Raum und Objekt im Werk von Samuel Beckett [1. Aufl.] 9783839415153

Bekanntlich korrigiert der rezente »Spatial Turn« den vormalig linguistischen. Diesen Wandel datiert man verbreiteterwei

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Raum und Objekt im Werk von Samuel Beckett [1. Aufl.]
 9783839415153

Table of contents :
INHALT
Einleitung
»A Space to Note« Raumästhetik in Becketts Manuskripten
Raumspiel und Raumregie im Endspiel und im Spätwerk Becketts
Unmögliche Räume. Die Stimme als Objekt in Becketts (spätem) Theater
Das Nagen des Raums am Objekt. Zu Phänomenen heikel werdender Verdinglichung in Becketts Das letzte Band und ihrer Herausforderung für die Inszenierungspraxis
Das allerletzte Band: Handke zu Beckett an den Münchner Kammerspielen
Raum und Objekt in He, Joe und anderen Fernsehstücken Samuel Becketts
Trostobjekte im Werk Samuel Becketts
»Ma région« Bewegung und Raumerfahrung in Becketts Molloy
Figur, Objekt, Stimme: Elemente möglicher Räume am Beispiel narrativer. Texte von Samuel Beckett
(Text-)Körper und Räumlichkeit in Becketts Le Dépeupleur
Raum und Objekt in Samuel Becketts Le Dépeupleur
Raum und Objekt in Dream of Fair to middling Women (1932, publ. 1992)
Verwandtschaften, Verweigerungen. Notizen zu Raum, Identität und Handlung des Kunstsachverständigen Samuel Beckett
Autorinnen und Autoren

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Franziska Sick (Hg.) Raum und Objekt im Werk von Samuel Beckett

Franziska Sick (Hg.) Raum und Objekt im Werk von Samuel Beckett

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Screenshot aus Samuel Beckett, »Schatten: Geistertrio«, © Südwestrundfunk Lektorat & Satz: Franziska Sick, Marie-Therese Mävers Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1515-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT

Einleitung FRANZISKA SICK 7 »A Space to Note« Raumästhetik in Becketts Manuskripten MARK NIXON 15 Raumspiel und Raumregie im Endspiel und im Spätwerk Becketts FRANZISKA SICK 27 Unmögliche Räume Die Stimme als Objekt in Becketts (spätem) Theater HELGA FINTER 55 Das Nagen des Raums am Objekt Zu Phänomenen heikel werdender Verdinglichung in Becketts Das letzte Band und ihrer Herausforderung für die Inszenierungspraxis SEBASTIAN BLASIUS 67 Das allerletzte Band: Handke zu Beckett an den Münchner Kammerspielen SUSANNE HARTWIG 83 Raum und Objekt in He, Joe und anderen Fernsehstücken Samuel Becketts THERESE FISCHER-SEIDEL 101

Trostobjekte im Werk Samuel Becketts HORST BREUER 115 »Ma région« Bewegung und Raumerfahrung in Becketts Molloy JAN-HENRIK WITTHAUS 129 Figur, Objekt, Stimme: Elemente möglicher Räume am Beispiel narrativer Texte von Samuel Beckett DANIEL BENGSCH 145 (Text-)Körper und Räumlichkeit in Becketts Le Dépeupleur SILKE SEGLER-MESSNER 165 Raum und Objekt in Samuel Becketts Le Dépeupleur ANNE BEGENAT-NEUSCHÄFER 185 Raum und Objekt in Dream of Fair to middling Women (1932, publ. 1992) GERD ROHMANN 207 Verwandtschaften, Verweigerungen Notizen zu Raum, Identität und Handlung des Kunstsachverständigen Samuel Beckett KAI-UWE HEMKEN 223 Autorinnen und Autoren 237

Einleitung FRANZISKA SICK

I So breit gefächert die Rede von »spatial turn« und Raumtheorie ist, so sehr muss irritieren, dass einer der prononciertesten Raumdenker des 20. Jahrhunderts in ihr kaum Berücksichtigung findet: Samuel Beckett. Das mag damit zu tun haben, dass Beckett kein Theoretiker ist, sondern Literat. Dennoch lassen sich markante Begriffe moderner Raumtheorie – so etwa Foucaults Konzept der Heterotopie1 – mit Becketts Werk in Beziehung setzen. Weitgehend ersetzen bei Beckett andere, irritierende, fremde Räume die Geschichte, und seien diese Räume auch nur die Sternenräume, die Molloy von jeder weiteren Handlung entbinden. Diese ›Geschichtslosigkeit des Raums‹ deutet auf eine weitere Gemeinsamkeit mit Foucault hin: Beide entwerfen ihre Heterotopien, indem sie sich, in wie auch immer abgrenzender Weise, auf Utopien, auf Zukunftsund Erwartungsräume beziehen. Markant tritt die Zurückweisung der Utopie bei Beckett hervor. Die Paradiese der Südsee sind Clov im Endspiel vergällt, weil dort Säugetiere leben,2 im Gegenzug befürchtet Hamm, dass aus einer Filzlaus sich eine neue Menschheit entwickeln könnte.3 Avisiert ist damit eine dezidiert antiutopische Zeitlichkeit. Kaum anders ist das Heterotop des Verwaisers verfasst. Es sistiert mit Verweis auf Dante den Läuterungsberg, Himmel und Hölle verschränkend, in einem Dauerdurchgangszustand (Beitrag Begenat-Neuschäfer). Sicherlich: Das Foucault’sche Heterotopiekonzept ist verschränkter als dasjenige Becketts. Anders als Beckett weist Foucault die Utopie nicht bloß zurück, sondern integriert sie in 1

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Vgl. Foucault, Michel: Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge. Zweisprachige Ausgabe mit CD, übers. von Michael Bischoff. Mit einem Nachwort von Daniel Defert, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005. Vgl. Beckett, Samuel: Endspiel, in: ders., Dramatische Dichtungen in drei Sprachen. Ausgabe in einem Band, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 207-317, hier S. 251. Vgl. ebd., S. 249.

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Franziska Sick seinen Ansatz. Er bezeichnet mit ihr den imaginären Anteil der Heterotopie. So different beide Ansätze sind, so unübersehbar sind sie aufeinander verwiesen: Erst wenn die Utopie als imaginär gesetzt ist, kann man mit ihr den imaginären Anteil heterotopischer Räume markieren. Man muss kaum betonen, dass die Heterotopie bei Foucault, obwohl er immer wieder auf das Modell der Utopie zurückgreift, im Kern nicht-utopisch ist. Foucaults Utopie gibt nicht länger ein Ziel vor. Sie dient nur noch der Lesbarkeit des Raums. Es ist diese ›Entzeitlichung‹ des Raums, die den modernen Raumbegriff zu nicht unerheblichen Teilen prägt.4 Der Raum ist nicht mehr der Geschichte subordiniert, allenfalls ist die Geschichte noch aus dem Raum herauszulesen. In nachgerade scharnierhafter Weise kommt dieser Paradigmenwandel in Walter Benjamins ›Angelus Novus‹ zum Ausdruck. Der ›Angelus Novus‹ blickt auf das Trümmerfeld der Geschichte, auf die Geschichte als Tatort, und wird rückwärtig dennoch ins Paradies geweht.5 So sehr Benjamin noch an einem substanziellen Begriff der Utopie festhält, sein ›Angelus Novus‹ hat nicht länger die Utopie im Blick, sondern das Trümmerfeld der Geschichte. Es bleibt anzumerken, dass Benjamin, Foucault sowie Vertreter des »spatial turn« historische, kulturgeschichtliche Fragestellungen aufwerfen.6 Das Beckett’sche Werk handelt demgegenüber kaum von Geschichte. Es besitzt eine vorwiegend anthropologische oder aber auch phänomenologische Dimension. Es gründet nicht im kulturhistorischen Ast moderner Raumtheorie, sondern greift auf Motive einer unter dem Vorzeichen des Raums revidierten Subjekttheorie zurück, wie sie zumal Edmund Husserl ausgearbeitet hat. Während es im einen Fall darum geht, Geschichte (›Histoire‹) zu verräumlichen – man denke an Foucaults Metapher der Archäologie oder an Benjamins Passagenwerk –, geht es im anderen Fall, und zumal bei dem Literaten Beckett, darum, Geschichten (›histoires‹) zu verräumlichen: Fingierte Geschichten, Lebensgeschichten, die freilich im Zuge ihrer Verräumlichung die biographisch-lebensgeschichtliche Dimension nahezu völlig eskamotieren. Man tritt auf der Stelle. Was bleibt, ist das Raumgerüst der Stelle, auf der man herumtritt.

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Vgl. hierzu eingehender Günzel, Stephan: »Kopernikanische Wende«, in: ders. (Hg.), Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: Metzler 2010, Kap.: Raumkehren, II.1, S. 77-89, bes. S. 79, 83. Vgl. Benjamin, Walter: »Über den Begriff der Geschichte«, in: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980, Bd. I.2, S. 691-704, hier S. 697f. Vgl. Döring, Jörg: »Spatial Turn«, in: S. Günzel (Hg.), Raum (wie Anm. 4), Kap.: Raumkehren, II.2, S. 90-99.

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Einleitung Trotz der Differenzen in der Leitfrage (Kulturwissenschaft / Phänomenologie) und im Genre (Literatur / Theorie) sind tiefer liegende, transversale Verwandtschaften zu verzeichnen. Man hat vielfach darauf verwiesen, wie poetisch, raum-bildlich die Sprache des Philosophen Benjamin sei. Komplementär zu ihr verhält sich die Sprache des Literaten Beckett. Sie wird in zunehmendem Maße abstrakt, teilweise verstummt sie völlig, um nur noch von räumlichen Bewegungsmustern und Anordnungen zu handeln. Aufgrund dieser starken Reduktion erhalten die Beckett’schen Werke quasi begrifflichen Charakter, sie zeigen ein Strukturgefüge von Anordnungen, von Relationen im Raum. Damit klingt ein weiteres zentrales Philosophem moderner Raumtheorie an. Seit Cassirer denkt man Raum als Ordnung, als relationales Gefüge, das in seiner Relationalität zu beschreiben ist: »Wir leben in einer Zeit, in der sich uns der Raum in Form von Relationen der Lage darbietet.«7 Kaum weniger begrifflich präzise ist die Ausrichtung Becketts in seinem Gesamtwerk. Sprache und Geschichte sind ihm verdächtig. Woran er einzig noch festhält, ist der Raum. Ob Beckett damit einen Paradigmenwandel einleiten wollte, kann man bezweifeln. Unabhängig davon genügt sein literarischer Ansatz den formal-konstitutiven Kriterien eines Paradigmenwechsels: Man kann ein neues Paradigma nur setzen, wenn man die alten agnostiziert. Nur unter der Voraussetzung einer konsequenten Streichung von Zeichen und Zeit erscheint der Raum. Weniger puristisch verhält sich demgegenüber die These vom »spatial turn«. Das belegt bereits der Umstand, dass sie mit der Rede vom ›turn‹ den Raum der Geschichte subordiniert. Hierin gründet wohl auch die Pluralität der Paradigmen im Umfeld rezenter Raumtheorie: »spatial turn«, ›topographical turn‹, ›pictorial turn‹. Da man sich auf geistesgeschichtliche Begriffe, auf die Wissenschaftsgeschichte einzelner Teildisziplinen bezieht, die überdies interdisziplinär miteinander konkurrieren, hat man einige Mühe zu bestimmen, wer der Begründer des ›turn‹ ist, und wer oder was deshalb ehrenhalber sein Namensgeber sein sollte. Aber was liegt an den Namen? Bei Beckett heißen die ›Player‹ A oder B. Der Verzicht auf den Namen, und das heißt unter der Hand einmal mehr: der Verzicht auf die Allianz von Zeichen und Zeit, erlaubt Beckett eine Bestimmung von Raum, die ungleich prägnanter und präziser ist als die der Theoretiker des »spatial turn«. Modernes Raumdenken, heterotopisches Denken ist nur möglich, wenn man den Raum entutopisiert, und das heißt: entzeitlicht.

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Foucault, Michel: »Von anderen Räumen« (1967), in: Jörg Dünne/ Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 317-329, hier S. 318.

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Franziska Sick Nicht einfach hat sich deshalb die Rezeption Becketts gestaltet. Auch wenn in der theoretischen Diskussion der 1950er Jahre die Raumproblematik zunehmend an Kontur gewann, war die zeitgenössische Literaturkritik noch vom Existenzialismus geprägt. Weitgehend verstellt war der Beckett’sche Raum, weil der französische Existenzialismus aus Heideggers Sein und Zeit nahezu ausschließlich Aspekte der Zeitlichkeit, der Wahl, der Entschlossenheit übernahm. Gemessen hieran erschienen die Beckett’schen Helden als Anti-Existenzialisten oder aber auch als existenziell überfordert. Die Zurückweisung dieser Lesart führte in der Folge verbreiteter Weise zu der Auffassung, Beckett sei nicht zu interpretieren. Nur allzu leicht ließen die Beckett’schen Räume sich in dieses Interpretationstabu einbinden – indem man sich da und dort auf rein formale literatur- und theaterwissenschaftliche Kategorien beschränkte und jede weitere Deutung ausschloss.

II So fragwürdig der Begriff »spatial turn« im Einzelnen sein mag, so wenig auch der Aspektreichtum moderner Raumtheorie an dieser Stelle zu behandeln ist, so sehr lässt sich von diesem Begriff her der Raum bei Beckett zumindest neu akzentuieren. In diesem Sinne vertritt Jan-Henrik Witthaus die Auffassung, dass Molloys »ma région« trotz ihrer Absonderlichkeit eine Daseinsmetapher sei. Gerade das Befremdliche von Molloys ›Region‹ qualifiziert sie zu einem quasi existenziellen Paradigma. Mit gesetzt ist hierbei, dass nicht länger der Entwurf oder die Wahl prägend für das Dasein ist, sondern der Raum. Das entwurfshafte ›Projekt‹ Sartres permutiert bei Beckett zu einer so orientierungs- wie eben deshalb ziellosen ›Region‹. In eine verwandte Richtung zielt Silke Segler-Meßner, wenn sie den Verwaiser mit Deleuze auf einen erschöpfenden Möglichkeitsraum bezieht. Freilich verschieben sich hierbei die Gewichte und Perspektiven. »Ma région« wird zu einem »alternativen Kosmos«. Mit einem tendenziell anderen Paradigma wartet das Theater auf, weil dieses weniger Welt beschreibt, als vielmehr Bewegung inszeniert. Der kosmische Möglichkeitsraum bildet sich deshalb zuvörderst als Raumspiel, verkürzt gesagt: in der Inszenierung choreographischer Bewegungsmuster ab (Beitrag Sick). Trotzdem sind diese Gattungsdifferenzen nicht überzubewerten. Raumspiele sind nicht nur inszenierbar, sondern in gleicher Weise auch erzählbar. Das zeigt sich exemplarisch daran, dass Molloy und Endspiel ein und dieselbe Schachmetapher zugrunde liegt. Bemerkenswerter als die Gattungsfrage ist im vorliegenden Zusammenhang, in wie pluraler Weise sich das Raumparadigma bei Beckett

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Einleitung ausfaltet: Himmel und Hölle, der Kosmos und »ma région«, Bühnenraum und Choreographie stehen gleichwertig nebeneinander. Eine vergleichbare Pluralität und tastende Versuchshaftigkeit ist in Foucaults Schrift »Von anderen Räumen« zu verzeichnen.8 Hier wie dort entfaltet man das neue Paradigma, indem man eine Vielzahl anderer Räume betritt und entwirft. Das neue Paradigma kann nur in dieser Andersheit Kontur gewinnen. Andernfalls würde man in den alten Zeit-Räumen verharren, bei den territorialen Karten der Geschichtsschreiber und, ergänzend hierzu, bei den bürgerlichen Interieurs der Geschichtenerzähler vom Schlage Balzacs. Es liegt im Zuge dieser versuchsweisen Modellierung anderer Räume, dass sie ein nachgerade reflexives Gepräge besitzt. So vertritt Witthaus die These, dass »die ›Region‹ als Philosophem erst in der Evokation von brüchiger Räumlichkeit ermöglicht wird«, SeglerMeßner spricht von einer Koinzidenz von Raum und Erkenntnis, derzufolge Erkennen impliziert, »einen Raum zu entwerfen, in dem jedes Ereignis virtuell bereits stattgefunden hat.« Mit stärkerer Rückbindung an expressive kunstgeschichtliche Traditionen deutet Kai-Uwe Hemken diese in sich gespaltene Rückbezüglichkeit als Versuch einer Selbstäußerung. Unter der Hand lässt sich an den kunstgeschichtlichen Rückverweisen ablesen, wie historisch verästelt der Raumbegriff ist, und dass der Begriff des »spatial turn« deshalb mit einer gewissen Vorsicht zu verwenden ist.

III Es gibt keinen (nicht-geometrischen) Raum ohne Ding. So karg die Beckett’schen Bühnen- und Erzählräume auch möbliert sind, sie definieren sich in mehrfacher Weise durch Objekte. Erst der kahle Baum in Warten auf Godot eröffnet die öde Weite der Landschaft (Beitrag Hemken). Um die Leere des Raums zu füllen, hantieren die Protagonisten häufig mit belanglosen Dingen, mit »Trostobjekten«, die den leeren, ereignislosen Raum mit zumeist streng ritualisierten Abläufen beleben sollen. Diesen Aspekt arbeitet Horst Breuer heraus. Wie er zeigt, kann man die Beckett’sche conditio humana auch psychologisch ausdeuten, ohne hierbei einen individualpsychologischen Ansatz unterstellen zu müssen. Objekthaft sind nicht zuletzt die Beckett’schen Figuren. Vielfach sind sie eingebuddelt und eingebottlet – sie nähern sich in dieser Hinsicht dem Requisit an –, oder sie sind fragmentiert wie der Mund in Not I, ein Partialobjekt, das in seiner exponierten Isoliertheit einmal mehr raumkonstitutiv wirkt. Objekthaft und zugleich Raum

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Vgl. Foucault, Michel: »Von anderen Räumen« (wie Anm. 7).

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Franziska Sick schaffend ist nicht zuletzt die Stimme. So ermöglicht das Tonband in Das letzte Band die Kopräsenz zweier Akte, so eröffnet die akusmatische Stimme, weil sie von einem nicht lokalisierbaren Außenraum her spricht, einen indefiniten »unmöglichen Raum«, der ineins ›vorichhaft‹ und memento mori ist, ein Klang- und Mentalraum, der sich nur noch evozieren lässt (Beitrag Finter). Die akusmatische Stimme verändert nicht zuletzt die Grundgeometrie der Inszenierung. Sie eröffnet ein uneinsehbares Außen, das Schauspieler und Zuschauer gleichermaßen umschließt und von diesem Außen her den Bühnenraum neu ausrichtet. Teilweise konterkariert, teilweise unterstrichen wird diese Raum schaffende Stimme durch Kameraführung und Beleuchtungstechnik. Beides sind weiche Faktoren der Raumerzeugung, die Beckett in kunstvoller Weise miteinander verschränkt. Therese Fischer-Seidel verweist in diesem Zusammenhang auf eine überraschend versöhnliche Perspektive im Spätwerk Becketts: In Nacht und Träume fällt das Licht von schräg hinten ein. Nirgends sonst ist der Beckett’sche Raum so offen wie hier. Raumschaffend ist die Stimme nicht bloß auf dem Theater, sondern auch als Stimme des Erzählers. Obwohl die Stimme den Raum evoziert, kann der Erzähler in ihm nur noch in prekärer Weise Platz nehmen. Zumal in den homodiegetischen Werken ist der erzählte Raum so ›nicht-zugehörig‹ zur Figur wie der Erzählraum. Auch in dieser erzählreflexiven Weise kann der Raum anders sein. Teilweise verflüchtigt er sich aufgrund der Unzugehörigkeit zu einem reinen Möglichkeitsraum (Beitrag Bengsch). Breitfältig zeichnet sich in den Beiträgen ab, dass die Dinge bei Beckett nicht länger in den Kontext einer Verdinglichung, sondern in den einer Verräumlichung zu stellen sind. Obwohl Warten auf Godot noch auf das Verhältnis von Herr und Knecht anspielt, auf dieses historische Konstrukt, dem zufolge die Macht aus Menschen Dinge macht, tritt dieses Motiv später zugunsten einer ›Verräumlichung des Daseins‹ zurück. Diese Entäußerung in den Dingraum hat vielfache Aspekte: Der Dingraum partialisiert und ›verdinglicht‹ sowohl den Sprechakt (so z.B. in Not I) als auch den Wahrnehmungsakt (so z.B. in Film) und nicht zuletzt in der akusmatischen Stimme den Akt des Hörens. Dingräumlich ist ferner die ›Entäußerung‹ in das »In-Sein« als solches, das Beckett freilich nicht, wie Heidegger, als immer schon vertrautes »Sein bei«9 auffasst. Vielmehr findet sich das Beckett’sche ›In-Sein‹ in einem befremdlichen Außen wieder, das eben deshalb voll von verschiebbaren Grenzen, voller Nischen, Höhlen, Wänden, Öffnungen und Sperrungen ist. ›Geschichtsträchtig‹ sind in dieser Entäußerung in den Dingraum nicht länger die Handlungen der Akteure, sondern allenfalls

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Vgl. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer 141977, S. 54f.

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Einleitung die Fortbewegungsmittel. Oder aber auch die kleinen Trostobjekte, mit denen die Beckett’schen Protagonisten die Leere des Raumes und zugleich das unüberbrückbare Alleinsein im Raum aufzufüllen versuchen. Anderweitig, weniger subjektiv artikuliert sich die Entäußerung in das fremde ›In-Sein‹ auf dem Theater: Als Bewegungschoreographie, die den Raum auslotet, um nichts anderes zu erfahren als seine Äußerlichkeit, den geschichtslosen Wiederholcharakter der Entäußerung – und dessen unüberschreitbare Grenzen.

IV Raumprägend und raumgeprägt sind nicht zuletzt die Rezeptionsund Produktionsbedingungen des Beckett’schen Werkes. So verweist Helga Finter auf Denis Marleaus Aufführung von Maurice Maeterlincks Les Aveugles beim Festival d’Avignon 2002, die die Spielanordnung von Becketts That Time aufnimmt und weiter radikalisiert: Anders als bei Beckett sind die Figuren bei Marleau keine Schauspieler mehr, sondern Videoprojektionen. Kantiger ist, wie Susanne Hartwig zeigt, die Wiederaufnahme von Becketts Das letzte Band durch Peter Handke. Während Beckett den Zweiakter mittels des Tonbands zu einem Einakter verdichtet, versucht Handke das Beckett’sche Stück zu entdichten und zu entzerren, indem er den Monolog Krapps mit dem Monolog der Geliebten konfrontiert. Es stellt sich jedoch die Frage, wo, wenn denn Beckett eine ›ontologische‹ Konstellation aufzeigt, das Handke’sche Supplement Platz nehmen kann, zumal die Beckett’sche ›Ontologie‹ ihrerseits bereits supplementär ist. Denn was ist das im doppelten Wortsinn besprochene Tonband anderes als ein Supplement, das nachträglich das Sich-Entgleiten und das Entgleiten des Anderen bespricht? Mit Blick auf die Aufführung von Das letzte Band fordert Sebastian Blasius in diesem Sinne, dass angesichts der Brüchigkeit Beckett’scher Regieangaben in der Inszenierung die Präsenz von etwas Abwesendem zum Ausdruck kommen muss. Man mag im vorliegenden Kontext hinzusetzen, dass dieses Erfordernis nicht bloß formal abzuleiten ist. Es ist unmittelbarer Gehalt des Stückes. Raumgeprägt ist nicht zuletzt Becketts Schreiben. Es leitet sich, wie Mark Nixon darlegt, aus früher Bilderfahrung her, die ihr besonderes Augenmerk auf die Zwischenräume lenkt. Von solchen »room-spaces«, von Unterbrechungen und Leerstellen, die er mit Zeichnungen auffüllt, sind Becketts Manuskripte geprägt, sie finden sich aber auch in seiner Poetik, die Beckett als Kunst der Pause versteht. Nicht zuletzt verweist Gerd Rohmann anhand von Dream of Fair to middling Women auf autobiographische Bedingungen Beckett’scher Zwischenräumlichkeit. Beckett bewegt sich zwischen 13

Franziska Sick den drei Städten Wien, Kassel und Dublin, aber auch zwischen drei Frauen: Smeraldina-Rima, Syra-Cusa und Frica. Er löst sich in seiner nüchternen Darstellung Dublins von seinem Übervater Joyce – und dennoch: Während später der Mund in Not I Identität leugnet und, insofern er spricht, in einem Wortschwall herausschleudert, ist die poetische Namensgebung bei aller sich abzeichnenden Nüchternheit und Schonungslosigkeit im Frühwerk noch liebevoll und poetisch gehalten. Der frühe Text ist ›Saatbeet‹ für ein Werk, das später beträchtlich karger sein wird. Die Beiträge des vorliegenden Bandes sind hervorgegangen aus einer Tagung, die anlässlich des 20. Todestages von Samuel Beckett von Universität und Samuel Beckett Gesellschaft Kassel organisiert wurde und am 22./23. Januar 2010 an der Universität Kassel stattfand. Für großzügige finanzielle Unterstützung der Tagung und Zuschüsse zu den Druckkosten geht Dank an den Förderverein Rainer Dierichs e.V., das Kulturamt der Stadt Kassel, die Kasseler Sparkasse, die Sparda Bank Hessen, die K+S Kali GmbH, das Hotel Palmenbad sowie den Kasseler Hochschulbund und die Universität Kassel. Wertvolle praktische Hilfe bei der Organisation der Tagung, der Korrekturlektüre der Manuskripte und der Erstellung der Druckvorlage kam von Henrike Taupitz, Annelie Krebs, Marie-Therese Mävers und Katherina Keller-Grein. Auch ihnen sei an dieser Stelle herzlich gedankt.

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»A Space to Note« Raumästhetik in Becketts Manuskripten MARK NIXON Der Frage, welche Rolle Raum und Objekt in Becketts Werk spielen, möchte ich hier primär aus der Sicht des Archivs nachgehen. Das heißt, ich werde mich hier mit den Manuskripten, den sogenannten avant-textes Becketts befassen. Wie wir wissen, sind Raum und Objekt von zentraler Wichtigkeit bei Beckett, und ich möchte untersuchen, wie diese im schöpferischen Akt, im Schreibprozess entwickelt und definiert werden. Die räumliche Anordnung in Becketts Werk kann mit seiner Auseinandersetzung mit den bildenden Künsten in Verbindung gebracht werden. Zugleich werde ich darzustellen versuchen, dass die materielle Manuskriptseite, das Blatt Papier, selbst zu einem Raum wird, der durch verschiedene Notationsformen bevölkert wird. Eine solche Bevölkerung ist in den Manuskriptseiten des unvollendeten Theaterstückes Human Wishes sichtbar. Hier stehen Figur und Text nicht inhaltlich miteinander in Verbindung, aber doch in der Räumlichkeit des Manuskripts, welches ein Zwischenspiel von Schreibakt und Wartestellen darstellt. Die Vermutung liegt nahe, dass Beckett beim Schreiben stehengeblieben ist; er hätte natürlich aufstehen, sich umsehen, einen Kaffee trinken können – er bleibt aber hartnäckig auf der Seite, wenn auch nur, um kleine Skizzen und Zeichnungen zu machen.

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Mark Nixon

Human Wishes. Beckett International Foundation, University of Reading, UoR MS 3458, 3r © The Estate of Samuel Beckett Notizbücher und Manuskripte sind Orte der Notation – oder, wie Beckett es in All Strange Away ausdrückt, »a space to note«.1 Doch das Wort »space« bedeutet auf Englisch natürlich nicht nur Raum, sondern auch Leere, oder die Absenz von etwas Dinglichem. Mehr noch ist »space« die Lücke zwischen zwei Dingen sowie, in sprachlicher Hinsicht, eine Pause. Beckett hat sich schon in den 1930er Jahren intensiv mit diesen räumlichen Kategorien befasst und eine Art Ästhetik der Lücke, der Pause und des dazwischen liegenden Raumes zu formulieren versucht. In erster Instanz war die Problematik eine sprachliche. In seinem wohlbekannten Brief an den jun1

Beckett, Samuel: Texts for Nothing and Other Shorter Prose, 1950-1976, hg. von Mark Nixon, London: Faber 2010, S. 79.

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»A Space to Note« gen Buchhändler Axel Kaun vom Juli 1937 plädiert Beckett für eine »Literatur des Unworts«, wie er es nennt, und kritisiert die Materialität der Sprache: »Und immer mehr wie ein Schleier kommt mir meine Sprache vor, den man zerreißen muss, um an die dahinterliegenden Dinge (oder das dahinterliegende Nichts) zu kommen«.2 Eine kreative Lösung wäre natürlich die Stille, die sprachliche Leere oder Sprachlosigkeit, wie es schon Belacqua in Dream of Fair to middling Women formuliert hat: »The experience of my reader shall be between the phrases, in the silence, communicated by the intervals, not the terms, of the statement.«3 Dieses ästhetische Programm wird durch einen Vergleich mit Beethovens Musik unterstrichen: »I think of his [Beethoven’s] earlier compositions where into the body of the musical statement he incorporates a punctuation of dehiscence, flottements, the coherence gone to pieces.«4 Belacqua beschreibt anschließend Beethovens Musik als »compositions eaten away with terrible silences«.5 Es ist möglich, hier eine Analogie zwischen Belaquas Worten und Becketts poetologischen Bemerkungen aufzustellen. So wie bei Beethoven die Kohärenz der Musik durch Pausen zerrissen ist, so hat Beckett in seine Texte Pausen integriert. Noch Jahre später hat sich Beckett mit Beethovens Pausen beschäftigt. In seinem Brief an Axel Kaun vom Juli 1937, in dem Beckett seine Unzufriedenheit mit der Sprache zum Ausdruck bringt, bezieht er sich wiederholt auf Beethoven: »Gibt es irgendeinen Grund, warum jene fürchterlich willkürliche Materialität der Wortfläche nicht aufgelöst werden sollte, wie z.B. die von großen schwarzen Pausen gefressene Tonfläche in der siebten Symphonie von Beethoven, so dass wir sie ganze Seiten durch nicht anders wahrnehmen können als etwa einen schwindelnden unergründliche Schlünde von Stillschweigen verknüpfenden Pfad von Lauten?«6

Im Spätwerk führt dies zur radikalen Reduktion der Sprache, aber in den 1930er und 1940er Jahren verfährt Beckett anders. In Watt zum Beispiel tauchen viele sprachliche Lücken auf, nicht zuletzt, da der Text als Manuskript präsentiert wird: »Er konnte die Tribünen, die Ehren-, die Mitglieder-, die Volkstribüne nicht sehen, die leer mit ihrem Weiß und Rot so ? waren, da sie zu weit weg lagen.«7 2 3 4 5 6 7

Beckett, Samuel: Disjecta, London: Calder 1983, S. 52. Beckett, Samuel: Dream of Fair to middling Women, Dublin: Black Cat Press 1992, S. 138. Ebd., S. 138f. Ebd., S. 138. S. Beckett: Disjecta (wie Anm. 2), S. 52. Beckett, Samuel: Watt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, S. 34.

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Mark Nixon Solche Lücken – oder eher Absenzen – tauchen auch anderweitig im Frühwerk auf. Becketts Kritik der Sprache ist eng verbunden mit seinem Interesse an der Theorie des Sehens und der Wahrnehmung. Sein Denken in diesem Bereich wurde durch die Auseinandersetzung mit dem Philosophen Berkeley angeregt, aber erst durch die Betrachtung der Bilder Cézannes wirklich geprägt. In einem Brief an Thomas MacGreevy schreibt Beckett am 16. September 1934, Cézanne sei ein wichtiger Maler, weil er erkannt habe, dass jegliche Verbindung und damit auch jegliche Kommunikationsmöglichkeit zwischen Subjekt und Objekt unmöglich geworden sei. Mehr noch: Das Subjekt (das Individuum) könne sich selbst nicht wahrnehmen, es sei sich selbst fremd. In seinem Aufsatz »Recent Irish Poetry« aus demselben Jahr 1934 wiederholt Beckett die These, dass die Kommunikationsbeziehungen zwischen dem Künstler und der Welt der Objekte zerrissen seien. Die einzige künstlerische Alternative bestehe nun in der Erforschung des »space that intervenes«, des dazwischen liegenden Raums.8 Mehrfach nennt Beckett diesen Raum »no-mansland«, Niemandsland. Als er im November 1936 in Hamburg Texte des Malers Franz Marc liest, notiert er zum Beispiel, dass nicht die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt der Gegenstand seines Interesses sei, sondern »the alienation (my nomansland)«, die Verfremdung (mein Niemandsland). Wie etliche Einträge in Becketts Tagebüchern, die seine Deutschlandreise in den Jahren 1936-1937 dokumentieren, zeigen, hat Beckett in den Kunstsammlungen und Künstlerateliers die Anwendung der Perspektive in den Bildenden Künsten studiert. Unermüdlich hat er sich stundenlang die Gemälde der Alten Meister, aber auch die der Moderne angesehen. In der Entwicklung von Becketts ästhetischem Denken erweist sich die Deutschlandreise als ebenso grundlegender wie weitreichender Einschnitt. Und zwar vor allem deshalb, weil Beckett hier seine Gedanken zu Sprache, Perspektive und Wahrnehmung mit einem räumlichen Denken kombiniert. Zweifellos findet zu dieser Zeit bei ihm ein »spatial turn« statt, eine Hinwendung zur Verortung des Raums im künstlerischen Schaffensprozess. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang seine Reaktion auf ein Gemälde Antonellos – Sankt Sebastian – in der Gemäldegalerie von Dresden.

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S. Beckett: Disjecta (wie Anm. 2), S. 70.

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»A Space to Note«

Antonello da Messina: Sankt Sebastian (ca. 1476) © Gemäldegalerie Alte Meister, Dresden Nach einer ersten Besichtigung am 1. Februar 1937 hält Beckett in seinem Tagebuch seine Bewunderung für das Bild fest, kommentiert die Abwesenheit jeglicher Aggression (die Bogenschießer seien nicht sichtbar) und konzentriert sich dann auf die Tatsache, dass – wie die Figuren im Hintergrund zeigen – das Leben weiter geht. Die Tragödie im Vordergrund werde durch die Alltäglichkeit des Hintergrundgeschehens relativiert: Ein Soldat schnarcht, Männer schwatzen, nur die Frauen auf dem Balkon zeigen Interesse – »it is good to be alive« [Man freut sich des Lebens].9 Beim folgenden Besuch in der Gemäldegalerie konzentriert Beckett sich auf die Perspektive und auf den pavimento, den Boden. Er denkt ferner über die Anordnung der Objekte nach und fragt sich, welche Funktion das Objekt vorne rechts – er kann es nicht identifizieren – wohl haben könnte. Grundsätzlich stellt Beckett sich die Frage, wo was hingehört, so als handle es sich um einen Bühnenraum (und das lange bevor er Theaterstücke schreibt).

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Tagebucheintrag vom 1. Februar 1937, zitiert in: Billig, Volkmar et al. (Hg.): Zukunft seit 1560. Von der Kunstkammer zu den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden: Die Anthologie, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2010, S. 196.

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Mark Nixon Zehn Jahre später kommt Beckett im Briefwechsel mit dem Kunsthistoriker und Herausgeber der Zeitschrift Transition, Georges Duthuit, auf das Gemälde Antonellos zurück. Am 27. Juli 1948 schreibt er, dass er sich an den Sankt Sebastian erinnere und beschreibt das Gemälde als ein von »Menschlichem« durchzogenes Bild – »mangé par l’humain«. Wichtiger in unserem Zusammenhang aber ist seine Bemerkung, das Gemälde sei »un espace pur à force de mathématiques« – ein durch Mathematik hergestellter reiner Raum.10 Becketts bildnerisches Bewusstsein eines durch Mathematik konstruierten Raumes datiert auf den Sommer 1948. Am 9. Oktober desselben Jahres beginnt er En attendant Godot zu schreiben. Ich will hier keine Analogie behaupten, aber doch darauf hinweisen, dass Becketts Schreibweise nach 1945 vermehrt auf Symmetrien, Repetitionen und mathematischen Modellen beruht. Die Manuskripte der Bühnenstücke zeigen, wie die komplexen Raumkonstruktionen in minutiösen, fast wissenschaftlich angeordneten Regieanweisungen artikuliert werden, die auch zur Musikalität der Werke beitragen. Es lohnt sich in diesem Zusammenhang, einen Blick in Becketts Regiebücher zu werfen. Als Regisseur hat Beckett sehr detaillierte Regiebücher geführt. Zumeist vor Beginn der Probenarbeiten begonnen, dann während der Arbeit mit den Schauspielern weitergeführt, gewähren diese Notizbücher Einblick in Becketts Ideen und in die Schwerpunkte der einzelnen Stücke. Es fällt auf, dass Beckett sich in diesen Notizen vor allem mit der Struktur, mit Themengruppierungen, sprachlicher Repetition, Rhythmus und der Benutzung des Bühnenraums auseinandersetzt. Mehr noch: Ein großer Teil dieser Regiebücher besteht aus Tabellen, Diagrammen und Skizzen. Die Positionen und Bewegungen der menschlichen Figuren werden hervorgehoben, wie aus den Notizen zu Becketts Regie von Warten auf Godot im Schiller Theater zu Berlin im Jahre 1975 hervorgeht.

10

Labrusse, Rémi: »Beckett et la peinture: Le témoignage d’une correspondance inédite«, Critique 519-520 (Aug.-Sept. 1990), S. 670-680, hier S. 674.

20

»A Space to Note«

Warten auf Godot, Regiebuch. Beckett International Foundation, University of Reading, UoR MS1396/4/3 © The Estate of Samuel Beckett So beschreibt Beckett zum Beispiel diejenigen Momente, in denen Estragon oder Wladimir ihren Bühnenraum untersuchen. Äußerst präzise hält Beckett dabei die Bewegungsrichtung und die Blickrichtung der Figuren fest. Obwohl Beckett in den Regieanweisungen der Texte die Bestandteile seiner Räume klar umreißt, beginnt er erst räumlich zu denken, wenn er sich innerhalb des konkreten Ereignisraumes Theater befindet. Schon 1963 hat Beckett – in einem etwas ungewöhnlichen Kontext – sein Interesse an räumlichen Konstellationen bekundet. In Bielefeld kam er in einer Buchhandlung mit Schülern ins Gespräch und sagte, worum es ihm ging: Er wolle »a new start in a new roomspace«, das heißt: einen Neubeginn in einem neuen Raum. Becketts Manuskripte zeigen aber, dass er Mühe hatte, diesen neuen Raum zu artikulieren. Das zeigen die ersten Entwürfe von Film, die er 1963 verfasste, also vier Jahre bevor er zum ersten Mal selbst Regie bei einem seiner Stücke führte. Die erste Skizze des filmischen Raums zeigt Becketts Unsicherheit bezüglich der Platzierung der Objekte im Raum – Spiegel, Hund, Katze, Vorhang, Bild usw. In den ersten Entwürfen späterer Stücke, vor allem denen der Fernsehspiele, scheint Beckett eine klarere Vorstellung von den Räumen und Objekten zu haben. Entsprechend finden sich weniger Korrekturen und Revisionen in diesen Aufzeichnungen. Wir können

21

Mark Nixon hier keine vereinfachende Morphologie des Schreibprozesses aufstellen, doch kann eine bestimmte Entwicklung in der Ausarbeitung der Räume festgehalten werden. Becketts praktische Theaterarbeit hat ihm hier zweifellos geholfen. In der Diskussion von Raum und Objekt sind Becketts Fernsehspiele natürlich von besonderem Interesse, da Beckett hier auch mit dem Bildraum des Mediums arbeiten muss. Dieser Aspekt tritt vor allem in Geistertrio in den Vordergrund. In diesem Stück wird der Raum perspektivisch von der Kamera erschlossen, und die Objekte werden dem Zuschauer methodisch durch die Stimme vorgestellt. Ein fiktiver Raum wird dadurch zu einem Schauplatz, in dem das Zimmer durch den Prozess der Wahrnehmung entsteht. Die Figur aber ertastet den Raum, zuerst entsprechend der Aufforderung der Stimme, danach zunehmend in eigener Initiative. Der mathematische, wissenschaftliche Schaffensprozess ist nirgends offensichtlicher als in den Manuskripten des Fernsehstücks Quadrat.

Quadrat, Manuskript. Beckett International Foundation, University of Reading, UoR MS2198, 2r © The Estate of Samuel Beckett 22

»A Space to Note« Die verschiedenen Permutationen der Bewegungen der Figuren im Raum werden hier präzise festgehalten. In der Tat denkt man bei der Ansicht dieser Seite nicht an Literatur. Eine ähnliche Vorgehensweise ist schon in einem kaum bekannten Werkfragment von Beckett sichtbar. Dieses unvollendete Stück mit dem Titel Film Vidéo-Cassette projet liefert wichtige Anhaltspunkte dafür, wie Beckett seine früheren Arbeiten in den Medien Film und Fernsehen wieder aufnimmt und weiterentwickelt, und es gibt Aufschluss darüber, wie es die späteren Fernsehspiele, insbesondere Geistertrio, vorwegnimmt. Becketts Notizen zu Film Vidéo-Cassette projet, im November 1972 auf Französisch verfasst, befinden sich in einem kleinen Notizbuch, das im Archiv der Beckett International Foundation an der Universität Reading aufbewahrt wird und auf dem Umschlag den Titel »Fragments Prose Debut 68« trägt.11 Auf vier Seiten (zwei mit Text, zwei mit Diagrammen) umreißt Beckett hier ein Projekt, das auf zwei Filmen, Film I und Film II, basiert. Die beiden Filme zeigen den gleichen leeren Raum mit lediglich einer Tür, einem Fenster, zwei Stühlen und einem Fernseher. In Film I sehen wir die Frau F1 auf einem Stuhl sitzen und auf jemanden warten, der nicht erscheint. In Film II macht sich die Frau F2 bereit, eine Videoaufzeichnung von Film I anzusehen. Der Raum ist, bis auf die paar Möbel, gänzlich leer; es ist, wie es die Stimme in Geistertrio nennt, »die gewohnte Kammer«.12 Beckett notiert explizit, dass nur Dinge im Raum zu sehen sein sollen, die »nécessaires à l’action sujet à l’identification« sind, »i.e. porte, fenêtre, siège«.13 Darüber hinaus werden alle überflüssigen Objekte weggelassen. In der Raumskizze und den dazugehörigen Notizen erwägt Beckett jedoch, einen ornamentalen Gegenstand ins Bild aufzunehmen, »peut-être statuette ou animal (oiseau empaillé.[)]«. Diese Skizze veranschaulicht Becketts Unsicherheit hinsichtlich der Benutzung eines Objekts (ob Statue oder ausgestopfter Vogel) im Raum, und versieht daher das Wort »objet« mit einem Fragezeichen. In den Fernsehspielen experimentiert Beckett grundsätzlich mit einem Raumkonzept, dem der Leere. Ausgeprägter noch ist das der Fall in Becketts Kurzprosa der 1960er and 1970er Jahre. In Texten wie Der Verwaiser, Ausgeträumt träumen und den Foirades wird der Raum spezifisch als »closed space« artikuliert, und sowohl die Ausmaße als auch die technischen Maße dieses »verschlossenen Rau11 12

13

Beckett International Foundation, University of Reading, UoR MS 2928. Beckett, Samuel: Geistertrio, in: Szenen, Prosa, Verse, hg. von Elmar Tophoven/Klaus Birkenhauer, übertragen von Elmar Tophoven/Erika Tophoven/Erich Franzen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S. 79-88, hier S. 81. Zitiert in: Nixon, Mark: »Beckett’s Film Vidéo-Cassette projet«, Journal of Beckett Studies 18.1&2 (2009), S. 32-43, hier S. 37.

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Mark Nixon mes« werden in den Vordergrund des Textes gerückt. Diese begrenzten Räume sind, obwohl genau vermessen, im Wesentlichen unbestimmt, vor allem in ihrer Beziehung zu einem übergreifenden Kontext. Der Verwaiser zum Beispiel positioniert menschliche Figuren in einer Aussparung des Raumes, und der begrenzte Raum, in dem sich diese Figuren bewegen, besitzt einen beunruhigenden Aspekt der Ortlosigkeit. In dieser unsicheren Räumlichkeit liegt aber zugleich auch das Potenzial der Kunst. Mit anderen Worten: Der Raum bei Beckett wird zunehmend ein Kunstraum. Malone stirbt veranschaulicht dies: Zu Beginn des Romans wird der Versuch unternommen, den Raum zu beschreiben (er ist jedoch »ordinary«) und die Objekte, die verstreut herumliegen. Malone setzt sich das Ziel, diese Objekte in einem Inventar zu dokumentieren. Er benutzt speziell seinen langen Stock, um den Raum um sich herum zu erforschen, und er benutzt ihn auch, um die Objekte zu sich heranzuziehen und wieder wegzustoßen. So wie die Kamera in Geistertrio den Raum einnimmt, so hat der Stock die Funktion, die räumlichen Dimensionen von Malones Zimmer auszumessen. Im Verlauf von Malone stirbt löst sich aber der Raum zugunsten des Textes auf, und Malone gibt sein Projekt, ein Inventar seiner Objekte anzufertigen, auf. Dies ist natürlich auch eine Folge des Verlusts des Stockes, den Malone nicht mehr finden kann. Als Resultat fokussiert der Text zunehmend auf Malone, oder eher auf Malones Gedanken, seinen Schädelraum. Mehr noch: Das Zimmer schrumpft und wird durch den Schrift-Raum des Heftes ersetzt, in dem Malone seinen Text festhält und in dem das Zimmer entworfen wird. In der Folge werden die materialen Attribute des Notizbuchs und des Bleistifts in den Vordergrund gerückt. So wie das Zimmer immer kleiner wird, so hat das Heft immer weniger Seiten: »Es ist ein dickes Heft. Es muß mir genügen. Ich werde von nun an jedes Blatt auf beiden Seiten beschreiben.«14 Der Text-Raum, der mit dem Füllen der Seiten des Heftes zunehmend gegen Null tendiert, repräsentiert das Schwinden der Zeit, die Malone noch verbleibt. Malone existiert nur auf den Seiten seines Heftes, wie er selbst erkennt: »Das ist mein Leben, dieses Heft, dieses dicke Kinderheft, ich habe lange Zeit gebraucht, um mich damit abzufinden.«15 In der Tat, wenn er seinen Bleistift verliert, »existiert« Malone 48 Stunden lang nicht, und wir wissen nicht, was in dieser Zeitspanne geschieht (obwohl Malone behauptet, es seien zwei unvergessliche Tage gewesen), da es im Notizbuch

14

15

Beckett, Samuel: Malone stirbt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 47. Vgl. auch den Umstand, dass der Bleistift immer kürzer wird: »Ich hoffe, daß er langt« (ebd.). Ebd., S. 135.

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»A Space to Note« nicht vermerkt ist. Wie Beckett in den Texten um Nichts schreibt: »alles ist unbegreiflich, Raum und Bewusstsein«.16

16

Beckett, Samuel: Erzählungen und Texte um Nichts, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1962, S. 141.

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Raumspiel und Raumregie im Endspiel und im Spätwerk Becketts FRANZISKA SICK

Vorüberlegungen Zu Beginn des Endspiels öffnet Clov auf der Bühne die Vorhänge vor den Fenstern, um möglichst umständlich erst aus dem einen und dann aus dem anderen zu sehen. Nachgerade programmatisch setzt das Endspiel mit einem Raumspiel ein, so als ginge es darum, in einem pantomimischen Vorspiel auf dem Theater den Gehalt des Stückes vorwegzunehmen. Denn kaum mehr ereignet sich im Folgenden, als dass man – sich drinnen möglichst umständlich bewegend – auf einen leeren, nur schwer einsehbaren Außenraum zuspricht. Das Außen ist hierbei nicht nur der Raum außerhalb des Bunkers, sondern ebenso sehr die Küche, in der Clov kaum mehr zu tun hat, als die leere Wand zu betrachten, um dort sein Licht verlöschen zu sehen.1 Das Außen, das sind auch die Mülltonnen, in denen Nagg und Nell stecken. So wie Clov auf die Leiter steigt, um nachzusehen, ob draußen noch etwas geschieht, so hebt er mit selbem Interesse die Deckel der Mülltonnen an. Zu einem Außenraum in diesem Sinne gerät Clov selbst der Intimraum der eigenen Hose. Als er eine Filzlaus jagt, ist er, aber auch Hamm, mit der Frage befasst, ob dort in diesem Draußen-Drinnen sich noch etwas ereignet, sei es nun das Krabbeln der Laus oder das Pipimachen von Hamm.2 Man zitiert verbreiteter Weise aus dem Endspiel nicht die Clov’sche Hosenszene, sondern den Passus, der ihr vorangeht: »Hamm: Wir sind doch nicht im Begriff, etwas zu … zu ... bedeuten? […] Wenn ein vernunftbegabtes Wesen auf die Erde zurückkehrte 1

2

Vgl. Beckett, Samuel: Endspiel, in: ders., Dramatische Dichtungen in drei Sprachen. Französische und englische Originalfassungen, deutsche Übertragung von Erika und Elmar Tophoven. Ausgabe in einem Band, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 207-317, hier S. 223. Vgl. ebd., S. 249-251.

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Franziska Sick und uns lange genug beobachtete, würde es sich dann nicht Gedanken über uns machen?«3 Gemessen an der Hosenszene formuliert Hamm an dieser Stelle ein vergleichsweise rückständiges und schwaches Argument. So wie bereits in Warten auf Godot wird für ihn Sinn und Bedeutung in dem Maße hinterfragbar, wie ein externer, transzendenter Beobachter ausständig ist. Die Hosenszene – und in der Grundanlage das Endspiel in toto – setzt solcher Dekonstruktion von Metaphysik und Bedeutung ein positiveres, da am Raum orientiertes Konzept entgegen: Während Wladimir und Estragon noch auf Godot warten, geht Clov, die Filzlaus jagend, dazu über, den Raum zu untersuchen. Um diese Differenz kurz zu erläutern: Anders als das Endspiel bewegt sich Warten auf Godot noch im Umfeld des absurden und das heißt zugleich: des antimetaphysischen Theaters. Es konterkariert traditionelle Sinn- und Erlösungserwartungen, indem es die hoffnungsvolle Erwartung mit dem vergeblichen Warten konfrontiert. Da unbestimmbar bleibt, wer hinter Godot sich verbirgt – ein Gott, ein Financier oder auch eine Utopie –, tritt die Topologie solcher Sinnkonstruktionen hervor: Godot, dieses quid pro quo, ist die Struktur des ausständigen externen Beobachters, mit Berufung auf den man gängiger Weise Sinn zu konstituieren versucht. Selbst Heideggers Konzept des Vorlaufens zum Tode4 und, hieran anschließend, der französische Existenzialismus folgt, wenn auch in Abwandlungen, noch solcher Topologie des Sinns. Auch wenn im Vorlaufen zum Tode Dasein sich selbst begegnet, kann es Sinn von Sein nur gewinnen, indem es sich selbst als externen, da zukünftigen Beobachter setzt. Kaum anders operiert der Heidegger von Sein und Zeit an dieser Stelle als traditionelle Religionen. Er ersetzt lediglich den externen Betrachtergott durch einen externen ›Selbstgott‹. Obwohl oder aber auch weil Warten auf Godot solche Religion und Philosophie konterkariert, ist es in noch vergleichsweise hohem Maße traditioneller Metaphysik verhaftet. Auch wenn Godot nicht kommt, macht das Warten auf ihn den Lebensinhalt von Wladimir und Estragon aus. Obwohl das Stück in ersten Ansätzen topologische, räumliche Strukturen ins Spiel bringt, ist in ihm das Thema der Zeit noch zentral gesetzt. Das klingt bereits im Titel an und schreibt sich in den Zentralmotiven der Handlung fort. Wartender Weise schlagen Wladimir und Estragon die Zeit tot. Vergesslicher Weise entfällt Estragon nur allzu oft, worauf er denn wartet. Aufgrund dieser Präponderanz von Zeit – und nicht, weil Godot mit

3 4

Ebd., S. 249. Vgl. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer 331.

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14

1977, S. 301-

Raumspiel und Raumregie im Endspiel und im Spätwerk Becketts einem ausständigen Gott gleichzusetzen wäre – ist Warten auf Godot im Umkreis des absurden und antimetaphysischen Theaters zu verorten. Ungleich vorweisender ist demgegenüber die Grundanlage des Endspiels. Während Warten auf Godot die sinntragende Zeit anhält, um Sinn zu blockieren, wechselt das Endspiel das Paradigma: Es ersetzt die Zeit durch den Raum, es ersetzt das Warten durch die Inspektion eines leeren, ereignislosen Raums. Mit dieser Wende positioniert sich das Endspiel jenseits des Bezugsrahmens von Sinn und Absurdität. Sinn gibt es nur in Beziehung zur Zeit, nicht jedoch in Beziehung zum Raum.5 Räume erfordern andere, eigenständigere Zugangsweisen als die des Sinns. Man kann Räume inspizieren oder aber auch – wie im Titel Endspiel bereits anklingt – in ihnen Züge machen. Eine der zentralen Pointen des Endspiels und der in ihm anklingenden Schachmetapher6 besteht darin, dass Beckett dieses komplexe Strategiespiel auf eine Standard-, wenn nicht gar auf eine Pattsituation, auf ein finales ›sinnloses‹ Hin- und Herziehen reduziert.7 Alle späteren Raumspiele Becketts sind hiervon geprägt: Sie führen komplexe Lebenssituationen, die Beckett als Raumspiel auffasst, auf einfache iterative Spielbewegungen zurück.

Raumregie Aufgrund der ihm eigenen Räumlichkeit ist das Endspiel in erheblichem Umfang nicht länger gesprochenes, sondern besprochenes, regiehaftes Drama. Das zeigt sich in der Eingangsszene, die in aller Präzision den Ablauf der Pantomime festlegt. Aber auch der weitere Text ist vielfach von solchen Regieanweisungen durchsetzt. »Er geht zur Tür und bleibt stehen.«8 »Clov bückt sich […]. Clov richtet sich wieder auf.«9 Selbstredend finden sich solche Regieanweisungen auch in traditionellen Theaterstücken. Sie häufen sich jedoch bei Beckett. Besprochen werden Raum und Regie im Endspiel nicht nur in Form der Regieanweisung. Als Raum besprechende und im Raum 5

6 7

8 9

Man kann dem mit Heidegger widersprechen: Auch Plätze und ihre Einbettung in eine Bewandtnisganzheit implizieren augenscheinlich Sinn. Und man muss zugleich diesen Einspruch zurücknehmen: Solche sinnhaften Plätze sind in der Sorge fundiert und diese ist nicht ohne Zeit zu denken. Vgl. hierzu Kenner, Hugh: Samuel Beckett. Eine kritische Studie, München: Hanser 1965, S. 146f. Man diskutiert diesen Punkt in der Forschung bekanntlich kontrovers. Die vielleicht naheliegende Frage, wer das Endspiel denn nun gewonnen hat, erscheint mir jedoch zu konkretistisch. S. Beckett: Endspiel (wie Anm. 1), S. 225; ähnlich ebd., S. 239. Ebd., S. 269, 291.

