierung von Gefühlen« 33, die einen sozialen Gestus im Sinne Bertolt Brechts erzeugt. Denn es gelingt Fassbinder, in klischierten emotionalen Mustern die Abgründe zwischenmenschlicher

31 So der Untertitel des Films. 32 T. Elsaesser: Rainer Werner Fassbinder, S. 44. 33 Den Begriff einer Orchestrierung der Empfindungen oder Gefühle entwirft Johann N. Schmidt in seiner Studie zum Melodram des 19. Jahrhunderts. Er beschreibt die emotionale Auf- und Ab-Bewegung der Partizipation der Zuschauerinnen und Zuschauer durch die rhythmische Organisation der ästhetischen Raum-Zeit-Gefüge und bestimmt dies als Melos. Schmidt, Johann N.: Die Ästhetik des Melodramas. Studien zu einem Genre des populären Theaters im England des 19. Jahrhunderts, Heidelberg: Winter 1986, S. 129.

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Beziehungen als widersprüchliches soziales Kräfteverhältnis zu zeigen. DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT entstand zunächst als Theaterstück, wurde 1971 als Produktion des Landestheater Darmstadt bei der »Experimenta 4« in Frankfurt am Main uraufgeführt und gehört heute mit über 100 Inszenierungen zu Fassbinders meistgespielten Stücken. Dieser Erfolg ist in erster Linie seinem gleichnamigen Film zu verdanken, der im selben Jahr bei den Berliner Filmfestspielen Premiere hatte. Der Film macht keinen Hehl aus seiner Herkunft aus dem Theater: Er ist in einem einzigen Set gedreht und besteht aus fünf, durch zeitliche Sprünge charakterisierten Akten. Die Figuren treten häufig frontal wie bei einem Bühnenauftritt ins Bild und das Privatgemach der Petra von Kant, wo sich die Handlung, die unglückliche Liebe der Protagonistin Petra (Margit Carstensen) zu der jungen Karin Thimm (Hanna Schygulla) abspielt, gleicht eher einer Opernbühne denn einem Appartement: Ein großes, mit jugendstilartigen Ornamenten ausgestattetes Bett bildet das optische Zentrum des Raums, das die Kamera aus vielen Blickwinkeln aufzeichnet. Von hier aus lenkt die Heldin ihre Geschicke, erteilt der (scheinbar) stummen Dienerin Marlene ihre Befehle und erprobt ihre Macht und Ohnmacht in Sachen Geld, Arbeit und Liebe. Umgeben von piktoral angeordneten Gegenständen, wie zum Beispiel Puppen, Blumen, Spiegel, Aschenbecher, einer Staffelei mit Modeentwürfen, einem Plattenspieler, Lampen aus allen Jahrzehnten, einem weißen Fellteppich und einem Getränkeschrank, wird das Bett von einem ausladenden Kulissenbild in Form einer Wandtapete konterkariert. Es handelt sich um das Gemälde Midas und Bacchus (1625) des Barockmalers Nicholas Poussin, dessen Werk für seine ausgeprägte Theatralität bekannt ist. Die häufig mythologischen Szenen in seinen Bildern sind meistens nach aristotelischen Gesetzen des barockisierten griechischen Dramas komponiert und gekennzeichnet durch das ikonographische Muster eines Bildaufbaus, der sich an der antiken skene orientiert.34 Die augenfälligen Anleihen an das Theater machen aus dem Film jedoch keinen Theaterfilm oder eine abgefilmte Theateraufführung.

34 Das lässt sich sogar in populärwissenschaftlichen Werken nachlesen, wie z.B. bei Mullins, Edwin (Hg.), 100 Meisterwerke der Welt, Stuttgart/Hamburg/München: Lizenzverlag des deutschen Bücherbundes 1984, S. 42-49.

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Vielmehr wird die Theatralität als Verfahren der medialen Beobachtung inszeniert, das einer kritischen Reflexion des Films als Medium sowie der Strukturelemente des Melodramas zuarbeitet. Die Zuschauerinnen und Zuschauer werden mit medialen Transformationen, manchmal auch harten Wechseln von Blick- und Kamera-Perspektiven konfrontiert,35 in denen sich Körper und Räume zu temporären Bildern und umgekehrt Bilder zu Körpern und Räumen transformieren oder sich gegenseitig kommentieren. So werden z.B. die nackten, mit ausladenden Gesten posierenden Figuren des Gemäldes immer wieder von der Kamera (Michael Ballhaus) aus wechselnden Distanzen eingefangen oder auch fragmentarisiert, um als metaphorische Kommentare des emotionalen Beziehungsdramas zu dienen, das sich vor ihnen abspielt, oder aber um in einen bildhaften Dialog mit den Filmfiguren zu treten, der die techne ihrer artifiziellen Fixierung im Filmbild betont. Die Theatralität und Opazität der räumlichen Umgebung findet ihren Widerhall in den divenhaft wallenden, mit Schleppen, Schleiern, Pailletten, Pelzen und Rüschen besetzten, wechselnden Kleidern, die von Petra von Kant, ihrer Mutter Valerie wie auch ihrer Freundin Sidonie von Grasenapp getragen werden. Sie verweisen nicht zuletzt auch auf das orientalistische Bildprogramm des späten 19. Jahrhunderts, das in zahlreichen Melodramen wie Kleopatra, Adrienne Lecouvrier, Théodora, Fédora, Salome oder Die Kameliendame von Autoren wie Eugène Scribe, Alexandre Dumas und Victorien Sardou bis hin zu den exotisierenden Selbstinszenierungspraktiken einer Sarah Bernhardt immer wieder neu aufgelegt wurde. 36 Die exaltierte visuelle Üp-

35 Diese Reflexion ist zunächst als Rätsel formuliert – ein Rätsel, das sich aus zwei geringfügigen Abwandlungen des Theaterstücks ergibt. Es betrifft die schwarz gekleidete Antagonistin der Petra von Kant, die Figur der Marlene, stumme Dienerin ihrer Herrin und intime Beobachterin des Geschehens. Ihr ist nämlich, wie der Titel zeigt, nicht nur der Film gewidmet. Am Ende des Films verlässt sie darüber hinaus die geläuterte Petra von Kant, während sie im Theaterstück vor Petra auf die Knie geht und ihr die Hand küssen will, vgl. Fassbinder, Rainer Werner: Die bitteren Tränen der Petra von Kant. Tropfen auf heiße Steine, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 1999, S. 9-60, hier S. 60. 36 Röttger, Kati: »Performative Bildpraxis und melodramatische Technik. Zur Orientalisierung des Bild/Körpers Sarah Bernhardt. Eine Ikone der visuellen Kultur im ausgehenden 19. Jahrhundert«, in: Hans-Peter Bayerdör-

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pigkeit der Ausstattung steht auf den ersten Blick in einem auffälligen Kontrast zum Pathos der Mittelmäßigkeit, das sich zwischen den Menschen in diesem Film abspielt. Gleichzeitig wird auf diese Weise eine kritische Variation des Liebesthemas inszeniert, das den amerikanischen Hollywoodfilm bestimmt. Als Hinweis darauf mag nicht zuletzt die Tatsache gelten, dass Fassbinder in einer Replik der Petra von Kant seine Bewunderung für die Filme Douglas Sirks beinahe wortwörtlich anklingen lässt: »Ich glaub, der Mensch ist so gemacht, dass er den anderen Menschen braucht, doch hat er nicht gelernt, wie man zusammen ist.«37 Diese Grundformel der unmöglichen Liebe variiert Fassbinder immer wieder in unkonformistischen Beziehungen, die das gesellschaftliche Anderswerden provozieren und gleichzeitig anklagen: sei es die bereits analysierte doppelt tabuisierte Beziehung zwischen einer älteren Frau und einem nicht nur jüngeren, sondern (in zusätzlich ›unmöglicher‹ Weise) in der kleinbürgerlichen Welt der 1970er Jahre Deutschlands auch ethnisch stigmatisierten (marokkanischen) Mann in ANGST ESSEN SEELE AUF oder eben die lesbische Liebe zwischen der reichen Modeschöpferin und dem dahergelaufenen, mittellosen Mädchen aus Australien in DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT. Diese Fokussierung auf Frauen, die in ihren Beziehungen auf mutige Weise gesellschaftliche Schranken übertreten und dabei riskieren, von ihrer Familie – in beiden Fällen findet sich das Unverständnis der Kinder, die geradezu traumatisiert werden – und/oder der Gesellschaft ausgegrenzt zu werden, orientiert sich ebenfalls an Motiven aus den Melodramen Sirks, die bei Fassbinder weit drastischer in die Inszenierung des sozialen Gestus – im Brecht’schen Sinne eines »Sowohl-alsauch« scheinbar (ideologisch) unvereinbarer Gegensätze – überführt werden. Dabei sind es die melodramatischen Heldinnen, die erdulden und gleichzeitig aufbegehren: »Bei Douglas Sirk, da denken die Frauen. Das ist mir bei keinem anderen Regisseur aufgefallen. [...] Sonst reagieren die Frauen immer. […] Es ist schön, eine Frau denken zu

fer/Bettina Dietz/Frank Heidemann u.a. (Hg.), Bilder des Fremden. Mediale Inszenierung von Alterität im 19. Jahrhundert (= Kulturgeschichtliche Perspektiven, Band 5), Berlin: LIT 2007, S. 379-398. 37 R.W.Fassbinder: Die bitteren Tränen der Petra von Kant, S. 19. Vgl. dazu R.W. Fassbinder über das Thema der Filme von Douglas Sirk: »Allein kann er nicht sein, der Mensch, und zusammen auch nicht«; Fassbinder: Imitations of Life, S. 13.

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sehen. Das gibt Hoffnung. Ehrlich.«38 Und Petra von Kant denkt: Im fünften Akt, nach 115 Filmminuten der BITTEREN TRÄNEN, kommt sie zur Einsicht: »Man muß lernen zu lieben, ohne zu fordern. [...] Ich habe sie gar nicht geliebt. Ich habe sie nur besitzen wollen. Ich habe gelernt, Mutter, und es hat sehr weh getan.«39 Mit anderen Worten: Auch wenn Fassbinder in seinen Filmen immer wieder Perspektiven von Außenseitern oder Minderheiten thematisiert, bleiben seine Figuren nicht in der Rolle der Opfer, sondern zeigen sich in komplexer Gleichzeitigkeit von Geben und Nehmen, Schuld und Vergebung, Konformität und Auflehnung, Macht und Unterdrückung, ja selbst Schönheit und Hässlichkeit. Wie nun kommt diese Gleichzeitigkeit, das Sowohlals-auch im sozialen Gestus des Andersseins und Anderswerdens, mit den ästhetischen Strategien des Melodramas zusammen? Ein Blick auf den Beginn der ersten Einstellung der BITTEREN TRÄNEN vermag Aufschluss zu geben: Dämmerung. Die Kamera fährt auf das Bett, auf eine kaum erkennbare schlafende Gestalt. Marlene (Irm Hermann) zieht geräuschvoll die Jalousien hoch, grelles Sonnenlicht fällt auf das Gesicht der Schlafenden und weckt sie auf. Ihr erstes Wort lautet: »Marlene«. Aus »schweren Träumen erwachend« richtet sie sich langsam auf, wie vom Licht aus der Welt der Träume in die Welt des Films geholt, in dem sich nun ihr Leben abspielen wird. Sie ist ungeschminkt, wirkt wächsern, mit Schweiß im Gesicht. Ihr Nachthemd betont ihre dünnen Schultern und Arme, kein Klischee-Bild weiblicher Schönheit. Sofort verlangt sie von Marlene das Telefon, den dünnen Draht zur Welt außerhalb ihrer Privatsphäre, die sie in diesem Film nie verlässt. Petra von Kant verharrt im Bett, während sie in gekünsteltem, gedehntem Tonfall, in einer ›unnatürlich‹ wirkenden, melodiös anmutenden Sprechweise (die durchgehalten wird) folgende Sätze an ihre Mutter richtet: »Mama! Ich hab’s nicht mehr geschafft gestern, Mama, die Arbeit, tja, du kennst das ja. Nein, ich bin schon lange auf, wirklich. Man hat ja keine Ruhe. Und das ist denn auch wieder gut, nicht? Wohin fährst du? Nach Miami? Oh, das freut mich für dich, Mutter, Miami ist ganz reizend. Wirklich, ganz reizend. Und die Menschen. Fabelhafter Umgang. Einfach fabelhaft. Sechs Monate? Oh Mama, das macht mich sprachlos. [...] Wieviel brauchst du denn? Acht-

38 Ebd., S. 14. 39 R.W.Fassbinder: Die bitteren Tränen der Petra von Kant, S. 59.

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tausend? Das ist viel Geld. Warte mal. [...] Also, ich kann dir fünftausend leihen, mehr ist im Moment nicht drin [...].«40

Geld, Lüge, gespielte Freude, Jet-Set-Leben, eine oberflächlich erscheinende Mutter-Tochter-Beziehung – mit diesen banalen Themen könnte die Replik auch aus dem Dialog einer Seifenoper sein. Die exaltierte Banalität des Alltags, die nahezu Bedeutungslosigkeit, die ›den Ton angibt‹, wird zusätzlich hypertrophiert durch das Pathos der Darstellung. Dieses vollzieht sich in einer medialen Transformation, von Bild-Körper in Körper-Bild. Sie wird ausgelöst durch die sukzessive Aneignung oder Indienstnahme verschiedener technischer Medien, die jeweils von Marlene gereicht oder bedient werden (Abb. 3). Nach dem Telefon werden Zeichenstift, Schreibmaschine, Brief und schließlich, diesmal von der Heldin selbst, der Plattenspieler betätigt. So strukturiert sich das offensichtlich zwischen Theater, Oper, Film und Tableau vivant oszillierende Setting bereits in den ersten sechs Minuten des Filmdramas über verschiedene Stationen von Kommunikationsmedien. Gleichzeitig erholt sich die am Beginn wie eine Tote (und erinnernd an die bleichen Schaufensterpuppen der Dekoration) im Bett liegende Protagonistin zusehends, nachdem sie den von Marlene gebrachten Orangensaft getrunken hat. Die darauf folgende allmähliche Verwandlung in die Filmfigur vollzieht sich durch Maskeraden mit einer Perücke und dem drapierten Morgenrock, um sich dem opulenten Klischee-Bild der Modeschöpferin und der ›schönen Frau‹ anzunähern. Dieses Bild erstarrt in einem ersten Höhepunkt genau in dem Moment, in dem sie – nach den besagten sechs Minuten – die Apparatur des Plattenspielers bedient und Musik erklingen lässt: Smoke gets in your eyes von The Platters (1958). In diesem prägnanten Augenblick werden verschiedene historische Reminiszenzen an das Melodrama zusammengeführt, da dieser Song nicht nur auf das US-amerikanische Melodrama verweist. Er erklang zum ersten Mal im Kino – nach ersten Erfolgen im berühmten Broadway-Musical Roberta (1933) – in dem gleichnamigen Hollywoodfilm mit Fred Astaire und Ginger Rogers in der Hauptrolle.41 Zusätzlich nimmt Margit Carstensen, nachdem sie sich divengleich in ihren wallenden Morgenrock gehüllt hat, an den Balken gelehnt die kontrapo-

40 R.W. Fassbinder: Die bitteren Tränen der Petra von Kant, S. 9. 41 ROBERTA (USA 1935, R: William A. Seiter).

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stierte Pose des Affekts ein, die sich seit dem 18. Jahrhundert als Geste emotionellen Ausdrucks im Repertoire des Melodramas erhalten hat: die Haltung der schön-geschwungenen Silhouette (Abb. 4).42 Erst als Marlene von ihrem kurzen Botengang zurückkehrt, löst sich die Pose, das Bild zerfließt und geht über in einen kurzen, langsamen Tanz mit Marlene zur erklingenden Musik –als fände hier eine flüchtige Verschmelzung zwischen der stummen, beobachtenden Botin (Marlene) und der beobachteten Befehlshaberin (Petra) statt. Abbildung 3: Margit Carstensen und Irm Hermann

Quelle: DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT (BRD 1972, R: R.W. Fassbinder), DVD, Kinowelt (2007)

42 Vgl. Butte, Maren: Das Absterben der Pose. Die Subversion des Melodramas in Cindy Shermans Fotoarbeiten, Marburg: Tectum 2006.

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Abbildung 4: Margit Carstensen

Quelle: DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT (BRD 1972, R: R.W. Fassbinder), DVD, Kinowelt (2007)

Jetzt kann das Film-Liebes-Drama beginnen: als melodramatische Komposition kontrastierender Gestaltungen von Gefühlsmomenten des Verlangens, Sehnens, Verlassen-Werdens und Verlassen-Seins. Wie bereits im ersten Melodrama der deutschen Theatergeschichte, Ariadne auf Naxos (1775),43 das vom Verlassenwerden der Ariadne durch Theseus handelt, bestimmt die szenische Abfolge von körperlichen Ausdrucksformen des Leids und der Klage einen großen Teil des Handlungsgeschehens. Petra, die Karin über ihre Freundin Sidonie kennengelernt hat und an sich zu binden versucht, indem sie ihr Arbeit als Modell verschafft, muss bereits nach kurzer Zeit erkennen, dass sie für Karin nichts weiter als ein Zeitvertreib ist. Das zeigt sich unwiderlegbar in dem Moment, als Karins Mann, der aus Australien nach Europa gekommen ist, aus Zürich anruft und Karin ohne zu zögern zu ihm

43 Libretto: Christian Brandes, Musik: Anton Benda, Aufführung durch die Seyler’sche Schauspielergesellschaft. Der Gothaer Theaterkalender beschreibt die Uraufführung der Ariadne auf Naxos als die Bereicherung der deutschen Bühne mit einer »neuen Gattung des Schauspiels«. Vgl. Gothaer Theaterkalender aus dem Jahr 1776, S. 103ff. Siehe hierzu auch: Schimpf, Wolfgang: Lyrisches Drama. Das Melodrama des 18. Jahrhunderts, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1988, S. 26f.

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fährt. Die anschließende Trauer zeigt sich im Film in einer gestischen, wechselnden Repräsentation von Gefühlsszenarien, die von Verzweiflung, Wut, Raserei bis Todessehnsucht reichen. Ein typisch melodramatisches Repertoire, welches sich im pathetischen Körperspiel von Fallen, Zittern, Wimmern in deklamatorischen Gesten zwischen Bewegung und Stillstand vollzieht.44 Allerdings wird in Fassbinders Film dieses Repertoire wiederum nicht durch Musik unterstützt, sondern durch das Telefon, dessen Klingeln Petras Leidensmomente jeweils hoffnungsvoll durchbricht und dann – enttäuscht über die falsche Stimme am anderen Ende – wieder neu antreibt und steigert. Zusätzlich wird es gerahmt durch die Anwesenheit der Tochter Gabriele (Eva Mattes), der Freundin und der Mutter (schließlich hat Petra Geburtstag). Diese Rahmung ergänzt das private Drama um ein familiäres, denn die Tochter ist es, die aufgrund des Zustands der Mutter einen Schock erleidet. Das Pathos der privaten Krise wird somit in ein Pathos der sozialen Krise überführt, die wiederum in der Wahl der filmischen Mittel Melos und sozialen Gestus verbindet und damit vorgegebene Kategorien sozialer Identität in Frage stellt: In der Familie, die wir hier sehen, fehlt der Vater, der bürgerliche Patriarch; stattdessen sehen wir hier eine Familie, in der die väterliche Position ›frei flottiert‹. Die Verschränkung zwischen Pathos als affektivem und sozialem Gestus ist eine Grundgeste des Films, die auf Schillers Pathosbegriff zurückzuführen ist, nach dem nur der Widerstand gegen das Leiden pathetisch und der Darstellung würdig ist: »Eine Darstellung der bloßen Passion (sowohl der wollüstigen als der peinlichen) ohne Darstellung der übersinnlichen Widerstehungskraft heißt gemein, das Gegenteil heißt edel. Gemein und edel sind Begriffe, die überall, wo sie gebraucht werden, eine Beziehung auf den Anteil oder Nichtanteil der übersinnlichen Natur des Menschen an einer Handlung oder an einem Werke bezeichnen.«45

44 Vgl. M. Butte: Das Absterben der Pose, S. 45ff. 45 Schiller, Friedrich: »Über das Pathetische«, in: Ders.: Erzählungen/Theoretische Schriften. Sämtliche Werke, Bd.5, hg.v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München: Carl Hanser 1959, S. 512-537, hier S. 517.

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Damit überschreitet Fassbinder einmal mehr die sich bis in den Hollywood-Film fortsetzende Entwicklung rein phrasenhaft-deklamatorischer Elemente des affektiven Pathos, wie sie für das Melodrama seit dem 18. Jahrhundert bestimmend waren. Die Grenzen zwischen privatem Innenraum und sozialem Außenraum werden durchlässig. Diese Grenzverwischung erfolgt durch eine filmische Strategie stationärer Bilder. Dieser Begriff ist hier doppeldeutig gemeint, nämlich zum einen metaphorisch in Anlehnung an die stationäre Aufnahme im ›Krankheitsfall‹ (mit Blick auf den Titel des Films), um Pathologien ruhig zu stellen. Zum anderen bezeichnet er die dramaturgische Verfahrensweise des Films, die eine spezifische Orchestrierung der Passion darstellt. Es ist bekannt, dass sich das mittelalterliche Passionsspiel durch Stationen mit lebenden Bildern auszeichnet, die auf verschiedenen Bühnen simultan dargestellt werden. Diese Dramaturgie reicht bis in das expressionistische Stationendrama hinein, das statt einer dramatischen Entwicklung einzelner Charaktere oder der eines Konflikts im zeitlichen Nacheinander die Subjektwelt in eine Objektwelt überführt: durch die Demonstrationen von Zuständen, die im Raum nebeneinander stehen. In Umkehrung des kinematographischen Bewegungsbildes (Gilles Deleuze)46 finden wir bei Fassbinder in der Tat häufig still gestellte Bilder, die teilweise so gefilmt sind, als ob sich die Figuren vor der Kamera aufgestellt hätten. Damit wird der Standpunkt eines ›anderen Blicks‹ ermöglicht.47 Selbstentfremdung, so Elsaesser, kann zur Selbstentäußerung werden.48 Nicht nur die Kamera blickt, sondern auch die Protagonisten schauen uns tatsächlich an. Der dem Opfer im Feld des Sichtbaren zuteil werdende Effekt des Mitleids wird auf diese Weise durch Fassbinder hintertrieben. Das geschieht zusätzlich durch eine weitere Konzentration des Blicks auf die kinetisch-mechanischen Aspekte menschlichen Handelns (movere als innere veräußerlichte Bewegung), die den Eindruck des Artifiziellen erzeugen. Nicht nur die besondere Rolle, die den technischen Medien zugeteilt wird, trägt dazu bei, sondern auch eine wiederholte Blickspiegelung, die an den Objek-

46 Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. 47 Anders als die Blickökonomie im Film, die zum Beispiel Laura Mulvey in ihrem Artikel beschreibt: Mulvey, Laura: »Visual Pleasure and Narrative Cinema«, in: Screen 3, Autumn (1975), S. 6-18. 48 Fassbinder zitiert nach T. Elsaesser: Rainer Werner Fassbinder, S. 105.

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ten stattfindet. Die Künstlichkeit der Bewegungen und Regungen der Darstellerinnen finden vielfach ihren Widerhall in den sie umgebenden Objekten, wie zum Beispiel den Modepuppen, die den Zuschauerblick mit ihren tränenlosen Augen auf das Leid der Petra von Kant lenken. Das Verhalten der Menschen ist so abgestimmt auf die Objekte und Räume, dass es im Blick der Objekte immer wieder zum stationären Bild gerinnt, ebenso wie die Bewegung der Filmbilder unterbrochen wird, wenn das Kameraauge wieder einmal im Raum verweilt. Statische Momente und fließende Bewegung sind also auf besondere Weise komponiert und in der Verschaltung von Körpern, Objekten und Medien verdichtet. Diese Konstellation manifestiert sich besonders drastisch in der Figur der Marlene. Sie und die Kamera machen sich gewissermaßen den Blick streitig und »produzieren einen Exzess des filmischen Sehens«49. Selbst die intimste Regung von Petra wird von Marlene beobachtet, der Zuschauer sieht Petra vermittelt durch Marlenes unerbittlichen Blick. Diese Situation wird noch verschärft durch Marlenes Devotion und Schweigsamkeit. Es macht den Anschein, als sei sie Petra hörig – gleichzeitig bietet sie sich uns als Sympathieträgerin an, als stumme Repräsentantin des Gefühls und des Menschlichen.50 Darüber hinaus verkörpert Marlene aber auch das Medium des Filmes selbst: Sie erweckt (mit Licht), nährt, dient ihrer Figur und fängt deren Drama mit ihren Blicken ein. Sie ist die mediale Bedingung ihrer Existenz. Konsequenterweise verlässt sie Petra, sobald das Drama und der Film beendet sind. Aus dieser Perspektive erhält die Widmung im Filmtitel, »Gewidmet dem, der Marlene wurde«, einen ganz anderen Sinn: sie gälte so gesehen dem Film selbst. 51

49 Ebd., S. 138. 50 Man denke hier an die vielen stummen und blinden Figuren in historischen Melodramen, die Denis Diderots Brief über die Taubstummen (1751) entsprechend zu natürlich-gutherzigen Opfern stilisiert werden. Vgl. M. Butte: Melodramatische Figuren. 51 Viele Interpretationen besagen in einer biographischen Ausdeutung u.a., dass Peer Raben, der damalige Partner von Fassbinder, damit gemeint gewesen sei.

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S CHLUSS Die Gegenüberstellung der ausgewählten Filme vor dem Hintergrund der Ästhetik des Melodramas zeigt, wie Prozesse des Fremdwerdens in einer Dramaturgie der Räume, Körper und Blicke inszeniert werden. In ihr werden nicht nur Machtverhältnisse (de-)reguliert, sondern auch Bilder von anderen mit Blicken von anderen konterkariert, um Prozesse von Ausgrenzung und Eingrenzung sichtbar zu machen. Damit gelingt Fassbinder eine Reformulierung des Melodramas als Drama der Beunruhigung. Fassbinder nutzt die Fähigkeit des Genres, Muster von Beherrschung und Unterdrückung in Verbindung mit Moral, Liebe und Leidenschaft zum Ausdruck zu bringen, um individuelle Zustände von Sehnsucht nach Zugehörigkeit, von Entfremdung, Einsamkeit, Misslingen und emotionaler Ausbeutung zu zeigen. An dieser Inszenierung von sozialen Mustern gesellschaftlicher Krisen in prägnanten Bildern zeigt sich insbesondere immer wieder eine Anlehnung an Douglas Sirk, der in Fassbinders Augen »keine Filme über Menschen, sondern mit Menschen«52 mache: Auf diese Weise entwirft Fassbinder Beziehungsmuster und Psychogramme, die sich durch die Inszenierung selbst, in der techne (d.h. durch die Sprache der Körper und der Kamera) manifestieren und erfahrbar werden. So wird das Melodram in Fassbinders Blick zu einer besonderen Form des Melos und des sozialen Dramas, in dem sich ein (im Sinne von »esse est percipi«) philosophischer, ein sozialer und ein ästhetischer Filmraum überschneiden.53

L ITERATUR Allmer, Tillman: Zur Funktion des Melodramatischen in Fassbinders Film LOLA, München: Grin 2008. Artaud, Antonin: Das Theater und sein Double, München: Matthes u. Seitz 1996.

52 Fassbinder: Imitations of Life, S. 11. 53 Vgl. Paech, Joachim: »Rodin, Rilke und der kinematographische Raum«, in: Ders., Der Bewegung einer Linie folgen... Schriften zum Film, Berlin: Vorwerk 8 (2002), S. 24-41.

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Barck, Joanna: Hin zum Film, Zurück zu den Bildern. Tableaux Vivants: Lebende Bilder in Filmen von Antamoro, Korda, Visconti und Pasolini, Bielefeld: transcript 2008. Brandt, Stephan: Film as Symbolic Action. Douglas Sirks IMITATION OF LIFE (1959) als Paradigma kultureller Selbstverständigung im Amerika der 1950er Jahre, Berlin: FUP 1999. Brecht, Bertolt: Kleines Organon für das Theater, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1961. Butte, Maren: Das Absterben der Pose. Die Subversion des Melodramas in Cindy Shermans Fotoarbeiten, Marburg: Tectum 2006. Chappuzeau, Bernhard: Transgressionen und Trauma bei Pedro Almodóvar und R.W. Fassbinder. Gender – Memoria – Visum, Tübingen: Narr 2005. Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. Elsaesser, Thomas: »Philosophie und Minorität«, in: Joseph Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 205-207. Ders.: »Tales of Sound and Fury. Observations on the Family Melodrama«, in: Christine Gledhill (Hg.), Home is where the Heart is. Studies in Melodrama and the Woman’s Film, London: Brit. Film Institute 1987, S. 43-69. Ders.: Fassbinder’s Germany. History, Identity, Subject, Amsterdam: UP 1996. Ders.: Rainer Werner Fassbinder, Berlin: Bertz und Fischer 2000. Fassbinder, Rainer Werner: »Imitations of Life. Über die Filme von Douglas Sirk«, in: Michael Töteberg (Hg.), R.W. Fassbinder. Filme befreien den Kopf. Essays und Arbeitsnotizen, Frankfurt a.M.: Fischer 1992, S. 11-24, S. 11. Ders.: Die bitteren Tränen der Petra von Kant. In: Ders.: Die bitteren Tränen der Petra von Kant. Tropfen auf heiße Steine, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 1999, S. 9-60. Folie, Sabine/Glasmeier, Michael (Hg.), Tableaux Vivants. Lebende Bilder und Attitüden in Fotografie, Film und Video (= Ausstellungskatalog Tableaux Vivants 24.5.-25.8.2002), Wien: Kunsthalle 2002. Freybourg, Anne Marie: Bilder lesen. Visionen von Liebe und Politik bei Godard und Fassbinder, Wien: Passagen 1996.

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Gledhill, Christine: Home is where the heart is. Studies in Melodrama and the Woman’s Film, London: Brit. Film Institute 1987. Dies.: »The Melodramatic Field. An Investigation«, in: Dies., Home is where the heart is. Studies in Melodrama and the Woman’s Film, London: Brit. Film Institute 1987, S. 5-39. Heeg, Günther: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M.: Stroemfeld 2000. Hughes, John/McCormick, Ruth: »Rainer Werner Fassbinder and the Death of Family Life«, in: Thousand Eyes Magazine April (1977), S. 4-5. Jooss, Birgit: Lebende Bilder. Körperliche Nachahmung von Kunstwerken in der Goethezeit, Berlin: Reimer 1999. Kappelhoff, Hermann: Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit, Berlin: Vorwerk 2004. Ders.: »Utopie Film. R.W. Fassbinder und die Frage nach einer Politik der Form«, in: Armen Avanessian/Franck Hofmann/Susanne Leeb u.a. (Hg.), Form. Zwischen Ästhetik und künstlerischer Praxis, Zürich/Berlin: Diaphanes 2009, S. 259-272. Kellner, Douglas: »Fassbinder, Women, and Melodrama. Critical Interrogations«, in: Ingeborg Majer O’Sickey/Ingeborg von Zadow (Hg.), Triangulated Visions. Women in Recent German Cinema, Albany: Plymbridge 1998, S. 29-42. Läufer, Elisabeth: Skeptiker des Lichts. Douglas Sirk und seine Filme, Frankfurt a.M.: Fischer 1987. Mullins, Edwin (Hg.), 100 Meisterwerke der Welt, Stuttgart/Hamburg/München: Lizenzverl. des deutschen Bücherbundes 1984. Mulvey, Laura: »Visual Pleasure and Narrative Cinema«, in: Screen 3 Autumn (1975), S. 6-18. Owens, Craig: »Posieren«, in: Herta Wolf (Hg.), Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Bd. I und II, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 92-114. Paech, Joachim: »Rodin, Rilke und der kinematographische Raum«, in: Ders., Der Bewegung einer Linie folgen... Schriften zum Film, Berlin: Vorwerk 8 (2002), S. 24-41. Peucker, Brigitte: Incorporating Images. Film and the Rival Arts, Princeton: UP 1995. Röttger, Kati: »Performative Bildpraxis und melodramatische Technik. Zur Orientalisierung des Bild/Körpers Sarah Bernhardt. Eine Ikone

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der visuellen Kultur im ausgehenden 19. Jahrhundert«, in: HansPeter Bayerdörfer/Bettina Dietz/Frank Heidemann u.a. (Hg.), Bilder des Fremden. Mediale Inszenierung von Alterität im 19. Jahrhundert (= Kulturgeschichtliche Perspektiven, Band 5), Berlin: LIT 2007, S. 379-398. Schimpf, Wolfgang: Lyrisches Drama. Das Melodrama des 18. Jahrhunderts, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1988. Schmidt, Johann N.: Die Ästhetik des Melodramas. Studien zu einem Genre des populären Theaters im England des 19. Jahrhunderts, Heidelberg: Winter 1986. Schiller, Friedrich: »Über das Pathetische«, in: Ders.: Erzählungen/Theoretische Schriften. Sämtliche Werke, Bd. 5, hg.v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München: Carl Hanser 1959, S. 512-537 Waldenfels, Bernhard: Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. Wojtko, Nikolai: »Nach-Ahmungen oder: Wieviel Text steckt in einem Film? Zu ALL THAT HEAVEN ALLOWS von Douglas Sirk und HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN von Rainer Werner Fassbinder«, in: Margrit Frölich/Klaus Gronenborn/Karsten Visarius (Hg.), Das Gefühl der Gefühle. Zum Kinomelodram, Marburg: Schüren 2008, S. 142-153.