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Franziska Sick Regie führende Akteure erweisen sich ebenso sehr die Figuren des Stücks. Teilweise zeichnet sich dies explizit in einer Reflexion auf die eigene Figurenhaftigkeit ab. Wendungen wie »Also, ich bin dran. Pause. Jetzt spiele ich«10 stehen hierfür ein. Teilweise ist solche Raumregie in die Handlung integriert. So etwa, wenn Hamm Clov pfeift, wenn dieser sagt: »Ich gehe jetzt«, oder wenn Hamm Clov anweist, ihn genau in die Mitte des Zimmers zu schieben.11 Zum Schluss des Stücks kippt die besprochene Regie in ein selbstauferlegtes Schweigegebot um: »… kein Wort mehr«, sagt Hamm. Das allerletzte Wort, das er dann doch noch sagen muss, verweist auf den Theaterraum: »Altes Linnen! Pause. Dich behalte ich.«12 Damit schließt das Stück, wie es begonnen hat: Es eröffnet mit einem ereignislosen Raum ohne Worte und schließt mit einem Einspruch gegen das Wort. Wie in einer Rahmenhandlung ist in der Eingangs- und Schlussszene gesetzt, dass das Endspiel ein Raumspiel, ein Spiel sich öffnender und schließender, aber auch verschlossener und unzugänglicher Räume ist. Wie sehr hierbei das gesprochene Wort hinter dem Raumspiel zurücksteht, obwohl die ganze Handlung des Stückes darin besteht, im Raum sprechender Weise Regie zu führen und den Raum zu besprechen, zeigt die Schlussszene: Obwohl Clov ankündigt, Hamm zu verlassen, bleibt er bis zum Schluss stehen. In der Berliner Inszenierung13 hat Beckett, selbst Regie führend, den Widerspruch der Schlussszene, diesen Widerspruch von gesprochenem Wort und besprochener Regie – Die Figur sagt: »Ich gehe«, der Regisseur sagt: »Du bleibst auf der Bühne« – versucht, selbst noch in den Zuschauerraum hineinzutragen. Eines seiner größten Anliegen war, dass das bühnentechnische Ende des Endspiels nicht länger gängiger Applausordnung unterworfen wird. Beckett setzte diesem fragwürdigen Ereignisraum den statischen des Endspiels entgegen. Er hat darauf bestanden, dass, auch wenn man hinten klatscht, vorne sich niemand verbeugt. Das letzte Bild – das ist das Bild Clovs, der nicht abgehen kann – sollte beim Applaus wie eingefroren als Tableau stehen bleiben und lediglich mehrfach angeleuchtet und verdunkelt werden. Damit streicht Beckett in der Berliner Inszenierung aus dem Endspiel noch das letzte Moment von Ereignishaftigkeit: das der Aufführung. Der Raum des Endspiels ist kein Theaterereignis. Er bleibt stehen, weil 10 11 12 13

Ebd., S. 313. Vgl. ebd., S. 241. Ebd., S. 317. Vgl. Haerdter, Michael: »Samuel Beckett inszeniert das Endspiel. Bericht von den Proben der Berliner Inszenierung 1967«, in: Materialien zu Becketts »Endspiel«. Berichte und Aufsätze, Frankfurt am Main: Suhrkamp 21970, S. 36-137.

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Raumspiel und Raumregie im Endspiel und im Spätwerk Becketts obstinate Räumlichkeit durch kein Ereignis zu umklammern und zu relativieren ist, auch nicht durch das Theaterereignis, auch nicht durch die Klammer der Fiktion. In der Berliner Inszenierung sehen wir späten Beckett, der frühen Beckett inszeniert. Es wird zu zeigen sein, dass der späte Beckett nicht nur in der Berliner Inszenierung den Außenraum in den Zuschauerraum hinausstülpt.

Bespielter Raum Der Akzent auf Räumlichkeit prägt im Endspiel nicht nur die Raumregie, sondern darüber hinaus wesentliche Handlungsmomente und Motive des Stücks: Das Endspiel thematisiert viermalig eine Mauerschau, des Weiteren eine Reise durch den Bunker sowie ein Spiel von Da-Sein und Verlassen. Man kann aufgrund dieser Grundanlage das Endspiel – mit Abstrichen14 – wie eine kleine Phänomenologie des Raumes lesen: Es entfaltet grundsätzliche Zugangsweisen zum Raum. Man kann Räume inspizieren. Man kann sie bereisen. In Räumen sind nicht zuletzt Mitmenschen vorfindlich. Diese Zugangsweisen spiegeln sich einigermaßen unmittelbar in den Requisiten des Stücks: Es ist ausgestattet mit Inspektionswerkzeugen wie dem Fernrohr und der Leiter, mit Reisewerkzeugen wie dem Sessel und dem Bootshaken, und nicht zuletzt mit Dingen, die Präsenz und Absenz des Anderen regeln, wie die Trillerpfeife, die Deckel der Mülltonnen und der Wecker. Kaum weniger streng tragen sich diese drei Zugangsweisen auf der Grobgliederung des Bühnenraums ab: Der Außenraum und die Fenster verweisen auf das Thema der Inspektion, Hamms Zimmer auf das der Reise, Clovs Küche und die Mülltonnen auf das der Vorfindlichkeit des Anderen im Raum. Selbst der Charakter der Figuren ist von solchen Modalitäten der Raumerschließung geprägt. Während Clov gehen und sehen kann, weil er für den Aspekt der Rauminspektion zuständig ist, kann Hamm beides nicht. Anders als Clov, der sich nicht setzen kann, kann Hamm nur dies: »Jedem seine Spezialität.«15 Obwohl Hamms Bewegungsmöglichkeiten äußerst eingeschränkt sind, hat auch Hamm einen durchaus eigenen, positiven Zug- und Spielwert. Hamm ist der Reisende. Wie zumal der moderne Reisende besitzt er einen fahrbaren Untersatz. Nicht zuletzt sind selbst Nagg und Nell, 14

15

Zu unterscheiden von einer Phänomenologie im strikten Sinn ist die Beckett’sche ›Raum-Phänomenologie‹, weil Beckett keine Phänomeno-Logie machen will. Passender erscheint mir der Begriff des Raumspiels. Bei Raumspielen ist die Logik der Phänomenologie gleichsam im Raum inkorporiert. S. Beckett: Endspiel (wie Anm. 1), S. 221.

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Franziska Sick die in ihren Tonnen gefangen nahezu zur Bewegungslosigkeit verurteilt sind, mit einem eigenen Bewegungsprofil ausgestattet: Sie ziehen sich mit den Händen aus der Tonne. Durchweg sind die Figuren des Endspiels durch ihren Zugwert bestimmt. Sie sind deshalb nur noch in eingeschränktem Maße dramatische Figuren,16 sie haben kaum noch einen eigenen Charakter, sondern nur noch einen Spielwert im Raum – so wie etwa die Figuren im Schach. Mit anderen Worten: Sie sind zu großen Teilen nicht dramatische, sondern ludische Figuren. Ludische Figuren sind durch ihre Bewegungsmöglichkeiten im Raum, aber auch durch weitere Eigenschaften wie Kampf- oder Inspektionswert charakterisiert.17 Der Umstand, dass Clov sehen kann und Hamm nicht, ist in diesen Kontext zu stellen. Abzuweisen ist an dieser Stelle das vielleicht naheliegende Missverständnis, ludische Figuren seien ausschließlich über ihren Zugwert charakterisiert. Der Zug, die Bewegung im Raum, ist nur ein Modus von Raumerschließung unter anderen. Zu kurz greifen deshalb Interpretationen, die das Endspiel auf ein rein räumlich-choreographisches Bewegungsspiel zu reduzieren versuchen. Die Figuren des Endspiels besitzen ein Sehfeld, Bewegungsattribute wie den Bootshaken, die Reichweite eines Tast- und Kratzfeldes bei Nagg und Nell. Und selbst wenn sie – am Gegenpol solch handfester Raumerschließung – bloß miteinander diskutieren, sind die Auseinandersetzungen zwischen ihnen von einer gewissen Zughaftigkeit geprägt: Immer wieder verstellen Clov und Hamm einander argumentativ den Weg. Sie beziehen Position ohne Argument, bloß um die Zugmöglichkeiten des Anderen zu blockieren. Clov: Hamm: Clov:

16

17

Ihr wollt also alle, daß ich euch verlasse. Natürlich! Dann werde ich euch verlassen.

Dramatische Figuren sind sie, insofern sie reden. Dass ihre Sprache, gemessen am traditionellen Drama, gleichwohl kaum mehr dramatisch zu nennen ist, hat schon früh Wolfgang Iser gezeigt; vgl. Iser, Wolfgang: »Samuel Becketts dramatische Sprache« (1961), in: Karl Alfred Blüher (Hg.), Modernes französisches Theater. Adamov – Beckett – Ionesco, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1982, S. 140-160, mit Bezug auf das Endspiel bes. S. 143-149. So ist beispielsweise das Computerspiel Civilization mit Soldaten und Spähern ausgestattet. Erstere können Land erobern und verteidigen. Dabei besitzen sie einen je unterschiedlichen Kampfwert: Der römische Legionär ist schwächer als die moderne Artillerie. Letztere (die Späher) besitzen keinerlei Kampfwert. Sie können jedoch schneller ziehen als die Soldaten. Sie eignen sich deshalb dazu, den Raum zu erkunden, sie sind gewissermaßen die Brille des Spiels.

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Raumspiel und Raumregie im Endspiel und im Spätwerk Becketts Hamm: Clov: Hamm: Clov: Hamm:

Du kannst uns nicht verlassen. Dann werde ich euch nicht verlassen. Pause Du brauchst uns nur zu erledigen. […] Ich könnte dich nicht erledigen. Dann wirst du mich nicht erledigen.18

Zumal in dem »dann […] nicht«, das man später in Georges Perecs L’Augmentation wiederfinden kann,19 klingt an, dass der Proponent ein argumentatives Feld besetzt, das der Opponent eben deshalb nicht mehr betreten kann. Deshalb argumentiert er an dieser Stelle nicht weiter, sondern geht zum nächsten Zug über. Ganz anders ist noch der Diskurs zwischen Wladimir und Estragon verfasst. Er kulminiert in einem wechselseitigen Zuspruch, der in ein abstruses, nachgerade lexikalisches Quodlibet umschlägt. Estragon: Wladimir: Estragon: Wladimir: Estragon:

Es ist schrecklich. Wie im Theater. Im Zirkus. Im Varieté. Im Zirkus.20

Man kann die Auffassung vertreten, beide Dialoge seien gleichermaßen absurd, wobei nicht zu übersehen ist, dass Wladimir und Estragon gemeinsam die Sprache entleeren, während Clov und Hamm sie dazu benutzen, um ihre argumentativen Spielchen und Züge zu inszenieren. Bis in die Ausgestaltung der Wechselrede zeigt sich, in wie hohem Maße Beckett das Drama, diese Gattung verbaler Auseinandersetzung, einsetzend mit dem Endspiel in ein Raumspiel überführt: Es geht nicht länger darum, ob man sich in Kommunikation Sinnvolles oder Sinnloses sagt, sondern nur noch darum, mit Sprache argumentative Räume zu besetzen. Nicht zu verwechseln ist diese raumbesetzende Sprache mit gängiger Sprechakttheorie, da sie das Sprachhandeln als Spezialfall von Raum18 19

20

S. Beckett: Endspiel (wie Anm. 1), S. 255. Vgl. Perec, Georges: L’Augmentation, in: ders., Théâtre I, Paris: Hachette 1981, S. 9-59. Zur Interpretation des Stückes vgl. Sick, Franziska: »Konfigurationen von Drama, Spiel und Geschichte im postdramatischen Drama Frankreichs«, in: Achim Barsch/Helmut Scheuer/Georg-Michael Schulz (Hg.), Literatur-Kunst-Medien. Festschrift für Peter Seibert zum 60. Geburtstag, München: Meidenbauer 2008, S. 130-156, hier S. 133-139. In diesem Aufsatz wird auch der Begriff der ludischen Figur entwickelt, vgl. ebd., S. 153f. Beckett, Samuel: Warten auf Godot, in: ders., Dramatische Dichtungen in drei Sprachen (wie Anm. 1), S. 7-205, hier S. 69. Es gibt weitere Quodlibets in diesem Stück, wie z.B. die Leibesübungen; vgl. ebd., S. 161.

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Franziska Sick handeln auffasst. Argumentative Züge sind nur ein Auswuchs von Raumbesetzungen, die viel fundamentaler und mächtiger sind als die Sprachspiele der Sprechakttheorie. Obwohl bereits in Warten auf Godot erste Ansätze für ein ludisches Figurenkonzept zu verzeichnen sind,21 bildet dieses erst im Endspiel das Grundgerüst des Stückes. Auch wenn man für gewöhnlich Warten auf Godot und Endspiel unter der Kategorie des ›frühen Beckett‹ zusammenspannt, ist nicht zu übersehen, dass das Endspiel aufgrund seines streng räumlich-ludischen Konzepts ungleich vorweisender auf die späteren Stücke Becketts ist. Man denke etwa an Quadrat. Hier wie dort bilden räumliche Zugmöglichkeiten die Grundkonstruktion des Stückes.22 Aus Warten auf Godot sind vergleichbare Projektionen auf das Spätwerk nicht ableitbar. Das hat, wie bereits angemerkt, grundsätzlich damit zu tun, dass Warten auf Godot noch ein Zeit-Stück und kein Raum-Stück ist. Es ist überdies – und dieser Aspekt deutet in dieselbe Richtung – noch mehr ein Ding-Spiel als ein Raum-Spiel: Im Kampf mit den Dingen, im Kampf mit dem Requisit schlagen Wladimir und Estragon in chaplinesker Weise die Zeit tot. So leer auch die Bühne bereits in Warten auf Godot ist, die Handlung des Stückes ist durchs HutAufsetzen, Schuhe-An-und-Ausziehen, Koffertragen und -absetzen skandiert. Komischen Ding-Spielen haftet, in welcher Form auch immer, das Moment der Entfremdung oder aber auch nur das des Sinnwidrigen an. Sie entfalten ihr Spannungsverhältnis daraus, dass sich das Ding dem erwarteten Zweck nicht fügt, dass es nicht passt – so wie die Schuhe oder der Hut –, oder dass man es, aus sozialem Kalkül, sinnwidrig handhabt: Lucky setzt den Koffer bloß deshalb nicht ab, weil er eine Kündigung vermeiden will. Das Endspiel streicht solche Dinge weitgehend. »Es gibt nicht mehr« ist eine der prägenden Parolen des Stücks: »Es gibt keine Fahrräder mehr«, »es gibt keinen Brei mehr, nur Zwieback.«23 Es gibt nicht einmal mehr Natur. Das einzige, was es noch gibt, sind in durchaus differenzierter und exuberanter Weise Raumdinge:24 Sessel mit Rädern, Fernrohre, Leitern, Vorhänge, Trillerpfeifen, Tonnendeckel. 21

22

23 24

Vgl. hierzu den Beitrag von Mark Nixon in diesem Band, der darlegt, wie genau Beckett bereits in Warten auf Godot die Bewegungsabläufe auf der Bühne kalkuliert. Die Unterschiede sind nicht zu verschweigen. Das Endspiel legt die Zugmöglichkeiten der Figuren mit vergleichsweise konkreten attributiven Zuschreibungen fest: Die Figur ist blind, lahm usw. Abstrakter ist Quadrat aufgebaut. Die Zugmöglichkeit ergibt sich hier aus dem reinen Bewegungsspiel. S. Beckett: Endspiel (wie Anm. 1), S. 219, 221. Eine Ausnahme in dieser entdinglichten Welt bildet der Hund. Seine Leine, die noch nicht fertig ist, und der Knochen, um den er betteln soll, erinnern

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Raumspiel und Raumregie im Endspiel und im Spätwerk Becketts Adornos Versuch, das Endspiel zu verstehen scheitert, weil er solche Entdinglichung auf Verdinglichung bezieht25 und dabei übersieht, dass die verbleibenden Dinge bei Beckett vom Endspiel an auf Raumspiele bezogen sind. Es mag sein, dass Beckett im Endspiel den Existenzialisten ihren verquasten Begriff der Grenzsituation vorhält. Adorno zitiert Jaspers: »Tapferkeit ist in der Grenzsituation die Haltung zum Tode als unbestimmte Möglichkeit des Selbstseins.«26 Trotz Adornos Invektiven ist nicht zu übersehen, dass seine eigene Position, Raum-Zeit-systematisch betrachtet, durchaus strukturverwandt mit derjenigen Jaspers’ ist. Adorno setzt gegen das Zeitmodell des Seins zum Tode lediglich das ältere der Geschichtsphilosophie. Gemeinsam ist beiden Ansätzen, dass sie dem Raum ein Zeitkonstrukt inokulieren, um ihn so auf die Sinnfrage oder aber auch auf das Absurde beziehen zu können. Hierbei bleibt außer Acht, dass Becketts Figuren primär im Raum befangen sind. Zeit gibt es in diesen Räumen nur als Raumspielzeit. Diese ist nicht final, sondern iterativ. Deshalb kann und will dieses Spiel nicht enden. Man kann die Gemeinsamkeit zwischen Adorno und den Existenzialisten auch vom Begriff der (Grenz-)Situation her, und das heißt: raumtheoretisch auflösen. Der Begriff Situation impliziert stets eine subjektive Situation. Man ist in eine Situation hineingeraten, der man sich stellen muss – das kann eine persönliche Grenzsituation oder aber auch eine historische Situation sein. So sehr auch Adorno in seinem Versuch, das Endspiel zu verstehen gegen den existenzialistischen Begriff der (Grenz-)Situation polemisiert, so wenig kommt er selbst ohne den Begriff der Situation aus. Er liest das Endspiel als postapokalyptisches Endzeitstück, und das heißt, er bezieht es auf eine historische Situation. Im Grunde haben wir es in der Kontroverse Sartre-Adorno mit einer Kontroverse von zwei Zeittheoretikern zu tun. Woran ist das Leben zu orientieren? Am eigenen Tod oder an einer wie auch immer verstellten Utopie? Stets ist hierbei Raum als situativer Zeit-Raum gedacht.

25

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an Lucky in Warten auf Godot. Wie hier die Herr-Knecht-Beziehung zitiert der Hund im Endspiel eine Figur von Verdinglichung. Einen anderen Typus von Raumdingen stellt Horst Breuer unter dem Begriff der ›Trostobjekte‹ vor: Sie trösten über die Absenz des Anderen hinweg. Vgl. den Beitrag von Horst Breuer in diesem Band. Vgl. Adorno, Theodor W.: »Versuch, das Endspiel zu verstehen«, in: ders., Noten zur Literatur (= Gesammelte Schriften 11), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 281-321, hier S. 293. Jaspers, Karl: Philosophie, Bd. 2: Existenzerhellung, Berlin/Göttingen/ Heidelberg: Springer 31956, S. 225, zit. nach Th. W. Adorno: »Versuch, das Endspiel zu verstehen« (wie Anm. 25), S. 295.

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Franziska Sick Becketts Raummodell entzieht sich solchem philosophischen ›Situationismus‹. Beckett versucht die Spielmuster im Raum offenzulegen. Diese erscheinen ihm grundlegender als die der Zeitlichkeit und der Situation. Auch wenn wir je und je in einer Situation befangen sind, auch wenn wir uns dieser Situation stellen müssen, stellt sich die Frage, ob wir nicht in einer viel grundsätzlicheren Weise im Raum befangen sind, und ob wir nicht aufgrund dieser Befangenheit im Raum von Situation zu Situation immer wieder dieselben Spiele spielen. Eben deshalb stellt die Handlung des Endspiels den Raum ins Zentrum. Es thematisiert mit der Rauminspektion, mit der Reise sowie mit der Räumlichkeit des Mitmenschen grundlegende Formen von Raumerschließung. Ich werde diese drei Aspekte im Folgenden gesondert betrachten und beginne mit der Rauminspektion, und das heißt: mit der Mauerschau.

Mauerschau Vielschichtig konterkariert die Mauerschau im Endspiel die des klassischen Dramas. Während sie dort dazu dient, Ereignisse zu referieren, die auf der Bühne nicht darstellbar sind, bespricht die Mauerschau des Endspiels einen ereignislosen Raum, in dem sich nichts bewegt. Dergestalt stülpt Beckett die Mauerschau, die ein dramentechnisches Hilfskonstrukt ist – sie zeigt das technisch oder aber aus Gründen der Sittlichkeit auf der Bühne nicht Darstellbare –, in ein Generalverdikt über das Drama um. Draußen geschieht so wenig wie drinnen. Der ereignislose Raum höhlt das Drama aus und ersetzt seine Ereignishaftigkeit durch die Statik eines jedem Ereignis vorausliegenden Raums: Das Land, das Meer, dazwischen der Bunker. Das ist wenn nicht die Situation, so doch die Lage, und um kaum mehr als um eine Lagebeschreibung, um eine Auslotung des Raums geht es im Endspiel. Nicht einmal Zeitbezüge lassen sich aus diesem Raum ableiten. Ist es Abend? Clov schaut mit dem Fernrohr aus dem Fenster, um festzustellen, ob die Sonne scheint und wie spät es ist. Mit einem Raumwerkzeug versucht er die Zeit zu bestimmen. Wenig sieht er hierbei. Es ist grau oder hellschwarz.27 Und so bleibt aufgrund solcher Unzeit und Optik nichts weiter, als diesen zeitlosen Außenraum zu besprechen. Nicht länger – wie sonst in der Mauerschau – verleiht der Außenraum dem Drama hierbei neue Impulse. Stattdessen besteht die Handlung des Endspiels darin, den Raum als solchen zu inspizieren. Szenisch deutlich wird diese Verschiebung

27

Vgl. S. Beckett: Endspiel (wie Anm. 1), S. 247.

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Raumspiel und Raumregie im Endspiel und im Spätwerk Becketts zumal in den Zurichtungen Clov’scher Mauerschau. Während der Blick nach draußen im traditionellen Drama kaum besonderer Vorkehrungen bedarf, stellt das Endspiel in slapstickhafter Manier heraus, dass man vor jeglicher Mauerschau erst einmal die Mauer besteigen muss. Reichhaltig entfaltet das Stück diesen Spiel- und Dingraum. Die Fenster sind zu hoch angebracht. Clov braucht deshalb eine Leiter und überdies ein Fernrohr. Er trägt die Leiter hin und her. Einmal verlegt er das Fernrohr. Ein anderes Mal legt er die Leiter ans falsche Fenster, und da er meerwärts und nicht landeinwärts schaut, vermutet er, das Land sei überschwemmt. Selbst als Clov draußen einen Knaben sieht, bleibt dieses Ereignis zumindest für Hamm ungewiss. Einigermaßen präzise kollabiert an dieser Stelle das System endspielhafter Mauerschau. Das zeigt ansatzweise der streng kombinatorisch komponierte Verlauf der viermaligen Mauerschau. In der ersten und dritten sieht Clov auf eigenes Betreiben aus dem Fenster, in der zweiten und vierten auf Betreiben Hamms. In der ersten und zweiten ist draußen nichts Besonderes zu sehen, in der dritten und vierten ist das, was draußen zu sehen ist, fraglich. Während Clov sich in der dritten Mauerschau selbst korrigiert – er räumt ein, dass da draußen keine Flut ist –, zieht in der vierten der blinde Hamm Clovs Bericht in Frage und ersetzt ihn durch ein Kalkül. Ich zitiere den entscheidenden Passus: Hamm:

Clov: Hamm: Clov:

Wenn er [der Knabe] existiert, kommt er hierher oder er stirbt dort. Und wenn er nicht existiert … Laß nur. Pause Du glaubst mir nicht? Du glaubst, daß ich schwindele? Pause Es ist zu Ende, Clov, wir sind am Ende. Ich brauche dich nicht mehr. Pause. Das kommt gut aus. Er geht zur Tür.28

Wenn man die Matrix der vier Mauerschauen aufzeichnet, zeigt sich die nachgerade katastrophische Grundstruktur des Endspiels. Sie besteht darin, dass das System der Mauerschau, dass der Versuch, das ereignislose Draußen zu besprechen, zusammenbricht. Nichts sieht Clov zu Beginn in einsamer Mauerschau und lacht, nicht länger glaubt ihm Hamm zum Schluss. In durchaus hintergründiger Weise schreibt Beckett einem Stück, in dem im Grunde nichts sich ereignet, eine streng abfallende dramatische Verlaufsform ein.

28

Ebd., S. 309.

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Franziska Sick Dass die vierte Mauerschau katastrophischen Charakter besitzt, zeigt sich bereits daran, dass Hamm das Stichwort »Es ist zu Ende« ausgibt, aber auch daran, dass das Stück mit ihm in der Tat zu seinem Ende kommt. Kaum weniger deutlich stellt Beckett dar, was inhaltlich zu dieser Katastrophe führt. Das System der endspielhaften Mauerschau bricht genau dann und dort zusammen, wo Hamm Clov nicht mehr glaubt, und deshalb trotz seiner Blindheit und Bewegungsunfähigkeit seinerseits die Position des Mauerschauers reklamiert. Das ist ein unübersehbar skurriles Finale. Der Blinde und Lahme, der weder die Mauer besteigen noch das, was vor ihr stattfindet, sehen kann, versucht den Mauerschauer Clov zu beerben. Beanspruchen kann Hamm diese Rolle, weil er den Raum in ein Raumkalkül auflöst. Diesen Grundzug im Beckett’schen Werk hat umfänglich Gilles Deleuze herausgearbeitet: Deleuze zufolge sind die Protagonisten Becketts erschöpft, weil sie in einem Möglichkeitsraum befangen sind, in dem alles, was möglich ist, bereits vorgegeben ist und – sofern man die Achse Möglichkeit–Verwirklichung betrachtet – deshalb nichts mehr möglich ist.29 Solche Erschöpfung zeichnet sich bereits ab, als Clov in seiner ersten Mauerschau diese mit einem verächtlichen Lachen quittiert. Dabei ist nicht zu übersehen, dass bei aller Statik des Möglichkeitsraums zumindest das Endspiel noch eine gewisse dramatische Verlaufsform besitzt. Obwohl Clovs verächtliches Lachen bereits alles vorwegnimmt, steht im Hauptteil des Stücks dieser ereignislose Möglichkeitsraum immerhin noch zur Diskussion. Dieses Spiel ist zu Ende, wenn der blinde Hamm dazu übergeht, den sehbaren Raum in ein reines Kalkül, und das heißt: in einen reinen Möglichkeitsraum zu überführen. Da er die Regel des Spiels, wie implizit auch immer, auf den Punkt bringt, da er jegliches Ereignis auf einen Möglichkeitsraum bezieht, benötigt er Clov nicht länger.

Hamms kleine Reise So prägend die Mauerschau für das Endspiel ist, so wenig ist ein weiteres Handlungsmoment auszublenden: Weil draußen nichts zu sehen ist, versucht Hamm sich ersatzweise damit zu unterhalten, dass er drinnen im Bunker eine kleine Reise unternimmt. Der besprochene Außenraum, die Mauerschau ins Leere, findet seine komplementäre Ergänzung in Hamms Versuch, im Innenraum

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Vgl. Deleuze, Gilles: »Erschöpft«, in: Samuel Beckett, He, Joe, Quadrat I und II, Nacht und Träume, Geister-Trio. Filme für den SDR. Booklet zur DVD, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S. 18f.

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Raumspiel und Raumregie im Endspiel und im Spätwerk Becketts Regie zu führen. Durchaus anspielungsreich ist diese kleine Weltreise.30 Hamms Versuch, sein Zimmer zu umrunden, gemahnt an frühneuzeitliche Weltumsegelung – mit dem Unterschied, dass Hamm nicht außen den Globus, sondern kleinräumlich innen seinen Bunker umrundet. Wenn er an die Wand klopft und diese hohl klingt, gemahnt dies an Nietzsches Philosophie mit dem Hammer. Wenn er schließlich in die Mitte des Raumes zurückkehrt und dort genau in der Mitte sein will, versucht er eine so egozentrische wie eben deshalb idealistische Position zu beziehen. Trotz dieses Anspielungsreichtums ist nicht zu übersehen, dass und wie Beckett diese Themen szenisch in Spielsituationen umsetzt. Er dekonstruiert historische Positionen, indem er die ihnen zugrunde liegenden Raummodelle offenlegt und das historisch Einmalige auf unterschiedliche Typen von Raumspielen reduziert. Ob man den Globus außen oder innen das Zimmer umrundet, macht kaum einen Unterschied. Gefangen ist man in jedem Fall – ob man nun wie eine Kakerlake die Innenseite abkrabbelt oder wie ein zweidimensionaler Wurm an der Außenseite des Globus klebt.31 Aufgrund solcher Abstraktionen kann Beckett Hamms anspielungsreiche Weltreise nicht zuletzt in sein ›Drama einer Phänomenologie der Raumerschließung‹ integrieren: Hamms Reise an die Wand ist die Mauerschau des Blinden. Da er weder auf die Mauer steigen noch vor ihr etwas sehen kann, muss er die Wand abtasten. Im Kontrast stehen hierbei zwei Erschließungsmöglichkeiten von Raum. Auf der einen Seite die Leiter und die Mauerschau, auf der anderen die Reise und das Klopfen. Beide Zugangsweisen sind präfiguriert durch den Aktionsradius der jeweiligen Figur. Man sieht an dieser Stelle einmal mehr, dass die Raumspiele bei Beckett sich nicht nur auf ein Spiel von Zügen reduzieren lassen. Hamms Fingerknöchel ist das funktionale Äquivalent zu Clovs Fernrohr. Beides sind Rauminspektionswerkzeuge: das eine dient dem Sehenden zur Ferninspektion, das andere dem Blinden zur Nahinspektion.

Verlassen und Tod – Der Raum und der Andere Nicht einmal der Tod ist im Endspiel eine Sache der Zeit, sondern eine des Raums – auch wenn es bei Beckett nicht, wie bei Heidegger, um den eigenen Tod, sondern um den des Anderen geht. 30 31

Hamm spricht in der Tat von einer »kleine(n) Runde um die Welt«; vgl. S. Beckett: Endspiel (wie Anm. 1), S. 239. Von »kleben gebliebenen Würmer(n)« spricht Vilém Flusser; vgl. Flusser, Vilém: »Räume« (1991), in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 274-285, hier S. 274.

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Franziska Sick Und weil der Tod des Anderen eine räumliche Angelegenheit ist, ist unentscheidbar, ob der Andere nun tot ist oder einen bloß verlassen hat. Wie Clov weiß, läuft beides ohnehin auf dasselbe hinaus.32 Es lohnt, diesen schnoddrig dahingesagten Satz abstrakter zu fassen und seinen philosophischen Gehalt herauszuarbeiten. Die Grundlage des Sozialen ist für Beckett ein Fort-Da-Spiel wie bei Freud in der Psychologie des Kleinkinds, oder aber auch ein Spiel von Präsenz und Absenz wie in anderer Form bei Derrida. Während Heidegger und Sartre Sinn aus dem ausständigen eigenen Tod zu gewinnen versuchen, laborieren die Beckett’schen Helden daran, dass ihr leeres Sein nicht enden will. Einsam sind sie nicht deshalb, weil sie in einer unvertretbaren Weise den eigenen Tod auf sich nehmen müssen, sondern weil der Andere aufgrund eines strikt räumlichen Chorismos unerreichbar ist. Unter der Hand setzt Beckett damit dem existenzialistischen Szenario des eigenen Todes ein spiegelverkehrtes entgegen. Es basiert nicht auf dem eigenen Tod – und in abkünftiger Weise auf Zeitlichkeit und Sinn –, sondern auf Tod und Absenz des Anderen. Die Fundamentalkategorie solcher Absenz ist der Raum, nicht die Zeit. In aller Konsequenz und Komik spielt Beckett die Aporien der Absenz des Anderen durch. Als Clov Hamm das erste Mal ankündigt, ihn zu verlassen, fragt er ihn, wie er (Hamm) davon Kenntnis erhalten könne. Er (Clov) könne schließlich auch in der Küche gestorben sein. Gewollt abstrus und aporetisch versuchen Hamm und Clov dieses Problem der Absenz des Anderen, diese Logik des Raums in eine der Zeit zu überführen. Den durchaus plausiblen ersten Lösungsansatz Clovs – wenn er, Clov, Hamm nicht verlassen habe, sondern nur in der Küche gestorben sei, werde Hamm das daran merken, dass er zu stinken anfange – pariert Hamm mit der Entgegnung: »Du stinkst jetzt schon.«33 Natürlich ist das Nonsens. Wenn Clov in der Küche gestorben ist, wird der Gestank zunehmen, wenn er Hamm jedoch verlassen hat, wird er abnehmen. Wie wenig das Fort-Da zwischen Verlassen und Tod unterscheiden kann, aber auch wie abkünftig Beckett die Kategorie der Zeit denkt, zeigt sich in Clovs abschließendem Lösungsansatz: Clov:

32 33 34

[…] Ich hab’s. Ich ziehe den Wecker auf. Pause […] Du pfeifst mir. Ich komme nicht. Der Wecker rappelt. Ich bin weg. Er rappelt nicht. Ich bin tot.34

Vgl. ebd., S. 265. Ebd. Ebd., S. 267.

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Raumspiel und Raumregie im Endspiel und im Spätwerk Becketts Das Zeitwerkzeug Wecker ist in diesem Konstrukt kaum mehr als ein Apparat, der dazu dient, die primär räumliche Absenz des Anderen zu kodieren. Begründete Bedenken hat deshalb Hamm. Hinter seiner Frage »Geht er [der Wecker] überhaupt?« klingt die grundsätzlichere an, ob das Problem der Absenz des Anderen überhaupt mit Instrumenten der Zeit zu bewältigen ist. Nachgerade magisch sind deshalb die Eigenschaften dieses Weckers: Er kann, Clov zufolge, »Tote aufwecken!«35 Während die vorstehende Szene den Tod des Anderen wie beiläufig mit dem Verlassen verbindet, ist er in der Schlussszene kontrapunktisch gesetzt. Er verteilt sich dort auf zwei Personen: Clov will Hamm verlassen und er sagt ihm das in aller Deutlichkeit. Gegenbildlich – und äußerst zweideutig – ist demgegenüber die Ankunft des Knaben kodiert: »Wenn er existiert, kommt er hierher oder er stirbt dort. Und wenn er nicht existiert...«36 In inverser Form kehrt das Fort-Da-Spiel zwischen Clov und Hamm an dieser Stelle wieder. Das Noch-Nicht-Da, die Ankunft des Knaben, erweist sich als kaum weniger zweideutig als das NichtMehr-Da Clovs, mit dem dieser Hamm ständig droht. Zweideutig, und das heißt in einem durchaus räumlichen Sinne: uneinsehbar, ist bei Beckett alles, was nicht da ist. Zuvörderst das Nicht-Da-Sein des Anderen: Sei es nun Godot, Clov oder der Knabe im Endspiel. Zumal das Endspiel geht dazu über, das Nicht-Da-Sein des Anderen zu verweltlichen, und das heißt: zu entzeitlichen und zu verräumlichen. Während man bei Warten auf Godot zumindest noch die Frage aufwerfen kann, ob Godot eine Persiflage auf Gott, und das heißt: auf einen externen Beobachter und Sinngeber ist, verbietet sich eine solche Spekulation spätestens mit dem Endspiel. Der Fortschritt oder auch nur die Vereindeutigung des Endspiels gegenüber Warten auf Godot besteht darin, dass das Nicht-Da-Sein des Anderen als rein räumliche, uneinsehbare Absenz gefasst ist.37 Bist du nicht da, weil du tot bist, weil du nicht existierst oder weil du mich verlassen hast? Selbst auf diese grundlegenden Fragen kann das Fortsein des Anderen keine Antwort geben. Die Absenz des Anderen und – grundsätzlicher gefasst – der Raum kennt keine Gründe und keinen Sinn. Die Frage, ob Godot kommen wird, und insbesondere die, ob er überhaupt kommen will, hat sich erübrigt. Unter den Auspizien der Räumlichkeit des Anderen ist nur eines gewiss: Dass er nicht da ist. Alles Weitere wäre spekulativer Intentionalismus. 35 36 37

Ebd. Ebd., S. 309. In der Handlungsführung spiegelt sich diese Verschiebung in der Figur des Knaben. In Warten auf Godot ist der Junge eine Mittlerfigur zwischen Godot und den Wartenden, im Endspiel tritt der Knabe selbst nicht mehr auf.

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Franziska Sick Ohne einen strikt wirkungsgeschichtlichen Bezug auf Heidegger behaupten zu wollen, lässt sich im Kontrast zu ihm zeigen, wie bei Beckett Raumdenken sich nachgerade verabsolutiert. Auch wenn Heidegger idealistische Erkenntnistheorie mit dem raumtheoretischen38 Verweis kassiert, Dasein sei In-der-Welt-sein, auch wenn er breit eine ›Phänomenologie‹ des Platzes ausarbeitet, sind weitere zentrale Kategorien seines Denkens wie das »Mitsein« und der eigene Tod nicht von Raumbegriffen geprägt. Beckett fasst selbst diese beiden Themen räumlich auf. Er streicht den eigenen Tod als sinngebende Instanz und verräumlicht das »Mitdasein der Anderen.«39 Der Andere ist fort oder er ist da. Das ist – anders als bei Heidegger – kein eigenständiges Existenzial, sondern eine durch und durch räumliche Angelegenheit. Während Heideggers »Dasein« der eigene Tod gewiss ist, stellt das Endspiel die Ungewissheit des Todes des Anderen ins Zentrum. Aus Gewissheiten kann man Sinn ableiten, aus Ungewissheiten nicht. Das ungewisse Fort-Sein des Anderen ist deshalb nicht eine Sache des Sinns, sondern eine des Kalküls. Es löst die Ungewissheit in Eventualitäten auf, die alle gleich-möglich und deshalb gleich-gültig sind. Deshalb lässt sich im Gegenzug nicht einmal mehr über Leben und Tod des Anderen entscheiden: Clov:

Wenn ich diese Ratte nicht töte, wird sie sterben.40

Hamm:

hört auf zu gähnen: Na ja, geh ihn [den Knaben] ausrotten […]. Tu deine Pflicht! […] Nein, laß nur.41

Exemplarisch zeigt sich am Tod des Anderen, wie wenig der Beckett’sche Raum von Entscheidungen abhängt, wie wenig er deshalb situativ zu verstehen ist. Er regt zum Gähnen an, er langweilt bis zur Erschöpfung, weil alles, was möglich ist, bereits als Möglichkeit gegeben ist, und weil deshalb das Mögliche sich nicht länger oder nur um den Preis von Vorlieben realisieren lässt. Diese jedoch schöpfen, Deleuze zufolge, das Mögliche nicht aus.42

38

39 40 41 42

Ich übernehme den Begriff der Raumtheorie aus dem Titel des von Jörg Dünne und Stephan Günzel herausgegebenen Bandes Raumtheorie (wie Anm. 31), obwohl er nicht ganz unproblematisch ist, wenn man ihn isoliert verwendet. Streng genommen gibt es Raumtheorie nicht. Sie ist stets im Kontext eines philosophischen Systems zu sehen. Da das hier nicht zu leisten ist, vgl. zu Heidegger Günzel, Stephan: »Einleitung« [zu Teil II: Phänomenologie der Räumlichkeit], in: ebd., S. 105-128, hier S. 116-120. M. Heidegger: Sein und Zeit (wie Anm. 4), S. 117. S. Beckett: Endspiel (wie Anm. 1), S. 293. Ebd., S. 305. Vgl. G. Deleuze: »Erschöpft« (wie Anm. 29), S. 7f.

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Raumspiel und Raumregie im Endspiel und im Spätwerk Becketts

Regie aus dem Off Innen- und Außenraum in den späteren Stücken So geschlossen die Beckett’schen Räume sind, so sehr sind sie stets auf einen Außenraum bezogen. Das Außen ist in Warten auf Godot Godot, der nicht kommt. Es kehrt im Endspiel als Mauerschau, als Blick in einen ereignislosen Außenraum wieder. Markanter noch sind andere, zumeist spätere Stücke – einsetzend mit Spiel ohne Worte – von einem Außen bestimmt.43 In Spiel ohne Worte I erhält eine Figur vom Schnürboden herab Gegenstände angeboten, die ihr stets wieder entzogen werden. In Spiel ohne Worte II werden zwei Spieler abwechselnd von einem Stachel angestoßen. In Glückliche Tage beginnt Winnie zu reden, wenn es klingelt. In vergleichbarer, jedoch stilisierterer und durchgängigerer Weise heben die Figuren in Spiel zu sprechen an, wenn sie von einem Scheinwerfer angestrahlt werden, um abrupt einzuhalten, wenn der Scheinwerfer eine andere Figur anleuchtet. In Kommen und Gehen schließlich ist die Handlung dadurch skandiert, dass von drei Figuren abwechselnd eine die Bühne verlässt, um so den anderen beiden zu ermöglichen, hinter ihrem Rücken zu reden. Vergleichbare Bewegungsmuster von Bühnenauftritt und -abgang sind in Quadrat zu verzeichnen: Dort umkreisen vier Figuren einen imaginären Punkt, so als wären sie von einem Magnetfeld wechselweise angezogen und abgestoßen. Gemessen am Endspiel neu an dieser Spielanordnung ist, dass in ihr nicht länger ein ereignisloser Außenraum besprochen wird oder der Innenraum Gegenstand von Raumspielanweisungen ist. Stattdessen ist die Regie – oder aber auch das Drama – wie in den Außenraum verlagert. Deutlich wird diese Regiehaftigkeit bereits in Spiel ohne Worte I. Wenn etwas vom Schnürboden gereicht wird, ertönt ein Pfiff. In Spiel ohne Worte II werden die Figuren von dem von außen eindringenden Stachel angespornt, sich zu bewegen. Anweisungs- und Regiecharakter hat beides, das Pfeifen und der Stachel. Der Befehl lautet hier wie dort: ›Beweg dich!‹ Er kehrt in anderer Form in Spiel wieder. Dort lautet der Befehl: ›Sprich, wenn du angeleuchtet wirst!‹ Ich rede von einer Regie aus dem Off und nicht bloß von einem dramatischen Einwirken des Außenraums, weil der Außenraum bei Beckett nicht nur handlungswirksam ist, sondern traditionelle Raum- und Aufführungskonzepte des Theaters zitiert. Die Klingel in Glückliche Tage gemahnt an die Pausenklingel, der Lichtwechsel in Spiel zitiert Szenenwechsel und Vorhang, Kommen und Gehen spielt

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Bei der französischen Erstaufführung von Endspiel wurde Spiel ohne Worte mit aufgeführt, vgl. Esslin, Martin: Das Theater des Absurden. Von Beckett bis Pinter, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1965, Neuausgabe 2006, S. 28.

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Franziska Sick mit dem Bühnenauftritt und -abgang einzelner Figuren. Neu bei Beckett ist, dass er die rein technischen Bedingungen räumlicher Aufführung – wie bereits in der Mauerschau im Endspiel – zum integralen Bestandteil der Handlung erhebt. Anders als in der Clov’schen Mauerschau ist in den späteren Stücken der Raum jedoch alles andere als inert. Sie überführen die besprochene Regie, von der das Endspiel noch geprägt ist, in ein reines Raumspiel. Während Hamm und Clov sich noch damit abmühen, den leeren Außenraum zu besprechen, wird dieser in den späteren Stücken selbst zum Akteur. Das ist durchaus konsequent: Da der Raum für Beckett eine fundamentale Kategorie ist, geht er in zunehmendem Maße dazu über, ihn in seiner Wirkmächtigkeit zu zeigen. Durchaus programmatischen Charakter hat deshalb Spiel ohne Worte: Die strikte Hinwendung zum rein Pantomimisch-Räumlichen, der aktive Außenraum ersetzt den besprochenen Außenraum des Endspiels. Pointierter als im Endspiel ist deshalb auch die Beziehung von Zeit und Raum gefasst. Während Hamm und Clov noch in durchaus beredter Weise beklagen, dass draußen nichts geschieht, zeigt Spiel ohne Worte, dass an der Schnittlinie von Draußen und Drinnen durchaus etwas geschieht. Freilich immer dasselbe. Damit ist eine weitere Zäsur beschritten. Auch wenn das Endspiel die Zeit in Warten auf Godot weitgehend durch den Raum ersetzt, besitzen beide Werke eine wesentliche Gemeinsamkeit: Sie stehen noch in der Dimension des Sinns, weil sie Sprachkunstwerke sind. Sie können diese Dimension zwar negieren, sich ihrer aber nicht vollständig entledigen. Positiver, eigenständiger an Raumkonzepten ausgerichtet ist demgegenüber die Regie aus dem Off. Sie ersetzt die besprochene ereignislose Leere von Raum und Zeit durch ein iteratives Bewegungsspiel, und das heißt: durch ein Raumspiel im strengen Sinne des Wortes. Raumspiele sind iterativ. In der Iteration zeigt sich das, was im Drama sonst zu besprechen ist, als Regel. Gemessen am Endspiel hat diese Neuausrichtung durchaus auch ihren Preis. Die phänomenologische Breite des Endspiels verdankt sich dem Umstand, dass es in der Grundanlage noch von Resten der dramatischen Figur, und das heißt insbesondere: der redenden Figur geprägt ist: »Lass uns eine kleine Reise machen«, »Schau aus dem Fenster!«, »Wie werde ich wissen, ob du tot bist?« Augenscheinlich ist die Vielfalt der Raummodelle im Endspiel dem Umstand geschuldet, dass redende Figuren zu einem Raumspiel einladen und dieses eröffnen können. In dem Maße, wie Beckett, einsetzend mit Spiel ohne Worte, die letzten Reste der dramatischen Figur zugunsten eines reinen Raumspiels preisgibt, sind solche Übergänge nicht mehr möglich. Nach dem Endspiel kann Beckett deshalb nur noch zumeist kurze Stücke entwickeln, die jeweils nur einen einzigen Raumspieltyp vorführen. Die Dressur in Spiel ohne

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Raumspiel und Raumregie im Endspiel und im Spätwerk Becketts Worte I, das Weg-Da in Spiel ohne Worte II, indiskretes Gerede in Kommen und Gehen, ein Modell von Kollision und Attraktion in Quadrat. Die Vielschichtigkeit der Raumspiele, die das Endspiel noch bieten konnte, zerfällt in eine facettenreiche Vielzahl zumeist miniaturhafter Einzelwerke. Beckett hat versucht, diese Vielfalt gleichwohl zu bündeln: Durch zunehmende Abstraktion. Zumal Quadrat – das letzte Werk, das ein Raumspiel im engeren Sinne des Wortes ist44 – erscheint wie die Summe aller Beckett’schen Raumspiele. Während man den frühen Stücken noch einen sachlichen Gehalt zuschreiben kann, während die frühen Stücke noch mit konkreten Inszenierungsmitteln wie Stachel, Kamera und Scheinwerfer arbeiten, ist die Spielanordnung in Quadrat auf ein Minimum reduziert. Ein Quadrat, ein Punkt, vier Personen, eine Matrix, die die Laufwege sowie Bühnenauftritt und -abgang reguliert. Die Figuren in Quadrat messen den Raum in seiner kombinatorischen Festgelegtheit bis zur Erschöpfung aus.45 Sie lassen ihn als reinen Spielraum erscheinen, indem sie ihn wieder und wieder nach immer derselben Regel abschreiten. Wie sehr Raumspiele auf dem Prinzip der Iteration basieren, zeigt sich auch hier. Es hätte genügt, diese Kombinatorik im besten Fall einmal, der Deutlichkeit halber zweimal und für die Dummen dreimal durchzuspielen. Beckett wiederholt sie x-mal. Er variiert das Spiel allenfalls, um es einmal mehr zu abstrahieren: Quadrat I zeigt schlurfende farbige Figuren, die von einem Trommelspiel begleitet werden. Quadrat II zeigt dieselben Figuren im Beckett-üblichen Grau-in-Grau, ohne Begleitmusik, so als ginge es darum, den abstraktiven Charakter dieses Metaspiels auszustellen, indem es einer weiteren Abstraktion unterzogen wird. Trotz oder aber auch aufgrund seiner Abstraktheit greift Quadrat Grundmuster der früheren Raumspiele auf und wandelt sie ab. So wie Hamm in seiner kleinen Weltreise an der Mauer entlang fährt und zum Mittelpunkt strebt, so auch die Figuren in Quadrat. In inverser Form kehrt demgegenüber das Motiv des leeren Außenraums wieder: Es ist in Quadrat wie nach innen gestülpt. Während die Protagonisten in Warten auf Godot und im Endspiel darauf warten, dass von außen etwas eintritt, werden sie in Quadrat von einem leeren Nichts, von dem schwarzen Punkt in der Mitte zugleich angezogen und abgestoßen. Eine Begegnung der Figuren findet nicht 44

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Unter Raumspielen im engeren Sinne sind an dieser Stelle Raumspiele zu verstehen, bei denen vorrangig bühnentechnische oder aber auch filmtechnische Spielbewegungen im Vordergrund stehen. Vergleichsweise schwach ausgeprägt ist in diesen Spielen zumeist die Achse von Raumspiel und Zuschauerraum. In diesem Doppelsinn beschreibt Deleuze das Beckett’sche Werk und Raumkonzept; vgl. G. Deleuze: »Erschöpft« (wie Anm. 29), S. 21-25.

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Franziska Sick statt: Der Andere ist außen. Der schwarze Punkt in der Mitte ist der Platzhalter dieses Außen. Er wirkt selbst dann, wenn sich nur eine einzige Figur in Quadrat bewegt. Auch diese macht um das Außen einen Bogen. Man würde das Außen des Anderen viel zu konkret auffassen, wenn man es von der physischen Existenz des Anderen abhängig machen wollte. Bereits das Endspiel eröffnet die Möglichkeit, den Anderen auszurotten, ihn zu erwarten oder draußen sterben zu lassen, sofern er denn überhaupt existiert.

Das Außen des Zuschauerraums Tendenziell verändert die Regie aus dem Off nicht nur die Beziehung von Bühnenraum und Regieaußenraum, sondern auch die von Bühne und Zuschauerraum. Wenn in Spiel ohne Worte von außen ein Stachel einwirkt oder Gegenstände dargeboten werden, bleibt der eigentliche Akteur des Stückes uneinsehbar. In Spiel ohne Worte ist dieser uneinsehbare Aktionsraum noch vergleichsweise traditionell lokalisiert. Er liegt über der Bühne oder seitlich zu ihr, das heißt: er ist vorrangig auf das Bühnengeschehen und nicht auf den Zuschauerraum bezogen. Spiel radikalisiert diese Anordnung. Es verlagert die Regie aus dem Off – das sind in diesem Falle die Scheinwerfer, die die Protagonisten zum Sprechen bringen – in den Rücken des Zuschauers. Der Regieaußenraum ist damit nicht mehr bloß uneinsehbar, er umschließt von hinten den Zuschauerraum. Das ist, gemessen am Endspiel – aber auch im Vergleich zum traditionellen Theater –, ein grundsätzlich neues Arrangement. Die Illusionseffekte des alten Theaters zerstört bereits der Mauerschauer Clov, wenn er sein Fernrohr in den Zuschauerraum richtet und sagt: »Ich sehe … eine begeisterte Menge.«46 Der späte Beckett setzt dieses Mittel nicht mehr ein. Das heißt jedoch nicht, dass er zur vierten Wand zurückkehrt.47 Ab Spiel bezieht er eine dritte Position. Exemplarisch ablesbar ist diese an dem Außen, das die Scheinwerfer eröffnen. Anders als die vierte Wand bieten sie keinen guckkastenhaften Einblick in einen intimen, da unbeobachteten (Privat-)Raum, sondern inszenieren ein Geschehen, das für den Zuschauer in einsehbarer Weise uneinsehbar ist. Diese Wende ist nicht nur von formalem, sondern auch von inhaltlichem und das 46 47

S. Beckett: Endspiel (wie Anm. 1), S. 245. Das Motiv findet sich im Übrigen bereits in Warten auf Godot. So eben hat man die Berliner Inszenierung gedeutet; vgl. Schulz, GeorgMichael: »Samuel Becketts Theater: Räume, Körper und Personen«, in: Helmut Siepmann/Kaspar Spinner (Hg.), Moderne und Gegenwart. Meisterwerke der Weltliteratur Bd. V, Bonn: Romanistischer Verlag 1992, S. 47-69, hier S. 51.

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Raumspiel und Raumregie im Endspiel und im Spätwerk Becketts heißt, genauer gesagt, von subjekttheoretischem/anthropologischem Belang: Bekanntlich verbessert das Konzept der vierten Wand nicht nur die Regiepraxis und deren illusionäre Effekte, sondern transportiert zugleich ein neues Menschenbild. Deutlich ist dieser Bezugspunkt bei Diderot gesetzt: »Wenn man dich nicht sieht, wenn du dich der Öffentlichkeit entziehst, bist du du selbst, bist du ein Mensch.«48 Ausgehend von dieser Beobachtung entwickelt Diderot das Modell der vierten Wand: Auf Gemälden und auf dem Theater sollen die Figuren so agieren und so dargestellt sein, als wüssten sie nicht, dass sie von einem Zuschauer betrachtet werden.49 Mensch (oder aber auch Bürger) ist man der Theorie der bürgerlichen Aufklärung zufolge, wenn man nicht repräsentieren muss. Moderne Subjektivität gründet mit in dieser paradoxen Nische einer Beobachtung vorgeblich unbeobachteter Intimität – aber auch modernes Verstehen. In dem Maße, wie der Zuschauer die Figuren gleichsam belauscht, leiht er ihnen sein Ohr. Die vierte Wand lädt zu einer mitfühlenden Teilnahme, zu einem SichVersetzen-in-fremdes-Leben ein. Die psychologische Hermeneutik Schleiermachers, die Verstehen als Sich-Versetzen-in-fremdes-Leben deutet, ist der späte Nachhall solcher Aufführungskonzepte. Ganz anders sind Raumkonzept und Bühnenanordnung beim späten Beckett verfasst. Während Diderot mit der vierten Wand die Position des Zuschauers streicht, um ein imaginäres Selbstsein des Menschen zu etablieren, führt Beckett in Spiel einen imaginären, da uneinsehbaren Beobachter ein, von dem sich die Figuren gesehen wissen und dessen Fokalisierung sie zum Sprechen veranlasst. Während das Konzept der vierten Wand auf ein selbstbestimmtes, da unbeobachtetes Subjekt zielt, inszeniert Spiel Scheinwerfer-

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Vgl. Diderot, Denis: Essais sur la peinture, in: ders., Œuvres, Bd. 4: Esthétique – Théâtre, hg. von Laurent Versini, Paris: Laffont 1996, S. 467516, hier S. 490: »Vous êtes seul chez vous. […] Vous voilà étendu sur votre chaise de paille, les bras posés sur vos genoux, votre bonnet de nuit renfoncé sur vos yeux, ou vos cheveux épars et mal retroussés sous un peigne courbé; votre robe de chambre entrouverte […]. On vous annonce M. le marquis de Castries; et voilà le bonnet relevé, la robe de chambre croisée; mon homme droit, tous ses membres bien composés; se maniérant, se marcélisant, se rendant très agréable pour la visite qui lui arrive […].« Nachgerade bildhaft führt Diderot dies an der Aufführung des Fils naturel in einem Wohnzimmer vor, der er, der Fiktion zufolge, als verborgener Zuschauer beiwohnt; vgl. Diderot, Denis: Le fils naturel, in: ders., Œuvres, Bd. 4: Esthétique – Théâtre (wie Anm. 48), S. 1081-1127, hier S. 1083: »J’entrai dans le salon par la fenêtre; et Dorval, qui avait écarté tout le monde, me plaça dans un coin, d’où, sans être vu, je vis et j’entendis ce qu’on va lire […].«

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Franziska Sick marionetten, Figuren, die von einem Beobachter gesteuert werden. Die hohe Kunst Beckett’scher Raumregie zeigt sich daran, dass er mit minimalen Änderungen in der Bühnenanordnung einen neuen ›Subjekt-Begriff‹ ganz ohne Philosophie formulieren kann. Er hat sich diese Position Zug um Zug erarbeitet. Der frühe Beckett operiert noch mit vergleichsweise reflexiven Mitteln. Er dekonstruiert das Subjekt, indem er seine Theaterhaftigkeit ausstellt. »Jetzt spiele ich«, »Ich sehe … eine begeisterte Menge.« Ab Spiel tritt dieser dekonstruktive Ansatz zurück, ab Spiel geht Beckett nicht länger eine dekonstruktive Kumpanei mit dem Zuschauer ein, sondern bezieht ihn in das Spielgeschehen mit ein, nicht im Sinne der Guckkastenbühne, sondern indem er ihn von außen umgreift. Man muss sich deshalb nicht länger in das versetzen, was vorne auf der Bühne geschieht, man muss nicht länger darüber nachdenken, wie sich die Akteure da vorne zum Außen stellen, weil es einem selbst im Nacken sitzt. Einmal mehr unterläuft an dieser Stelle Beckett vermittels eines Raumkonzepts traditionelle Sinnund das heißt in diesem Fall: Verstehensmodelle. Während das Modell der vierten Wand den Raum dazu nutzt, das Verstehen des Anderen zu ermöglichen, weist der späte Beckett dem Zuschauer seinen Platz an. Zu verstehen gibt es hierbei nichts. Man ist im Raum und sitzt an dessen Grenzlinien und Faltungen. Keine Verstehensgemeinschaft, die sich daraus ergäbe, dass Zuschauer und Bühnenfigur gleichermaßen demselben Außen ausgesetzt sind, entsteht hierbei. Das Außen ist viel listiger als solch hermeneutisch einfühlende Vernunft. Es nistet sich überall ein: Im Intimraum der Clov'schen Hose, aber auch im Außen des Zuschauerraums, indem es die vierte Wand nicht länger einreißt, sondern spaltet. Wie wenig ein interpretativer Zugriff bei solchen Raumkonzepten angebracht ist, lässt sich an Film nachzeichnen: Beckett bestimmt in einer Vorbemerkung das Raumgeschehen, das Film entfaltet, in strikt philosophischer Weise: »Esse est percipi. Wenn alle Wahrnehmung anderer – tierische, menschliche und göttliche – aufgehoben ist, behält einen die Selbstwahrnehmung im Sein. Die Suche nach dem Nicht-Sein durch Flucht vor der Wahrnehmung anderer scheitert an der Unausbleiblichkeit der Selbstwahrnehmung.«50

Um sogleich hinzuzusetzen, dass diese Aussage keinen Wahrheitswert habe, sondern als Regieanleitung zu verstehen sei. Damit kehrt Beckett die traditionelle Beziehung von Aufführung und Interpretation um. Es geht ihm nicht darum, aus Stücken eine zugrunde50

Beckett, Samuel: Film, in: ders., Nacht und Träume. Gesammelte kurze Stücke, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 187-205, hier S. 189.

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Raumspiel und Raumregie im Endspiel und im Spätwerk Becketts liegende Philosophie oder aber auch Wahrheit herauszulesen, sondern darum, die der Philosophie inhärierenden Raummodelle zu inszenieren. Nur in der Inszenierung, nur wenn man Philosophie als Regieanweisung auffasst, ›versteht‹ man sie. Man versteht sie erst dann, weil Räume nur zu verstehen sind, wenn man sich in sie hineinbegibt. Dabei ist nicht zu übersehen, dass Film die Raumanordnung von Spiel der Sache nach invertiert. Film zeigt, wie ein Auge A ein Objekt O verfolgt. Die Verfolgung ist mit Mitteln der Kameraführung dargestellt. Man sieht das Auge selbst nicht (zumindest nicht anfänglich), sondern nur das, was es sieht: den Rücken eines verfolgten und fliehenden Mannes, den Rücken von O. Hineingezwängt in diese Kameraperspektive nehmen wir als Zuschauer mit der Kamera die Verfolgung von O auf. Invers verhält sich Film zu Spiel, weil wir uns genau dort befinden, wo in Spiel die Scheinwerfer sind: Am Aktionspol, am Ort der Regie aus dem Off, also im Außen. Selbstredend lässt Beckett nicht zu, dass wir uns in diesem Logenplatz des Außen einrichten. In einem finalen Wechselbild51 kippt die Beziehung von Auge und Objekt. Man sieht nicht nur den Rücken des Objekts, sondern auch sein Gesicht, aber auch das Gesicht des Auges. Im Vergleich zu Spiel zeigt sich, wie explorativ und nachgerade systematisch Beckett das Außen des Zuschauerraums auslotet. Er setzt uns in Film an das Außen von Spiel, um selbst dieses zu spalten und mit einem Gegenblick zu konfrontieren. Medienreflexiv unterläuft er hierbei das gängige Mittel der Kameraführung, das uns in Fortsetzung der Guckkastenbühne eine identifikatorische Beobachterperspektive aufzwängt. So wie in Spiel ohne Worte und Kommen und Gehen die Regie aus dem Off mit vergleichsweise traditionellen Mitteln gestaltet ist, so auch in Spiel und Film das Außen des Zuschauerraums. Weder Kameraführung noch Scheinwerfer sind besonders innovative Stilmittel. So wie in Quadrat wartet der spätere Beckett auch bei der Integration des Zuschauerraums mit ausgefeilteren Konzepten auf, so etwa in seinen Fernsehspielen. Teilweise ist diese Abwandlung medien- und aufführungsbedingt. Man kann im Wohnzimmer, anders als im Theater, keine rückwärtigen Scheinwerfer montieren. Beckett setzt deshalb in seinen Fernsehspielen ein weiteres Mittel ein: die Stimme. Auch sie – und nicht nur Bildmittel wie Kameraführung und Scheinwerfer – kann einen Außenraum erzeugen. Das lässt sich exemplarisch an He, Joe zeigen: Man sieht in diesem Fernsehspiel einen Mann, der von einer weiblichen Stimme heimgesucht wird, die ihm Vorhal-

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Beckett war sich nicht sicher, wie diese Beziehung filmisch darzustellen sei; vgl. ebd., S. 201f.

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Franziska Sick tungen macht. Ich will nicht weiter untersuchen, wer sich hinter dieser Stimme verbirgt, sondern Aspekte der Raumregie in den Vordergrund stellen. Von woher spricht diese Stimme? Augenscheinlich von nirgendwoher. Es ist eine akusmatische Stimme. Da wir gewohnt sind, Sprecher zu lokalisieren und Stimmen Sprechern zuzuordnen, entsteht, wo diese Zuordnung nicht möglich ist, der Eindruck des Nirgendwoher. In dem Maße, wie He, Joe und weitere Fernsehspiele Becketts diese Zuordnung verweigern, eröffnet die Stimme einen Außenraum, der in diesem Fall über die Trennung von sprechendem Mund und gehörter Stimme verläuft. Wie man sieht, versteht sich Beckett darauf, selbst in den bauartbedingten Guckkasten, der das Fernsehen ist, einen Außenraum zu implementieren. Beckett setzt in He, Joe nicht nur die akusmatische Stimme ein, sondern auch das traditionelle Mittel der Kameraführung, wenn auch in durchaus markanter Weise. Die Kamera umkreist Joe, sie rückt ihm in zunehmendem Maße auf den Leib. Obwohl wir Joe nur mit den Augen der Kamera sehen, lädt diese uns nicht dazu ein, ihre Perspektive zu teilen. Das hat der Sache nach sicherlich damit zu tun, dass diese Kamera viel zu aufdringlich ist, als dass wir ihre Perspektive einnehmen wollten. Regietechnisch beruht diese Distanz zur Kameraperspektive auf einem weiteren Kopplungseffekt. Die Kamera bezieht die Perspektive der akusmatischen Stimme. Wie diese rückt sie Joe zusehends auf den Leib. Sie umkreist ihn, sie kommt näher. Die medientechnische und zugleich wahrnehmungspsychologische Raffinesse von He, Joe besteht darin, die beiden Kanäle Lippenbewegung und Stimme zu entkoppeln, um im Gegenzug den Kanal der akusmatischen Stimme mit der Kameraperspektive zu verkoppeln. Gemessen an dem Stummfilm Film, der das Außen der Kameraperspektive nur mittels eines Perspektivewechsels darstellen kann, ist diese Verschaltung der Kanäle ungleich avancierter. Während die Beschränkung auf den Stummfilm das Außen nur in einem nicht in jeder Hinsicht überzeugenden finalen Doppelbild darstellen kann,52 erlaubt die Einführung des Tonkanals eine ungleich durchgängigere und suggestivere Präsenz des Außen. Und dennoch greift Beckett in He, Joe auf das in Film entwickelte Modell des Wechselblicks zurück. Die Erstfassung von He, Joe zeigt in der Schlusseinstellung anfänglich Joe in leichtem Seitenprofil, um dann Joes Gesicht frontal zu fokussieren. Die Stimme verstummt, Joe schlägt die Augen auf. Die Kameraperspektive neigt sich nach unten und zeigt einen zwar grinsenden, aber nicht sprechenden Mund. So sehr

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Beckett selbst war mit dieser Lösung nicht ganz zufrieden; vgl. ebd., S. 202.

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Raumspiel und Raumregie im Endspiel und im Spätwerk Becketts Joe über weite Strecken in der einseitigen Perspektive eines passiven esse est percipi steht, so sehr durchbricht er diese zum Schluss: Er blickt den Zuschauer an. Er blickt – wie das O in Film – zurück mit der entscheidenden Differenz, dass er nicht wie in Film seinen Verfolger, sondern den Zuschauer vor dem Fernseher anblickt. Auch an dieser zugespitzten Wiederaufnahme von Film ist ablesbar, dass und wie Beckett in zunehmendem Maße den Zuschauerraum besetzt: In He, Joe ist der Gegenblick nicht bloß Gehalt eines Films. Er konfrontiert den Zuschauer als Betrachter des Films. Einmal mehr erreicht Beckett diesen Effekt durch eine präzise Ver- und Entkopplung von Ton-/ Bildkanal und Kameraführung. Ab Spiel ohne Worte ist es nicht länger erforderlich, den (Außen)Raum zu besprechen, weil der Außenraum von diesem Stück an selbst wirksam ist. Beim späten Beckett ist er sogar in zunehmendem Maße der Ort der Stimme. Dennoch greift Beckett das Motiv des besprochenen Raums, das für Endspiel so prägend war, in Geister-Trio wieder auf. Man sieht einen karg, nachgerade schematisch möblierten Raum – Fenster, Türe, Pritsche, Hocker –, den redundanter Weise eine Stimme beschreibt: »Nuancen der Farbe Grau. Pause. Man verzeihe, daß ich erwähne, was offensichtlich ist.«53 So sehr hier – wie im Endspiel – ein weitgehend entleerter Raum besprochen wird, so unübersehbar sind die Differenzen: Im einen Fall wird der leere Außenraum besprochen, im anderen Fall bespricht eine Stimme von außen einen kaum weniger entleerten Innenraum. Durchaus in diesem Sinne wandelt Beckett das Motiv der Raumregie und der Regie aus dem Off ab. Man sieht eine Figur auf dem Hocker, die abwechselnd zum Fenster und zur Türe geht, um diese zu öffnen und wieder zu schließen. Die Stimme weist sie an, dies zu tun: »Jetzt zur Tür. […] Niemand. Pause. 5 Sekunden. Öffnen. […] Niemand.«54 In einer letzten Verknappung reduziert sich die Regie aus dem Off auf die Stimme aus dem Off. Und diese beschränkt sich aufs Wesentliche: Auf den tonlosen Befehl, sofern man Infinitive wie »öffnen« und »schließen« als imperativische Infinitive lesen will. Zumal an dem Konzept der Raumregie ist ablesbar, wie konsequent Beckett seine Fragestellungen weiterentwickelt. »Lass uns eine Reise machen«: Die Raumregie im Endspiel ist, so sehr das Stück zunächst irritieren musste, noch in durchaus traditioneller Weise binnendramatisch. Es bindet die Raumregie in die Handlung

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Beckett, Samuel: Geister-Trio, in: ders., Nacht und Träume (wie Anm. 50), S. 263-274, hier S. 266. Ebd., S. 268.

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Franziska Sick ein. Demgegenüber steuern die Scheinwerfen in Spiel das Drama von außen und zerstückeln hierbei die Eifersuchtsgeschichte, um die es der Sache nach geht, bis zur Unkenntlichkeit. «Sprich, wenn du angeleuchtet wirst«, lautet ihre implizite Botschaft. So sehr hierbei das Drama ins Außen gesetzt und die Handlung veräußerlicht ist, so sehr besitzen die Scheinwerfer – ähnlich wie auch die Stimme in He, Joe – noch dramatischen Charakter: Sie fordern den Akteur auf der Bühne zum Sprechen bzw. zum Zuhören auf. Anders ist die Stimme in Geister-Trio verfasst. Sie weist nur noch auf das hin, was offensichtlich zu sehen ist. »Man sehe nun näher hin. Pause. Fußboden. […] Staub. Pause. Wer dieses Stück Fußboden gesehen hat, hat ihn ganz gesehen. Wand. […] Staub. Pause. Jetzt, da klar ist, was für eine Wand – […] Was für ein Fußboden – […] Sehe man nochmal hin.«55

Das ist ein nachgerade phänomenologischer Grundgestus: Die Aufforderung zu sehen, was zu sehen ist, und es von jeder weiteren Deutung freizuhalten. Zu sehen ist der Raum, nichts weiter. Wenn es denn Bedeutung gibt, ist sie aus ihm herauszulesen. Aufgrund dieser Zuspitzung ist eine weitere Differenzierung des (Außen)Raums möglich. Der tonlosen Stimme draußen, die es sich selbst verbietet, lauter oder leiser zu werden, tritt drinnen die aufund abschwellende Musik Beethovens gegenüber. Ein voll konturiertes Außen ermöglicht, was bei Beckett sonst nicht zu hören ist: Die Inbrunst und Innerlichkeit romantischer Musik. Freilich ist deren Hörer kaum weniger verschlossen als das Außen im Endspiel. Die Figur umklammert einen Kassettenrekorder und bildet mit diesem – vom Zuschauer aus gesehen – eine akusmatische Einheit. »Es ist, als ob man gleichzeitig ein Hörspiel und einen Stummfilm vorführte […].«56 Diese präzise Formel Deleuzes deutet darauf hin, dass Geister-Trio, gemessen an He, Joe, weitere mediale Kopplungs- und Entkopplungseffekte ins Spiel bringt. Während die Stimme in He, Joe Joe noch vom Außen her anspricht, während sie ihn bedrängt, während sie noch eine durchaus dramatische, da konfrontative Regie aus dem Off eröffnet, besitzt die Stimme in GeisterTrio trotz imperativischer Anklänge aufgrund ihrer Tonlosigkeit ein nachgerade kommentarhaftes Gepräge. Befiehlt sie oder sagt sie nicht vielmehr in redundanter Weise den nächsten vorhersehbaren Zug an, der den Regeln dieses Raumspiels entspricht? Dieser nichtdramatische, und das heißt: raumspielhafte Charakter verdankt sich einem gegenüber He, Joe gegenläufigen Kopplungseffekt. 55 56

Ebd., S. 266. Mit dieser Formel beschreibt Deleuze das Geister-Trio; vgl. G. Deleuze: »Erschöpft« (wie Anm. 29), S. 29.

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Raumspiel und Raumregie im Endspiel und im Spätwerk Becketts Geister-Trio entkoppelt die Beziehung von akusmatischer Stimme und Bühnenfigur und verkoppelt die Stimme mit dem Raum, den sie beschreibt, und den Aktionen der Figur, die sie nicht mehr anspricht, sondern bloß noch bespricht. Solche Entkopplungen sind bei Beckett, dies deutet sich bereits in Film an, kein bloßes Regiemittel, sie entkoppeln zugleich gängige Wahrnehmungs- und Begriffszuordnungen. Verbreiteter Weise assoziiert man die Stimme mit Präsenz, Geist und Sinn und stellt ihr die Schrift als das Räumliche und Äußerliche gegenüber. Anders ist die Beckett’sche Stimme verfasst. Sie zeigt, dass die präsente Stimme – unbeschadet ihrer Anwesenheit – auch außen sein kann. Auch so lässt sich Sinn dekonstruieren: Nicht indem man Präsenz gegen Absenz – so operiert noch Warten auf Godot – oder Stimme gegen Schrift – so argumentiert bekanntlich Derrida – ausspielt, sondern indem man die Stimme ins Außen setzt und zum Sprecher des Außen macht. Der philosophische Charakter Beckett’scher Raumspiele besteht mit darin, vertraute Spielanordnungen zu verändern. In zunehmendem Maße geht Beckett dazu über, nicht länger Philosophie zu persiflieren oder zu inszenieren, sondern statt ihrer andere Spiele zu erfinden. Man mag oder muss hinzusetzen, dass diese Spiel- und Raumanordnungen sich in verwandter Weise bei Lacan finden. Er führte gegenüber Freud zwei Neuerungen ein: Die Äußerlichkeit der Stimme und die des Auges. Von der Äußerlichkeit des Auges handelt Film. Von der Äußerlichkeit der Stimme in zunehmendem Maße der späte Beckett.

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Unmögliche Räume Die Stimme als Objekt in Becketts (spätem) Theater HELGA FINTER Der Zuschauer blickt vom Rang aus auf eine dunkle Bühne, aus der langsam ein Kopf mit wirren weißen, ausgebreiteten Haaren aus dem Dunkel auftaucht, ziemlich weit oben über dem Bühnenboden. Nur die obere Hälfte des alten weißgeschminkten Gesichts ist beleuchtet, die Augen sind geöffnet, man hört lautes Atmen. Eine Stimme erklingt, zuerst von links, dann von rechts, dann über der Figur, die auf der dunklen Bühne zu liegen scheint. Wer den Schauspieler David Warrilow kennt, weiß, dass aus den drei Lautsprechern seine Stimme ertönt. Spricht er selbst oder ist seine Stimme aufgezeichnet? Dies ist für den Zuschauer nicht zu entscheiden, da sein Mund nicht sichtbar ist. Zweimal wird der Stimmfluss unterbrochen, die während des Sprechens geschlossenen Augen öffnen sich, ein Atemgeräusch wird hörbar. Am Ende wird dieses Geräusch wiederholt, die Augen öffnen sich wieder, das Gesicht ist nun ganz beleuchtet, ein Lächeln ist zu sehen. Dann wieder ein Black, alles verschwindet im Dunkel. An diese, 1981 in Paris während des Festival d’Automne im Theater Gérard Philippe in Saint Denis gezeigte Inszenierung von Samuel Becketts That Time wurde ich erinnert, als ich 2002 beim Festival d’Avignon Denis Marleaus Aufführung von Maurice Maeterlincks Les Aveugles sah. Wieder ein dunkler Saal und eine schwarze Bühne, aus der sich langsam zwölf Köpfe konturierten, die den Text live zu sprechen schienen, der aus Lautsprechern übertragen wurde. Doch schnell erwies sich dieses Bühnendispositiv als eine mediale Phantasmagorie: Der Zuschauer sah nicht präsente Schauspieler, sondern zwölf Video-Heads: Es handelte sich nämlich um Videoprojektionen menschlicher Gesichter auf Styropor-Formen, welche die Größe und den Umriss menschlicher Köpfe hatten. Sie zeigten aus verschiedenen Blickwinkeln aufgenommene Aufzeichnungen von allein zwei Schauspielern ԟ Céline Bonnier und Paul Savoie ԟ, welche sich den Text der zwölf blinden Männer und Frauen aufgeteilt hatten. Sie boten so in absentia ein Theater an, das nicht nur die Notwendigkeit der Präsenz des Schauspielers für das

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Helga Finter Theater in Frage stellte, sondern auch allein durch das Sprechen des Textes den Bühnenort in einen theatralen Raum verwandelte, den jeder Zuschauer für sich mental zu konkretisieren hatte. Man könnte diese Arbeit als eine Radikalisierung von Becketts Bühnendispositiv verstehen. Denn in der Tat nahm Becketts Theater eine beachtliche Anzahl von Fragestellungen und Experimenten vorweg, die heute die Bühne bestimmen. Er hatte die Konstituenten des Theaters von Anfang an auf die Probe gestellt: Die Handlung, die Person, den Raum und die Zeit. Insbesondere die Person, die ein Schauspieler darstellt, spielt oder spricht, wurde immer mehr reduziert und fragmentiert: Beckett erforschte ihr szenisches Handeln als körperliches Tun und Sprachhandeln, er begrenzte den Bewegungsspielraum der Figuren, schloss die Personen in Tonnen, Erdhügeln oder Krügen ein. Sie wurden nicht nur eingebuddelt oder ›eingebottled‹, sondern auch eingeschnürt, unbeweglich auf einer Liege oder unter einem Tuch ausgestreckt. Einzig sichtbar blieb ein Kopf, ein Mund, einzig beweglich die Stimme. Wie der Körper des Schauspielers wurde auch die Stimme von ihm getrennt. Die eigene Stimme wird bei Beckett zum Objekt: Sie entspringt einem fremden Organ (Not I), einer Aufzeichnungsmaschine (Krapp’s Last Tape, Rockaby); sie vervielfältigt sich als aufgezeichnete Stimme (That Time und Compagnie), wird zu einer halluzinierten Stimme (Solo, Eh Joe! ) oder zur Stimme des Textes (Ohio Impromptu). Während einerseits die Fernsehspiele immer stärker den Körper als Silhouette, Schemata oder Schatten behandelten oder aber die Wahrnehmung als Identitätsfunktion befragten, stellte Beckett andererseits nach Krapp in seinen Theatertexten immer mehr die Stimme als ein Phänomen in den Vordergrund, das letztlich das Theater und die Theatralität generiert, das heißt die Person, den Raum, die Zeit und die Handlung. Was bedeutet diese vom Körper getrennte Ausstellung der Stimme für Becketts theatralen Raum? Zwei Überlegungen zum Verhältnis von Stimme und Raum seien hier vorausgeschickt: Im Theater garantiert die vom Schauspieler artikulierte Stimme, die den Text spricht, die Wahrscheinlichkeit der dargestellten Person und des vom Text vorgegebenen Abwesenden. Die Stimme, die das Wort spricht, macht die Darstellung präsent und verwahrscheinlicht sie. Erst dieses sprachliche, mit der entsprechenden körperlichen Bewegung verbundene Handeln schafft den theatralen Raum des gespielten Stücks, denn es verwandelt einen durch Requisiten und Ausstattung vordefinierten Bühnenort in den spezifischen Raum des gespielten Stücks, indem es diesen Ort vektorisiert, in

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Unmögliche Räume ihn Geschwindigkeiten einschreibt und ihn zeitlich variiert.1 So kann durch sprachliches Handeln der Bühnenort zu jenem heterotopen Raum werden, in dem sich, nach Michel Foucault, die Utopie anderer Orte zu verwahrscheinlichen vermag.2 Im traditionellen Theater macht sich dabei der Schauspieler zum Ursprung des Dramentextes, indem seine Stimme die des Textes mimt. Doch diese eigene Stimme ist selbst eine soufflierte Stimme, Produkt aus imaginären Mutter- und Vaterstimmen, aus sozialen und rhetorischen Stimmgesten.3 Beckett macht die Bühne zum Raum eines Echos des Subjekts im Sinne von Philippe LacoueLabarthe,4 weil er die Stimme des Textes selbst als die eines Anderen thematisiert. Damit stellt er die mentale Bühne der Bühnenfigur aus, von der aus der Zuschauer letztlich mental den Raum zu konstruieren vermag, den die Aufführung ihm vokal nahelegt.

Krapp und die Stimme des Anderen Mit Krapp’s Last Tape (1959) wird zum ersten Mal ein Tonband zum Protagonisten. Wir sehen den alten Krapp im Dialog mit seiner vor vielen Jahren aufgezeichneten Stimme, die forsch und rhetorisch scharf im Kontrast zu der auf der Bühne manifesten, mit Körperund Stimmgeräuschen angereicherten Stimme des alten Krapp sich verlautet. Seine junge Stimme ist die eines Anderen, fremd und körperlos. Doch zugleich öffnet sie den Bühnenraum auf Krapps Vergangenheit, macht sie präsent. Ein früherer Stimmraum wird simultan zum aktuellen, live artikulierten Stimmraum zitiert und verdoppelt so den Bühnenraum mental. Diese aufgezeichnete Stimme hat die Qualität einer akusmatischen Stimme, denn auf sie treffen die von Michel Chion anhand des Films analysierten Charakteristika zu:5 ihre Quelle ist unsichtbar, sie erscheint omnipräsent, allwissend und allgegenwärtig, sie ist nicht desakusmatisierbar, da der junge Körper, der sie hervorbringt, unwiederbringlich abwesend ist. Der Kampf gegen diese aufgezeich1 2

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Vgl. zum Verhältnis von Ort und Raum: Certeau, Michel de: L’invention du quotidien, Bd. I: Arts de faire, Paris: 10/18 1980, S. 208Ǧ210. Vgl. Foucault, Michel: »Des espaces autres« [1967], in: ders., Dits et écrits 1954-1988, Bd. I: 1954-1969, hg. von Daniel Defert und François Ewald, Paris: Gallimard 1994, S. 752-762. Vgl. Finter, Helga: »Stimmkörperbilder: Ursprungsmythen der Stimme und ihre Dramatisierung auf der Bühne«, in: Doris Kolesch/Jenny Schrödl (Hg.), Kunst-Stimmen, Berlin: Theater der Zeit 2004, S.131-141. Vgl. Lacoue-Labarthe, Philippe: »L’écho du sujet«, in: ders., Le sujet de la philosophie. Typographies I, Paris: Aubier/Flammarion 1979, S. 217Ǧ303. Vgl. Chion, Michel: L’audio-vision, Paris: Nathan 1990, S. 63-65.

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Helga Finter nete Stimme bestimmt das Drama Krapps als ein Drama von Anund Abwesenheit, Vergangenheit und Gegenwart, Jugend und Alter. Mit diesem Dispositiv hat Beckett den nicht zu hintergehenden Präsenzaspekt der aufgezeichneten Stimme verdeutlicht, der gerade dann zu Tage tritt, wenn versucht wird, dieses Dispositiv zu perspektivieren. In der Diplominszenierung von Sebastian Blasius wurde dies deutlich.6 Der Regisseur montierte die Tonspur von Becketts deutscher Aufführung dieses Stücks mit der Bewegungschoreographie des Tänzers Ludger Lamers, der Martin Helds Bewegungsvokabular variiert. Doch sobald das Tonband einsetzt, wird die aufgezeichnete Stimme, welche der Apparatur entspringt, als präsente Stimme wahrgenommen. Die Perspektivierung des szenischen Dispositivs wird unterbrochen. Eine aufgezeichnete Stimme bleibt in ihrer Wirkung präsent. Sie streicht ihre mise en abyme im durch die Aufführung geschaffenen Jetztraum durch.

Hysterische und halluzinierte Stimmen Mit Not I (1973) und That Time (1976) hatte Beckett seine Recherche auf die Stimme des Protagonisten ausgedehnt. Not I stellte zu einem Zeitpunkt, in dem das Experimentaltheater Körperlichkeit auf der Bühne allein als physische Präsenz verstand, einen übersprudelnd artikulierenden Mund als Protagonisten ins Zentrum. Wie ein Partialobjekt ausgeleuchtet, verlautet aus ihm ein Text, der verneint, dass ein »ich« spricht. Er kennt allein die Ansprache – you – und die dritte Person – she –. Der Mund wird von einem sich überstürzenden Sprachfluss besetzt, er ist eine obszöne Lustmaschine, welche die Stimme als Objekt des Begehrens im Sinne Jacques Lacans erfahren lässt. Für den französischen Psychoanalytiker gehören Stimme und Blick, zusammen mit den oralen und analen Objekten wie Nahrung und Fäkalien, zu den archaischen Triebobjekten. Sie geben als faktisch vom Körper getrennte Objekte eine erste Erfahrung des Anderen, noch vor der Erfahrung des eigenen Körpers als einem getrennten Anderen in der Spiegelphase.7 Die erste Stimme fällt mit der Stimme der Mutter zusammen in einem ersten Klangraum, den Julia Kristeva chora nennt. Sie gibt eine erste Körperhülle, das

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Vgl. Blasius, Sebastian: APPROPRIATION. PARASITEN. KRAPP’S LAST TAPE, mit Ludger Lamers. Erstaufführung am 15.06.2009, i-camp/Neues Theater München. Vgl. Dolar, Mladen: His Master’s Voice. Eine Theorie der Stimme, aus dem Englischen von Michael Adrian und Bettina Engels, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 98ԟ111.

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Unmögliche Räume ›Haut-Ich‹.8 Diese Stimme ist eine phantasmatische Stimme, insofern sie als immer schon verlorene begehrt, aber auch als übermächtige Stimme des ersten Anderen gefürchtet wird. Diese erste Stimme, die als imaginäre begehrte Stimme im Timbre und Melos der Sprechstimme des Einzelnen weiterlebt,9 wird durch die Stimme der Sprache abgelöst, welche erlaubt, sich nun mit dem Pronomen »ich« selbst zu benennen. Mouth jedoch kann nicht »ich« sagen. Bei Mouth fallen Oralität und Vokalität zusammen, die Oralität überlagert die Vokalität. Mouth veschlingt und stößt mit Lust die Worte aus. Das szenische Dispositiv, wie es die Fernsehaufzeichnung überliefert,10 gemahnt an Gustave Courbets Gemälde L’origine du monde. Doch wie beim Bild ist auch hier das Organ nicht der Ursprung, sondern ein imaginärer Raum: Mouth führt das Imaginäre einer ersten Stimme vor, die als Orifiz von Ausstoßen und Verschlingen zugleich oral und anal-aggressiv gelebt wird, dem Symbolischen den Körper verweigert und, von dieser ersten Stimme besessen, die Sprache mit ihr auszutreiben sucht: Not I. Dieser imaginäre archaische Vokalraum, den die Fernsehaufzeichnung an den Körper bindet, wird im Dispositiv, das Beckett für das Theater vorsieht, allein mental durch den Zuschauer realisiert. Der Auditor in Djellaba, der im Dunkel der Bühne mit seinen mitleidigen Armbewegungen viermal die viermalige Verneinung »who?...no!...she!« immer schwächer kommentiert,11 weist hier auf die Simultaneität von theatralem Raum und phantasmatischem Raum der Bühnenfigur hin. Eh Joe (1967), ein Fernsehspiel, das eine weibliche Stimme mit dem Zoom auf ein männliches Gesicht parallelisiert, führt eine akusmatische Stimme als phantasmatische erste Stimme ein, sie kann aufgrund intertextueller Indizien als halluzinierte mütterliche Stimme gelesen werden: Der Endzoom des Fernsehspiels zitiert nämlich die letzte Einstellung von Hitchcocks Film Psycho (1960), in der Norman Bates der desakusmatisierten Stimme seiner Mutter – sie war zuvor als von ihm ermordete Tote gezeigt worden – nun als 8 9 10

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Vgl. Anzieu, Didier: Le Moi-peau, Paris: Dunod/Bordas 1985. Vgl. Finter, Helga: »Signatures de voix«, erscheint in: Alternatives théâtrales, 2010. Für die Bühne hatte Beckett einen »Auditor« vorgesehen, der viermal die Arme in »helpless compassion« erhebt, immer dann, wenn »Mouth« sich weigert, die dritte Person aufzugeben. Diese Bewegung wird gegen Ende immer schwächer. Vgl. Beckett, Samuel: »Not I«, in: ders., Ends and Odds. Plays and Sketches, London: Faber & Faber 1973, S.11-20. Die Premiere des Stücks mit Billie Whitelaw fand unter Becketts Regie am Royal Court Theatre 1973 in London statt; die Fernsehproduktion unter der Regie von Beckett ebenfalls mit Billie Whitelaw wurde von der BBC ausgestrahlt. S. Beckett: »Not I« (wie Anm. 10), S. 14, 16, 18, 19.

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Helga Finter seiner eigenen halluzinierten Stimme lächelnd zuhört. Auch der Endzoom auf Joes Gesicht zeigt diesen lächelnd: Jede halluzinierte weibliche Stimme verweist letztlich auf das Objekt Stimme, deren ambivalentes Modell das Phantasma der Mutterstimme ist, und macht damit einen archaischen Klangraum präsent, in dem sich der Bildraum auflöst. Für That Time wird Beckett die Konstruktion eines halluzinierten Stimmraumes auf die Bühne übertragen: drei Stimmen ԟ A, B und C ԟ aus drei Lautsprechern rechts und links neben sowie über ihm, belagern den unter einem Leichentuch ሺshroud) liegenden Protagonisten. Die Didaskalien vermerken, dass diese Stimmen »his own« 12 seien. Er liegt, im Hinblick auf die Position der Stimmen, wie in einer Analyse-Situation, doch der Blick des Zuschauers erfasst ihn von oben wie einen Aufgebahrten. Drei Stimmen suchen drei Lebensabschnitte als Stimmmomente zu umkreisen – A die Momente der jüngsten Jugend, B die Zeit des verliebten Erwachsenen, C das Alter. Ein Stimmenraum entfaltet sich, der zugleich ein Lebensraum ist, welcher sich musikalisch entwickelt und den ein Totenkopf immer wieder als memento mori punktiert. Geburt und Tod verschmelzen. Die Vergänglichkeit schreibt sich musikalisch als »come and gone in no time«.13 Die Stimmen produzieren mit ihrem Rhythmus, ihren Anaphern und ihren inneren Reimen eine aufgehobene Zeit, die zum Raum wird, zu einem Raum, in dem noch kein »ich« getrennt ist, noch jemals gesagt wird. Auch hier signalisiert ein finales Lächeln das Einverständnis mit dem Tod.

»Imaginer« Julian Beck, der Gründer des Living Theatre, hatte bei seinem letzten Auftritt 1985 in Frankfurt am Main im Theater am Turm kurz vor seinem Tod dieses Stück gespielt. David Warrilow war, wenige Monate vor seinem Verscheiden am 17. August 1995, mit Compagnie im Februar-März desselben Jahres im Petit Odéon in Paris aufgetreten. Todkrank, auf die Bühne getragen, sitzt er in einem Ohrensessel, seine Stimme dringt aus dem Lautsprecher zu ihm, er macht schleppend einige Schritte, geht zu einem verschlossenen, blinden Fenster, hört, setzt sich, hört seine Stimme sprechen. »Une voix parvient à quelqu’un dans le noir. Imaginer.«14

12 13 14

Beckett, Samuel: »That Time« (1974), in: ders., Ends and Odds. Plays and Sketches, London: Faber & Faber 1973, S. 21-30, hier S. 22. Ebd., S. 30. Beckett, Samuel: Compagnie, Paris: Minuit 1980, S. 7.

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Unmögliche Räume Die Stimme, die der Zuschauer hört, verbindet er mit dem sichtbaren Schauspieler auf der Bühne und dem Bühnenort, den er sieht. Er konstruiert aus dem, was er hört und sieht, den theatralen Raum und die Zeit seines mentalen Theaters: hier zum Beispiel ein Erinnerungsstück, ein Gedächtnistheater, ein memento mori. Es doppelt die sichtbare Bühne. Für den Zuschauer, der zum ersten Mal David Warrilow sah, war diese Inszenierung eine großartige künstlerische Leistung für ein Gedächtnisstück. Für die, die ihn seit den siebziger Jahren als Beckett-Schauspieler kennengelernt hatten – so mit Becketts Lost Ones, Lee Breuers New Yorker Inszenierung von Le Dépeupleur 1975 –15 hatte das Reale die Zeit und den Raum der Bühne eingeholt: Der Schauspieler war zu einer der Figuren von Becketts Universum geworden. Er mimte nicht mehr, er war derjenige, der nun seine Stimme hört, da ihm die Kraft zu sprechen fehlt. Der aber auch weiß, dass sie – aufgezeichnet – ihn überlebt, so wie die Stimme seiner Schrift den Dichter wie ein memento mori überdauert. Für den mit Warrilow vertrauten Zuschauer antizipiert diese Inszenierung den Raum seiner veillée funèbre, sie wird für ihn zum Kampf mit dem Todesengel, sie ist für ihn seine danse de mort vocale. Denn die Stimme hat die Kraft, Räume zu evozieren, ein mentales Theater vor Augen zu führen. Becketts The Lost Ones war der erste Prosatext, den Warrilow auf die Bühne gebracht hatte. Beckett wird ihm im Übrigen von da an weitere Prosatexte zur Aufführung auf der Bühne anvertrauen, so A piece of Monolog, Ohio Impromptu. Warrilow wird sie in Englisch ebenso wie in Französisch meisterhaft auf der Bühne verlauten lassen. Zum Abschluss sei ein letzter Einblick in die Aufführung eines unmöglichen Raums, dem von Becketts The Lost Ones unter der Regie von Lee Breuer, gegeben. Bei seiner Aufführung wohnen wir der Konstruktion eines Kaleidoskops von mentalen und inszenierten Räumen bei, die zugleich ein Gang durch die Räume einer Vielfalt von Theaterformen ist: Hörspiel, Puppenpanoptikum, episches Theater, Environmental Theatre, Frontaltheater: Die Inszenierung führt zuerst die Zuschauer, die sich der Schuhe und Mäntel an der Garderobe entledigt haben, in einen dunklen, runden, mit Schaumstoff ausgeschlagenen Raum von ungefähr fünf Metern Durchmesser. In einem Halbkreis sind drei Stufenreihen hintereinander angeordnet, auf denen ungefähr dreißig Personen eng gedrängt Platz nehmen können. Einzige Lichtquelle ist eine tief hängende Lampe in der Mitte des zweiten leeren Halbkreises, sie wirft mit ihrem Metallschirm einen gelben Lichtkreis von ungefähr 50 cm auf

15

Vgl. Finter, Helga: »Viaggi dell’occhio«, Spirali. Rivista di cultura 9 (1979), S. 41-43, hier S. 43.

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Helga Finter den schwarzen Boden. Black. Aus dem Dunkel ertönt eine hohe Männerstimme, die im Märchenton den Anfang von Becketts Lost Ones/Le Dépeupleur16 spricht, der Zylinder und seine Bewohner werden vorgestellt. Der Raum des Zylinders kann vom Zuschauer mental imaginiert werden. Mit dem Licht und der langsam ein- und ausgeblendeten minimal music von Philip Glass, die das Insektensurren und Lichtflirren des Zylinders metaphorisch aufnimmt, wird David Warrilow, der ein dunkles Wolljackett, dunkles Hemd und dunkle Hose trägt, barfuß stehend sichtbar. Er spricht den Text Becketts mit gebeugtem Kopf weiter, um dann, wie ein Insektenforscher, mit der Pinzette kleine Nachbildungen dieses seltsamen Völkchens vor dem Modell en miniature des aufgeschnittenen Zylinders im Lichtkreis der Lampe in ihren Posen aufzustellen:

David Warrilow in The Lost Ones, Inszenierung Lee Breuer mit der Truppe Mabou Mines, New York 1977/78, Photo © Richard Landry Der erste Raum des Zylinders wird als Panoptikum einsehbar, vorgeführt als episches Puppentheater oder ethnologische Demonstration. Black. Der epische Erzähler, nun stehend mit dem Rücken 16

Diese Inszenierung wurde 1981 beim Festival d’Automne von Warrilow auch mit dem französischen Originaltext gezeigt.

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Unmögliche Räume zum Publikum, ist zugleich selbst ein Suchender an der gewölbten Wand. Der Spielraum der Bühne wird zum Ausschnitt des Zylinders, auf den die Zuschauer blicken wie auf ein Frontaltheater. Black. Der Puppenspieler zerstört, entvölkert das Zylindermodell, liegt nun in der Mitte der Spielfläche, nach oben starrend. Black. Dann sitzt Warrilow inmitten des Publikums, der Zuschauer selbst wird zum Bewohner des Raums, dessen Zylinderform er nun, dank der auch die Seitenwände erfassenden Beleuchtung, gewahr wird: er befindet sich im Raum eines Environmental Theatre. Black. Warrilow entledigt sich seiner Kleidung, nackt, mit dem Rücken zur Wand sucht er den Ausweg. Black. Zusammengekauert wird sodann die Richtung des Raumes, der Orientierungspunkt eingeführt; die weißhaarige Frau, die nackt im Dämmerlicht dem Publikum gegenübersitzt, die Schenkel auf- und zuklappend, ist der Norden – le nord / the north17. Das letzte Stadium des Zylinders, bei dem das Insektensurren der Musik mit dem entzogenen Licht verstummt, wird im Dunkeln gehört. Schauspieler und Zuschauer sind im Zylinderraum des Dépeupleur eingeschlossen. Der Zylinder wird zur Metapher des Lebensraums ihrer Welt: theatrum mundi. Philip Glass’ minimal music punktiert diese Demonstration, der Wandel von Klangfarbe und Melos variiert die Erzähler- bzw. Spielerhaltung. Rhythmus und poetisch hervorhebende Sprechweise dominieren. Mit dem Rhythmus nuanciert sich die Raumvorstellung des Zuschauers und verschiebt sich wie in einem Kaleidoskop. Der unmögliche Raum von Becketts Dépeupleur/The Lost Ones ist mit seiner Zylinderform letztlich die Verschmelzung von Dantes Höllentrichter mit seinem Positiv, dem Kegel des Läuterungsbergs. Zu dessen Füßen, im Vorpurgatorium, sitzt Belacqua, der Lautenspieler aus Florenz, in kauernder Stellung, der Dante ein Lächeln entlockte,18 weil er dasitzt, »als ob die Faulheit seine Schwester wäre«.19 Beckett zitiert dieses Lächeln Dantes, als er die Haltung einzelner Bewohner des Zylinders beschreibt, als »attitude qui arracha à Dante un de ses rares pâles sourires«.20 Der Raum von Le Dépeupleur/The Lost Ones hat eine Zylinderform, wie das Brunnenloch 17

18 19

20

Vgl. Beckett, Samuel: The Lost Ones, translated from the original French by the author, London: Calder & Boyars 1972: »there does none the less exist a north in guise of one of the vanquished or better still the woman vanquished.« Ebd., S. 14: »[…] non-searchers sitting for the most part against the wall in the attitude which wrung from Dante one of his rare wan smiles.« Alighieri, Dante: Die Göttliche Komödie. II. Teil: »Purgatorio – Der Läuterungsberg«, Italienisch und Deutsch, übersetzt von Hermann Gmelin, Stuttgart: Klett 21974, Gesang IV, Vers 110-111: »Colui che mostra sé più negligente/ che se prigrizia fosse sua serocchia,« Beckett, Samuel: Le Dépeupleur, Paris: Minuit 1970, S. 13.

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Helga Finter des Purgatoriums des heiligen Patrick auf der irischen Insel Station Island, Lough Derg, in der Grafschaft Donegal,21 oder wie der Turm der 1931 darüber errichteten katholischen Pilgerkirche.22 Das Purgatorium ist ein von der römischen Kirche im zweiten Konzil von Lyon 1274 sanktionierter Jenseitsort, in dem die Verstorbenen durch Bußen und die Lebenden durch Ablass auf das Heil oder die Erlösung der Toten einwirken können. Das Purgatorium war dem Protestanten Beckett verwehrt, jedoch galt es ihm schon sehr früh als der interessanteste Teil von Dantes Jenseitsgedicht. In einem Text von 1929 zu James Joyces work in progress, dem späteren Finnegans Wake, beschreibt Beckett den Raum von Joyces Text im Kontrast zu Dante als »spherical purgatory«.23 Für ihn ist dieser Text auch ein »purgatorial work« durch seine »absolute Abwesenheit des Absoluten«, welche die Erde selbst als Purgatorium dechiffrieren lässt.24 Nach Beckett fasst Joyce die Welt als einen Raum der Selbstläuterung auf, den die Komplementarität von Vice and Virtue wie eine Maschine antreibt. Der Raum von Becketts Dépeupleur/The Lost Ones hingegen ist nicht mehr eine Kugel, sondern ein Zylinder. Dieser verschmilzt nicht nur die Form von Dantes Hölle und Purgatorium, sondern wird auch vom Surren der Insekten beherrscht, die im dritten Gesang von Dantes Inferno die Sünder, die für ihre acedia büßen, antreiben. Das Verstummen dieser Insekten, simultan zum Gefrieren der Bewegung zu einem Schweigen »plus fort que tous ces faibles souffles réunis«, ist zugleich das Verstummen des Begehrens, das ein Verstummen des Atems einleitet, der die Textstimme antreibt, die den Zylinder in fünfzehn Aspekten dem geistigen Auge des Lesers oder Zuhörers vorführt. Doch Imagination morte, imaginez.25 Es bleibt die Stimme des Textes, die als Laut ein unerreichbares Objekt verfolgt, das sich in der Musik der Sprache lustvoll mäandernd im Unendlichen verliert. Becketts Schreiben, seine Texte sind letztlich sein Purgatorium. Deren Stimme(n) zeichnet/n seinen Raum, seine Räume. Der Leser

21 22 23

24 25

Vgl. Le Goff, Jacques: La naissance du Purgatoire, Paris: Gallimard 1981, S. 259ԟ273. Vgl. ebd., Abb.4. Beckett, Samuel: »Dante…Bruno. Vico..Joyce« [1929], in: ders., Disjecta. Miscelleanous Writings and a Dramatic Fragment, hg. von Ruby Cohn, New York: Grove Press 1984, S. 19-33, hier S. 33. Vgl. ebd., S. 33. Beckett, Samuel: »Imagination morte imaginez«, in: ders., Têtes-Mortes, Paris: Minuit 1967/1972, S. 49-65. Dieser Text von 1966 thematisiert schon die mentale Konstruktion eines unmöglichen Raumes durch den Leser, jedoch ist es hier noch ein Raum mit zwei Personen en miniature.

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Unmögliche Räume muss diese Stimme(n) mit seinem inneren Ohr hören, um Becketts Räume zu erfahren.

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Das Nagen des Raums am Objekt Zu Phänomenen heikel werdender Verdinglichung in Becketts Das letzte Band und ihrer Herausforderung für die Inszenierungspraxis SEBASTIAN BLASIUS

Das Objekt als gewaltsamer Mythos Beginnen will ich mit der These, dass ein Objekt nur als Mythos existiert. Dieser Mythos wird fortgeschrieben, wenn man in alltäglichen Zusammenhängen die eigene Umgebung selbstverständlich einordnet oder sie sich zum vermeintlichen Vertrauten macht, so dass man schnell die Herausforderungen übersieht, die unablässig von ihr ausgehen können. Diese Mythologisierung beinhaltet, so möchte ich annehmen, einen Prozess des Blind- und Taubwerdens gegen die Potenziale und möglichen Widerständigkeiten dessen, was tendenziell verdinglicht wird, so dass währenddessen das Dialogische unterbrochen wird, ein Anerkennungsvergessen stattfindet. Der Mythos des Objekts lässt leicht den Gewaltakt vergessen, mit dem versucht wird, dem Objektivierten Beständigkeit und Ungefährlichkeit zu verleihen, indem ein Zugriff mittels einer konsistenten und darin tendenziell kategorisierenden Methode erfolgt. Axel Honneth untersucht im Rückgriff u.a. auf Lukács und Heidegger, wie unter den Bedingungen des kapitalistischen Warentauschs Tendenzen der Verdinglichung auch in den zwischenmenschlichen Verhältnissen zunehmen: »Allen Subjekten, die an der kapitalistischen Lebensform partizipieren, muß es zur habituellen Gewohnheit werden, sich selber und die umgebende Welt nach dem Schema bloß dinglicher Objekte wahrzunehmen.«1 Dem Objektivierten, Verdinglichten und als solchem gewissermaßen Stigmatisierten bleibt damit entweder, die zumindest partikular passive Position seines ObjektStatus zu akzeptieren, oder es wird zur Mobilisierung genötigt: einer Mobilisierung zum Aufstand gegen den an ihn herangetragenen Status. Das Objektivierte wird genötigt, fremd zu werden, zu entgleiten,

1

Honneth, Axel: Verdinglichung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, S. 21.

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Sebastian Blasius zurückzublicken, zur Hieroglyphe, zum unablässig Störenden, zum Unintegrierbaren zu werden. Ich möchte annehmen, dass ein solcher Aufstand gegen den Objektstatus zugleich ein Aufstand gegen den vermeintlich selbstidentischen Standpunkt seitens der Verdinglichenden gegenüber der Welt ist, der sich historisch fundieren lässt und damit alles andere als eine anthropologische Konstante darstellt: die Herausbildung eines nicht minder phantasmatischen Subjekts, das zum selbstgewissen, ungespaltenen, unhinterfragt Schauenden wird, steht in Verbindung mit der Erfindung der Zentralperspektive zu Beginn des 15. Jahrhunderts, mit der ein zuverlässiges, rationales, vom vitalen und daher unverlässlichen Körper losgelöstes Sehen etabliert werden sollte, das sich von der Heterogenität des Nichtsichtbaren verabschiedet. In diesem Paradigma kann sich dieses neuzeitliche Subjekt diskursiv verorten und Beziehungen zu anderen herausbilden – allerdings, ohne dabei das eigene Sehen, die eigene Verortung in Frage stellen zu müssen oder einer Mangelerfahrung im Akt des aneignenden Sehens ausgesetzt zu sein.2 In Literaturtheorie wie Theaterpraxis sind Verfahren der tendenziellen Verdinglichung eines selbstidentischen Standpunkts und damit einer phantasmatischen Subjekt-Objekt-Trennung gang und gäbe. Sie äußern sich etwa im invasionsartigen Akt der Interpretation. Werner Hamacher schreibt: »Wo immer der Literaturtheorie ein Schritt gelingt, ist es ein Schritt aus der Reihe ihrer eigenen kanonischen Verfahren. […] Wo aber Literaturwissenschaft sich darauf beschränkt, ihre eigenen Ordnungsvorstellungen geltend zu machen, ohne deren Recht von der Literatur in Frage stellen zu lassen, gibt sie sich als Form der Erkenntnis auf.«3

Ob es sich nun um einen vermeintlich souveränen Betrachterstandpunkt handelt, der beansprucht, das Wahrgenommene verdinglichend stillstellen zu können, ob es sich um das generelle Phantasma der selbstidentischen Position gegenüber der Welt handelt oder um das Regelwerk (literatur-)wissenschaftlicher, in sich konsistenter Methode, mittels derer man auf letztlich reale Alteritäten zugreift: jeder Fall stellt einen vergleichbaren gewaltsamen, invasionsartigen Akt dar, der die Herausforderungen eines permanenten Potenzialitätsraumes tilgt und der im Grunde genommen nie restlos zum

2 3

Vgl. hierzu z.B. Haß, Ulrike: Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform, München: Fink 2005, S. 15-121. Hamacher, Werner: »Unlesbarkeit«, in: Paul De Man, Allegorien des Lesens. Mit einer Einleitung von Werner Hamacher, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 7-26, hier S. 7f.

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Das Nagen des Raums am Objekt Eigenen, Vertrauten, Familiären werden kann. Dem gegenüber schreibt Judith Butler: »Wenn Gewalt jener Akt ist, durch den ein Subjekt seine Herrschaft und Einheit wiederherzustellen sucht, dann könnte sich Gewaltlosigkeit sehr wohl daraus ergeben, dass wir uns jener hartnäckigen Infragestellung der ichhaften Herrschaft aussetzen, die unsere Pflichten gegenüber anderen bewirkt und erfordert.«4

Einem Sachverhalt, also auch einem (Aufführungs-)Text, der sich gegen seinen Objektstatus auflehnt, wohnt insofern eine ethische Relevanz inne, dass er eine abschließbare Erfahrung verunmöglicht und einen als Subjekt dahingehend beunruhigt, dass er das Phantasma dieses einheitlichen, herrschaftlichen, ichhaften Standpunkts gegenüber dem Wahrgenommenen aufs Spiel setzt. Ich möchte aber auch daran erinnern, dass der Aufstand von Zeichen, Dingen, Subjekten, Gemeinschaften gegen ihren Objektstatus immer bereits eine Reaktion darstellt oder dass der Aufständische insofern reagierend handelt, dass er präventiv um bestimmte Gefahren und Mechanismen stattfindender Verdinglichung weiß. Wie ich im Folgenden zeigen möchte, ruft Samuel Beckett in seinem Bühnentext Das letzte Band auf verschiedenen Ebenen immer wieder stabilisierende Konventionen auf, die einen Zugriff etwa im Interpretationsmodus zu gewährleisten scheinen. Diese Konventionen suggerieren, Becketts Text mittels eines konsistenten Instrumentariums auf die Bühne bringen zu können, also etwa mit einem Schauspieler, der die Figur des Krapp verkörpert, einem Bühnenbild, das Krapps Bude darstellt, und Objekten, die restlos der Figur Krapp und ihrer Geschichte zuzuordnen sind, um ein tendenziell illusionistisches Tableau zu kreieren. Dies würde in der Rezeption eine Einfühlung in diese Figur, den Nachvollzug einer Narration, die Kommensurabilität der dargebotenen Bildlichkeit gewährleisten.5 Man könnte von einer Anzahl von in Becketts Text angelegten Gelingensbedingungen im Sinne John L. Austins sprechen: eine Reihe kommunikativer, stabilisierender Konventionen – Austin nennt sie »passende Umstände«6 – müssen demzufolge erfüllt sein, »damit man sagen kann, wir hätten unsere Handlung glücklich 4 5

6

Butler, Judith: Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 88. Diese Bedingungen sehe ich etwa erfüllt in den mir bekannten Aufführungen neueren Datums, etwa der Inszenierung von André Wilms am Schauspiel Frankfurt oder jener von Johan Simons am Theater Gent, die ich beide in der ersten Jahreshälfte 2009 gesehen habe. Austin, John L.: Theorie der Sprechakte, Stuttgart: Reclam 1975, S. 36.