F ILME ALL THAT HEAVEN ALLOWS (USA 1955, R: Douglas Sirk) ANGST ESSEN SEELE AUF (BRD 1974, R: Rainer Werner Fassbinder) DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT (BRD 1972 R: Rainer Werner Fassbinder) DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS (BRD 1981, R: Rainer Werner Fassbinder) IMITATION OF LIFE (USA 1959, R: Douglas Sirk) MAGNIFICENT OBSESSION (USA 1951, R: Douglas Sirk) THE THIRD MAN (UK 1949, R: Carol Reed/Graham Greene) ROBERTA (USA 1935, R: William A. Seiter) WRITTEN ON THE WIND (USA 1956, R: Douglas Sirk)

Über den zweifelhaften Fortschritt in Sachen Liebe Sexualität und strukturelle Gewalt in Fassbinders FONTANE EFFI BRIEST und MARTHA

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»Die meisten Männer können nur nicht so perfekt unterdrücken, wie die Frauen es gerne hätten.« Mit dieser provokanten Bemerkung anlässlich der Ausstrahlung seines Filmes MARTHA (BRD 1973) gibt Rainer Werner Fassbinder einen entscheidenden Hinweis auf eines der zentralen Themen seines Werkes: das Schlachtfeld der Ehe und/oder Liebe, laut Fassbinder »das beste, hinterhältigste und wirksamste Instrument gesellschaftlicher Unterdrückung.«1 Wir befinden uns am Anfang der 1970er Jahre, das Klima ist geprägt von den Themen der 68er-Protestbewegung. Im Kontext der studentischen Rebellion gegen die gesellschaftlichen Konventionen steht auch die grundsätzliche Hinterfragung der Sexualität sowie der Geschlechterrollen auf der Tagesordnung. Dabei träumen die einen von Love, Peace und Happiness in herrschaftsfreien Räumen und versuchen mittels einer provokant inszenierten Freizügigkeit die alten, kul-

1

Fassbinder, Rainer Werner: »Imitation of Life. Über Douglas Sirk«, in: Michael Töteberg (Hg.), R.W. Fassbinder. Filme befreien den Kopf, Essays und Arbeitsnotizen, Frankfurt a.M.: Fischer 1984, S. 11-24, hier S. 18.

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turell gesetzten Grenzen der Intimsphäre zu sprengen.2 Den anderen geht es hingegen um das Aufzeigen neuer Grenzen: So impliziert der Ruf der Frauenbewegung nach dem Recht auf körperliche Selbstbestimmung auch den Schutz vor sexuellen Übergriffen innerhalb der Privatsphäre – Ehe und Familie geraten als legalisierte Formen der Unterdrückung in den Focus. Noch stehen diese neuen feministischen Aufbrüche jedoch an ihren Anfängen. Zwar sorgt Kate Millet 1970 in den USA mit ihrem Buch Sexual Politics3 für Furore, Frauenzeitschriften und Frauenverlage werden gegründet und an den Universitäten gibt es erste Seminare, die sich mit Frauenfragen auseinandersetzen, aber die wirkliche Institutionalisierung und Ausdifferenzierung des Feldes der heutigen Gender Studies wird erst Anfang der 1980er Jahre beginnen.4 Susan Brownmillers Against Our Will5 von 1975, in dem die Autorin mit dem so genannten »Vergewaltigungsmythos« aufräumt, ist noch nicht erschienen, ebenso wenig wie Klaus Theweleits viel beachtete Männerphantasien6 (aus dem Jahr 1977) – oder, und darauf wird noch zurück zu kommen sein, Michel Foucaults Histoire de la sexualité7 von 1976.

2

Vgl. hierzu auch Foucault, Michel: »Sexualité et pouvoir. Conférence à l’Université de Tokio, 20. April 1978«, in: Ders., Dits et Ecrits 1954-1988, Bd. 3, 1976-1979, hg. von Daniel Defert/François Ewald, Paris: Gallimard 1994, S. 137-158.

3

Millett, Kate: Sexual Politics, New York: Doubleday 1970; deutsche Fassung: Dies.: Sexus und Herrschaft. Die Tyrannei des Mannes in unserer Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1985.

4

Vgl. Stephan, Inge: »Literaturwissenschaft«, in: Christina von Braun/Inge Stephan (Hg.), Gender-Studien. Eine Einführung, Stuttgart: J. B. Metzler 2000, S. 284-293, hier S. 286.

5

Brownmiller, Susan: Against Our Will. Men, Women and Rape, New York: Simon & Schuster 1975; deutsche Fassung: Dies.: Gegen unseren Willen. Vergewaltigung und Männerherrschaft, Frankfurt a.M.: Fischer 1978.

6

Theweleit, Klaus: Männerphantasien. 2 Bde., Frankfurt a.M.: Roter Stern 1977. Wie der Zeithistoriker Sven Reichardt rückblickend vermerkt, müsste aus heutiger Perspektive »ein zweiter ›Theweleit‹ als eine praxeologische Beziehungsgeschichte beider Geschlechter geschrieben werden, wobei anhand einer kultur- und sozialgeschichtlichen Achse eine differenzierte Skala zwischen gewaltsamer Zu- und Mitarbeit, Gleichgültigkeit, Resi-

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E NTGRENZUNG

UND

K ONTROLLE

DES I NTIMEN

Im Spannungsfeld der beiden gegenläufigen Diskurse um die Entgrenzung und Kontrolle des Intimen kann Fassbinders Auseinandersetzung mit der Ehe einerseits als ein Zeitphänomen, andererseits aber auch als durchaus avantgardistischer Diskussionsbeitrag gewertet werden. So sind die Geschlechtergrenzen in seinen Werken – sicherlich aufgrund seiner eigenen homo- bzw. bisexuellen Neigungen und Erfahrungen – erstaunlich hybride gezeichnet und die ›Geschlechtsidentität‹ wird von ihm, zumindest ansatzweise, bereits als diskursives bzw. performatives Konstrukt begriffen, wenngleich er – im Unterschied zum späteren Ansatz Judith Butlers8 – ›Gender‹ noch ganz ›klassisch‹ im Sinne von Simone de Beauvoir als Produkt der Sozialisation identifiziert.9 »On ne naît pas femme, on le devient«10 – man wird nicht als Frau geboren,

stenz und Widerstand aufzuspannen wäre«; Reichardt, Sven: »Klaus Theweleits Männerphantasien. Ein Erfolgsbuch der 1970er Jahre«, http:// www.zeithistorische-forschungen.de/site/40208708/default.aspx#pgfId1036474a (03.08.2012). 7

Foucault, Michel: Histoire de la sexualité. 3 Bde., Paris: Gallimard 19761984; deutsche Fassung: Ders.: Sexualität und Wahrheit. 3 Bde., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983-1989.

8

Butler, Judith: Gender trouble. Feminism and the subversion of identity, New York: Routledge 1990; deutsche Fassung: Dies.: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991.

9

Beauvoir, Simone de: Le deuxième sexe. 2 Bde., Paris: Gallimard 1949, S. 285; deutsche Fassung: Dies.: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1951. Diese Auffassung wird auch in der Sexualwissenschaft seit den 1950er Jahren diskutiert, vgl. Schmidt, Gunter: »Sexualwissenschaft«, in: von Braun/Stephan, Gender-Studien (2004), S. 174-186, hier S. 176.

10 Den fließenden Geschlechtergrenzen entsprechend werden bei Fassbinder Annex-Themen zur Ehe – Abhängigkeit, Unterdrückung und Ohnmacht – nur sehr bedingt genderspezifisch abgehandelt. Auch unterdrückte und abhängige Männer und dominante Frauen – wie in der Verfilmung von Oskar Maria Grafs DIE EHE DES HERRN BOLLWIESERS (BRD 1976) oder LOLA (BRD 1981) – finden sich in seinen Filmen; in DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT (BRD 1972) erweist sich das weitgehend nach heterosexuellem Muster konstruierte Zusammenleben zweier Frauen als ebenso

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man wird zur Frau gemacht oder, wie es August Bebel (bereits 1883) noch deutlicher formuliert: Die Frau ist das, »wozu der Mann als ihr Beherrscher sie gemacht hat.«11 Diese Frage der »Frauwerdung« ist Kernstück eines ganzen Zyklus von Filmen in Fassbinders Werk. Neben MARTHA gehören hierzu auch DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT (BRD 1972), WILDWECHSEL (BRD 1972), BREMER FREIHEIT (BRD 1972), NORA HELMER (BRD 1973) sowie ANGST ESSEN SEELE AUF (BRD 1974). Der wichtigste Film dieser Reihe ist jedoch zweifellos FONTANE EFFI BRIEST (BRD 1974), Fassbinders »Traumfilm« und erstes Filmprojekt, das aus Kostengründen zunächst jedoch einige Jahre zurückgestellt werden musste.12 FONTANE EFFI BRIEST ist, wie Fassbinder selber anmerkt, keine Literaturverfilmung im herkömmlichen Sinne, sondern ein Formexperiment, bei dem es vor allem um die Veranschaulichung des Rezeptionsprozesses geht, d.h. die sichtbare Überführung der wortsprachlichen Erzählung in ein bildsprachliches Vokabular.13 Der ungewöhnliche Einsatz von Weißblenden, die an das Umblättern der Seiten eines Buches erinnern, segmentiert den Handlungsverlauf und setzt dem narrativen Kontinuitätsprinzip des Romans die elliptischen Brüche der filmischen Bearbeitung wahrnehmbar entgegen. Ganze Passagen aus dem Roman werden fast ohne weitere Bearbeitung übernommen und in einer bewusst anti-naturalistischen, zuweilen fast leblos wirkenden

problematisch wie die Beziehung zweier Männer in seinem fast spiegelbildlich konzipierten Theaterstück Tropfen auf heiße Steine (1964). 11 Bebel, August: Die Frau und der Sozialismus, Berlin/DDR: Dietz 1973, S. 172. 12 Vgl. Braad Thomsen, Christian: Rainer Werner Fassbinder. Leben und Werk eines maßlosen Genies, Hamburg: Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins 1993, S. 193. 13 Vgl. hierzu die einschlägigen Analysen von Gladziejewski, Claudia: Dramaturgie der Romanverfilmung. Systematik der praktischen Analyse und Versuch zur Theorie am Beispiel von vier Klassikern der Weltliteratur und ihren Filmadaptionen, Alfeld/Leine: Coppi-Verlag 1998 und Schachtschabel, Gaby: Der Ambivalenzcharakter der Literaturverfilmung. Mit einer Beispielanalyse von Theodor Fontanes Roman Effi Briest und dessen Verfilmung von Rainer Werner Fassbinder, Frankfurt a.M. u.a.: Lang 1984.

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Weise wie auswendig gelernte literarische Zitate wiedergegeben oder aus dem Off von Fassbinder selber eingelesen. Will man der Fassbinder’schen Differenzierung zwischen einer formalen und inhaltlichen Transformation literarischer Vorlagen folgen, ist, wie er selber bemerkt, als eigentliche Verfilmung von Effi Briest der wenig später begonnene und früher fertig gestellte Film MARTHA zu bezeichnen14 – ein kunstvoller Genre-Mix aus PsychoThriller, Hollywood-Melodram und sadomasochistischem Gruselfilm. Wie FONTANE EFFI BRIEST ist auch MARTHA eine Erziehungsgeschichte, in deren Zentrum die Themen Unterdrückung, Angst und Abhängigkeit verhandelt werden. Die 30-jährige, bei ihren Eltern lebende Titelheldin (gespielt von Margit Carstensen) wird in Rom, unmittelbar nach dem Tode ihres Vaters, auf einen Mann mittleren Alters, Helmut (gespielt von Karlheinz Böhm), aufmerksam. Wenig später kreuzen sich ihre Wege in Deutschland zufällig erneut. Martha verliebt sich in Helmut – obwohl dessen sadistische Neigungen vom ersten Moment an offensichtlich sind. Als sie sich nach einer von ihm aufgezwungenen Achterbahnfahrt weinend übergeben muss, belohnt Helmut sie mit einem Heiratsantrag, den sie prompt annimmt. Mit der Hochzeitsreise steigert sich die Grausamkeit, die Helmut seiner Frau gegenüber an den Tag legt. Dabei reicht der Katalog an ›erzieherischen‹ Maßnahmen, die er wahlweise als Begehren oder Fürsorglichkeit tarnt, von der Kündigung ihres Arbeitsplatzes (gegen ihren Willen) bis zur sadistisch inszenierten Vergewaltigung. Wie schon Effi Briest wird auch Martha in ein düsteres Haus, um das sich unheimliche Geschichten ranken, eingesperrt, während Helmut zumeist auf Dienstreise ist. Systematisch

14 »Ich halte mich genau an den Roman, nicht an die Geschichte des Romans, sondern an die Haltung, die Theodor Fontane zur Geschichte hat. Natürlich hätte man einen ganz tollen Film über ein Mädchen drehen können, die einen älteren Mann heiratet, ihn betrügt und so weiter, aber wenn man diese Geschichte erzählen will, dann braucht man eigentlich nicht Fontanes Roman zu verfilmen. Dann kann man genauso gut eine eigene Geschichte erfinden und MARTHA ist meine persönliche Version von der Geschichte.« Fassbinder, Rainer Werner: »›Ich will, dass man diesen Film liest.‹ Rainer Werner Fassbinder über Fontane Effi Briest, über Anarchisten und Terroristen und über seine Frauen-Filme«, in: Robert Fischer (Hg.), Fassbinder über Fassbinder. Die ungekürzten Interviews, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 2004, S. 301-311, hier S. 301f.

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beginnt er Martha von der Umwelt abzuschotten; sie soll sich mit niemandem mehr treffen, das Telefon wird abgestellt, die Katze kurzerhand umgebracht. Nach und nach verwandelt sich Marthas masochistische Hingabe in Angst. Am Ende des Films flieht sie hysterisch vor Helmut, verunglückt mit dem Auto und erwacht im Krankenhaus: gelähmt und für immer seine Gefangene.

V ON EINER D RAMATURGIE DES V ERDACHTS D RAMATURGIE DER A FFIRMATION

ZUR

Im Vergleich zu seiner großen Schwester FONTANE EFFI BRIEST führt der Film MARTHA ein relatives Schattendasein, wird jedoch dort, wo er Erwähnung findet, stets lobend hervorgehoben15 und zumeist in der amerikanischen Filmtradition verortet.16 Dies liegt zum einen sicherlich daran, dass die Handlung, wenngleich Fassbinder dies immer dementiert hat, auf einer Erzählung des bekannten amerikanischen Drehbuchautors Cornell Woolrich basiert,17 zum anderen ist das Thema ei-

15 So bezeichnet Christian Braad Thomsen MARTHA als einen von »Fassbinders überzeugendsten Versuchen, zu einem tieferen Realismus vorzudringen.« Emotionale Komplexität und psychologische Zustände verdichten sich laut Thomsen hier »zu einer Bildsprache […], die mit unseren Träumen oder Alpträumen verwandt ist«; Ch. Braad Thomsen: Rainer Werner Fassbinder, S. 208.) 16 Vgl. hierzu bspw. Karasek, Hellmuth: »Eine tödlich perfekte Ehe«, in: Der Spiegel 23 (1974) vom 03.06.1974, S. 120: »Man versteht, warum Fassbinder mit Ibsens Nora, wo die Konflikte sich ›literarisch‹ allzu bewußt mausern dürfen, so wenig anzufangen wußte. Denn in MARTHA hat er sein Feld gefunden: das Melodram, das versteckt, was es herausschreien möchte, und herausschreit, was es verschweigt« und Elsaesser, Thomas: Rainer Werner Fassbinder, Berlin: Bertz 2000. 17 Der Film basiert auf der amerikanischen Kurzgeschichte For the Rest of Her Live von Cornell Woolrich. Tatsächlich machte der Rowohlt-Verlag nach dem Erscheinen des Filmes aufgrund der deutlichen Ähnlichkeiten zu genannter Erzählung Schadensansprüche geltend, Fassbinder selber hat die Verbindung jedoch zeitlebens vehement abgestritten. Das Erlebnis dieses (angeblich) unbewussten Plagiats irritierte ihn offenbar so sehr, dass er es

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ner sich (zu recht oder unrecht) verfolgt fühlenden Ehefrau ein bekanntes Motiv verschiedener berühmter Hollywood-Filme – so u.a. in GASLIGHT (dt. DAS HAUS DER LADY ALQUIST) aus dem Jahr 1944 von George Cukor mit Ingrid Bergmann sowie in Alfred Hitchcocks SUSPICION (USA 1941, dt. VERDACHT).18 Auch zu Hitchcocks MARNIE (USA 1964), dem psychoanalytischen Porträt einer frigiden Kleptomanin sowie ihres nicht minder gestörten Retters, 19 weist Fassbinders MARTHA deutliche Parallelen auf. Ebenso wichtig erscheinen, so zumindest die gängige Meinung in der Filmwissenschaft, die Einflüsse von Douglas Sirk, dessen soziales Melodram Fassbinder zu Beginn der 1970er Jahre entdeckt.20 In Abgrenzung zu dieser Einordnung von MARTHA in die Tradition des amerikanischen Films und seiner Klassifizierung als Melodram, möchte ich Fassbinder beim Wort nehmen und untersuchen, inwieweit der Film tatsächlich als eine moderne Version von Effi Briest bezeichnet werden kann. Zusammen genommen, so meine These, führen die beide Filme – durch ihre radikale Infragestellung der Vernunftehe und der Liebesheirat gleichermaßen – die Idee eines möglichen Fortschritts von Liebesbeziehungen hinsichtlich ihres vernünftigen Aufklärungsgrades ad absurdum und verdichten sich zu einer sich wechselseitig

in verwandelter Form zum Thema in seinem Film SATANSBRATEN (BRD 1976) machte. 18 Fassbinder verweist mehrfach auf diesen Klassiker (mit Joan Fontaine und Cary Grant in den Hauptrollen) und bemerkt u.a. in einem Interview, nach Hitchcocks Film SUSPICION verließe »man das Kino mit dem Gefühl […], dass Ehe etwas Unmögliches ist«; Rayns, Tony: »Das Publikum muss zufrieden sein (1975)«, in: Fischer, Fassbinder über Fassbinder, S. 331-339, hier S. 333. 19 Neben den amerikanischen Referenzen erscheint mir persönlich am deutlichsten indes die Beziehung zu Luis Buñuels LA BELLE DE JOUR (F 1967), der als besonders perfekte Umsetzung der eingangs zitierten Äußerung Fassbinders erscheint: »Die meisten Männer können nur nicht so perfekt unterdrücken, wie die Frauen es gerne hätten.« Am Ende sitzt allerdings nicht die schöne Séverine Sérizy (gespielt von Catherine Deneuve), der es unmöglich ist, sich von ihrem geliebten Mann berühren zu lassen, sich stattdessen sadomasochistischen Tagträumen hingibt und halbtags in einem Bordell arbeitet, im Rollstuhl, sondern ihr Mann Pierre. 20 Vgl. hierzu R.W. Fassbinder: Imitation of Life.

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ergänzenden unzeitgemäßen Kritik an der 68er-Utopie einer imaginierten ›Befreiung‹ der Sexualität im beschriebenen Doppelsinne. Zugespitzt formuliert kann Fassbinders Zeitdiagnose aus dieser Perspektive als künstlerisch-ästhetische Vorwegnahme der Foucault’schen Machtanalyse und seiner Theorie der Sexualität als Dispositiv21 bezeichnet werden. So ist die Sexualität als Medium der Macht auch bei Fassbinder weder frei noch unschuldig, sondern bleibt – aufgrund ihrer notwendigen Beziehung zum Begehren – immer potenziell gewalttätig. Ausgehend von diesen Überlegungen möchte ich im Folgenden einige von Fassbinder in MARTHA verwendete Formen der ›Liebessematik‹ auf der Folie von FONTANE EFFI BRIEST analysieren. Dabei wird ›Liebe‹ nicht als Gefühl, sondern, mit Niklas Luhmann ausgedrückt, als ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium verstanden, d.h. als ein »Code, der darüber informiert, wie man in Fällen, wo dies eher unwahrscheinlich ist, dennoch erfolgreich kommunizieren kann.«22 Im Zentrum der Analyse soll dabei vor allem die Frage stehen, auf welche Weise Fassbinder die Grenzen zwischen Normalität und Perversion zieht bzw. überschreitet.

V ERFREMDUNG UND A FFIRMATION E INFÜHLUNG UND S PANNUNG

VERSUS

Trotz großer Nähe zur literarischen Vorlage erzeugt Fassbinders formalistische Vorgehensweise in FONTANE EFFI BRIEST eine eigentümliche Distanz zum Dargestellten. So lassen die zahlreichen Verfremdungseffekte und der Verzicht auf konventionelle filmerische Mittel, die den Zuschauer suggestiv in die Geschichte hineinziehen, die Titelheldin oberflächlich und unnahbar erscheinen. Gleiches gilt für MARTHA. Wenngleich der Film in Farbe gedreht ist und sich auf den ersten Blick deutlich weniger ›literarisch‹ gibt, lässt das befremdlich stilisierte und künstliche Spiel der Schauspieler die Figuren ähnlich

21 Vgl. Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin: Merve 1978. 22 »Der Code ermutigt, entsprechende Gefühle zu bilden. Ohne ihn würden die meisten, meinte La Rochefoucauld, gar nicht zu solchen Gefühlen finden.« Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 9.

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distanziert und undurchdringbar erscheinen wie in FONTANE EFFI BRIEST; das Bild der Gesellschaft der 1970er Jahre wirkt aufgrund des überladenen Dekors und der aufwändigen Kostüme ebenso fremd wie die des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die distanzierten Beschreibungsmuster, mit Hilfe derer uns Fassbinder die Figuren wie Versuchstiere im Labor vorführt, verhindern jede Form der Einfühlung und erlauben damit keine Kennzeichnung der Filme als Melodramen.23 In einem weiteren Punkt setzen sich MARTHA und FONTANE EFFI BRIEST klar von den genannten amerikanischen Referenzen ab. Während das Unbehagen der Ehefrauen ihren Gatten gegenüber in den Hollywood-Filmen immer nur als ›Verdacht‹ formuliert wird, ist dieser Verdacht bei Fassbinder von Anfang an Gewissheit. An die Stelle einer Dramaturgie der Spannung tritt entsprechend eine Dramaturgie der Affirmation, die ihren programmatischen Ausgangspunkt in der emblematischen subscriptio von FONTANE EFFI BRIEST findet, die von jenen vielen spricht, die »eine Ahnung haben von ihren Möglichkeiten und ihren Bedürfnissen und dennoch das herrschende System in ihrem Kopf akzeptieren durch ihre Taten und es somit festigen und durchaus bestätigen.« Was folgt ist eine (wenngleich weniger analytische als vielmehr intuitive) Beweisführung, die durch Fassbinders überdeutliche Gegenüberstellung der zentralen Figuren Effi (gespielt von Hanna Schygulla) und Geerd von Innstetten (gespielt von Wolfgang Schenck) sowie seinen Verzicht auf Nuancierung und Ironie einen stark affirmativen Charakter erhält.24 Durch die wie Kapitelüberschriften wirkenden, an den Stummfilm erinnernden Texteinblendungen – so das gleich wiederholt eingeschobene Insert »Eine Art Angstapparat als Kalkül« – wird Fontanes beständige Antizipation des weiteren Verlaufs der Geschichte im Film sichtbar zementiert. Ähnlich deutlich argumentiert Fassbinder in MARTHA allein schon durch seinen Verzicht auf die gängigen dramaturgischen Elemente, mit denen konventionell Spannung aufgebaut wird. Bereits das erste Zusammentreffen zwischen Martha und Helmut unmittelbar nach dem

23 Meines Erachtens resultiert diese Zuschreibung aus dem Versuch, Fassbinders Filme als »deutsches Hollywood-Kino« zu kennzeichnen, ein Thema, das an dieser Stelle leider nicht weiter ausgeführt werden kann. 24 Vgl. hierzu Müller-Seidel, Walter: Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland, Stuttgart: Metzler 1975, S. 368.

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Tod ihres Vaters25 im Innenhof der Deutschen Botschaft in Rom ist hinsichtlich der Wahl der bildsprachlichen Mittel erstaunlich definitiv. Die Szene dieser ersten – ebenso zufälligen wie flüchtigen und zugleich intensiven – Begegnung, mit der Fassbinders Kameramann Michael Ballhaus Filmgeschichte geschrieben hat, kann gewissermaßen als cinematographische Umsetzung der ›Liebe auf den ersten Blick‹ bezeichnet werden: In einer 360° Drehung kreist die Kamera um das Paar und erzeugt auf diese Weise nicht nur Schwindelgefühle, sondern – im Gegensatz zur Öffentlichkeit des Ortes, an dem die Begegnung stattfindet – vor allem auch eine eigentümliche Intimität, verstanden als das zentrale Charakteristikum der leidenschaftlichen Liebe. Grundsätzlich anders und doch formal ähnlich affirmativ wirkt im Vergleich dazu das erste Zusammentreffen von Effi Briest und Geerd von Innstetten, das, trotz der häuslichen Umgebung, in der es stattfindet, als deutlicher Hinweis auf eben das Fehlen jeglicher Intimität gedeutet werden kann. Unbeweglich verharren Effi, Geerd und die Eltern auf der Treppe, während Fassbinder den Text inklusive der Dialogszenen einliest und so – der schwindelerregenden Gefühlsaufwallung in MARTHA diametral entgegengesetzt – ein Standbild emotionaler Regungslosigkeit erzeugt. Angesichts dieser deutlichen Differenzen erscheint die Parallelität des Ausgangs beider Szenen indes bemerkenswert: Sehen wir in MARTHA die Protagonistin nach dem Zusammentreffen hinter dem Torgitter des Eingangs der Botschaft als Gefangene ihrer gerade erst entfachten Leidenschaft, so erscheinen in FONTANE EFFI BRIEST die Freundinnen von draußen hinter den Fenstersprossen und rufen ihr berühmtes »Effi komm«, was von Innstetten mit starrem, fast drohendem Blick kommentiert wird. Auch in dieser (viel interpretierten), das Ende der Geschichte antizipierenden Schlüsselszene des Romans 26 trans-

25 Die dem Tod des Vaters vorausgehende, betont konstruiert wirkende Szene im Hotel, in welcher der Portier Marthas Handbewegung fehl deutet und ihr einen jungen Mann aufs Zimmer schickt, der ihr seine sexuellen Dienste anbietet, muss in einen direkten Zusammenhang hierzu gesetzt werden: Hier wird sowohl die Uninteressiertheit Marthas an Männern als auch der Sexualität an sich inszeniert. 26 Vgl. Geppert, Hans Vilmar: »Nicht so wild Effi! Vier Verfilmungen eines weiten literarischen Feldes«, in: Ders., Literatur im Mediendialog. Semiotik, Rhetorik, Narrativik. Roman, Film, Hörspiel, Lyrik und Werbung,

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formiert Fassbinder die Anspielungen Fontanes im Dienste seiner Beweisführung in Eindeutigkeiten. So steht im Roman das Fenster weit offen und ist von wildem Wein umrankt;27 im Gespräch mit Briest wenig später ist es von Innstetten, als tauchten die »rotblonden Mädchenköpfe«28 ein weiteres Mal auf, um nach Effi zu rufen – eine Irritation, auf die er mit Nachdenklichkeit reagiert. Mit der Verwandlung des von wildem Wein umrankten offenen Fensters in gitterartige Fenstersprossen negiert Fassbinder jede mögliche Versuchung der Freiheit und lässt Effi bereits definitiv als Gefangene erscheinen; während im Roman eine deutliche emotionale Verunsicherung Innstettens spürbar ist, transformiert er sich im Film zum grimmigen Gefängniswächter. Fassbinders Verengung der Deutungsräume, die schließlich in der Diskussion zwischen von Innstetten und Wüllersdorf gipfelt, in die er den fahrenden Zug montiert, der von Innstetten zum Duell bringen wird, findet in MARTHA als affirmative Strategie gewissermaßen ex negativo Entsprechung: So verzichtet Fassbinder weitgehend darauf – wie dies den gängigen Filmkonventionen entspräche – in den Szenen zwischen dem ersten Zusammentreffen der beiden Hauptfiguren und ihrem Wiedersehen die weitere Entwicklung (beispielsweise durch die Einführung eines ernstzunehmenden männlichen Konkurrenten) spannungsvoll aufzuladen. Stattdessen weitet Fassbinder seine affirmative Diagnose bezüglich der Ohnmacht gegenüber dem herrschenden System durch seine Inszenierung der Liebesheirat in MARTHA nun historisch aus.

E HE : E INE F RAGE

DER

W AHL

Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die sich an die Italienreise anschließende Szene zwischen Martha und ihrem Chef, die gerade

München: Verlag Ernst Vögel 2006, S. 107-128, hier S. 119. Fontane bezeichnete die Szene selber als Inkubationsszene, vgl. Boor, Helmut de u.a. (Hg.), Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 9/1. Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870-1900, Berlin/DDR: Volk und Wissen 1974, S. 342-363, hier S. 354. 27 Vgl. Fontane, Theodor: Effi Briest, Berlin und Weimar: Aufbau 1982, S. 19. 28 Vgl. ebd.

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im intertextuellen Zusammenhang mit FONTANE EFFI BRIEST bemerkenswert erscheint. So ist es natürlich kein Zufall, dass die Rolle des Chefs ausgerechnet mit Wolfgang Schenck besetzt ist, der hier sozusagen als Widergänger Geerd von Innstettens erscheint und Martha einen Heiratsantrag macht, der sich angesichts seiner formalen Steifheit sofort als ein vernunftmäßiges Arrangement zu erkennen gibt. Dass es sich tatsächlich nicht um Liebe handelt, wird in der nächsten Szene sogleich ironisch untermauert: Unmittelbar nachdem Martha den Antrag dankend mit dem vernünftigen Verweis auf ihre verwitwete Mutter, um die sie sich nun kümmern müsse, abgelehnt hat, unterbreitet der Chef ihrer Kollegin den selben Antrag, den diese wiederum als soziale Aufstiegsmöglichkeit erkennt und sofort annimmt: »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie glücklich ich bin. Wie schön wir es haben werden. Er hat ein so schönes Haus.« Im Blick auf den hier über den Darsteller Schenck hergestellten Intertext erscheint es nicht abwegig, Marthas Zurückweisung der Vernunftehe am Schicksal der Effi Briest zu messen. Mit anderen Worten: Was wäre gewesen, wenn Effi Geerds Antrag zurückgewiesen und stattdessen aus Liebe geheiratet hätte? Zur Beantwortung dieser im Film freilich nur indirekt gestellten Frage, die im Folgenden weiter durchgespielt wird, setzt Fassbinder weiterhin auf das Stilmittel der Parodie. So scheint das zweite Zusammentreffen von Martha und Helmut zunächst ein konventionelles Motiv des Hollywood-Liebesfilm aufzugreifen – um dieses dann sogleich zu dekonstruieren: Zwei Personen ziehen sich aus dem Trubel eines Festes auf die Terrasse des Hauses zurück, um sich gegenseitig ihre Liebe zu gestehen. Martha läuft aufgrund einer Bemerkung Helmuts verärgert nach draußen, woraufhin dieser ihr folgt. Das einsetzende Gespräch entspricht nun keineswegs den Regeln der bekannten Liebessemantik: HELMUT:

Sie sind mir gleich in Rom aufgefallen […]. Sie haben damals sehr aufregend auf mich gewirkt.

MARTHA:

Ich habe Sie auch nicht vergessen.

HELMUT (süffisant lächelnd): Das hab ich nicht gesagt, dass ich Sie nicht vergessen hätte seither […]. Ich finde Sie nicht sehr schön, aber keinesfalls attraktiv und reizvoll. Sie sind zu dünn, fast schon dürr […]. Au-

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ßerdem wirken Sie auf mich, als würde Ihr Körper schlecht riechen.

Auf diese Bemerkung hin dreht sich Martha unsicher lächelnd zu Helmut um und beide küssen sich stürmisch. Unterstrichen wird die hier zu konstatierende Kontrafaktur durch die ebenfalls als Intertext zu lesende Besetzung der Rolle Helmuts durch den Schauspieler Karlheinz Böhm, dessen Wirkung diametral seiner legendären Darstellung in SISSI (A 1955, R: Ernst Marischka) als einem überaus liebevollen und fürsorglichen Mann entgegenläuft.29 An dieser Wirkung, unter der Böhm selber litt, ändert zweifellos auch seine Darstellung eines Serienmörders in Michael Powells PEEPING TOM (GB 1960) nichts, der indes durchaus als zweiter (wenngleich eher subkutaner) Intertext gelesen werden kann. Auf der Grundlage der doppelten Enttäuschung der Zuschauererwartung stellt Fassbinder mit dieser Initialszene die Liebe zwischen Martha und Helmut in ein unaufhebbares Verhältnis zur Unterdrückung, ohne diesen Zusammenhang indes explizit tragisch aufzuladen oder als gefährlich zu markieren.30 Im Gegenteil wirkt sein Spiel mit den Konventionen hier (wie auch am Ende der Achterbahnfahrt) zwar provokant, aber geradezu komisch. Der Grad an Perversion entspricht gewissermaßen der Stärke der leidenschaftlichen Liebe qua Begehren und emotionaler Abhängigkeit. In diesem Sinne müssen wir uns Martha wohl als einen glücklichen Menschen vorstellen.