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Sebastian Blasius zustande gebracht.«7 Der Rezeptionsakt oder die Inszenierungspraxis müsste diese Konventionen folglich durch weitere Konventionen bestätigen, um etwa von einem gelungenen Transport des Textes ins theatrale Medium sprechen zu können.8 Bei genauerem Hinsehen offenbart sich jedoch, dass Beckett diese stabilisierenden Faktoren in seinem Text immer wieder verunsichert, durchstreicht, die Setzungen ent-setzt, ihnen im Moment des Setzungsakts die ausschließende, eindeutige Richtung nimmt, sie spektralisiert und öffnet. Das letzte Band erscheint auf verschiedenen Ebenen von einer Vielzahl an Inkonsistenzen, Leerstellen, unbestimmten Zwischenräumen durchzogen, die eine Abschließung zum liquiden Ganzen, einen methodischen Zugriff und damit auch den restlosen Transport des Textes ins Theater in letzter Instanz in Frage stellen. Im selben Zug fordern sie diesen Transport ins Theater jedoch, wie

7

8

Ebd. Austin betont in seinen Vorlesungen (Harvard University, 1955) den Handlungscharakter des Sprechens. Unter bestimmten Umständen würden Zeichen in der Realität das hervorbringen können, was sie bezeichnen. Eine sprachliche Äußerung, eine performative Setzung, bedarf demzufolge einer Einbindung in Konventionen, also in jene ›passenden Umstände‹, um gelingen zu können und anerkannt zu werden. Die performative Äußerung bzw. Setzung muss gewissermaßen auf fruchtbaren, den Umständen gemäß produktiven Boden fallen, damit das in ihr Enthaltene in der Realität zur Geltung kommen kann. Austin versucht zunächst, performative, also reale Konsequenzen intendierende Äußerungen von konstativen, also feststellenden, rein etwas aussagenden Äußerungen abzugrenzen, um diese Opposition in seiner 11. Vorlesung schließlich in Frage zu stellen in dem Sinne, dass auch eine reine Feststellung in einem bestimmten Kontext Handlungen und manifeste Auswirkungen auf die Realität haben kann (vgl. J. L. Austin: Theorie der Sprechakte (wie Anm. 6), S. 46f.). Eine Äußerung kann demnach sowohl performative als auch konstative Anteile enthalten. Jacques Derrida weist auf einen Raum des Unkontrollierbaren hin, der zwischen der Seite der Setzung und ihrer Bestätigung durch Konventionen stattfindet. Demnach seien alle Zeichen einem ständigen Spiel von Wiederholung und Differenz ausgesetzt, das einerseits ihr Bedeuten ermöglicht, aber andererseits auch verhindert, dass eine Bedeutung jeweils in einem totalen Sinne für sich allein bedeutsam sein kann (Derrida, Jacques: »Signatur, Ereignis, Kontext«, in: ders., Die différance. Ausgewählte Texte, hg. von Peter Engelmann, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 2004, S. 68–109, hier S. 90-96. In unserem Fall ist daher zu berücksichtigen, dass auch die stabilste Setzung in Becketts Text sowie ein sehr konsistenter oder auf etlichen Konventionen beruhender Rezeptionsakt diesem unkontrollierbaren Zwischenraum unterliegen. Von daher steht jede Setzung im Austin’schen Sinn offenbar von Grund auf mit einem Verfehlen in Verbindung. In vorliegender Ausarbeitung soll es allerdings um die Frage gehen, von welcher Qualität trotz dieser Verfehlungen die Beckett’schen Setzungen sind und wie man diesen Charakteristika im Akt des Zugriffs gerecht werden kann.

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Das Nagen des Raums am Objekt ich zeigen möchte, geradezu ein. Stellen wir also die Frage, wie dieses angekündigte Paradox von kommunikativer Konvention und ihrer gleichzeitigen Durchstreichung in Becketts Text beschaffen ist und was dies für die Aufführungspraxis bedeuten kann.

Orte der Stabilität und ihrer gleichzeitigen Ent-Setzung »Eines Abends, spät, in der Zukunft«9 lautet die allererste, das Stück einleitende Regieanweisung. Die Anmerkung »eines Abends, spät« ruft eine konkrete Atmosphäre auf, die auf teilbarer Erfahrung beruht, sie gewährleistet zunächst ein im alltäglichen Sinne konsensfähiges Imaginäres. Becketts zeitliche Bestimmung des Künftigen geht einher mit der Tatsache, dass Tonbänder Anfang der 1950-er Jahre eine Novität waren und ein Bühnenstück des Rückschau-Haltens notwendiger Weise in der Zukunft stattfinden muss. Aber es steht etwas auf dem Spiel, nämlich die Imaginierbarkeit des Beschriebenen als solche: Zukunft ist allenfalls aufgrund der Erfahrung von Vergangenem, von Logik und Wahrscheinlichkeiten imaginierbar. Hier reicht bereits zu Stückbeginn etwas ins Unbekannte, Namenlose in Verschränkung mit einer kommunikativen, vertrauten Konkretion. Zudem heißt es: »Eines Abends«, worin sich eine weitere Spur der Verwischung, der Selbstzersetzung dieser Setzung äußert. Die Bestimmung des Künftigen indes stellt den absoluten Riss in der sonstigen Plastizität dieser Anweisung dar; Beckett setzt entsprechend per se die Imaginierbarkeit sowie die vollständige Bildwerdung des im nachfolgenden, über 2½ Seiten detailliert Beschriebenen aufs Spiel, die Bildwerdung erfährt eine Erschütterung, wenn nicht gar eine völlige Auslöschung. Diese Simultanität von kommunikativer Setzung und ihrer gleichzeitigen Brüchigkeit erscheint für Becketts Text exemplarisch und setzt sich auf verschiedenen Ebenen fort. Das bedeutet, Beckett zieht einerseits Register von etwas Erwart- und Imaginierbarem, er schafft eine Reihe von Gelingensbedingungen für eine entgegenkommende Sinnproduktion,10 die gleichermaßen zur Verdinglichung verführen kann. In

9 10

Beckett, Samuel: Das letzte Band, in: ders., Dramatische Dichtung in drei Sprachen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 85. Der Begriff des entgegenkommenden Sinns stammt von Roland Barthes und meint ein vollständiges Sender-Empfänger-System (vgl. Barthes, Roland: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 51-53). Ob ein solches System überhaupt existiert, ist angesichts des in Fußnote 8 Dargelegten fraglich: Gegenstand war hier, dass es laut Derrida zwischen Sender und Empfänger immer einen Raum

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Sebastian Blasius diese Gelingensbedingung ist zugleich etwas Brüchiges, Poröses eingeschrieben, so dass sich möglicher Weise etwas anderes, nicht in der stabilisierenden Setzung Angelegtes einstellen kann. Es ergibt sich somit die Frage, wofür eine solche Setzung überhaupt Gelingensbedingung sein kann, worauf sie sich richtet, welche Konsequenzen sich aus ihr sowohl für die Rezeption als auch für die Aufführungspraxis dieses Texts ergeben können. Wir lesen weiter in der Regieanweisung und stoßen etwa auf: »Krapp bleibt einen Moment regungslos, stößt einen tiefen Seufzer aus, schaut auf seine Uhr, wühlt in seinen Taschen, zieht einen Briefumschlag hervor, steckt ihn wieder ein […].«11 Auffällig ist: es fehlt nahezu konsequent die Darlegung des Wie in dem vermeintlich so ausgiebig Dargelegten. Man gelangt an das Paradox, dass die ausführlichen, nahezu 2½ Seiten umfassenden Regieanweisungen Details des Körpers, der Stimme, der Reihenfolge der Handlungen beschreiben, aber zugleich hohl bleiben. Sie machen damit spürbar, dass man als Rezipient letztlich Geschichte und Konsistenz im Verlauf des aneignenden Semiosevorgangs produziert. Aber wir laufen dabei Gefahr, den Ort des nicht Beschriebenen zu schließen, sofern wir im Zugriffsakt nicht die eigenen Mittel durch eben diese Leerstellen in Frage stellen lassen. Es scheint, als thematisiere Beckett tatsächlich, wie wenig Auskunft das Bezeichnende über das Bezeichnete gibt. Aber operiert das Theater nicht in der Regel mit dem in einer Regieanweisung Bezeichneten, um etwa eine Vorstellung der Vision des Autors zu entwickeln? (Auf ein so geartetes autoritäres Treueverständnis muss man sich einlassen, will man etwa an die Aufführungsrechte eines Beckett-Textes gelangen. Wäre es nicht dem Text gegenüber demütiger und befreiender zugleich, sich stattdessen an dieser bei Beckett spürbar gemachten Lücke zwischen Signifikant und Signifikat abzuarbeiten, anstatt sich einer Bedeutungshoheit fügen zu müssen?) Oder ein weiteres Beispiel: »[E]in zermürbter Mann: Krapp.«12 Was nun bedeutet »zermürbt« (wearish)? Etwas an Krapp soll »zermürbt« sein – oder wirkt Krapp zermürbt, und vor allem: auf wen? Welches ist der Ort des Zermürbtseins, worauf bezieht es sich? Auch hier: die vermeintliche Konkretion schafft zugleich einen Raum des Anderen, der Uneindeutigkeit, der offenen Bezugnahmen. Wenn wir uns vor Augen halten, dass die Darlegung des Wie, der Füllung, der Bezugnahmen immer wieder fehlt, lässt sich auch die Frage, wer in diesen ausführlichen Regieanweisungen be-

11 12

des Unbestimmten gibt, so dass ein Sender-Empfänger-System nie gänzlich vollständig werden kann. S. Beckett: Das letzte Band (wie Anm. 9), S. 85. Ebd.

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Das Nagen des Raums am Objekt schreibt, nicht eindeutig, restlos beantworten. Es ist die Sicht einer nicht zu ortenden Quelle auf ein unvollständiges Außen, eine Hülse, die möglicherweise immer auch Platzhalter für ein anderes (Sehen) ist. Vielleicht ist es Beckett, der als ein möglicher Zuschauer beschreibt. Dem von nicht zu ortender Position aus beschriebenen, zugleich sich aber allmählich anreichernden Bild werden seine Gewissheit, seine restlosen Zusammenhänge entzogen. Darin widerstrebt es den Mechanismen abschließbarer Verdinglichung. Eine solche Bildlichkeit blickt von den Orten aus zurück, die sich nicht ins Symbolische eingliedern lassen.13 Das beständige Nagen am Symbolisier- und Imaginierbaren streicht den Objektstatus des Gesehenen durch. Wir wären beim Anschauen einer solchen Bildlichkeit auf das Einsetzen unseres Imaginären verwiesen, wir würden sehen, wie wir versuchen, dieses Imaginäre kurzzuschließen mit dem Realen vor uns. Aber das Reale schweigt, lässt sich nicht zum Objekt machen für die Projektion, den Verstehensvorgang des Rezipienten; das Begehren lässt sich nicht fixieren. Die in Das letzte Band generierte Bildlichkeit ist dadurch gegenüber dem Rezipienten weder Objekt noch Subjekt, sondern, um einen Begriff Julia Kristevas aufzugreifen, in gewisser Weise Abjekt,14 sie lässt sich nicht beim Namen nennen, kann nicht zum Vertrauten werden, ist unbesetzbar und wird dadurch monströs. Sie kommt damit Phänomenen nah wie Kafkas Odradek, der oder das weder organisch noch dinglich ist und zugleich von einem ungewissen Standpunkt aus beschrieben wird.15 Das zuschauende Subjekt verliert dabei, um es mit Heidegger zu sagen, den Status, »Bezugsmitte des Seienden als solchen«16 zu sein, so dass das Gesehene nicht mehr zum Bild werden kann, wie es typisch für das neuzeitliche Verständnis des Subjekt gegenüber der Welt wäre, das sich über ein »BescheidWissen, das Gerüstetsein und sich darauf Einrichten«17 definiert. Um dies in Bezug auf Das letzte Band thematisieren zu können,

13

14

15 16 17

Georges Didi-Huberman formuliert die Erfahrung des Angeblicktwerdens durch etwas Gesehenes anhand der amerikanischen Minimal Art. Demzufolge ist das, was uns anblickt, das, was uns betrifft – etwa, weil es sich nicht in eine symbolische Ordnung überführen lässt. Vgl. Didi-Huberman, Georges: Was wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes, München: Fink 1999. Kristeva, Julia: Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection, Paris: Seuil 1980; Auszüge übersetzt in: Charles Harrison (Hg.), Kunsttheorie im 20. Jahrhundert, Bd. 2, Ostfildern-Ruit: Hatje-Cantz 1998, S. 1250-1252. Kafka, Franz: »Die Sorge des Hausvaters«, in: ders., Ein Landarzt und andere Prosa, hg. von Michael Müller, Stuttgart: Reclam 1995, S. 30-32. Heidegger, Martin: »Die Zeit des Weltbildes«, in: ders., Holzwege, Frankfurt am Main: Klostermann 1980, S. 73-110, hier S. 86. Ebd., S. 87.

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Sebastian Blasius bedarf es, so möchte ich behaupten, erst des Transports ins Theater, denn beim Lesen von Graphemen bleibt dem Leser, mit Hans-Thies Lehmann gesagt, »bei aller ›transzendentalen Obdachlosigkeit‹ immer die vertraute Autonomie des mentalen Nachvollzugs einer Schrift erhalten, die Verfügung über das Hier und Jetzt des Lesens […].«18 Demgegenüber hat das Theater das Potenzial, grundsätzlich andere Fremdheiten und Inkommensurabilitäten als die der Schriftlektüre zu evozieren: »Schock, Erregung, Verwirrung mag der Text auslösen – sie verwandeln sich aber rezeptionsästhetisch eher in Reflexionsformen, während die raumzeitliche Körperlichkeit des Theatervorgangs das intelligible Schema des Wahrgenommenen in einem affektiven Lebensmoment einschließt. […] Während ein Leser Buchstaben wahrnimmt, ›teilt‹ und vereint ein Theaterbesucher fortwährend die imaginative Partizipation (die dem Lesen vergleichbar ist) mit der real-körperlichen, mit dem Zeugnis, das die Sinne von der Existenz der Dinge ablegen.«19

Das partikulare Zurückgeworfensein des Zuschauers auf die raumzeitlichen Gegebenheiten der realen Rezeptionssituation geht auch einher mit der Erfahrung, die sich in einer genaueren Betrachtung der Figur des Krapp einstellen kann. Tendenziell geht im Figurendenken der Verkörperung, also im illusionistischen Einfühlen eines Schauspielers in eine dramatische Figur, das Bewusstsein um den Rezeptionsvorgang selbst, das Sich-Sehen beim Sehen zugunsten von Blickabsorption unter der Doktrin der Natürlichkeit verloren: seit den Theaterutopien des 17. und 18. Jahrhunderts arbeiten das Theater und andere Bild-Medien immer schon daran, den Rahmen und damit das Hier und Jetzt der Aufführungssituation vergessen zu lassen. Insofern geht von Tendenzen der Absorption und Immersion eine Totalität aus.20 Die Handlungen Krapps und eine Reihe seiner Äußerungen verführen zunächst zu einer Annäherung mittels Innerlichkeit, der mit einer Schauspielpraxis im Modus von Einfühlung und Verkörperung nahe zu kommen wäre: Krapp, der unablässig das Band abhört, Introspektion betreibt, Rückschau auf vergangene Jahre und sein vergangenes Ich hält. Krapp unter diesem Primat zu verkörpern, würde bedeuten, den Zuschauer zum Einfühlen, zur Teilhabe an dieser Introspektion und der vergangenen Episoden zu bewegen. Sich darauf zu beschränken, würde allerdings bedeuten, sich nicht der latenten Konstruiertheit und den sich immer wieder erneuernden Sinnpotenzialen zu stellen, die 18 19 20

Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main: Verlag der Autoren 2005, S. 188. Ebd., S. 188f. Vgl. z.B. Müller-Schöll, Nikolaus: »(Un-)glauben. Das Spiel mit der Illusion«, Forum Modernes Theater Bd. 22/2 (2007), S. 141-151, hier S. 142.

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Das Nagen des Raums am Objekt zugleich von der Figur Krapps ausgehen. Wenn man die potenzielle Vielzahl an Evokationen, das Nebeneinander von Sinnproduktionen betrachtet, scheint eine selbstvergessene Einfühlung gegenüber dem Zuschauer geradezu unmöglich: es gibt Attribute des Clownesken (zum Beispiel durch die zu großen Schuhe; verstärkt noch durch die Angabe »weißes Gesicht. Purpurne Nase. Wirres graues Haar«21, die auf der Folie des Realistischen zugleich an einen alten Trinker denken lassen können); die Kleidung (speckige schwarze, enge Hose, die ihm zu kurz ist, speckige schwarze, ärmellose Weste, schmieriges weißes Hemd, am Hals offen,) kann Assoziationen an einen verwahrlosten Intellektuellen oder einen Eremiten wecken und ist als medieninterner, historischer Verweis auf die Mode des Tramp lesbar, man denke z.B. an Charlie Chaplin. Eine solche Vielzahl an Evokationen, ihre Versatzstückartigkeit, die sich aus verschiedenen Lebensbereichen speist, kann – sofern eine Inszenierung dies berücksichtigt – kaum zum Spiegel oder zur psychologischinnerlichen Identifikation werden. Auch wenn Figurenverkörperung mittels Einfühlung mit Rissen und Brüchen operiert, so sind es doch in der Regel Brüche auf psychologischer Verhaltensebene, mit der sich kaum derartige formale und bildliche Sperrigkeiten thematisieren lassen. Rollenverkörperung kann sich durchaus irrationalen oder dezentrierten Subjektentwürfen annähern, doch bleibt die Verunsicherung gegenüber dem Zuschauenden hier in der Regel auf der pathologischen Ebene nicht zu kategorisierender Verhaltensweisen. Hinzu kommt, dass Verkörperung in der Tradition des 18. Jahrhunderts mit der Tilgung des Alteritären in Verbindung steht – die realen Eigenheiten des Schauspielers verschwinden zugunsten der Aneignung des im Text Gelesenen.22 Gerade gegen eine derartige Vereinnahmung sträubt sich die Figurenkonstruktion Becketts in Das letzte Band in ihrer sperrigen Versatzstückartigkeit, die kaum in einem realistischen (oder überhaupt reinen, einheitlichen) Spielstil zur Geltung kommen kann. Das Herausschleudern 21 22

S. Beckett: Das letzte Band (wie Anm. 9), S. 85. Hierzu schreibt Erika Fischer-Lichte: »[Die Schauspieltheorie des 18. Jahrhunderts] sollte dem Schauspieler helfen, seinen phänomenalen Körper auf der Bühne zum Verschwinden zu bringen [...]. Die Bedeutungen, die der Dichter im Text zum Ausdruck gebracht hatte, sollten im Leib des Schauspielers einen neuen, sinnlich wahrnehmbaren Zeichen-Körper finden, in dem idealiter alles ausgelöscht bzw. zum Verschwinden gebracht war, was nicht der Übermittlung dieser Bedeutungen diente, was sie affizieren, verfälschen, kontaminieren oder in sonst einer Weise beeinträchtigen konnte. [...] Verkörperung setzt also Entkörperlichung voraus.« (Fischer Lichte, Erika: »Für eine Ästhetik des Performativen«, in: Jörg Huber (Hg.), Interventionen, Bd. 10: Kultur-Analysen, Zürich: Institut für Theorie der Gestaltung und Kunst 2001, S. 21-43, hier S. 31).

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Sebastian Blasius von verschiedentlichen Sinnpotenzialen, Assoziationen und Bezugsmöglichkeiten hingegen kann die allmähliche, ununterbrochene Annäherung des Zuschauers an das Gesehene, eine Intimität und Einfühlung in eine fiktive Figur geradezu überblenden, verschleiern und verstellen, so dass der obig problematisierte Akt Objektivierung sich hier nie abschließend veranschlagen lässt.

Der Nicht-Ort als Ort der Potenzialität Es stellt sich nun die Frage, wie sich unter Berücksichtigung der skizzierten Inkonsistenzen – nahe liegender Weise in der Aufführungspraxis – auf solch brüchige performative Akte zugreifen lässt, ohne dass diese mittels Invasion, philologischer Methodik, traditionslastiger Handwerksgläubigkeit usw. vereindeutigt, abgeschlossen, handhabbar gemacht werden. Ich will zunächst der Annahme folgen, dass der in das Performativ eingeschriebene Ort des Anderen, der Riss, nur Nicht-Ort, nur Leerstelle bleiben kann, wohnt ihm doch eine Relevanz inne, die kaum auf äquivalenter Ebene verhandelbar ist. Dies kommt vielleicht dem nahe, was Jacques Derrida über die différance schreibt, also jener Untersuchung zu einem in die symbolische Ordnung eingeführten Platzhalter, der durch den Austausch des orthographisch korrekten Buchstaben des e durch ein a zustande kommt und den Signifikant dadurch vor einem vereindeutigenden, vermeintlich wahren, kanonischen Bedeutungsbesitz bewahrt. »[Die différance] gibt sich nie dem Gegenwärtigen hin. Niemandem. Indem sie sich zurückhält und nie exponiert, übersteigt sie genau in diesem Punkt und geregelterweise die Ebene der Wahrheit, ohne sich indessen, wie etwas, wie ein mysteriöses Seiendes, im Dunkel eines Nicht-Wissens oder in einem Loch zu verbergen, dessen Ränder bestimmbar wären.«23

Diesem Platzhalter wohnt der Appell inne, die Unauffüllbarkeit der bei Beckett angelegten performativen Setzung ernst zu nehmen und sich zu weigern, Handlungen im Austin’schen Sinne »glücklich zu Stande zu bringen«, sich folglich vom Denken des telos zu verabschieden. Dieser Platzhalter ist – stärker auf unseren Kontext gemünzt – das auf Tendenzen der Verdinglichung reagierende Postulat, im Akt der Rezeption oder beim Transport des Textes in ein anderes Medium den Ort des Anderen, die Brüchigkeit des Performativs nicht zugunsten eines vollständigen Ankommens oder eines Präsenzverständnisses des Da-Seins der Fülle aufzugeben. Mit 23

J. Derrida: »Die différance«, in: ders., Die différance (wie Anm. 8), hier S. 114.

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Das Nagen des Raums am Objekt ähnlichem Impetus verfolgt Werner Hamacher Walter Benjamins Beschreibung des proletarischen Generalstreiks, der »außerhalb aller Zweck-Mittel-Relationen«24 stehe: »Dieser Streik, auf die Vernichtung der Staatsgewalt, auf die Vernichtung aller setzenden Gewalt, also auf nichts gerichtet, kann intentionslos heißen.«25 Das Ziel des Generalstreiks ist demzufolge nicht die Herbeiführung eines neuen Systems nach einem ähnlich ausschließenden, setzenden (Hamacher schreibt: »keine Setzung kommt ohne Gewalt aus«26) Prinzip, sondern die Destabilisierung des Setzungsaktes als solchem. Es ist die Simultanität von Setzung und Entsetzung zugleich, eine von Benjamin so genannte »Politik reiner Mittelbarkeit«27 oder »Teleologie ohne Endzweck«28. Hamacher schreibt: »Entsetzung [...] erschöpft sich [...] in keiner Negation, richtet sich auf nichts Bestimmtes und richtet sich also nicht. Entsetzung dürfte nicht Mittel zu einem Zweck sein und wäre doch nichts als Mittel. Sie wäre Gewalt, und zwar reine, aber eben deshalb gewaltlos.«29 Diese Art von Setzungen, die zugleich an der Ent-setzung der teleologischen Gelingensbedingungen arbeiten, scheint sowohl das a der différance als auch die Setzungen in Becketts Text zu kennzeichnen. Sich nie dem Gegenwärtigen hinzugeben, wie Derrida schreibt, fordert in Hinsicht auf die Aufführungspraxis offenbar eine Präsenz ein, die nie »da« ist und sich von daher gegen Formen der Verdinglichung wehrt. Sie steht darin der »immerwährenden Präsenz« der Gesellschaft des Spektakels30 entgegen, da sie sich nie zu einem Ganzen abschließen lässt und dem Modus des »Etwasglücklich-zustande-Bringens« gegenläufig ist. Anders gesagt: vielleicht lässt sich nur verdinglichen, was sich tendenziell restlos in teleologische Gelingensbedingungen einfügt und darin die Austin’schen Defintionen untermauert.31

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25 26 27 28 29 30 31

Hamacher, Werner: »Afformativ, Streik«, in: Christiaan L. Hart Nibbrig (Hg.), Was heißt »Darstellen«?, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, S. 340-371, hier S. 352. Ebd., S. 351. Ebd., S. 340. Ebd. Ebd., S. 348 Ebd., S. 346. Vgl. Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin: Tiamat 1996. Ob man Austin tatsächlich damit gerecht wird, ihn mit etwas Stabilem, Definitivem in Verbindung zu bringen, reflektiert u.a. Dorothea von Hantelmann in Rückbezug auf Sybille Krämer: demnach sei zweifelhaft, ob es Austin tatsächlich darum geht, »den Begriff des Performativen einer eindeutigen theoretischen Definition zu unterziehen«, da er diverse seiner angeführten Beispiele, Regelaufstellungen und Kriterien im Prozess immer wieder für unhaltbar erklärt und Erwartungen von Greifbarem aufschiebt.

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Sebastian Blasius Folgt man in der Aufführungspraxis von Das letzte Band den hier gezeichneten Bahnen, dann lassen sich die an Becketts Text beschriebenen brüchigen Setzungen entlang des von Gerald Siegmund ausgearbeiteten Präsenzmodells transformieren. Präsenz konstituiert sich demnach dadurch, dass sich etwas in einem permanenten Prozess des Werdens befindet und gerade nicht abschließbar präsent, gegenwärtig gemacht werden kann. Dadurch, dass sich diese Art der Präsenz nicht über den Modus von ›Da-Sein‹ und Fülle definiert, hat sie eine diametral gegensätzliche Qualität als die Präsenz der Bilder- und Medienproduktion der Gesellschaft des Spektakels. Sie setzt den Zuschauer in seinem Begehren nach abschließbarer Erfahrung32 geradezu aufs Spiel. Der Einzelne wird darin mit seiner Wahrnehmung, mit seiner Erinnerung und mit seinem Imaginationsraum in etwas Dargebotenes existenziell involviert und kann dabei auch Vorstellungen von Präsenz (re)produzieren: »Für das Denken einer Gegenwart [...] ist nicht die Tatsache ausschlaggebend, dass etwas ›da‹ ist, sondern dass das, was da ist, um eine Abwesenheit gruppiert ist, die ständig wiederholt, umspielt und inszeniert wird. Das Weggelassene wird ausgespielt. Die Erfahrung der hergestellten Präsenz im Akt der Rezeption nimmt in dem Maße zu, in dem die dargebotene Präsenz verschwindet. Präsenz basiert demnach auf einer operativen Abwesenheit [...].«33

Diese Präsenz, von der u.a. auch schon Walter Benjamin, Jean-LucNancy und Hans-Thies Lehmann schreiben,34 erfordert die Aktivität des Rezipienten, der die Möglichkeit bekommt, sich als Sinn

32

33 34

Vgl. Hantelmann, Dorothea von: How to Do Things with Art, Zürich/Berlin: Diaphanes 2007, S. 48. Das Begehren, eine abschließbare Erfahrung mit einem Gegenstand zu machen, kann abgeglichen werden mit dem von Jacques Lacan angenommenen und beschriebenen Begehren des Subjekts, die durch die Trennung von der symbiotischen Bindung an die Mutter entstehende Mangelerfahrung zu überwinden. Lacan behauptet dieses Begehren als anthropologische Konstante. Siegmund, Gerald: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes, Bielefeld: transcript 2006, S. 80f. Die Ent-Auratisierung in Zeiten technischer Reproduzierbarkeit, von der Benjamin spricht, ist ihm zufolge verbunden mit dem Habhaft-Werdenwollen von etwas, das in eigentlich unüberbrückbarer Distanz vor einem liegt. Vgl. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser (Hg.), Gesammelte Schriften I, 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 473-508, hier S. 477; des Weiteren: Nancy, Jean-Luc: »Entstehung zur Präsenz«, in: C. L. Hart Nibbrig (Hg.), Was heißt »Darstellen«? (wie Anm. 24), S. 102-106, hier S. 103f.; außerdem: H.-T. Lehmann, Postdramatisches Theater (wie Anm. 18), S. 254-260.

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Das Nagen des Raums am Objekt Konstruierenden, einen Semioseprozess Vollziehenden, Erkenntnis Begehrenden erfahren zu können. Er kann sich bei diesem Begehren nach Nahtlosigkeit, Unversehrtheit, Eingliedernkönnen des Wahrgenommenen in eine symbolische Ordnung und letztlich nach stattfindender Präsenz im Paradigma religiöser Realpräsenz zusehen. Dieses Begehren wird für ihn im Moment des Mangels anschaubar, analysierbar und damit zu einer Protektion gegenüber Vereinnahmung und Totalität, die, wie angedeutet, auch vom Regelwerk des lückenlosen Illusionismus, der Guckkastenbühne und den heutigen Massenmedien ausgeht. Eine solche Erfahrung des Mangels ist in Becketts Text Das letzte Band angelegt, allerdings immer auf der Ebene der Grapheme, die einem nie eine vergleichbare Erfahrung von Fremdheit ermöglichen wird wie das theatrale Medium mit seinem potenziellen Gefüge von Signifikanten unterschiedlicher Materialität. In dem Moment, in dem eine Präsenz der Abwesenheit im theatralen Medium mit ihren unbesetzbaren Zwischenräumen das restlose Vertrautwerdenkönnen durchstreicht, kann es gerade zu einem Kollabieren, zu einer Amorphisierung des Symbolischen und Symbolisierbaren kommen, so dass Theater vielleicht in besonderer Weise an jenes Namenlose zu rühren vermag, das Jacques Derrida in seinem Text Eine gewisse unmögliche Möglichkeit vom Ereignis zu sprechen verhandelt: mit dem Begriff ›Ereignis‹ versucht er etwas zu fassen, das als Anderes der performativen Setzung, als das Andere des Symbolischen oder Symbolisierbaren, Imaginären oder Imaginierbaren, des Realen – dessen, was außerhalb jeder einspeisbaren Zweck- oder Zielorientiertheit ist – gelten kann. Von einem ›Ereignis‹ lasse sich insofern nicht sprechen, als es nicht im symbolischen System der Sprache aufgehen kann, weil die Sprache immer etwas bereits Etabliertes ist. Derrida schreibt: »Vor einem reinen Ereignis, das dieses Namens würdig ist, müssen Performativ und Konstativ gleichermaßen kapitulieren.«35 Trotz dieses Außerhalbs, trotz seiner Unmöglichkeit und trotz seiner Unbeschreibbarkeit arbeitet sich Derrida an einem Umkreisen des Unmöglichen ab: »Zu den Merkmalen des Ereignisses gehört [...] nicht nur die Unvorhersehbarkeit und damit die Tatsache, dass es den gewöhnlichen Gang der Geschichte unterbricht, sondern auch seine absolute Singularität. Also kann man sagen, dass das Sprechen vom Ereignis, die Mitteilung von Wissen über das Ereignis, die Singularität des Ereignisses in gewisser Weise a priori und immer schon verfehlt – durch die einfache Tatsache, dass das Sprechen zu spät kommt und die Singularität in der Generalität verliert.«36

35 36

Derrida, Jacques: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit vom Ereignis zu sprechen, Berlin: Merve 2003, S. 57. Ebd., S. 21.

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Sebastian Blasius Und weiter: »[D]as Ereignis [aber] ist das, was niemals vorausgesagt werden kann. Ein vorausgesagtes Ereignis ist kein Ereignis. Es bricht über mich hinein, weil ich es nicht kommen sehe. [...] Bevor es sich ereignet, kann das Ereignis nur als unmögliches erscheinen. Das heißt aber nicht, dass es nicht existiert; es heißt nur, dass ich es weder auf theoretische Weise aussagen noch es vorhersehen kann.«37

Derrida umschreibt – und begibt sich damit mitten in das dem Ereignis immanente Paradox hinein – diesen Begriff anhand einiger Beispiele, u.a. dem der Gabe, dem der Vergebung oder dem der Gastlichkeit: »Der absolute Ankömmling darf nicht als geladener Gast erscheinen, auf dessen Erscheinen ich mich vorbereitet habe und den zu empfangen ich in der Lage bin. [...] Die Ankunft des Ankömmlings ist das absolut Andere, das über mich hereinbricht.«38 Und: »[Das Ereignis] bleibt unmöglich – auch wenn es vielleicht stattgefunden hat, bleibt es doch trotzdem unmöglich.«39 Für ein solches »Ereignis« kann es keine Gelingensbedingung wie für etwas Erwartbares geben. Vielleicht aber kann am ehesten in den Zwischenräumen symbolischer Ketten an so etwas wie eine potenzielle Ereignishaftigkeit gerührt werden, da sie mit der annähernden Erfahrung eines Außerhalb, von etwas Unvertrautem, einer Desintegration, dem Herausstürzen aus phantasmatischen alltäglichen Zuständen in Verbindung steht. Ein solches Potenzial ist in der Inkonsistenz der Beckett’schen Setzungen angelegt, indem beständig und auf verschiedenen Ebenen – etwa denen der zeitlichen Bestimmung, der Bildlichkeit, der Figurenkonstruktion – sowohl am verdinglichenden Rezeptionsakt als auch an der restlosen Transportmöglichkeit dieses Textes ins Theater genagt wird. Dieses Paradox, in dem einerseits theatrale Konventionen aufgerufen, geradezu eingefordert werden und ihnen im selben Moment ihr Selbstverständnis genommen wird, bedarf gerade des Transports auf die Bühne. Das Ergebnis wäre vorschlagsweise etwas Hieroglyphisches mit der gleichzeitigen Suggestion von etwas Lesbarem, durchsetzt von unbesetzbaren Zwischenräumen, das uns als rationale und damit verdinglichende Subjekte aufs Spiel setzt. Erst das Theater mit seinem Potenzial, das raum-zeitliche Ausgesetztsein gegenüber solch partikular hieroglyphischen Parametern spürbar zu machen, bringt jenes Begehren, jenen aggressiven Akt der verdinglichenden Kategorisierung ins Spiel. Es ist das Begehren, sich in der symbolischen Ordnung bestätigt zu sehen und das Wahrgenommene in 37 38 39

Ebd., S. 35. Ebd., S. 33f. Ebd., S. 37.

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Das Nagen des Raums am Objekt diese zu überführen. Im Akt des Lesens von Literatur bliebe man, wie mit Lehmann gezeigt, bei allem Entzug der Abschließung noch innerhalb der vertrauten symbolischen Ordnung der Schrift, die nicht diese Art des Fremdwerdens, Enteignens, Zurückblickens erreichen kann wie das Theater mit seinen verschiedenen Signifikantenpotenzialen. Um das beständige Nagen am Objektstatus, am aneignenden Akt der Verdinglichung des Wahrgenommenen in vorgeschlagener Weise zu thematisieren, braucht es das Theater – mit und gegen seine Konventionen.

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Das allerletzte Band: Handke zu Beckett an den Münchner Kammerspielen SUSANNE HARTWIG »from impenetrable self to impenetrable unself by way of neither« (Beckett, Neither)

Einleitung Was ein Satz bedeutet, wissen wir in der Regel erst, wenn wir den Kontext kennen, in dem er erscheint, und logisch folgt daraus, dass verschiedene Kontexte auch verschiedene Bedeutungen eines Satzes ans Licht bringen können. Das Gleiche gilt für Texte und mehr noch für Theatertexte, denen keine alltagspragmatische Situation zugrunde liegt.1 Becketts aus einer Szene bestehender Einakter La dernière bande2 enthält beispielsweise eine minimal spezifizierte

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Im Gegensatz zu Alltagssituationen, die vielfach Kommunikationen vorstrukturieren, gilt für die Situation in Theatertexten: »Weder geht der Kontext den einzelnen Kommunikationsbeiträgen noch gehen diese dem Kontext voraus: Beide können nicht unabhängig voneinander bestimmt werden. Der Raum ist nicht ohne die Figur bestimmbar, die nicht ohne die Handlung präzisiert werden kann, welche wiederum auf die Zeit angewiesen ist, die wiederum den Raum einbezieht... Pointiert formuliert: Die Vorstellung eines Raumes entsteht durch die Vorstellung einer Figur, einer Handlung, eines Zeitpunkts und -ablaufs, und umgekehrt entsteht die Vorstellung einer Figur durch die Vorstellung von Raum, Handlung und Zeit. Der Kontext zieht sich also gewissermaßen wie Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Nichts« (Hartwig, Susanne: Chaos und System. Studien zum spanischen Gegenwartstheater, Frankfurt am Main: Vervuert/ Madrid: Iberoamericana 2005, S. 66f.). Im Folgenden wird aus der französischen Version La dernière bande zitiert, die Beckett selbst nach der englischen Fassung erstellt und 1960 unter der Regie von Roger Blin uraufgeführt hat, weil auch Peter Handke eine deutsche und eine (der deutschen vorausgehende) französische Fassung

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Susanne Hartwig Sprechsituation, die einen alten Mann in einem spärlich erleuchteten Raum beim Abhören seiner Erinnerungen zeigt. Der von Beckett zu Beginn des Jahres 1958 geschriebene Text wurde im Oktober desselben Jahres am Royal Court Theatre in London zusammen mit einer Inszenierung von Endgame uraufgeführt.3 Der Text ist zu kurz für eine Abendvorstellung und scheint daher geradezu einen weiteren Text einzufordern. Jeder weitere Text bildet indes einen Kontext, gewissermaßen einen neuen Spielraum, der den Charakter eines Endpunktes oder Nullpunktes von La dernière bande wieder in Frage stellt. Becketts »monodrame« etwas hinzuzufügen und damit den minimalistischen Raum des nur um sich selbst kreisenden Krapp in einen »Tempel des Nichtendenwollenden Deutens und Bedeutens« zu verwandeln4 – dies unternimmt Jossie Wielers Inszenierung von La dernière bande aus dem Jahr 2009, die den Beckett’schen Text mit einem Text Peter Handkes ergänzt, Bis daß der Tag euch scheidet oder eine Frage des Lichts.5 Dem Beckett’schen Text wird ein ›Echo‹ (wie es Handke im Programmheft nennt) aufgepfropft, durch das er verändert, zugleich bekräftigt und negiert wird.6 Eine namenlose Frau deutet in Handkes Monolog Krapps Schweigen als

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vorlegt: Wie Beckett wollte auch Handke das Ringen mit der Fremdsprache in den Text einfließen lassen. Vgl. Brockmeier, Peter: Samuel Beckett, Stuttgart/Weimar: Metzler 2001, S. 165. Beckett lernt 1958 die technischen Möglichkeiten eines Tonbandgerätes kennen, die ihn wohl zu dem Stück inspiriert haben (ebd., S. 166; Knowlson, James: Samuel Beckett. Eine Biographie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 558). Er suchte nach einem Vorwurf für ein kurzes Stück, das zu Endgame passen würde (ebd., S. 558). Der Text wurde ursprünglich für die Stimme Patrick Magees geschrieben (McDonald, Rónán: The Cambridge Introduction to Samuel Beckett, New York: Cambridge UP 2006, S. 17). Handkes namenlose Frau spricht von einem »Tempel des Nichtendenwollenden Deutens und Bedeutens«, »in welchen du [Krapp] […] deine Umgebung eingesperrt hast« (Handke, Peter: Bis daß der Tag euch scheidet oder Eine Frage des Lichts. Ein Monolog. Deutsche Version (2008) und Französische Erstschrift (2007), Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009, S. 18). Deutschsprachige Erstaufführung 2009 in Koproduktion mit den Salzburger Festspielen. Premiere Salzburg: 09.08.09 (Landestheater), Premiere München: 30.10.09 (Schauspielhaus). Mit André Jung (Krapp), Nina Kunzendorf (Frau), Barbara Nüsse (Toneinspielung). Regie: Jossi Wieler. Vgl. zum Aufpfropfen im Sinne der Dekonstruktion Culler, Jonathan: Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie, Neuausg., Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1999, S. 135-137. Handkes Text scheint nicht nur über Krapp, sondern über Beckett allgemein zu handeln. Zu biographischen Elementen in La dernière bande vgl. J. Knowlson: Samuel Beckett. Eine Biographie (wie Anm. 3), S. 556-559.

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Das allerletzte Band Überfülle an Symbolen und Bedeutung und behauptet damit, Krapps leerer Raum sei in Wahrheit ein unendlich komprimierter, also unendlich voller Raum. Da sie in ihrem Auftritt allerdings – wie zu zeigen sein wird – Krapps Scheitern auch wiederholt, tritt ihr Monolog in einen Dialog zu Krapps Monolog, den man als ambivalentes supplément im Sinne Jacques Derridas auffassen kann.7 Im Folgenden wird dargelegt, wie Handkes Text in der Inszenierung Wielers den extrem reduzierten Beckett’schen Raum in einen Spiel-Raum, einen Zwischen-Raum der Kommunikation verwandelt, indem er zwischen Echo und Antwort, zwischen Wiederholung und Herausforderung hin- und herpendelt.8

Die Texte Beckett hat in La dernière bande verschiedene Zeiten und Räume, den Monolog des jüngeren und den Monolog des älteren Krapp, miteinander verbunden und damit gewissermaßen zwei Akte ineinander geschoben, so dass man geradezu von einem in einen einzigen Akt komprimierten Zweiakter sprechen kann.9 Auch ein dritter Akt (und damit eine potenzielle Fortsetzbarkeit ins Unendliche) deutet sich an: Der jüngere, 39-jährige Krapp hat selbst Tonbänder des etwa 29-jährigen Krapp angehört, die er auf der Tonspule verhöhnt. Diese mise en abyme symbolisiert ein Fortschreiben des Immergleichen, für das zwei (oder drei) Akte nur exemplarisch stehen. Die verschiedenen Krapps sind sich so ähnlich, dass der Eindruck aufkommt, die Zeit bringe trotz ihres

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Ein supplément ist eine Hinzufügung, die zugleich eine Verschiebung ist; vgl. Derrida, Jacques: De la grammatologie, Paris: Minuit 1967, S. 203-234. Handke nennt seinen Text nicht »Antwort«, sondern »[e]her ein Echo« (Programmheft). Die Idee zu einer »Bühnen-Antwort auf das Krapp’sche Kreisen um sich selbst« sei bei einem Besuch des Schauspielchefs der Salzburger Festspiele Thomas Oberender bei Handke in Paris entstanden (vgl. PR Inside. »Handkes Antwort auf Becketts ›Das letzte Band‹«. PR Inside 2009. http://www.pr-inside.com/de/print1424818.htm (Zugriff am 15.1. 2010)). Vgl. zu den verschiedenen Typen von Zweiaktern Hartwig, Susanne: Typologie des Zweiakters. Mit einer Untersuchung der Funktion zweiaktiger Strukturen im Theater Arthur Adamovs, Tübingen/Basel: Francke 2000. La dernière bande erinnert an einen analogisierenden Zweiakter, dem u.a. eine Zurücknahme der dramatischen Progression, Verlust der Ereignishaftigkeit, Verlust der Zeitdimension, Mechanisierung der Handlung und Distanzierung eignet (ebd., S. 86-99). Der analogisierende Zweiakter ist nahezu mustergültig in En attendant Godot und Oh les beaux jours! umgesetzt.

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Susanne Hartwig Verrinnens keine Veränderung und bleibe somit stehen; über das Tonbandgerät scheint es zudem, als gäbe es auch keine Veränderung des Ortes und als befänden sich alle Krapps im gleichen Raum. Becketts Räume sind oftmals ein ›Irgendwo‹, notdürftig charakterisiert, aber nicht individualisiert, der Inbegriff des Festgefahrenen und Gefängnishaften und das Gegenteil von Transiträumen.10 La dernière bande spricht von einer »turne«,11 in der sich außer einem Tisch mit zahlreichen Kästen und einem Tonbandgerät einige Objekte wie ein Briefumschlag, ein Schlüsselbund, eine Spule und eine Banane befinden;12 später kommen noch eine Flasche und ein Wörterbuch hinzu. Der Rest liegt in Dunkelheit.13 Die Bühne zeigt somit einen minimalen Ausschnitt aus einem Leben, das durch einen starken Kontrast zwischen Helligkeit und Dunkelheit geprägt ist.14 Der jüngere Krapp, dessen Stimme auf dem Tonband zu hören ist, erzählt nur Weniges über den Ort, an dem er sich aufhält, erwähnt ein Feuer und undifferenzierte »nippes«.15 Beim alten Krapp fällt auf, dass er von den Objekten geradezu besessen ist und Handlungen mit rituellem Wiederholungscharakter an ihnen vollzieht.16 Handkes Text evoziert einen anderen Raum, einen Friedhof oder zumindest einen Gedenkraum. Eine Stimme aus dem Lautsprecher schafft folgendes (gedankliches) Bühnenbild:

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Vgl. zu Transiträumen Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006, S. 288. Beckett, Samuel: La dernière bande suivi de Cendres, Paris: Minuit 1959, S. 7. Ebd., S. 8. Ebd., S. 8f. Vgl. zur Wichtigkeit des Licht-Dunkelheit-Kontrastes R. McDonald: The Cambridge Introduction to Samuel Beckett (wie Anm. 3), S. 62 und J. Knowlson: Samuel Beckett (wie Anm. 3), S. 559: Das Licht werde mit dem Spirituellen, die Dunkelheit mit dem Sinnlichen assoziiert und beide verwiesen auf fundamentalen Dualismus. Allerdings habe Beckett nicht bewusst eine manichäistische Ansicht vermitteln wollen: »Beckett intimated that he himself only discovered the Manichaean dimension to the play when he came to direct it – some eleven years after he wrote it« (R. McDonald: The Cambridge Introduction to Samuel Beckett (wie Anm. 3), S. 62). S. Beckett: La dernière bande (wie Anm. 11), S. 14. Vgl. z.B. das Wort »bobine«, das Krapp lustvoll dehnt, oder die Erinnerung an einen Ball, mit dem ein Hund spielte: »[J]e la sentirai, dans ma main, jusqu’au jour de ma mort« (ebd., S. 22). Die Objekte verraten Krapps Verfall: das Knallen des Korkens seine Trunksucht, das Fallen der Spulen seine Ungeschicklichkeit, das Wörterbuch seinen Gedächtnisverlust.

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Das allerletzte Band »Was sehe ich da? Sieht das dort nicht aus wie ein Grabmal für die römischen Ehepaare einstmals, Mann und Frau nebeneinander wie aus dem Stein gehauen […] Kein stärkerer Gegensatz denkbar zwischen dieser Frau und diesem Mann: der zwischen ganz Leben und ganz tot. Und so schlägt diese Frau da dann auch in der Tat die Augen auf, oder ist das weiterhin eine Halluzination?, und zeigt sich lebendig, allein, indem sie schaut, und nun auch spricht, nicht wie aus einer Gruft, vielmehr leichthin und nachgerade bukolisch. Und auch wenn sie sich nicht an den Mann zu ihrer Seite wendet und nicht einmal zu ihm hinäugt, scheint es klar, zu wem sie da redet […].«17

Die namenlose Frau auf der Bühne (Krapps »unknown female«)18 hat keine Objekte zur Verfügung. Sie trägt keinen Namen, sagt aber, sie sei die Frau aus dem Boot im Schilf und evoziert damit die Szene, die sich der alte Krapp mehrfach auf dem Tonband angehört hat.19 In einem Monolog ohne Pausen spricht sie über Krapp in der Vergangenheitsform sowie über dessen Beziehung zur Welt und zu ihr und wirft dabei insbesondere das Problem des Alles-Bedeutens des Schweigens auf.20 Sie charakterisiert Krapp als jemanden, der durch bedeutungsgeladenes Schweigen das echte, schöpferische Schweigen verhindert habe.21 Außerdem sei er immer wieder um die gleiche transzendentale Situation gekreist: »Und du? Und du? all dein Zeigen hat von Anfang an bedeuten wollen. Und alle deine Laute und dann Sätze waren Mannequins auf einem Laufsteg, der nach deinem Wollen die Welt bedeuten sollte, und jedesmal wieder dasselbe Mannequin […].«22 Sie gibt Krapps Sucht nach allumfassenden Bedeutungen die Schuld daran, dass er so eingeschränkt ist: »[…] den anderen ständig etwas zeigen zu sollen, und zwar nicht gleich was, vielmehr etwas Bezeichnendes, das Etwas hinter dem Etwas, eine, die Idee von Etwas […].«23 Sie wirft Krapp vor, sich nicht dem Unbeschreiblichen überlassen zu haben: »Du warst nicht offen genug, nicht durchlässig genug – nicht Gestalter oder eben Schöpfer genug, daß es, das Unbeschreibliche, sich schlicht gezeigt hätte, ohne deine Einmischung, und ohne deine Zusätze, einen Zusatz nach dem 17 18 19

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P. Handke: Bis daß der Tag euch scheidet (wie Anm. 4), S. 7f. Ebd., S. 11. »Ich bin es, die spielt und die spricht, ich, die Frau neben dir in dem beinah bewegungslosen, ruderlosen Boot mitten im Schilf des namenlosen Sees oder Weihers unter dem sommerlichen Sternenhimmel« (ebd., S. 9f.). Sie sagt, dass Krapp »gar nicht an jenes Schweigen« geglaubt habe, »so anders groß als das der unendlichen Räume« (ebd., S.13). Die Namenlose wirft Krapp vor, er habe mit seinem Schweigen verhindert, dass zwischen ihnen Stille herrsche »jenseits der Bedeutungen und Hintersinnigkeiten« (ebd., S. 12). Ebd., S. 16. Die Stelle existiert nicht in der französischen Fassung. Ebd., S. 17.

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Susanne Hartwig andern. Du warst außerstande, die stille Welt ihre Arbeit tun und ihr Spiel spielen zu lassen – sie, kurz gesagt, zu lassen.«24

Krapp habe nach dem »Witz« der Zeichen gesucht, bei sich und bei anderen, und damit einen Leerraum um sich geschaffen.25 Sein ständiges Bewusst-Sein habe ihn daran gehindert, den anderen als anderen zu sehen.26 Dagegen setzt die Frau ihre eigene Zeichenlosigkeit: Sie spricht von ihrer »zeichenlosen Nacht«.27 Man mag die klischeehafte Dichotomie der ›männlichen Zeichenhaftigkeit‹ und der ›weiblichen Zeichenlosigkeit‹ hier kritisieren, in Handkes Text hat sie die Funktion, einen Krapps Monolog diametral entgegengesetzten ›Antwortmonolog‹ zu konstruieren. »Mein Spiel jetzt. Dein Spiel, es ist gespielt,« beginnt der Monolog der Frau,28 was darauf hinweist, dass zumindest dem Anspruch nach ein anderes Spiel beginnt, nämlich das bedeutungslose BeiSich-Sein als Gegenpol zu Krapp. Dieses Bei-Sich-Sein, so sagt die Frau von sich selbst, schließe die Transzendenz aus. Entsprechend weigert sie sich auch, Krapps Universum der symbolischen Verallgemeinerung zu übernehmen: »[…] in meiner Nacht hatte ich es niemals nötig, zu spielen. Du, du bist der Meister des Spiels […].«29 Krapp spiegelt die Gegenwart in der Vergangenheit; die Frau lebt im Jetzt. Krapp agiert sub specie aeternitatis, die Frau im Augenblick ihres Auftritts.30 Sie beharrt auf dem Hier und Jetzt, auf ihrem authentischen Auftritt ohne namenlosen Raum, ohne falschen Namen und ohne Kostüme: »Mein Spiel braucht kein Kostüm, keine Manege, keine extradreckigen Gewänder. Es braucht kein Ausrutschen auf keine Apparate, Maschinen und Requisiten, kein künstliches gar keine künstliche Dunkelheit. Mein Spiel, im Gegensatz braucht nicht skandiert zu werden von Pausen.«31 24 25

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Pappnase, keine Bananenschalen, Licht, und schon zu dem deinen,

Ebd., S. 13. Ebd., S. 22. Die Frau spricht davon, dass die Sätze der anderen, wenn sie »ohne Witz« waren, kein Zeichen für Krapp gewesen seien (ebd., S. 23); dieser Passus fehlt in der französischen Version. Ebd., S. 16, 19. Ebd., S. 24. Ebd., S. 9. Ebd., S. 24. Der 39-Jährige wähnt sich im Zenit seiner intellektuellen Kraft (S. Beckett: La dernière bande (wie Anm. 11), S. 14) und sagt: »[…] j’entends ces choses qui en vaudront encore la peine quand toute la poussière sera – quand toute ma poussière sera retombée« (ebd., S. 15). Die Frau hingegen sagt von sich: »Und ich lasse das Vergangene vergangen sein. […] Was war, ist jetzt […]« (P. Handke: Bis daß der Tag euch scheidet (wie Anm. 4), S. 10). Ebd., S. 10.

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Das allerletzte Band Ihre Namenlosigkeit soll keine Stellvertreterfunktion haben, ihre Pausen sollen nichts bedeuten, auf nichts verweisen, keine SinnPausen sein.32 Sie spricht den gesamten Monolog, ohne ein einziges Mal innezuhalten. Aus ihrer Perspektive erscheint der leere Raum bei Beckett als zum Bersten mit Sinn aufgeladen, weil er stets etwas – und sei es auch nur den leeren Raum – bedeuten will. Sie hingegen spielt in einem Nicht-Raum, der aber keinen Nicht-Raum, keine Raumlosigkeit bedeuten soll. Ihr Raum ist vielmehr das physische Hier, während Krapp sich im symbolischen (Nicht-)Raum bewegt.