29 »Karlheinz Böhm zerstörte das Erwartungsbild Karlheinz Böhm, indem er es pervertiert erfüllte. So können Wunschbilder zu ihrer eigenen Wahrheit entarten«; H. Karasek: Eine tödlich perfekte Ehe, S. 120. 30 Unterstützt wird die Unausweichlichkeit der Situation durch eine sich anschließende Szene in der Bibliothek, in der Helmut überraschend auftaucht, die erschreckte Martha überlegen lächelnd mustert und wortlos wieder verschwindet. Auf die Frage, wer dies gewesen sei, antwortet Martha wie im Traum: »Das ist der Mann, den ich heiraten werde.« Diese Szene entspricht der vierten Szene, in der Helmut Martha gegen ihren Willen auf die Achterbahn mitnimmt und ihr, als sie sich nach der Fahrt übergibt, offenbar begeistert über ihre Angst, einen Heiratsantrag macht, den sie fassungslos und glücklich annimmt, woraufhin er sich wiederum abwendet.

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D IE A USNAHME

ALS

R EGEL : O PFER

UND

T ÄTER

Helmuth Karaseks Rezension aus dem Jahr 1974 greift im Titel Eine tödlich perfekte Ehe Fassbinders Bemerkung von der »perfekten Unterdrückung« auf.31 Dabei führt der Begriff »tödlich« allerdings auf eine falsche Spur: So ist hier eben nicht der tödlich vernichtende Aspekt der verhandelten Unterdrückungsmechanismen Thema, sondern, ganz im Gegenteil, ihre gesellschaftliche Vitalität, die von der Aktionsbereitschaft der Täter und der Opfer gleichermaßen abhängt. Diese ›außermoralische‹ Beschreibung von Unterordnung, Anpassung, Qual und Leiden als aktiven, performativen, somit auch kreativen und Macht produzierenden Vorgängen kann wohl als das eigentlich skandalöse Moment des Filmes bezeichnet werden, nicht zuletzt darum, weil es eine Infragestellung des klassischen Täter-Opfer-Verhältnisses impliziert. Denn, wie Fassbinder offen zugibt, interessieren ihn weniger die Frauen, als vielmehr ihr performativer Umgang mit der Unterdrückung, der sich an weiblichen Schicksalen besonders effizient exemplifizieren lässt.32 Eine emphatisch-moralische Verklärung der unterdrückten Frau als Opfer lehnt er hingegen rigoros ab: »Es gibt keine armen Opfer und keine bösen Unterdrücker, sondern die meisten sogenannten Opfer haben Möglichkeiten gefunden und zum Teil eben nicht unbedingt erfreuliche Möglichkeiten, sich zu behaupten.«33 Vor die-

31 H. Karasek: Eine tödlich perfekte Ehe, S. 120. 32 Vgl. hierzu: »Ich bin Frauen gegenüber genauso kritisch wie Männern. Aber bei mir geht es eben so, dass ich das, was ich über die Gesellschaft sagen will, besser anhand von Frauenfiguren klarmachen kann. Frauen sind interessanter, weil sie einerseits unterdrückt sind, und andererseits sind sie das eben überhaupt nicht, sondern wenden ihre Unterdrückung als effektives Terrormittel an«; Braad Thomsen, Christian: »Ich will, dass man diesen Film liest« (1974), in: Fischer, Fassbinder über Fassbinder, S. 301311, hier S. 310. 33 »Das ist genau das, was man mir vorgeworfen hat, nämlich, dass ich die Opfer nicht als perfekte Menschen gezeigt habe – dass ich sie dargestellt habe, so wie sich Frauen eben heute oft verhalten, die sich gegen Männer verteidigen müssen, oft mit sehr ungewöhnlichen Methoden, manchmal mit widerlichen Mitteln«; Ginsburg, Ina: »Jedermanns Feind« (1980), in: Fischer, Fassbinder über Fassbinder, S. 469-482, hier S. 479.

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sem Hintergrund erscheint es nicht verwunderlich, dass Fassbinders ›Frauenfilme‹ eine regelrechte Provokation für die Vertreterinnen der Frauenbewegung darstellen, denen sogar seine Schwarz-Weiß-Zeichnung in FONTANE EFFI BRIEST nicht schwarz-weiß genug erscheint. Es irritiert, wie Christian Braad Thomsen meint, »daß nicht die Männer im Film die gesellschaftliche Unterdrückung verkörpern, sondern Effis Mutter, und daß Effi selbst letzten Endes alles akzeptiert, was mit ihr geschieht, anstatt sich aufzulehnen.«34 Effi, wie auch Nora und Martha, sind keine positiven Heldinnen, so wie dies die Vertreterinnen der Frauenbewegung fordern. Am Ende werden Fassbinders Opferfrauen als zumeist mehr oder weniger glücklich Gefesselte vorgeführt: Martha sitzt gelähmt im Rollstuhl, Nora bleibt, gegen die Vorstellung Ibsens, bei ihrem Mann im Puppenhaus und Petra von Kants ausgenutzte Dienerin verlässt ihre Arbeitgeberin nicht etwa, um sich zu befreien, sondern, wie Fassbinder meint, »auf der Suche nach einer anderen Sklavenstellung«.35 Dieser grundsätzliche Pessimismus verbindet Fassbinder indes wiederum mit Fontane, 36 der, wie wir wissen, dem Ende von Nora ebenfalls skeptisch gegenübersteht und Ibsens Eheauffassung insgesamt für falsch hält, da das Insistieren auf der ›freien Herzensbestimmung‹ seiner Meinung nach den Menschen überfordere und daher der ›Anfang vom Ende‹ sei.

34 Ch. Braad Thomsen: Rainer Werner Fassbinder, S. 205. 35 »Viele haben den Film dahin interpretiert, dass sie sich zum Schluss befreit, aber daran glaub ich halt überhaupt nicht. Es wäre viel zu optimistisch und zu utopisch, daran zu glauben, dass jemand, der dreißig Jahre lang nur das gemacht und gedacht hat, was andere für sie gedacht haben, sich plötzlich für die Freiheit entscheiden kann«; Braad Thomsen, Christian: »Die Ästhetik der Hoffnung« (1973), in: Fischer, Fassbinder über Fassbinder, S. 257-265, hier S. 257. 36 »[Fontane] lebte in einer Gesellschaft, deren Fehler er ganz genau erkennen und beschreiben konnte, aber dennoch war sein inständiger Wunsch, zu dieser Gesellschaft dazuzugehören. Er fand vieles an der Gesellschaft abstoßend und kämpfte doch sein ganzes Leben darum, von der Gesellschaft als vollwertiges Mitglied akzeptiert zu werden […] und das charakterisiert ziemlich genau auch meine Einstellung zur Gesellschaft«; Ch. Braad Thomsen, »Ich will, dass man diesen Film liest«, S. 302.

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D IE L EIDENSCHAFT

UND IHRE

O PFER

Verstanden als spiegelbildlicher Gegenentwurf zu FONTANE EFFI BRIEST erweist sich der Film MARTHA nicht als Kritik sadistischen Verhaltens, sondern als demonstrative Vorführung der strukturellen Beziehungsregeln einer normalen Ehe. Während das Perverse in FONTANE EFFI BRIEST gerade in seiner zeitgemäßen Banalität und Normalität offenbar wird,37 kann die in MARTHA so pervers anmutende Liebesbeziehung nur verstanden werden, wenn die hier vorgeführten Machtmechanismen als konstitutiver Teil der Liebesrealität begriffen werden. Auch die Berücksichtigung der emotionalen Befindlichkeiten der handelnden Subjekte in Liebesangelegenheiten kann keine Veränderung der Grundmuster bewirken38 – die Machtmechanismen sind in der ›Liebesheirat‹ strukturell ebenso angelegt wie in der ›Vernunftehe‹. Aus dieser Perspektive erscheint Fassbinders Darstellung des (auch unter der Prämisse der Selbstbestimmung) unaufhebbaren Zusammenhangs zwischen Liebe qua Sexualität und struktureller Gewalt in MARTHA auch und vor allem als Zeitkritik an den fortschrittsoptimistischen Vorstellungen der 68er-Bewegung einer befreiten Sexualität im herrschaftsfreien Raum.39 Fassbinders Darstellung der Qual und des Leidens als aktiven, performativen und somit auch kreativen Prozessen weist, wie bereits angedeutet, erstaunliche Parallelen zu den (kurze Zeit später veröffentlichten) Befunden Michel Foucaults auf. So scheint die Tatsache, dass das erste Kapitel seiner 1975 erschienenen Schrift Überwachen und

37 So bringt, wie Inge Mittenzwei bemerkt, »Innstetten […] das Private öffentlich zur Sprache, bevor er der Sprache eine Chance gegeben hat, das Private zu klären und zu retten«; zitiert nach W. Müller-Seidel: Theodor Fontane, S. 367. 38 Dass sich dieser Befund im Übrigen nicht nur auf die institutionalisierte Form des Zusammenlebens bezieht, zeigen u.a. DIE BITTEREN TRÄNEN DER

PETRA VON KANT sowie Tropfen auf heisse Steine, wo der Zusam-

menhang zwischen Liebe und Unterdrückung anhand außerehelicher, homosexueller Liebesgeschichten durchgespielt wird. 39 Einer solchen Idee erteilte er bereits 1969 mit Preparadise sorry now, seiner Antwort auf die Paradise now-Utopie des Living Theatre, eine definitive Absage erteilt.

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Strafen40 bezeichnenderweise den Titel »Marter« trägt, mehr als nur ein Zufall und deutet offensichtlich auf gewisse strukturelle Homologien. Denn nur zwei Jahre später verortet Foucault in Sexualität und Wahrheit – wie Fassbinder in deutlicher Abgrenzung zum herrschenden Zeitgeist der Nach-68er-Jahre – das Hauptproblem der Sexualität eben nicht in ihrer Unterdrückung, die immer auch die Möglichkeit zur Befreiung impliziert. Die provokante Nüchternheit seines Versuchs einer umfassenden Analyse der Machtmechanismen der Sexualität, die, so Foucault, eben auch als positiv, diskursvermehrend, lusterregend und wissensproduzierend 41 erkannt werden müssen, entspricht durchaus jener ›außermoralischen‹ und damit a priori ›anti-aufklärerischen‹ Empathie- und Utopielosigkeit, die man Fassbinder (wahrscheinlich zu Recht) immer wieder vorgeworfen hat. Ob dieser Perspektivwechsel von der (sexuellen) Macht des Mannes zur (performativen) Ohnmacht der Frau tatsächlich produktiv oder zumindest erkenntnisstiftend hinsichtlich der notwendigen Veränderung der Situation sein kann oder letztlich doch nur wieder eine Entlastungsfunktion in männerdominierten Diskursen besitzt, mag dahin gestellt bleiben. Volksaufklärerisch motivierte Darstellungen der emanzipierten Frau, die das ihr zugefügte Leid tatkräftig bekämpft und schließlich überwindet, erscheinen Fassbinder ohnehin naiv und ideologisch. Was ihn interessiert, sind Probleme, nicht Lösungen – eine Haltung, die ihn abermals mit Fontane verbindet: »Meine ganze Produktion ist Psychographie und Kritik, Dunkelschöpfung im Lichte zurechtgerückt«,42 hat dieser einmal bemerkt. In diesem Sinne leiden Fassbinders Figuren – gleich ob im Lichte der grellen Sonne Italiens oder der gleißenden Helligkeit der Weißblenden – vor allem an den Widersprüchen, die, so der Regisseur, »nicht nur in der Gesellschaft, sondern in ihnen selber angesiedelt

40 Foucault, Michel: Überwachen und Strafe: Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M: Suhrkamp 1994. 41 Vgl. Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. 42 Zitiert nach Mann, Thomas: »Der alte Fontane« (1910), in: Wolfgang Preisendanz (Hg.), Theodor Fontane, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1973, S. 1-24, hier S. 11.

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sind«.43 Die Wurzeln des Leidens liegen, bei Fassbinder wie Fontane, somit in der Erziehung, die sich in der Wiederholungsstruktur der Geschichten spiegelt. So wie Helmut für Martha den gerade verstorbenen dominanten Vater ersetzt, legt Effi Briests Mutter ihr die eigene große, dem sozialen Aufstieg geopferte Liebe ins Bett – also einen Mann, der nicht nur vom Alter her ihr Vater sein könnte, sondern eigentlich auch lebenspraktisch hätte werden sollen. Auf solch inzestuöse Weise sorgen nicht nur die Beherrscher, sondern auch die Unterdrückten dafür,44 dass die Unterdrückungsmechanismen weitervererbt werden und sich, mit Pierre Bourdieu gedacht, von arbiträren kulturellen Setzungen in strukturelle Natur transformieren.45 Nur so ist zu verstehen, warum auch diejenigen, die in sich Unwillen gegenüber dem »herrschenden System in ihrem Kopf« verspüren, ihm – wie in der subscriptio von FONTANE EFFI BRIEST behauptet – machtlos gegenüberstehen: weil dieses System auf hinterhältige Weise die notwendige Grundlage der eigenen Existenz bildet. Darüber jedoch, wie dies verändert und, mit Luhmann gesprochen, der Unwahrscheinlichkeit gelungener Kommunikation entgegen gearbeitet werden kann, enthält sich Fassbinder jeden Hinweises. Seine Filme bleiben, ganz im Sinne Fontanes, »Dunkelschöpfung im Lichte zurechtgerückt«. Die Revolution hat seiner Meinung nach, wenn überhaupt, ohnehin im Leben und nicht im Film stattzufinden.

L ITERATUR Beauvoir, Simone de: Le deuxième sexe. 2 Bde., Paris: Gallimard 1949; deutsche Fassung: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1951.

43 »Das habe ich schon sehr früh gesagt: dass ich keine Lust habe, Filme zu machen, die mit Modellen spielen oder mit Ideologien, sondern dass ich über nichts als über Menschen Bescheid weiß«; Wiegand, Wilfried: »Ich weiß über nichts als über den Menschen Bescheid« (1974), in: Fischer, Fassbinder über Fassbinder, S. 273-300, hier S. 291-292. 44 Als solche gibt sich auch Effis Mutter mit ihrer trockenen Bemerkung »Jeder quält seine Frau« zu erkennen. 45 Vgl. Bourdieu, Pierre: Die männliche Herrschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005.

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Bebel, August: Die Frau und der Sozialismus, Berlin/DDR: Dietz 1973. Boor, Helmut de u.a. (Hg.), Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 9/1, Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870-1900, Berlin/DDR: Volk und Wissen 1974, S. 342-363. Bourdieu, Pierre: Die männliche Herrschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005. Braad Thomsen, Christian: Rainer Werner Fassbinder. Leben und Werk eines maßlosen Genies, Hamburg: Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins 1993. Ders.: »Die Ästhetik der Hoffnung« (1973), in: Fischer, Fassbinder über Fassbinder, S. 257-265. Ders.: »Ich will, dass man diesen Film liest« (1974), in: Fischer, Fassbinder über Fassbinder, S. 301-311. Braun, Christina von/Stephan, Inge (Hg.), Gender-Studien. Eine Einführung, Stuttgart: J. B. Metzler 2000. Brownmiller, Susan: Against Our Will. Men, Women and Rape, New York: Simon & Schuster 1975; deutsche Fassung: Gegen unseren Willen. Vergewaltigung und Männerherrschaft, Frankfurt a.M.: Fischer 1978. Butler, Judith: Gender trouble. Feminism and the subversion of identity, New York: Routledge 1990; deutsche Fassung: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991. Elsaesser, Thomas: Rainer Werner Fassbinder, Berlin: Bertz 2000. Fassbinder, Rainer Werner: »Imitation of Life. Über Douglas Sirk«, in: Michael Töteberg (Hg.), R.W. Fassbinder. Filme befreien den Kopf, Essays und Arbeitsnotizen, Frankfurt a.M.: Fischer 1984, S. 11-24. Fischer, Robert (Hg.): Fassbinder über Fassbinder. Die ungekürzten Interviews, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 2004. Fontane, Theodor: Effi Briest, Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1982. Foucault, Michel: Überwachen und Strafe: Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M: Suhrkamp 1994. Ders.: Histoire de la sexualité, 3 Bde., Paris: Gallimard 1976-1984; deutsche Fassung: Ders.: Sexualität und Wahrheit. 3 Bde., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983-1989.

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Ü BER DEN ZWEIFELHAFTEN F ORTSCHRITT IN S ACHEN L IEBE | 175

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F ILME ANGST ESSEN SEELE AUF (BRD 1974, R: Rainer Werner Fassbinder) BREMER FREIHEIT (BRD 1972, R: Rainer Werner Fassbinder) DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT (BRD 1972, R: Rainer Werner Fassbinder) DIE EHE DES HERRN BOLLWIESERS (BRD 1976, R: Rainer Werner Fassbinder) FONTANE EFFI BRIEST ODER VIELE, DIE EINE AHNUNG HABEN VON IHREN BEDÜRFNISSEN UND DENNOCH DAS HERRSCHENDE SYSTEM IN IHREM KOPF AKZEPTIEREN DURCH IHRE TATEN UND ES SOMIT FESTIGEN UND DURCHAUS BESTÄTIGEN (BRD 1974, R: Rainer Werner Fassbinder) GASLIGHT (USA 1944, R: George Cukor) LA BELLE DE JOUR (F 1967, R: Luis Buñuel) LOLA (BRD 1981, R: Rainer Werner Fassbinder) MARNIE (USA 1964, R: Alfred Hitchcock) MARTHA (BRD 1973, R: Rainer Werner Fassbinder) NORA HELMER (BRD 1973, R: Rainer Werner Fassbinder) PEEPING TOM (GB 1960, R: Michael Powell) SATANSBRATEN (BRD 1976, R: Rainer Werner Fassbinder) SISSI (A 1955, R: Ernst Marischka) SUSPICION (USA 1941, R: Alfred Hitchcock) WILDWECHSEL (BRD 1972, R: Rainer Werner Fassbinder)

Der Skandal, der keiner war Behinderung in Fassbinders C HINESISCHES ROULETTE1

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Es gibt eine auffällige Diskrepanz zwischen der Sichtbarkeit Behinderter im täglichen Leben und der im Vergleich dazu äußerst mageren filmischen Repräsentation derselben in der Bundesrepublik. Umso bemerkenswerter ist es in diesem Zusammenhang, dass eine seltene Darstellung von Behinderung durch Rainer Werner Fassbinder, der wohl als der berühmteste westdeutsche Regisseur der Filmgeschichte bezeichnet werden kann, bis zum heutigen Zeitpunkt nicht das Augenmerk der Kulturwissenschaft auf sich gezogen hat. Fassbinder ist bekannt für seine zum Teil skandalträchtigen Filme, in denen es häufig um weibliche Charaktere und Minderheiten wie Gastarbeiter, homosexuelle Männer und Juden geht. Ein Mitglied einer weiteren Minderheit, ein sichtbar behindertes Mädchen, ist die zentrale Figur in CHINESISCHES ROULETTE (BRD 1976). Fassbinder nutzt diesen Charakter als Katalysator für die filmische Reflexion über Themen wie die Doppelmoral der bürgerlichen Ehe, die Schatten der deutschen Vergangenheit und die Kontinuitäten zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Da es sich um einen der weniger bekannten Filme Fassbinders handelt, sei 1

Der folgende Text ist ein Auszug aus Carol Poores Monographie »Disability in Twentieth-Century German Culture« (Ann Arbor: University of Michigan Press 2007), der für diesen Band übersetzt wurde. Die Herausgeberinnen danken der Autorin und der University of Michigan Press für die freundliche Erlaubnis der Übersetzung und des Wiederabdrucks.

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zunächst ein kurzer Überblick über die minimalistische Handlung gegeben. Der Film beginnt mit einer kurzen Abschiedsszene zwischen den offensichtlich wohlhabenden Eltern von Angela, einer behinderten Jugendlichen, die auf Krücken und eine Beinschiene angewiesen ist. Angeblich fliegt der Vater auf Geschäftsreise nach Oslo, während die Mutter nach Mailand reist. Tatsächlich haben beide hinter dem Rücken des anderen jedoch geplant, das Wochenende mit ihrem bzw. seiner Geliebten auf dem Landsitz der Familie zu verbringen. Angela und ihre Erzieherin Traunitz, welche zwar hören, aber nicht sprechen kann, reisen ebenfalls auf den Landsitz und es wird deutlich, dass Angela eine unangenehme Konfrontation beider Paare arrangiert hat. Für den Rest des Wochenendes umkreisen diese sechs Charaktere sowie die Haushälterin und ihr Sohn sich gegenseitig in einer klaustrophobischen Atmosphäre von unterdrückten Spannungen und Hass. Der Film nähert sich seinem Höhepunkt, als Angela darauf besteht, dass alle Charaktere gemeinsam Chinesisches Roulette spielen, ein Ratespiel, bei dem es darum geht, die Wahrheit zu sagen. Dieses Spiel erreicht seinen brutalen Höhepunkt darin, dass die Mutter für einen kurzen Moment eine Pistole auf Angela richtet, dann allerdings auf Traunitz schießt. Der Film endet mit einem zweiten Schuss, der aus dem Landhaus zu hören ist, aber der Zuschauer wird im Unklaren darüber gelassen, wer diesen Schuss abgefeuert hat, und kann nur erahnen, wer Täter und wer Opfer ist. Auf diese Weise wird das unentwirrbare Netz der Feindschaften, das der Film präsentiert, über die Schlusseinstellung hinaus in die Vorstellung des Zuschauers projiziert. Die Kritiker, die sich mit CHINESISCHES ROULETTE befasst haben, bezeichnen den Film übereinstimmend als einen der »most perfectly realized art films«2 im Werke Fassbinders. Sowohl westdeutsche als auch andere Kritiker heben die virtuose Kameraführung und die von ihr hervorgerufene Atmosphäre extremer Artifizialität hervor. So, wie alles in dem Film auf das Roulettespiel hinausläuft, ist der Film selbst als Geduldsspiel konstruiert, als »Schachbrett«, auf dem sich die Figuren in genau choreographierten Sequenzen bewegen, gefolgt von einer kreisenden Kamera.3 Während einige Kritiker den Film als »too coldly

2

Shattuc, Jane: Television, Tabloids, and Tears. Fassbinder and Popular

3

O.A.: »Chinese Roulette«, in: Filmfacts 20:8 (1977), S. 178-180, S.180.

Culture, Minneapolis: University of Minnesota Press 1995, S. 127.

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intellectual«4 bezeichnen, wird er für andere charakterisiert durch seine »dazzling technique«,5 »playfulness«, »creative visual games«6 und »hysterical intensity and formal extravagance.«7 Wie Thomas Elsaesser bemerkt, stellt der Film in jedem Fall Fassbinders »bid for a place as a European auteur« dar und war, nicht zuletzt durch den Einsatz der beiden Godard-Schauspielerinnen Anna Karina und Macha Méril, seine erste internationale Koproduktion.8 Die meisten Kritiker haben festgestellt, dass die höchst stilisierte Kinematographie von CHINESISCHES ROULETTE eine klaustrophobische Atmosphäre schafft, in der die unterdrückten Emotionen der Charaktere, vor allem aber die Spannungen und Feindseligkeiten in den Vordergrund treten. So wurde der Film von einem Kritiker als »a melodramatic chamber piece«9 beschrieben und mit Louis Buñuels WÜRGEENGEL (MX 1962) verglichen, da auch hier am Ende alle vermeintlich bürgerlich-kultivierten Verhaltensweisen auseinanderbrechen und statt ihrer die Gewalt ans Licht kommt, die fortwährend unterhalb der Fassade der Konvention brodelte.10 Die Kritik ist sich einig, dass in Fassbinders Film eine straff konstruierte Darstellung von intimen Beziehungen in einer Krise vorliegt – ein Thema, welches sich in vielen seiner Filme findet. Hier werden die Ehe an sich und das bürgerliche Familienleben als durch und durch marode Institutionen dargestellt, die Lügen, Vorwände und Halbwahrheiten reproduzieren. Die verbale Kommunikation, gleich ob zwischen Ehepartnern, Geliebten oder Eltern und Kindern, ist indirekt und bleibt missverständlich oder blockiert. Die Charaktere interagieren häufig auf einer nonverbalen Ebene

4

In dieser Weise wurde der Film nach Wallace Watson in der Bundesrepublik gemeinhin aufgenommen. Vgl. Watson, Wallace: Understanding Rainer Werner Fassbinder, Columbia: University of South Carolina Press 1996, S. 171.

5

o.A., Chinese Roulette, S. 179.

6

J. Shattuc: Television, S. 131 und S. 138.

7

Combs, Richard: »CHINESE ROULETTE and DESPAIR«, in: Sight and Sound 48 (1978), S. 258-259, hier S. 259.

8

Elsaesser, Thomas: Fassbinder’s Germany. History, Identity, Subject, Am-

9

R. Combs: CHINESE ROULETTE, S. 259.

sterdam: Amsterdam University Press 1996, S. 286. 10 Spaich, Herbert: Rainer Werner Fassbinder. Leben und Werk, Weinheim: Beltz Quadriga 1992, S. 202.

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durch bedeutungsvolle Blicke, die auf eine sehr viel deutlichere Weise die Feindseligkeit und das Misstrauen zwischen ihnen offenlegen. Aufgrund dieser Tatsache, der Ambiguität der interpersonalen Beziehungen, der anarchischen Gewalttaten am Ende sowie des Mangels an spezifisch politischen Inhalten sind die meisten Kritiker der Meinung, dass sich der Film einer »direct reference to contemporary sociohistorical reality« enthalte. Ein Kritiker geht sogar so weit, CHINESISCHES ROULETTE als »high art melodrama« zu bezeichnen und zu behaupten, »the film operates in a social vacuum«.11 Aus diesem Grund gilt CHINESISCHES ROULETTE heute allgemein als ein gut gemachter Kunstfilm ohne jede sozialpolitische Relevanz, was dazu beigetragen hat, dass dem Film bis heute nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde – vor allem im Vergleich zu dem starken Interesse an anderen Filmen Fassbinders, in denen Frauen, Homosexuelle, Gastarbeiter oder Juden thematisiert werden. Die Kritik, dem Film mangele es an sozialpolitischer Relevanz, ist allerdings nur dann möglich, wenn man die zentrale Figur des Films, Angela, nicht als filmische Repräsentation einer anderen bedeutenden Minderheit sieht, nämlich von Menschen mit Behinderungen. Da dem Thema der Behinderung bislang keine Bedeutung in den Kulturwissenschaften zugemessen wurde, haben Kritiker des Films die Bedeutung Angelas konsequenterweise ignoriert. Thomas Elsaesser schreibt etwa, dass Fassbinders ANGST ESSEN SEELE AUF (BRD 1973) von Schwarzen und Arabern handle, während CHINESISCHES ROULET12 TE um wohlhabende Berufstätige kreise. Obwohl es unvorstellbar ist, dass ein Kritiker die Dimensionen von Rasse und Ethnizität in einer Diskussion des erstgenannten Filmes übersieht, ist es doch bis heute Standard, die Behinderung im zweitgenannten Film zu ignorieren. Darüber hinaus analysiert Elsaesser die »inscription of ›awkward‹ bodies into the social symbolic« in Fassbinders Filmen und erwähnt sogar dessen eigenen »fat body«, verliert jedoch kein Wort über Angela.13 Für die Kritiker, die bisher über CHINESISCHES ROULETTE geschrieben haben, scheint es sich bei Behinderung um ein individuelles Missgeschick und medizinisches Problem zu handeln, nicht jedoch um

11 J. Shattuc: Television, S. 132f. 12 Elsaesser, Thomas: »Historicizing the Subject. A Body of Work?«, in: New German Critique 63 (1994), S. 11-33, hier S. 17. 13 Ebd., S. 32f.

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eine kulturell konstruierte soziopolitische Kategorie. Aus dieser Perspektive interpretieren sie den Film als das realitätsnahe Bild eines behinderten Mädchens, als ein Bild, welches nicht als zutiefst ideologisch gefärbte Verkörperung signifikanter Machtverhältnisse entlarvt werden muss. Die mangelnde Aufmerksamkeit für Angela, die einen der auffälligsten Körper im gesamten Werk Fassbinders hat, wird am deutlichsten in den unpräzisen und negativen Ausdrücken, die Kritiker für ihre Beschreibung verwenden. Was der aufmerksame Zuschauer in dem Film von Angela zu sehen und zu hören bekommt, ist, dass sie auf Krücken geht, eine Beinschiene an ihrem linken Bein trägt, vor elf Jahren erkrankt ist und die Ärzte vor sieben Jahren erklärten, ihr nicht weiterhelfen zu können. In den Kritiken finden sich hingegen die wildesten und widersprüchlichsten Bezeichnungen für Angela: sie wird als »verkrüppeltes Kind«, »teilweise behindertes Kind«, als »Querschnittsgelähmte« oder Teenager mit »gelähmten Beinen«, als Opfer eines »Unfalls« oder einer »Verletzung«, als unter einem »dauerhaft verkrüppelten rechten Bein« Leidende, als Trägerin eines »künstlichen Beines« oder »Opfer der Kinderlähmung« bezeichnet. Von diesen Bezeichnungen könnte allein die medizinische Diagnose der Kinderlähmung eventuell zutreffen; abwertende Adjektive wie »verkrüppelt« spiegeln indes einzig die sozialen Vorurteile der Kritiker. In einigen Artikeln wird Traunitz, Angelas Erzieherin, die zwar nicht sprechen, aber offensichtlich hören kann, zudem als taubstumm bezeichnet. In ähnlicher Weise kommt in Analysen von Angelas Persönlichkeit wiederholt das alte Klischee zum Tragen, dass eine abnorme physische Erscheinung mit pervertierten, negativen Emotionen einhergehe. So hat die Kritik sie völlig unreflektiert als »rachsüchtig«, »unerbittlich«, »tyrannisch« (im Gegensatz zu ihren »tatsächlich unschuldigen« Eltern), als »hilflos und zerstörerisch«, »frühreif und verschlossen« oder gar »ungemein unsympatisch, besessen von der ihr angeborenen Fähigkeit zu hassen und zu zerstören« beschrieben. Richard Combs zieht die expliziteste Verbindung zum Horrorfilm, wenn er über Angela sagt: »She can thereafter be heard, for the duration of the weekend, clumping about the chateau on her crutches, presiding over the misery of her elders with the satisfaction of a cherubic Bela Lugosi.« 14 Es geht hier nicht darum, dass diese Kritiker unzutreffende Bewertungen dar-

14 R. Combs: CHINESE ROULETTE, S. 259.

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über abgeben, wie Angela in dem Film erscheint – viele dieser Beschreibungen sind durchaus zutreffend. Allerdings werden die negativen, schrecklichen Eigenschaften als selbstverständliche psychologische Begleiterscheinungen physischer Behinderung gelesen anstatt als filmische Repräsentationen, die einer Interpretation bedürfen. Einzuräumen ist hier freilich, dass die Artikel, mit Ausnahme derer von Elsaesser und Shattuc, in den späten 1970ern, kurz nach Erscheinen des Filmes, verfasst wurden, in einer Zeit also, in der fast niemand daran dachte, Behinderung in einer Weise zu interpretieren, die über alte Stereotypen hinausgeht. Heutzutage sind solche Lesarten jedoch überholt. So birgt der übersehene Aspekt der Behinderung den Schlüssel zu einem Verständnis des sozialpolitischen Statements, das der Film über Machtverhältnisse und Kontinuitäten zwischen der deutschen Vergangenheit und Gegenwart abgibt. In diesem Kontext ist es bedeutsam, was Fassbinder selbst über Angelas Behinderung gesagt hat. Beim Entwurf des entfremdeten Ehepaares habe er die Idee entwickelt, dass der Grund für die dauerhaften Affären der beiden in einem Problem mit ihrem Kind liegen könnte: »Das Kind müsste, um wirklich eine Gefahr zu bedeuten, intelligenter sein als alle anderen – und das sind eben gebrechliche Kinder. So kam das.«15 Er führt weiter aus, dass das Kind einen Partner brauche, der auch ein Gebrechen hat – daher entwarf er die stumme Erzieherin Traunitz.16 Fassbinders Aussage über Angela muss auf zwei Ebenen analysiert werden. Erstens hat er eine Figur erschaffen, die in der Lage ist, viele der Lügen und Scheinheiligkeiten, von denen sie umgeben ist, zu durchschauen, weil ihre abweichende Physis sie in die Rolle einer beobachtenden Außenseiterin versetzt. Zweitens ist an ihrer Frühreife jedoch nichts natürlich, wie Fassbinders Aussage zu implizieren scheint. Vielmehr operiert Fassbinder auch hier, so wie in seinen meisten anderen Filmen, mit massiven kulturellen Stereotypen, in diesem Falle denen der Behinderung. Allerdings waren diese Stereotype kulturell so tief verwurzelt, dass er selber keinerlei Bewusstsein darüber zu haben scheint, genau wie viele Zuschauer Behinderung wahrscheinlich nicht als entscheidendes Thema des Filmes sehen.