Jossi Wielers Inszenierung Anhand der Texte kann nicht geklärt werden, wie sich Handkes Text zu Becketts verhält. Ist Handkes Text ein Kommentar? Eine in Becketts Text angelegte Möglichkeit? Oder eher eine ironisch gegen Beckett gestellte Imagination? Eine Inszenierung kann diese Ambivalenz ausspielen oder vereindeutigen. Etwa zwei Drittel der Inszenierung Jossi Wielers bildet Becketts Text, ein Drittel macht der Monolog der namenlosen Frau aus. Das Bühnenbild hält sich weitgehend an Becketts Vorgaben: Krapps ›Bude‹ ist eine ›Bühne auf der Bühne‹, eine podestartig hervorgehobene rechteckige Spielfläche mit braunem Holzboden, die an den Rändern durch metallfarbene Beschläge, an den Seiten durch Eisenstangen und oben durch eine Sofitte eingegrenzt wird, so dass sie fast wie ein Terrarium wirkt. Zwei dunkelbraune Tische links vorne mit je einem Fuß in der Mitte, auf denen ein Tonbandgerät der ersten Generation steht, zeigen ein Design der siebziger Jahre. Zudem sieht man zwei funktionale Plastikstühle und hinten rechts einen silberbeschlagenen Koffer. In diesem befinden sich ein Büschel Bananen, ein Flachmann und die Kästen mit den Tonbandspulen, als ob in Krapps Koffer dessen gesamtes Leben Platz fände. Mehr Details im Bühnenbild und mehr Objekte gibt es nicht. Das kontrastreiche Beckett’sche Spiel mit Helligkeit und vollkommener Dunkelheit wird stark abgemildert. Als sich die Bühne im zweiten Teil (beim Auftritt der Frau) um 180 Grad dreht, erkennt man hinter dem Koffer einen Berg von Bananenschalen (der an den sprichwörtlichen Scherbenhaufen erinnert). Während die Einleitung des Handke-Textes über einen Lautsprecher ertönt, betritt die Frau die Bühne auf der Bühne und

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Ebd., S. 11.

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Susanne Hartwig klappt den Koffer zu. In diesem Moment geht das Saallicht an, das bis zum Ende des Stückes eingeschaltet bleibt.33 Krapp wird als gealterter, mürrischer Allerweltsmann mit schlabberigem Anzug, offenem Hemd und (alsbald) ohne Schuhe gegeben; er wirkt nicht adrett, jedoch auch nicht so schäbig wie Beckett ihn vorsah.34 Er spricht ohne Leidenschaft, bisweilen mit starrem Gesichtsausdruck und bewegt sich schwerfällig. Er singt mit nahezu erstorbener Falsett-Stimme. Seine existenzielle Not wird komisch gebrochen, da Wielers Inszenierung einige clowneske Elemente des Textes hervorstreicht und einige Elemente derber Komik hinzufügt.35 Die Frau trägt eine beigefarbene Hose und ein rot-lachsfarben gestreiftes Shirt mit kurzen Ärmeln, Turnschuhe und ein rot-weiß-braun gemustertes Band im Haar (das in Kontrast tritt zu den Tonbändern, die Krapp sich später um den Kopf windet). Neben dem grauen Krapp wirkt sie tatsächlich wie das blühende Leben. In Wielers Inszenierung spielt die namenlose Frau in Krapps Bühnenbild. Während ihres Auftritts werden zudem zwei SchwarzWeiß-Videos auf die rechte Hinterwand projiziert, zwei Streifen von der Höhe der Bühne, die nebeneinander herlaufen, ohne dass sie klar aufeinander bezogen wären oder gar eine einzige Szene bildeten. Wie die Projektionen sich zum Bühnengeschehen verhalten, ist ungewiss: Keine Figur nimmt Bezug auf sie. Die linke Projektion zeigt ausschnitthaft Bewegungen und Handlungen einer Frau, die rechte Bewegungen und Handlungen eines Mannes. Man ist versucht, von einem Paar zu reden, obwohl beide Projektionen die gesamte Zeit über strikt getrennt bleiben. Die Entwicklung der beiden führt zeitversetzt von einer anfänglichen Erstarrung über verschiedene Stationen eines Tagesablaufs (Anklei-

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Man mag hierin einen Verweis darauf sehen, dass Handkes Text eine Metaebene zu Becketts Text sein soll. Wielers Krapp hat keine Uhr, kein weißes Gesicht, keine rote Nase, lediglich unordentliche Haare und Bartstoppeln. Bei Beckett erscheint Krapp als personifizierter Verfall, »un vieil homme avachi« (S. Beckett: La dernière bande (wie Anm. 11), S. 7). Vgl. auch den sprechenden Namen. Komisch ist z.B., dass das Essen der Banane aufwendig zelebriert und dass mit der Banane als Penis-Ersatz gespielt wird, dass Krapp nicht auf der Bananenschale, sondern dort ausrutscht, wo diese vorher gelegen hat, dass Krapp sein Wörterbuch falsch herum hält. Illusionsbrüche – der heruntergefallene Spulen-Kasten muss z.B. von einem Zuschauer auf die Bühne gereicht werden – konterkarieren den Eindruck ontologischer Verlassenheit der Figur und machen Krapp als Schauspieler kenntlich. Einige Handlungen des Protagonisten wirken lächerlich, z.B. wenn er sich nach dem Trinken immer am Bein kratzt, sich während des Monologs der Frau die Tonbänder um das Haupt windet oder von der Spielfläche tänzelt.

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Das allerletzte Band den – Frühstücken – Arbeiten – Freizeit) wieder zur Erstarrung am Ende.36 Am Anfang und am Ende erscheint auf jeder Projektion das Standbild einer Hand, die auf einem Falten werfenden Bettlaken liegt, wobei die Körnigkeit der Aufnahme – zusammen mit der oben zitierten Einleitung aus Handkes Text – den Eindruck erweckt, es handle sich bei den Händen um den Teil einer Steinstatue. Weder von dem Mann noch von der Frau ist jemals der Kopf zu sehen, so dass man nicht weiß, ob es sich um Krapp und die Namenlose handelt; einige gemeinsame Elemente – der Mann betätigt sich als Schriftsteller, die Frau trägt das gleiche Shirt wie die Frau auf der Bühne – scheinen dies indes nahe zu legen. Immer wieder frieren die Bewegungen der Frau und des Mannes auf dem Video ein, so dass minutenlang nur Standbilder zu sehen sind. Die Projektionen erstrecken sich über den gesamten Monolog der Frau. In Wielers Inszenierung bildet der Raum eher ein Dominanzverhältnis ab als einen Dialog. Während seines Monologes steht Krapp im Zentrum der Spielfläche; als die Frau dorthin kommt, gerät er an den Rand und verlässt schließlich die Bühne auf der Bühne. Die Frau ergreift nacheinander von Krapps Raum und Objekten Besitz: Sie setzt sich auf den Koffer, hangelt an den Stangen herum, die den Spielraum begrenzen, und setzt sich am Ende vor Krapps Mikrophon. Sie gleicht dabei immer wieder langsam die Distanz aus, die Krapp zwischen sich und ihr aufbaut, und berührt ihn sogar einmal. Während Krapp in der ersten Hälfte die gesamte Bühne für sich beansprucht – Sinnbild für seine alles verschlingende und verdrängende Ich-Bezogenheit –, wird im zweiten Teil die Bühne erweitert und Krapps Bude als Bühne auf der Bühne erkennbar. Die Projektionen erweitern das Spielfeld um einen weiteren Raum, offensichtlich eine Wohnung. Markant zeigt sich im Übergang zwischen Becketts und Handkes Text, dass die Inszenierung das Beckett’sche Mini-Endspiel aufbricht. So wird das Geräusch des leer laufenden Tonbandgeräts, das das Ende von La dernière bande markiert, akustisch verstärkt und in einen (als ästhetisiert erkennbaren) Rhythmus, schließlich in eine Melodie überführt, während sich die Bühne dreht und die Sofitte hebt; das reale Geräusch der Wiederholung wird zu Musik. Krapps solipsistische Welt wird somit buchstäblich in einen neuen Kontext gesetzt. Die Kommunikation verläuft in Becketts und in Handkes Teil einseitig in eine Richtung. Der ältere Krapp redet über den Jüngeren, nicht jedoch mit ihm und scheint in seinen Urteilen ein Echo des Jüngeren zu sein: So wie der 39-Jährige den Jüngeren verlacht (und der alte Krapp mitlacht), so lacht der Alte jetzt über den 39-

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Die Handlungen auf beiden Seiten der Projektion ähneln sich vielfach, laufen aber meist zeitversetzt ab.

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Susanne Hartwig Jährigen.37 Man kann sagen, dass der alte Krapp Echo und Kommentar des jüngeren ist. Zudem hört Krapp dreimal die gleiche Stelle auf dem Tonband mit der Frau im Schilf. Dass Krapps Sprechen mit sich selbst letztlich in eine potenziell unendliche Wiederholung mündet, deutet das letzte Bild an: »Krapp demeure immobile, regardant dans le vide devant lui. La bande continue à se dérouler en silence«.38 In seinem Scheitern erreicht Krapp kein tragisches Pathos. Die Objekte, die ihn umgeben, haben für ihn ihre Tücken, ganz in der Tradition populärer Formen komischer Unterhaltung: Auf der Bananenschale rutscht Krapp aus (in Wielers Inszenierung sogar auf einer imaginären Bananenschale), die Spulen fallen zu Boden (bei Wieler muss sogar der Zuschauer eingreifen). Krapps Gesang könnte anrührend sein, wird aber mit brüchiger Stimme vorgetragen und endet stets in einem Hustenanfall. André Jungs Krapp ist entsprechend »ein künstlerischer Clochard und armer Poet, dessen Tragik als Lebensumstandskrämer auch etwas Lächerliches hat […].«39 Die Inszenierung verbindet tragische Sinnverneinung und macht diese zugleich lächerlich, denn nicht nur scheitert der Mensch Krapp, sondern auch die Darstellung seines Scheiterns scheitert. Auch die Frau in Handkes Text ironisiert Krapps Verhalten, charakterisiert es als clownesk und daher letztlich als pure Inszenierung.40 In Wielers Inszenierung spricht die Frau immer wieder deutlich in Richtung Krapp und schaut ihn wiederholt an. Ihr Monolog ist 37

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Auch der 39-Jährige kommentiert und verurteilt sein zehn Jahre jüngeres Alter Ego. Der 39-Jährige hat sich (wie der 29-Jährige) von einer Frau getrennt, mit der zusammenzuleben »ohne Hoffnung« war (S. Beckett: La dernière bande (wie Anm. 11), S. 25). Über den 29-Jährigen sagt der 39Jährige etwas, das genauso auf ihn zutrifft: »Poursuite toujours plus languissante du bonheur. Fiasco des laxatifs. Ricanements sur ce qu’il appelle sa jeunesse et action de grâces qu’elle soit finie« (ebd., S. 17). Der 39-Jährige urteilt: »Difficile de croire que j’aie jamais été ce petit crétin« (ebd., S. 17). Der 69-Jährige urteilt in ähnlicher Weise über den 39-Jährigen: »Viens d’écouter ce pauvre petit crétin pour qui je me prenais il y a trente ans […]« (ebd., S. 27). Ebd., S. 33. Christine Dössel. Süddeutsche Zeitung vom 11.08.09, zit. nach Lange, Joachim: »Ein Gespräch im Hause Krapp über ein nicht gelebtes Leben. Kritikenrundschau«. Das letzte Band/Bis dass der Tag euch scheidet – Beckett/Handke-Abend von Jossi Wieler in Salzburg. nacht-kritik.de. http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&task=view&id= 3113 (2009; Zugriff am 15.1.2010). Sie urteilt über Krapps Spiel: »Freilich, zugegeben, gut gespielt, mitsamt deinem Gehabe eines abgehalfterten, desillusionierten Clowns« (P. Handke: Bis daß der Tag euch scheidet (wie Anm. 4), S. 9).

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Das allerletzte Band damit als Versuch eines Dialogs inszeniert. Krapp wiederum zeigt immer wieder leichte, wenn auch stumme Reaktionen auf die Frau. Als diese beispielsweise mit ihrem Finger nach hinten zeigt, sieht Krapp diesem Finger nach. Zu mehreren Gelegenheiten sieht er sie an, oftmals scheint er ihr direkt zuzuhören. Somit wirken seine Reaktionen auf die Frau so wie die auf sein Alter Ego auf dem Tonband oder die auf die Zuschauer im Saal. Erst als sich die Frau am Ende ans Mikrophon setzt, Krapp nach rechts hinten die Bühne verlässt und die Projektionen wieder versteinern, deutet sich an, dass sie an Krapp vorbei geredet hat. Ihr letzter Satz – »Und jetzt eine Pause meinerseits? Nein, ein Innehalten. Ein Innehalten, bis mein letztes Echo auf dein letztes Band verhallt«41 – stuft ihren Monolog als bloßes Echo ein, also als eine Wiederholung (und eben nicht als Replik) des Beckettschen Monologes. Bislang wirkte sie in Wielers Inszenierung eher wie eine vorwurfsvolle Geliebte, die einen stumm bleibenden Ex-Geliebten mit ihren bislang unterdrückten Gefühlen überschüttet. In dem Moment, in dem sie sich nicht mehr auf Krapp ausrichtet – wie Handke es ja auch in der Einleitung fordert –, wird greifbar, dass sie und Krapp aus verschiedenen Perspektiven sprechen, aber der gleichen ontologischen Situation unterworfen sind. Gerade hier läge das Potenzial des Handke’schen Kontextes, von dem die Inszenierung viel verschenkt.

Der Raum als Dialog zwischen Echo und Antwort Sobald man dem letzten Band ein allerletztes hinzufügt, öffnet man Becketts minimalistischen Raum auf einen Spielraum. Becketts Text wird durch Handkes Text in Richtung auf neue mögliche Bedeutungen verschoben. Die von Krapp unternommene Zeremonie der ewigen Wiederholung, die Verschachtelung ins Unendliche, wird unterbrochen, wodurch Alternativen zumindest wieder denkbar werden. Dieser Effekt erinnert an die Erfindung eines dritten Aktes von En attendant Godot aus der Feder Monty Pythons.42 41

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P. Handke: Bis daß der Tag euch scheidet (wie Anm. 4), S. 27. Ihre letzten Sätze lauten: »Etwas wie eine Replik von mir hast du nie erwartet. Ja, nicht einmal ein Echo. Nicht einmal einen Hall. Du der Hall, und ich der Nachhall« (ebd., S. 27). Der französische Text endet vollkommen anders: »Und dann? Et après?... Kein dann, pas d’après… Et maintenant? Et maintenant? Et maintenant? Und jetzt? Und jetzt?... Storm still? Tempête tranquille? Toujours tempête?...« (ebd., S. 49). »Entschuldigung, der Verkehr«, sagt Godot im imaginären dritten Akt zu den eingeschneiten Figuren Vladimir und Estragon; vgl. Hartwig, Susanne: »Warum der dritte Akt von Warten auf Godot komisch ist oder Literatur als Attraktor kultureller Tätigkeit«, in: Claudia Jünke/Rainer Zaiser/Paul Geyer

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Susanne Hartwig In Beckett und Handke prallen zwei Räume und Zeiten aufeinander: der komprimierte symbolische Raum Krapps und der leere vorsymbolische Raum der Frau.43 Raummetaphorisch ausgedrückt, entlarvt die Frau in Handkes Text Krapps scheinbar leeren Raum als bedeutungsvoll und stellt zugleich das physische (nicht symbolische) Hier und Jetzt, das ihrer Meinung nach von Krapp verdrängt wurde, ins Zentrum. Damit ist Handkes Text der Versuch, die grundlegende Dichotomie bei Beckett zwischen Bedeuten und Bedeutungslosigkeit ins Blickfeld zu bekommen, ganz im Sinne des »spatial turn«.44 Doch der Versuch gelingt nur bedingt, denn auch die Frau begibt sich in den ›Raum des Bedeutens‹, indem sie wortreiche Metaphern und Vergleiche für Krapps Verhalten findet, so dass ihre ›Alternative‹ scheitert. Ihr Versuch, sich mit Worten auszudrücken, vertreibt die »zeichenlose Nacht«,45 in der sie sich wähnt, das bedeutungslose Bei-Sich-Sein.46 Letztlich scheitert sie wie Krapp, wenn auch aus einer entgegengesetzten Richtung kommend. Immerhin versucht sie eine Alternative zu Krapp, so dass für die Dauer ihres Spiels ein Oszillieren zwischen Anspruch und Scheitern des Anspruchs auf einen ›Raum des Nicht-Bedeutens‹ erscheint, ein hybrider Dialog-Raum des Verhandelns zwischen beiden Positionen. Lediglich die Projektionen in Wielers Inszenierung scheinen im Übrigen das zu erreichen, um was sich die beiden Figuren vergeblich bemühen, nämlich der Symbolisierung zu entgehen und zu zeigen, ohne auf etwas hinzudeuten. Die Momentaufnahmen der

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(Hg.), Romanistische Kulturwissenschaft?, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 333-346. Man könnte auch sagen, eine Semiosphäre und eine Sphäre noch vor allem Bezeichnen wie die chora im Sinne Julia Kristevas (Die Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978) prallen hier aufeinander. Michel Foucault (»Des espaces autres (1967), Hétérotopies«, in: Architecture, Mouvement, Continuité 5 (octobre 1984), S. 46-49) und Henri Lefebvre (La production de l’espace, Paris: Anthropos 1974) sehen Raum als von Macht durchzogen an, weshalb ein Ziel sei, Dichotomien von Zentrum und Peripherie zu demontieren. Das Eindringen der Peripherie ins Zentrum wird in der Inszenierung durch die Bewegung sinnfällig gemacht: Während seines Monologes steht Krapp im Zentrum der Spielfläche; als die Frau kommt, gerät er an den Rand und verlässt schließlich die Spielfläche. P. Handke: Bis daß der Tag euch scheidet (wie Anm. 4), S. 24. Dieses Bei-Sich-Sein ist vergleichbar der fehlenden Verweisfunktion in der Geste eines Kindes; die Frau erläutert: »Das Kind zeigt nicht, wie es zeigt. Es zeigt nicht, daß es zeigt. Und wenn das Kind so am Zeigen ist, zeigt es niemand anderem etwas, weder seinem Vater, noch seiner Mutter, noch einem anderen Kind, noch einem vorbeigehenden Fremden – oder vielleicht doch?« (ebd., S. 15).

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Das allerletzte Band beiden Videos können zwar einem Tagesablauf zugeordnet werden, doch bleiben sie ohne sprachlichen Kommentar, ohne Erklärung durch Worte und ohne Klärung ihres Zusammenhangs mit dem Bühnengeschehen.47 Da sie nichts Konkretes bezeichnen, bleiben sie begriffslose Bilder. Handkes Namenlose bezieht sich auf Krapp und stellt ihm eine Alternative entgegen, weshalb ihr Monolog durchaus als Antwort auf Krapp verstanden werden kann.48 Andererseits wiederholt sich Krapps Scheitern in ihrem Monolog, so dass dieser zu einem Echo wird: Beide Texte zeigen die gleiche Konstellation anstatt einer Evolution, das Nebeneinander zweier Scheiternder statt Fortschritt. Die Frau bezieht sich auf Krapp wie dieser sich auf sein jüngeres Alter Ego bezieht: wie ein Echo. Dieses führt nicht zu einem Gespräch, sondern ›sagt‹ noch einmal dasselbe wie ein Echo. Diesem eignet auch die Zeitversetztheit zwischen Sprechen und Widerhall, so dass kein »Duett« entstehen kann.49 Entsprechend taucht das Wort Echo auch mehrfach in Handkes Text auf und der Autor benutzt es zur Charakterisierung des gesamten Monologs.50 Der Zwischen-Raum aber, der sich zwischen den beiden scheiternden Welten Krapps und der Frau, aber auch zwischen Zeichen und Nicht-Zeichen, zwischen Repräsentation und Präsentation auftut, wird zum eigentlichen Dialog zwischen den Texten. Es handelt sich um einen Raum zwischen Bedeuten und Bedeutungslosigkeit, zwischen Antwort und Echo. Auf das der Frau zugrunde liegende »Handke’sche Paradox« weist Dattenberger in ihrer Rezension hin, wenn sie schreibt: »Sie soll das normale Leben, ein Nicht-bedeutsam-Sein und die mögliche

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Sie scheinen die Beziehung zwischen Becketts und Handkes Text widerzuspiegeln, weil einige Elemente der Videos und der Bühnenhandlung aufeinander verweisen (z.B. der Plattenspieler auf das Tonbandgerät oder die Schreibmaschine auf Krapps Schriftstellerei), doch ergibt sich kein expliziter Zusammenhang. Eine Antwort ist das Pendant zu einer Frage, welche einen »sprachliche[n] Handlungstyp« bezeichnet, »der eine Einstellung des Wissen-Wollens gegenüber seinem propositionalen Gehalt ausdrückt und in dessen Kontext Aussagen, die das erwünchte [sic] Wissen zum Inhalt haben, als Antworten gelten« (Bußmann, Hadumod (Hg.): Lexikon der Sprachwissenschaft, 3., akt. u. erw. Aufl., Stuttgart: Kröner 2002, S. 223). So sagt die Frau: »Und mein gestammeltes Echo singe ich jetzt, als Notenschlüssel den fröhlichen Zorn, so wie du die heitere Illusionslosigkeit. Ob das ein Duett ergibt? Nein, oder höchstens zeitversetzt, und an zwei verschiedenen Orten, du an deinem weltbedeutenden, und ich? Ach, wenn ich das wüsste« (P. Handke: Bis daß der Tag euch scheidet (wie Anm. 4), S. 24f.). Diese Stelle hat keine Entsprechung im französischen Text. Ebd., S. 51f.

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Susanne Hartwig Zweisamkeit verkörpern – und muss doch ach so intellektuell daherreden.«51 Zu Recht moniert Dattenberger, dass die Umsetzung der Spannung, die aus diesem Paradoxon entsteht, zu wünschen übrig lässt.52 In der Tat spricht Kunzendorf den Text eher hilflos herunter, redet fast durchgehend in der gleichen vorwurfsvollplaudernden Tonlage und lächelt ständig. Sie wendet sich (entgegen der Aussage in der Einleitung Handkes) viel zu oft direkt an Krapp und presst damit ihren Text in die Richtung eines (gescheiterten) Dialoges, der aus lauter letzten Worten zusammengesetzt zu sein scheint.53 Inszeniert man Handkes Text nur als Antwort auf Beckett, läuft er Gefahr, Becketts Universum zu banalisieren, weil die Ausführungen der Frau den gealterten Krapp in diesem Fall als eine Person hinstellen, die sich in ihrem Leben (mehrfach oder möglicherweise auch nur in einem einzigen Moment) falsch entschieden hat und nun die Zeche dafür zahlen muss. In diesem Fall behandelt das Stück nichts weiter als das Thema der verpassten Chance, die vielleicht nie da war.54 Eine viel interessantere Frage ist jedoch, ob es überhaupt eine Alternative zu seiner Situation gegeben hätte. 51

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Dattenberger, Simone: »Die unbekannte Geliebte«. Münchner Merkur vom 11.08.2009, S. 15. http://www.naurabox.de/press/Muenchner_Merkur_August_2009.pdf (Zugriff am 15.1.2010). Vgl. die Kritik: »Aus diesem Handke’schen Paradox vermag Kunzendorf (noch) keinen Nutzen zu ziehen, keine Reibung zu erzeugen, keine unterschwelligen Nuancen anzubringen« (S. Dattenberger: »Die unbekannte Geliebte« (wie Anm. 51), S. 15). Vgl. die harsche Kritik Gerhard Stadelmaiers: »[Ihre Vorwürfe] reibt sie ihm jetzt hin. Im Buch auf achtundzwanzig Druckseiten. Auf der Bühne in einer endlosen halben Stunde. Die Schauspielerin Nina Kunzendorf […] tut dies mit der ton- und emotionslosen Nervigkeit einer frisch aus irgendeiner Therapie entlassenen Quasselstrippe, die gern aus Krapps Band einen Bandsalat machen möchte, den sie mit ihrem Aceto feministico fade würzt«; Stadelmaier spricht von »leidenschaftslose[m] Beleidigtsein« (Ders.: »Bandsalat an Quasselstrippe«. FAZ vom 11.08.09, http://www.faz.net/s/ Rub4D7EDEFA6BB3438E85981C05ED63D788/Doc~E2251F19836F049E8BE 10BE727DE20C76~ATpl~Ecommon~Scontent.html (Zugriff am 15.1.2010)). Dann gälte, was Stadelmaier an Wielers Inszenierung kritisiert: »In seines Dichterherzens kitschigem Grunde schreibt Handke, der raunende Beschwörer des Welteinverstandenseins, mit seiner Beckett-Replique eigentlich den Groschen-Roman zu einem weltuneinverstandenen GigantenDrama, Untertitel: ›Oberschwester Namenlos klagt an: Ich war für dich nur ein Schilf-Abenteuer!‹ […] Krapp ist das unverkuppeltste Genie der Einsamkeit in Becketts Welt. Handke degradiert ihn zum Krüppel einer Zweisamkeit. ›Bis dass der Tag euch scheidet‹ ist kein Echo auf das ›Letzte Band‹. Es ist nichts weiter als eine Beckett-Fälschung« (»Bandsalat an Quasselstrippe« (wie Anm. 53)).

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Das allerletzte Band Liest man Handkes Text als Echo auf Beckett, bekommt Krapps Scheitern eine ontologische Dimension. Seine Suche nach Sinn und Sinnlichkeit vor jeder Bedeutung55 ähnelt der Suche der Frau, ebenso wie ihr Scheitern dem seinen ähnelt. Wie seine Liebe ist auch die ihre vergeblich.56 Als Echo drückt die Frau das Gleiche wie Krapp aus – das Gefühl der Sinnlosigkeit des Lebens, die Verlassenheit des Menschen in einer ihm unerklärlichen Welt –, nur eben aus einem anderen Blickwinkel. In diesem Licht erscheint Krapps Situation a priori unlösbar. Sie ist ja nicht das Resultat falscher Entscheidungen, sondern eine Konsequenz der conditio humana, die keine Alternative zulässt. Beckett selbst hat einmal gesagt, dass er sich Krapps Scheitern auch mit umgekehrten Vorzeichen hätte vorstellen können: »I thought of writing a play on the opposite situation with Mrs. Krapp, the girl in the punt, nagging away behind him in which case his failure and solitude would be exactly the same.«57 McDonald kommentiert diesen Satz wie folgt: »Beckett seems determined not to allow a solution for the predicament of his characters. Their suffering, it seems, has no temporal or earthly way out, though some of them might delude themselves into thinking that if something were to happen in the future, if a Godot were to arrive or, in this case, if something different had happened in the past, that their plight would be

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Er überspult die symbolischen Ergüsse existenzieller Suche seines Alter Ego und wiederholt immer wieder die Stelle der sinnlichen Erfahrung mit der Ex-Geliebten. Desgleichen beginnt er zu singen, während der jüngere Krapp von sich sagt, niemals gesungen zu haben (S. Beckett: La dernière bande (wie Anm. 11), S. 16). Vgl. auch das Urteil der Frau: »In deiner Leichenbittermiene und in deinem steten Verneinen hat ebenso stetig mitgespielt eine verschmitzte, herrlich sinnlose Lebenslust« (P. Handke: Bis daß der Tag euch scheidet (wie Anm. 4), S. 22). Vgl. Becketts Aussage über Krapp: »Die Stimme einer Frau tönt durch das ganze Stück, immer wiederkehrend, ein lyrischer Ton… Krapp verspürt sorgliche und vergebliche Liebe zu den femininen Wesen« (Beckett, Samuel: Krapp’s Last Tape. Theatre Workbook I, hg. von James Knowlson, London: Brutus Books 1980, S. 139, zit. nach J. Knowlson: Samuel Beckett (wie Anm. 3), S. 556). McMillan, Dougald/Fehsenfeld, Martha: Beckett in the Theatre, Vol I.: The Author as Practical Playwright and Director, London: John Calder 1988, S. 288f., zit. nach R. McDonald: The Cambridge Introduction to Samuel Beckett (wie Anm. 3), S. 61. Vgl. auch Becketts viel zitierte Aussage: »La négation n’est pas possible. Pas plus que l’affirmation. Il est absurde de dire que c’est absurde« (Juliet, Charles: Rencontre avec Samuel Beckett, Montpellier: Fata Morgana 1986, S. 49, zit. nach P. Brockmeier: Samuel Beckett (wie Anm. 3), S. 32).

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Susanne Hartwig relieved. The truth seems to be that, as Hamm declares, ›you’re on earth, there’s no cure for that‹ […].«58

Auch der Monolog der Frau kann im Sinne dieses Satzes von Hamm gelesen werden. Der Satz, der Handkes Stück einen Teil seines Titels verleiht, wäre dann die Vergewisserung, dass das SinnlichNachtdunkle-Bedeutungslose der Frau und das Rational-TaghelleBedeutungshafte Krapps nicht zusammenkommen können und doch untrennbar ineinander verstrickt sind: »Bis daß der Tod uns scheidet? Nein, bis daß der Tag uns scheidet. Der Tag, der uns scheidet: Nie wird er kommen. Nie wird es in mir und zwischen uns auf solch eine Weise Tag werden.«59 Kunzendorfer spricht diese Sätze fast nostalgisch; es wäre aber auch denkbar, sie affirmativ auszusprechen, die unüberbrückbare Geschiedenheit zwischen dem Sinnlichen und dem Rationalen zu bejahen und damit auf den Dialog zwischen Bedeutung und Bedeutungslosigkeit selbst anzuspielen. Handke und Beckett können als Echo oder als Antwort oder als Dialog zwischen Echo und Antwort inszeniert werden. Entsprechend endet Handkes Text mit einer Didaskalie, die auch im Titel des Stückes aufgenommen ist: »Was wir zuletzt noch gesehen haben: Sie ist allmählich zurück in ihre Nische getreten und hat dort, ebenso allmählich, die Augen geschlossen, Gesicht und Körper blühend wie eh und je. Ist es nun wieder eine Halluzination, daß die männliche Figur zu ihrer Seite sich der Frau anzugleichen scheint, wenn auch kaum merklich? Oder ist das bloß eine Frage des Lichts (und des Schattens)?«60

Die Wendung »eine Frage des Lichts« verweist auf die fundamentale Relativität der Lesart des Monologs. Die Entwicklung des Beckett’schen Theaters verläuft vom Dreiüber den Zwei- hin zum Einakter. Immer deutlicher sind die Figuren, die kaum noch miteinander kommunizieren, in einer unangenehmen Situation gefangen, aus der zu entkommen unmöglich ist; selbst in den Zweiaktern gibt es keine grundlegenden Veränderungen.61 Handkes Text macht Becketts Einakter La dernière bande wieder zum Zweiakter, bei dem der zweite Akt wie ein supplément funktioniert, wenn er einen Dialog-Raum zwischen Echo und Ant-

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R. McDonald: The Cambridge Introduction to Samuel Beckett (wie Anm. 3), S. 61f. P. Handke: Bis daß der Tag euch scheidet (wie Anm. 4), S. 23. Ebd., S. 27f. Zur Akteinteilung in En attendant Godot und Oh les beaux jours als leer laufende Wiederholung vgl. S. Hartwig: Typologie des Zweiakters (wie Anm. 9), S. 86-102.

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Das allerletzte Band wort schafft. Dann nämlich komplettiert er nicht einfach Becketts Text, indem er ihn negiert oder affirmiert, sondern fügt ihm etwas hinzu, das einen Gegensatz zu Becketts Text aufbaut und ihn zugleich subvertiert.62 Er löst das ontologische Problem Krapps nicht, sondern verschiebt es, weil er andeutet, dass bedeutungsvolles Schweigen und bedeutungsloses Reden beide nicht die Lösung sind – eben wie in Becketts Libretto Neither.

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Zum supplément vgl. J. Derrida: De la grammatologie (wie Anm. 7), S. 208 und J. Culler: Dekonstruktion (wie Anm. 6), S. 158.

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Raum und Objekt in He, Joe und anderen Fernsehstücken Samuel Becketts THERESE FISCHER-SEIDEL Becketts Arbeit mit Wahrnehmung, speziell dem Visuellen und mit Kategorien der Gestaltpsychologie ist seit langem als einer der Schwerpunkte meines Interesses an Beckett in verschiedenen Aufsätzen dokumentiert.1 Dieser Aufsatz ist deswegen ein Versuch, Raumwahrnehmung als einen der aktuellen Aspekte der Literaturwissenschaft mit dem Thema »Beckett und visuelle Wahrnehmung« in Verbindung zu setzen und auf einige Werke Becketts für Bühne, Film und Fernsehen anzuwenden. Erst kürzlich hat sich die neuere englischsprachige Beckett-Forschung dem Thema »Beckett und Phänomenologie« ausführlich zugewandt. Dabei wurde vor allem der Begründer der modernen Phänomenologie, Edmund Husserl, erneut in seiner Beziehung zu Beckett in den Blick genommen.2 Phänomenologie ist sehr eng mit Wahrnehmungs- bzw. Gestaltpsychologie verbunden und liefert einen lohnenswerten Blickwinkel auf Beckett. 1

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Vgl. Fischer-Seidel, Therese: »Die unausweichliche Modalität des Sichtbaren: Wahrnehmung und Kategorien des Dramas im Theater Becketts«, in: Tagungsberichte des Anglistentages. Band IX, Anglistentag 1987, Tübingen, hg. von Hans-Werner Ludwig, Gießen: Hoffmann Verlag 1988, S. 106123; Dies.: »›The Ineluctable Modality of the Visible‹: Perception and Genre in Samuel Beckett’s Later Drama«, Contemporary Literature 35 (1994), S. 66-82; Dies.: »›All Life is Figure and Ground‹: Perception and Self-reflexive Structures in Beckett’s Early Prose and Late Drama«, Samuel Beckett Today/Aujourd’hui 6 (1997), S. 199-210; Dies.: »›All Life is Figure and Ground‹: Samuel Beckett and Gestalt«, in: Cedric C. Brown/Therese FischerSeidel (Hg.), Cultural Negotiations – Sichtweisen des Anderen, Tübingen: Francke 1998, S. 283-304; Dies.: »›Esse est percipi‹ Samuel Beckett’s works for Television«, in: Therese Fischer-Seidel/Susanne Peters/ Alex Potts (Hg.), Perception and the Senses – Sinneswahrnehmung, Tübingen: Francke 2006, S. 235-258. Vgl. Feldman, Matthew/Maude, Ulrika (Hg.): Beckett and Phenomenology, London: Continuum 2009. Vgl. darin insbesondere Feldman, Matthew: »›But What Was this Pursuit of Meaning, in this Indifference to Meaning?‹: Beckett, Husserl, Sartre and ›Meaning Creation‹«, S. 13-38.

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Therese Fischer-Seidel

I. Als Samuel Beckett 1965 sein Fernsehstück Eh Joe fertig stellte,3 das anlässlich seines 60. Geburtstages erstmals in seiner von ihm selbst inszenierten Fassung unter dem Titel He, Joe vom SDR ausgestrahlt wurde, kannte er sicher den Begriff des »spatial turn« nicht, mit dem sich die Literaturwissenschaft seit den 1980er Jahren – etwas zögerlich und verspätet – auseinandersetzt. Es lässt sich bekanntlich bezweifeln, ob es sich hierbei wirklich um eine Wende handelt, wie Doris Bachmann-Medick es in ihrem Buch Cultural Turns zu Recht diskutiert.4 Lacans Topik des Imaginären (1954) und Bachtins Arbeiten (Chronotopos, 1937) hätten Beckett bekannt sein können, obwohl das im Falle Bachtins aufgrund der politischen Situation fraglich ist. Edmund Husserls phänomenologische Schriften, die sehr stark mit gestaltpsychologischen Kategorien arbeiten, waren ihm bekannt; Beckett konnte sie noch vor der Ächtung Husserls durch die Nationalsozialisten lesen. Beckett exzerpierte 1938 die englischsprachige Einleitung zu Husserls Hauptwerk Ideas.5 An anderer Stelle habe ich für die Vertrautheit Becketts mit Gestalt plädiert.6 Und wie mir James Knowlson schon vor der Veröffentlichung seiner Beckett-Biographie Damned to Fame anlässlich meines Vortrags über Gestalt bei Beckett in Straßburg 1996 mitteilte, war Beckett durchaus mit den Hauptrichtungen der Psychologie durch die Lektüre von Robert S. Woodworths Main Schools of Psychology (1931) vertraut. Er hatte dieses Buch zwar nicht in seinem Besitz, aber während seiner Behandlung in der Tavistock Clinic in London zwischen 1933 und 1935 gelesen. Es gibt

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Es wurde 1963 am 4. Juli begonnen und zu Becketts 60. Geburtstag schließlich von der BBC 1966 drei Monate vor der Ausstrahlung aufgenommen. Bereits vor der Erstsendung der BBC Fassung wurde He, Joe aber in einer von ihm selbst inszenierten (deutschen) Fassung vom Süddeutschen Rundfunk gesendet. Vgl. Knowlson, James: Damned to Fame: the life of Samuel Beckett, New York: Simon & Schuster 1996, S. 533-535. Vgl. Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns, Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006, S. 26; vgl. Frank, Michael C.: »Die Literaturwissenschaften und der spatial turn: Ansätze bei Jurij Lotman und Michail Bachtin«, in: Wolfgang Hallet/Birgit Neumann (Hg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld: transcript 2009, S. 53-80, hier S. 60. Vgl. M. Feldman: »›But What Was this Pursuit of Meaning, in this Indifference to Meaning?‹: Beckett, Husserl, Sartre and ›Meaning Creation‹« (wie Anm. 2), S. 17. Vgl. T. Fischer-Seidel: »›All Life is Figure and Ground‹: Perception and Selfreflexive Structures in Beckett’s Early Prose and Late Dramal« (wie Anm. 1).

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Raum und Objekt in He, Joe mehrere Richtungen der Gestaltpsychologie. Von Interesse war für Beckett nicht die tiefenpsychologische, die z.B. Horst Breuer in seiner frühen Arbeit zu Beckett zitiert, sondern die wahrnehmungspsychologische, die auch für die Kunstwissenschaft von Bedeutung ist. Rudolf Arnheim verwendete bereits in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts die wahrnehmungspsychologische in seinen Schriften zur Kunstwissenschaft.7 Wenn man den sehr hilfreichen Band Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften8 durchblättert, wird deutlich, dass sich die Reflexion des Raums bereits bei Descartes, Leibniz und Kant findet. Es wäre vermessen, diese Reflexionen nun herausgelöst aus ihren Zusammenhängen und in der gebotenen Knappheit von Zeit und Raum hier diskutieren zu wollen. Dennoch kann man weit in der Geistesgeschichte zurückgehen und die aristotelische Dramentheorie anführen, deren Forderung nach den Einheiten von Ort, Zeit und Handlung sich durchaus in Verbindung setzen lassen zu Beckett und seiner Leistung für die Erneuerung des Dramas im 20. Jahrhundert, wie ich in meiner Arbeit zur Mythenparodie im modernen englischen und amerikanischen Drama ausführlich dargelegt habe.9

II. Bevor ich zum Thema »Raum und Objekt in He, Joe« und in anderen Fernsehspielen komme, möchte ich skizzieren, wie sich meine Auffassung von Becketts zentraler Leistung für die Erneuerung des modernen Dramas jenseits von existenzialistischen Deutungen und Begriffen wie dem des Absurden mit der Frage nach Raum und Objekt vereinbaren lässt. 1. In Becketts Dramen werden die Grundzüge der aristotelischen Dramentheorie, nämlich der Zusammenhang von Ort, Zeit und Handlung, nur noch parodistisch aufgerufen und nicht mehr erfüllt. Von den drei Einheiten und der aristotelischen Forderung nach diesen ist es in Becketts Dramen diejenige nach der Einheit des Ortes, die noch positiv gefüllt wird – jedenfalls was den Büh7

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Vgl. Breuer, Horst: Samuel Beckett. Lernpsychologie und leibliche Determination, München: Fink 1972 und Arnheim, Rudolf: Art and Visual Perception, Berkeley/Los Angeles: University of California Press 1954. Vgl. Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006. Vgl. Fischer-Seidel, Therese: Mythenparodie im modernen englischen und amerikanischen Drama. Tradition und Kommunikation bei Tennessee Willliams, Edward Albee, Samuel Beckett und Harold Pinter, Heidelberg: Winter 1986.

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Therese Fischer-Seidel nenraum betrifft. Und das gilt auch für Erinnerungsstücke wie Krapp’s Last Tape oder That Time, die Zeitsprünge darstellen. 2. Die Kategorien zur Verbindung der Künste aus Lessings Laokoon hatte Beckett von James Joyce übernommen, und er zitiert sie gelegentlich, wie seine Aufzeichnungen im Besitz des Trinity College, Dublin und im sogenannten Whoroscope Notebook aus dem Beckett Archiv in Reading zeigen. Es sind dies das Nacheinander und das Nebeneinander. Bei Lessing ist das Nebeneinander das gleichzeitig Rezipierbare, das Visuelle, die zentrale Kategorie der Bildenden Kunst. Im Gegensatz dazu steht das Nacheinander, z.B. die Musik und die Literatur. Ich will hier nicht diskutieren, ob Lessing Recht hat. Beckett jedenfalls kam es in seinem Stück Not I (1972) darauf an zu zeigen, wie sich in der Literatur auf der Bühne die beiden Kategorien, das Räumliche und das Zeitliche, überlagern und auch gleichzeitig wahrgenommen werden können. Das Räumliche sind Mouth und Auditor, die beiden Figuren, deren Kommunikationslinie vom linken Bühnenhintergrund in acht Fuß Höhe ausgehend bis zum rechten Bühnenvordergrund auf vier Fuß Höhe endend durch diese virtuelle Diagonale alle drei Dimensionen des Bühnenraums betont. Beckett thematisiert die Wirkung des Raums und die Gesetze der Wahrnehmung auch noch auf andere Weise. Der hoch gesetzte Mund im Bühnenhintergrund als einzig beleuchtetes Objekt wirkt überdimensional groß. Das Zeitliche sind die dem Mund entströmenden Worte und die im Ablauf des Stücks sich verändernden Reaktionen Auditors auf diese. 3. Beckett erteilt der Sprache als Transportmittel für Inhalte oder Botschaften eine deutliche Absage. Erst spät kehrt er zum Englischen zurück, weil ihm diese Sprache zunächst zu assoziationsreich erscheint, wie er in seinem bekannten German Letter an Axel Kaun 1928 bemerkt.10 Damit wendet er sich auch gegen die Instrumentalisierung des Dramas z.B. für Ideen oder Ideologien, wie es im 19. und frühen 20. Jahrhundert üblich war. Sozialkritik etwa im Sinne Ibsens oder Shaws ist für Beckett kein Gegenstand. Auch Sprache als Mittel der Unterhaltung, wie es der populäre Ableger des aristotelischen Dramas, das well-made play, anbietet, wurde von ihm nicht in diesem Sinne gebraucht. 4. Damit ist nicht gemeint, dass Beckett das Populäre oder die Unterhaltung verschmähte. Vielmehr galt seine Liebe der visuellen Variante des Populären – wie wir aus seinem frühen Drama Waiting for Godot wissen –, der pantomime, der commedia dell’arte, dem Zirkus und der music-hall. Der populäre Nachfolger des literarischen

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Vgl. Beckett, Samuel: Disjecta. Miscellaneous Writings and a Dramatic Fragment, hg. von Ruby Cohn, London: John Calder 1983, S. 51-54.

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Raum und Objekt in He, Joe Dramas im 19. Jahrhundert war eine bildhafte Theaterform: das Melodrama. Wegen seiner spektakulären Effekte wird das Melodrama manchmal auch horse-opera genannt, weil es z.B. Pferdegespanne oder Wasserfälle auf der Bühne präsentierte – wie in den beiden populärsten Melodramen Der Graf von Monte Christo oder auch in der anderen Romandramatisierung Harriet Beecher-Stowes Uncle Tom’s Cabin –, die auf beiden Seiten des Atlantik die riesigen, dreitausend Zuschauer fassenden Theater füllten. Der Verzicht auf festgelegte Texte im Melodrama hatte nicht nur Copyright- und Zensurgründe, sondern entsprach auch dem Unterhaltungsbedürfnis eines breiten Publikums aus den neuen Mittelschichten, das sich in erster Linie für die spektakulären Bilder interessierte. Später übernahm der Film die Funktion dieses Mediums. Eines der sehr populären Melodramen des 19. Jahrhunderts, Ben Hur, wurde dann auch 1959 zum erfolgreichsten Hollywood-Film überhaupt.11 Fast will es scheinen, dass sich Beckett mit seiner Hinwendung zum Film in Film mit dem Stummfilmstar Buster Keaton, dem »Mann, der nie lachte«, genau des Nachfolgemediums des populären, bildhaften Melodramas, auch mit seinen plötzlichen hochdramatischen Wendungen der Handlung, annahm. Aus dem populären Medium macht Beckett eine Kunstgattung. Damit bedient sich Beckett eines Verfahrens, das aus der pop-art bekannt geworden ist. Auch mit seinen Fernsehfilmen macht Beckett aus dem »Pantoffel Kino« eine künstlerische Form. 5. Biographisch gelingt Beckett mit seiner Hinwendung zum Visuellen die Absetzung nicht nur von »Botschaften«, sondern auch die Abwendung vom Sprachreichtum, die noch seinen »Supervater« James Joyce bewegte. Der sprachliche Assoziationsreichtum von Joyce ist noch geradezu der »Sprachlust« der Elisabethaner vergleichbar. Anders als James Joyce, der auch schon lange ohne Botschaften ausgekommen war, verlangt die Rezeption der Bilder, wie sie Beckett von den Betrachtern seiner Fernsehspiele erwartet, nicht in erster Linie einen literarischen oder hochkulturellen Anspielungshorizont, obwohl ein solcher Horizont dem Verständnis

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Zum amerikanischen Melodrama, den bekanntesten Stücken und Darstellern vgl. Dunlap, William: History of the American Theatre and Anecdotes of the Principal Actors, New York: Franklin 21963. Zum Melodrama vgl. die beste Standarddarstellung von Rahill, Frank: The World of Melodrama, University Park: Pennsylvania University Press 1967 und Schmidt, Johann N.: Ästhetik des Melodramas. Studien zu einem Genre des populären Theaters im England des 19. Jahrhunderts, Heidelberg: Winter 1986. Darin dokumentiert Schmidt die umfassende Bedeutung und Verbreitung dieser Gattung, deren Aufwertung als eigentlich legitimes Drama des 19. Jahrhunderts schon seit geraumer Zeit begonnen hat.

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Therese Fischer-Seidel eine weitere Dimension verleiht. Bilder gehören zu den Hauptmitteln der zeitgenössischen populären Medienkultur. Dass James Joyce mit seinem klassischen Bezug zum Beispiel auf die Odyssee oder auf Hamlet nicht mehr auf das entsprechend gebildete Lesepublikum traf, lässt sich vielleicht auch an der Tatsache sehen, dass er im Nachhinein »Pläne« mit diesen Bezügen nach der Veröffentlichung des Ulysses verteilte, z.B. an Stuart Gilbert und Carlo Linati. Mit der Hinwendung zum scheinbar unmittelbar wirksamen Bildhaften und der damit verbundenen Komplexitätsreduktion läutet Beckett das Ende der Moderne ein12 und zugleich – wenn man diese Epochenbezeichnung überhaupt anwenden will – den Beginn der Postmoderne. In der Rezeption ist der Schritt von Joyce zu Beckett jener von der voraussetzungsvollen Sprachlichkeit zur unmittelbar wahrnehmbaren Bildhaftigkeit. 6. In der Ausweitung des Kunstmittels der Raumwahrnehmung vom Drama auf das Medium Film und Fernsehen vollzieht Beckett den Schritt von der Hochkultur zur Popkultur. Er macht damit das popkulturelle Medium Fernsehen zu Kunst. Diese Veränderung ist auch in der modernen Bildenden Kunst zu beobachten. Wenn z.B. Roy Lichtenstein oder Andy Warhol Bilder aus Comics oder Werbung in ihre Kunstwerke integrieren, werden diese Teil der »Hochkultur«.

III. Nun ist es an der Zeit, sich Becketts Arbeiten für das Fernsehen zuzuwenden, insbesondere den Aspekten von Raum und Objekt in diesen Stücken. In Endgame (1957) war der Bühnenraum durch die stille Aktion einer der Hauptfiguren, Clov, sofort in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt worden. Man kann darüber spekulieren, ob das, was Clov draußen sieht, wenn er auf seiner Leiter stehend aus dem Fenster blickt, der Weltuntergang ist, wie es frühe existenzialistisch argumentierende Beckett-Interpreten angenommen haben, oder ob der Bühnenraum ein Schädel ist und die Fenster die Augen.13 Fest 12

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Vgl. Begam, Richard: Samuel Beckett and the End of Modernity, Stanford: Stanford University Press 1997. Begam argumentiert in seinem Buch, dass Beckett in seinen fünf Hauptromanen durch seinen Sprachskeptizismus schon lange vor Barthes, Foucault und Derrida Verfahren zur »Erneuerung« der Sprache entdeckte. Vgl. Pilling, John: Samuel Beckett, London/Henley/Boston: Routledge and Kegan Paul 1976. In diesem frühen Buch bezeichnet Pilling bereits Endgame als »mind-drama« (ebd., S. 77). Seinem späteren, zusammen mit

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Raum und Objekt in He, Joe steht jedenfalls, dass Clov durch seine springerartigen, – das Schachspiel des Titels aufrufenden – Bewegungen auf der Bühne und sein Besteigen der Leiter – jenseits aller Deutungen – alle drei Dimensionen des Bühnenraums dem Publikum bewusst macht: Höhe, Breite, Tiefe. Eine ähnliche Wirkung entsteht in Becketts erster Arbeit für das Fernsehen, Eh Joe (1965), das acht Jahre nach Endgame entstanden ist. Eh Joe wurde zwar zuerst von der BBC produziert. Das Stück war eine Auftragsarbeit zu Becketts 60. Geburtstag. Es wurde aber dann für den Süddeutschen Rundfunk von Beckett selbst inszeniert und noch vor der Erstsendung der BBC Produktion am 14. Juli in Deutschland genau zu Becketts 60. Geburtstag am 13. April 1966 unter dem deutschen Titel He, Joe ausgestrahlt. Die nachfolgende Analyse von Raum und Objekt in diesem Stück bezieht sich auf diese Produktion mit Deryk Mendel als Joe und Nancy Illig als Stimme. Es gibt noch zwei weitere Produktionen des Stücks beim SDR, die aber auf Wunsch Becketts nicht mehr gezeigt werden sollen, eine von Walter Asmus zusammen mit Beckett, und eine weitere, von Asmus allein inszenierte. In der von Asmus inszenierten Fassung von 1979 ist Heinz Bennent Joe und die Stimme ist Irmgard Först. Der SDR stellte mir eine Farbaufnahme zur Verfügung, in der Joe – von Heinz Bennent dargestellt – unters Bett schaut. Nachttopf und Pantoffel sind zu sehen und man kann verstehen, dass Beckett diese Objekte zu mimetisch waren und dass diese Produktion nicht mehr gezeigt werden soll.

Samuel Beckett: He, Joe mit Heinz Bennent, Regie: Asmus © Südwestrundfunk (SWR) Stuttgart James Knowlson verfassten Buch, das allerdings die Dramen nach Endgame behandelt, gibt er den sprechenden Titel Frescoes of the Scull. Vgl. Knowlson, James/Pilling, John: Frescoes of the Scull. The Later Prose and Drama of Samuel Beckett, London: John Calder 1979.

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Therese Fischer-Seidel Man kann davon ausgehen, dass die Produktion des SDR, die Beckett selbst inszenierte, die authentische ist. Beckett erreichte durch seine Anweisungen an die Schauspieler und durch seine Bewegungen auf dem set, wie man mir in Stuttgart beim SWR erläuterte, genau die Effekte, die er wollte. Es gibt sogar eine heimliche Aufnahme von Beckett, wie er sich auf dem set bewegt, die auch bei einem Beckett-Themenabend gezeigt wurde. Becketts erstes Fernsehstück He, Joe thematisiert das Fernsehen als ein Medium, das in die Privatsphäre des Einzelnen eindringt. Heutige populäre Sendungen wie Big Brother sind nur der Extremfall dieses voyeuristischen Vergnügens. He, Joe betont einerseits den Solipsismus des Protagonisten und des Zuschauers, aber durchbricht ihn andererseits zugleich auch. Anders als die Bühne ist das Fernsehen – in den sechziger Jahren oft noch auf das verdunkelte Zimmer angewiesen – nicht zwangsläufig ein Gemeinschaftserlebnis, sondern kann auch ein einsames Erlebnis sein.14 »Key-hole art«, Schlüssellochkunst, nannte es Beckett.15 Als Versuch, das Ausgespäht-werden zu verhindern, kann man die Eröffnungssequenz des Stücks mit Deryk Mendel, mit nur einer Kamera gedreht, verstehen. Joe, ein heruntergekommener Endfünfziger in einem alten Morgenrock und Hauspantoffeln, ist angespannt auf einem Bett in einem kargen Raum sitzend von hinten zu sehen. Er bewegt sich schlurfend zum Fenster, öffnet es, schaut hinaus und schließt es und zieht den Vorhang zu. Die zweite, dritte und vierte Einstellung zeigen den Protagonisten in ähnlicher Weise die Türe und auch den Schrank öffnen und schließen – wodurch ein komischer Effekt entsteht. Die fünfte Einstellung schließlich zeigt Joe, wie er unter das Bett schaut, um sich dann entspannt auf das Bett zu setzen.

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Dieser Gedanke stammt von dem Regisseur Ivan Nagel, aus dem BeckettThemenabend. Vgl. Müller-Freienfels, Reinhart: »Erinnerungen an Samuel Beckett beim SDR«, in: Hermann Fünfgeld (Hg.), Von außen besehen. Markenzeichen des Süddeutschen Rundfunks, Stuttgart: Südfunkhefte 1998, S. 402-424. Der Fernsehspielleiter Müller-Freienfels berichtet darin, dass Heinz Bennent Beckett zu sehr »psychologisierte« (vgl. ebd., S. 414); »Key-hole art« (ebd., S. 408).