15 Berling, Peter: Die 13 Jahre des Rainer Werner Fassbinder, Bergisch Gladbach: Gustav Lübbe 1992, S. 293. 16 Ebd.

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Im Wesentlichen geht es in Fassbinders Film um verschiedene Arten des Gehens und des Sprechens, das heißt, um Körper, die sich in akzeptabler und inakzeptabler Weise durchs Leben bewegen sowie um das Verschleiern und Enthüllen der Wahrheit. Dies wird deutlich in einer Analyse der Geräusche, die mit Angela in Verbindung stehen, ihrer visuellen Präsenz, ihrer Charaktereigenschaften in der Interaktion mit anderen und in einer Analyse von zwei anderen Figuren mit anormalen Körpern. Zunächst unterstreicht die Tonspur des Films, wie Angela die anderen bei ihrer gegenseitigen Annäherung und dem gegenseitigen Betrug stört. Das ganze Wochenende über hört man das Echo gleichmäßiger, getragener Schritte auf dem Holzfußboden des Landsitzes. Doch wenn Angela erscheint, ist sehr deutlich das ungleichmäßige, unrealistisch laute Scheppern ihrer Krücken und ihrer Beinschiene zu hören, welches ankündigt, dass die verschiedenen Verstrickungen der anderen Figuren durch sie gestört werden. Auch ihr Körper erscheint störend im Sichtfeld. Komplizierte Kameraeinstellungen kontrastieren sie mit den nicht-behinderten Charakteren und lenken die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf ihr behindertes Bein oder ihre untere Körperhälfte. Es gibt zwei miteinander in Verbindung stehende Bilder, welche auf diese Regiestrategie hinzuweisen scheinen. Zum einen zeigt das Werbeplakat für den Film eine Rückansicht von Angela, wie sie mit ihrem expressionistisch verlängerten behinderten Bein eine Blume zertritt, während sie alleine einen Flur hinuntergeht, der von Türen in verzerrten Winkeln gesäumt ist. Kaum sichtbar schwebt in der Luft ein geisterartiges Abbild von Angela mit nichtbehinderten Beinen und ohne Krücken. Zum anderen hängt im Esszimmer des Landsitzes, wo man sich versammelt, um Chinesisches Roulette zu spielen, ein merkwürdiges Gemälde, welches zwei weibliche Figuren vor einem schwarzen Hintergrund zeigt. Die eine ist ein Akt mit schönen, langen, weißen Beinen; die andere ist eine gespenstische blaue Gestalt, welche unterhalb des Rumpfes abgeschnitten ist und keine Beine besitzt. Sowohl das Plakat als auch das Gemälde im Film lenken die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf die filmische Darstellung der Abweichungen von der physischen Norm. Wenn man diesen Signalen folgt und den Fokus auf das Motiv des Gehens lenkt, so erschließen sich viele der Szenen, die als kryptisch bezeichnet wurden, und somit die Darstellung von Machtverhältnissen im Film. Zahlreiche Einstellungen sind sehr präzise um die Gegenüberstellung von behinderten und nicht-behinderten Beinen konstru-

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iert. Am frühen Morgen, nachdem die beiden Paare die Nacht zusammen auf dem Landsitz verbracht haben, klappert Angela den Flur herunter und öffnet die Türen der Schlafzimmer, um einen Blick auf die Paare zu erheischen. In dem einen Schlafzimmer sitzt Irene, die Geliebte ihres Vaters, auf der Fensterbank und hat eines ihrer schönen Beine angewinkelt. Zusammen mit dem nackten Bein ihres Vaters, welcher im Bett liegt, bildet sich ein exaktes Viereck. Angela wirft dem Paar einen wissenden Blick zu und geht zum nächsten Schlafzimmer, wo ihre Mutter Ariane die Nacht mit ihrem Geliebten verbracht hat. Als sie die Tür öffnet, sieht Angela ihre Mutter nackt im Bett, ihre langen schlanken Beine ausgestreckt. Die beiden tauschen hasserfüllte Blicke aus und Angela sagt »ja, ja« in einem amüsiertwissenden Tonfall, während sie umständlich davonhumpelt. Im weiteren Verlauf des Films gibt es Einstellungen, in denen die Kamera zwischen Beinen positioniert ist und diese damit zu einem Rahmen des Bildes macht. Eine Einstellung zwischen Angelas Beinen hindurch, welche die Beinschiene und die Krücken im Vordergrund betont, bildet den Rahmen für einen Blick auf den Sohn des Hausmeisters, der die beiden Paare belauscht. Eine Einstellung zwischen Arianes wohlgeformten Beinen rahmt die Szene, in der Angela schwerfällig in das Esszimmer humpelt, um Chinesisches Roulette zu spielen. Angelas Einschränkungen und ihre Unbeholfenheit werden auch an anderer Stelle betont, so etwa, als sie mit größter Mühe eine Treppe hinuntergeht, während der Sohn der Haushälterin mit Schwung auf dem Treppengeländer an ihr vorbeirutscht, oder als sie beim Versuch, ihre Puppen aus dem Auto zu holen, ihre Krücken fallen lässt und die Haushälterin sie in böswilliger Weise auslacht. All diese Szenen zeigen Angela als anormale Außenseiterin, als eine Person, der es nicht leicht fällt, an sozialen Interaktionen teilzunehmen. Angelas Ausschluss von den Spielen des Lebens, die die anderen Figuren spielen, zeigt sich auch in einigen weiteren Szenen, die leichter verständlich werden, wenn wir uns auf ihr Erscheinungsbild und das Motiv des Gehens konzentrieren. Als ihr Vater und Irene auf der Fahrt zum Landsitz eine Pause machen, schwingt Irene ihre langen wohlgeformten Beine aus dem Auto und hüpft über ein Himmel-undHölle-Spiel. Als nicht-behinderte erwachsene Frau ist Irene in der Lage, ihrem Hochgefühl angesichts eines Wochenendes mit ihrem Liebhaber auf körperliche Weise Ausdruck zu verleihen, während diese mädchenhafte Verspieltheit Angela aufgrund ihrer Beeinträchtigung

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versagt bleibt. Parallel hierzu gibt es eine Szene, in der der Sohn der Haushälterin Traunitz dabei beobachtet, wie sie scherzhaft mit Angelas Krücken herumhüpft. Angela lehnt währenddessen an einer Wand, gleichgültig gegenüber Traunitz’ Ausgelassenheit. Auch hier erscheint Angela ausgeschlossen von den Spielen, die andere spielen. Zwei längere Szenen, die für sich betrachtet undurchsichtig wirken, in der Gegenüberstellung allerdings verständlicher sind, verstärken den Eindruck, dass es sich bei Angela um einen Fremdkörper handelt. So zeigen die ersten Einstellungen des Films Angelas Mutter, die auf der Heizung sitzt und ihre Beine auf der Fensterbank ausstreckt, während im Hintergrund Opernmusik läuft. Auf der anderen Seite des Raums lehnt Angela an einer Heizung und blickt gequält auf den Plattenspieler, welcher dem Zuschauer den Blick auf ihren Körper unterhalb der Taille versperrt. Ihre Mutter geht zu ihr, fragt »Schön?« und legt wortlos ihren Kopf auf Angelas Schulter. Dadurch, dass Angela nicht antwortet, entsteht ein Gefühl von Einsamkeit, Leere und Distanz zwischen Mutter und Tochter. Die Unterschiede ihrer Körper verhindern Kommunikation. Eine gegensätzliche Szene finden wir, als Angelas Mutter die Geliebte ihres Mannes trifft. Die beiden Frauen blicken sich direkt an und der Zuschauer sieht von beiden Frauen den ganzen Körper. Ariane äußert Irene gegenüber anerkennend: »Sie sind schön.« Irene antwortet »Sie sind auch schön« und sie küssen sich auf die Wange. In einer späteren Szene legt Ariane ihren Kopf auf Irenes Schulter und sagt »Ich mag Sie«; wieder in einer anderen Szene sieht man, wie Irene Ariane frisiert, während die beiden Vertraulichkeiten austauschen – eine intime Szene, wie man sie zwischen Mutter und Tochter erwarten würde, nicht jedoch zwischen einer betrogenen Ehefrau und der Geliebten des Mannes. Aus der Perspektive von Diskursen über Behinderung betrachtet werden diese Szenen jedoch verständlich. Sie zeigen Interaktionen von großer Nähe zwischen zwei nichtbehinderten Frauen auf der Basis eines sanft fließenden Wirbels sexueller Abenteuer. Auch wenn Angela natürlich noch eine Heranwachsende ist, ist es nicht allein ihr Alter, das sie von den Spielen der Erwachsenen trennt. Vielmehr ist sie aufgrund des verstörenden Anblicks und der Geräusche, die von ihrem Körper ausgehen, hiervon ausgeschlossen und wird es, wie der Film andeutet, auch in der Zukunft bleiben. Angela ist sich dieser Situation sehr bewusst und spricht sie auch offen gegenüber Gabriel, dem Sohn der Haushälterin, an, während ihre Eltern mit ihren

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jeweiligen Geliebten schlafen. Alleine im Bett auf dem Landsitz, nur in Gesellschaft ihrer geradezu unheimlichen Puppensammlung, fragt Angela Gabriel in einem ernsten und gleichzeitig sachlichen Tonfall: »Würdest du mit einem Krüppel schlafen wollen?« Auf seine Antwort hin, ein Verziehen des Gesichts, stellt sie fest: »Ich kenne die Antwort. Ich geb sie mir selber fast jeden Tag.« Solche Szenen präsentieren Angela als hilfloses Opfer eines grausamen biologischen Schicksals, welches dazu führt, dass sie ganz selbstverständlich von anderen abgelehnt wird. Allerdings zeigt Angela auch andere Seiten, die den Zuschauer – wie in allen anderen filmischen Repräsentationen von Angehörigen von Minderheiten bei Fassbinder – davon abhalten, sie einzig und allein als Opfer zu sehen.17 Im weiteren Verlauf der Szene mit Gabriel führt Angela die Affären ihrer Eltern auf ihre Krankheit zurück, indem sie erklärt, dass ihr Vater seine vor elf Jahren begann, als sie krank wurde, und dass die Affäre ihrer Mutter vor sieben Jahren anfing, als die Ärzte ihr mitteilten, dass sie ihr nicht mehr helfen könnten. Doch die Haushälterin Kast, die alle Geheimnisse der Familie zu kennen scheint, sagt Gabriel kurz darauf, diese Erklärung sei Unsinn. Dies ist eine der Szenen, die Angelas Status als passives Opfer relativieren und den Zuschauer dazu bringen, sie kritischer zu betrachten. Da sie auf mehreren Ebenen nicht mit den anderen Charakteren interagieren und mithalten kann, hat sie gelernt, ihren Willen durchzusetzen und geht dabei verschlossen, manipulativ und stur vor: Sie ist eine verzogene Göre. Sie weiß genau, dass ihre Eltern nachgeben werden und besteht darauf, dass die ganze Gruppe gemeinsam isst und Chinesisches Roulette spielt – ein verstörendes Spiel, bei dem sie alle Fäden in der Hand hat. Auch wenn sie körperlich eingeschränkt und schwach ist, hat sie

17 Thomas Elsaesser bezeichnet Fassbinders Darstellungen anderer Opfertypen als ebenso gemein, unmenschlich und böse wie alle anderen auch. Er zitiert Fassbinder wie folgt: »In dieser ekelhaften Diskussion über Juden habe ich immer gesagt, daß man am Verhalten der Minderheit sehr viel mehr über die Mehrheit begreifen kann. Ich kann mehr über den Unterdrücker verstehen, wenn ich das Verhalten des Unterdrückten – oder wie er lernt, sich dem Unterdrücker gegenüber zu behaupten – zeige, als wenn ich den Unterdrücker darstelle. Am Anfang hab ich Filme gemacht, wo ich die bösen Unterdrücker gezeigt habe und die armen Opfer. Und das stimmt halt letztendlich nicht.« (T. Elsaesser: Rainer Werner Fassbinder, S. 42.).

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ihre verbalen Fähigkeiten so perfektioniert, dass sie zumindest in dieser Hinsicht den Erwachsenen gleichgestellt ist. Zu ihrer Missgunst kommt Böswilligkeit hinzu und es gibt deutliche Hinweise darauf, dass sie ihre Opferrolle in mancherlei Hinsicht sogar genießt. Eine andere behinderte Figur in dem Film liefert eine Parallelgeschichte zu Angelas Instrumentalisierung ihres Opferstatus’. Ein blinder Bettler kommt zu dem Landsitz und Kast gibt ihm Geld. Nachdem sie zurück ins Haus gegangen ist, blickt sie aus dem Fenster und sieht, wie er seine dunkle Brille abnimmt und in ein Auto steigt, auf dessen Nummernschild FUCK zu lesen ist. Der Bettler als bekannte Figur des simulierenden Krüppels schürt den Verdacht, dass auch Angela sich in gewisser Weise für ihre Hilflosigkeit entschieden hat. Sie nutzt ihren Status als Opfer, um das zu bekommen, was sie will – die essentielle Form des Widerstands der Subalternen. Angela erscheint in gleichem Maße als monströses und gruseliges Kind aus einem Horrorfilm wie als mitleiderregendes Opfer mit Rüschenkleidern und langen Löckchen.18 Während Angelas Vater und Traunitz scheinbar Mitgefühl für sie haben, betrachten andere Charaktere sie mit Abscheu und Hass und denken letztendlich daran, sie zu vernichten. So platzt es aus Kast heraus, als sie begreift, dass Angela wahrscheinlich das gesamte Zusammentreffen auf dem Landsitz eingefädelt hat: »Dieses Scheusal, dieser widerwärtige Krüppel!« An anderen Punkten scheint es jedoch ein gewisses Einverständnis zwischen Angela und Kast zu geben. Dieses könnte auf der Außenseiterposition von Kast als Dienerin gründen, welche es ihr, ähnlich wie Angela, erlaubt, die Verstellungen ihrer gutsituierten Arbeitgeber zu durchschauen. Deshalb behauptet Kast während des Chinesischen Roulettes, dass Angela das volle Recht habe, die anderen zu hassen. Die wichtigste Figur, die Angelas Feindseligkeit mit tiefem Hass begegnet, ist jedoch ihre Mutter Ariane. An einem Punkt schlägt diese vor, Schießübungen zu machen und richtet eine Pistole auf Angela, die unbeholfen über den Hof des Landsitzes humpelt, doch Irene zieht ihren Arm herunter. Der Hass zwischen Mutter und Tochter erreicht seinen Höhepunkt am Ende des Chinesischen Roulettes. Während des

18 Vgl. Longmore, Paul: »Screening Stereotypes. Images of Disabled People«, in: Social Policy 16 (1985), S. 31-38, hier S. 33: Longman geht davon aus, dass »the subtext of many horror films is fear and loathing of people with disabilities.«

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gesamten Spiels übersetzt Angela die Antworten, die Traunitz in Gebärdensprache gibt, für die anderen, so dass sie dem Zuschauer als brave Schülerin ihrer Erzieherin erscheint und beide wie eine Dyade wirken. An diesem Punkt überschneidet sich der filmische Diskurs über Behinderung explizit mit den Themen des Faschismus und der deutschen Vergangenheit. Für die letzte Frage des Spiels sollen die Spieler beantworten, was die von den anderen zu erratende Person aus ihrer Mitte ihrer Meinung nach im Dritten Reich gewesen wäre. Gabriel meint, die Person hätte ein Professor sein können, der im Bereich Euthanasie arbeitet, Traunitz sieht sie (übersetzt durch Angela) als Angestellte im Hauptquartier der Gestapo und Angela als eine KZLeiterin in Bergen-Belsen. Als Ariane erkennt, dass sie gemeint ist, zischt sie die bösartig lachende Angela an: »Du bist ein Ungeheuer. Ein Scheusal bist du. Ein dreckiges Scheusal.« Voller Wut richtet Ariane ihre Pistole zunächst auf Angela, schießt dann aber auf Traunitz und verletzt die behinderte Lehrerin, die offensichtlich eine enge Bindung zu ihrer Tochter aufgebaut hat, am Hals. Mit dem ungewöhnlich expliziten Hinweis auf die Euthanasie unter den Nationalsozialisten, das heißt auf die Ermordung von Menschen mit Behinderungen, bricht Fassbinder ein Tabu im westdeutschen Kino. Mit dem für ihn typischen feinen Gespür für den unvollendeten Prozess der Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik zeigt er das Fortdauern einer Eliminierungsmentalität, welche sich gegen Angela und Traunitz als Repräsentanten einer Gruppe richtet, die von vielen nach wie vor als grundsätzlich fremdartig und ›anders‹ wahrgenommen wird. In diesem Sinne gehört CHINESISCHES ROULETTE zu der Gruppe von Filmen Fassbinders, die sich mit der Kontinuität zwischen der offenen Gewalttätigkeit der faschistischen Vergangenheit und der verdrängten Gewalt der Gegenwart befassen. Allerdings kann der Film, wie immer bei Fassbinder, nicht als banales Exposé sozialer Missstände in der Bundesrepublik gesehen werden. Dies liegt daran, dass er sich so intensiv vorherrschender kultureller Stereotype von Behinderung bedient, dass die meisten Zuschauer – wie man den kritischen Reaktionen entnehmen kann – den Film nicht als Kommentar über die verschiedenen Formen der Gewalt gegen eine Gruppe von Außenseitern verstehen. Alle physischen und persönlichen Eigenschaften von Angela sind zeitgenössische Manifestationen von zwei der ältesten Stereotype im kulturellen Diskurs über Behinderung, der in Literatur und bildender

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Kunst mehrere Jahrhunderte zurückreicht und im 20. Jahrhundert unverändert in das Medium des Films übernommen wird. David Mitchell und Sharon Snyder erklären dies wie folgt: »Physiognomy orders the film universe of psychic discordance through a recognizable portraiture of external deformities.«19 Einerseits wurden Menschen mit Behinderungen traditionell als schwach und hilflos dargestellt, als passive Opfer, die auf Hilfe und Mitleid angewiesen sind und, damit zusammenhängend, häufig das Ziel der grausamen Impulse Anderer sind. In Filmen sind solche Figuren normalerweise Kinder oder Frauen, die als »süße Unschuldige« bezeichnet werden. Sie erscheinen in so verschiedenartigen Filmen wie Charles Chaplins LICHTER DER GROSSSTADT (USA 1931), den vielen Versionen von EINE WEIHNACHTSGESCHICHTE, in Douglas Sirks DIE WUNDERBARE MACHT (USA 1954), David Swifts ALLE LIEBEN POLLYANNA (USA 1960) und Guy Greens TRÄUMENDE LIPPEN (USA 1965). Diesem Opfer-Stereotyp steht eine Sicht gegenüber, die im prämodernen magischen Gedankengut wurzelt und physische Anomalie als Zeichen eines merkwürdigen oder bösen Geistes sieht. Dies bedeutet, dass behinderte Figuren, wenn sie als stark und nicht als schwach dargestellt werden, »virtually always represent a dangerous force unleashed on the social order.«20 Genau genommen werden starke behinderte Figuren häufig als bösartig und rachsüchtig gezeichnet, als Menschen, deren Verbitterung aus ihrer physischen Andersartigkeit folgt. Filmische Beispiele solch ›behinderter Rächer‹ wären etwa Richard III, der Glöckner von Notre Dame, Captain Hook, Dr. Strangelove mit seinem Rollstuhl und seiner schwarzen prothetischen Hand und der böse, an den Rollstuhl gebundene Geizkragen Potter in Frank Capras IST DAS LEBEN NICHT SCHÖN? (USA 1946).21 Obwohl der deutsche Film kein so umfassendes Repertoire dieser Stereotype aufweist wie der amerikanische, hat Fassbinder diese kulturellen Bilder seismographisch ausgelotet und sie in seiner Figurenkonzeption von Angela verwendet, die zwischen diesen beiden Polen os-

19 Mitchell, David/Snyder, Sharon: Narrative Prosthesis. Disability and the Dependencies of Discourse, Ann Arbor: University of Michigan Press 2000, S. 97. 20 Garland-Thomson, Rosemarie: Extraordinary Bodies. Figuring Physical Disability in American Culture and Literature, New York: Columbia University Press 1997, S. 36. 21 D. Mitchell/Sh. Snyder: Narrative Prosthesis, S. 99.

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zilliert. Einerseits wird sie als unselbständige, hilflose Außenseiterin gezeigt, die ein potenzielles Ziel von Gewalt und damit ein Opfer ist. Andererseits ist sie aber auch das ungewöhnliche Beispiel einer jungen weiblichen behinderten Rächerin, da sie ihre Intelligenz nutzt, um ein Spiel in Gang zu setzen, das die Heucheleien der Erwachsenen demaskiert.22 Die Bösartigkeit der anderen Charaktere ist unbegründet, unmotiviert und einfach Teil der menschlichen Verstrickungen aus Liebe und Hass. Im Gegensatz dazu erscheint Angelas physische Andersartigkeit als Motivation für ihre Negativität, da das Phänomen der Behinderung in einem kulturellen Text fast immer einer Interpretation bedarf. Um das Augenmerk noch einmal darauf zu richten, wie sehr dieser Film auf diese beiden Stereotype der Behinderung aufbaut, genügt es sich vorzustellen, wie sehr sowohl Angelas Hilflosigkeit als auch ihre Rachsucht an Intensität abnehmen würden, wäre ihr Körper nicht als auffällig anders markiert. Sie ist tatsächlich ein »cherubic Bela Lugosi«, und es gibt keine Hinweise in der narrativen und ästhetischen Struktur des Films, die den Zuschauer zu einem kritischen Blick auf diese Stereotype führen. Angela bleibt damit das Objekt eines mystifizierenden Blicks, der sie als das andere erkennt, als jemand, der außerhalb des Bereichs des normalen Menschseins mit all seinen Verwicklungen steht. Durch diese Haltung reproduziert der Film den Ausschluss von Andersartigkeit, welchen er durch seine Referenzen zur Euthanasie kritisiert. Letztendlich sind es die Stereotype von Behinderung in dem Film, die sowohl seine Protagonisten als auch die Zuschauer daran hindern, die Wahrheit zu finden, die im Mittelpunkt jenes Spiels steht, das dem Film seinen Titel gab: des Chinesischen Roulettes. Fassbinders problematische Verwendung von Stereotypen der Behinderung weist Parallelen zu seiner Verwendung von antisemitischen Klischees in seinem Drama Der Müll, die Stadt und der Tod auf, das 1976, also im selben Jahr wie C HINESISCHES ROULETTE, veröffentlicht wurde. Die Kritik hat gezeigt, dass Fassbinders jüdische Figuren in diesem Drama, wie auch in einigen seiner Filme, eine absolute An-

22 Angela sollte auch im Kontext des Neuen Deutschen Films und dessen Faszination für kindliche Figuren gesehen werden, die als Projektionsfläche für die Sehnsucht nach Freiheit oder die Ängste der Erwachsenen dienen. Diese Einsicht verdanke ich Marc Silberman.

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dersartigkeit repräsentieren. Auch wenn er sicher nicht bewusst Antisemit war, so hat er doch jüdische Figuren geschaffen, die »bearers of symbols« und »distanced observers« bleiben, die nicht »merged into the suffering cosmos of life where the other characters are located« und deshalb »dismissed from history« sind.23 Als das Frankfurter Schauspielhaus das Stück mit der Figur des »Reichen Juden« 1985 aufführen wollte, brach daher eine große Kontroverse aus; Mitglieder der jüdischen Gemeinde und deren Unterstützer demonstrierten vor dem Theater, verhinderten die Premiere und setzten ihr Recht durch, ein Wort dabei mitzureden, wie Juden in der deutschen Kultur dargestellt werden: »They [the Jews] have begun to negotiate the meaning of their identity and are not simply letting their identity be defined as their otherness, even if it is an otherness that Fassbinder loved and in which he saw politically redemptive moments.«24 Als aber 1976 CHINESISCHES ROULETTE in die Kinos kam, steckte die Behindertenbewegung in der Bundesrepublik noch in den Kinderschuhen. Einige wenige kulturell sensible Zuschauer mögen ein Unwohlsein verspürt haben angesichts von Fassbinders stereotyper Darstellung eines körperbehinderten Mädchens. Es gab jedoch noch keine nennenswerten organisierten Gruppen von Aktivisten mit Behinderungen, die gegen den objektifizierenden Blick und die abscheulich diffamierenden Bilder von Behinderung in diesem Film protestieren und ihre eigenen Identitäten definieren konnten.25 So rief Fassbinders Figur des »Reichen Juden« einen Sturm der Entrüstung hervor, während sei-

23 Koch, Gertrud: »Torments of the Flesh, Coldness of the Spirit. Jewish Figures in the Films of Rainer Werner Fassbinder«, in: New German Critique 38 (1986), S. 28-38, hier S. 36, S. 38. 24 Benhabib, Seyla/Postone, Moishe/Markovits, Andrei S.: »Rainer Werner Fassbinder’s Garbage, the City, and Death«, in: New German Critique 38 (1986), S. 3-27, hier S. 20. 25 Ein Beispiel dafür, wie die Zeiten sich geändert haben, liefert die Kontroverse über diffamierende Bemerkungen über Behinderte, die von der TVModeratorin Birgit Schrowange im Fernsehsender RTL gemacht wurden. Am 10. April 2000 bezeichnete sie Behinderte als »hoffnungslos hässliche Menschen« und »Naturkatastophen«. Proteste verschiedener Gruppen und Einzelpersonen brachten sie dazu, live eine Entschuldigung abzugeben. Vgl. Forum: Online-Magazin für Behinderte vom 17. 04.2000 und 08.05.2000, http://www.cebeef.com (03.08.2012).

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ne Figur des hilflosen, böswilligen ›Krüppels‹ noch nicht einmal als problematisch wahrgenommen wurde. Vielmehr scheint der Film, wie die Reaktionen der Kritiker und Filmwissenschaftler zeigen, lediglich die öffentlich vorherrschende Annahme zu spiegeln, nach der Menschen mit Behinderungen ganz natürlich und berechtigt von der Geschichte ausgeschlossen werden. Im Unterschied zu den Protesten gegen antisemitische Stereotype in Fassbinders Theaterstück ist das eigentlich Skandalöse an CHINESISCHES ROULETTE damit die Tatsache, dass dieser Film nie als skandalös aufgefasst wurde. Aus dem Englischen übersetzt von Swantje Möller.

L ITERATUR Benhabib, Seyla/Postone, Moishe/Markovits, Andrei S.: »Rainer Werner Fassbinder’s Garbage, the City, and Death«, in: New German Critique 38 (1986), S. 3-27. Berling, Peter: Die 13 Jahre des Rainer Werner Fassbinder, Bergisch Gladbach: Gustav Lübbe 1992. Combs, Richard: »CHINESE ROULETTE and DESPAIR«, in: Sight and Sound 48 (1978), S. 258-259. Elsaesser, Thomas: »Historicizing the Subject. A Body of Work?«, in: New German Critique 63 (1994), S. 11-33. Elsaesser, Thomas: Fassbinder’s Germany. History, Identity, Subject, Amsterdam: Amsterdam University Press 1996. Forum: Online-Magazin für Behinderte (www.cebeef.com vom 17. April 2000 und 8. Mai 2000). Garland-Thomson, Rosemarie: Extraordinary Bodies. Figuring Physical Disability in American Culture and Literature, New York: Columbia University Press 1997. Koch, Gertrud: »Torments of the Flesh, Coldness of the Spirit. Jewish Figures in the Films of Rainer Werner Fassbinder«, in: New German Critique 38 (1986), S. 28-38. Longmore, Paul: »Screening Stereotypes. Images of Disabled People«, in: Social Policy 16 (1985), S. 31-38. Mitchell, David/Snyder, Sharon: Narrative Prosthesis. Disability and the Dependencies of Discourse, Ann Arbor: University of Michigan Press 2000.

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Shattuc, Jane: Television, Tabloids, and Tears. Fassbinder and Popular Culture, Minneapolis: University of Minnesota Press 1995. Spaich, Herbert: Rainer Werner Fassbinder. Leben und Werk, Weinheim: Beltz Quadriga 1992. Watson, Wallace: Understanding Rainer Werner Fassbinder, Columbia: University of South Carolina Press 1996. o.A.: »Chinese Roulette«, in: Filmfacts 20:8 (1977), S.178-180.

FILME ALLE LIEBEN POLLYANNA (USA 1960, R: David Swift) ANGST ESSEN SEELE AUF (BRD 1973, R: Rainer Werner Fassbinder) CHARLES DICKENS. EINE WEIHNACHTSGESCHICHTE (GB 1951, R: Brian Desmond Hurst) CHARLES DICKENS’ WEIHNACHTSGESCHICHTE (USA 1984, R: Clive Donner) CHINESISCHES ROULETTE (BRD 1976, R: Rainer Werner Fassbinder) DIE WUNDERBARE MACHT (USA 1954, R: Douglas Sirk) IST DAS LEBEN NICHT SCHÖN? (USA 1946). LICHTER DER GROSSSTADT (USA 1931, R: Charles Chaplin) TRÄUMENDE LIPPEN (USA 1965, R: Guy Green) WÜRGEENGEL (MX 1962, R: Louis Buñuel)

›Jüdische Kapitalisten‹ und Queerness Fassbinders IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN und DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS

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Fassbinder hat wiederholt unterstrichen, dass ihn nicht eine plane Opfer-Täter-Dichotomie interessiere, sondern Minoritäten in der Mehrheitsgesellschaft, genauer: ihre Kollaboration bzw. die Anpassung an die Unterdrückung, die durchaus Lust bereiten könne. Man lerne weitaus mehr über Macht, so Fassbinder, wenn man die Lebensstile und Unterwerfungsstrategien von Ausgeschlossenen zeige.1 »Was ist das für eine Gesellschaft, die zum Beispiel dem Geld so große Bedeutung zumisst, die die Frauen und alle anderen Minderheiten zwingt, sich auf eine ganz bestimmte Weise zu benehmen, um überleben zu können?«2 1

Pawlikowski, Pawl: »Filme als Antwort auf bestimmte Entwicklungen. Rainer Werner Fassbinder über DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS«, in: Robert Fischer (Hg.), Fassbinder über Fassbinder. Die ungekürzten Interviews, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 2004, S. 579-588.

2

Bensoussan, Georges: »›Wir sitzen auf einem Vulkan.‹ Rainer Werner Fassbinder über Deutschland, Antisemitismus und Homosexualität«, in: ebd., S. 557-577, hier S. 565. In einem anderen Interview formuliert er: »Es gibt keine armen Opfer und keine bösen Unterdrücker, sondern die meisten sogenannten Opfer haben Möglichkeiten gefunden und zum Teil eben nicht erfreuliche Möglichkeiten, sich zu behaupten.« Limmer, Wolfgang: Rainer Werner Fassbinder. Filmemacher, Hamburg: Rowohlt 1981, S. 83.

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Zu diesem Interesse gehört auch, dass Fassbinder minoritäre Gruppen, die der herrschende Diskurs in der Regel voneinander abtrennt, 3 in komplexen Tableaus arrangiert, so dass seine Filme und Theaterstücke die Frage nach den ›Vergleichbarkeiten‹ von Exkludierten aufwerfen. IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN (BRD 1978) verknüpft die Biographien eines Transsexuellen und eines Juden; in DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS (BRD 1982) analogisiert er das Schicksal einer Diva, die mit dem NS-Regime kollaboriert hatte, dem von jüdischen Holocaust-Opfern und führt beide als Todgeweihte in der neuen Welt des Wirtschaftswunders vor Augen – »Veronika Voss und Herr Treibel, Ufa und Treblinka, Propaganda und Vernichtung, zwei Industrien des Faschismus«.4 Darüber hinaus verweigert er sich, und dieser Umstand lässt seine Tableaus noch diffiziler werden, der zu seiner Zeit herrschenden Identitätspolitik von Minoritäten, also zum Beispiel den Argumenten der schwulen und lesbischen Szene und betont, zum Teil jedenfalls, das Brüchige von Biographien jenseits der Mehrheitsgesellschaft. In den beiden hier untersuchten Filmen IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN und DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS werden queere und jüdische Figuren in einer Rekonstruktion ihrer Traumatisierungen verbunden und ihre Funktionsstellen innerhalb des kapitalistischen

3

Mit seinem Interesse an Überlebensstrategien von ›Ausgeschlossenen‹ verbindet sich insbesondere in der Deutschland-Trilogie das Projekt einer historischen Kontinuitätsbildung, das gegen den (inzwischen demontierten) Mythos der Stunde Null und die Verdrängungen bzw. Diskursverknappungen in der bundesdeutschen Gesellschaft nach 1945 angeht, also auch gegen die sich etablierenden Opferdiskurse. Fassbinder arbeitet deshalb mit einer Vielzahl an Stars aus den 1940er Jahren zusammen wie Luise Ulrich, Werner Finck und Barbara Valentin; in DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS wird entsprechend die Biographie von Sybille Schmitz nachgestellt. Fassbinder zitiert zudem frühere Filmstile wie den Spätexpressionismus, so dass seine Filme an diejenigen Ausdrucksformen erinnern, die die historische Entwicklung aufgrund des großen Einflusses von Hollywood in Vergessenheit geraten ließ.

4

Töteberg, Michael: »Das süße Sterben«, in: Peter Märthesheimer/Pea Fröhlich: DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS. Ein Drehbuch für Rainer Werner Fassbinder (hg. v. Michael Töteberg), München: Belleville 1998, S. 129-139, hier S. 136.

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Ausbeutungssystems untersucht, allerdings mit unterschiedlichen formalen Mitteln und Effekten. In dem Film über die transsexuelle Melancholikerin Elvira zum Beispiel dominieren Unbestimmtheitsstellen, die das Verhältnis zwischen den Minoritäten verunklaren und die durch eine allegorische Erzählweise, die Demontage einer stringenten Fabel sowie die Trennung von Sprache und Bild intensiviert werden. 5 Auf diese Weise wird fraglich, ob die beiden gesellschaftlich exkludierten Figuren in einem Verhältnis der Spiegelung stehen oder aber sich als Opfer und Täter begegnen.6 Die Probleme, die sich aus Fassbinders Tableaus ergeben, sind entsprechend vielfältig, wie bereits ein Blick auf den Zusammenhang von Genre und Minoritätsdarstellung vermuten lässt. Denn im Melodrama stehen das Liebesbegehren, die Sehnsüchte und die Verzweiflungen von Figuren im Zentrum, die sich allem voran über Gender definieren, während den ethnisch markierten Gestalten, also hier den jüdischen Figuren, eher die Peripherie der Filme zugewiesen wird. Diese Marginalisierung, die die Genrepräferenz Fassbinders mit sich bringt, führt aufgrund mangelnder Differenzierung, so konnte zumindest im Umgang mit Juden auf dem Theater gezeigt werden, tendenziell zu einer

5

Die komplexe akustische Dimension des Films untersucht Brigitte Peucker: »The Castrato’s Voice. Word and Flesh in Fassbinder’s IN A YEAR OF THIRTEEN MOONS«, in: Nora M. Alter (Hg.), Sound matters. Essays on the acoustics of modern German Culture, New York u.a.: Berghahn Books 2006, S. 104-114, hier S. 105. Sie betont den nonverbalen und in gewissem Sinne antiidentitären Status des Musikalischen, das auf die ›chora‹, den Leib der Mutter und den Raum des Abjekten jenseits der Grenzziehung von Ich und Anderem verweist.

6

Janusz Bodek betont in seiner Lektüre die generelle Täter-Opfer-Umkehr in Fassbinders Werk sowie die Verschiebung eigener Opferphantasien von Juden auf Nichtjuden als Ausdruck eines »schuldabwehrantisemitischen Opferkonkurrenzdiskurses«; Janusz Bodek: Fassbinder ist nicht Shakespeare, Shylock kein Überlebender des Holocaust. Kontroversen um Der Müll, die Stadt und der Tod, in: Klaus-Michael Bogdal/Klaus Holz/ Matthias N. Lorenz (Hg.), Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz, Stuttgart/Weimar, S. 179-204, hier S. 183. Ich möchte die Filme verstärkt auf ihre ästhetischen Strukturen hin untersuchen und diverse Lektüremöglichkeiten entwickeln.

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Bestätigung von klischierten Imagines.7 Ist Fassbinder zudem an degenerierten Opferpositionen gelegen, so führt dieses Interesse im Falle der jüdischen Protagonisten zu einer ›Assimilation‹ an altbekannte Täterprofile. Die in Szene gesetzten Überlebensstrategien der jüdischen Opfer zementieren Identitätskonstruktionen und Stereotypisierungen, die den traditionsreichen Phantasien von jüdischer Täterschaft entsprechen, während sich die Darstellung des Transsexuellen ostentativ einer identitären Politik verweigert.

I N EINEM J AHR MIT 13 M ONDEN : D IE N ICHT -I DENTITÄT DES T RANSSEXUELLEN In dem Tableau minoritärer Existenzen, das Fassbinder in seinem Film entwirft, sind vertreten: ein Transsexueller, eine Prostituierte, ein jüdischer Unternehmer, eine verlassene Ehefrau mit ihrem Kind, ein aus der Psychiatrie Entlassener, ein homosexueller Mann, Christoph, der mit Elvira für längere Zeit zusammengelebt hat, zudem ausländische Stricher der Frankfurter Schwulenszene. Die Position der Macht, also die des weißen heterosexuellen westlichen Mannes, bleibt weitgehend ausgespart oder genauer: Sie wird fluktuierend von Ausgeschlossenen repräsentiert. In den sich permanent neu etablierenden Situationen der (Ohn-)Macht sind die Positionen des Stärkeren und Schwächeren alternierend besetzt, so dass die gesellschaftliche Hierarchie nicht essentialistisch, sondern performativ definiert wird, sich das Verhältnis von Herr und Knecht jedoch innerhalb der gesellschaftlichen Peripherie wiederholt. Fassbinder rekonstruiert in diesem Rahmen die Biographie eines unglücklichen Transsexuellen, doch konterkariert die Identitätspolitiken, die in seiner Zeit in der queeren, genauer: der lesbischen und schwulen Szene dominieren, sowohl durch den Plot als auch die formalen Techniken. An die Stelle eines transsexuellen Identitätsnarrativs rückt eine polyvalent auszulegende Lebenserzählung, die keine Begründung für den operativen Eingriff liefert. Zentral für diese biogra-

7

Vgl. dazu Buck, Elmar: »Außenseiter auf der Bühne – zu den Konditionen des Theaters«, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.), Theatralia Judaica. Emanzipation und Antisemitismus als Momente der Theatergeschichte. Von der Lessing-Zeit bis zur Shoah, Tübingen: de Gruyter 1992, S. 24-41.

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phische Erzählung sowie für die anderen Figuren des Tableaus ist die berühmte Schlachtszene, die an Döblins Roman Berlin Alexanderplatz gemahnt und aufgrund ihrer allegorischen Anlage sowie der konsequenten Trennung von Ton und Bild die Lektürevarianten vervielfältigt.8 Die Kamera verfolgt über einen längeren Zeitraum hinweg die blutrünstige industrielle Schlachtung, während die Stimme Elviras von ihrem früheren Leben erzählt. Die getrennten visuellen und akustischen Codes greifen zuweilen ineinander bzw. die Lektüre verknüpft unweigerlich einzelne Worte des epischen Berichts mit dem blutigen Vorgang. Elvira erzählt unter anderem von den Versuchen Christophs als Schauspieler, die zu einem sozialen und künstlerischen Abstieg führen,9 sowie von der ›Normalisierung‹ ihrer Beziehung in beruflicher Hinsicht. Hatte Elvira das Paar zunächst durch ›dirty work‹, durch Prostitution (als informalisierte Arbeit) finanziert, so entscheidet sich Christoph bald dazu, so zu sein »wie Männer sind«, das heißt aktiv und mit einer gewissen Phallusidolatrie ausgestattet. Zu diesem normalisierten Männlichkeitskonzept gehört bezeichnenderweise eine berufliche Tätigkeit, die für Fassbinder Inbegriff des kapitalistischen Systems ist: die Anlageberatung und der Aktienverkauf, also Aktivitäten im Finanzbereich, die in der antikapitalistischen Kritik des ausgehenden 19. Jahrhunderts und bis weit in das 20. Jahrhundert hinein nicht als ›Arbeit im Schweiße des Angesichts‹ gelten. Die Entscheidung Christophs, mithilfe einer ›dubiosen‹ Tätigkeit, die gleichwohl Macht verheißt, zum Mann zu werden, wird visuell von der Bearbeitung eines blutigen Kuhschädels flankiert, die den männlichen Rollenentwurf als Exekution erscheinen lässt. Läuft die biographische Erzählung Elviras

8

Vgl. Bae, Sang Joon: Rainer Werner Fassbinder und seine filmästhetische Stilisierung, Remscheid: Gardez! 2005, S. 224.

9

Sie spricht mit kreischender Stimme Zitate aus Goethes Drama Torquato Tasso, die den Wahnsinn des Dichters illustrieren. Tasso ist der Prototyp des Melancholikers und Schwärmers (wie Elvira) – der Film umkreist diesen Typus –, zugleich aber auch derjenige, der sein Leid, seinen Status als Opfer und Dichter zu artikulieren vermag. Der Künstler als Opfer, als Opferlamm, wie es in Torquato Tasso heißt – auch diese Rede scheint die Schlachtung zu illustrieren, die sich damit selbstreferenziell auf den Künstler bezieht (also auch auf Fassbinder, der seine Karriere als Schauspieler begonnen hatte).

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zunehmend auf ein traditionelles Geschlechterverhältnis zu, so erscheint die Schlachtung als Kommentar auf die Unmöglichkeit, alternative Lebens- und Arbeitsformen zu etablieren. Die traditionelle Geschlechterordnung, in der sich die männliche (bzw. schwule) und weibliche (bzw. transsexuelle) Position hierarchisch zueinander verhalten und über Ökonomie definiert werden, könnte vor dem Hintergrund der Schlachtszene als Abtötung, als Verstümmlung gelesen werden. Die eindringliche Trennung von Bild und Text reichert den assoziativen Spielraum jedoch weiter an, wie die zahlreichen Interpretationen der Forschung belegen.10 Die unbestimmte Verknüpfung von visueller Information und monologischem Bericht lässt beispielsweise auch folgende Lesart zu: Die Sequenz demonstriert auf inhaltlicher Ebene, was die Kamera auf konsequente Weise im gesamten Film durchführt, nämlich die Parzellierung der Körper. Damit lässt sich die Zerlegung der Tiere auf den transsexuellen Körper übertragen, der wiederholt durch die Detailaufnahmen, zum Beispiel in der intertextuell angelegten Eröffnungssequenz, und durch die fragmentierenden Spiegelblicke, als zerstückelter erscheint. Entsprechend ist mehrfach davon die Rede, dass sich Elvira »den Schwanz« in Casablanca abgeschnitten habe – der ›Orient‹ wird auch hier, wie in FAUSTRECHT DER FREIHEIT, als Topos einer alternativen Geschlechterordnung aufgerufen, jedoch negiert. Der transsexuelle Körper erscheint in Fassbinders Film mithin als zerschnittener und verstümmelter, nicht aber als eine andere, integrale Körperform. Grundlage einer solchen Bewertung ist offensichtlich der Freud’sche Monismus, der den weiblichen Körper als kastrierten imaginiert, also die phallozentrische Ordnung, die für

10 Karin Krauthausen liest die Szene als Reflex auf die Produktionsverhältnisse, auf die Zivilisationstechnik des Schlachtens, die das Tier zu purem Fleisch werden lässt und die Grenzen zwischen Tier und Mensch im Sinne des Foucault’schen Konzepts der Biopolitik aufhebt. Darüber hinaus parallelisiert Krauthausen den Schnitt der Kamera dem des Metzgers; Krauthausen, Karin: »Schlachten. Anmerkungen zu Rainer Werner Fassbinders IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN«, in: Anne von der Heiden (Hg.), Politische Zoologie, Zürich u.a.: Diaphanes 2007, S. 355-371. Peucker bezieht die Szene zudem auf Fritz Hipplers antisemitischen Film DER EWIGE JUDE (D 1940), in dem eine koschere Schlachtung als Inbegriff jüdischer Bestialität vorgeführt wird; B. Peucker: The Castrato’s Voice, S. 107.

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Fassbinder unhintergehbar zu sein scheint, wie seine Verfilmung von Jean Genets Roman Querelle de Brest ebenfalls nahe legt. Die Operation, die Elvira zu einer Frau werden lässt, erscheint demgemäß als Entfernung eines Körperteils, nicht aber als geschlechtliche Transformation. Die Schlachtung könnte als Allegorie dieser körperlichen ›Verstümmelung‹ gelesen werden. Fassbinder schreibt also einerseits den misogynen Exklusionsdiskurs der Psychoanalyse fort, kündigt andererseits jedoch den identitären Diskurs über Transsexualität auf. Eine der Figuren bietet die in transsexuellen Biographien häufig geäußerte und von Ärzten eingeforderte Erklärung an, dass Elviras ›Seele‹ eine Frau gewesen sei, doch diese Argumentation, die eine Trennung von Leib und Körper (im Plessner’schen Sinne)11 vornimmt, wird in Frage gestellt. Elvira habe sich, so heißt es an anderer Stelle, ohne Grund operieren lassen und sei nicht einmal homosexuell gewesen. Eine Begründung wird also nicht geliefert bzw. die Motivation für die Operation bagatellisiert – Saitz hatte lediglich geäußert: »Ja, wenn Du ein Mädchen wärst.« Die Transsexualität wird in Fassbinders Film zum Inbegriff des Anti-

11 Die Soziologin Gesa Lindemann, die in ihrer Studie Das paradoxe Geschlecht auf eigene Erfahrungen als Beraterin zurückgreift, beschreibt die Transsexualität, die die Differenz von Begehren, Affekt und körperlicher Ausstattung ausagiert, vor dem Hintergrund von Helmuth Plessners Philosophie, das heißt in Bezug auf seine Trennung von Leib als affektivinnerlicher Erfahrung und Körper, der im sozialen Interaktionsraum als Symbol für Geschlecht und als geschlechtliches Ding wahrgenommen wird; Lindemann, Gesa: Das paradoxe Geschlecht. Transsexualität im Spannungsfeld von Körper, Leib und Gefühl, Frankfurt a.M.: VS 1993, S. 38f. In diesem öffentlichen Raum herrschen gesellschaftlicher Druck und soziale Kontrolle, denen auch die geschlechtlichen Darstellungen unterworfen sind – Lindemann betont in stärkerem Maße als Stefan Hirschauer (Die soziale Konstruktion der Transsexualität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993) die soziale Überwachung und die Grenzen geschlechtlicher Variabilität. In Lindemanns Fallstudien zeichnet sich ab, dass das biologisch vorgegebene Geschlecht zunächst derealisiert wird (G. Lindemann: Das paradoxe Geschlecht, S. 66f.), als fremd und unnormal erscheint. Dann erfolgt der operative, medizinisch überwachte Geschlechtswechsel und im Idealfalle die Normalisierung des neuen Geschlechts. In Fassbinders Film wird die ›Derealisierung‹ kaum motiviert.

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Identitären, zum Ausdruck von Nicht-Identität, wie sie filmisch vielfältig umgesetzt wird. Mit dieser Verweigerung einer identitären queeren Narration wird allerdings die Funktionsstelle des jüdischen Protagonisten problematisch.

G ESCHICHTE

ODER DAS

L EID S CHOPENHAUERS

Die Identitätsauflösung Elviras, zu der brisanterweise auch ihr Geschlechterwechsel gehört, erscheint aus einer bestimmten Perspektive als historisch bedingte Verlustgeschichte, die während des Zweiten Weltkriegs mit dem Trauma der Elternlosigkeit und der verhinderten Adoption beginnt – Ausdruck für die herrschenden Sexualtabus und die Lieblosigkeit der deutschen Täter – und die sich in der Begegnung mit Saitz fortsetzt. Das malträtierte Kind Erwin trifft auf ein Opfer der Nazi-Herrschaft, so dass zwei analoge Biographien traumatisierter Existenzen vorgestellt zu werden scheinen. Auch Saitz wäre aus dieser Perspektive ein verhindertes Subjekt, das auf sein Trauma bezogen bleibt und durch die gesellschaftliche Exklusion infantilisiert wird. Doch Erwin erfährt ausgerechnet durch diese Figur eine zweite Deterritorialisierung, die den Verlust seiner Männlichkeit mit sich bringt. Der ehemals heterosexuelle Mann der Mittelklasse wird durch die Begegnung mit dem jüdischen Opfer, das mit den Tätern kollaboriert, erneut an die gesellschaftliche Peripherie gedrängt. Und ist die Transsexualität als Kastration lesbar, so wird der jüdische Mann zum Täter, zum ›großen Schlachter‹, der – einem weit verbreiteten antisemitischen Topos vor 1945 analog – die deutsche Männlichkeit bedroht.12 Eine ähnliche Rolle kommt Saitz auch dann zu, wenn das ›Paar‹ aus dem Melodrama als Kontrafaktur von Franz Biberkopf und Reinhold gelesen wird, die Fassbinder bereits in früheren Produktionen wie KATZELMACHER (BRD 1969) nachgestellt hat. Immerhin wird der mythisierte Böse, der Biberkopf und seine Geliebte zur Schlachtbank führt, in Fassbinders Döblin-Verfilmung von dem gleichen

12 Vgl. dazu insbesondere Dinter, Arthur: Die Sünde wider das Blut. Ein Zeitroman, Leipzig: Matthes und Thost 1920.

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Schauspieler, von Gottfried John, gegeben, der hier nun den jüdischen Immobilienhai spielt.13 Die beiden Biographien können also einerseits als parallele Traumageschichte der Kriegs- und Nachkriegszeit gelesen werden – dann wäre auch Saitz ein Opfer –, andererseits als unglückliche Liebesgeschichte, in der die jüdische Figur für eine gesellschaftliche Marginalisierung des heterosexuellen Mannes Erwin sorgt. Darüber hinaus tritt neben die historische Perspektive eine rivalisierende philosophischastrologische Lesart, die die zeitgeschichtliche Dimension suspendiert. Zu diesem Narrativ gehören die einleitenden Ausführungen über die Mondjahre,14 die Elviras Tod zu einem Fatum erklären, sowie die zahlreichen Schopenhauer-Referenzen, die die zunehmende Entindividualisierung, den Selbstverlust Elviras in gewissem Sinne zur Selbstermächtigung umcodieren und das Leiden zum Grundexistenzial des Menschen verallgemeinern. Die Transsexuelle tritt nach und nach aus der ›Welt als Vorstellung‹ und damit aus dem scheinhaften individuierten Leben aus, wie man mit Schopenhauer formulieren könnte, wobei der Film von Beginn an eine Differenz zwischen ›Vorstellung‹ und ›Lebensprinzip‹ etabliert. Christoph beispielsweise adressiert Elvira gleich in dem eröffnenden Streit als überflüssiges »Ding«, das man eliminieren müsse, das fett sei und aus den Nähten gehe – die Kamera fokussiert hingegen die schlanke Gestalt von Volker Spengler.15 Filmbild und Sprache tre-

13 Diese Lesart schlägt Inga Scharf (Nation and Identity in the New German Cinema. Homeless at Home, New York: Routledge 2008, S. 155) vor. 14 Bodek hat gezeigt, dass diesen Ausführungen ein Bezug zum jüdischen Kalender eingelagert ist; Bodek, Janusz: Die Fassbinder-Kontroversen: Entstehung und Wirkung eines literarischen Textes. Zu Kontinuität und Wandel

einiger

Erscheinungsformen

des

Alltagsantisemitismus

in

Deutschland nach 1945, seinen künstlerischen Weihen und seiner öffentlichen Inszenierung, Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 1991, S. 208f. 15 Diese Verkennung wiederholt sich an späterer Stelle zwischen Anton Saitz, dem früheren Freund, und Elvira. In der Sekundärliteratur lässt sich die Dominanz dieser Hassrede, dieser ›Vorstellung‹ verfolgen, denn vielfach sehen die Interpreten offensichtlich genau das, was der Sprecher intendiert: eine hässliche, aus dem Leim gegangene Frau. Blumenberg erklärt: »Und in der Tat bietet der dickliche, winselnde, mit Frauenkleidern behängte Schauspieler Volker Spengler einen eher grotesken als erotisch

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ten auseinander und führen die dubiose Welt der ›Vorstellung‹ als solche vor. Und lösen sich die distinkten Konturen des Individuellen zunehmend auf, sind die Subjekte nicht mehr klar voneinander zu unterscheiden, so könnte man diese ›Verstrickung‹ der Leiber vor dem Hintergrund Schopenhauers als Lebensprinzip deuten, als Zeichen dafür, dass der Schleier der Maja, der die Individuen voneinander abtrennt, zerreißt, dass die Welt der Vorstellung verlassen wird und das Lebensprinzip zu herrschen beginnt. 16 Der Film etabliert darüber hinaus eine Opposition zwischen Denken bzw. Sprechen auf der einen Seite und der Unfähigkeit zur Reflexion auf der anderen. Elvira lasse sich gehen und verliere ihr Gehirn, so monieren ihr ehemaliger Freund und die frühere Ehefrau. Beim Besuch im Kloster – der Bezug zu Schopenhauer wird hier durch einen prominent ins Bild gesetzten Buchtitel unterstrichen – spricht Elvira davon, ihre Sprache zu verlieren; beim Besuch von Saitz ist die Rede von einem Denken, das das Denken vergessen lässt. Der sich theatralisch strangulierende Arbeitslose in Fassbinders Film zitiert ebenfalls Schopenhauer, und zwar dessen Überzeugung, ein Selbstmord verbiete den Dingen, sich als wahr zu behaupten und durchdringe den Schein der Realität. Er sei keine Negation des Lebens, sondern dessen Ausdruck bzw. die Aufgabe einer spezifischen Erscheinungsweise als Ausdruck des Willens – eine konsolatorische Erklärung, die den Selbstmord zur Selbstermächtigung umcodiert und sicherlich aus biographischer Perspektive aufschlussreich ist, denn Fassbinder thematisiert in diesem Film den Selbstmord seines Freundes. Diese intertextuelle Referenz legt eine bestimmte Lesart des Selbstverlusts Elviras und ihrer gesellschaftlich-existenziellen Deplat-

stimulierenden Anblick«; Blumenberg, Hans C.: Kinozeit. Aufsätze und Kritiken zum modernen Film 1976-1980, Frankfurt a.M.: Fischer 1980, S. 158. 16 Diese ›Verstrickung‹ wird auch als erotischer Kannibalismus ausgelegt, als Einverleibung, wie das Märchen von Brüderlein und Schwesterlein nahelegt. Die Prostituierte erzählt von Geschwistern, die von einer Hexe in einen Pilz und eine Schnecke verwandelt werden. Als die Schwester Hunger bekommt, beginnt sie (erlaubterweise) von ihrem Bruder, dem Pilz, zu essen und nagt ihm damit Körperteile ab. (Geschwister-)Liebe erscheint damit als kannibalistischer Akt und als Einverleibung des anderen jenseits der spekularen Identitätsgrenzen des Körpers.

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zierung nahe. Erzählt wird aus dieser Perspektive nicht etwa die Leidensgeschichte eines Opfers, das an der historischen Entwicklung zu Grunde geht, sondern die eines Subjekts, das aus der Welt der Vorstellungen (als Scheinwelt) austritt und das existenzielle Leiden anerkennt. Diese konsolatorische Variante nivelliert bzw. entkonkretisiert die historischen Kontexte und damit das Programm einer geschichtlichen Kontinuitätsbildung. Ist nach Schopenhauer das Dasein per se eine Quelle des Leidens ohne Zweck und Ziel, so erscheinen vor diesem Hintergrund auch der Zweite Weltkrieg und die Konzentrationslager als Signum eines allgemeinen Leidens, das in der zentralen Schlachtszene seinen allegorischen Ausdruck findet. Dieser Lesart widerspricht die an anderer Stelle des Films formulierte Aussage über den Zusammenhang von Kapitalismus und Konzentrationslagern, die eine Analyse der historischen Situation versucht.

D ER

JÜDISCHE

S PEKULANT T ÄTER

ALS DEGENERIERTER

Die jüdische Figur des Films entspricht dem Unternehmer aus dem hoch umstrittenen Theatertext Der Müll, die Stadt und der Tod bis hin zu den bevorzugten Darstellungsverfahren, dem epischen Bericht. 17 Die ›Geschichten‹ über Saitz, die als vielfältige und widersprüchliche ausgewiesen werden, als Konstruktionen mithin, legen nahe, dass seine Biographie das Resultat einer fatalen Kontinuität ist, die aus dem Opfer einen instrumentalisierbaren Täter werden ließ. Seinen Reichtum verschafft sich Saitz durch Gaunereien, also im kriminellen Be-

17 In diesem Theaterstück, das sich durch seinen Antirealismus auszeichnet und mit melodramatischen Gesten wie der Suche nach reiner Liebe arbeitet, wird das Stereotyp des reichen Juden plakativ umgesetzt, allerdings als Figurenrede ausgewiesen; die dialogische Gattung Drama führt mithin zur Relativierung der antisemitischen Positionen. Fraglich ist, warum die filmische Repräsentation des reichen Juden keine Empörung ausgelöst hat; zu vermuten ist, dass die weitaus realistischer wirkenden Filme – Bilder suggerieren, wie die Filmgeschichte belegt, die Wirklichkeit und das Geschehensein des Erzählten, Bilder lügen nicht – das Klischierte der Darstellung in den Hintergrund treten lassen und das Stereotype der jüdischen Figuren dissimulieren.

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reich, und durch buchstäbliche ›Arbeit im Fleisch‹, das heißt durch Schlachtungen und ein Bordell, durch informalisierte und stigmatisierte Tätigkeiten an der Peripherie der Gesellschaft. Von einer Rückkehr der Juden nach 1945 in das anerkannte Zentrum der Gesellschaft, in die Sphäre akzeptierter und honorierter Arbeit, kann keine Rede sein, so die Diagnose des Films. Der Kapitalismus benötigt vielmehr an seiner Peripherie kriminelle bzw. informelle Arbeit 18 und bedient sich nach 1945 unantastbarer Täter (als Opfer), um Kapital akkumulieren zu können – so ergänzt die zweite Erzählung über Saitz. Die Kamera fokussiert die Skyline der Frankfurter Hochhäuser, während der Erzähler von der Schmutzarbeit, genauer: von der Bodenspekulation des reichen Juden und dem Schutz durch die Stadt berichtet. Der Plan zur Umstrukturierung der Häuser sei bereits ausgearbeitet gewesen und man habe sich der (aufgrund der deutschen Schuld) unangreifbaren Gestalt eines Juden bedient, um diesen auszuführen. Der Erzähler betont zudem die Identität von KZ- und Bordellregeln, die ein perfektes Funktionieren und damit Reichtum (durch welche Arbeit auch immer) ermöglichen. Damit wird zumindest indirekt die (marxistische) These bestätigt, dass der Faschismus die logische Konsequenz des Kapitalismus sei, wie unter anderem Peter Weiss in seinem Oratorium Die Ermittlung betont hat. Tertium comparationis von KZ, Bordell und Schlachthof ist die ›Arbeit im Fleisch‹, so dass die Schlachtszene aus dieser Perspektive als Allegorie des Ausbeutungszusammenhangs erscheint. Fassbinder greift mit dem Sujet der Bodenspekulation ein heiß debattiertes Thema der 1960er und 1970er Jahre auf,19 das in bürgerlichen Kreisen ebenso emotionalisiert war wie in linken und dessen Argumente denen der Kaiserzeit mit ihren ›Millionenbauern‹ durchaus glichen.20 In einer hoch besetzten ›Gefühlspolitik‹ wurde beispielswei-

18 Krauthausen hält fest, dass die Strukturen des Konzentrationslagers an die Ränder der neoliberalen Welt der BRD anschließbar seien; K. Krauthausen: Schlachten, S. 366. 19 Bodek betont die Enteignungen von jüdischem Besitz in diesem Viertel, die die Spekulationen in den Nachkriegsjahren erst möglich gemacht haben; Bodek: Fassbinder ist nicht Shakespeare, S. 190f. 20 Führer, Karl Christian: Immobilienbesitz und Spekulation – ein deutsches Trauma? Vortrag in Hannover am 27. November 2010 auf dem Workshop »Spekulation und Spekulanten in wissenschaftlicher Perspektive. Dimen-

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se der Boden als nicht vermehrbares Gut begriffen, das deshalb anders zu behandeln sei als ein markwirtschaftliches Objekt.21 Bodenspekulation wurde zudem nicht als ökonomisches Faktum, sondern als Angriff auf das Soziale begriffen. Karl Christian Führer hat nachgewiesen, dass die Bodenspekulation, die eng mit der Stadt als urbanem Phänomen verknüpft war, zwar das Symbol für irritierende soziale Transformationsprozesse war, nicht aber ihr Auslöser. 22 Fassbinder arbeitet dieses hoch emotionalisierte Sujet, also den Spekulanten als Sündenbock, in sein Melodram ein und personalisiert die Kritik, während die marxistische Position die Spekulation als systemisches Phänomen deutet. Bleiben bei IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN alle sonstigen Akteure der Stadtpolitik unsichtbar und namenlos, so verkörpert ausgerechnet der historisch hoch stigmatisierte Typus des ›reichen Juden‹ das kapitalistische System der Ausbeutung. Damit knüpft Fassbinder an ein traditionsreiches Verfahren der Personalisierung von kapitalistischen Missständen an, das eine Aufspaltung in gute versus schlechte Ökonomie mit sich bringt und nicht erst seit Gustav Freytags Roman Soll und Haben Konjunktur hat. Fassbinder ruft darüber hinaus eine Vielzahl an weiteren antijüdischen Zuschreibungen auf, wenn der Film ein völlig dekadentinfantilisiertes Bild des jüdischen Reichen entwirft, der auf diese Weise aus dem Männlichkeitsdiskurs ausgeschlossen wird – auch das hat Tradition.23 Und ist der Kapitalismus in eine Phase eingetreten, in der vornehmlich durch Konkurse Geld gemacht wird und die Arbeit verschwindet, so wird das Reich eines unablässigen Spiels, eines puren

sionen eines umstrittenen Phänomens« (erscheint 2013 im Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte). 21 Ebd., S. 6. 22 Die Innenstädte wurden in diesem Zusammenhang als verödete wahrgenommen, weil sie zunehmend ›parasitäre Wirtschaftszweige‹ wie Banken und Büros beherbergten (ebd., S. 9), und es wurde massive Kritik an der Massenmotorisierung geübt – auch bei Fassbinder kommt die aufgelöste Elvira gleich zu Beginn fast unter die Räder eines Autos. 23 Vgl. dazu u.a. Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung, München: Matthes & Seitz 1997; ebenso Schößler, Franziska: Börsenfieber und Kaufrausch: Ökonomie, Judentum und Weiblichkeit bei Theodor Fontane, Heinrich Mann, Thomas Mann, Arthur Schnitzler und Émile Zola, Bielefeld: Aisthesis Verlag 2009, u.a. S. 82f.

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Müßiggangs beschworen. Saitz ist nicht nur Tennisspieler, sondern spielt unablässig, tanzt, wettet, lässt Gangsterfilme nachstellen und übernimmt buchstäblich die Rolle eines Kindes in dem eingeblendeten Jerry Louis-Film. Auf diese Weise wird die rekurrente Spielmetapher fortgeschrieben, die im ausgehenden 19. Jahrhundert die Tätigkeiten im Finanzsektor, zum Beispiel an der Börse, als unproduktive NichtArbeit stigmatisierte.24 Ein besonderer Skandal der Bodenspekulation bestand in der öffentlichen Wahrnehmung seit den 1960er Jahren entsprechend darin, dass ohne Anstrengung, also spielerisch verdient wurde.25 Fassbinder knüpft zudem (unter anderem durch die eingespielten Filme und Lieder) an den traditionsreichen Konnex von Kapitalismus und Amerika an, wie ihn beispielsweise Werner Sombart in seiner mehrbändigen Geschichte des Kapitalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts betont. Der reiche Jude aus IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN wird also, anders als in Der Müll, die Stadt und der Tod, ridikülisiert und infantilisiert26 – und er ist nicht einmal liebesfähig, was der jüdischen Figur aus dem Theaterstück immerhin attestiert wird. Fassbinders Rechtfertigung für seine Fortschreibung antijüdischer Klischees könnte wie folgt lauten: Die Opfer, die sich in einem Zwangssystem einrichten, entwickeln fragwürdige Haltungen und werden durch ihre Unterdrückung zu monströsen Gestalten. »Es gibt keine armen Opfer und keine bösen Unterdrücker, sondern die meisten […] Opfer haben Möglichkeiten gefunden und zum Teil eben nicht erfreuliche Möglichkeiten, sich zu behaupten.« 27 Die Monstrosität des jüdischen Spekulanten stellt jedoch keine zeitgenössische Form der Degeneration dar, sondern bedient altbekannte antijüdische Bilder sowie neue Schuldzuweisungen nach 1945. Das ehemalige KZ-Opfer

24 Ebd., S. 53f. 25 K.C. Führer: Immobilienbesitz und Spekulation, S. 2. 26 Fassbinder, Rainer Werner: »Philosemiten sind Antisemiten. Ein Gespräch mit Benjamin Henrichs über die Reaktionen auf Der Müll, die Stadt und der Tod«, in: Michael Töteberg (Hg.), Rainer Werner Fassbinder. Die Anarchie der Phantasie. Gespräche und Interviews, Frankfurt a.M.: Fischer 1986, S. 82-85, hier S. 83. Er versuche damit, seine Kindheit zurückzuholen, die er nicht erlebt habe, so die psychologische Erklärung von S.-J. Bae: Rainer Werner Fassbinder und seine filmästhetische Stilisierung, S. 222. 27 W. Limmer: Rainer Werner Fassbinder, S. 83.

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hält beispielsweise die Erinnerung an die Vergangenheit und damit seinen auratisierten Opferstatus unablässig präsent – sein erstes Codewort lautete »Bergen-Belsen« und das wiederholt betonte A in seinem Nachnamen verweist auf Auschwitz. Diejenige Zuschreibung, die den jüdischen Spekulanten auf den rekurrenten antijüdischen Rachetopos festlegt – die Ehefrau Elviras erklärt, Saitz würde sich (aufgrund eines kritischen Interviews) an der Tochter rächen –, wird zwar (zumindest auf den ersten Blick) durch den Plot widerlegt, nicht jedoch das ebenfalls traditionsreiche Stereotyp einer hypertrophierten Sexualität. Der ›Türhüter‹ des Unternehmers, den Günther Kaufmann gibt, behauptet, dass eine Störung beim Geschlechtsverkehr das Schlimmste sei, was man Saitz antun könne. Dieser schläft mit der Prostituierten, kaum hat er die Wohnung Elviras betreten. Die Kamera fokussiert bezeichnenderweise den Geldschein in seiner Hand, als er neben Hanna liegt. Erotische Verhältnisse seien für Juden vor allem ökonomische, so monierte neben anderen schon Werner Sombart.28 Problematisch ist also, dass die von Fassbinder behauptete Degeneration der Opfer in der Nachkriegsgesellschaft zu einer Affirmation antijüdischer Imagines führt (und zwar auf der Ebene der auktorialen Erzählfunktion); der zum Täter gewordene jüdische (Boden-)Spekulant als Opfer ist von antisemitischen Täterphantasien nicht zu unterscheiden. Problematisch ist zudem, dass zwei Erzählungen, eine historische und eine existenzialistische universalen Leidens, die die Vergangenheit zu einem Exemplum des unerträglichen Weltzustandes werden lässt, unvermittelt nebeneinander stehen. Die Parallelbiographien zweier minorisierter Figuren weisen zudem Unbestimmtheitsstellen auf, die ihr Verhältnis verunklaren und nicht zwischen Analogie und einem deterritoralisierenden Kausalverhältnis unterscheiden, das dem jüdischen Akteur die ›Entmännlichung‹ und forcierte gesellschaftliche Exklusion des Transsexuellen zuschreibt. Fassbinder konterkariert die queeren Identitätsdiskurse seiner Zeit (weil er den phallozentrischen Diskurs anerkennt), bietet in ethnischer Hinsicht jedoch eine antijüdische Identitätskonstruktion an, die historische Klischees fortschreibt (wobei ersteres die Ursache für zweiteres ist und auf die

28 Vgl. dazu u.a. Sombart, Werner: »Die Rationalisierung der Liebe durch die jüdische Religion und ihre Bedeutung für das Wirtschaftsleben«, in: Frauen-Zukunft 1 (1911), S. 791-804.