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Raum und Objekt in He, Joe

Samuel Beckett: He, Joe mit Deryk Mendel, Regie: Beckett © Südwestrundfunk (SWR) Stuttgart Haben wir hier in dem »Unter-das-Bett-schauen« so etwas wie eine räumliche Spiegelung der Rolle des Zuschauers im Fernsehen als Eindringender in die Privatsphäre oder sogar seiner Rolle als »Späher durch das Schlüsselloch«? Das Bett als einziges Bühnenrequisit ist äußerst symbolträchtig. Das Bett ist der Ort der Geburt, der Liebe und des Todes. Die Verbindung von Leben und Tod wird auch in Waiting for Godot angesprochen, wenn von »giving birth astride of a grave« die Rede ist, wobei die Liebe nicht erwähnt wird. Der Text von He, Joe, von einer weiblichen Stimme gesprochen, handelt dagegen von der Liebe und vom Tod. Um die Tradition des Bettes als Bühnenobjekt, als Ort von Liebe und Tod zu betonen, sei der Verweis auf Eugene O’Neills Mourning Becomes Electra von 1931 gestattet. O’Neill verändert in seiner Trilogie – gelegentlich als seine amerikanische Tragödie bezeichnet – den Bezug zu seinem Prätext, der Orestie von Aeschylus. Während bei Aeschylus der Mord an dem unbewaffneten Agamemnon im Bad geschieht, vergiftet bei O’Neill Clytemnestra/Christine ihren Ehemann im Bett, da sie ihn, den aus dem Bürgerkrieg Heimgekehrten, nicht mehr liebt. Das Bühnenbild des vierten Aktes von Teil I The Homecoming wird so auch von einem riesigen four-poster bestimmt.16 Bei He, Joe könnte der Bühnenraum selbst mit seinen Fenstern, Türen und dem mit einem Vorhang verhüllten Wandschrank durchaus, ähnlich wie bei Endgame, »Kopftheater«, d.h. den Schädel von innen darstellen. Die Stimme in Joes Kopf wurde als Gewissen oder 16

Vgl. O’Neill, Eugene: Mourning Becomes Electra. A Trilogy, London: Jonathan Cape 1979, hier Part I Homecoming, Act IV, S. 98.

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Therese Fischer-Seidel Über-Ich, sogar als Great Mother oder Anima im Jung’schen archetypischen Sinne gedeutet. Es lässt sich fragen, ob es der Deutung der Stimme als Gewissen oder gar Über-Ich überhaupt bedarf, um zu erkennen, dass hier wieder ein Fall von »theatre of the mind«, nach außen im Bühnenraum gespiegelt, vorliegt.17 Jedenfalls ist das Bühnenobjekt Bett, ähnlich wie die weibliche Stimme, in seiner Assoziationsaura nicht explizit oder vereindeutigt. In keinem anderen Stück Becketts steht ein Bett wie dieses realistisch als Objekt im Zentrum der Bühne. Über Ghost Trio, das eine an die Wand gelehnte Pritsche als Requisit aufweist, wird noch zu sprechen sein. Stühle, auch der Roll- und der Schaukelstuhl und Tische sind die häufigeren Objekte. Türen und Fenster sind immer mit dem Raum verbunden. Aus dem Spiel mit den Vorhängen vor Fenster, Tür und Schrank lässt sich ein Element der dramatischen Ironie konstruieren, wenn es wirklich die Stimme als Sprache und als Repräsentant der Vergangenheit ist, die durch die stille Aktion ausgeschlossen werden soll. Denn letztlich bleibt die Stimme mit eingeschlossen – sei es auch nur im Kopf des Protagonisten. Im Unterschied zu Endgame ist der Spiel-Raum hier nicht nach hinten offen, sondern wird verschlossen. Der Zuschauer kann durch die Kameraführung in den imaginären Innenraum des Kopfes des Protagonisten schauen. Am Ende des Fernsehfilms passiert etwas Erstaunliches. Der Protagonist Joe durchbricht die vierte Wand, den Bildschirm, und blickt dem Fernsehzuschauer ins Gesicht. Der besondere filmische Trick ist, dass die neun Kamerabewegungen, die den Kopf Joes immer näher heranholen, mit der Stimme alternieren. Hier liegt eine Publikumsadresse vor, die viel subtiler ist als diejenige in Waiting for Godot, in der sich Wladimir und Estragon über das Publikum unterhalten: »charming evening, nice prospects«.

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Vgl. die Deutung der weiblichen Stimme bei Lamont, Rosette: »Lending an Ear to the Anima«, in: Linda Ben-Zvi (Hg.), Women in Beckett. Performance and critical perspective, Urbana/Chicago: University of Illinois Press 1990, S. 228-234. Der Begriff »mind drama« wird z. B. von John Pilling für Endgame benutzt. J. Pilling: Samuel Beckett (wie Anm. 13), S. 77.

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Raum und Objekt in He, Joe

Samuel Beckett: He, Joe, mit Deryk Mendel, Regie: Beckett Vier der neun Kamerabewegungen © Südwestrundfunk (SWR) Stuttgart Nur in der von Beckett selbst inszenierten Fassung, weder im Text, noch in der BBC Fassung, grinst Joe erkennend am Schluss. Ich habe in Stuttgart beim SWR Zuschauerbriefe an den Fernsehspielleiter Müller-Freienfels gesehen, in welchen Zuschauer nach der Erstausstrahlung fragten, ob es sich am Ende um ein erlöstes Lachen oder ein teuflisches Grinsen handle. Die Alternative stellt sich so nicht, sondern es geht eher um erkennendes Grinsen, das den Rollentausch durch das Durchbrechen des geschlossenen Raumes mit der Reflexion auf das Medium thematisiert. Der Zuschauer blickt nicht mehr in die Privatsphäre des Protagonisten, sondern wird selbst von der Figur beobachtet. Selbstreflexiv ist ein weiteres Fernsehspiel, allerdings in anderer Weise; es bezieht sich nicht nur auf das Medium, sondern auch auf sein früheres Werk Eh Joe. Ghost Trio wurde 1975 geschrieben und 1977 von der BBC mit Ronald Pickup und Billy Whitelaw in den Fernsehstudios in Ealing aufgenommen. Auch hier geht es um einen Mann in einem Raum und eine weibliche Stimme. Beckett war sehr unzufrieden mit den Arbeitsbedingungen in Ealing, die ihm so viel schlechter als die in Stuttgart beim SDR erschienen. Ihn ärgerten z.B. die Teepausen der Techniker. In Stuttgart fand er dagegen höchsten Respekt und Konzentration auf die Arbeit. Erst später konnte er das Stück noch einmal in Stuttgart

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Therese Fischer-Seidel mit Klaus Herm verfilmen.18 Ghost Trio, ursprünglich als Tryst konzipiert, zitiert nicht nur deutlich die Verwendung des Raums, sondern spricht auch den Bezug zu dem früheren Text aus – diesmal nicht mit einem Bett als Requisit, sondern mit einer an die Wand gelehnten Pritsche. Die Stimme richtet sich unmittelbar zu Beginn an den Zuschauer und beschreibt ihre eigene Stimmlage als faint und bittet, die Empfangsgeräte entsprechend einzustellen. Die Aufforderung an den Zuschauer, den Raum anzusehen, bezieht sich auf »the familiar chamber« (CW 408), das bekannte Zimmer, das Fenster an der rückwärtigen Wand und auf der rechten, auf die »indispensable«, die unentbehrliche Tür. Die Stimme gibt auch Anweisungen an die Beleuchtung, die den Raum dann sukzessive entstehen lässt. Im zweiten Teil des dreiteiligen Stückes dann die Bewegungen des sitzenden Mannes, der eine Kassette wohl als Aufnahme der vergangenen Zeit in der Hand hält und Krapp mit seinen Tonbandspulen aufruft. Die Kassette dürfte eine Videokassette sein.19 Die Figur verfährt mit dem Raum wie Joe in He, Joe. Ein Unterschied ist die Verwendung der Musik statt der mit der Aufnahme der männlichen Figur alternierenden weiblichen Stimme: Beethovens Largo aus dem dritten Klaviertrio, »der Geist« und auch die Öffnung des Raums durch die Tür auf der rechten Seite. Wie in Endgame taucht ein kleiner Junge auf, die Tür ist jedoch offen, er verschwindet aber im langen Korridor. Entrance und exit sind natürlich auch im kärgsten Bühnenbild die absoluten Notwendigkeiten, wie man z.B. aus den sonst nicht vorhandenen Bühnenanweisungen bei Shakespeare weiß. Dort erfordert es die Arenabühne ohne Vorhang, dass jeder Akt oder jede Szene mit dem berühmten exeunt all endet. Nacht und Träume schließlich, Becketts letztes Fernsehstück, 1982 geschrieben und 1983 für den SDR von ihm selbst inszeniert, passt als Schlusspunkt einer Tagung, die an den zwanzigsten Todestag Becketts erinnert, und dieses Beitrags. Ich habe dieses Stück sehr ausführlich in meinem Band Der Unbekannte Beckett. Samuel Beckett und die deutsche Kultur auch ikonographisch analysiert und ihn als einen Eigenepitaph in der irischen Tradition von Swift und Yeats beschrieben.20

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Vgl. die Abbildung von Beckett mit Klaus Herm in Knowlson, James: Samuel Beckett: eine Biographie, 1. Auflage, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, vor S. 681. Zu Becketts Plänen, einen Video-Film im Zusammenhang mit Ghost Trio zu drehen, vgl. Nixon, Mark: »Beckett’s Film Vidéo-Cassette projet«, Journal of Beckett Studies 181 (2009), S. 32-43, hier S. 33f. Vgl. Fischer-Seidel, Therese: »Samuel Becketts Abschied. Nacht und Träume und das deutsche Fernsehen«, in: Therese Fischer-Seidel/Marion Fries-

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Raum und Objekt in He, Joe Ich will mich deswegen nur auf die Verwendung des Raumes im Vergleich zu He, Joe und auf eine knappe Betrachtung der Objekte konzentrieren. Der Film Nacht und Träume ist selbst ein memento mori, und zwar ein sehr versöhnliches eines sonst oft zwar auch humorvollen, aber auch bitteren Autors, wie in He, Joe deutlich wird. Der Film, minimalistisch wie er ist, dauert mit Vor- und Abspann gerade einmal elf Minuten. Bereits der Vorspann zeigt die beiden zentralen Objekte, den Kelch und das Tuch. Beides erkennt man im Film schwer. Auch hier wäre es wieder verfehlt, die Objekte zu vereindeutigen und von sakralen Gegenständen zu reden wie dem Schweißtuch der Veronika, wie vom Kameramann Jim Lewis expliziert, oder auch vom Kelch Christi in der Ölbergszene.21 Veronika ist eine Volksetymologie für vera icon, nämlich der Abdruck auf dem Tuch, der das »wahre Bild« Christi darstellen soll. Wichtig bleibt die Mehrdeutigkeit der Objekte.

Samuel Beckett: Nacht und Träume, Vorspann © Südwestrundfunk (SWR) Stuttgart Der Spiel-Raum in Nacht und Träume unterscheidet sich insofern von Eh Joe und von Ghost Trio, als es sich jetzt nicht mehr um einen hermetisch verschlossenen Raum handelt, sondern um einen Raum, in den von hinten Licht eindringt, als »a kinder light«, ein freundlicheres Licht bezeichnet.

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Dieckmann (Hg.), Der unbekannte Beckett. Samuel Beckett und die deutsche Kultur, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, S. 319-335. Vgl. J. Knowlson: Damned to Fame: the life of Samuel Beckett (wie Anm. 3), S. 682.

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Therese Fischer-Seidel

Samuel Beckett: Nacht und Träume © Südwestrundfunk (SWR) Stuttgart Über das so entstehende »chiaroscuro«, das die Figur des Träumers in milderes Licht taucht, und seine eschatologischen und kunsthistorischen Anklänge soll jetzt nicht weiter gehandelt werden, dazu gibt es an anderer Stelle Ausführliches. Ein Letztes zum Spiel-Raum und zu den Objekten: Zusammen mit der getragenen Schubertmusik verändern sie die Grundstimmung ins Versöhnliche. Dem Betrachter, der diesen Film zum ersten Mal sieht, könnte der Gedanke kommen, dass Godot hier angekommen und die Erlösungssehnsucht hier Wirklichkeit geworden sei. Wenn man jedoch die drei Stücke He, Joe, Ghost Trio und Nacht und Träume als eine Reihe sieht, fällt auf, dass es sich um eine immer raffiniertere Verwendung des Spiel-Raums handelt. Am Ende, mit Nacht und Träume und durch die Öffnung des Off, wird der Eindruck des Klaustrophobischen, das frühe Dramen wie Endgame bewirken, aufgelöst.

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Trostobjekte im Werk Samuel Becketts HORST BREUER

I 1967 hielt Michel Foucault vor einer Gruppe von Architekten einen Vortrag mit dem Titel »Des espaces autres« (»Von anderen Räumen«). Das Skript blieb liegen und wurde nicht endgültig für den Druck überarbeitet. Nach dem Tod Foucaults 1984 wurde es veröffentlicht.1 Seitdem erwies sich dieser Beitrag als einer der Zentraltexte der aktuellen topologischen, raumkritischen Diskussion. Edward Soja bezieht sich insbesondere in seiner Monographie Thirdspace (1996) darauf und stellt Foucaults Überlegungen die grundlegenden raumtheoretischen Arbeiten von Henri Lefebvre und Homi Bhabha an die Seite.2 1

2

Foucault, Michel: »Von anderen Räumen«, übers. von Michael Bischoff, Nachdr. in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 317-329. Soja, Edward W.: Thirdspace: Journeys to Los Angeles and Other Real-andImagined Places, Oxford: Blackwell 1996, bes. S. 154-163; Lefebvre, Henri: The Production of Space, übers. von D. Nicholson-Smith, Oxford: Blackwell 1991; Bhabha, Homi K.: The Location of Culture, New York: Routledge 1994. Vgl. allgemein zur topologischen Forschung (»spatial turn«) folgende Überblicksdarstellungen und Sammelbände: Crang, Mike/Thrift, Nigel (Hg.): Thinking Space, London: Routledge 2000; Dünne, Jörg: »Forschungsüberblick ›Raumtheorie‹«. AG Raum – Körper – Medium. Ludwig-Maximilian-Universität München, Institut für Romanische Philologie. http:// www.raumtheorie.lmu.de/Forschungsbericht4.pdf (2004; Zugriff im Oktober 2009); Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006; Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hg.): Raumtheorie (wie Anm. 1); Schroer, Markus: Räume, Orte, Grenzen: Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006; Günzel, Stephan (Hg.): Topologie: Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld: transcript 2007; Döring, Jörg/Thielmann, Tristan (Hg.): Spatial Turn: Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld: transcript 2008; Csáky, Moritz/Leitgeb, Christoph (Hg.): Kommunikation –

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Horst Breuer Die »anderen Räume« des Titels nennt Foucault »Heterotopien«, in Analogie zu den ›Nicht-Räumen‹ der Utopien. Das Wort wurde rasch zum Schlüsselbegriff. Heterotopien sind unalltägliche, randständige Orte außerhalb der ›normalen‹ Gesellschaft (wenn auch innerhalb ihrer lokalisiert); es sind »Gegenorte« (Foucault), Ausnahmeorte, Illusionsorte, die die Hauptkultur zugleich repräsentieren und in Frage stellen. Als Beispiele führt Foucault zum einen Räume auf, in denen eine krisenhafte Wandlung vollzogen wird, etwa die Initiationshütte in Stammesgesellschaften oder in unseren Breiten das Hochzeitszimmer oder das Altersheim. Das sind die »Krisenheterotopien« (gr. krisis, Entscheidung). Und zweitens spricht er von »Abweichungsheterotopien«, Gegenorten der Devianz, wie z.B. dem Gefängnis oder der psychiatrischen Klinik. Exemplarischer ›Andersraum‹ ist für ihn das Schiff, der ortlose Ort, welcher fremde Personen zusammenwürfelt, feste Bezüge auflöst und die Zeit selbst suspendiert. Die so verstandene Heterotopie beschreibt Jörg Dünne prägnant als eine »En- bzw. Exklave, in der eine Gesellschaft ihr Anderes ein- bzw. ausschließt.«3

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Gedächtnis – Raum: Kulturwissenschaften nach dem ›spatial turn‹, Bielefeld: transcript 2009. Zu literatur- und kulturwissenschaftlichen Anwendungen vgl.: Bauer, Roger et al. (Hg.): Proceedings of the XIIth Congress of the International Comparative Literature Association, München 1988, Bd. 2 und 3, München: Iudicium 1990; Lange, Sigrid (Hg.): Raumkonstruktionen in der Moderne: Kultur – Literatur – Film, Bielefeld: Aisthesis Verlag 2001; Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit: Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München: Hanser 2003; Mein, Georg/Rieger-Ladich, Markus (Hg.): Soziale Räume und kulturelle Praktiken: Über den strategischen Gebrauch von Medien, Bielefeld: transcript 2004; Dolle, Verena/Helfrich, Uta (Hg): Zum ›spatial turn‹ in der Romanistik: Akten der Sektion 25 des XXX. Romanistentages, München: M. Meidenbauer 2009; Müller, Gesine/ Stemmler, Susanne (Hg.): Raum – Bewegung – Passage: Postkoloniale frankophone Literaturen, Tübingen: Narr 2009. Zu Edward W. Sojas Schriften siehe auch: Postmodern Geographies: The Reassertion of Space in Critical Social Theory, London: Verso 1989; und Ders.: Postmetropolis: Critical Studies of Cities and Regions, Oxford: Blackwell 2000. Zu dichterischen Bildräumen vgl. Bachelard, Gaston: Poetik des Raumes, München: Hanser 1960. Unter phänomenologischem Vorzeichen steht die literarkritische Studie von Elisabeth Bronfen: Der literarische Raum: Eine Untersuchung am Beispiel von Dorothy M. Richardsons Romanzyklus ›Pilgrimage‹, Tübingen: Niemeyer 1986. Einen strukturalistischen Überblick über die Raumgestaltung in der englischsprachigen Literatur gibt Gerhard Hoffmann: Raum, Situation, erzählte Wirklichkeit: Poetologische und historische Studien zum englischen und amerikanischen Roman, Stuttgart: Metzler 1978. J. Dünne: »Forschungsüberblick ›Raumtheorie‹« (wie Anm. 2), S. 6.

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Trostobjekte im Werk Samuel Becketts Das Konzept der Foucault’schen Heterotopie ist unsystematisch und vieldeutig; es ist eher ein anregungshafter Entwurf, kein fertiges Theoriegebäude. Es umfasst auch heilige Orte, das Theater, den Jahrmarkt, das Bordell, die Jesuitenreduktionen (Missionssiedlungen) in Paraguay, Museen und Bibliotheken, den Friedhof und die Sauna, den orientalischen Garten und das touristische Feriendorf. Andererseits macht die Vielgestaltigkeit dieser ›Andersräume‹ den Terminus auch attraktiv für die Literaturkritik, während sonst die topologischen Beiträge des »spatial turn« sich eher an Geographen und Stadtarchitekten wenden, an Kolonialgeschichtler und Besiedelungshistoriker. Den Heterotopien Foucaults kann man Homi Bhabhas Begriff der »Hybridität« an die Seite stellen. Gemeint sind bei Bhabha Orte des ›Dazwischen‹, zwischen den etablierten Räumen von Herren und Sklaven, Zentrum und Peripherie, von hegemonial und subaltern, Männern und Frauen, Angestammten und Neuankömmlingen. Diese ›Zwischenräume‹ sind auch solche der Flüchtigkeit und des Provisorischen, des Nomadenhaften und der Beziehungsauflösung: ›Transiträume‹ wie Hotels, Bahnhöfe, Straßen und Plätze, Hochhäuser und Einkaufszentren, »Niemandsorte« (Peter Sloterdijk) der Entwurzelung, der Deterritorialisierung, des Identitätsverlusts.4 ›Klassische‹ Orte stiften Zugehörigkeit, Geschichte und Identität, fremde Orte hingegen knüpfen kein gesellschaftliches Band. Hier sind wir Becketts umherirrenden Clochards schon sehr nahe, seinen sinnlos Wartenden, den leeren Zimmern und psychiatrischen Zellen, den Landstraßen und Bahnhöfen seines Werks.

II Die Beckett’schen Szenarien, die als Heterotopien beschrieben werden können, sollen jetzt kurz umrissen werden. Danach komme ich auf die Trostobjekte meines Titels zu sprechen, deren Funktion direkt mit der Trostlosigkeit und surrealen Alterität des BeckettKosmos zusammenhängt: eine Funktion der leeren Beschäftigung, 4

Vgl. Gerhard, Ute: »Literarische Transit-Räume: Ein Faszinosum und seine diskursive Konstellation im 20. Jahrhundert«, in: Sigrid Lange (Hg.), Raumkonstruktionen in der Moderne, Bielefeld: Aisthesis Verlag 2001, S. 93-110 und 326f., und Febel, Gisela: »Non-lieux und Heterotopien im französischen Gegenwartsroman und -film«, in: Gesine Müller/Susanne Stemmler (Hg.), Raum – Bewegung – Passage, Tübingen: Narr 2009, S. 183-94. Vgl. auch im erstgenannten Band die Artikel von Manuela Günter (»Tierische T/Räume: Zu Kafkas Heterotopien«, S. 49-73 und S. 323-325) und Annette Keck (»Poetik unsichtbarer Wände und fadenscheiniger Machwerke: Warten mit Feuchtwanger und Beckett«, S. 75-92 und S. 325-327).

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Horst Breuer der Perseveration, des halbherzigen Versuchs der Selbstvergewisserung. Becketts Räume sind stets fremd, kalt, bindungslos, ohne Heimatlichkeit, ohne Orientierung und stabiles Zentrum: eine Landstraße in Waiting for Godot, eine Sandwüste oder Steppe in Happy Days, eine jenseitige Grabes- und Urnenwelt in Play, Landstraße und Bahnhof in All That Fall und The End, eine kanalisationsähnliche Schlammwelt in How It Is.5 Oft sind die Spielorte klaustrophob, zellenförmig, käfighaft: das bunkerartige Verlies mit den viel zu hohen Fenstern in Endgame (»Bare interior. Grey light«), die Zellen in Murphy und Malone Dies, die Laborsituation in den Acts Without Words, die ›Container‹-Experimente in From an Abandoned Work oder The Lost Ones. Es gibt ortlose Vorgänge, häufig halluzinatorisch, manchmal folterähnlich (Eh Joe, Not I, Footfalls, That Time, Rough for Radio II, Catastrophe, Ill Seen Ill Said usw.). Vielfach sind die Räume vage und konturlos. Malone etwa: Er betont, dass er sich in keinem Heim befindet, aber in welcher Art von Zimmer (»a plain private room apparently«6) liegt er und erfindet Geschichten? Wenn Zimmer eine Rolle spielen, sind sie meist kahl und leer (Film, Malone Dies, The End, Nacht und Träume).7 Auch wenn die TextRäume sichere Rückzugsorte zu sein scheinen wie etwa das Zimmer der Titelfigur in Krapp’s Last Tape, so sehen wir doch keine bergenden Wände, sondern nur Lampe und Tisch. In dem Fernsehspiel Eh Joe lautet die Regieanweisung: »No need to record room as a whole«. Der Protagonist der Erzählung First Love, der bei einer Prostituierten Unterschlupf findet, räumt als erstes das Zimmer leer, das er bewohnen wird – als wolle er so seine Identitätslosigkeit, seine Bindungslosigkeit und Geschichtslosigkeit signalisieren. Becketts Raumgestaltung erscheint, insbesondere im Kontext der erwähnten ›Transiträume‹ und Heterotopien, als Signatur der Fremdheit und Kälte, der Erschöpfung und des Selbstverlusts. Seine Szenerien

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Titel und Zitate von Beckett-Werken werden einheitlich auf englisch gegeben. Zu Ausgaben vgl. Anm. 6. Becketts Werke werden nach folgenden Ausgaben zitiert: Complete Dramatic Works, London: Faber 1986; Watt, London: Calder and Boyars 1963; Molloy, Malone Dies, The Unnamable, London: Calder and Boyars 1959, Nachdr. 1966 (im Folgenden zitiert als Trilogy); The Complete Short Prose, 1929-1989, hg. von S. E. Gontarski, New York: Grove Press 1995. Obiges Zitat: S. Beckett: Trilogy, S. 183. Vgl. Les Essif, der beispielsweise Becketts Not I beschreibt als »the theatre of the empty mind« (Empty Figure on an Empty Stage: The Theatre of Samuel Beckett and his Generation, Bloomington, Ind.: Indiana UP 2001, S. 82).

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Trostobjekte im Werk Samuel Becketts sind »Enklaven« in unserer Wirklichkeit, die, wie bereits zitiert, dem Weltzustand sein impliziertes Anderes gegenüberstellen.8 Die Figuren, die diesen Kosmos bevölkern, reagieren ihrerseits auf die Andersartigkeit und Verstörung des Textraums. Mal sind Becketts Aktanten leer und teilnahmslos wie ihre umgebenden Orte, mal verdoppeln sie quasi deren Ausstrahlung von Vergeblichkeit durch sinnlose Rituale und stumpfe Beschäftigung. Eine dramatische Handlung oder erzählerische Fabel – im Sinne von Konflikt, Verwicklung und Lösung – kann sich so nicht einstellen. Nicht zufällig ist das Warten das Leitmotiv, das inzwischen jedermann mit dem Werk Becketts verbindet (Wandspruch in einer öffentlichen Toilette: »Bin gleich zurück. Godot«), das perspektivelose Warten ohne wirkliche Erwartung, das tatenlose Herumstehen, das fortwährende Reden oder Stimmenhören, die kreisförmige Wiederkehr, der öde Zeitvertreib. Requisiten gibt es in diesen Texten auch – aber dem Umfeld entsprechend sind die Dinge, welche die Figuren handhaben, Objekte der Ziellosigkeit, der Nicht-Identität, Repetition und Leere. Wir definieren uns über die Gegenstände unserer Umgebung;9 sie sind gewissermaßen die Verlängerung unseres Fühlens und Denkens, unseres Tuns und Lassens, unseres sozialen Orts. Wie echte Symbole sind sie empirisch und zeichenhaft, nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Wirklichkeit. Am charakteristischsten sind in Becketts Werk daher die Objekte, die der leeren Manipulation dienen. Dazu gehören auch die endlos wiederholten Rituale. Viele Figuren leben wie in einer Zeitschleife von Wiederholungen (Waiting for Godot, Play usw.); viele Betätigungen haben den Charakter bewegten Stillstands, etwa in Act Without Words II. Becketts Texte und Aktanten sind geprägt durch eine Obsession von »repetition and patterning«, wie ein Kritiker schreibt.10 Das Schritte-Zählen in Footfalls gehört ebenso zu dieser Form von ritualisiertem Leerlauf wie Krapps pedantische Tonband-Buchhalterei in Krapp’s Last Tape. Der Protagonist und Ich-Erzähler des ersten Teils von Molloy, dem Anfangstext der Romantrilogie, liebt es, Kieselsteine zu lutschen. Um bei dieser Beschäftigung die mitgeführten Steine exakt abzuwechseln, denkt sich Molloy verschiedene Verfahren aus, mittels derer er die Reihenfolge der Kiesel zu systematisieren sucht, so dass durch

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Vgl. J. Dünne: »Forschungsüberblick ›Raumtheorie‹« (wie Anm. 2), S. 6. Vgl. Ecker, Gisela/Scholz, Susanne (Hg.): UmOrdnungen der Dinge, Königstein im Taunus: Ulrike Helmer 2000, S. 10. Vgl. hierzu auch: Ecker, Gisela et al. (Hg.): Dinge – Medien der Aneignung, Grenzen der Verfügung, Königstein im Taunus: Ulrike Helmer 2002. Vgl. Baker, Phil: Beckett and the Mythology of Psychoanalysis, Basingstoke: Macmillan 1997, S. 134.

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Horst Breuer Verteilung der sechzehn Steine auf seine Manteltaschen keiner beim Gebrauch gedoppelt oder ausgelassen wird.11 Solche wiederholungsreichen Geschehnismuster finden sich in nahezu allen Beckett-Werken. Bis in die sprachliche Form hinein sind einige Texte rituell-anankastisch strukturiert. In Watt beispielsweise quaken auch noch die Frösche in mathematisch exakten Intervallen.12 Immer wieder gibt es in diesem Text Wort- und Satzkohorten in litaneihafter Permutation, und die Titelfigur nimmt bei ihren Äußerungen diverse Wort- und Lautumstellungen vor, etwa im Sinne von Palindromen (die wiederum für Deutsche bisweilen ganz vertraut klingen, etwa wenn aus dem »dark bulk« ein »krad klub« wird13).14 Wiederholt finden sich in dem Werk umfangreiche Kataloge rechnerisch durchgespielter Möglichkeitskombinationen, die an die Stelle von zeitlich und räumlich geordneter Wirklichkeitsschilderung treten.15 Die Schachpartie in Murphy folgt ebenfalls einem derartigen ›verrückten‹ Muster, das die üblichen Spielregeln auf den Kopf stellt, jedoch keineswegs ohne gesetzhafte Struktur ist. Becketts Text-Räume sind alles andere als formlos – aber sie sind ›nicht-euklidisch‹ im Sinne der dort wirksamen bizarren Ordnungsprinzipien und Zwänge.

III Einige der Gegenstände, die in Becketts Werken ›figurnah‹ auftauchen, können mit Hilfe der psychoanalytischen Theorie von den Übergangsobjekten näher beschrieben werden. Dieser Begriff wurde durch den britischen Psychoanalytiker Donald Winnicott eingeführt und entwickelt.16 Als Übergangsobjekte werden Gegenstände be11

Vgl. S. Beckett: Trilogy (wie Anm. 6), S. 69-74.

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Vgl. ders.: Watt (wie Anm. 6), S. 135-137. Ebd., S. 136. Mitte des 19. Jahrhunderts war diese Form der Lautumstellung eine beliebte Form des Londoner cant; vgl. Schlauch, Margaret: The English Language in Modern Times (since 1400), Warszawa: PaĔstwowe Wydawnictwo Naukowe 1959, S. 151. Krad = Motorrad (militärische Abkürzung, abgeleitet von ›Kraftrad‹). Vgl. Breuer, Horst: Samuel Beckett: Lernpsychologie und leibliche Determination, München: W. Fink 1972, S. 51, 154 und 158. Eine Neuformulierung des in dieser Studie behandelten lernpsychologischen Aspekts findet sich in: Breuer, Horst: »Samuel Beckett and experimental psychology«, English Studies 87 (2006), S. 303-318. Winnicott, Donald W.: Vom Spiel zur Kreativität, Stuttgart: Klett-Cotta 1979; darin: »Übergangsobjekte und Übergangsphänomene« (engl. 1953), S. 10-36. Vgl. hierzu etwa: Fornari, Franco: Psychoanalyse des ersten

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Trostobjekte im Werk Samuel Becketts zeichnet, mit denen das Kleinkind sich im ersten Lebensjahr tröstet, wenn es die Mutter vermisst oder beim Einschlafen Ängste abwehren muss. Das berühmte ›Schmusetuch‹ (security blanket) ist ein solcher Gegenstand (letztlich ein Ersatzobjekt für die Mutterbrust). »Übergang« meint sowohl den intermediären Bereich zwischen Innen und Außen, zwischen Ich und Nicht-Ich, subjektivem Selbst und objektiver Wirklichkeit, als auch die Entwicklungsphase der schrittweisen Lösung des Kindes aus der symbiotisch engen Mutterbeziehung. Übergangsobjekte stehen gewissermaßen zwischen Daumenlutschen und Teddybär: der Daumen gehört zum Selbst, der Bär oder die Puppe stehen für eine Person und verweisen damit bereits auf eine reifere Beziehungsform. Im erweiterten Sinne spricht Winnicott auch von »Übergangsphänomenen«, wenn noch andere Verhaltensweisen der oralen Selbstbeschwichtigung gemeint sind, etwa Lautäußerungen wie Lallen, Murmeln, Sich-in-den-Schlaf-Singen u.ä. Mit diesen Handlungen vermag das Baby sich gewissermaßen ›Gesellschaft herbeizuzaubern‹ und so die »Fähigkeit zum Alleinsein« (ein Leitbegriff Winnicotts) vorzubereiten. Illusionsfördernd ist nicht zuletzt, dass das Kind Kontrolle über das Übergangsobjekt ausübt, also nicht auf den Zuspruch der tröstenden Mutter angewiesen ist, sondern sich den Trost je nach Bedürfnis selbst verschaffen kann. Winnicott verfolgt das Konzept der Übergangsobjekte bis hin zum Erwachsenenleben; im weiteren Verständnis sind auch für die reife Person alle subjektiv wichtigen, phantasiebezogenen Phänomene »Übergangsobjekte«, insofern sie zwischen innerer und äußerer Realität stehen und tendenziell illusionären Charakter haben, ohne jedoch in Frage gestellt zu werden – Spiel, Vorstellungskraft, Kreativität, Kunst, Religion, also kulturelle Gegenstände und imaginatives Leben im Allgemeinen. Gabriele Schwab hat Becketts Werke nach ihrem in diesem Sinne ›übergangsphänomenologischen‹ Charakter erörtert.17 Ich möchte mich im Folgenden etwas handfester mit den konkreten Requisiten des Beckett’schen Œuvres befassen. Da die Figuren der Texte keine Kleinkinder, sondern Erwachsene vorstellen, bediene ich mich lieber des Begriffs Trostobjekte (oder

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Lebensjahres, Frankfurt am Main: Fischer 1970; Laplanche, Jean/Pontalis, J.-B.: Das Vokabular der Psychoanalyse, 2 Bde., Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, Bd. 2, S. 548f.; Rudnytsky, Peter L.: The Psychoanalytic Vocation: Rank, Winnicott, and the Legacy of Freud, New Haven, Conn.: Yale UP 1991; Mertens, Wolfgang: Psychoanalytische Grundbegriffe: Ein Kompendium, Weinheim: Beltz, 21998. Schwab, Gabriele: Entgrenzungen und Entgrenzungsmythen: Zur Subjektivität im modernen Roman, Stuttgart: Franz Steiner 1987; Dies.: Subjects without Selves: Transitional Texts in Modern Fiction, Cambridge, Mass.: Harvard UP 1994.

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Horst Breuer noch allgemeiner Beschwichtigungsobjekte oder Beschäftigungsobjekte). Mit den kindlichen Übergangsobjekten teilen diese Gegenstände jedoch einige wesentliche Eigenschaften: Sie haben große persönliche Bedeutung für die Figuren, ohne eigentlich von Wert zu sein; sie haben ablenkenden oder der Intention nach tröstenden Charakter; sie sind ›Ersatz‹ für ein volleres, reicheres Leben; und sie sind mit ritualisierten Handlungen verbunden, die beim Zuschauer oder Leser den Eindruck erwecken, als gelte dieses Agieren der Abwehr oder Bewältigung von innerer Unsicherheit oder Angst. Lassen Sie mich an dieser Stelle einfügen, dass der ältere Beckett der Psychoanalyse reserviert gegenüberstand, insbesondere den Versuchen, die düsteren Aspekte seines Werks zu seiner Mutterbeziehung oder einer angeblich unglücklichen Kindheit in Verbindung zu setzen.18 Als junger Mann interessierte Beckett sich jedoch intensiv für viele Bereiche der Disziplinen Psychologie und Psychiatrie. Durch einen Freund hatte er 1935 Zugang zu der psychiatrischen Klinik Bethlem Royal Hospital in Beckenham, Bromley, im Süden Londons, eine Erfahrung, die in dem Roman Murphy (1938) verarbeitet wird.19 Und bekanntlich machte Beckett 1934-1935 eine Psychotherapie bei Wilfred Bion, der damals zum Ärzte-Team der Tavistock Clinic (im Londoner Stadtteil Bloomsbury) gehörte und sich in psychoanalytischer Ausbildung befand. Bion, neun Jahre älter als Beckett, wurde später ein sehr namhafter und einflussreicher Psychoanalytiker, insbesondere durch seine Arbeiten zur Schizophrenieforschung. Becketts Therapie war keine orthodoxe Psychoanalyse, wie man oft lesen kann, denn Bions Ausbildung war 18

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Vgl. Becketts oft zitierte Bemerkung zu Tom Driver über vulgärpsychologische Deutungen des Pessimismus seiner Werke: »At a party an English intellectual – so called – asked me why I write always about distress. As if it were perverse to do! He wanted to know if my father had beaten me or my mother had run away from home to give me an unhappy childhood. I told him no, that I had had a very happy childhood. Then he thought me more perverse than ever. I left the party as soon as possible.« Driver, Tom F.: »Beckett by the Madeleine«, Columbia University Forum 4 (Sommer 1961), S. 21-25, Nachdr. in: Lawrence Graver/Raymond Federman (Hg.), Samuel Beckett: The Critical Heritage, London: Routledge and Kegan Paul 1979, S. 217-23, hier S. 221. (Becketts Subtext: Der arrogante Engländer hält Iren natürlich für asozial...) Zu diesem Thema teilt Lawrence Harvey eine vorsichtigere Äußerung Becketts mit: »You might say I had a happy childhood [...] although I had little talent for happiness. My parents did everything that could make a child happy. But I was often lonely.« (Harvey, Lawrence: Samuel Beckett: Poet and Critic, Princeton, N.J.: Princeton UP 1970, S. 154). Das alte »Bedlam« befand sich nördlich der City, zunächst in Bishopsgate, dann in Moorfields. Im 19. Jahrhundert erfolgte ein Umzug nach Southwark, 1930 die Verlegung nach Beckenham.

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Trostobjekte im Werk Samuel Becketts noch nicht abgeschlossen und sein Lehranalytiker J. A. Hadfield befürwortete eine modifizierte Form der Psychoanalyse (»direct reductive analysis«). Aber die Behandlung scheint Beckett in einer akuten Krise nach dem Tod des Vaters – Symptome waren u.a. Panikängste, Herzrasen und Schlafstörungen – durchaus geholfen zu haben. Bion selbst sagte sehr viel später einmal zu seiner (zweiten) Frau Francesca über die Therapiesitzungen mit dem inzwischen weltberühmten Autor: »I don’t think I did him much good, but I probably didn’t do him much harm either.«20 Beide Beteiligten, Bion wie Beckett, haben sich in ihren autobiographischen Aufzeichnungen über die damaligen Zusammentreffen nicht geäußert. Mutmaßungen über einen etwaigen Einfluss des einen auf Denken und Œuvre des anderen sind also spekulativ. Insbesondere Bennett Simon und Didier Anzieu sind in diesem Zusammenhang zu nennen, die das Verhältnis Bions und Becketts im Sinne einer »Zwillingsphantasie« deuten.21 Beckett, dem Anzieu

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Zitiert in: Oppenheim, Lois: »A preoccupation with object-representation: The Beckett-Bion case revisited«, The International Journal of Psychoanalysis 82 (2001), S. 767-784, hier S. 769 Anm. 2 – Zum Themenbereich ›Beckett und Psychoanalyse/Psychiatrie‹ siehe etwa: Woodward, Kathleen: »Transitional objects and the isolate: Samuel Beckett’s Malone Dies«, Contemporary Literature 26: 2 (1985), S. 140-154; Watson, David: Paradox and Desire in Samuel Beckett’s Fiction, New York: St. Martin’s Press 1991; Rabaté, Jean-Michel (Hg.): Samuel Beckett: intertextualités et psychanalyse, Dijon: Université de Bourgogne 1992; Houppermans, Sjef (Hg.): Beckett & la psychanalyse/& Psychoanalysis (Sondernummer von Samuel Beckett Today/Aujourd’hui, 5 [1996]); O’Hara, James D.: Samuel Beckett’s Hidden Drives: Structural Uses of Depth Psychology, Gainesville, Florida: UP of Florida 1997; P. Baker: Beckett and the Mythology of Psychoanalysis (wie Anm. 10); Connor, Steven: »Beckett and Bion«. Birkbeck, University of London. http://www.bbk.ac.uk/english/skc/beckbion (1998; Zugriff im September 2009); Moorjani, Angela: »Beckett and psychoanalysis«, in: Lois Oppenheim (Hg.), Palgrave Advances in Samuel Beckett Studies, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2004, S. 172-193; Barry, Elizabeth: »Samuel Beckett and mental disorder«. University of the West of England, Philosophy at UWE. http:// www.uwe.ac.uk/hlss/courses/philosophy/ahrc_child_network/e_barry.pdf (2009; Zugriff im Januar 2010). Zur Biographie Becketts vgl. Knowlson, James: Damned to Fame: The Life of Samuel Beckett, London: Bloomsbury 1996, bes. Kap. 8 und 9. Die Darstellung von Deirdre Bair (Samuel Beckett: A Biography, New York: Harcourt, Brace, Jovanovich 1978) ist gut lesbar, aber nicht immer zuverlässig in ihren Akzentsetzungen. In seinen Briefen nimmt Beckett wiederholt Bezug auf seine Therapie bei Bion; vgl. Beckett, Samuel: Letters, vol. I, hg. von Martha D. Fehsenfeld und Lois M. Overbeck, Cambridge: Cambridge UP 2009, S. 182f., 242, 253, 259, 277, 282, 299f. Simon, Bennett: »The imaginary twins: the case of Beckett and Bion«, International Review of Psychoanalysis 15 (1988), S. 331-352; Anzieu,

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Horst Breuer seine Mutmaßungen 1984 zu lesen gab, nannte diese kopfschüttelnd »a psychoanalyst’s phantasms!«22 Trotz der Skepsis des Autors gegenüber deutungsfreudigen Kritikern ist es dennoch sicherlich statthaft, bestimmte literarische Elemente seiner Texte durch Bezugnahme zu vergleichbaren geisteswissenschaftlichen (im vorliegenden Fall: psychoanalytischen) Konzepten genauer in den Blick zu nehmen – in Form einer herkömmlichen literarkritischen MotivUntersuchung, ohne Rekurs auf biographische Spekulationen.

IV Einem Übergangsphänomen am nächsten kommt sicherlich das erwähnte Kieselsteinlutschen in Molloy. Der Ich-Erzähler des ersten Teils von Molloy erwähnt mehrfach die Steine, die er in seinen Manteltaschen herumträgt. Einen davon im Mund zu halten, beruhigt und besänftigt ihn: »A little pebble in your mouth, round and smooth, appeases, soothes, makes you forget your hunger, forget your thirst.«23 Trostobjekte spielen auch eine zentrale Rolle in Malone Dies, dem zweiten Roman der Trilogie. Malone, der gehunfähige, bettlägerige Erzähler dieses Texts, sagt von sich: »I love to suck.«24 Er verfügt über einige Habseligkeiten, die er liebevoll in einer Zimmerecke hortet und vom Bett aus mit einem Stock hinund herbewegt. Unter diesen wiederholt erwähnten Objekten (»my possessions«25) befindet sich, neben Mantelknöpfen und dem Deckel einer Fahrradklingel, auch ein Bleistift, an dem er beim Schreiben zu lutschen pflegt.26 Seine Besitztümer würde er auch gern mit sich ins Bett nehmen: »But for the company of these little objects [...] which sometimes gave me the impression that they too needed me, I might have been reduced to the society of nice people or to the consolations of some religion or other«27, eine gesellige Zuflucht, die er selbstverständlich verabscheut. Die Dinge haben fast den Charakter von Fetischobjekten: »I loved to finger and caress the hard shapely objects«; »I loved to fall asleep holding in my hand a

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Didier: Beckett et le psychanalyste, o.O.: Mentha 1992; Ders.: Beckett, Paris: Gallimard 1998. P. Baker: Beckett and the Mythology of Psychoanalysis (wie Anm. 10), S. 9. S. Connor spricht von Becketts »aggressive break with psychoanalysis« (S. Connor: »Beckett and Bion« (wie Anm. 20), S. 7). S. Beckett: Trilogy (wie Anm. 6), S. 26. Ebd., S. 223. Ebd., S. 181 u.ö. Ebd., S. 223. Ebd., S. 248f.

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Trostobjekte im Werk Samuel Becketts stone, a horse chestnut or a cone«28.29 Auch in der Erzählung First Love nimmt der Protagonist einen Gegenstand mit sich ins Bett und hält ihn beim Einschlafen in der Hand: eine Stielpfanne (»I drew this utensil down under the blanket, I like something in my hand when sleeping, it reassures me«30). Malone bezeichnet seine Schätze als »my things, [...] these objects, with which I have lulled myself till now.«31 Den Kissenzipfel nimmt er ebenfalls in den Mund und saugt daran: »I part my lips, now I have the pillow in my mouth. I have, I have. I suck. The search for myself is ended.«32 Am wichtigsten sind ihm Bleistift und Schreibheft, mittels derer er seine Geschichten notiert – ein Spiel, wie er es ausdrücklich nennt,33 ein Erfinden zum Zeitvertreib (»live and invent«34). Der Namenlose im dritten Teil der Trilogie bestätigt diese Funktion des Erzählens: »...telling myself even any old thing, to pass the time...«,35 »all these stories about travellers, these stories about paralytics, all are mine«.36 Hier bestätigt sich Winnicotts Gedanke, dass die Übergangsobjekte des Kleinkindes sich fortsetzen in den kreativen Betätigungen des Erwachsenen. Viele BeckettFiguren sind Geschichten-Erfinder dieser Art: nicht nur Pozzo und Hamm, sondern etwa auch Winnie in Happy Days. Unter Becketts Theaterstücken ist Happy Days wohl der Text, in dem die ›Habseligkeiten‹ der Hauptfigur die größte Rolle spielen. Winnie, bis zur Taille, später bis zum Hals bewegungsunfähig, vertreibt sich die Zeit durch Reden, aber auch durch Hantieren mit den Objekten, die sie der mitgeführten großen schwarzen Tasche entnimmt – mehr eine Einkaufstasche als eine Handtasche.37 Es finden sich: Zahnbürste und Zahnpasta, Taschenspiegel, Brille und Brillenetui, Vergrößerungsglas, Lippenstift, Haarbürste, Nagelfeile,

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Ebd., S. 249. Zu Becketts jugendlichem Interesse an Steinen vgl. J. Knowlson: Damned to Fame (wie Anm. 20), S. 29. Eine der »Stellvertreter-Figuren« Malones (»viceexister«, S. Beckett: Trilogy (wie Anm. 6), S. 317), Macmann, hat in ihren Manteltaschen neben anderen Dingen auch ein silbernes Messerbänkchen: das Objekt, welches Molloy im ersten Teil der Trilogie bei Lousse entwendet hat (ebd., S. 259; vgl. 63). S. Beckett: The Complete Short Prose (wie Anm. 6), S. 41. Ders.: Trilogy (wie Anm. 6), S. 196. Ebd., S. 199. Ebd., S. 180f. Ebd., S. 191. Ebd., S. 393. Ebd., S. 416. Zum kulturellen Aspekt der weiblichen Handtasche vgl. auch Windt, Karin: »Handtaschen. Einblicke«, in: Gisela Ecker/Susanne Scholz (Hg.), UmOrdnun-

gen der Dinge, Königstein im Taunus: Ulrike Helmer 2000, S. 347-365.

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Horst Breuer nicht zuletzt auch ein Revolver. Des Weiteren agiert Winnie mit Sonnenschirm, Taschentuch, Medizinfläschchen, Hütchen und Spieldose. All das sucht sie hervor oder breitet es aus, zum Zeitvertreib, insbesondere dann, wenn es nichts mehr zu sagen gibt: »Words fail, there are times when even they fail. [...] What is one to do then, until they come again? [...] There is of course the bag [...]. Could I enumerate its contents? [...] Let it help you... along when stuck, by all means.«38 Ihr Taschenspiegel leistet ihr gewissermaßen Gesellschaft, wenn ihr Mann Willie nicht ansprechbar ist: »It will be in the bag again tomorrow, [...] to help me through the day.«39 Winnies Fazit im zweiten Akt: »Ah yes, things have their life.«40 Die tröstende Funktion all dieser Gegenstände ist allerdings begrenzt: der Sonnenschirm verbrennt, der Spiegel zerbricht. Auch die mit solchen persönlichen Dingen verbundenen Rituale dienen dem Streben nach Verlässlichkeit. Wie die Besänftigungsobjekte selbst soll das vielfach wiederholte Zeremoniell ihrer Handhabung Gefühle von Frustration und Angst eingrenzen, allerdings um den Preis des Leerlaufs und der inneren Starre. Am Ende des Stücks kriecht Winnies Mann in vergeblicher Anstrengung den Hügel empor, zu dem Revolver, der allem ein Ende machen könnte. In den meisten Texten Becketts gibt es Gegenstände, die als Trostobjekte oder jedenfalls als Beschäftigungs- und Beschwichtigungsobjekte fungieren, die einen gewissen Halt versprechen41 in einer kargen, ziellosen, unwirklichen Welt: Clov hat seine Leiter, Estragon seinen Schuh, die Romanfiguren haben ihre Krücken und Fahrräder, Krapp hat seine Tonbänder und Bananen. Krapp ist sicherlich Becketts autobiographischste Figur. Dementsprechend hören wir, wie er im Off hinter der Bühne seiner Schnapsflasche zuspricht, dem entscheidenden Trostobjekt vieler Iren (und nicht nur Iren). Das Bananenlutschen wiederum steht für Sex, für eine einsame Selbstbefriedigung. Das seltsamste Trostobjekt in Becketts Stücken ist ein kleiner Hartgummiball, den zwei Figuren mit sich herumtragen und befühlen: Krapp in Krapp’s Last Tape und Dan Rooney in All That Fall. Auf die Nachfrage seiner Frau, was es damit auf sich habe, erklärt Dan heftig: »It is a thing I carry about with me.«42 Es ist offenbar ein Gegenstand, den festzuhalten die Nerven beruhigt. In gleicher Weise hält Krapp ein solches Objekt in der Hand, als seine Mutter 38 S. Beckett: Complete Dramatic Works (wie Anm. 6), S. 147-151. 39 40 41

Ebd., S. 154. Ebd., S. 162. Vgl. Dreysse, Ursula: Realität als Aufgabe: Eine Untersuchung über Aufbaugesetze und Gehalte des Romanwerks von Samuel Beckett, Bad Homburg: Gehlen 1968, S. 148.

42 S. Beckett: Complete Dramatic Works (wie Anm. 6), S. 198.

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Trostobjekte im Werk Samuel Becketts verstirbt. Er sitzt vor dem Sterbehaus der Mutter auf einer Bank und sieht, wie dort der Rolladen heruntergelassen wird, das Zeichen der Verdunklung des Totenzimmers: »I was there when [...] the blind went down, one of those dirty brown roller affairs, throwing a ball for a little white dog as chance would have it. [...] I sat on for a few moments with the ball in my hand and the dog yelping and pawing at me. [...] In the end I held it out to him and he took it in his mouth, gently, gently. A small, old, black, hard, solid rubber ball. [...] I shall feel it, in my hand, until my dying day.«43

Für beide, Mensch wie Hund, ist die kleine massive Gummikugel ein Trostobjekt, für Krapp vielleicht auch ein Übergangsobjekt, das den Übergang zur gänzlichen Vereinsamung, zum letzten Verstummen markiert: »Finish your booze now and get to your bed«44, so blafft er sich im Selbstgespräch an und bricht die begonnene Bandaufnahme ab: »Nothing to say, not a squeak.«45

V »Our revels now are ended«, heißt es in Endgame als zynischresigniertes Shakespeare-Zitat.46 Der das sagt, Hamm, entledigt sich wenig später seiner letzten Status-Attribute, wirft Bootshaken und Trillerpfeife von sich und bedeckt als Zeichen des endgültigen Schweigens sein Gesicht mit einem blutigen Taschentuch: dem abschließenden Übergangsobjekt, das gleichermaßen den Theatervorhang und das Leichentuch symbolisiert. So wird allenthalben in Becketts Werk deutlich, wie sehr die fremden, einengenden Räume der Texte und die sinnlosen Beschäftigungen der Figuren und ihr repetitives Spiel mit Dingen sich entsprechen. Sie sind Indikatoren der Angst ebenso wie ihrer Unterdrückung, Zeichen einer umfassenden Vergeblichkeit und Verstörung, der Ziellosigkeit und des Scheiterns, des fundamentalen Verlusts von Urvertrauen und Selbstkohärenz. Abschließend sei noch erwähnt, dass es noch eine ganz andere Kategorie von Objekten in Becketts Œuvre gibt: die Verfolgungsobjekte. Gemeint sind die quälenden, manipulativen Instrumente, welche die Figuren zum Reden oder Agieren zwingen: der Scheinwerfer in Play, die Klingel in Happy Days, der fahrbare Stachel in Act Without Words II, der Büchsenöffner in How It Is, die Trillerpfeife 43 44 45 46

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S.

220. 223. 222. 120.

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Horst Breuer eines unsichtbaren ›Versuchsleiters‹ in Act Without Words I. Dies sind dinghafte Instanzen, denen die Figuren ausgeliefert sind, über die sie keine Kontrolle haben. Ganz anders verhält es sich mit den Winnicott’schen Übergangsobjekten, über welche der Säugling erstmals in seinem Leben selbständig verfügen kann. Bei Beckett allerdings ist auch das Handhaben solcher Gegenstände nur eine vergebliche Bemühung: das leere Hantieren mit Ersatzobjekten, die nur vorläufig und oberflächlich zu beschwichtigen vermögen. Die Trostlosigkeit, die in Becketts fiktionalen Heterotopien herrscht, wird so nur umso deutlicher fühlbar.

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»Ma région« Bewegung und Raumerfahrung in Becketts Molloy JAN-HENRIK WITTHAUS

›Deambulatorische‹ Erzählprosa Im literarhistorischen Sinne kann man Samuel Becketts Molloy als einen ›deambulatorischen‹ Text bezeichnen.1 So wird man mit Friedrich Wolfzettel davon sprechen können, dass mit Molloy eine »›konservative Dekonstruktion‹ der üblichen, teleologisch konzipierten Romanmodelle und zugleich […] die weitgehende Ersetzung von Handlung durch Reflexion bzw. Autoreflexion«2 vorliegt. Dies liegt vor allem daran, dass der Gang der Begebenheiten nur schwer in eine chronologische Ordnung zu überführen ist, bspw. nicht zu 1

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Vgl. Wolfzettel, Friedrich: »Der ›deambulatorische‹ Roman. Überlegungen zu einer spezifischen Modernität des Romans im Fin de Siècle«, in: Rainer Warning/Winfried Wehle (Hg.), Fin de Siècle, Romanistisches Kolloquium 10, München: Fink 2002, S. 429-488. Die Bezeichnung verdankt sich der im Fin de Siècle verbreiteten Figur des Flaneurs, der sprunghaft, beschreibend und reflektierend einen zumeist zufälligen Parcours abläuft, ohne dass eine zusammenhängende Handlung daraus hervorgehen könnte. Dennoch koppelt die Bezeichnung ›deambulatorisch‹ diesen Romantypen nicht ausschließlich an die literarische Décadence. Vielmehr habe es immer wieder in der Literaturgeschichte der Neuzeit Krisen des Romans gegeben, die solcherart verfasste Texte hervorgerufen hätten (vgl. ebd., S. 434). Die Romanentwicklung des 20. Jahrhunderts wird nicht weiter verfolgt, zu Molloy heißt es immerhin kurz, dass es sich dabei in der skizzierten Tradition der ›Deambulatorik‹ um eine »ironisierende Persiflage der surrealistischen Suche nach dem Konkreten« (ebd., S. 440) handele. Wolfzettel, Friedrich: »Don Quijote: Ein deambulatorischer Roman?«, in: Christoph Strosetzki (Hg.), Miguel de Cervantes’ Don Quijote. Explizite und implizite Diskurse im Don Quijote, Berlin: Schmidt 2005, S. 161-176, hier S. 174. Für Wolfzettel wäre der Don Quijote Symptom einer frühen Krisenzeit des Romans.