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Entscheidung für ein bestimmtes Genre, das Melodram, zurückzuführen ist).

D IE S EHNSUCHT DER V ERONIKA V OSS : J ÜDISCHE K ÄLTE UND WARME S EHNSUCHT Der Film DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS mit Rosel Zech in der Hauptrolle (die Fassbinder von seiner Bochumer Zeit mit Peter Zadek her kannte), ist Bestandteil der BRD-Trilogie und konzentriert sich auf das Jahr 1955 – bis hin zu den sorgfältig ausgewählten Liedtiteln, die in diesem Jahr die Charts stürmten. Auch dieser Film handelt von der Sehnsucht nach Glück und einem träumerischen Leben in Leichtigkeit, wobei es insbesondere zwei Medien sind, die diese glückselige Traumwelt zu ermöglichen scheinen: der Film (vor allem in seiner Hollywood-Variante) und die Drogen bzw. in einem weiteren Sinne das Spiel, zu dem sowohl die von Fassbinder häufig anachronistisch eingesetzten Spielautomaten in Lokalen gehören als auch die ›Sportspiele‹; der Journalist Krohn ist nicht von ungefähr Sportreporter, der sich mit Siegern und Verlierern beschäftigt. Die Medien Film und Drogen fungieren als »schleichendes Gift«, das den fragilen Individuen (unterschiedlicher Herkunft) schließlich den Tod bringt und von einer skrupellosen kapitalistischen Habgier zur Bereicherung eingesetzt wird. Die ›kalten‹ Ausbeutungsmaschinerien werden dabei bezeichnenderweise als jüdisch und amerikanisch markiert, so dass auch dieser Film die traditionsreiche Kapitalismuskritik des 19. Jahrhunderts fortschreibt. Fassbinder entwirft auch hier ein Tableau aus weiblichen (queeren) und jüdischen Figuren, rekonstruiert jedoch keine komplexe Nachkriegsbiographie der Täterin, die die Funktionalisierung eines auratischen jüdischen Opferstatus durch die Mehrheitsgesellschaft vorführt, sondern verschiebt die ethnische Markierung unthematisiert in den Subtext, genauer: kondensiert ihn im Namen. Im Zentrum des Melodrams steht dabei eine historische Figur, die Schauspielerin Sybille Schmitz, die für ihr bisexuelles Begehren bekannt war, also ebenfalls eine queere Protagonistin, die in der kapitalistischen Welt des Wirtschaftswunders unter die Räder kommt. Der Film über die Diva beginnt reflexiv mit einer Filmszene – Vorbild der Schauspielerfilme dieser Jahre ist SUNSET BOULEVARD (USA 1950) –, die während ihrer Entstehung (vor 1945) und etwas

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später (nämlich 1955) im Kino gezeigt wird. Fassbinder selbst, also der tatsächliche Regisseur als Filmzuschauer, und die ehemalige Diva Veronika Voss betrachten den frühen Tonfilm, der sich durch seine Rundblenden und die extremen Lichtwerte auszeichnet – Fassbinder imitiert in seinem 1955 spielenden Film, der 1982 entstanden ist, die Filmsprache jener Zeit, übernimmt beispielsweise die geometrische Aufblendtechnik und arbeitet schwarz-weiß mit harten Lichtwerten.29 Voss bemerkt an späterer Stelle ganz in diesem Sinne: »Licht und Schatten sind die Geheimnisse des Films«. Die Ereignisse dieses Film Noir erscheinen auch aufgrund der extremen Lichtverhältnisse als mysteriös, wobei die detektivische Struktur der Geschichte die Aura des Geheimnisses unterstützt. Den Blick auf SCHLEICHENDES GIFT, den Film im Film, dessen Herstellung in einem Crosscutting zusammen mit dem Resultat gezeigt wird, verstellt ein blendendes Licht, welches das Bild sternförmig rastert – Chiffre für das Glück dieser Jahre und Beginn eines Versteckspiels. So wird der Zuschauer erst nachträglich erkennen, dass der Gang der gesamten Handlung bis hin zum abschließenden Zitat in der Sterbeszene der Voss dem Filmscript SCHLEICHENDES GIFT folgt und damit einem Plot, der von einer Morphinistin und der Ausbeutung ihrer Sucht handelt; zum Schluss überschreibt Veronika Voss im gezeigten Film der Ärztin ihren gesamten Besitz. Die Zeilen »Jetzt kann ich Ihnen nur noch meinen Tod schenken« aus der früheren Produktion wird sie kurz vor ihrem Selbstmord zitieren. Die eröffnende Sequenz legt intertextuelle Spuren aus, die das Filmgeschäft auf spezifische Weise codieren. So fällt der Klappenjunge durch seinen amerikanischen Akzent auf, der in der späteren selbstreferenziellen Filmszene mit Peter Zadek erneut auftaucht, und der von Volker Spengler gespielte Regisseur ist augenscheinlich eine Postfiguration Mephistos: Er trägt die hoch gezogenen Augenbrauen, die dem Zuschauer von Gustav Gründgens Darstellung vertraut sind,30 und

29 Töteberg hält fest: »Verkantete Kameraperspektiven, Starfilter, ein ganzes Arsenal unterschiedlichster Kreis- und Wischblenden: der Formenreichtum einer vergessenen Filmsprache«; M. Töteberg: Das süße Sterben, S. 138. 30 Töteberg stellt diesen Bezug ebenfalls her (ebd., S. 137). Peter Zadek parodiert im Übrigen Max Ophüls. Der Regisseur erinnert als Postfiguration Gründgens darüber hinaus an einen Schauspieler, der nach seinen Erfolgen im Nationalsozialismus nach kurzer Spielpause wieder als erfolgreicher In-

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als irritierendes Requisit einen Regenschirm, der an den Stock des teuflischen Gesellen erinnert und die nächste Szene im Regen vorbereitet (der damit der Status eines Films aus seiner Regie zukommt). Die Traumwelt Kino wird mithin dämonisiert und erscheint als Medium der Verführung, das die Subjekte zu (tödlichen) Phantasmagorien verlockt. Die Faust-Allusion wird in den nächsten Szenen weitergeführt, denn die sich anschließende Begegnung zwischen Voss und Krohn in einem unwirtlichen Wald und sein Angebot, ihr Schutz und Schirm zu bieten (mit weitreichenden Folgen), gemahnt an das erste Treffen zwischen Faust und Gretchen. Der Selbstmord der Protagonistin in ihrem verschlossenen Zimmer, ganz in blendendes Weiß getaucht, findet entsprechend (wie mehrfach betont wird) an einem Ostersonntag statt – man hört neben den amerikanischen Songs aus dem Radio die Kirchenglocken. Die sterbende Schauspielerin erinnert damit nicht nur an das hingerichtete Gretchen, sondern auch an Fausts Osterspaziergang. Doch die Erfahrung der frühlingshaften Natur und des Osterereignisses führt hier nicht in das Leben zurück, sondern Voss gibt den Verlockungen der Phiole mit dem Gift bzw. den Schlaftabletten nach und tötet sich. Der ›Deal‹ mit Doktor Marianne Katz31 wird durch diesen Intertext als Verkauf der Seele, als Teufelspakt codiert, der hier im Rahmen der kapitalistischen Ordnung stattfindet. Als Krohn die kasernierte Voss zum zweiten Mal zu retten versucht, diese aber den Geliebten verrät – ein bei Fassbinder rekurrentes Thema –, spielt zunächst leise, dann lauter das ebenfalls 1955 herausgekommene und überaus erfolgreiche Lied Sixteen tons, das vom ausbeuterischen Kohleabbau in Amerika handelt. Das lyrische Ich kann nicht sterben, weil es dem »company store«, dem Lebensmittelgeschäft, seine Seele

tendant in der Bundesrepublik tätig sein konnte, während Veronika Voss bzw. Sybille Schmitz, eine Schauspielerin, die vor und während des Zweiten Weltkriegs ebenfalls Ruhm einheimste (und unter anderem in dem antisemitischen Hetzfilm TITANIC spielte, den Goebbels wegen zu erwartendem Kriegsdefaitismus verboten hatte), nach 1945 nicht mehr Fuß fassen konnte. 31 Die verklagte Ärztin hieß Dr. Ursula Moritz (ebd., S. 129). Töteberg betont den Zusammenhang zwischen der von Fassbinder geplanten Verfilmung des Romans Kokain von Pittigrilli, eine Hommage an Drogen, und der kleineren Produktion DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS.

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schuldet. Diese Liedzeilen entsprechen dem Plot des Fassbinder’schen Films und verstärken den kapitalismuskritischen Kontext. Auch Veronika vermag nicht (anders als Faust) über ihren eigenen Tod zu entscheiden, weil ihr Leben ganz in den Händen der Ärztin liegt. An späterer Stelle formuliert der ›Todesengel‹ Katz ausdrücklich: »Sterben darfst Du erst, wenn ich es Dir erlaube.« Damit wird Goethes Teufelspakt noch überboten, denn Faust entscheidet eigenständig über seinen Tod, auch wenn der von ihm gewählte Moment während seiner Arbeit als Landkolonisator von Mephisto als prosaischer abqualifiziert wird. Der mit visuellen und akustischen Pathosformeln unterlegte Tod der Voss wird zudem als imitatio christi erzählt, denn ihrer Abschiedsgala, die die korrupte Ärztin (als Regisseurin) für ihr Opfer inszeniert, ist die Christus-Geschichte eingeschrieben. Krohn erinnert an den kommenden Karfreitag, an die Passion Christi, woraufhin die liegende Veronika Voss fragt, ob er sie für das Lamm Gottes hielte.32 Ihr Tod am Ostersonntag erscheint damit als verschobene Postfiguration der Kreuzigung (ohne Erlösung), ihre Drogenlieferantin als Mephisto, der Teufel, den die Namensgebung jüdisch markiert.33 Der Name der Ärztin, Dr. Marianne Katz, wird gleich nach der eröffnenden Bahnfahrt von Geiselgasteig – hier befinden sich die Bavaria-Filmstudios sowie ein Villenbezirk von Schauspielern – zum Thierschplatz eingeblendet und beim späteren Besuch Krohns über gleich drei Namensschilder annonciert, also unübersehbar ins Bild gerückt. Katz ist ein sehr häufiger jüdischer Name (gebildet aus Cohen), dessen ›animalische Semantik‹ durch den ebenfalls auffällig fokussierten Namen T(h)ier(sch)platz betont wird. Der Vorname Marianne ist der der Schauspielerin selbst – ein Spiel mit Theater und Authentizität.34 Die Figur, die die Ausbeutung der schwachen Protagonisten regelrecht verkörpert und in Anlehnung an Mephisto konzipiert ist, wird

32 Im Drehbuch heißt es: »Aber Robert! Sie verwechseln mich doch nicht etwa mit einem Lamm! Robert (ernst): Ich habe nur gesagt, daß morgen Karfreitag ist. Veronika: Und das Kreuz? Glauben Sie, daß ich auch das Kreuz selbst tragen werde?«; Märthesheimer/Fröhlich: DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS,

S. 120.

33 Vgl. dazu auch Bodek: Die Fassbinder-Kontroversen, S. 226f. 34 Fassbinder hat bekanntlich in vielerlei Hinsicht Realien aufgegriffen, um die Lebenszusammenhänge seiner Schauspieler für den ästhetischen Prozess zu nutzen.

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mithin, selbst wenn es sich um einen Decknamen handelte, jüdisch markiert, ohne dass diese ethnische Zuordnung weiter ausgearbeitet bzw. ohne dass eine historisierende Begründungsgeschichte wie in 13 MONDE geliefert würde. Auch dieser Film steht damit in der Tradition einer antijüdischen Kapitalismuskritik, die die Auswüchse des wirtschaftlichen Systems jüdischen (und amerikanischen) Akteuren zuordnet, die sich der Topik nach durch Kalkül, Kälte, Rationalität und Abstraktion auszeichnen.35 Dr. Katz ist zudem ›Nervenärztin‹ – der Arztberuf (und die Psychoanalyse) wurde bekanntlich vielfach von Juden ausgeübt, da die Zugangsbeschränkungen erst im Nationalsozialismus verstärkt wurden (wie Arthur Schnitzlers Drama Dr. Bernhardi und Friedrich Wolfs Professor Mamlock zeigen). Vor dem Hintergrund dieser topischen antijüdischen Kapitalismuskritik ist das Interieur des Hauses überaus signifikant. Intendiert war, so führt Xaver Schwarzenberger aus, ein Film mit harten SchwarzWeiß-Kontrasten, der die Grauzone auslöschen sollte, also ein graphisches Schwarz-Weiß (wie in Frederico Fellinis 8  [I 1963]). Entstanden sei ein »Weiß-Film«, der die Brutalität des Lichts (als Ausdruck der Ratio und fehlender Wärme wie Liebe) visuell erfahrbar machen sollte. Das Interieur von Dr. Katz’ Villa ist entsprechend vollkommen in ein steriles Weiß getaucht, in ein Weiß, das die Gegenstände und Räume durch Lichtfluten und Überbelichtungen nahezu auslöscht, wobei selbst die Statuen und Palmen (als Reliquien der gründerzeitlichen Villen) weiß sind. Damit kehrt Fassbinder die Farbgesetze des Film Noir um, auf den er sich hier bezieht, denn nun markiert das Weiß die Gefahr, wie Töteberg betont.36 Fassbinder selbst erklärt: »Da, wo es hell wird, wo man hinschauen kann, da ist es hier gefährlicher als da, wo man nicht hinschauen kann.«37 Das Weiß ist der Ausdruck von Sterilität und Kälte – diese Begriffe fallen in den Interviews mehrfach – und signalisiert damit die ›Temperatur‹ der Ausbeutung und des ratio-

35 Vgl. dazu u.a. Sombart, Werner: Die Juden und das Wirtschaftsleben, München, Leipzig: Duncker & Humblot 1911, S. 60f. 36 Töteberg: Das süße Sterben, S. 137. 37 Zitiert nach Pott, Sabine: Film als Geschichtsschreibung bei Rainer Werner Fassbinder. Fassbinders Darstellung der Bundesrepublik Deutschland anhand ausgewählter Frauenfiguren in seiner »BRD-Trilogie«: DIE EHE DER MARIA BRAUN (1978), LOLA (1981) und DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS (1982), Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 2002, S. 211.

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nalistisch-kapitalistischen Kalküls. Kälte ist spätestens seit der Romantik, so hat Manfred Frank gezeigt,38 die zentrale Chiffre für ›herzlose‹ ökonomische Operationen, wie sich beispielhaft in Wilhelm Hauffs Erzählung Das kalte Herz sowie den Romanen von Theodor Fontane, Thomas und Heinrich Mann zeigt39 – um nur einige wenige Autoren und Texte zu nennen. Diese Kälte wird häufig mit Fremdheit assoziiert und in den letztgenannten Romanen, dem gängigen Zusammenhang von Antisemitismus und Antikapitalismus um 1900 entsprechend, mit jüdischen Akteuren. Man könnte das Weiß der Interieurs zudem allegorisch lesen: Es suggerierte dann die Unschuld, in der sich Juden als Opfer in der Bundesrepublik bewegen und die mögliche jüdische Verbrechen (buchstäblich) unsichtbar macht. Nach 1945 werden Juden, so ein Mehrheitsdiskurs, als grundsätzlich exkulpiert und unangreifbar wahrgenommen, weil sie einen auratisierten Opferstatus für sich in Anspruch nehmen können – eine Zuschreibung, die beispielsweise Martin Walsers Drama Kaschmir in Parching verhandelt und die in Die Stadt, der Müll und der Tod begründet, warum sich die Stadtväter jüdischer Mittels- und Strohmänner bedienen. Firmiert die Jüdin Katz durch die intertextuellen Einschreibungen als Mephisto, der Veronika Voss Haus und Seele verkauft, so vermag dieser Teufel – die Gleichsetzung von Juden und Teufeln gehört fest zum antijüdischen Repertoire40 – in aller Unschuld, in einem buchstäblich fleckenlosen, reinen Raum zu agieren, in dem jegliches Vergehen unsichtbar wird. In diesem makellosen Raum findet eine systematische Ausbeutung derjenigen statt, die nach 1945 nicht wieder Fuß zu fassen vermögen. Anders als bei IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN bleibt dabei die Vorgeschichte der Ärztin ausgespart. Die Figur wird nicht mit einer Opferbiographie ausgestattet,

38 Frank, Manfred: »Steinherz und Geldseele. Ein Symbol im Kontext«, in: Ders. (Hg.), Das kalte Herz. Texte der Romantik, Frankfurt a.M./Leipzig: Insel 1996, S. 257-400. 39 Schößler: Börsenfieber und Kaufrausch, S. 127f. und 154f. 40 Vgl. dazu Thiede, Rolf: Stereotypen vom Juden. Die frühen Schriften von Heinrich und Thomas Mann. Zum antisemitischen Diskurs der Moderne und dem Versuch seiner Überwindung, Berlin: Metropol 1998, S. 96; ebenso Elsaghe, Yahya: Die imaginäre Nation. Thomas Mann und das »Deutsche«, München: Wilhelm Fink 2000, S. 201f.

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sondern erscheint als reine Täterin jenseits der (ehedem problematischen) Degenerationstheorie Fassbinders. Der Film suggeriert zudem eine Kollaboration von amerikanischen und jüdischen Akteuren, die Fassbinder über das Filmscript von Peter Märthesheimer hinausgehend durch die nahezu stumme Rolle Günther Kaufmanns forciert, der in der aseptischen Sphäre der Ärztin als Drogenkurier agiert. Die Geräuschkulisse der Praxis dominiert zudem ein amerikanischer Radiosender, der »sentimental goodies« zu Gehör bringt, darunter das leitmotivische Lied Memories are made of this von Dean Martin, das 1955 ebenfalls ein großer Erfolg war. Der Song artikuliert die Sehnsucht der Hauptfigur nach der Vergangenheit und propagiert einen sentimentalen Liebesmythos, der die Traumproduktion antreibt bzw. für die kapitalistische Ausbeutungsmaschinerie anfällig macht. Die Filmindustrie als die andere Traumfabrik scheint allem voran auf die Produktion eines sentimentalen Mainstreams abzuzielen, wie die nichtssagenden Titel dokumentieren. Im Büro des Produzenten Prätorius hängt ein Plakat mit dem aussagekräftigen Titel »So lange Du da bist«; der Film, den der fiktive Regisseur (Peter Zadek) dreht, heißt »Der blaue Himmel«. Sein Büro ist nicht von ungefähr ein repräsentativer Machtraum, der über die gleiche Ausstattung verfügt wie das Pressebüro (hier signalisiert die pompöse Statue eines Elefanten den Zusammenhang von Kapitalismus und Imperialismus) und die Villa der Diva, die von zwei Kerzen tragenden Mohren dominiert wird (ähnlich wie Innstettens Zimmer in Fassbinders FONTANE EFFI BRIEST, BRD 1974). Inbegriff des sentimentalen Mainstreams ist Hollywood, das während des letzten großen Auftritts von Veronika Voss ins Spiel gebracht wird: Sie phantasiert den Neubeginn ihrer Karriere in Amerika und nennt die drei großen Firmen Goldwyn Meyer, Twenty Century Fox und United Artists. Fassbinders Film unterscheidet damit zwischen dem Hollywood-Mainstreamfilm als Inbegriff mephistotelischer Verlockung, als Fabrik, in der Träume gemacht und verkauft werden, und dem Auteurfilm, der zwar das melodramatische Format aufnimmt, den Zusammenhang von Kapitalismus und Sentiment jedoch ausstellt. Zu den Opfern der Ärztin gehört ein ausdrücklich als jüdisch gekennzeichnetes Paar (buchstäblich durch die KZ-Nummern am Arm), die Treibels, die in einer opulenten Villa wohnen und reich zu sein scheinen; aufgerufen wird mithin erneut die im ausgehenden 19. Jahrhundert dominante stereotype Einheitskategorie des reichen Juden. Die

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Treibels, die wohl nicht zufällig an die sozial aufgestiegene und hartherzige Familie des Kommerzienrats aus dem bekannten FontaneRoman erinnern, verfügen in ihrer Villa über Kunstsammlungen und wertvolle Einrichtungsgegenstände. Damit schreibt der Film nicht nur die problematische Zuordnung von Reichtum und Judentum bzw. den Fokus auf wenige reiche jüdische Unternehmer und Börsianer fort (Kehrseite sind die zahlreichen verarmten Juden, die über den Topos des Luftjuden beschrieben wurden41), sondern fraglich bleibt auch, auf welche Weise die Überlebenden des Holocaust ihren (annektierten) Besitz retten konnten. Durch den unkommentierten Reichtum des (morphinsüchtigen) jüdischen Paares nivelliert Fassbinder in gewissem Sinne die Geschichte der Enteignungen. Besonders irritierend ist, dass diese Figuren als die anderen Opfer der Ärztin mit der erfolglosen Schauspielerin parallelisiert werden. Denn sind die Schmerzen der Treibels die Folgen des Lagers, so leidet Voss an dem Misslingen ihrer Karriere bzw. sie wird durch ihre eigenen Filme wie SCHLEICHENDES GIFT verführt. Der Schauspielerin und ihrem melodramatischen Schicksal gehören darüber hinaus die Sympathien der Kamera und das Zentrum der Erzählung, während die jüdischen Charaktere als marginalisierte Spiegelfiguren fungieren und aufgrund der hier vorherrschenden Dunkelheit unheimlich und mysteriös erscheinen. Das Paar legt darüber hinaus einen auffälligen Rationalismus in dem Geschäft mit dem Glück an den Tag, während Veronika Voss ihren romantischen Phantasien verhaftet bleibt. Herr Treibel erklärt, dass die Steine seines Hauses sorgsam gezählt seien und dass sie genau wüssten, was ihnen gehöre. Die Vase, die eine zerbrochene ersetzen soll, sei kostbarer als ein Mensch und er habe Buch geführt über das Glück, das ihm noch zustehe. Ausgerechnet durch eine jüdische Figur findet das Geschäft mit dem Glück zu einer Sprache, die dessen ›kalten Rationalismus‹ enthüllt. Was also beide Filme grundiert, ist die Annahme, der ›kalte‹ Kapitalismus sei eine unmittelbare Fortführung des Nationalsozialismus, und zwar mithilfe der (unangreifbaren) jüdischen Überlebenden, die im Film IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN ausdrücklich von der kapitalistischen Ordnung instrumentalisiert werden. Während dieses Melodrama

41 Berg, Nicolas: Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2008.

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eines Transsexuellen durch seine allegorische Struktur die Doppelbiographien bzw. das Verhältnis der Figuren unbestimmt lässt und auch auf diese Weise antijüdische Imagines aufruft, wird in VERONIKA VOSS keine biographische Vertiefung der Täterfigur vorgenommen und so das Stereotyp ›jüdischer Teufeleien‹ auf plane Weise fortgeschrieben. Der Film nimmt noch dazu eine spiegelbildliche Umkehr vor, denn die durch ihren Namen jüdisch markierte Ärztin Katz erscheint geradezu als Schwester der KZ-Ärzte, die über Leben und Tod verfügt; sie ist der Todesengel, der dem jüdischen Paar und Veronika Voss (nachdem sie ihr das letzte Armband abgenommen hat) den Tod befiehlt. Sie ›schlachtet‹ die leidenden Figuren, ganz ähnlich wie Saitz in einer bestimmten Lesart von IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN den Mann Erwin zum Transsexuellen ›verstümmelt‹. Fraglich wird damit, ob nicht eine Analyse des gesellschaftlichen Machtzentrums statt seiner Peripherien geeigneter gewesen wäre, um die bundesdeutschen Hierarchien vorzuführen. Dann hätte zumindest die fatale Ähnlichkeit von degenerierten Opfern mit den ›jüdischen Monstern‹ der antisemitischen Propaganda vermieden werden können und das Zentrum der weißen, männlichen Macht wäre nicht unmarkiert geblieben. Allerdings wäre damit eine reflexive Einschreibung des eigenen Status als Außenseiter, den Fassbinder als Künstler für sich in Anspruch nahm, in die Tableaus exkludierter Figuren unmöglich gewesen.

L ITERATUR Bae, Sang Joon: Rainer Werner Fassbinder und seine filmästhetische Stilisierung, Remscheid: Gardez! 2005. Bensoussan, Georges: »›Wir sitzen auf einem Vulkan.‹ Rainer Werner Fassbinder über Deutschland, Antisemitismus und Homosexualität«, in: Fischer, Fassbinder über Fassbinder, S. 557-577. Berg, Nicolas: Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2008. Blumenberg, Hans C.: Kinozeit. Aufsätze und Kritiken zum modernen Film 1976-1980, Frankfurt a.M.: Fischer 1980. Bodek, Janusz: Die Fassbinder-Kontroversen: Entstehung und Wirkung eines literarischen Textes. Zu Kontinuität und Wandel einiger Erscheinungsformen des Alltagsantisemitismus in Deutschland

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nach 1945, seinen künstlerischen Weihen und seiner öffentlichen Inszenierung, Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 1991. Bodek, Janusz: Fassbinder ist nicht Shakespeare, Shylock kein Überlebender des Holocaust. Kontroversen um Der Müll, die Stadt und der Tod, in: Klaus-Michael Bogdal/Klaus Holz/Matthias N. Lorenz (Hg.), Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz, Stuttgart/ Weimar: Metzler, S. 179-204. Buck, Elmar: »Außenseiter auf der Bühne – zu den Konditionen des Theaters«, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.), Theatralia Judaica. Emanzipation und Antisemitismus als Momente der Theatergeschichte. Von der Lessing-Zeit bis zur Shoah, Tübingen: de Gruyter 1992, S. 24-41. Dinter, Arthur: Die Sünde wider das Blut. Ein Zeitroman, Leipzig: Matthes und Thost 1920. Elsaghe, Yahya: Die imaginäre Nation. Thomas Mann und das »Deutsche«, München: Wilhelm Fink 2000. Fassbinder, Rainer Werner: »Philosemiten sind Antisemiten. Ein Gespräch mit Benjamin Henrichs über die Reaktionen auf Der Müll, die Stadt und der Tod«, in: Michael Töteberg (Hg.), Rainer Werner Fassbinder. Die Anarchie der Phantasie. Gespräche und Interviews, Frankfurt a.M.: Fischer 1986, S. 82-85. Fischer, Robert (Hg.): Fassbinder über Fassbinder. Die ungekürzten Interviews, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 2004. Führer, Karl Christian: Immobilienbesitz und Spekulation – ein deutsches Trauma? Vortrag in Hannover am 27. November 2010 auf dem Workshop »Spekulation und Spekulanten in wissenschaftlicher Perspektive. Dimensionen eines umstrittenen Phänomens«. (erscheint 2013 im Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte) Frank, Manfred: »Steinherz und Geldseele. Ein Symbol im Kontext«, in: Ders. (Hg.), Das kalte Herz. Texte der Romantik, Frankfurt a.M./Leipzig: Insel 1996, S. 257-400. Hirschauer, Stefan: Die soziale Konstruktion der Transsexualität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993. Krauthausen, Karin: »Schlachten. Anmerkungen zu Rainer Werner Fassbinders IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN«, in: Anne von der Heiden (Hg.), Politische Zoologie, Zürich u.a.: Diaphanes 2007, S. 355-371. Lindemann, Gesa: Das paradoxe Geschlecht. Transsexualität im Spannungsfeld von Körper, Leib und Gefühl, Frankfurt a.M.: VS 1993.

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Limmer, Wolfgang: Rainer Werner Fassbinder. Filmemacher, Hamburg: Rowohlt 1981. Märthesheimer, Peter/Fröhlich, Pea: DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS. Ein Drehbuch für Rainer Werner Fassbinder, hg. v. Michael Töteberg, München: belleville 1998. Pawlikowski, Pawl: »Filme als Antwort auf bestimmte Entwicklungen. Rainer Werner Fassbinder über DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS«, in: Fischer, Fassbinder über Fassbinder, S. 579-588. Peucker, Brigitte: »The Castrato’s Voice. Word and Flesh in Fassbinder’s IN A YEAR OF THIRTEEN MOONS«, in: Nora M. Alter (Hg.), Sound matters. Essays on the acoustics of modern German Culture, New York u.a.: Berghahn Books 2006, S. 104-114. Pott, Sabine: Film als Geschichtsschreibung bei Rainer Werner Fassbinder. Fassbinders Darstellung der Bundesrepublik Deutschland anhand ausgewählter Frauenfiguren in seiner »BRD-Trilogie«: DIE EHE DER MARIA BRAUN (1978), LOLA (1981) und DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS (1982), Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 2002. Scharf, Inga: Nation and Identity in the New German Cinema. Homeless at Home, New York: Routledge 2008. Schößler, Franziska: Börsenfieber und Kaufrausch: Ökonomie, Judentum und Weiblichkeit bei Theodor Fontane, Heinrich Mann, Thomas Mann, Arthur Schnitzler und Émile Zola, Bielefeld: Aisthesis 2009. Sombart, Werner: Die Juden und das Wirtschaftsleben, München/ Leipzig: Duncker & Humblot 1911. Sombart, Werner: »Die Rationalisierung der Liebe durch die jüdische Religion und ihre Bedeutung für das Wirtschaftsleben«, in: Frauen-Zukunft 1 (1911), S. 791-804. Thiede, Rolf: Stereotypen vom Juden. Die frühen Schriften von Heinrich und Thomas Mann. Zum antisemitischen Diskurs der Moderne und dem Versuch seiner Überwindung, Berlin: Metropol 1998. Töteberg, Michael: »Das süße Sterben«, in: Peter Märthesheimer/Pea Fröhlich: DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS. Ein Drehbuch für Rainer Werner Fassbinder, hg. v. Michael Töteberg, München 1998, S. 129-139. Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung, München: Matthes & Seitz 1997.

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F ILME DER EWIGE JUDE (D 1940, R: Fritz Hippler) DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS (BRD 1982, R: Rainer Werner Fassbinder) FAUSTRECHT DER FREIHEIT (BRD: 1975, R: Rainer Werner Fassbinder) F ONTANE EFFI BRIEST (BRD 1974, R: Rainer Werner Fassbinder) IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN (BRD 1978, R: Rainer Werner Fassbinder) KATZELMACHER (BRD 1968, R: Rainer Werner Fassbinder) PARIS IS BURNING (USA 1990, R: Jennie Livingston) QUERELLE (BRD 1982, R: Rainer Werner Fassbinder) SCHLEICHENDES GIFT (AT 1946, R: Hermann Wallbrück) SUNSET BOULEVARD (USA 1950, R: Billy Wilder) TITANIC (D 1943, R: Herbert Selpin, Werner Klingler) TOD IN VENEDIG (I 1971, R: Luchino Visconti) 8  (I/FR: 1963, R: Federico Fellini)

Keine Minderheitendramen Homosexuelle Minoritäten und Fassbinders Filme

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H OMOSEXUELLE

ALS

M INORITÄT ?

Das 20. Jahrhundert kannte zwei sich grundsätzlich widersprechende Vorstellungen über die Verbreitung von homosexuellem Handeln in der Bevölkerung, die bis heute fortexistieren. Zum einen gab es die Annahme, deren prominentester Vertreter wohl Sigmund Freud war, Homosexualität sei als Potenzial bei allen Menschen angelegt. Zum anderen kursierte die Überzeugung, Homosexualität betreffe nur eine kleine, klar abgrenzbare Gruppe von Menschen, die mit dieser Abweichung von der Mehrheit schicksalshaft verschweißt sei. Eve Kosofksy Sedgwick hat diese zwei Sichtweisen das »universalisierende« und »minorisierende« Konzept von Homosexualität genannt: »The first is the contradiction between seeing homo/heterosexual definition on the one hand as an issue of active importance primarily for a small, distinct, relatively fixed homosexual minority (what I refer to as a minoritizing view), and seeing it on the other hand as an issue of continuing, determinative importance in the lives of people across the spectrum of sexualities (what I refer to as a universalizing view).«1

Ähnlich einander ausschließend sind die politischen Optionen, die sich vor diesem Hintergrund für diejenigen ergeben, die Anti-Homosexu1

Sedgwick, Eve Kosofsky: Epistemology of the Closet, Berkeley/Los Angeles: University of California Press 1990, S. 1f.

224 | V OLKER W OLTERSDORFF

alität bekämpfen möchten. Während das universalisierende Konzept notwendig darauf angewiesen ist, die gesamte Gesellschaft zu ändern, liegt es aus minorisierender Sicht nahe, der Minderheit der Homosexuellen zu einem Bewusstsein ihrer kollektiven Unterdrückung durch die Mehrheit zu verhelfen, um solidarische Gegenwehr zu organisieren. Das Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einer unterdrückten Minderheit wird dann als tief verankerter Bestandteil der Persönlichkeit zu einer kämpferisch verstandenen Identität, die nach außen im schwulen oder lesbischen Comingout behauptet wird.2 Während sich die Homosexuellenbewegung der 1970er und 1980er Jahre allmählich für genau jene minorisierende Option entscheidet, umgeht sie Rainer Werner Fassbinder in seinen Filmen, die Homosexualität darstellen, konsequent. Ja, er zersprengt homosexuelle Identität sogar, indem er sie zum einen ins Universelle ausweitet oder sie zum anderen durch ihre inneren Fliehkräfte, wie Klassenwidersprüche oder Konflikte um Alter, Rassismus und Geschlechtskonformität, zerreißen lässt. Fassbinders ästhetische Strategien zielen alle darauf ab, jene Vorstellung einer homosexuellen Minderheit als einer distinkten und homogenen Gruppe mit – zumindest seinerzeit – gesellschaftlichem Außenseiterstatus infrage zu stellen, so dass es nicht verwundert, dass seine Filme mit der zeitgenössischen homosexuellen Identitätsund Minderheitenpolitik kollidierten. FAUSTRECHT DER FREIHEIT (BRD 1975) wurde von Schwulen, DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT (BRD 1972) von Lesben wegen ihrer angeblichen Schwulenbzw. Lesbenfeindlichkeit kritisiert.3

2

Vgl. Woltersdorff, Volker: Coming out. Die Inszenierung schwuler Identitäten zwischen Auflehnung und Anpassung, Frankfurt a.M./New York: Campus 2005.

3

Vgl. Britton, Andrew: »Foxed. A Critique of ›Fox‹«, in: Gay Left 3 (1976), S. 16-17; Sheldon, Caroline: »Lesbians and Film: Some Thoughts«, in: Richard Dyer (Hg.), Gays and Film, New York: Zoetrope 1984, S. 5-26. Eine Zusammenfassung der Rezeption von FAUSTRECHT DER

FREIHEIT durch die westdeutsche Schwulenbewegung findet sich bei

Mildenberger, Florian: »Klassenkampf auf der Leinwand – Grabenkrieg in der Diskussion. Zur Rezeption von Rainer Werner Fassbinders Film FAUSTRECHT DER FREIHEIT«, in: Forum Homosexualität und Literatur 38 (2001), S. 77-83.

K EINE M INDERHEITENDRAMEN

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Das Ideal der Homosexuellenbewegung von einer emanzipierten schwulen oder lesbischen Identität war vom Gedanken der Gleichheit geprägt, wo es bei Fassbinder ständig um hierarchische Machtgefälle ging. Während die einen gerade darum kämpften, ein Bewusstsein über die Diskriminierungserfahrungen und damit Handlungsmacht zu erringen, legte Fassbinders Perspektive den Finger auf die vielfältigen staatlichen, gesellschaftlichen, ökonomischen und psychischen Strukturen, die genau dies verhindern. Anstelle eine Perspektive auf die Herstellung kollektiver Solidarität zu eröffnen, betonte Fassbinder die Widersprüche und Machtkonflikte innerhalb der schwulen Community. Der schwulenbewegte Filmwissenschaftler Richard Dyer nannte Fassbinder in einem kritischen Essay von 1980 daher einen »linken Melancholiker«, dessen Fixierung auf eine Opferperspektive jedes politische Engagement delegitimiere,4 und Rosa von Praunheim kritisierte noch Anfang der 1990er Jahre an Fassbinder rückblickend, dass dieser zu wenig bis gar nicht auf die Schwulenbewegung Bezug genommen habe.5 Mit wachsender zeitlicher Distanz ist diese ablehnende Haltung inzwischen allerdings brüchig geworden. So lobt Al LaValley an Fassbinder, dass er gerade die im schwulen Film vernachlässigten und verdrängten Themen dargestellt habe. 6 Im Folgenden werde ich der Anschaulichkeit halber Fassbinders drei wichtigste anti-identitäre Strategien jeweils an bestimmten seiner Filme erläutern, obwohl sich diese auch in anderen Filmen finden lassen und umgekehrt in den erwähnten Filmen auch andere als die ihnen zugewiesenen Strategien auftauchen.

4

Dyer, Richard: »Reading Fassbinder’s Sexual Politics«, in: Tony Rayns (Hg.), Fassbinder, London: British Film Institute 1980, S. 54-64, hier S. 60.

5

Praunheim, Rosa von: »Schwul, pervers, kontrovers«, in: Berliner Zeitung vom 10. Juni 1992, S. 9. Vgl. auch A. Britton: Foxed: A Critique of ›Fox‹, S. 16: »It is deeply significant that there is not the slightest mention of Gay Liberation in the film, not a glimpse of a character, gay or straight, who either wants or knows how to break out of the represssive environment.«

6

LaValley, Al: »The Gay Liberation of Rainer Werner Fassbinder: Male Subjectivity, Male Bodies, Male Lovers«, in: New German Critique 63 (1994), S. 108-137, hier S. 137.

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U NIVERSALITÄT

VS .

M INORITÄT

In FAUSTRECHT DER FREIHEIT und in der von Fassbinder gestalteten Episode aus dem zusammen mit zehn weiteren Regisseuren realisierten Film DEUTSCHLAND IM HERBST (BRD 1978) entwickelt Fassbinder eine universalisierende bzw. gesamtgesellschaftliche Perspektive, die Homosexualität gerade nicht als Minderheitenproblem darstellt. Der schwule Protagonist aus FAUSTRECHT DER FREIHEIT, Franz Biberkopf, verkündet über andere Männer souverän: »Zu haben ist jeder«, und so sind auch die beiden US-amerikanischen GIs, die er später trifft, allem gegenüber sexuell aufgeschlossen. Selbst angebliche kulturelle Gegensätze sind dadurch nicht berührt. Als Franz und sein Lover Eugen auf einem Basar in Marrakesch einen Marokkaner aufreißen, entgegnet Franz auf Eugens Bedenken – »Wir wissen ja nicht, was hier üblich ist« – gelassen: »Es wird hier auch nicht anders sein wie überall«. Obwohl Fassbinders Äußerungen zu diesem Film nicht ganz widerspruchsfrei sind, betonte er doch immer wieder, dass er in FAUSTRECHT DER FREIHEIT Homosexualität nicht zum Problem machen wollte. Es sei reiner Zufall, dass die Geschichte unter Homosexuellen spiele: »Ob sie nun schwul sind oder normal sind oder lesbisch oder was weiß ich – in meinen Filmen und in all dem, was ich mache, geht’s darum, daß die Leute mit ihren Beziehungen Schwierigkeiten haben.«7 Probleme unter Homosexuellen seien daher lediglich ein Spiegel der Gesamtgesellschaft: »Keiner hat je gesagt, dass das Leben der Homosexuellen von denselben Mechanismen bestimmt wird wie das Leben der sogenannt normalen Leute.«8 Es geht bei Homos also auch nicht anders zu als beim Rest der bundesrepublikanischen Gesellschaft, und die ist für Fassbinder in erster Linie durch die Antagonismen einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung geprägt. Der Klassenkonflikt zwischen dem proletarischen Franz und seinem großbürgerlichen Freund Eugen, der diesen demütigt und ausbeutet, überlagert daher alle gemeinsamen Interessen, die die beiden aufgrund identischer Diskriminierungserfahrungen haben könnten. Schwulenfeindlichkeit, die sich

7

Zit. nach F. Mildenberger: Klassenkampf auf der Leinwand, S. 79.

8

Fassbinder, Rainer Werner/Hughes, John/Riley, Brooks: »Ein neuer Realismus (1975)«, in: Rober Fischer (Hg.), Fassbinder über Fassbinder. Die ungekürzten Interviews, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 2004, S. 345363, hier S. 348.

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gegen Proleten und Bourgeois gleichermaßen richtet, kommt in dem Film nur ganz am Rande vor. 9 Florian Mildenberger hat daran erinnert, dass Fassbinder in den politischen Auseinandersetzungen der Aktivisten der damaligen Zeit damit jener linken Position zugeordnet wurde, die in der Unterdrückung Homosexueller einen Nebenwiderspruch des Kapitalismus erblickte und deshalb von einer Solidarisierung mit der im Entstehen begriffenen Schwulenbewegung absah.10 An den prompten Reaktionen der Kritiker aus den Reihen dieser Bewegung, die überwiegend einem studentischen Milieu entstammten, lässt sich bezeichnenderweise ablesen, mit welcher Klassenposition – Kapitalismuskritik hin oder her – sie sich im Film identifizieren11: Sie sind beleidigt von der angeblich unrealistischen oder politisch lähmenden Darstellung der bürgerlichen Homos. Das Protestflugblatt einer Münchener Emanzipationsgruppe missversteht deren negative Darstellung »als das Verhalten aller Schwuler.«12 Für die Perspektive von Franz bringen sie umgekehrt wenig Empathie auf und bestätigen damit ungewollt Fassbinders Behauptung einer Dominanz der Klassenlage gegenüber der sexuellen Identität. In Fassbinders Episode in DEUTSCHLAND IM HERBST wiederholt sich dieser Klassenkonflikt innerhalb einer schwulen Beziehung, nur

9

Die meisten Interpreten übersehen, dass der Film Schwulenfeindlichkeit überhaupt zum Thema macht, beispielsweise als das schwule Paar in Marokko erörtert, ob es eine Straßenbekanntschaft mit ins Hotel nehmen könne oder als Fox’ Unternehmerfreund Eugen die Wohnung wegen nächtlichen Männerbesuches gekündigt wird. Das Kündigungsschreiben ist zwar neutral gehalten und spricht Homosexualität nicht offen an, Eugen allerdings schon, als er befürchtet, dass von den ›Normalen‹ zwei zusammenlebenden Männern jederzeit die Wohnung gekündigt werden könne. Selbstverständlich instrumentalisiert er diesen Umstand für sein Kalkül, Fox zum Erwerb einer Eigentumswohnung zu bewegen.

10 F. Mildenberger: Klassenkampf auf der Leinwand, S. 79f. 11 A. Britton: Foxed. A Critique of ›Fox‹, S. 16: »I found the film offensive in the extreme«. Unter den schwulenbewegten Rezensenten ist Cant, Bob: »Fassbinder’s ›Fox‹«, in: Gay Left 2 (1976), S. 22, als Einziger voll des Lobes für Fassbinders Film. 12 Flugblatt »Faßbinder [sic!] zeigt Leben« der HAM, zit. nach F. Mildenberger: Klassenkampf auf der Leinwand, S. 81.

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wird dessen Darstellung nun autodokumentarisch. War FAUSTRECHT FREIHEIT Armin Meier nur gewidmet, betritt dieser nun selbst die Leinwand und verkörpert den Proleten, der er, anders als Fassbinder, tatsächlich war. Fassbinders Beitrag zur Gemeinschaftsproduktion über die bundesrepublikanische Gesellschaft nach dem Deutschen Herbst verkehrt damit die zeitgenössische emanzipatorische Forderung: »Das Private ist politisch!«, indem er das Politische privat zeigt und dabei nachverfolgt, wie Rache- und Machtphantasien nicht nur den damaligen Staat bestimmen, sondern auch seine Beziehung zu Armin Meier und zu seiner Mutter.13 Abermals dient hier die Darstellung von Homosexualität dazu, ein gesamtgesellschaftliches Problem aufzuzeigen und nicht, die Diskriminierung einer stigmatisierten Gruppe von Menschen zu skandalisieren. Diese Perspektive provozierte sowohl die homo- als auch die heterosexuelle Öffentlichkeit, die darin entweder eine Verleugnung der Diskriminierung sah oder aber nicht bereit war, den Homosexuellen eine gesamtgesellschaftlich taugliche Erkenntnisfunktion zuzugestehen. So wird FAUSTRECHT DER FREIHEIT noch heute als »Schwulendrama« und nicht etwa als »Klassendrama« vermarktet. DER

T OTALITÄT

DES

M INORITÄREN

Um jene universalisierende Perspektive (»Alle können homosexuell sein« und »Homosexualität verhält sich wie jede Sexualität«) von einer Sichtweise zu unterscheiden, die Homosexualität als ein ganz eigenes In-der-Welt-Sein auffasst, das auch ästhetisch einen unverwechselbaren Ausdruck findet, spricht Diedrich Diederichsen zum einen von einer »universalistischen«, zum anderen von einer »subkulturalistischen« Homosexualität.14 Diese ästhetischen Gegenpositionen sieht er paradigmatisch auf der einen Seite bei Fassbinder und auf der anderen bei Warhol verwirklicht. Er nimmt dabei auf das von John Hughes

13 Das heißt selbstverständlich nicht, dass sein Werk nicht auch genug Stoff für eine Politisierung des Privaten liefert. 14 Diederichsen, Diedrich: »Queere Pose und erhabene Ungerechtigkeit. Politik und Moral bei Fassbinder und Warhol«, new filmkritik (5.10.2005), http://newfilmkritik.de/archiv/2005-10/queere-pose-und-erhabene-unge¬ rechtigkeit-politik-und-moral-bei-fassbinder-und-warhol/ (03.08.2012).

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und Brooks Riley für die Zeitschrift Film Comment geführte Fassbinder-Interview von 1975 Bezug, in dem beide einen von Manny Farber ins Spiel gebrachten Vergleich mit Andy Warhol anstrengen und ihm Fassbinder ästhetisch gegenüberstellen.15 Eine solche programmatische Gegensätzlichkeit ist allerdings nicht ganz zutreffend, denn Warhol besuchte Fassbinder einige Jahre später während der Dreharbeiten zu QUERELLE (BRD 1982) und gestaltete sogar das Plakat zu diesem Film. Umgekehrt finden sich in Fassbinders Filmen neben universalisierenden Ansätzen ebenso ästhetische Formen subkulturalistischer Homosexualität, so genannter Camp.16 Dabei handelt es sich um ein markantes, aber nicht leicht zu fassendes Stilphänomen, das man als Flirt oder Hassliebe zwischen queerer Subkultur und ästhetischem Mainstream bezeichnen könnte. 17 Der Filmkritiker Jack Babuscio nennt vier Kriterien, die er als grundlegende Kennzeichen des Camp-Stils ausweist: Ironie, Ästhetizismus, Theatralität, Humor.18 Eine zentrale Stilfigur des Camp, in der dessen Stilmerkmale Theatralität, Ästhetizismus und Ironie hervorragend zusammentreffen können, ist die Pose. Dietrich Diederichsen interpretiert Fassbinders spezifische Handhabung der Pose wegen ihres Nebeneinanders aus »Selbstermächtigung und Unterdrückung« als »minoritär« bzw. »queer«: »Fassbinders Grundidee ist ungefähr die: Im Kapitalismus übersteht das Subjekt sein elendes Leben nur in der Pose. Pose ist auch hier ein

15 Fassbinder, Rainer Werner/Hughes, John/Riley, Brooks: »Ein neuer Realismus (1975)«, in: Fischer, Fassbinder über Fassbinder, S. 345-363, S. 348f. 16 Auch François Ozon, der in seinen übrigen Filmen ebenfalls in CampÄsthetik schwelgt, hat diese Nähe zur Camp-Ästhetik erkannt und in seiner filmischen Adaption von Fassbinders Theaterstück Tropfen auf heiße Steine (GOUTTES D’EAU SUR PIERRES BRÛLANTES [F 2000, R: François Ozon]) konsequent und kongenial umgesetzt. 17 Vgl. Woltersdorff, Volker: »Sontags Camp-Essay und einige seiner Folgen«, in: Jan Engelmann u.a. (Hg.), Leidenschaft der Vernunft. Die öffentliche Intellektuelle Susan Sontag, Würzburg: Königshausen & Neumann 2010, S. 67-79. 18 Babuscio, Jack: »Camp and the Gay Sensibility«, in: David Bergman (Hg.), Camp Grounds. Style and Homosexuality, Amherst: University of Massachusets Press 1993, S. 19-38.

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Rest aus Selbstbestimmung um den Preis der Handlungsunfähigkeit«.19 Als minoritär ließe sich die Perspektive aus einer Position gesellschaftlicher Marginalisierung bezeichnen, die einen Standpunkt bezieht, ohne eine Identität anzunehmen. Die Pose entzieht sich also gerade ihrer Fixierung auf eine Minderheitenidentität. Was den Figuren der eher naturalistischen Filme auf einer narrativen Ebene gelingt, leistet die Camp-Pose auf einer ästhetischen Ebene. Indem die Filme Homosexualität gerade nicht diskursiv thematisieren und problematisieren, sondern einfach zeigen und setzen, umgehen sie jeden Identitätsdiskurs. So schrieb Ed Sikov in einer Filmkritik zu QUERELLE: »Unlike Frank Ripploh’s TAXI ZUM KLO, with its documentary tour of Berlin with true-to-life gay people, or even Fassbinder’s own FOX AND HIS FRIENDS, QUERELLE audaciously presumes that the world it represents is not a subset of a larger world.«20 Fassbinder setzt Camp-Elemente also auf eine Weise ein, welche die subkulturalistische Homosexualität zum Maßstab aller Dinge macht. Damit wird das Minoritäre zwar affirmiert, aber zugleich totalisiert, sodass es letzten Endes wieder ins Universelle umschlägt: »Fassbinder hat die posierenden Subjekte universalisiert«.21 Die Totalisierung der minoritären Perspektive in seinen beiden Camp-Filmen mit homosexuellem Personal, DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT und QUERELLE, stellt eine weitere Strategie dar, einen homosexuellen Minderheitendiskurs zu umgehen.22 In diesem ästhetischen Universum ist das Minoritäre bereits das Ganze und nicht auf Anerkennung durch eine Majorität angewiesen.

19 D. Diederichsen: Queere Pose und erhabene Ungerechtigkeit: Politik und Moral bei Fassbinder und Warhol, o.S. 20 Sikov, Ed: Querelle, in: Cineaste 8.1 (1983), S. 40-42, hier S. 42. 21 D. Diederichsen, Queere Pose und erhabene Ungerechtigkeit: Politik und Moral bei Fassbinder und Warhol, o.S. 22 Camp findet sich auch in einigen seiner übrigen Filme, die dadurch eine queere Note bekommen (vgl. Moltke, Johannes von: »Camping in the Art Closet: The Politics of Camp and Nation in German Film«, in: New German Critique 63 (1994), S. 77-106 und Alice A. Kuzniar: The Queer German Cinema, Stanford: Stanford UP 2000, S. 69-87). Im Folgenden beschränke ich mich aber auf die campy Darstellung homosexueller Charaktere und analysiere deren ästhetischen Effekte hinsichtlich der Konstruktion einer homosexuellen Minorität.

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So herrscht in DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT ein selbstverständlich männerfreies totales lesbisches Camp-Universum, auch wenn die symbolische Präsenz patriarchaler Machtstrukturen unübersehbar ist, z.B. in Gestalt des hässlichen Ölschinkens über Petras Bett, der einen nackten antiken Helden zeigt. Vor diesem Hintergrund und weil ohnehin umstritten ist, ob es so etwas wie lesbischen Camp überhaupt gibt, 23 ist mehrfach behauptet worden, dass dieser Film eigentlich keine lesbischen Frauen, sondern schwule Tunten darstelle. Fassbinder hat diese Deutung einerseits verneint, andererseits nannte er den Film »autobiographisch«.24 Das Theaterstück wäre dann etwa mit Genets Die Zofen vergleichbar, in dem weibliche Rollen ebenfalls von Transvestiten gespielt werden und eine sehr ähnliche sadomasochistische und patriarchal gesättigte Machtdynamik vorgeführt wird. Mehr noch als seine übrigen Filme lässt sich die Genet-Verfilmung QUERELLE als Fassbinders explizite Hommage an frühere filmische Camp-Ästhetiken und deren Verquickung mit der schwulen und queeren Subkultur verstehen. Abgesehen von Anklängen an Jean Genets eigene filmische Arbeit UN CHANT D’AMOUR (F 1950) sind die Bezüge zum Experimentalfilm des US-amerikanischen queeren Underground vielfältig und offensichtlich.25 Die homoerotische Matrosenphantasie, insbesondere die charakteristische Matrosen-Pietà, erinnert an Kenneth Angers FIREWORKS (USA 1947), die pastellig künstliche Farbregie und theatrale Kulissenhaftigkeit evoziert PINK NARCISSUS (USA 1971) von James Bidgood. Ein eindeutiges Zitat aus diesem Film scheint mir die Telefonzelle an der Uferpromenade in QUERELLE. Darüber hinaus

23 Vgl. Smith, Patricia Juliana: »›You Don’t Have to Say You Love Me‹. The Camp Masquerades of Dusty Springfield«, in: Bergman, Camp Grounds (1993), S. 185-205 und Robertson, Pamela: Guilty pleasures. Feminist camp from Mae West to Madonna, Durham u.a.: Duke University Press 1996. 24 Fassbinder, Rainer Werner/Grant, Jacques: »Der Sinn der Realität (1974)«, in: Fischer, Fassbinder über Fassbinder, S. 313-329, hier S. 315. 25 Vgl. Dyer, Richard: »Underground and after«, in: Ders. (Hg.), Now You See It. Studies in Lesbian and Gay Film, New York/London: Routledge 1990, S. 102-173. Auch Fassbinders IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN (BRD 1978) greift mit der Zarah-Leander-Travestie eine klassische CampStilfigur auf, die an die Reinszenierung von María-Montez-Filmen im Experimentalfilm von Jack Smith erinnert.

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sind stilistische Anleihen am ikonographischen Repertoire der schwulen Lederszene der Siebzigerjahre und ihrer pornographischen Produktion unverkennbar. So glaubt man in QUERELLE das Personal der Village People aus Matrosen, Polizisten und Bauarbeitern zu erkennen, die sich ihrerseits bei den erotischen Ikonen der Lederszene bedienen. Mit Fassbinder erreicht Camp und Underground schließlich die großen Kinos. Minoritäre Ästhetik wird nun mainstreamtauglich. Wie in DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT wird in QUERELLE das Minoritäre totalisiert: Die hermetische Welt des Films ist völlig schwulendominiert. Schwule befinden sich als Polizisten, Kapitäne und Spelunkenbesitzer in Machtpositionen, während sich die Heteros danach sehnen, schwul zu sein. Denn auch wenn sie nicht als homosexuell identifiziert sind, können sie sich schwuler Begehrensdynamik am Ende nicht entziehen. Der Matrose Querelle weist eine Selbstidentifizierung als »fairy« weit von sich, legt es aber darauf an, von Mario gefickt zu werden. Gils Selbstdarstellung als heterosexueller Bauarbeiter, der ebenfalls von sich behauptet: »I’m not a queer«, wird als eine letztlich schwule List entlarvt, wie Richard Dyer beobachtet hat: »This image connoted masculinity and straightness, but by 1982 it was also an established gay icon. Thus Gil’s insistence on his straightness is all the more gestural, for a gay audience anyway, because he so embodies a gay fantasy of straight masculinity. In Gil, straightness is a mask to gay desire.«26

Selbst der vermeintlich glasklar heterosexuelle Verkehr zwischen Lysiane und Robert ist letzten Endes ›schwul‹: »But when they make love, it’s like with gays«. Die erotische Potenz des Phallus, der auf den Kneipenfenstern der Féria abgebildet ist und als Ecktürmchen der Hafenbefestigung über allem thront, ist derart stark, dass ihr ausnahmslos alle erliegen. Phallische Macht wird so offen durch und durch sexualisiert, dass auch die allgegenwärtigen Machtkämpfe als bloße Inszenierung zur Steigerung schwuler sadomasochistischer Lust dienen. Damit bildet Fassbinders Darstellung eher die Gesetze der sexuellen als der politischen schwulen Subkultur ab. Abermals siegt die Universalität des phallischen Begehrens über die minoritäre diskursive Selbstidentifizierung. Diese phallische Begehrensdynamik wird jedoch ungeschönt

26 Dyer, Richard: »Shades of Genet«, in: ebd., S. 47-101, hier S. 94.

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als eine dargestellt, die Macht, Gewalt und hierarchische Differenzen sexualisiert und von Frauen- und Tuntenfeindlichkeit geprägt ist.

D EKONSTRUKTION

VON I DENTITÄT

In seinem Spielfilm IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN entwickelt Fassbinder eine weitere Strategie zur Unterminierung eines homosexuellen Identitätsdiskurses, indem er die Unterscheidung zwischen heterosexueller, homosexueller und transsexueller Identität dekonstruiert. Die Hauptfigur Erwin/Elvira oszilliert heimatlos zwischen männlicher und weiblicher sowie zwischen homo- und transsexueller Identität. Eine sehr ähnliche Figur hatte Fassbinder bereits mit Vera in seinem früheren Theaterstück Tropfen auf heiße Steine auftreten lassen. Im Hinblick auf IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN resümiert Thomas Elsaesser: »Fassbinders Film beschreitet insofern neue Wege, als die zentrale Figur – anders als die meisten fiktionalen Figuren – nicht damit beschäftigt ist, durch die Suche nach Liebe, Anerkennung oder dadurch, daß der Andere zum Spiegel des Selbst gemacht wird, eine stabile Identität auszubilden. Im Gegenteil: IN EINEM JAHR MIT

13 MONDEN beschreibt eine entgegengesetzte Bewegung, die

Auflösung des Ich und die Auflösung von Identität.«27

IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN verweigert sowohl eine homosexuelle als auch eine transsexuelle Erzählung, die eine konsistente Identität entwürfe. Die Vermutung, die ein schwuler Bekannter über Elvira/Erwin vorbringt: »Wahrscheinlich war sie in ihrer Seele schon immer eine Frau«, wird von ihrer Freundin Zora verneint: »Nicht einmal schwul gewesen ist sie.« Am ehesten ließe sich Erwins/Elviras Befindlichkeit mit den Worten beschreiben, die das Erzähler-Ich in Leslie Feinbergs autobiographischem Roman Stone Butch Blues für sich findet: »I don’t feel like a man trapped in a woman’s body. I just feel trapped.«28 Für Elvira/Erwin ist die Frage der geschlechtlichen und sexuellen Selbstverortung irrelevant, sie entscheidet sie allein in Abhängigkeit vom geliebten Anderen. Sexuelle und geschlechtliche Identität sind also radikal exzentrisch, wie Douglas Crimp festgestellt hat:

27 Elsaesser, Thomas: Rainer Werner Fassbinder, Berlin: Bertz 2001, S. 335. 28 Feinberg, Leslie: Stone Butch Blues, Ithaca/N.Y.: Firebrand 1993, S. 158f.

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»This conversation rehearses the clichés of transsexualism: its denial of homosexual desire, its determination by an essential identity – to make the body conform to the soul. But Elvira’s identity, like Fassbinder’s, is arbitrarily imposed from without, in her case the result of an off-hand remark by Saitz: ›It would be really nice if you were a girl.‹«29

Liebe ist bei Fassbinder auf so masochistische Weise radikal affirmativ – vielleicht vergleichbar mit einigen späteren Filmen Lars von Triers –, dass sie ganz ungewollt ein subversives Potenzial entfaltet, weil sie die sie umgebenden Widersprüche hervortreibt und zuspitzt, so dass sie, um mit Karl Marx zu sprechen, die »versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwing[t], daß [sie] ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!«30 Auf diese Weise erfüllt und negiert Erwin/Elvira sowohl die Prämissen einer (gegenüber Anton) schwulen, einer (gegenüber Anton, Christoph und Irene) heterosexuellen, einer (gegenüber Irene) lesbischen und (gegenüber sich selbst) einer transsexuellen Identität. Elsaesser erkennt darin eine für Fassbinders Storys typische double-bindSituation: »Sexuelle Identität wird hier in einer Folge unmöglicher double binds sowohl inszeniert als auch gleichzeitig ausgelöscht.«31 Identität erscheint nicht, wie in der Frauen- und Homosexuellenbewegung, als Ermächtigungsinstrument, sondern als Ordnungskategorie, die die Vielfalt und Lebendigkeit des Lebens zerstört. Alice Kuzniar zufolge entpuppen sich Identitätskategorien in diesem Film deshalb als Unterdrückungsstruktur. »It is therewith an indictment of the oppressive constructs of identity and the self, especially as these are categorized through sex and gender.«32 In den Worten der Nonne Schwester Gertrud, in deren Kloster der zur Adoption freigegebene Erwin seine Kindheit verbrachte, heißt dies: »Das macht keiner selbst – sein Leben

29 Crimp, Douglas: »Fassbinder, Franz, Fox, Elvira, Erwin, Armin, and All the Others«, in: October 21 (1982), S. 62-81, hier S. 77. 30 Marx, Karl: »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung«, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Berlin/DDR: Dietz 1956ff. S. 378391, hier S. 381. 31 Th. Elsaesser: Rainer Werner Fassbinder, S. 232f. 32 A. Kuzniar: The Queer German Cinema, S. 83, vgl. auch Silverman, Kaja: Male subjectivity at the margins, New York u.a.: Routledge 1992, S. 216.

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kaputt. Das macht die Ordnung, die sich die Menschen geschaffen haben.«33 Einmal mehr tritt die Frage nach der geschlechtlichen oder sexuellen Identität hinter anderen gesellschaftlichen Widersprüchen zurück. Herrschaft durch Klasse oder Antisemitismus (der/die proletarische nicht-jüdische deutsche Erwin/Elvira vs. der reiche Holocaustüberlebende Anton) entfalten eine ebenso große Dringlichkeit. Außerdem zeigt sich, dass Geschlecht und Sexualität in Abhängigkeit wechselnder gesellschaftlicher Kontexte völlig anders artikuliert werden. Erwins proletarische Klassenidentität als Schlachter wird durch seinen Geschlechtswechsel zu Elvira ebenso zerstört, wie Elvira nicht als Kundin die Dienste eines Callboys in Anspruch nehmen kann. Dekonstruiert werden durch die biographische Erzählung der Nonne Schwester Gertrud auch die Kategorien biologischer Verwandtschaft, wenn Erwins/Elviras Mutter Anita sich überlegt, ihr eigenes Kind zu adoptieren. Der Film lässt sich also wiederum als Kritik an dem politischen Projekt einer schwulen Identität verstehen. Gleich in der Eingangsszene wird mit dem Adagietto aus Mahlers 5. Sinfonie als Tonspur Luchino Viscontis Verfilmung von DER TOD IN VENEDIG (F 1971) zitiert und konterkariert. Elegische Ephebophilie und ästhetisch überhöhter Voyeurismus werden mit schwulem Machokult, Cruising, Prostitution und gewalttätiger Frauenfeindlichkeit kontrastiert.

ZU

EINER M INORITÄT GEHÖREN VS . MINORITÄR WERDEN Während also alle drei skizzierten Repräsentationsstrategien Fassbinders darauf abzielen, die Vorstellung einer homosexuellen Minorität gerade infrage zu stellen, so könnte man dennoch am Begriff des Minoritären bei Fassbinder festhalten, wenn man im Sinne von Gilles Deleuze und Félix Guattari ein Minoritär-Werden meint. Deleuze und Guattari stellen jenes dynamische Minoritär-Werden dem statischen Zu-einer-Minderheit-Gehören gegenüber.

33 Vgl. auch A. Kuzniar: The Queer German Cinema, S. 82: »Her attempts at performing any one of these binaries only points to their dissociation from them; because they are borrowed, gender markers cannot author the self.«

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»Unter dem Minoritären sind folglich keine zahlenmäßig kleinen Randgruppen zu verstehen. Das Minoritär-Werden betrifft uns alle: Sei es als ein FrauWerden in allen Geschlechtern, ein Nicht-Weiß-Werden in allen Rassen oder ein Proletarisch- oder Prekär-Werden, das sämtliche gesellschaftliche Klassen affiziert.«34

In Bezug auf Homosexualität ließe sich ebendieses Minoritär-Werden als eine sexuelle Dissidenz verstehen, die jedoch nicht zu einer homosexuellen Identität gerinnt. Fassbinders ästhetische Absage an die Figur einer homosexuellen Minorität gewinnt unter diesem Gesichtspunkt als ein politisches Projekt des Minoritär-Werdens der Gesamtgesellschaft Kontur. In diesem Sinne könnte man in Fassbinder sogar einen Vorreiter der Queer-Bewegung sehen. In ästhetischer Hinsicht hat das New Queer Cinema die Camp-Ästhetik wiederentdeckt und, ganz ähnlich wie Fassbinder, mainstreamtauglich gemacht. Am augenfälligsten beweist dies das filmische Werk François Ozons, zu dem auch die Verfilmung des Fassbinder-Stückes Tropfen auf heiße Steine zählt. Fassbinders Identitätskritik wiederum kann heute vielleicht gerade von queer-politischen Aktivisten und Aktivistinnen geschätzt werden, in deren Visier sich einerseits normative Zwänge von Identitätspolitik und Heteronormativität und andererseits die so genannte Intersektionalität von Mehrfachdiskriminierung und ökonomischer Ausbeutung befinden.

L ITERATUR Antonioli, Manola: »Fluchtlinien des Politischen: Über mikropolitische Gefüge und das Minoritär-Werden«, in: Ralf Krause/Marc Rölli (Hg.), Mikropolitik. Eine Einführung in die politische Philosophie von Gilles Deleuze und Félix Guattari, Wien: Turia + Kant 2010, S. 7-25. Babuscio, Jack: »Camp and the Gay Sensibility«, in: Bergman, Camp Grounds (1993), S. 19-38.

34 Antonioli, Manola: »Fluchtlinien des Politischen: Über mikropolitische Gefüge und das Minoritär-Werden«, in: Ralf Krause/Marc Rölli (Hg.), Mikropolitik. Eine Einführung in die politische Philosophie von Gilles Deleuze und Félix Guattari, Wien: Turia + Kant 2010, S. 7-25, hier S. 23.