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Jan-Henrik Witthaus sagen ist, wie, wann und unter welchen Umständen Molloys Überführung in das Zimmer der Mutter stattgefunden haben soll. Die narrative Instanz ist im besten Sinne der Erzähltheorie eine unzuverlässige, sie nährt sich aus einem nicht zurechnungsfähigen Gedächtnis,3 welches permanent diese Nichtzurechnungsfähigkeit zum Thema des eigenen Schreibens wählt – eine Unmöglichkeit, die wohl nur moderne Literatur zustande bringt. Molloy ist ein ›deambulatorischer‹ Text, weil er an die Stelle der Handlung die aventure von Gedächtnis und Erzählen setzt. Von der aventure der Erzählung, die auf der discours-Ebene zu thematisieren ist, gibt es streng genommen keinen Rückweg zur histoire. Hält der Leser dennoch Ausschau nach Inhalten, so wird er fündig in den Themen ›Bewegung‹ und ›Raum‹. Insofern der Text die Ortsveränderung der Protagonisten innerhalb eines vorgegebenen Raumes darstellt, mag man ihn als ›ambulatorisch‹ bezeichnen. Eine »Ambulanz« – so verrät der Text4 – habe die erzählende Instanz möglicherweise zum Zimmer der Mutter befördert. Insofern Molloy jedoch die Grundelemente einer ›lebensweltlichen‹ Bewegung im Raum dekonstruiert, wird man noch in einem weiteren Sinn von einem ›deambulatorischen Text‹ zu sprechen haben. Alle Komponenten spatialer Fortbewegung – Ausgangspunkt, Ziel, Motivation, Orientierung und Gedächtnis – bleiben problematisch. So wird man sich zumindest darüber streiten können, ob der ›erzählten Bewegung‹ des ersten Teils ein Ziel innewohnt, das Zimmer der Mutter, der abgeschlossene Raum, in dem die Verschriftlichung erfolgt, eben weil Motivation und der Weg dorthin im Unklaren bleiben. So ist gegen Ende seiner Niederschrift die Rede von »Imperativen«5, welche den Protagonisten dazu anhalten, Ortsveränderungen vorzunehmen, und von dem Vorhaben getragen werden, »die Beziehung zu meiner Mutter«6 zu klären, was in dieser enigmatischen Kürze verbleibt. Movens und Moment, Intention und

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4

5 6

Vgl. Risthaus, Peter: »Ohne Gedächtnis – Zerstreuung von Fall zu Fall«, in: ders. (Hg.), Par cœur. Einige Lehren Samuel Becketts, Bochum: Post 2006, S. 69-84. Zitiert wird in der Folge aus der Ausgabe: Beckett, Samuel: Molloy, Deutsch von Erich Franzen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975, hier S. 7. Für das vorliegende Thema erweist sich die Übersetzung als grundsätzlich problematisch, weil der deutsche Text »région« durchgängig mit »Gegend« (z.B. S. 76) übersetzt, was allerdings andere Konnotationen hervorruft (vgl. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Gesamtausgabe Abt. I, Bd. 2, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main: Klostermann 1977, S. 137). Daher wird bei längeren Zitaten in den Fußnoten auf den französischen Text verwiesen: Beckett, Samuel: Molloy, Paris: Minuit 1970. S. Beckett: Molloy (wie Anm. 4), dt. S. 101. Ebd.

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»Ma région« – Bewegung und Raumerfahrung in Becketts Molloy Ausrichtung sind diskontinuierlich, einem prekären Gedächtnis anheim gegeben. Der Weg, in dem sich Bewegung chronotopisch verdichtet, hat im Ereignishorizont von Molloy keinerlei Ausdehnung. Der Text thematisiert quasi experimentell Bewegung als Entwegung und erlangt darin seine philosophische »Entwicklungsfähigkeit«.7 Ein Beitrag zur Raumthematik in Molloy wird daher zunächst von seinem ›deambulatorischen‹ Charakter ausgehen, von der diskontinuierlichen Bewegung, die den Raum unzuverlässig und immer nur provisorisch konstituiert, nämlich als minimalen Ereignishorizont von Begebenheiten, den der Protagonist wiederholt als ›seine Region‹ bezeichnet und der sich aus verschiedenen Bestandteilen zusammensetzt: aus Stadt – der Ortschaft, in welcher sich das Haus der Lousse und vermutlich auch die Unterkunft der Mutter befindet; aus Meer und Strand – an dem die Zirkulation der Taschenkiesel in Gang gebracht wird; aus Wald – in dem Molloy dem Köhler zu Leibe rückt; aus Bergen – in die sich Person B begibt, nachdem sie mit Person A zusammengetroffen ist. Dieser Aktionsradius ergibt sich allerdings erst in der nachträglichen Verschriftlichung, welche die Bewegung durch die Bewegung des Gedächtnisses voraussetzt. Die ›Region‹ versammelt die ›Bühne‹ des Erzählten und bruchstückhaft Erinnerten, thematisiert jedoch darin die problematische Bewegung durch den Raum und ihre Erzählung. Darin ist sie zur Daseinsmetapher ausbaufähig und in ihrer Entwicklungsfähigkeit gleichsam Paradigma. Ein solches wird jedoch erst durch die Thematisierung von Bewegung und Raum nachhaltig sichtbar. Bei Einreihung der ›Region‹ in eine Serie prominenter Metaphern – die Welt als Buch, das Leben als Traum oder Reise, das Sein als Waldung bzw. Lichtung etc. – ergeben sich jedoch Widerstände: Reichen jene Wendungen an einen Verbreitungsgrad der Topik, so ist der Zugang zu Molloys ›Region‹ durch den Protagonisten selbst, durch die Partikularität seiner Perspektive verstellt. Nicht allein stellt Vagabund Molloy keine willkommene Identifikationsfigur dar. Allgemein gesprochen erschwert der gesellschaftliche Außenseiterstatus der Figur, dass man ihre Wahrnehmung der Welt 7

Vgl. Agamben, Giorgio: »What is a Paradigm?« Lecture at European Graduate School. European Graduate School – Graduate & Postgraduate Studies. http://www.egs.edu/faculty/giorgio-agamben/articles/what-is-aparadigm (2002; Zugriff am 26.07.2010). Der Begriff stammt von Ludwig Feuerbach, aus der nicht paginierten Vorrede von Darstellung, Entwicklung und Kritik der Leibnitz’schen Philosophie, Ansbach: Brügel 1837. Feuerbach kontrastiert hier die Philosophien Lockes und Leibniz’ in ihren interpretatorischen Spielräumen. Agamben meint darüber hinaus die »Entwicklungsfähigkeit« von Kunst und Literatur zu Paradigmen.

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Jan-Henrik Witthaus als repräsentativ beschreibt – eine Wahrnehmung, die ja schon ehedem jeder philosophischen Struktur und Zuverlässigkeit entbehrt. Vielleicht verhält es sich jedoch gerade so, dass in der extravaganten Position Molloys Erkennbarkeit sichtbar wird, die eine weiterreichende Aussagekraft beanspruchen kann als diese Position zunächst erwarten lässt. Molloy mag man als einen ›Fall‹ thematisieren, der gerade durch seinen Ausnahmestatus Modellcharakter beanspruchen kann. Hier ist das Beispiel nicht bloße Illustration einer Philosophie, es ist vielmehr ein ›Fall‹ von paradigmatischer Qualität, der Denkprozesse in Bewegung setzt. In diesem Sinn hat Giorgio Agamben das Beispiel in seiner wort- und philosophiegeschichtlichen Filiation betrachtet.8 Stets steht es in einem äußerlichen, exponierten, manchmal sogar gründenden Verhältnis zum Sachverhalt, den es aufklären soll. Anders gesagt sind es paradoxerweise gerade die Rand- und Ausnahmeerscheinungen, die ein Licht auf die Norm werfen. Womöglich ist dieser Gedanke, der in den verschiedenen Publikationen Agambens zentral ist,9 im Detail an dieser Stelle nicht zu diskutieren. Anhand von Molloy mag jedoch konkretisiert werden, was damit gemeint sein könnte: Gerade die Lebensform des Protagonisten ermöglicht einen exzentrisch-exemplarischen Blick auf das Dasein, der bei aller Unzuverlässigkeit gerade die Unzuverlässigkeit der Welt getreulich abbildet. Molloys Text bewegt sich in einem unscharfen Niemandsland zwischen der gesellschaftlichen und der außergesellschaftlichen Sphäre, unterliegt damit auch nicht oder nur teilweise etlichen kulturell-sozialen Effekten der Entfremdung. Und womöglich ist dieses ›unscharfe Niemandsland‹ seine ›Region‹: Das Paradigma einer Existenzform, das in seiner Relevanz den bloßen Aktionsradius eines Außenseiters überschreitet.10

8 9

10

Vgl. G. Agamben: »What is a Paradigm?« (wie Anm. 7). Man könnte in Versuchung kommen, Molloy als ein Exemplar ›nackten Lebens‹ zu beschreiben, das Agamben zum zentralen Thema seines Homo sacer (vgl. Agamben, Giorgio: Homo sacer – Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, bes. S. 11-22) ausgestaltet hat. Dies wäre allerdings eine brüchige Analogie, zumal das ›nackte Leben‹ ein diskursives, rechtliches Konstrukt ist, das denjenigen, die ihm unterworfen sind, nie selbst die Stimme erteilt. Zudem wäre ein solcher Kunstgriff mit der hier vorgestellten Lesart nur stimmig, wenn man die literarische Figur nicht als bloße Illustration dieses diskursiven Phänomens, sondern als Ausnahmefall verstehen würde, der ein paradigmatisches Licht auf die Norm wirft, gleichsam ein Bild, aus dem heraus sich ein Gedanke entwickeln lässt. Damit ist das Paradigma nach Agamben teilweise konvertierbar in die Begrifflichkeit Hans Blumenbergs. Denn die Paradigmen zu einer Metaphorologie sind ja laut »Einleitung« als eine Art ›Archäologie‹ philosophischen

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»Ma région« – Bewegung und Raumerfahrung in Becketts Molloy Nach diesen Vorüberlegungen soll hier nun gefragt werden, wie sich Molloys ›Region‹ räumlich strukturiert und inwiefern bestimmte textuelle Bewegungen bewirken, dass sie als Philosophem aufscheinen kann. Die dreifache These besteht darin, dass der ›deambulatorische‹ Text – literarhistorisch gesprochen – nicht nur eine Abrechnung mit einer romanesken Tradition ausstellt. Er erzeugt vielmehr mit spezifischen Strategien einen Raum, der sich an der Peripherie von sozial-kulturellen Räumlichkeiten ansiedelt und dabei diese in der Gedächtnislosigkeit der Orientierung zur Auflösung bringt. Verbunden ist damit jedoch die weiterführende These, dass umgekehrt auch die ›Region‹ als Philosophem erst in der Evokation von brüchiger Räumlichkeit ermöglicht wird und folglich die Raumthematik andere Entwicklungsfähigkeiten hervorbringt als traditionelle Begriffe der Beckett-Exegese wie z.B. die ›Absurdität‹. Schließlich beinhaltet die dritte These, dass die ›Region‹ als erzähltes Philosophem das Erzählen selbst thematisiert, sie räumt nicht nur das Dasein ein, sondern auch seine Verschriftlichung. Philosophische Auslegungen der Texte Becketts erscheinen unzeitgemäß, nachdem gerade die existenzialistischen Deutungen lauthals verabschiedet worden sind und man die humoresken Vorzüge seiner Prosa wiederentdeckt hat – wie etwa Daniel Kehlmann, der das Vergnügen betont, welches die Lektüre seiner Texte bereitet: »Ebenso wie Warten auf Godot ein klares und brillantes Drama ist, sobald man es, wie Beckett es immer wollte, nur als literarisches Kunstwerk betrachtet, sind seine Romane stringente und immer wieder sehr komische Bücher über das Dasein alter, heimatloser, körperbehinderter Menschen, denen jede Bewegung schwerfällt, die aber trotzdem nicht bereit sind, aufzugeben oder ihren zynischen Witz zu verlieren.«11

11

Denkens zu begreifen. Ihr zentraler Gegenstand sind die ›absoluten Metaphern‹. Diese »haben Geschichte in einem radikaleren Sinn als Begriffe [i.e. das Instrumentarium der Philosophie], denn der historische Wandel einer Metapher bringt die Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte und Sichtweisen selbst zum Vorschein, innerhalb derer Begriffe ihre Modifikation erfahren« (Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 13). Das Paradigma nach Agamben steht ebenso in einem auslösenden, bedingenden Verhältnis zu Denkbewegungen. Nur ist seine Position im Bezug auf das ›Denken‹ eine andere. Es wirkt weder im Untergrund noch in umfassenden ›Sinnhorizonten‹ – ein Ausdruck, der für Agamben zu hermeneutisch wäre. Vielmehr wirkt es aus seiner Exponiertheit, Äußerlichkeit heraus. Kehlmann, Daniel: »Es war nicht Mitternacht. Es regnete nicht. Samuel Becketts Prosa«, in: ders., Lob. Über Literatur, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2010, S. 100-111, hier S. 110. Diese prominente Aussage dürfte man als mittlerweile in die Breite durchgesickerte Forschungsrichtung zu Becketts Prosa-Ästhetik betrachten, die hier in Gänze nicht zu erfassen ist, deren

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Jan-Henrik Witthaus Wie könnte man dem nicht spontan zustimmen? Wie könnte man allerdings nicht ebenso sehr der Geste der implizierten Grenzziehungen beipflichten, die so fein säuberlich trennt, was vorderhand nicht zusammengehören soll: Kunst und Philosophie, Denken und Schaffen, Wissen und Entwickeln?

Kleine Phänomenologie der ›Region‹ Im finalen Stück des ersten Teils, in dem Molloy von seinem Aufenthalt im Wald berichtet, resümiert er die Bestandteile dessen, was er als ›seine Region‹ bezeichnet, wie folgt: »Denn meine Gegend bestand keineswegs nur aus Wald. Sondern es gab darin auch Ebene, Gebirge und Meer sowie einige Städte und Dörfer, die untereinander durch Wege und Landstraßen verbunden waren.«12 Zunächst fällt ins Gewicht, dass sich Molloys ›Region‹ nicht aus geographischen Einheiten zusammensetzt, sondern aus Landschaften, die durch ihre Unbestimmtheit ins Ubiquitäre zielen und gleichsam auf die Elemente hindeuten: auf Wasser, Luft und Erde – elementare Stationen seiner ›deambulatorischen‹ Aktivität. Die Stadt ist in dieser Aufteilung wohlgemerkt nicht Schauplatz von Kulturkritik, sehr wohl jedoch markiert sie Molloys Abstand zur gesellschaftlichen Sphäre, worauf weiter unten zurückzukommen sein wird. Zudem verbinden Wege und Landstraßen alle Elemente miteinander zu einer größeren, aber undefinierten Einheit. Diese Einheit ist nicht geo- oder gar kartographisch organisiert. Das fällt auf, wenn man eine externe Beschreibung vom Wirkungs-

12

oftmals durch poststrukturalistische Theoreme inspirierte Fragestellungen aber zumindest in Studien wie den folgenden deutlich zum Ausdruck kommt: Cerrato, Laura: »Postmodernism and Beckett’s Aesthetic of Failure«, Samuel Beckett Today/Aujourd’hui 3 (1993), S. 21-29; Götz, Barbara: Chaos und Ordnung in Samuel Becketts Romantrilogie, Frankfurt am Main: Lang 1996; Myskja, Bjørn K.: The Sublime and the Ethics of Literature. Kant’s Aesthetic Theory and Beckett’s ›Molloy‹, Berlin/New York: De Gruyter 2002; Schubert, Gesa: Die Kunst des Scheiterns. Die Entwicklung der kunsttheoretischen Ideen Samuel Becketts, Berlin u.a.: LIT 2007. Dass umgekehrt die Abwehrhaltung gegen philosophische Deutungen nicht allein den existenzialistischen Diskurs oder die Kritische Theorie (Adorno) trifft, sondern auch Kommentatoren wie bspw. Gilles Deleuze erfährt man bei Cassanova, Pascale: »Beckett chez les philosophes«, Samuel Beckett Today/Aujourd’hui 7 (1998), S. 361-374. S. Beckett: Molloy (wie Anm. 4), dt. S.100. »Car ma région n’était pas que forêt, loin de là. Mais il y avait aussi la plaine, la montagne et la mer, et quelques villes et villages, reliés entre eux par des routes, des chemins« (S. Beckett: Molloy (wie Anm. 4), frz. S. 131).

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»Ma région« – Bewegung und Raumerfahrung in Becketts Molloy feld Molloys – »Ballyba« – durch die Hauptfigur des zweiten Teils, den Agenten Jacques Moran, daneben legt: »Unter Molloys Land verstehe ich das sehr beschränkte Gebiet, dessen administrative Grenzen er niemals überschritten hatte und aller Wahrscheinlichkeit nach niemals überschreiten würde, entweder weil es ihm untersagt war, oder weil er keine Lust dazu hatte, oder natürlich weil ein außerordentlicher Zufall es verhinderte.«13

Diese Außenbeschreibung des suspekten Agenten Moran mag dazu inspirieren, Molloys ›Region‹ des ersten Teils gerade nicht auf eine solche Weise aufzufassen, nicht als verwaltungstechnische Einheit, als Lokalisierungssystem oder geographisch einzugrenzende Körperschaft. Denn das Gebiet – so entnimmt der Leser der Beschreibung Morans weiterhin – liegt ein Stück weiter nördlich als sein eigenes, es umfasst eine Siedlung, das umliegende Land und bietet Einheimischen wie Besuchern eine sehenswerte Meeresbucht. Moran liefert ein gutes Stück ›Landeskunde‹.14 Er nutzt die Himmelsrichtungen zur quasi kartographischen Orientierung, spricht von administrativen Grenzen, thematisiert Sehenswürdigkeiten.15 Im ersten Teil von Molloy geht es auf der Gegenfolie der gerade gegebenen landeskundlichen Beschreibung um die Beseitigung dieser sozialen Im- und Explikationen im Medium eines schriftlich niedergelegten ›Reiseberichtes‹. Dass Molloy dabei von ›seiner Region‹ spricht, enthüllt keinerlei Regionalismus oder Lokalpatriotismus. Das Possessivpronomen indiziert mitnichten emotionalen Mehrwert, und insofern wäre es zweitrangig, Becketts irische Heimatlandschaft hinter den ehedem ungenauen Angaben zu entziffern. Vielmehr 13

14

15

S. Beckett: Molloy (wie Anm. 4), dt. S. 155. »Par le pays de Molloy j’entends la région fort restreinte dont il n’avait jamais franchi, et vraisemblablement ne franchirait jamais, les limites administratives, soit que cela lui fût interdit, soit qu’il n’en eût pas envie, soit naturellement par l’effet d’un hasard extraordinaire« (S. Beckett: Molloy (wie Anm. 4), frz. S. 206). Vgl. zu Konzept und Geschichte der Landeskunde: Lüsebrink, Hans-Jürgen: »Kulturraumstudien und interkulturelle Kommunikation«, in: Ansgar Nünning/Vera Nünning, Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven, Stuttgart: Metzler 2003, S. 307-328, bes. S. 310f. Im Manuskript von Molloy befindet sich eine ökonomisch-landeskundliche Studie weiterhin persifliert. Diese lange Beschreibung einer Gebietskörperschaft, deren Ökonomie auf der Zirkulation von menschlichen Exkrementen beruht, nahm Beckett dann jedoch für Druckversion wieder heraus. Vgl. O’Reilly, Édouard Magessa: »Molloy, Part II, Where the Shit Hits the Fan. Ballyba’s Economy and the Worth of the World«, Genetic Joyce Studies 6 (2006). http://www.antwerpjamesjoycecenter.com/GJS6/GJS6OReilly.htm (Zugriff am 26.07.2010). Ich danke Mark Nixon für den Hinweis.

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Jan-Henrik Witthaus deutet es darauf hin, dass Molloys ›Region‹ keiner administrativen Einheit angehört, weil sie in seinem retrospektiven Abschreiten überhaupt erst entsteht. In der Extravaganz liegt dabei gleichwohl die Tendenz zur Ubiquität der Landschaften: Ebene, Gebirge, Wald, Stadt, Meer. Im Gegensatz zur gebietsmäßigen Erfassung etwa einer Landkarte, die auf das Konkrete eines individuellen Gebietes abzielt, bleiben die Landschaften Molloys unbenannt, unspezifisch und unerkannt.16 Sie werden aus ihrer Mitte heraus beschrieben und erhalten in ihrem Erleben einen protophänomenologischen Zug17: »Rings um mich war Wald. In einer Höhe, die im Vergleich mit meiner erstaunlich war, verflochten sich die Zweige und beschützten mich vor dem Licht und der Unbill des Wetters.«18 Der Wald ist das umgebende Medium der Bewegung und schließt das Ich der Wahrnehmung ein. Erst dadurch wird er unhintergehbar und als Daseinsmetapher ausbaufähig: »Die absoluten Metaphern, die für die Welt gefunden worden sind, lösen sich so wenig in Eigenschaften und Bestimmbarkeiten auf wie dieser letztinstanzliche Wald in Bäume«19: So erhält der Wald als Daseinsmetapher die Bedingung der Möglichkeit zuallererst in seinem sinnlichräumlichen Gehalt, der nur offenbar wird, wenn man sich in ihm befindet, was im vorliegenden Text aufs Beste zum Ausdruck gebracht wird: durch die Höhe der Kronen im Verhältnis zur Körpergröße des Beschreibenden, durch die hervorgerufenen Empfindungen etc.

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Daher transzendiert Molloy auch kartographisch organisierte Narrative und wäre – unbeschadet aller Unterschiede – in eine Linie zu stellen mit Textbeispielen, die von Franziska Sick zusammengestellt und kommentiert worden sind; vgl. »Erzählte Karten, Erzählkarten. Morus, Novalis, Goethe, Robbe-Grillet, Gracq«, in: Ingrid Baumgärtner/Paul Gerhard Klumbies/ Franziska Sick (Hg.), Raumkonzepte. Disziplinäre Zugänge, Göttingen: V&R unipress 2009, S. 199-231. Vgl. zur phänomenologischen Raumbeschreibung die versammelten Texte samt Einleitung in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 103-192; vgl. Maude, Ulrika/Feldman, Matthew (Hg.): Beckett and Phenomenology, London/New York: Continuum 2009, insbesondere den Artikel von Ulrika Maude: »›Material of a Strictly Peculiar Order‹: Beckett, Merleau-Ponty and Perception«, S. 77-94. S. Beckett: Molloy (wie Anm. 4), dt. S. 97. »La forêt était tout autour de moi et les branches, s’entremêlant à une hauteur prodigieuse, par rapport à la mienne, me protégeaient du jour et des intempéries« (S. Beckett: Molloy (wie Anm. 4), frz. S. 127). Blumenberg, Hans: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 91.

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»Ma région« – Bewegung und Raumerfahrung in Becketts Molloy Auch die Beschreibung des Meeresufers erhält eine ähnliche Aufmerksamkeit, die einen Orientierungsraum aufspannt, so in der »Empfindung, daß es wenigstens eine Richtung gab, in die ich nicht gehen konnte, ohne zuerst naß zu werden und dann zu ertrinken […].«20 Anders jedoch als dieser Passus anzudeuten scheint, überwiegt in der Bewegung des Protagonisten durch seine ›Region‹ gerade die mangelnde Orientierung als Grunderfahrung von Räumlichkeit. So ist der Wald undurchdringlich und wird wie von Zufalls Hand verlassen, und das urbane Dickicht – die Stadt – erlaubt nur durch den Versuch, strikt geradeaus zu gehen, einen Ausweg, wobei die Sonne die Richtung angibt und die Lichtbeugung berücksichtigt wird. Bei Einbruch der Dunkelheit erreicht Molloy den Stadtrand, nachdem er dieser Methode folgend einen Viertelkreis beschrieben hat. Im Wald wiederum schreitet er im Kreise voran, um dem Fehler zuvorzukommen, den man normalerweise in einer solchen Situation begeht, nämlich im Kreise zu gehen, ohne es zu wissen. An den elementaren Schauplätzen der ›Region‹ entfaltet diese sich also räumlich, im Akt der Fortbewegung und Orientierung, die stets den Körper der narrativen Instanz und sein Empfinden in Beziehung zu dem jeweils durchschrittenen Medium setzt. Umgekehrt mag man sagen, dass die ›Region‹ als Philosophem, als Daseinsmetapher zumal, nur durch die konkret räumliche Bewegung Molloys Gestalt anzunehmen vermag. Die zentrale Befindlichkeit innerhalb der ›Region‹ entspricht nicht allein der Orientierungs-, sondern auch ihrer Grenzenlosigkeit. Dies widerspricht flagrant dem Lokalisierungsversuch Morans, der ›ein Stück Land‹ gebietserfassend umschreibt. Der abgeschrittene Raum jedoch entbehrt jeder Grenzerfahrung. Einerseits – so formuliert Molloy – weil Regionen zumeist ineinander übergehen, ohne sich zu erkennen zu geben. So könne man die eigene Gegend verlassen haben, ohne es gemerkt zu haben – diese Grenzerfahrung wird nur im erlebten Raum, nicht im territorial fixierten möglich. Andererseits, weil die ›Region‹ für den bewegungseingeschränkten Molloy in ihrer Endlichkeit tatsächlich nicht verfügbar ist. Fehlende Transportmittel, ein defektes Fahrrad werfen Molloy auf die eigene körperliche Beeinträchtigung zurück. Auch hier wiederum entfaltet sich die ›Region‹ als Philosophem räumlich: Sie lässt unentrinnbare Immanenz erfahrbar werden und projiziert anhand des extravaganten Fallbeispiels ›Molloy‹ die weltanschauliche Befindlichkeit auf eine Erlebnisebene. Eindringlich wird dies in der finalen Beschreibung des Zimmers deutlich, in welcher sich die Verfasstheit der ›Region‹ und der Aufenthalt in ihr wiederholen: »Und die Grenzen meines Zimmers, meines Bettes und meines Körpers sind ebenso

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S. Beckett: Molloy (wie Anm. 4), dt. S. 80.

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Jan-Henrik Witthaus weit von mir entfernt, wie die Grenzen meiner Gegend es in meiner Glanzzeit waren.«21 Die Grenze bleibt in Abwesenheit präsent und ist in dieser Eigenschaft verschiebbar.22 Ohne sichtbar zu sein, legt sie Molloy in Ketten. Endlichkeit beruht auf der Unabsehbarkeit des Endes. Dergestalt mag man die ›Region‹, das Zimmer und den Körper jeweils ein »Ägypten ohne Grenzen«23 nennen. Stets wird man zurückgeworfen, auf die Gegend, auf das Zimmer, auf den eigenen Körper. Unverfügbare Transgression. Selbst das Meer verspricht keinerlei Überschreitung. Es wird in die Landschaften der ›Region‹ eingereiht: »Aber ihr dürft nicht glauben, daß meine Gegend an der Küste aufhörte, das wäre ein großer Irrtum. Denn auch dieses Meer, mit seinen Klippen, seinen fernen Inseln und verborgenen Untiefen gehörte dazu.«24 Allein eine Grenze wird tatsächlich in vollem Bewusstsein überschritten: die Stadtgrenze.25 Der Außenwall markiert sie. Innerhalb der Stadt herrscht eine andere Ordnung: Das Gesetz sieht vor, vom Rad zu steigen, Polizisten überwachen diese Anordnung. Zudem herrscht eine unmittelbare Öffentlichkeit des Sehens und GesehenWerdens. Was Molloy auch begegnet: Konflikte mit dem Schutzmann, Unfälle mit dem Fahrrad, stets dreht man sich nach ihm um, Passanten versammeln sich und erzeugen sozialen Druck. Tatsächlich ist es jedoch womöglich diese innere Grenze, die ihn von der Norm der sozialen Sphäre abzieht und einer äußeren Gegend zuführt, innerhalb derer jedoch die Stadt gleichwohl mit inbegriffen ist. Mit anderen Worten: Gerade seine soziale Isolation und die Un21

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23 24

25

S. Beckett: Molloy (wie Anm. 4), dt. S. 77. »Et les confins de ma chambre, de mon lit, de mon corps, sont aussi loin de moi que ceux de ma région, du temps de ma splendeur« (S. Beckett: Molloy (wie Anm. 4), frz. S. 100). Dies würde wiederum rückwärtig, bei einer Weiterverfolgung der literaturhistorischen Linie, Wolfzettels Kategorie des ›deambulatorischen‹ Romans als auf Molloy zutreffend bestätigen, gibt es doch laut Jurij M. Lotman (Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, München: UTB 41993, S. 329-340) ohne Grenzüberschreibung zwischen semantischen Räumen keinerlei Sujet. S. Beckett: Molloy (wie Anm.4), dt. S. 77. Ebd., S. 80. »Mais n’allez pas croire que ma région s’arrêtât au littoral, ce serait une grave erreur. Car elle était cette mer aussi, ses récifs et ses îles lointaines, et ses abîmes cachés« (S. Beckett: Molloy (wie Anm. 4), frz. S. 104). Aber auch hier kommt durch die Überschreitung – gemessen an einer kulturell derart überdeterminierten und in literarischen Texten reichhaltig sedimentierten Grenzziehung (Rousseau, Balzac etc.) – keinerlei sinnvolle Handlung zustande. Eher wird der Leser Zeuge von Zufällen, die sich aneinanderreihen. Dabei wird der Anschluss an jegliche Sujet-Konvention wie ›Liebe‹ (Lousse) von vornherein vermieden.

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»Ma région« – Bewegung und Raumerfahrung in Becketts Molloy möglichkeit seiner Resozialisierung beheimaten ihn in einem weiteren Rahmen, der eben seine ›Region‹ ist, in welche die Stadt eingeschlossen ist.

Gedächtnis – Semiotik – Kontingenz Orientierung ist für die ›Region‹ als Bewegungsraum konstitutiv. Eine Auszeichnung als Paradigma des Daseins gelingt jedoch vor allem deswegen, weil die antrainierten Technologien der Orientierung im Falle Molloys nicht greifen. Man sollte Martin Heidegger in diesem Zusammenhang zitieren, der im Kapitel zur Räumlichkeit des Daseins samt Kant-Kommentar in Sein und Zeit darauf hinweist, dass man sich »notwendig in und aus einem je schon sein bei einer ›bekannten‹ Welt«26 orientiere. Molloy hingegen ist ein Fall von Gedächtnisschwund, was wiederum nicht heißen soll, es handele sich hier um eine pathologische Studie, etwa zur Demenz bei Obdachlosen, sondern eben im Sinne Agambens um ein Fallbeispiel als Modell, das Denkbewegungen initiiert. Molloys mangelhaftes Gedächtnis blendet kulturelle Kontexte der Raumorientierung aus und wirft ihn auf eine Aktivität der Zeichendeutung zurück, ähnlich der Person B, die zu Beginn, von Molloy beobachtet, querfeldein marschiert, sich »mit unsicheren Schritten« vorwärts bewegt, und immer wieder anhält, »um sich umzusehen, ganz wie einer, der sich gewisse Merkzeichen einzuprägen sucht«27 – nämlich für den eventuellen Rückweg. Die unbekannte Gegend wird zum Paradigma der Bewegung in ›meiner Region‹. Gedächtnisschwund generiert unablässig erneute Semiose, so in der Begegnung mit dem Polizisten: »Ich hob den Kopf und sah einen Polizisten. Das ist eine elliptische Art und Weise, sich auszudrücken, denn erst später erfuhr ich auf dem Wege der Induktion oder Deduktion – ich weiß es nicht mehr –, was da vor mir stand.«28 Beobachtung und Schlussfolgerung kompensieren den Verlust souveräner Sozialsemiotik. Denn dass die vorausgesetzten Zeichen nicht sofort in gesellschaftliche Handlung umgesetzt werden, weil man sie – wie den Umgang mit Uniformträgern – verinnerlicht hat, führt zum ermüdenden Nachsitzen. Dies gilt ebenso für den figurativen Sprachgebrauch. ›Was er da mache‹, will der Polizist von Mol26 27 28

M. Heidegger: Sein und Zeit (wie Anm. 4), S. 146. S. Beckett: Molloy (wie Anm. 4), dt. S. 9. Ebd., S. 22. »Je levai la tête et vis un agent de police. C’est là une façon elliptique de parler, car ce ne fut que plus tard, par voie d’induction, ou de déduction, je ne sais plus, que je sus ce que c’était« (S. Beckett: Molloy (wie Anm. 4), frz. S. 27f.).

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Jan-Henrik Witthaus loy wissen, worauf dieser wahrheitsgemäß antwortet, ›er ruhe sich aus‹.29 Er dechiffriert also gerade nicht die Illokution, nämlich dass er sich unter Umständen unrechtmäßig verhalte und Sanktionen zu befürchten habe, wenn er sich nicht rechtfertige. Die Metonymie sodann, er solle seine »Papiere«30 zeigen, wird beantwortet durch das Hervorkramen von Zeitungspapier, das wohl ehedem zur Reinigung des Allerwertesten dienlich war – eine derbe Pointe Becketts zweifelsohne. Semantische Transferleistungen, die vollkommen habitualisiert sein müssten, um Interaktion zu steuern, werden aufgrund eines gestörten Gedächtnisses nicht erbracht und verweisen in ihrer Absenz auf ein mühseliges Hier und Jetzt, das für die Raumerfahrung in Molloy geradezu konstitutiv ist. Am auffälligsten gelingt der Abbau von Orientierungssystemen durch das Vergessen von Namen. Das beginnt mit dem eigenen Namen – Molloy kann sich nicht nur nicht ausweisen, auch besinnt er sich nur mit Mühe auf seinen Namen, von dem überhaupt zweifelhaft ist, ob es sich dabei um den Seinigen handelt. Mit dem Namen verbindet sich jedoch eine Herkunft und eine Adresse, beides Leistungen, die Molloy vor dem Kommissar auf dem Präsidium nicht erbringen kann. Vor allem aber läuft in einem Denominationssystem, auf dem Lokalisierung beruht, das verlorene Namensgedächtnis in die Irre. Molloy kann nicht mit Sicherheit sagen, ob er sich in seiner Geburtsstadt befindet, auch hier gerät Wiedererkennung, die unmittelbar zu erfolgen hätte, zu einer Zeichensuche. Die an Passanten gerichtete Frage »Entschuldigen Sie, mein Herr, wir sind hier doch wohl in X?«31, läuft ins Leere, wenn die Denomination nicht zuhanden ist. Einer Welt in Worten und Namen ist Molloy seit längerem entfremdet. Hier ist nicht der Ort, die Sprachproblematik bei Beckett extensiv zu erläutern,32 so viel sei jedoch gesagt: Ein defizitäres Namens- und Sprachgedächtnis macht der Orientierung in einer fremden Welt den Garaus und wirft auf die elementare Suche bzw. spontane Stiftung von Merkzeichen zurück. Wenn jedoch Raum und Richtung ein Gedächtnis erfordern, wie Heidegger sagt, wie orientiert man sich ohne Gedächtnis? Für diesen Fall werden einige Situationen durchgespielt. Als Molloy das Haus der Lousse verlässt, fragt er sich, welchen Weg man einschlagen soll, wenn man nicht weiß, wo man ist. So überlässt er seine Bewegung dem Wind, lässt sich gewissermaßen vom meteorologischen Zufall leiten. Überhaupt erweist sich die Navigation durch 29 30 31 32

Ebd., S. 22 »Que faites-vous là?« (S. Beckett: Molloy (wie Anm. 4), frz. S. 28). Ebd., S. 23. »papiers« (S. Beckett: Molloy (wie Anm. 4), frz. S. 28). Ebd., S. 36. Vgl. z.B. Merger, Andrea: Becketts Rhetorik des Sprachmissbrauchs, Heidelberg: Winter 1995, S. 1-31.

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»Ma région« – Bewegung und Raumerfahrung in Becketts Molloy seine ›Region‹ als wetterabhängig. Der Mangel an Merkzeichen erfordert eine Ausrichtung anhand von Himmelsrichtungen. In dem Moment, als der Wind sich legt, läuft Molloy auf die Sonne zu, nur ist der Himmel bewölkt und so bleibt keine andere Möglichkeit, als auf den hellsten Abschnitt des Himmels zuzugehen: »Ich gehe auf die Sonne zu, also im Prinzip nach Osten oder Südosten […].«33 Aber eine romantische Rückkehr zur natürlichen Orientierung nach Himmelsrichtungen, die ehedem nicht kartographisch, sondern aus der Bewegung heraus begriffen werden müssen, wird hier kaum angestrebt. Im Wald entfällt wie gesagt diese Möglichkeit und wird durch die Methode des Kreislaufens ersetzt, welches eben das Kreislaufen verhindern soll. Dieses Verfahren wird zusätzlich verkompliziert dadurch, dass Molloy genaugenommen gar nicht läuft, sondern sich durch rückwärtig einhakende Krücken nach hinten robbt, bei fast geschlossenen Augen. So wird in einer reichlich unkonventionellen Bewegung das Merkzeichenverfahren aufgegeben und ersetzt durch blindes, rückwärtiges Robben, immer »in eine andere Richtung«, wie es heißt, was die Hoffnung erhält, dass »man trotz allem geradeaus vorankroch, Tag und Nacht in gerader Linie auf meine Mutter zu.«34 Letztendlich wird auf die Weise eines solchen Zufallsverfahrens, das nur noch auf Hoffnung beruht, die Ebene doch noch erreicht, nur nicht durch ein Zulaufen auf das sich lichtende Unterholz – wie sollte das rückwärtig und blind auch erfolgen? »Die Ebene kam mir in der Tat bekannt vor, aber in meiner Gegend glichen alle Ebenen einander; wenn man eine kannte, kannte man alle.«35 Diese Formulierung resümiert wunderbar den Gang der Erläuterung bis zu diesem Punkt: Die weiter oben zitierte Formulierung aus Sein und Zeit, das »sein bei einer ›bekannten‹ Welt«, erhält hier eine ungeahnte Komplexität dadurch, dass in der Gleichheit der Ebenen alle bekannt vorkommen, was die Orientierung aufgrund von Merkzeichen verunmöglicht. Um eine Wendung der mittelalterlichen Mystiker zu paraphrasieren36: Molloys Aktionsmittelpunkt ist ubiquitär, sein Bewegungshorizont nirgendwo. Durch das Verschmelzen verschiedener Räumlichkeiten in der Erinnerung wird die Welt bekannt und unbekannt zugleich.

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S. Beckett: Molloy (wie Anm. 4), dt. S. 73. Ebd., S. 106. Ebd., S. 107. »La plaine, il est vrai me paraissait familière, mais dans ma région toutes les plaines se ressemblaient, en connaître une, c’était les connaître toutes« (S. Beckett: Molloy (wie Anm. 4), frz. S. 139f.). Vgl. Mahnke, Dietrich: Unendliche Sphäre und Allmittelpunkt. Beiträge zur Genealogie der mathematischen Mystik, Halle: Niemeyer 1937.

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Jan-Henrik Witthaus

Bewegung und Stillstand Raumerfahrung wird erzeugt durch die zufallsblinde, gedächtnisschwache Bewegung. In einer psychoanalytisch inspirierten Lesart nimmt es jedoch zunächst ganz den Anschein, dass diese Bewegung durch die ›Region‹ sehr wohl einer Ausrichtung unterliegt, die ihr Ursprung wie notwendiger Impuls ist: Sie erfolgt demnach auf die Mutter zu, und in der Dimension eines nachträglichen Berichtes artikuliert sie sich aus dem Zimmer heraus, welches jene bis kurz vor ihrem Ableben bewohnte. Eine solche Teleologie – die Heimkehr zur Mutter – muss allerdings nachträglich beigebracht werden, denn aus der Anordnung der Etappen ergibt sie sich keineswegs – der Text des ersten Teils beginnt im Zimmer der Mutter und endet auf freiem Feld. Daher wäre es wohl naheliegender, der ›erzählten Bewegung‹ keine Ausrichtung, sondern einen zirkulären Charakter zu bescheinigen. Die Bewegung läuft allenfalls auf den Raum ihrer erzählerischen Reproduktion zu und wird von dieser ausgehend so unhintergehbar wie zuvor der Wald bruchstückhaft erinnert. Wie wir sahen, lässt das Vorhaben, ›Klarheit in die Beziehung zur Mutter zu bringen‹, Molloy blind vorangehen, -kriechen oder -robben, vor-, rück- und seitwärts. Ein Gleiches gilt auch für den Gang der Erzählung, die einen ähnlich unkonventionellen Fortlauf annimmt. Die ›erzählte Bewegung‹ hat kein telos außerhalb ihrer selbst. Die ›Region‹ als ›erzählter Raum‹ kreist in sich selbst. Es gilt nicht nur, in Ortsveränderungen durch ›meine Region‹ das Dasein zu ›erzählen‹, sondern das Erzählen des Daseins zu erzählen. In Anlehnung an die oben angedeutete psychoanalytische Lesart wird man zunächst zu fragen haben, ob Molloys ›Region‹ durch Formen des Begehrens strukturiert wird. Denn wenn der Raum durch die Bewegung erzeugt und diese durch Ortsveränderung angezeigt wird, so gibt der Text einer solchen Lesart zufolge zu erkennen, dass diese in dem Bestreben erfolgen, das Verhältnis zur Mutter zu klären. Allerdings handelt es sich hierbei um eine überaus sachliche und ein wenig rätselhafte Beschreibungsform. Sachlich aus Mangel an Emotion, die man den wenigen Seiten, die Molloy seiner Mutter widmet, ehedem nicht entnehmen kann. Rätselhaft entweder, weil sie verschweigt, dass zwischen Mutter und Sohn etwas steht, das nicht genannt wird. Rätselhaft vielleicht aber auch deswegen, weil es womöglich kein Rätsel gibt und die Beziehung zur Mutter, die es zu klären gilt, eben eine sachliche ist. So wäre das Vorhaben, die Beziehung zur Mutter zu klären, befremdlich sachlich. Zumal es den Raum durch Veranlassung der Bewegung zu strukturieren scheint. Aber auch für diese Motivationslage findet sich ein eher distanzierter Begriff: der Imperativ, dem man wohl eher einem anderen als dem mütterlichen Pol des ödipa-

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»Ma région« – Bewegung und Raumerfahrung in Becketts Molloy len Dreiecks zuordnen würde. Tatsächlich bietet der zweite Teil von Molloy in der zweifelhaften Vaterfigur Moran genügend Anschauungsmaterial für paternale Verfügungsgewalt. Im vorliegenden Zusammenhang kommt es jedoch lediglich darauf an, dass die Bewegung nicht von Wunschvorstellungen, sondern von Pflichtgefühlen, internalisierten Befehlen hervorgerufen wird. »Denn sie [die Imperative] haben mich niemals weitergebracht, sondern mich stets aus einer Umgebung herausgerissen, in der ich, ohne mich wohl zu fühlen, mich nicht schlechter fühlte als anderswo, und dann sind sie verstummt und haben mich in meiner Not allein gelassen.«37

Die Imperative haben gewissermaßen keine Schubkraft, sie ziehen, ja sie entwurzeln (»arraché«) stets aufs Neue. Sie deuten damit auf die Trägheit des bewegten Körpers, auf seinen Widerstand und seinen Unwillen, überhaupt Bewegung zu initiieren. Dem ›Helden‹ ist am Aussetzen jeglicher Ortsveränderung gelegen, daher endet sein Bericht mit den fast erleichterten Worten, Molloy könne endlich »da bleiben, wo er war.«38 Zudem stellen die Imperative keinerlei Erfüllung der ausstehenden Forderung in Aussicht. Denn sie ziehen Molloys Körper vom Meer in den Wald, vom Wald in die Ebene usw. Die Bewegung wird diskontinuierlich und kommt nicht zum Ziel, zumindest nicht bewusst, denn wie der Sohn zur Mutter gelangte, ob in einer Ambulanz oder nicht, dies wird dem Leser verschwiegen, und die Mutter selbst wird gar nicht erreicht. So erscheint die Bewegung sinnentleert, nicht nur wegen ihrer Ziellosigkeit, sondern auch weil sie keine Veränderung, Annäherung o.ä. hervorbringt: Im Wald ergeht es Molloy nicht besser oder schlechter als am Meer. Unruhe und Ruhe wechseln sich ab, führen aber nicht zum Ziel, sondern zur Irrfahrt durch die ›Region‹, deren Bewegungsenergie ein stets aufs Neue abbrechendes Pflichtgefühl darstellt. Wenn also die ›Region‹ der Schauplatz einer Irrfahrt ist, so hat diese ein äußerst merkwürdiges Ithaka. Eine psychoanalytische Sicht wird aus all diesen Gründen der Bewegung auf die Mutter zu wenig abgewinnen können, es sei denn mit dem Aufwand, für ein Höchstmaß an Versachlichung und Indifferenz ein Höchstmaß an Latenz zu veranschlagen. Vor der Hand sind es jedoch eher Über-Ich-Instanzen, die den Raum der Bewe37

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S. Beckett: Molloy (wie Anm. 4), dt. S. 101. »Car ils [les impératifs] ne m’ont jamais mené nulle part, mais ils m’ont toujours arraché à des endroits où, sans être bien, je n’était pas plus mal qu’ailleurs, et puis ils se son tus, me laissant en perdition« (S. Beckett: Molloy (wie Anm. 4), frz. S. 132). Ebd., S. 107.

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Jan-Henrik Witthaus gung vorgeben: entweder ein Handle gesetzmäßig!, wenn man den Begriff des Imperativs mit einer bestimmten philosophischen Richtung in Zusammenhang bringen möchte, oder ein imperialer Sprechakt des Vater-Imago, wenn man ihn unbedingt auf eine ödipale Konstellation zurückführen wollte. Vielleicht ist es daher von Nutzen, die Raumbewegung mit der Mutter im Visier weniger in psychoanalytischen Kategorien aufzuklären als in quasi existenziellen. Die Beziehung zur Mutter zu klären, meint die eigene Herkunft und damit den Ausgangspunkt der eigenen Existenz zu thematisieren, aber vor allem dieses Thematisieren zu thematisieren. Wie die Grenzen der Gegend so weicht auch der Ort des Ursprungs zurück und kann nur kompensatorisch aufgefüllt werden: in der eigenen Niederschrift, für die ein Ursprungsort angegeben werden kann. Wenn daher Molloy der Mutter nicht begegnet, so kann er in der Produktivität seiner Selbstreflexion ihren Platz einnehmen.

Konklusion Wenn nun Molloy als Paradigma des Daseins gelesen werden kann, so erhellt sich dieses aus der Räumlichkeit seiner Bewegung. Aber dieser Raum ist insofern abgeschlossen und intern reflektorisch, als er das Erzählen und den zum Erzählen durchschrittenen Weg gewissermaßen mit einräumt. Dies ist nun keine reine Auseinandersetzung mit der literarischen Romantradition, sondern holt das Erzählen selbst in das Philosophem des Daseins mit hinein. Eine autorenzentrierte Literaturkritik wird hierzu einwenden, dass Beckett kein Philosoph, sondern Literat gewesen sei, und dass bspw. Heidegger-Lektüren, wenn sie denn statthatten,39 ihn trefflich amüsiert haben dürften. Der Einwand hat seine Berechtigung, aber vor allem dann, wenn wir die Philosophie der Philosophie überlassen.

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Vgl. Burger, Martin: Endliches Dasein. Heideggers Daseinsanalyse und Becketts Roman Molloy, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. Der Vergleich erfolgt nicht systematisch, ist aber deswegen nicht weniger aufschlussreich in der Beschreibung Molloys als Gestalt der ›Verwüstung‹ und ›Sorglosigkeit‹. Immerhin studierte Beckett in Paris zusammen mit einem Heidegger-Kenner, Jean Beaufret, vgl. ebd., S. 13f. Weiteres wird man wohl erfahren bei Rodney, Sharkey: »Heidegger, Beckett and Beaufret«, Samuel Beckett Today/Aujourd’hui 22 (2010) [nicht eingesehen, im Druck].

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Figur, Objekt, Stimme Elemente möglicher Räume am Beispiel narrativer Texte von Samuel Beckett DANIEL BENGSCH Roland Barthes beginnt seinen Essay »La réponse de Kafka«1 mit der Frage, ob die Literatur dazu verdammt sei, in stets eine von nur zwei vorhandenen Schubladen gesteckt zu werden; nämlich entweder in die des politischen Realismus oder in die des l’art pour l’art. Dann wäre Literatur dazu verurteilt – so Barthes –, stets zwischen Moral des Engagements und reinem Ästhetizismus, zwischen Zugeständnis und Keimfreiheit hin und her zu gehen. Die von Barthes gestellte Frage betrifft den der Literatur zugewiesenen Platz in der Welt und, damit verbunden, die an sie herangetragene Funktion, eben diese Welt auf die eine oder andere Weise zu bedeuten. Es ist die Zeit des postexistenzialistischen Romans sowie des Strukturalismus, daher verwundert es nicht, wenn sich Barthes, inspiriert von einer Kafka-Lektüre Marthe Roberts, für die literarische Technik begeistert und in ihr die Antwort auf die Frage nach dem Sinn Kafkas aufspürt: »Car en somme, si paradoxal que cela paraisse, nous ne possédons à peu près rien sur la technique littéraire. Lorsqu’un écrivain réfléchit sur son art […] c’est pour nous dire comment il conçoit le monde, quels rapports il entretient avec lui, ce que’est à ses yeux l’homme; bref, chacun dit qu’il est réaliste, jamais comment.«2

Mit der literarischen Technik und – so könnte man hinzuzufügen – mit der Erzähltechnik kommt also eine dritte Kategorie ins Spiel, welche die Perspektive auf die Literatur, ihren Ort in der Welt und mithin ihr Verhältnis zu dieser verändert. Samuel Becketts Texte entstehen in einem ähnlichen Zeitraum wie Barthes Essay. Wirft man einen kursorischen Blick auf die Beckett-Rezeption, so ist in Bezug auf die narrativen Texte durch1 2

Barthes, Roland: »La réponse de Kafka«, in: Roland Barthes, Essais critiques, Paris: Seuil 1964, S. 143-147. Ebd., S. 144.

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Daniel Bengsch aus ein breites Interesse für die literarische Technik zu verzeichnen.3 Dennoch scheint sie sich überwiegend für eine Lesart entschieden zu haben, die den existenzialistischen Kategorien in gewisser Weise verpflichtet bleibt. Denn häufig erwähnte Themen oder Techniken aus dem Bereich der Ironie, Parodie sowie Infragestellung des Subjekts, vor allem aber das Absurde können als existenzialistische Themen verstanden werden, mit deren Hilfe man Becketts Texten eine Aussagekraft zuweist, die in ihrer außertextlichen Weltverbundenheit begründet liegt. Becketts Fall scheint Kafkas Fall nicht unähnlich zu sein. Gerade die Beschäftigung mit der Kategorie Raum läuft Gefahr, in altem Fahrwasser zu bleiben. Die im literarischen Text begrenzte räumliche Welt steht für die außertextliche, unbegrenzte Welt, so Jurij Lotmans These zur Welthaltigkeit räumlicher Modelle in literarischen Texten.4 Lotmans Begriff des künstlerischen Raumes, seiner Konstruktion und, hiermit verbunden, seiner Rahmung sowie Modellierung und »Akzentuierung des Anfanges oder des Endes«5 interessiert sich grundsätzlich für die Zeichenhaftigkeit der Raumkonstruktion, versteht sich jedoch in seiner kultursemiotischen Ausrichtung als ein »Kodierungssystem des Textes«6, welches das Kunstwerk »in seiner Endlichkeit« auf »ein unendliches Objekt – die im Verhältnis zum Kunstwerk äußere Welt« in ein sinnhaftes Verhältnis stellt.7 Dass die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Raum sich in letzter Zeit schwer von einer solchen (mimetischen) Perspektive emanzipiert, mag daran liegen, dass kaum ein Modell vorliegt, das den literarischen Raum nicht als Metapher oder Symbol für etwas liest. Es gibt wenige literaturwissenschaftliche Betrachtungen des Raumes, die sich für seine Machart, seine Topologie und seine Organisation in erzählpoetischer Hinsicht interes-

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So widmet man sich beispielsweise literarischen Vorbildern und Intertexten, allen voran Joyce und Dante, der Ironie und Parodie, oder unternimmt romantheoretische Einordnungen. Vgl. Fletcher, John: Die Kunst des Samuel Beckett, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976; Mayoux, Jean-Jacques: Über Beckett. Mit einer Bibliographie von John Fletcher, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1966; Godard, Henri: Le roman modes d’emploi, Paris: Gallimard 2006. Vgl. Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, München: Fink 1981, S. 301. Ebd., S. 307. Ebd., S. 311. Ebd.