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Bergman, David (Hg.), Camp Grounds. Style and Homosexuality, Amherst: University of Massachusets Press 1993. Britton, Andrew: »Foxed. A Critique of ›Fox‹«, in: Gay Left 3 (1976), S. 16-17. Cant, Bob: »Fassbinder’s ›Fox‹«, in: Gay Left 2 (1976), S. 22. Crimp, Douglas: »Fassbinder, Franz, Fox, Elvira, Erwin, Armin, and All the Others«, in: October 21 (1982), S. 62-81. Diederichsen, Diedrich: »Queere Pose und erhabene Ungerechtigkeit. Politik und Moral bei Fassbinder und Warhol«, new filmkritik (05.10.2005), http://newfilmkritik.de/archiv/2005-10/queere-poseund-erhabene-ungerechtigkeit-politik-und-moral-bei-fassbinderund-warhol/ (03.08.2012). Dyer, Richard: »Reading Fassbinder’s Sexual Politics«, in: Tony Rayns (Hg.), Fassbinder, London: British Film Institute 1980, S. 54-64. Dyer, Richard (Hg.): Now You See It: Studies in Lesbian and Gay Film, New York/London: Routledge 1990. Ders.: »Shades of Genet«, in: Ders., Now You See It (1990), S. 47101. Ders.: »Underground and after«, in: Ders., Now You See It (1990), S. 102-173. Elsaesser, Thomas: Rainer Werner Fassbinder, Berlin: Bertz 2001. Fassbinder, Rainer Werner/Grant, Jacques: »Der Sinn der Realität (1974)«, in: Fischer, Fassbinder über Fassbinder, S. 313-329. Fassbinder, Rainer Werner/Hughes, John/Riley, Brooks: »Ein neuer Realismus (1975)«, in: Fischer, Fassbinder über Fassbinder, S. 345-363. Feinberg, Leslie: Stone Butch Blues, Ithaca/N.Y.: Firebrand 1993. Fischer, Robert (Hg.): Fassbinder über Fassbinder. Die ungekürzten Interviews, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 2004. Kuzniar, Alice A.: The Queer German Cinema, Stanford: Stanford University Press 2000. LaValley, Al: »The Gay Liberation of Rainer Werner Fassbinder. Male Subjectivity, Male Bodies, Male Lovers«, in: New German Critique 63 (1994), S. 108-137. Marx, Karl: »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung«, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Berlin/DDR: Dietz 1956ff. S. 37-391.

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Mildenberger, Florian: »Klassenkampf auf der Leinwand – Grabenkrieg in der Diskussion. Zur Rezeption von Rainer Werner Fassbinders Film FAUSTRECHT DER FREIHEIT«, in: Forum Homosexualität und Literatur 38 (2001), S. 77-83. Moltke, Johannes von: »Camping in the Art Closet. The Politics of Camp and Nation in German Film«, in: New German Critique 63 (1994), S. 77-106. Robertson, Pamela: Guilty pleasures. Feminist camp from Mae West to Madonna, Durham u.a.: Duke University Press 1996. Sedgwick, Eve Kosofsky: Epistemology of the Closet, Berkeley/Los Angeles: Univ. of California Press 1990. Sheldon, Caroline: »Lesbians and Film. Some Thoughts«, in: Richard Dyer (Hg.), Gays and Film, New York: Zoetrope 1984, S. 5-26. Sikov, Ed: »Querelle«, in: Cineaste 8.1 (1983), S. 40-42. Silverman, Kaja: Male subjectivity at the margins, New York u.a.: Routledge 1992. Smith, Patricia Juliana: »›You Don’t Have to Say You Love Me‹. The Camp Masquerades of Dusty Springfield«, in: Bergman, Camp Grounds (1993), S. 185-205. Woltersdorff, Volker: Coming out. Die Inszenierung schwuler Identitäten zwischen Auflehnung und Anpassung, Frankfurt a.M./New York: Campus 2005. Ders.: »Sontags Camp-Essay und einige seiner Folgen«, in: Jan Engelmann u.a. (Hg.), Leidenschaft der Vernunft. Die öffentliche Intellektuelle Susan Sontag, Würzburg: Königshausen & Neumann 2010, S. 67-79.

F ILME DER TOD IN VENEDIG (F 1971, R: Luchino Visconti) DEUTSCHLAND IM HERBST (BRD 1978, R: Alf Brustellin, Hans Peter Cloos, Rainer Werner Fassbinder, Alexander Kluge, Beate Mainka-Jellinghaus, Maximiliane Mainka, Edgar Reitz, Katja Rupé, Volker Schlöndorff, Peter Schubert, Bernhard Sinkel) DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT (BRD 1972, R: Rainer Werner Fassbinder) IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN (BRD 1978, R: Rainer Werner Fassbinder)

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FAUSTRECHT DER FREIHEIT (BRD 1975, R: Rainer Werner Fassbinder) FIREWORKS (USA 1947, R: Kenneth Anger) GOUTTES D’EAU SUR PIERRES BRÛLANTES (F 2000, R: François Ozon) PINK NARCISSUS (USA 1971, R: James Bidgood) QUERELLE (BRD 1982, R: Rainer Werner Fassbinder) TAXI ZUM KLO (BRD 1980; R: Frank Riploh) UN CHANT D’AMOUR (F 1950, R: Jean Genet)

Ein krisenhaftes Bewusstsein Fassbinders IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN

S ENTA S IEWERT

Der Film IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN (BRD 1978) beschreibt Machtkonstellationen, Geschlechtlichkeit und Körperlichkeit auch und insbesondere anhand seiner Protagonistin Elvira, die schon in der ersten Szene des Films geschlagen und fortwährend unterschiedlichen Formen der Gewalt ausgesetzt ist. In der folgenden Analyse des Films wird deswegen die Bewegung eines krisenhaften Bewusstseins nachgezeichnet.1 Nach Auseinandersetzungen mit psychoanalytischen und geschichtspolitischen Rezeptionsweisen des Films wird für eine genauere Analyse seiner formal-analytischen Struktur plädiert, da sich ein krisenhaftes Bewusstsein ähnlich wie bei klassischen Melodramen auf alle seine Ebenen übertragen hat: auf das Schauspiel, die mise-enscène, die Lichtführung, die Kadrage, die Bild- und Tonebene und den Schnitt. Im Film wird die Vergangenheit von Elvira nicht in Form von Rückblenden erzählt, sondern sie vermittelt sich durch Erzählungen aus dem Off und in Gesprächen, die Elvira im Laufe ihrer letzten fünf Lebenstage führt. Sie begegnet einer Reihe von Figuren, die in ihrem Leben von Bedeutung waren und nun die Vergangenheit in der filmischen Gegenwart präsent werden lassen. Die auftauchenden Vergangenheitsschichten bestimmen die Dramaturgie des Films, die Erzäh1

Eine umfassende Analyse des Films habe ich in meiner Monographie »Fassbinder und Deleuze. Körper, Leiden, Entgrenzung« (Marburg: Tectum 2009) vorgenommen.

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lung verläuft nicht linear, sondern wird abrupt aufgebrochen. Diese Unterbrechungen einer harmonischen Erzähldramaturgie lassen das Erzählte wie einen fragmentierten und konstruierten Körper erscheinen, in dem verschiedene Erinnerungsfragmente miteinander korrespondieren. Die Topologie der Handlung verteilt sich auf verschiedene markante Orte: die Wohnung Elviras, den Straßenstrich, den Klosterinnenhof, den Spielsalon, den Schlachthof und das Hochhaus. Der Prozess einer sich zuspitzenden Klimax ist durch diese spezifischen Schauplätze bestimmt. Der Film ist in neunzehn Szenen unterteilt, jedes Mal wird ein Ausschnitt ihrer Lebensgeschichte erzählt und ein weiteres Unglück enthüllt. Elvira war früher ein Mann namens Erwin, der eine Geschlechtsumwandlung vollzogen hat. Im Film begegnet sie ihrem Ex-Freund Christoph, ihrer früheren Ehefrau Irene und der gemeinsamen Tochter Marie-Ann, Unbekannten auf dem Straßenstrich, im Spielsalon, auf der Straße, im Hochhaus und sucht eine Nonne, den Psychopaten »Seelen-Frieda«, den Schriftsteller Hauer und den Spekulanten Anton Saitz auf. Letzterer war die Ursache für Elviras Geschlechtsumwandlung. Diese Begegnungen fungieren als Stationen eines Bewusstwerdungsprozesses, der sich im Film wie eine akzelerierende Krise entfaltet. Es wäre unzureichend, den Film als die bloße Rekonstruktion eines gescheiterten Lebens, d.h. eines Scheiterns Elviras an ihrer Sehnsucht nach Liebe und Zuwendung, zu beschreiben, denn der Film beschreibt ein über die Figur hinausgehendes absolutes Leiden.

M ELODRAM IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN kann aufgrund der Leidensgeschichte und der ästhetischen Inszenierung dem Genre des Melodrams zugeordnet werden, obwohl im klassischen Melodram das Sujet der Geschlechtlichkeit verdeckt auftritt oder sich in den Körper der Frau einschreibt wie in Fassbinders Film MARTHA (BRD 1974). Bei IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN hingegen tritt das Sujet in den Vordergrund, es schreibt sich sowohl in den Körper der Figur ein als auch – wie ich zu zeigen versuche – in alle anderen Bild- und Tonelemente. Elvira als Figur zwischen den Geschlechtern benutzt stereotype und klischeehafte Verhaltensweisen einer Frau. Die Kluft, die sich zwischen den Geschlechtern bildet, wirft die Frage nach einem Dazwischen auf, die

E IN KRISENHAFTES B EWUSSTSEIN

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dem gesamten Film inhärent ist. Die vom Melodrama geforderte leidende Heldin war ein Mann und ist jetzt eine Frau. Auch das Milieu der Melodramen hat sich geändert, der Film spielt nicht mehr im bürgerlichen Mittelschichthaushalt oder opulenten Schlössern mit opernhaftem Dekor, sondern in einem Randgruppenmilieu. Im Film konstruiert Fassbinder Situationen wie die Klosterszene, in der ein Transsexueller, eine Prostituierte und eine Nonne zusammentreffen. Diese Zusammensetzung verkehrt die Figurenkonstellationen des klassischen Melodrams. Zwar erinnern Elviras Posen und ihre Kleidung an die Sternberg-Melodramen, aber die Kleider sind zu eng und die Posen wirken überartikuliert und daher gekünstelt. Die Figuren in diesem Fassbinder-Film sind keine strahlenden Schönheiten wie Greta Garbo, Marlene Dietrich oder Lauren Bacall. Im Gegensatz zu deren überstrahlten Gesichtsgroßaufnahmen, welche die Scheinhaftigkeit und das Entrückte der Figuren hervorgehoben haben, sind bei Elvira die Einstellungen ihres Gesichtes fragmentiert. Elvira wird zur Travestie melodramatischer Heroinen, sie hat aber auch keine Ähnlichkeit mit den männlichen Helden der 1950er-Jahre-Melodramen, wie z.B. den Rebellen James Dean und Marlon Brando, die ebenfalls mit der klaren Zuordnung der klassischen Unterscheidung zwischen Mann und Frau brechen und die Funktion der melodramatischen Heldin übernehmen. Elvira befindet sich auch hier in einem Dazwischen. Im Gegensatz zu klassischen Frauenfiguren des Melodrams unterdrückt Elvira ihr Leiden nicht, es wird durch Ton-Modulationen, Licht, Musik und Außengeräusche zu einer fast abstrakten Figuration. Die klassische mise-en-scène wird in ihre einzelnen Elemente zerrissen. Auch die Farbigkeit des Films verwandelt sich von satt und warm in diffus und kalt. In Abgrenzung zu MARTHA werden bei IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN auch der Ton und die Sprache zur Vertiefung und Intensivierung der Bilder genutzt. In beiden Filmen werden komplexe Spiegelungen eingesetzt. Die Verschiebung des direkten Blickkontakts bei MARTHA wird bei IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN durch die vielen Spiegelkacheln nochmals verschoben und gebrochen, sie zerteilen die Figuren. Durch Disharmonien, Brüche, Fragmente und Wiederholungen wird die Zerrissenheit und Gespaltenheit Elviras in der Komposition der Bilder und losgelösten Automaten als delirierendes Leiden anschaulich gemacht. Die poetische Kraft liegt in dieser dichten, irisierenden Kombinatorik der verschiedenen Ebenen. Durch die Form und die nicht mehr vorhandenen eindeutigen Geschlechtszuschreibungen

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handelt es sich hier um eine subtile und fast groteske Annäherung an die melodramatischen Grundthemen von Liebessehnsucht, Begehren, Schmerz, Leiden und Trauer bis hin zum Prozess der Selbstauflösung und zum Identitätsverlust. Der entscheidende Unterschied zwischen IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN, MARTHA und traditionellen Melodramen ist, dass das eigentliche Melodram zeitlich schon vor dem Film gleichsam in einem Off geschehen ist und nur noch durch nacherzählte Geschichten vage eingeholt wird. Die erste Begegnung von zwei Liebenden bleibt außen vor, auch der resultierende Liebeskonflikt fehlt. Der Film zeigt einen Zustand des ›Danach‹ sowie eine Suche nach Halt in einer delirierenden Krise, die Elvira in einen Strudel der Enttäuschung zieht und in ihrer Erschöpfung endet. Fast alle Figuren im Film reden von Mitleid oder rezitieren Mitleidsethiken, ohne danach zu handeln. Bei IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN wird Gewalt nicht als pervertierte Form der Liebesbekundung eingesetzt wie in MARTHA, sondern als offene Gewalt, die einer grundsätzlichen Ablehnung der Figur Elvira entspringt. Diese setzt zur Linderung ihres Schmerzes Weihnachtslieder und Märchenerzählungen ein, die sie in einen kindlich ›unschuldigen‹ und zugleich ruhigen Zustand zurückzuversetzen scheinen.

M ÄNNLICHE S UBJEKTIVITÄT Der Filmtheoretikerin Kaja Silverman zufolge beschreibt der Film die Auflösung männlicher Subjektivität in einer Form der Unterordnung des männlichen Körpers.2 Es handelt sich um eine physische Degradierung, die als buchstäbliche Zergliederung des Körpers die Aufhebung der Männlichkeit suggeriert. Dies scheint allein als Entledigung des körperlichen Referenten, des Geschlechtsteils, erreichbar zu sein: Der ›Schlüssel zur Männlichkeit‹ wird als Stück Fleisch geopfert. Elviras Operation war also keine zwangsläufige Folgeerscheinung eines Mannes, der sich in seinem männlichen Körper als Frau fühlte, vielmehr hat Elvira sich Silverman zufolge nur umoperieren lassen, weil der Mann, den sie liebt, Frauen bevorzugt. Silverman beschreibt die erste Szene als ein Bezeugen des Fehlens des Geschlechtsteils. Die

2

Silverman, Kaja: Male Subjectivity at the Margins, New York: Routledge 1992.

E IN KRISENHAFTES B EWUSSTSEIN

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Szene gleicht einem klassischen Freud-Szenario: Als der Freier auf dem Männer-Straßenstrich den ›Mangel‹ bemerkt und auf Kroatisch »Du bist eine Frau!« sagt, erinnert dies an das von Freud konstatierte Mangelgefühl des kleinen Mädchens. Die Nahaufnahme seines in Seidenunterwäsche gehüllten Gesäßes veranschaulicht nach Silverman die Feminisierung Erwins in Elvira. An Guy Hocquenghems Aufsatz über homosexuelle Lust anknüpfend stellt Silverman fest, dass »von hinten gesehen werden« gleichbedeutend ist mit »Frau sein«.3 Die Spiegelszene mit Christoph verbindet Silverman mit der Analyse des Spiegelstadiums von Jacques Lacan.4 Ihren Ausführungen zufolge handelt es sich hier um eine besondere Form der Selbsterkenntnis als Selbstaufgabe. Das Spiegelverhältnis von Elvira und Christoph steht in einem im doppelten Sinne pervertierten Verhältnis zu Lacans Analyse des Spiegelstadiums, wonach sich das ideale Bild, das man von sich selbst entwirft und mit dem man sich einig wissen möchte, von dem bestätigenden Blick der liebenden Mutter gestiftet wird. Christoph, der hier nach Silverman den Blick der Mutter einnimmt, fungiert als Träger für Ekel und Abscheu. Bezüglich dieses perversen Verhältnisses konstatiert Silverman: »Within the Lacanian account, the mirror stage is the one period in the subject’s life when, through a radical ›méconnaissance‹, it merges so effortlessly with a beloved image as to believe itself ›ideal‹. It is hardly surprising, given the terms of this caption, that Lacan’s infant experiences ›jubilation‹. IN A YEAR OF THIRTEEN MOONS enacts a different mirror stage. [...] Whereas within the classic enactment of the mirror stage the mother’s look not only stands in for the gaze, facilitating the join of infant and image, but contributes to the idealization of the image, Christoph’s look here functions as a carrier of loathing and disgust. The identification which coerces is consequently productive more of pain than pleasure. [...] If, in addition to bring a composite of im-

3

Vgl. Hocquenghem, Guy: Homosexual Desire, London: Duke University Press 1978, S. 87. Robert Burgoyne, auf den sich Silverman oft direkt bezieht, bezeichnet den Film als eine Geschichte der Selbstauflösung: »IN A YEAR OF THIRTEEN MOONS is a tale of evacuation and self-erasure, the playing out of an original lack.« Burgoyne, Robert: »Narrative and Sexual Excess«, in: October 21 (1982), S. 51-61, hier S. 55.

4

Lacan, Jacques: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion«, in: Ders., Schriften I, Berlin: Quadriga 1991, S. 61-70.

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ages, the ego is also a libidinal reservoir, as Freud tells us, Erwin’s fictive reservoir has shrunk to virtual nothingness.«5

Die ersten Szenen des Films lassen das Leiden als eine im Delirium endende Extension der Verzweiflung verstehen. Obwohl es keinen Ausweg aus dem Teufelskreis von Unterdrückung und Schmerz zu geben scheint, existieren nach Silverman selbst-transzendierende Momente der Lust. Der Film ist nicht nur aufgrund seiner unaufhörlichen Ablehnungen utopisch, sondern auch weil er ein psychisches ›Anderswo‹ hervorbringt, welches Silverman »masochistische Ekstase« nennt. Silverman macht einige Exkurse zu verschiedenen Identifikationsansätzen, wobei sie sich von der klassischen ›Narzissmus-Verzückung‹ abwendet. Sie stützt sich auf Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse, in der Freud die ›orale Phase‹ als Organisierung der Libido ansieht, in der das Objekt der Begierde durch das Essen assimiliert und als solches ausgelöscht wird.6 Durch diese imaginäre Transaktion internalisiert das Subjekt das Bild des anderen als das eigene und verneint das ›Anderssein‹ des anderen. In Triebe und Triebschicksale exemplifiziert Freud eine besondere Form der sadistischen Lust, in welcher der Sadist in Folge der Schmerzen, die er einem anderen zufügt, masochistische Lust empfindet: Er identifiziert sich mit dem »leidenden Objekt«.7 Die Psychoanalytiker Leo Bersani und Ulysse Dutoit beschreiben diese Lust als externalisierte, »ex-zentrische« Identifikation, die das Zentrum, die Mitte des Selbst, zerstört: »It is as if we were somewhere ›between‹ ourselves and the suffering victim, somehow ›ex-centric‹ to ourselves in our identification with the victim’s position.«8 Silverman unterscheidet zwischen zwei verschiedenen Formen der Identifikation, einer, welche die konventionelle Männlichkeit aufrechterhält, und einer anderen, die im Herzen der klassischen weiblichen Subjektivität und des weiblichen Masochismus angesiedelt ist. Die erste Form insistiert auf dem Prinzip des self-same body und soll

5

K. Silverman: Male Subjectivity at the Margins, S. 223f.

6

Vgl. Freud, Sigmund: Massenpsychologie und Ich-Analyse, Frankfurt a.M.: Fischer 1974.

7

Vgl. Freud, Sigmund: »Triebe und Triebschicksale«, in: Ders., Gesammelte Werke, Band X, Frankfurt a.M.: Fischer 1946.

8

Bersani, Leo/Ulysse Dutoit: The Forms of Violence. Narrative in Assyrian Art and Modern Culture, New York: Schocken Books 1985, S. 37.

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das ›Ich‹ festigen. In der zweiten, welche auf Kosten des moi operiert, gibt das Subjekt seine körperliche Hülle der Referenz für ein anderes auf. 9 Silverman bezieht sich auch auf den Philosophen Max Scheler, der in seinen Forschungen den Versuch unternommen hat, der philosophischen Ethik eine phänomenologische Basis zu geben. Er unterscheidet eine »idiopathische« von einer »heteropathischen« Identifikation. Die idiopathische Identifikation verhält sich konform zu den freudianischen Paradigmen und wird folgendermaßen definiert: »[D]ie Einfühlung kann zustande kommen, [wenn] das fremde Ich ganz durch das eigene aufgesogen wird, in es hereingenommen, in seinem Sein und Sosein für das Bewußtsein sozusagen vollständig ersetzt und entrechtet wird.«10 Es handelt sich hier um die totale Auslöschung und Absorption eines anderen, welcher vollständig all seiner Rechte enteignet ist. Anschließend führt Silverman eine besondere freudianische Phantasie11 vor, in welcher sich der Masochismus des weiblichen Subjekts darin ausdrückt, dass es einer Gruppe von Knaben Schmerz zufügt. Diese Phantasie beschreibt Silverman als dramatische Implikation der heteropathischen Identifikation. Die von Freud als unweiblich beschriebene Frau bewohnt verschiedene männliche Körper. Silverman überträgt dies auf Elviras »Besetzung« der leidenden und sterbenden Rinder in der Schlachthofszene. Elvira gleicht einem Sadomasochisten, der den Körper, dem er Schmerzen zufügt, »beherrscht«. Heteropathische Identifikation ist nicht nur die narzisstische Entledigung, zu welcher weiblicher Masochismus idealerweise führt, sondern eine Formation im Herzen der klassischen weiblichen Subjektivität, zentral für Mutterschaft und romantische Liebe. In Bezug zur weiblichen Subjektivität im Allgemeinen beschreibt die Filmwissenschaftlerin Laura Mulvey, auf welche Weise Zuschauerinnen die Konvention der Übertragung übernehmen:

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IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN nimmt nicht nur den Körper auseinander, sondern auch das moi. Das moi ist nach Lacan das Spiegelbild, das sich durch den bestätigenden Blick der Mutter bildet. Er bezeichnet dieses Bild als »Ich-Ideal«.

10 Scheler, Max: Wesen und Form der Sympathie, Frankfurt a.M.: SchulteBulmke 1948, S. 16f. 11 Vgl. Freud, Sigmund: »Ein Kind wird geschlagen«, in: Ders., Schriften. Band VII, Frankfurt a.M.: Fischer 1982, S. 229-254, hier S. 229f.

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»the grammar of the [typical Hollywood] story places the [...] spectator with the hero, [so that] the woman spectator in the cinema can make use of an ageold tradition adapting her to this convention, which eases a transition out of her own sex into another [as] trans-sex identification [as] a habit that very easily becomes second nature.«

Silverman liest Mulvey nicht nur im Kontext von Freud, sondern sieht deren Aufsatz als Bestätigung ihrer Theorie der veräußerlichten Identifizierung mit der Männlichkeit. Hollywood fördert eine heteropathische Identifikation der weiblichen Zuschauer mit der normativen Position des Mannes und schreibt eine idiopathische Identifikation mit der Frau vor.12 In einem Vergleich zur Fassbinder-Episode in DEUTSCHLAND IM HERBST (BRD 1978) stellt Silverman einen Bezug zum Autor und den Figuren im Film her. Fassbinder konstituiere sich bei IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN selbst in einer körperlichen Entfremdung als Autor im Text, er bewohne die leidenden Körper von Elvira und Armin. Der Film als Verarbeitung des tragischen Todes seines Ex-Liebhabers veranlasse Fassbinder, Armin Meier in eine Frau zu verwandeln: Armin werde zu Elvira. Durch seine männliche Einfühlung könne Fassbinder Elvira durchdringen und somit auch mit Armin eins werden. Diese Einswerdung interpretiert Silverman als einen letzten Sexualverkehr. Silverman tendiert jedoch in ihrer Analyse dazu, auf der Ebene der Handlung und der Charakterfunktion zu argumentieren. Sie liest die Struktur des Films allzu transparent auf ihre Interpretation für Fassbinders Motivation zur Realisierung des Films. Wenn Elvira im Film sagt: »Ich sehe mich dich lieben«, bezieht sie dieses Szenario auf das reale Verhältnis von Armin Meier und Rainer Werner Fassbinder. Silverman verkennt in diesem Satz Elviras Tragik, die darin besteht, in das Bild der Frau flüchten zu müssen, das durch das konventionelle Bild von Weiblichkeit festgelegt ist. Ganz allgemein wird die Frage der Begehrenslogik unterbelichtet. Der Blick, den Christoph auf das Spiegelbild Elviras wirft, entbehrt der Lacan’schen Idealisierung zu einem Bild, vielmehr treibt er durch seine Beschimpfung die verdrängte Grundlage des Bildes, die das Fleisch ist, hervor, indem er die

12 Mulvey, Laura: Visual and Other Pleasures, Bloomington: Indiana University Press 1989, S. 32f.

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Formlosigkeit von Elviras Gesicht beklagt. An einer von Silverman unbeachteten Stelle schreibt Lacan: »Es gibt da eine schreckliche Entdeckung, die des Fleisches, das man niemals sieht, den Grund der Dinge, die Kehrseite des Gesichts, des Antlitzes, die sekreta par excellence, das Fleisch, aus dem alles hervorgeht, aus der tiefsten Tiefe selbst des Geheimnisses, das Fleisch, insofern es leidend ist, insofern es unförmig ist, insofern seine Form durch sich selbst etwas ist, das Angst hervorruft. Vision der Angst, die Identifikation der Angst, letzte Offenbarung des Du bist dies – Du bist dies, was am weitesten entfernt ist von Dir, dies, welches 13

das Unförmige ist.«

Elvira benutzt die Maskerade der Weiblichkeit, aber sie geht nicht in ihr auf, es bleibt ein widerständiger Rest, der Erwins Begehren darstellt. Dieser Rest trübt sozusagen die Projektionsfläche, auf die Christoph sein männliches Begehren richtet. Christoph führt die Kehrseite des Gesichts vor, letztendlich ist es das, was er nicht erträgt. An dieser Stelle sei auch auf Gilles Deleuze verwiesen, der generell in Bezug zum Körper schreibt, dass der Körper da aufhöre, wo der Code des Gesichts einsetzt, wo Körperlichkeit als Signifikant durch physiognomische Bedeutungsträchtigkeit als Signifikat verdrängt wird. 14 Da Elvira Christoph keinen Spiegel bietet, empfindet dieser das vom Begehren entstellte Gesicht Elviras als unförmig, das heißt nicht weiblich, denn nach Lacan ist das Begehren der Frau das Begehren des anderen. Im Sinne dieser Konstruktion müsste Elvira sagen: »Ich begehre, dass du mich liebst.« Das Unerträgliche für Christoph ist es, dass er in dem Bild Elviras nicht sein eigenes Begehren gespiegelt sieht, also in der willfährigen Frau Elvira, vielmehr drängt sich Erwins Begehren in Elviras Gesicht auf. Im Melodram sind auf der Ebene des Imaginären Bilder Substitute, welche die Sexualität durch Verschiebung der chiffrierten symbolischen Ordnung verschlüsseln. Fassbinder durchbricht die imaginären Ebenen und zersetzt sie zum Teil durch ekelerregende Bilder, in welchen die verdeckte Grundlage zum Tragen kommt – das Fleisch, insofern es leidet.

13 Lacan, Jacques: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse. Seminar II, Berlin: Quadriga 1980, S. 199f. 14 Vgl. Deleuze, Gilles/Guattari, Felix: Tausend Plateaus, Berlin: Merve 1997, S. 208.

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M ASOCHISMUS Ein weiterer Kritikpunkt an Silverman ist ihre fehlende Wahrnehmung von Elviras Scheitern, das sie stattdessen als gewollten masochistischen Akt interpretiert. Silverman versucht, gewisse Phänomene in einer bestimmten Terminologie zu verankern, wobei sich im Laufe der Untersuchungen der Masochismus als der zentrale Begriff herauskristallisiert. Daraus ergibt sich zwangsläufig eine Begehrenslogik der Lektüre des Films, da versucht wird, den Masochismus als Erklärungsgrundlage für Fassbinders Text zu erfassen. Silverman verfällt dabei der Eigendynamik ihres Diskurses und liest die Bilder meines Erachtens zu symptomatisch. Deleuze hingegen beschreibt in einem Aufsatz den Masochisten als jemanden, für den eine eigentliche Befriedigung unmöglich ist, daher muss er Umwege der Maskerade und Verzögerung gehen, die das Verlangen desexualisieren und den Schmerz verlängern. Im Zentrum der masochistischen Phantasie steht bei Deleuze die orale Mutter, die als die Nährende in der frühen Phase der Kindesentwicklung eine extreme Machtposition besitzt. 15 Im Film wird Elvira durch die Überzeichnung, welche die Maskerade mit sich bringt, zur Karikatur einer Frau und zugleich zum Leidensautomat. Sie fügt sich in das Bild der Frau und reproduziert es endlos, um nicht ihren ›Mann‹ stehen zu müssen. Ich würde Elvira gemessen an Silvermans Charakterinterpretationen eher als gesichtslos, handlungsunfähig, entleert, konformistisch und unfähig zu kämpfen bezeichnen. Elvira ist oberflächlich, in ihr deutet sich keinerlei Tiefe an, sie bricht sich stattdessen in neuen Leidensbildern. Sie begehrt nicht auf und fügt sich willenlos dem Schrecken. Im Gegensatz dazu wirken die anderen Frauenfiguren aufgrund ihrer Körperhaltung stärker und selbstbestimmter. Elvira erscheint entfremdet und ebenso ver-rückt wie ihre Kleider, sie ist von Sinnen. Das Abschneiden der

15 »Am Ende geht die masochistische Verneinung sogar so weit, daß sie die sexuelle Lust als solche in ihre Bewegung hineinzieht: Die Lust selber wird verneint, indem der Masochist sie so lange herauszögert, bis er genau im Augenblick der Lustempfindung ihre Wirklichkeit verneinen kann, um dem neuen Mensch ohne Geschlechtsliebe gleich zu kommen.« Deleuze, Gilles: »Sacher-Masoch und der Masochismus«, Vorwort zu: Leopold von Sacher-Masoch, Venus im Pelz, Frankfurt a.M.: Insel 1997, S. 163-281, hier S. 187.

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Haare im Film bezeugt einen weiteren Identitätsverlust, eine weitere Geschlechtsveränderung, da Haare und rot geschminkte Lippen in der Psychoanalyse als sekundäre Geschlechtsmerkmale gelten. Der Mangel des Geschlechtsteils deutet auf einen größeren Mangel, Elvira hat keinen Willen. Es ist ihr Körper, der regiert; sie ist kein selbstbestimmtes Subjekt. Sie sucht nicht die Unterwerfung, sie will durch Überanpassung dem Bild der Frau gerecht werden. Elvira sucht sich in keinster Weise die Szenerien lustvoll und aktiv aus, sie ist eher das erschöpfte, leidende Opfer einer amour fou, das keinen Spielraum außerhalb von melodramatischen Klischees vorzuweisen hat. Schon in der Renaissance – im Jahre 1469 – schrieb Marsilio Ficino über die Liebe: »Da die Liebe ein freiwilliger Tod ist, so ist sie als Tod zwar bitter, sofern dieser aber freiwillig ist, süß. Durch die Liebe stirbt ein jeder, weil sein Denken seiner selbst vergessend in der geliebten Person weilt. Wenn er an sich denkt, so denkt er auch nicht in sich.«

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Auch bei Ficino zeichnet sich die Liebe dadurch aus, dass man aus sich heraustritt, sich selber verliert, im anderen aufgeht und sich somit für den anderen aufopfert. IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN erzählt sogar von Elviras Passionsgeschichte, wenn sie in der Schlachthofszene das Opfer des Fleisches beschreibt, welches sie um der Liebe willen erbracht hat. Dieses Opfer wird nicht angenommen. Das von Elvira gesprochene Tasso-Zitat »Da hat man mich bekränzt und mich geschmückt, als Opfertier auf den Altar zu führen ...« bekommt in der Schlachthofszene eine doppelte Bedeutung.17 Elvira wird immer wieder als fett und auseinanderfallend

16 Ficino, Marsilio: Über die Liebe oder Platons Gastmahl, Hamburg: Meiner 1994, S. 67. 17 Deleuze beschreibt eine ähnliche Szene des deutschen Frühromantikers Karl Philipp Moritz; er »fühlt sich nicht für die sterbenden Kälber verantwortlich, sondern angesichts der Kälber, die sterben und ihm das unglaubliche Gefühl für eine unbekannte Natur geben – für einen Affekt. Denn Affekt ist kein persönliches Gefühl und auch keine Eigenschaft mehr, sondern eine Auswirkung der Kraft der Meute, die das Ich in Aufregung versetzt und taumeln läßt.« Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung. München: Fink 1992, S. 328. Auch der Wiener Aktionist Hermann Nitsch

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beschimpft. Ihr Körper hat an Elastizität eingebüßt und Christoph bezeichnet sie deshalb als ekelhaft. In der Kunstgeschichte galten jene Skulpturen als hässlich und ekelhaft, die keine glatte Oberfläche haben. Karl Rosenkranz schreibt: »Das Ekelhafte ist die reelle Seite der Negation der schönen Form der Erscheinung durch die Unform, die aus der psychischen oder moralischen Verwesung entspringt. Nach der alten Regel, a potiori fit denominatio, nennen wir auch niedrigere Stufen des Widrigen und Gemeinen ekelhaft, weil alles das uns Ekel einflößt, was durch die Auflösung der Form unser ästhetisches Gefühl verletzt.«

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In Verbindung mit der Musik kann die Schlachthofszene auch als ein Ort des sakralen antiken Opferrituals begriffen werden.

beschäftigt sich in seinen Installationen und Bildern mit Opferritualen und dem Schlachten von Rindern. In den frühen Fassbinder-Filmen wurden Opfer als leidendes Zeugnis des Kapitalismus und des autoritären Patriarchats verstanden. Vgl. KATZELMACHER (BRD 1969, R: R.W. Fassbinder), ANGST ESSEN SEELE AUF (BRD 1974, R: R.W. Fassbinder), FAUSTRECHT DER

FREIHEIT (BRD 1974, R: R.W. Fassbinder). $G !:MBA D|GL GEGEN

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Figur im Vordergrund: Sibel. Vgl. Siewert, Senta: »Soundtracks of Double *