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Figur, Objekt, Stimme sieren, ihn also als ein konstitutives Element des Romans verstehen.8 Der vorliegende Aufsatz macht sich zur Aufgabe, Raum bei Beckett auf seine Erzähltechnik hin zu befragen. Es wird ein vornehmlich erzählpoetisches bzw. sprach- und fiktionstheoretisches Interesse an Becketts Narrativik herangetragen. Hierbei bezieht sich die Untersuchung vor allem auf Murphy und Der Ausgestoßene. Darüber hinaus geht sie auf Watt sowie auf Molloy und Malone stirbt ein.9 Dass die Kategorie Raum sich durchaus dazu eignet, eine erzählpoetische Aussage im Allgemeinen und, auf Beckett bezogen, im Besonderen zu formulieren, beweisen vor allem die Arbeiten von Maurice Blanchot, Bernard Pingaud und Dominique Rabaté.10 Sie zeigen, dass in der literaturtheoretischen und erzählpoetischen Auseinandersetzung mit der Narrativik Becketts die Kategorie Raum ein konzeptuelles Zentrum bildet. Bernard Pingaud untersucht in seinem Essay »Le murmure incessant de Beckett« am Beispiel von Molloy u.a. das Gefüge von histoire, voix und récit und vertritt in ähnlicher Weise wie Barthes in seinen Ausführungen zu Kafka die These, dass »le propos de Beckett est essentiellement littéraire.«11 Die Frage »que veut nous dire Beckett?«12 findet bei Pingaud eine sprach- und fiktionstheoretische Antwort jenseits der zu Beginn der 60er Jahre noch fest etablierten existenzialistischen Prägung des Literaturbegriffs. Die schriftstellerische Arbeit, der Schreibakt »ne s’adresse pas directement à quelqu’un«.13 In den Vordergrund rückt die »expérience imaginaire du récit«, die mit der außertextlichen Welt und dem Leben nunmehr in Form einer »expérience possible« verbunden werden kann.14 Molloy und die restlichen Romane der

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Vgl. Bourneuf, Roland: »L’organisation de l’espace dans le roman«, Études littéraires 2 (1970), S. 77-94; Ricard, François: »Le décor romanesque«, Études françaises 8 (1972), S. 343-362. Beckett, Samuel: Murphy, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, ders.: Molloy, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975, ders.: Malone stirbt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, ders.: Watt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, ders.: Der Ausgestoßene, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984. Vgl. Blanchot, Maurice: »Où maintenant? Qui maintenant«, in: ders., Le livre à venir, Paris: Gallimard 1959, S. 286-295; Pingaud, Bernard: »Le murmure incessant de Beckett«, in: ders., L’expérience romanesque, Paris, Gallimard 1983, S. 182-198; Rabaté, Dominique: Vers une littérature de l’épuisement, Paris: José Corti 1991, S. 120-132. B. Pingaud: »Le murmure incessant de Beckett« (wie Anm. 10), S. 185. Ebd., S. 187. Ebd., S. 186. Ebd. Auch Barthes schlägt diesen Weg der Bedeutungszuweisung der »technique de Kafka« ein; vgl. R. Barthes: »La réponse de Kafka« (wie Anm. 1), S. 147.

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Daniel Bengsch Trilogie stellen die »conventions romanesques« in Frage, ja zerstören sie in vielerlei Hinsicht: »il n’y a plus ni héros ni intrigue, mais des images monstrueuses qui apparaissent et se disloquent au fil des mots, échangeant leurs noms, leurs infirmités, leurs fonctions. La véritable loi du discours, chez Beckett, n’est pas la contradiction, c’est la métamorphose.«15 Indem Pingaud ein Gesetz des discours postuliert, revidiert er ebenfalls den Status des Erzählers, der – »maintenant livré à lui-même, c’est-à-dire au langage«16 – nicht mehr als den Ausdruck seiner »fantaisie pure«17 meint. Die Worte des Erzählerdiskurses sind lediglich »fragments d’un immense discours, à la limite sans objet.«18 Ihre Wirkung besteht darin, eine fortwährend sprechende Stimme zu evozieren, »comme si le discours était d’autant plus efficace que l’orateur serait plus insaisissable.«19 Anhand der »expérience imaginaire du récit« auf der einen Seite und der »expérience possible de la vie« auf der anderen, aber auch der Bestimmung des Schreib- und Erzählaktes als schier kommunikationslose Vorgänge, wird deutlich, dass Pingauds Ausführungen den räumlichen Kategorien des Literatur- und Fiktionsbegriffs von Maurice Blanchot verpflichtet sind.20 Ausgehend von Pingauds und Blanchots Arbeiten werden in dem vorliegenden Aufsatz mit den Begriffen Figur, Objekt und Stimme die Grundpfeiler der folgenden Ausführungen gesetzt. Es mag kurios erscheinen, dass die Analyse und Interpretation des Raumes sich auf ausgerechnet diejenigen Begriffe stützt, die u.a. fest in der Narratologie verankert sind. Schließlich kann die Narratologie als dasjenige Theoriegebäude gelten, welches nicht bereit ist, das Thema Raum einer ihm gebührenden Wohnung anheimzugeben.21 Wie jedoch an einigen Beispielen bei Beckett gezeigt werden soll, kann anhand dieser Begriffe eine erzählpoetische Aussage getroffen werden, wenn man sie in Raumkoordinaten bettet. Dementsprechend wird hier versucht, von thematisch begründeteten Raum-Figur-Verhältnissen abzusehen, um grundsätzlich nach der 15 16 17 18 19 20

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B. Pingaud: »Le murmure incessant de Beckett« (wie Anm. 10), S. 188. Ebd. Ebd. Ebd., S. 185. Ebd. Vgl. Blanchot, Maurice: L’espace littéraire, Paris: Gallimard 1955, das Kapitel »Le chant des sirènes« in : ders., Le livre à venir (wie Anm. 10), S. 9-37 sowie den Aufsatz »La voix narrative« in: Maurice Blanchot, De Kafka à Kafka, Paris: Gallimard 1981, S. 171-184. Vgl. Genette, Gérard: »Espace et langage«, in: ders., Figures I, Paris: Seuil 1966, S. 101-108; ders.: »La littérature et l’espace«, in: ders., Figures II, Paris: Seuil 1979, S. 43-48 sowie die Ausführungen in dem Kapitel »Voix« in Genettes Figures III, Paris: Seuil 1972, S. 225-228.

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Figur, Objekt, Stimme Funktion des Raumes, seinem Stellenwert und seiner Organisation in der Narrativik Becketts zu fragen. Objekt und Raum sind für den Status der Figur von hoher Bedeutung. Denn der Raum als solcher ist der Ort, an dem die Figur handelt. Eine begrenzende Mauer oder eine Tür oder ein Fahrrad beeinflussen bzw. begünstigen die Bewegung und damit die Handlungsfähigkeit der Figur. Die Beschäftigung mit dem Raum in Becketts Texten stellt also zunächst die Frage nach seiner Repräsentation und bezieht diese dann auf den Status der Figur. Die narrative Repräsentation ist demnach getrennt zu betrachten von der Wahrnehmung des Raumes durch eine vor Ort platzierte Figur. Die Narratologie und mit ihr die hermeneutisch geprägte Fiktionstheorie von Paul Ricœur begreifen den Status des Protagonisten sowie der Intrige im Rahmen zeitlicher Koordinaten.22 Am Beispiel von den genannten Texten Becketts soll gezeigt werden, dass der Raum mindestens die gleiche – wenn nicht größere – Relevanz besitzt als die Zeit. Objekte werden im Hinblick auf die Intrige wichtig, weil sie entweder als Attribut des Protagonisten oder als autonomer Gegenstand im Raum die Handlungsfähigkeit beeinflussen. Auf der Ebene der Repräsentation des Raumes erfolgt seine Darstellung unabhängig von einer vor Ort platzierten Figur. Margaret MacDonald verwendet diesbezüglich den Begriff Dekor.23 Der aus dem Theaterbereich entlehnte Begriff meint die Komposition eines Raumes mit den in ihm platzierten Gegenständen. François Ricard begreift das Dekor als konstitutives Element der fiktiven Welt zunächst unabhängig von Gegenständen und Figuren. Topologische Gegebenheiten und Anordnungen formulieren eine grundlegende Aussage über die fiktive Welt des Romans, ohne auf eine »domaine extra-romanesque, en l’occurence ce qu’on nomme la réalité extérieure«24 zu verweisen. Die Enge eines Zimmers oder die Bushaltestelle im Stadtzentrum formulieren folglich Grundbedingungen der Bewegung und des Handelns. Weit davon entfernt, auf eine Inventarisierung hinauszuwollen, wird der Begriff Dekor hier in dem Wissen verwendet, dass der Raum – ähnlich wie die Handlung – arrangiert ist. In diesem Zusammenhang ist es geboten, einen Blick auf Straßen und Fortbewegungsmittel zu werfen, weil sie eine besondere Form der Bewegung im Raum darstellen. Fortbewegungsmittel genießen für Becketts Figuren eine hohe Priorität. Sie ermöglichen es der Figur schneller und vor allem sitzend, den Raum in einer glei22 23 24

Vgl. Ricœur, Paul: Temps et récit, 3 Bde., Paris: Seuil 1983-1985 sowie ders.: Soi-même comme un autre, Paris: Seuil 1990. MacDonald, Margaret: »Le langage de la fiction«, in: Gérard Genette (Hg.), Esthétique et poétique, Paris: Seuil 1992, S. 203-228, hier S. 221. F. Ricard: »Le décor romanesque« (wie Anm. 8), S. 345.

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Daniel Bengsch tenden Bewegung passiv zu durchqueren. Sei es der 11er Bus, mit dem Murphy es liebt durch London zu fahren, der Zug in Watt, in dem der Protagonist ein für allemal aus der Großstadt zu Knotts Haus fährt, sei es das Fahrrad in Molloy oder die Kutsche in Der Ausgestoßene. Die Großstadt mit ihren modernen Verkehrsmitteln und breitgefächerten Erkundungs- sowie Erlebnismöglichkeiten dient den Figuren jedoch nicht als Handlungsort oder Ort der Selbstbehauptung. Im Gegensatz dazu fällt auf, dass sie eher schlecht zu Fuß sind. Murphy, der wie eine Versuchsratte in einem abgegrenzten Londoner Straßennetz hin und her läuft, muss sich immer wieder setzen oder hinlegen. Molloy kämpft sich mit Krücken durchs Gelände. Der Ausgestoßene kann sich nicht mit Bürgersteigen anfreunden und läuft mit einem Bein auf der Fahrbahn. Vielleicht steigt er deshalb schnell auf ein Gefährt um? Diese Figuren vermögen kaum mehr aus eigener Kraft ihre Umgebung zu erkunden und zu erobern. Sie bleiben Beobachter, die von A nach B fahren, ohne auf dem Weg ihre Spuren zu hinterlassen. Ähnliches gilt für die Aufenthaltsräume. Es fällt auf, dass sie oftmals in Abgeschiedenheit liegen: so z.B. die mit einer Leiter zu erreichende Dachkammer in der Psychiatrie in Murphy, die der höchstgelegene Punkt im Text ist. Malone erzählt von einem Bett aus in einem Zimmer. Auch das Haus von Mr. Knott in Watt, das kaum ein Fremder betritt, ist hier zu nennen. Der Ausgestoßene spricht – seinem Namen treu – aus der Abgeschiedenheit, obwohl hiermit – wie zu zeigen sein wird – etwas ganz anderes als die entlegene Wohnung gemeint ist. Ungeachtet der Erzählsituation kann in der Disposition der Aufenthaltsräume ein besonderes metonymisches Verhältnis zu den Protagonisten ausgemacht werden. Wellek und Warren stellen im Allgemeinen fest, dass »tout milieu […] peut être considéré comme l’expérience métonymique ou métaphorique d’un personnage«;25 man kann hier von einem Verhältnis der Zugehörigkeit des Protagonisten zum Raum sprechen, die auf verschiedene Weise zustande kommt. Auf Becketts Figuren bezogen bleibt dieses poetische Verhältnis von Figur und Raum zwar erhalten, doch es drückt gleichzeitig eine Nicht-Zugehörigkeit und Distanzierung zur restlichen Welt aus. Denn schließlich können die Aufenthaltsräume als Orte verstanden werden, an denen die Protagonisten ausharren, um gerade der Bestimmung zu folgen, nicht tätig zu sein und nicht zu handeln. Vor allem das Beispiel der Dachkammer in Murphy veranschaulicht sehr eindrücklich Murphys Trachten nach einem mentalen Dasein. Die Dachkammer kann folglich als ein Ort angesehen werden, der ein Grundgesetz in dieser fiktiven Welt und dem Wirken Murphys in ihr symbolisiert.

25

Wellek, René/Warren, Austin: La théorie littéraire, Paris: Seuil 1971, S. 309.

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Figur, Objekt, Stimme Der Protagonist manifestiert und behauptet seine Identität, indem er nicht handelt. Im Gegensatz zu einem traditionellen Helden entzieht sich Murphy der Bedingung, sich durch sein Tun in der Zeit zu behaupten und sich mit seiner Geschichte in die Zeit einzuschreiben. Seine größte Entfaltung besteht darin, dass er schier passiv eine Position im Raum einnimmt. Die eben charakterisierte Abgeschiedenheit der Räume entspricht der Kargheit der Möblierung oder der persönlichen Gegenstände. In Barthes’ Vorlesungen Le Neutre haben die persönlichen Gegenstände im Raum die Funktion, die Haltung des Bewohners zum Raum bzw. des Körpers zum Raum (er nennt dies Proxemie) auszudrücken: »l’objet est comme un geste de mon corps«26. Der Gegenstand im Haus oder in der Wohnung strukturiert und organisiert den Rückzugsraum. Er versteht sich als Ausdruck einer körperlichen Anwesenheit desjenigen, der die Gegenstände im Raum platziert. Dies impliziert gleichzeitig ein Besitzverhältnis zwischen Bewohner, Raum und Objekt. Becketts Figuren besitzen kaum Gegenstände, welche den Raum qualitativ bestimmen. Die reduzierte Anzahl an Gegenständen drückt fast das Gegenteil einer Proxemie aus. Ihre Besitzer vermögen ihrer Körperlichkeit in kaum nennenswerten Gesten Ausdruck zu verleihen. Die körperliche Präsenz scheint zu schwinden. Eines von Murphys liebsten Besitztümern ist ein Schaukelstuhl. Malones wichtigstes Attribut ist ein Stock, der ihm hilft, Gegenstände von seinem Bett aus umzuschichten, »augmentant par là le cercle de son immobilité«27. Des Weiteren besitzt er einen Stift »qui l’augmente [l’immobilité, D.B.] plus encore en faisant de son espace l’espace infini des mots et des histoires«28. Wiederum andere Gegenstände sind den Figuren zugeordnet, das heißt, sie kommen zu ihnen und nicht umgekehrt. Ihre vermeintlichen Besitzer erscheinen wie Fremdkörper im Raum. So ist Watt Diener in Mr. Knotts Haus. Folglich bewohnt er einen Raum, der von einem Fremden eingerichtet ist. Der Ausgestoßene besitzt nichts außer seiner Kleidung und einem Hut. Wie zu Beginn der Erzählung zu erfahren ist, wird der Hut von seinem Vater ausgesucht und ihm aufgedrängt. Der Ausgestoßene erzählt, dass er sich schon in der Vergangenheit von dem Hut trennen wollte. Der Hut ist also gar kein persönlicher Gegenstand, es ist vielmehr ein Muss, als solches ein Gegenstand, der das Verhältnis des Trägers zu seiner Welt als eines der Unfreiwilligkeit signifiziert.

26 27 28

Barthes, Roland: Le Neutre. Notes de cours au Collège de France 19771978, Paris: Seuil 2002, S. 186. M. Blanchot: »Où maintenant? Qui maintenant« (wie Anm. 10), S. 288. Ebd.

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Daniel Bengsch Im Rahmen des hier formulierten erzählpoetischen Erkenntnisinteresses ist es unabdingbar, die Repräsentation des Raumes in ihrem Verhältnis zur Narration zu betrachten: Während der Erzähler die konstruktive Funktion29 des Raumes für die Handlung einer Figur verantwortet, ist ihm in der Diegese selbst vergleichsweise selten ein heimeliger Platz beschieden. Erzählt er dennoch am Kaminfeuer oder schreibt an einem Tisch sitzend, dann haben wir es in den meisten Fällen mit einem homo- oder intradiegetischen Erzähler zu tun. Extradiegetische Erzähler stellen sich dem Leser eher als körperlose Stimme in der Diegese vor.30 Im Hinblick auf Becketts Texte ist es unerlässlich den Raum des Erzählers von dem erzählten Raum zu unterscheiden. Besonders in den Ich-Romanen ist die Beschaffenheit des Raumes, in dem sich der Erzähler befindet, von Wichtigkeit: So ist der Raum oftmals klaustrophobisch, karg eingerichtet oder, von einer Liegestatt abgesehen, gänzlich leer. Im Gegensatz dazu sind die Räume, welche sich die Ich-Stimme in ihren Geschichten gibt, vergleichsweise groß, ja schier unbegrenzt. Blanchot zeigt am Beispiel der Romantrilogie, wie von Molloy über Malone stirbt bis zu Der Namenlose die Rolle des Raumes, in dem sich der Erzähler befindet, im Verhältnis zu dem erzählten Raum, »l’espace infini des mots«31, für die Erzählung abnimmt. Mit der anwachsenden Dominanz des »langage irréel«32 wird die Distanz und mithin die Fremdartigkeit beider Räume zueinander deutlich, so dass der Erzähler im Erzählakt zu sich in eine Außenseiterposition und damit in einen Vorgang der Ich-Negation geführt wird, »faisant de lui un être sans nom, l’Innommable, un être sans être qui ne peut ni vivre ni mourir, ni cesser ni commencer, le lieu vide où parle le désœuvrement d’une parole vide et que

29

30

31 32

Ricard verwendet diesen Begriff in der Definition von J. Tynianov: »J’appelle fonction constructive d’un élément de l’œuvre littéraire comme système, sa possibilité d’entrer en corrélation avec les autres éléments du même système et par conséquent avec le système entier« zit. bei F. Ricard: »Le décor romanesque« (wie Anm. 8), S. 345f. Dies mag ein Grund dafür sein, dass die Narratologie dem Raum kaum Beachtung schenkt und dem Phänomen der Stimme in ihren Betrachtungen Vorzug leistet. Nichtsdestoweniger hält die Stimme oftmals als Metapher einer abwesenden personalisierten Erzählinstanz her. So auch bei Genette: Figures III, S. 226. Vgl. Nünning, Ansgar: »Mimesis des Erzählens. Prolegomena zu einer Wirkungsästhetik, Typologie und Funktionsgeschichte des Akts des Erzählens und der Metanarration«, in: Jörg Helbig (Hg.), Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert, Heidelberg: Winter 2001, S. 13-47 und Grabes, Herbert: »Wie aus Sätzen Personen werden… Über die Erforschung literarischer Figuren«, Poetica 10 (1978), S. 405-428. M. Blanchot: »Où maintenant? Qui maintenant« (wie Anm. 10), S. 288. B. Pingaud: »Le murmure incessant de Beckett« (wie Anm. 10), S. 186.

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Figur, Objekt, Stimme recouvre tant bien que mal un Je poreux et agonisant«.33. In Malone stirbt steht die oxymorontische Wirkung des Erzählaktes im Mittelpunkt; sie besteht darin, dass im Vorgang des Erzählens beide Räume evoziert werden. Der Erzähler führt sich als ein Sterbender ein, der in einem Zimmer liegt, das ihm zu gehören scheint! Neben der Anspielung auf das Incipit von Molloy meint das prekäre Besitzverhältnis von Zimmer und Bewohner im übertragenen Sinn die Unbehaustheit, die jeder Erzählung entspringt.34 Denn der vielleicht in diesem Raum tatsächlich stattfindende Prozess des Sterbens entfaltet gleichzeitig eine auf den Erzählvorgang übertragene Bedeutung; Erzählen meint Sterben, weil Geschichten »beinahe leblos« sind, »wie der Erzähler«35. In Der Ausgestoßene wird das eben beleuchtete Verhältnis von Raum und Narration zugespitzt. Der Hut spielt hierbei eine entscheidende Rolle: Als der Erzähler aus seinem Wohnhaus (!) aus unerfindlichen Gründen vertrieben und ohne Hut von der Außentreppe auf die Straße gestoßen wird, scheint der Moment gekommen, sich des Hutes für immer zu entledigen. Doch während der Erzähler noch im Rinnstein liegt und gerade zu träumen beginnt, hört er hinter sich die Tür aufgehen: »Aber das schwächere, jedoch unverkennbare Geräusch der von neuem zugeknallten Tür riß mich aus meiner Träumerei, wo sich schon eine bezaubernde, ganztraumhafte Landschaft mit Hagedorn und wilden Rosen anordnete, und ließ mich den Kopf aufrichten, wobei die Hände flach auf dem Bürgersteig lagen und ich die Knie durchdrückte. Aber es war nur mein Hut, der, sich um sich selbst drehend, durch die Lüfte auf mich zuschwebte. Ich schnappte ihn und setzte ihn auf. Sie waren sehr korrekt, gemäß den Geboten ihres Gottes. Sie hätten den Hut behalten können, aber er gehörte nicht ihnen, sondern mir, also gaben sie ihn mir zurück. Aber die Stimmung war verdorben.«36

Der vermeintlich persönliche Gegenstand betont die Nichtzugehörigkeit zum Haus und seinen Geboten37 ebenso wie die Nichtzugehö33 34 35

36 37

M. Blanchot: »Où maintenant? Qui maintenant« (wie Anm. 10), S. 290. S. Beckett: Malone stirbt (wie Anm. 9), S. 11. Ebd., S. 8. Im französischen Original steht allerdings nicht das Wort narrateur, sondern artiste, so dass hier ebenso eine Abkopplung des Autors von seinem Werk impliziert ist. S. Beckett: Der Ausgestoßene (wie Anm. 9), S. 15. In der Narrativik des 20. Jh. taucht das Haus mit seinen unergründbaren Geboten und Göttern (sprich Autoren und Erzählern) oftmals als Metapher für eine erzählpoetische Selbstreflexion innovativer Erzählungen auf. Genannt seien hier vor allem Blanchots Aminadab, L’arrêt de mort, Au moment voulu, Celui qui ne m’accompagnait pas, in diesem Zusammenhang seien auch erwähnt Marie NDiayes Un temps de saison, Perecs La vie mode d’emploi sowie in der deutschen Literatur Kafkas Schloss und Hesses Glas-

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Daniel Bengsch rigkeit zu seinem Träger, der es nicht bewerkstelligt, sich von dem ungeliebten Gegenstand zu trennen. Interessant ist der Hut jedoch in seiner Funktion, Raum zu konstruieren. Das »unverkennbare Geräusch« der zuknallenden Tür veranlasst den Ausgestoßenen sich aufzurichten, in sein Blickfeld fliegt der Hut auf ihn zu. Die Flugbahn des Hutes vom Haus hin zum Betrachter holt diesen aus seiner Träumerei zurück, in der gerade ein zweiter Raum mit Hagedorn und Rosen entstand. Der fliegende Hut beschreibt erneut den Raum, durch den schon der Erzähler vom Hauseingang hin zum Rinnstein in ähnlicher Weise geflogen ist. Der Gegenstand besiegelt den Rauswurf. Gleichzeitig unterstreicht seine Flugbahn einen offenen distanzierten Raum zwischen Ausgestoßenem und dem Ort der häuslichen Nähe und Gemeinschaft. Der Erzähler wird sie nicht mehr wiederfinden. Er ist und bleibt ein Ausgestoßener. Am Ende der Erzählung wird erkennbar, welche Folge der Rauswurf aus dem Haus hat: »Wenn ich draußen bin, morgens, gehe ich der Sonne entgegen, und abends, wenn ich draußen bin, folge ich ihr, bis in die Welt der Toten. Ich weiß nicht, warum ich diese Geschichte erzählt habe. Ich hätte ebenso gut eine andere erzählen können. Ein andermal werde ich vielleicht eine andere erzählen können. Wie sehr sie sich gleichen, das werdet ihr sehen, ihr lebenden Seelen.«38

Der Verstoß aus dem Haus kann in gewisser Weise als sozialer Tod gelesen werden. Doch die Betonung des Erzählakts am Ende der Erzählung spricht wohl kaum für eine soziale Obdachlosigkeit, sondern für eine narrative. Das Erzählen einer Geschichte spaltet das Ich in ein erzähltes und in ein ausgestoßenes erzählendes Ich. Das eine gehört einer Welt an, mit deren Häusern, Straßen und Kutschen der Leser vertraut gemacht wird. Das erzählende Ich gehört dieser Welt längst nicht mehr an. Von dem Moment an, wo es beginnt seine Geschichte zu erzählen, löst es sich von jedweder Welt, seine Stimme dringt aus der Welt der Toten zu uns, den lebenden und lesenden Seelen. In diesem Sinne kann die Geschichte des Ausgestoßenen als metapoetisches Gleichnis verstanden werden, welches die in Becketts Ich-Romanen häufig auftauchende Verbindung von Erzählakt und Tod aufgreift. Ein letztes Beispiel für eine besondere Verflechtung von Raum und Narration sei mit Watt gegeben. Der nachstehende Textausschnitt steht zusammengefasst in folgendem Kontext: Ein gebrechlicher Mann, namens Hackett, steht vor einer Bank und betrachtet die auf ihr sitzenden Personen, ein Herr namens Goff Nixon und

38

perlenspiel. Vgl. Schmeling, Manfred: Der labyrinthische Diskurs. Vom Mythos zum Erzählmodell, Frankfurt am Main: Athenäum 1987. S. Beckett: Der Ausgestoßene (wie Anm. 9), S. 91.

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Figur, Objekt, Stimme seiner Frau Mrs. Nixon: »Sie warteten vielleicht auch auf die Straßenbahn, auf eine Straßenbahn, denn viele Straßenbahnen hielten hier, wenn sie von außen oder innen dazu aufgefordert wurden.«39 Die drei kommen in ein Gespräch, bis Mr. Nixon auf der anderen Straßenseite Watt erblickt. Watt schuldet Nixon Geld, weswegen Nixon zu Watt hinüber läuft, jedoch verärgert zurückkehrt. Er berichtet, dass Watt vorhabe zu verreisen, und dass Watt von seinem Reisevorhaben abkommen müsse, forderte Nixon von ihm auch nur einen Teilbetrag zurück. Während die Figuren sich über Watt unterhalten, machen sie sich auch auf Watts Bewegungen aufmerksam: »Da ist er jetzt auf der Brücke, sagte Mrs. Nixon. Er stand mit dem Rücken zu ihnen, sein Oberkörper hob sich schwach vom letzten Schimmer des Tages ab. […] Wie ein Kloakenrohr, sagte Mrs. Nixon. Wo sind seine Arme? […] Er ist weg, sagte Mrs. Nixon. Nanu, sagte Mr. Nixon. […] Er ist jetzt auf dem Weg zum Bahnhof, sagte Mr. Nixon Warum mag er wohl hier ausgestiegen sein? Hier ist die Penny-Zahlgrenze, sagte Mrs. Nixon. Das hängt davon ab, wo er eingestiegen ist, sagte Mr. Nixon. […] Warum ist er dann hier ausgestiegen? sagte Mr. Nixon. Vielleicht wollte er ein wenig Luft schnappen, sagte Mr. Hackett […] Vielleicht, sagte Mr. Hackett, entschloß er sich, die Stadt doch nicht zu verlassen. Zwischen der Endstation und hier hatte er Zeit, sich die Sache noch mal zu überlegen. […] Womöglich liegt er jetzt schon schnarchend in Quin’s Hotel. […] Oder irgendwo auf einer Bank sagte Mrs. Nixon. Oder im Park. Oder auf dem Fußballplatz. Oder auf dem Krickettfeld. Oder auf der Spielwiese. Oder auf dem Tennisplatz, sagte Mr. Nixon. […] Der Gedanke, die Stadt zu verlassen, war ihm sehr schmerzlich, sagte Mr. Hackett. […] Also machte er sich auf zum Bahnhof, halbwegs hoffend, den Zug zu verpassen. Sie mögen recht haben, sagte Mr. Nixon. Aus Angst, sich mit dem Gewicht einer Entscheidung zu belasten, sagte Mr. Hackett, überläßt er diese dem kalten Mechanismus einer Zeit-Raum-Relation.«40

Hier liegt die Repräsentation des Raumes nicht in der Hand des heterodiegetischen Erzählers. Raum entsteht durch die Rede von Figuren in der fiktiven Welt, man könnte also in gewisser Hinsicht von ihnen als intradiegetische Erzähler sprechen. Die Dialogszene gleicht einer Bühnensituation. Während die Gesprächsteilnehmer fest an einem Punkt bleiben, geht Watt durch den Raum und verschwindet allmählich, zum ersten weil er sich anscheinend aus dem Blickfeld der Betrachter bewegt, zum zweiten weil die Abenddämmerung seine Konturen verwischt. Man sieht ihn auf einer Brücke, man sieht schwach seinen Oberkörper, man sieht ihn ohne Arme, man sieht ihn schließlich nicht mehr. In dem Maße, wie Watt aus dem Raum ausgeblendet wird, steigt die Präzision der Örtlichkeit. Bis auf die Brücke, auf der man kurz Watt sehen kann, wird der Ort 39 40

S. Beckett: Watt (wie Anm. 9), S. 7. Ebd., S. 18-21.

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Daniel Bengsch keineswegs durch die Wahrnehmung seiner Elemente konkret. Er entsteht vielmehr in der Rede von abstrakten Orientierungspunkten, als würde man von einem Plan der öffentlichen Verkehrsmittel sprechen; die wichtigsten Punkte sind: Haltestelle, Zahlgrenze, Endstation und Bahnhof. Auffällig ist hierbei, dass es sich vornehmlich um Transiträume handelt, die das graduelle Entgleiten von Watt symbolisieren. Mit fortschreitendem Dialog, Watt ist längst nicht mehr zu sehen, entsteht ein virtueller Raum für eine mögliche Geschichte Watts. Seine Anwesenheit hier oder da ist beliebig (mit Angaben möglicher Aufenthaltsorte sparen die Figuren ja nicht). Dieses Merkmal trifft für Watt im gesamten Text zu. Ganz gleich, wo er sich befindet, seine Anwesenheit im Raum ist verschwindend gering. Der im Dialog entstehende Raum ist ein in die fiktive Welt geschachtelter Als-ob-Raum, der – wie die fiktive Welt – jedweder realen Berechtigung entbehrt. Beide gehorchen »dem kalten Mechanismus einer Zeit-Raum-Relation«. Schauen wir uns jedoch am Incipit von Murphy genauer an, wie Raum narrativ dargestellt und in Beziehung zum Protagonisten gesetzt wird: »Die Sonne schien, da sie keine andere Wahl hatte, auf Nichts des Neuen. Murphy saß, als ob es ihm frei stünde, im Schatten, in einer Gasse West Bromptons. Hier hatte er wohl schon sechs Monate lang gegessen, getrunken, geschlafen, sich an- und ausgezogen, in einem mittelgroßen Käfig mit Front nach Nordwesten und ununterbrochener Sicht auf mittelgroße Käfige mit Front nach Südwesten. Er würde sich bald mit etwas anderem behelfen müssen, denn die Tage der Gasse waren gezählt. Er würde von neuem essen, trinken, schlafen, sich anund ausziehen lernen. Er saß nackt in seinem Schaukelstuhl […]. Er gehörte ihm, er verließ ihn nie. Die Ecke, in der er saß, war durch einen Vorhang gegen die Sonne abgeschirmt, die arme, alte Sonne, die zum billionsten Mal wieder im Zeichen der Jungfrau stand.«41

Anhand der Raumkoordinaten des Incipits von Murphy lässt sich das Programm, nach dem erzählt wird, aber auch das Verhältnis von Murphy und Raum charakterisieren. Im Gegensatz beispielsweise zu einem Roman der realistischen Erzähltradition eines Balzac, präsentiert Becketts Erzähler ohne Umschweife den Raum, in den der Protagonist platziert ist. Nach Ricards Terminologie haben wir es hier mit einem Dekor oder Rahmen zu tun, der dem Protagonisten als Umgebung dient, ohne dass diese die Taten des Protagonisten bereits bestimmt. Auffällig an der Passage ist, dass der Ort, an dem sich Murphy befindet, stets in Relation zum Außenraum gesetzt wird. Die Ausdehnung des Außenraumes ist immens, ja schier unermesslich. Die Sonne im Zeichen der Jungfrau zeigt die Weite 41

S. Beckett: Murphy (wie Anm. 9), S. 7.

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Figur, Objekt, Stimme des Raumes nach oben an, die Himmelsrichtungen öffnen den Raum auf der Horizontalen. Die raumbeschreibenden Elemente verhalten sich allesamt antithetisch zueinander: innen/außen und dunkel/hell. Besondere Aufmerksamkeit erregen Sonne, Sternbild und Himmelsrichtungen. Der Schauplatz steht anscheinend im Zeichen eines kosmischen Gefüges. Becketts Erzähler weist sich als ein Kenner des Erzählanfangs aus. Er zitiert und parodiert gleich zwei traditionelle Verfahren: Die aufgehende Sonne, welche wie ein Bühnenscheinwerfer Licht auf die Kulisse wirft, damit die Geschichte beginnen kann und die Taten des Protagonisten seine Heldenhaftigkeit zu Tage befördern. Zudem greift die narrative Gestaltung des Incipits Elemente auf, die für Romananfänge Balzacs typisch sind.42 So findet sich die für eine nullfokalisierte Erzählung nicht ungewöhnliche Prolepse, »die Tage der Gasse waren gezählt«, sowie die verengende Perspektive. Ein ironischer Unterton ist nicht zu überhören: Während in der Antike die Sonne oder Helios’ Wagen tatsächlich etwas Neues bescheinen und dem Leser oder Zuschauer vor Augen führen,43 scheint in Murphy die Sonne auf alles und Nichts des Neuen. Schließlich hat am Ende der Passage der Erzähler nahezu Mitleid mit dem armen Himmelskörper, der zum x-ten Male in irgendeinem Sternbild steht, doch dafür nichts kann. Dass die Gestirne in Murphy symbolische Botschaften aussenden, diesen Glauben nimmt der Erzähler seiner Leserschaft. In seiner Kenntnis von Erzählgepflogenheiten gibt er sich von Anfang an als der eigentliche unbewegte Beweger in diesem fiktiven Universum zu erkennen. Dabei sind kosmische Raumkoordinaten für Murphy alles andere als unbedeutend. So ist neben dem Schaukelstuhl sein zweitwichtigster Besitz eine Sternenkarte, der drittwichtigste ein Horoskop. Mit der Sternenkarte läuft er durch London, nicht etwa aus Interesse an der Astronomie, noch um seinen Weg in der Großstadt zu finden. Murphy braucht die Sternenkarte vielmehr, um ein Gesetz seiner Persönlichkeit und ihrer vorherbestimmten Orientierung in der Welt aufzuspüren. Murphy schwört dem äußeren Leben, der Arbeit und dem Geldverdienen ab. Für ihn hat das Leben im Geiste oberste Priorität. Eine Unterredung zwischen Murphy und Celia, seiner Geliebten, in der Celia ihn überredet, arbeiten zu gehen – andernfalls würde sie ihn verlassen –, endet damit, dass er sie bittet, die letzten Pen42

43

Vgl. Falconer, Graham: »L’entrée en matière chez Balzac. Prolégomènes à une étude sociocritique« in: Graham Falconer/Henri Mitterand (Hg.), La Lecture sociocritique du texte romanesque, Toronto: Samuel Stevens, Hakkert & Company 1975, S. 129-150. Vgl. Klotz, Volker: »Muse und Helios. Über epische Anfangsnöte und -weisen«, in: Norbert Miller (Hg.), Romananfänge. Versuch zu einer Poetik des Romans, Berlin: Literarisches Kolloquium Berlin 1965, S. 11-36.

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Daniel Bengsch nys zusammenzusuchen, einen berühmten indischen Guru ausfindig zu machen und das alles entscheidende Horoskop für Murphy zu erwerben. Das Horoskop wird herbeigeschafft. Begebenheiten, Krankheiten, Glücksjahre, -tage und -zahlen liefern fortan die Vorgaben sämtlicher Taten Murphys. »Die Glückszahl würde ein ganzes Jahr lang nicht als Datum eines Sonntags auftreten; bis Sonntag, dem 4. Oktober 1936 würde jedwedem Unternehmen Murphys ein Maximum an Erfolgsaussichten fehlen«.44 Murphys Glaube an das »System der Himmelskörper« bindet ihn – wie Jacques den Fatalisten – an das, was dort oben geschrieben steht. Sterne und Glückszahlen erklären Murphys Taten im Namen der Astrologie für null und nichtig. Ein Held, der seine Bestimmung im Horoskop sieht, kann in einer Welt, in der der Kosmos parodiert wird, nicht viel ausrichten. Murphys unerschütterlicher Glaube an die Sterne legt ihm einen vorher- und vor allem fremdbestimmten Parcours auf. Das Wort Parcours ist in diesem Zusammenhang wichtig, weil es in enger Verbindung mit der narrativen Konfiguration der Handlung steht: Der Roman Murphy besteht aus zwei Handlungssträngen, der eine verfolgt Murphys Tun und Lassen in London, der zweite Handlungsstrang nimmt Mr. Neary und Wylie ins Visier, die Murphy suchen. Neary und Wylie kommen aus Cork bzw. Dublin. Ihr Aufbruch nach London, wo sie Murphy letztlich auch finden, ist durch die Suche motiviert. Ihr Parcours im Raum gehorcht dem traditionellen Motiv der Queste, so dass Beobachtungspunkte, Raumeingrenzungen etc. ihrem Auftrag unterworfen sind. Ganz anders verhält es sich bei Murphy: »Murphy tat gut daran, […] sich dem langen Aufstieg nach Hause zuzuwenden. Der bei weitem beste Teil des Weges war die Steigung vom Kings’s CrossBahnhof durch die Caledonian Road, die ihn an die Steigung von der Gare St. Lazare durch die Rue d’Amsterdam erinnerte. Und wenn Brewery Road weit davon entfernt war, ein Boulevard de Clichy oder sogar des Batignolles zu sein, so war sie doch besser auf der Höhe des Hügels als die beiden anderen, so wie das Asyl (letzten Endes) besser ist als das Exil.«45

Murphys selbstgegebener Auftrag, ein Leben im Geiste zu führen, verwandelt die Funktion des Geistes, nämlich ein Instrument zu sein, in etwas, das »wie ein Ort funktioniert«.46 Der tatsächliche Weg durch London wird von Erinnerungen an Orte in Paris überlagert. Murphys Schritte neutralisieren den tatsächlichen Londoner Raum, weil er in Wahrheit durch einen Pariser Erinnerungsraum geht, der mit den tatsächlichen Örtlichkeiten außer Steigungen nichts gemein 44 45 46

S. Beckett: Murphy (wie Anm. 9), S. 60. Ebd., S. 58. Ebd., S. 133.

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Figur, Objekt, Stimme hat. Es scheint auf die Erinnerung an sich anzukommen, denn lieber erinnern und im Geiste vergleichen und so Asyl finden, als schlicht durch die Wirklichkeit von Londons Straßen laufen, was einer Emigration aus dem Geiste ins Exil des Körpers auf Asphalt gleichkäme. In diesem Zusammenhang ergibt sich auch eine Erklärung für die Vorliebe der gleitenden Fortbewegung im Bus. Wenn Murphy Bus fährt, braucht er nicht selbst die körperliche Anstrengung aufzubringen, sich durch den Raum zu schieben. Körper, Beine und Füße verharren ruhig und haben keinen Kontakt zu dem Unterboden, auf dem sie von dannen fahren. Die Fortbewegungsart, das Gleiten, macht hier den entscheidenden Unterschied, ist es doch dem Bewusstseinsstrom und Fließen der Gedanken so verwandt: »Murphy blieb noch ein Weilchen auf seinen Fersen sitzen, […]. Er […] löste seinen Geist von den groben Zudringlichkeiten von Sensation und Reflexion und schickte sich an, auf seinem hohlen Rücken der Erstarrung zu verfallen, nach der er sich seit fünf Stunden gesehnt hatte. […] Aber nun schien ihn nichts mehr zurückzuhalten. Nun kann mich nichts mehr zurückhalten, war sein letzter Gedanke, bevor er ins Bewußtsein versank, und nichts wird mich zurückhalten. Es tauchte wirklich nichts auf, um ihn zurückzuhalten, und er glitt hinweg, fort von Strafarbeiten und Zensuren, von Celia, Drogisten öffentlichen Wegen, usw., von Celia, Autobussen, öffentlichen Gärten, usw., dorthin, wo es weder Strafarbeiten noch Zensuren, sondern nur einen über alle Maßen vervollkommneten Murphy gab.«47

Murphys Kontakt zum Raum wird stets über minimale Berührungspunkte hergestellt. Das Hocken auf den Fersen, der hohle Rücken im Liegen, aber auch der Po, auf dem er im Schaukelstuhl sitzt, es handelt sich stets um Positionen, die Murphy einnimmt, um seine Zugehörigkeit zum Raum zu lösen und zu demotivieren. Seine starren Positionen im Schaukelstuhl und im Park haben denselben Zweck wie sein Gang durch London: Sie dienen als Ausgangshaltung für ein Hinweggleiten ins Immaterielle. Murphy zieht sich innerlich aus dem ihn umgebenden Raum zurück. Der Gang durch die äußere Realität, wie es im Roman heißt, ist dazu bestimmt, den Kontakt mit der Welt aufzulösen, um die Maße des Geistes innerlich abzuschreiten.48 Die Straßenangaben zu London und Paris besitzen kaum mehr einen referentiellen Wert. Sie bergen eher die Möglichkeit, einen zweiten Raum zu evozieren, der sich komplementär zum ersten verhält. Raumkoordinaten fungieren lediglich als mögliche Signifikanten einer Kulisse, in der sich die Figur befindet. 47 48

Ebd., S. 80f. Vgl. Janvier, Ludovic: Pour Samuel Beckett, Paris: Minuit 1966, S. 27.

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Daniel Bengsch Ein sprechendes Beispiel hierfür liefert das Schachspiel, das Murphy in der Psychiatrie mit einem Geisteskranken spielt. Im Text finden sich in zwei Kolonnen aufgereiht, jeweils die Züge von Murphy (weiß) und Mr. Endon (schwarz). Nachdem Mr. Endon ein Solitär »wirklich bewundernswert gespielt«49 hat, erkennt Murphy, dass er gegen den Geisteskranken keine Chance hat und gibt auf. Bald darauf wird Mr. Endon ohnehin mit dem Kopf »auf die Schachfiguren fallen, die mit etlichen Krach versprengt«50 werden. Es lohnt also nicht wirklich, sein eigenes Schachbrett neben den Text zu legen… Liegt die Vergeblichkeit des Spieles für Murphy tatsächlich in der geistigen Überlegenheit des Geisteskranken? Inhaltlich ist die Passage ein gelungener Streich. Formal betrachtet, kann das Schachspiel als eine mise en abyme des Raumes verstanden werden. Das in der Psychiatrie stattfindende Spiel, das Krankenhaus heißt übrigens Mercyseat, reflektiert im Kleinen das Spiel, welches der Erzähler mit seinen Figuren in dem von ihm entworfenen Weltgefüge spielt. Murphy, Celia und all die anderen sind Figuren auf einem Spielbrett, in dem der Erzähler das Ende dieses Solitärs […] wirklich bewundernswert […] spielt. Murphys Schachzüge, der Parcours seiner Figuren in seinen Fingern ähnelt Murphys Parcours unter dem Sternenhimmel, den der Erzähler über ihn spannt. Vom kosmischen Dekor über das Schachbrett bis hin zur inneren Realität des Protagonisten gehorcht das Raumgefüge in Murphy abstrakten und mentalen Gesetzen. Damit ist ein entscheidendes Merkmal des Raumes bei Beckett genannt. Der Raum und damit die fiktive Welt setzen sich nicht als absolut gültig. Sie erheben nicht den Anspruch ein unumstößliches So-Sein der Welt zu postulieren. Man stelle sich vor, was passieren würde, wenn die Balzac’sche Welt keinen unerschütterlichen Glauben in ihre Beschaffenheit hätte. Sie würde ihren Wahrheits- und Authentizitätsanspruch verlieren. In traditionellen fiktiven Welten ist es ja gerade die Beschaffenheit der Räume, welche die Wahrheit der Handlung und ihren Mitteilungswert garantiert. Figur und Raum sind in dem Maße miteinander verbunden, wie die Figur sich durch ihr Handeln in dem Raum behauptet. Aus dem Incipit von Murphy kann geschlossen werden, dass mit dem Übergang in die fiktive Welt der Eintritt in das Nichts des Neuen vollzogen wird. Doch auch das Nichts ist ein Ort, es ist ein Kein-Ort-Nirgends, den Becketts Texte nicht nur in den Köpfen der Figuren, sondern auch im Kopf des Lesers evozieren. In diesem Zusammenhang sei ein letztes Beispiel, die Beschreibung Celias, aus Murphy angeführt:

49 50

S. Beckett: Murphy (wie Anm. 9), S. 181. Ebd., S. 181f.

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Figur, Objekt, Stimme Die Beschreibung der Figur Celia findet sich zu Beginn des 2. Kapitels: »Alter Unwichtig Kopf Klein und rund Augen Grün Teint Weiß Haar Gelb Gesichtszüge Lebhaft Hals 36,9 cm Oberarm 28,9 Unterarm 26,1 Handgelenk 15,2 Brust 90,0 Taille 67,0 Hüften, usw. 92,0 Oberschenkel 55,0 Knie 30,2 Wade 29,7 Enkel 20,3 Rist Unwichtig Größe 163,0 Gewicht 55,9 Sie verließ die Telefonzelle in Windeseile mit entzückt wiegenden Hüften, usw. Die feurigen Pfeile der Liebeslüsternen wurden wie Zunder erstickt. Sie betrat den Frühstücksraum eines Feinkosthauses und ließ sich ein Brötchen mit Krabben und Tomaten und ein großes Glas weißen Portos an der Theke servieren.«51

Die Beschreibung der Figur erfolgt nicht in ganzen, fortlaufenden Sätzen, sondern wie bei dem bereits erwähnten Schachspiel über eine Liste, die aus zwei Kolonnen besteht: Auf der linken Seite finden sich Daten und Gliedmaßen, auf der rechten beschreibende Adjektive und Körpermaße. Bevor Celia in ihren Einzelteilen fertig zusammengesetzt in eine Telefonzelle in die fiktive Welt platziert wird, ist ihre Beschreibung in Listenform zunächst eine Angelegenheit des Textraumes. Bevor Celia in der Telefonzelle steht, ersteht sie auf dem Blatt Papier in Form von zwei Kolonnen, die den Leser dazu herausfordern, aus den Angaben auf dem Papier eine Figur in seinem Kopf zusammenzusetzen. Natürlich entsteht eine ansehnliche Figur, die in die fiktive Welt gesetzt, auch prompt seinen Vorstellungen genügt, da sie sich natürlich »mit entzückt wiegenden Hüften, usw.« bewegt. Der Erzähler hat den Schalk im Nacken. So wie er sein Spiel mit einem hoffnungslos in die Sterne vernarrten Murphy treibt, so spielt er auch mit dem Leser. Übten Daten und Zahlen womöglich eben noch eine fetischistische Wirkung auf den 51

Ebd., S. 13.

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Daniel Bengsch »Liebeslüsternen« aus, so verpuffen die Reize der Figur von dem Moment an, wo sie sich den Blicken entzieht, um in einem Feinkosthaus der Ernährung nachzugehen. Man kann die feurigen Pfeile wieder einstecken… Dieses Beispiel veranschaulicht, dass die mentalen und abstrakten Gesetze des Raumes sowohl für Murphy als auch für den Leser gelten. Die aufgereihten Zahlen und Daten zeichnen in ihrer Anordnung auf dem Papier die Figur abstrakt in den Textraum. Die Angaben funktionieren ähnlich wie ein Quelltext eines Computerprogramms. Bevor die eigentliche Figur jedoch auf der Oberfläche der fiktiven Welt in einer Telefonzelle erscheint, stellen die Daten eine drahtlose Verbindung zum Leser her. In seinem Kopf findet Celia ihre besondere Erscheinung komplementär zu dem Ort, wo sie sprachlich evoziert wird. In Butors Essay »L’espace du roman«52 heißt es, dass der Raum des Buches Teil des realen Raumes des Lesers wird. Dieses Eindringen des Buchraumes in den Leserraum ist jedoch nur möglich, weil der Lesakt den Leser selbst auf Distanz zu seiner realen Umgebung setzt. Butor zufolge macht der Text mit dem Leser etwas, das Murphy praktiziert. Zusammenfassend gesagt, zeigt die Untersuchung des Raumes bei Beckett, dass diese Kategorie in erzählpoetischer Hinsicht von innovativer Bedeutung ist. In Bezug auf die in ihm platzierte Figur wird deutlich, dass seine traditionelle Funktion, die darin besteht, mit ihr eine Einheit herzustellen, verloren geht. In den genannten Texten stehen Becketts Figuren zum Raum in einem Verhältnis der Nicht-Zugehörigkeit. So lassen sich zwar metonymische oder metaphorische Bezüge zwischen dem Protagonisten und dem Raum nach wie vor feststellen, doch diese verweisen nicht mehr auf eine aktive Unterwerfung des Raumes durch den Handlungsträger. Die passive räumliche Präsenz der Figuren im Raum dominiert über ihr tatsächlich aktives Wirken in der Zeit. Daher erscheinen Becketts Protagonisten oftmals als Fremdlinge in der narrativen Welt. Der erzählte Raum emanzipiert sich von seiner Abhängigkeit von einer handelnden Figur. Im gleichen Zug stellt der Raum seine sprachliche Verfasstheit und Fiktivität aus. In Murphy manifestiert sich dies sehr deutlich anhand einer Erzählerstimme, die traditionelle Erzählverfahren aufgreift und verfremdet. Sie zeigt sich aber auch in dem Horoskop, mit dem Murphy sein Nicht-Handeln rechtfertigt. Schließlich kommen sie auch in dem Schachspiel und der Figurenbeschreibung Celias zum Ausdruck. Sie betonen allesamt ihren zeichenhaften Charakter und verweisen auf die sprachliche Verfasstheit der fiktiven Welt. Besonders augenfällig zeigt sich dies in den

52

Butor, Michel: »L’espace du roman«, in: ders., Essais sur le roman, Paris: Gallimard, S. 48-58 hier S. 49f.

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Figur, Objekt, Stimme Romanen, in denen ein homodiegetischer Erzähler die Repräsentation des Raumes und der in ihm stattfindenden Ereignisse verantwortet. Der erzählte Raum erweist sich stets als ein virtueller Raum. In diesem Zusammenhang reflektiert der Traum des im Rinnstein Ausgestoßenen bereits auf (erzähl-)poetische Weise das Verhältnis des Ich-Erzählers zu der erzählten Welt. Denn er deutet bereits auf die Nicht-Zugehörigkeit der Figur zu der erzählten Welt und ihre Gebundenheit an einen imaginären Ort, von dem aus sie zu uns spricht. Raum als konstitutives Element in Becketts Texten übt auf das Verhältnis von Figur, Objekt und Stimme eine desintegrative Wirkung aus und entfaltet in diesem Sinne ein erzählpoetisch innovatives Potenzial. Es lässt sich in ähnlicher Weise auch auf der Ebene des Text-Leser-Verhältnisses feststellen, wenn – mit Butor gesprochen – Raum den Leser dazu aufruft, seine Welt mit der der Zeichen zu einem ailleurs zu verschmelzen, um ihm eine Bedeutung beizumessen: Die Bedeutung einer imaginären Erfahrung, die mit der Erfahrung in der Welt lediglich eine mögliche Verbindung unterhält.

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(Text-)Körper und Räumlichkeit in Becketts Le Dépeupleur SILKE SEGLER-MESSNER

Die Suche nach einer neuen Sprache Die Spätprosa Becketts ist von namen- und stimmlosen menschlichen Wesen bevölkert, die entweder gebeugt am Tisch und an der Wand sitzen, wie die alte Frau in Mal vu mal dit und die Besiegten in Le Dépeupleur, oder sich körperlich aufzulösen scheinen, um mit der Umgebung zu fusionieren wie in Bing. Die Räume, in denen sich die Figuren bewegen oder liegen, sind insbesondere in der Kurzprosa geometrisch exakt definiert und zugleich unbestimmt, insofern sie weniger auf eine außertextuelle Wirklichkeit als auf bildhafte Visionen referieren, die von einer neutralen Erzählstimme entworfen werden. Die circa zweihundert halbträgen Körper in Le Dépeupleur, deren Bewegungen durch Licht und Temperatur gesteuert werden, befinden sich in einem Zylinder, dessen Wände aus gummiartigem Material bestehen, wodurch der Eindruck vollkommener Tonlosigkeit entsteht. In Imagination morte imaginez befinden sich jeweils zwei weiße Körper in den exakt symmetrischen Halbkreisen einer weißen Rotunde, während in Bing ein einzelner nackter weißer Körper in einem grausandigen verlassenen Ödland auftaucht. Die Beschreibung der allesamt nackten menschlichen Leiber evoziert aufgrund der gräulich-weißen Farbgebung der Haut den Eindruck von Halbtoten, die sich in einem letzten Akt der Willensanstrengung gegen die Agonie, in der sie sich befinden, in zum Teil grotesk verzerrten Posen aufzubäumen scheinen. An die Stelle psychologischer Charakterbeschreibung und Handlungsgefüge treten Farben, Licht, Wärme, Kälte, Formkompositionen und expressive Körperhaltungen, die sich in einem visuell assoziativen Sprachfluss zu einer Serie von Bildern zusammenfügen, die durch wiederkehrende Refrains rhythmisiert werden.

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Silke Segler-Meßner Wie Enoch Brater bereits feststellte, ist Becketts Spätprosa zwar schwer zu lesen, aber nicht schwer zu sehen,1 womit er den Blick von der gängigen Interpretation des reduktionistischen Sprachgebrauchs Becketts als Ausdruck der Kommunikationslosigkeit oder gar des Zerfalls poetischen Sprechens auf die Dominanz visueller Ausdrucksformen lenkt.2 Louis Oppenheim greift die zentrale Stellung optischer Wahrnehmung in Becketts Werk auf und analysiert in seiner Monographie The painted word Becketts Suche nach einer »plastic language«3, die sich bereits in seinen Essays über Malerei artikuliert und in Form von gemalten oder vorgestellten Bildern in seinen frühen Arbeiten auftaucht. Teleologische Deutungsmuster des Œuvre Becketts blenden diese Wechselwirkungen zwischen Bildender Kunst, Literatur und Film aus, der insbesondere für das Spätwerk von zentraler Relevanz ist,4 und übersehen im Zuge der Rekonstruktion einer stringenten künstlerischen Entwicklung den prozessual-experimentellen Charakter der Kunst Becketts. Ausgehend von der These, dass die Visualisierung des Räumlichen zu einer Dominante im Spätwerk Becketts avanciert, werde ich im Folgenden, im Anschluss an eine formale Kategorisierung der räumlichen Strukturen im Spätwerk, am Beispiel von Le Dépeupleur den Aufbau eines inneren Bildes analysieren, mit dem Beckett seiner Sprachskepsis Ausdruck verleiht und den Leser zur ›sehenden Mitarbeit‹ zu animieren sucht. Becketts Hinwendung zum Visuellen, die in der Prosa in Titeln wie L’Image und auf der Bühne in den Dramen noch Not I durch den Gebrauch kinematographischer Strategien sinnfällig wird,5 markiert die spielerische Erprobung einer neuen Sprache, die zum einen auf Techniken nicht-literarischer Medien rekurriert und zum anderen den Fokus auf den Wahrneh-

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5

Vgl. Brater, Enoch: »Mist-takes. Mathematical and Otherwise in The Lost Ones«, Modern Fiction Studies 29/1 (1983), S. 93-109, hier S. 93. Bereits Manfred Hardt hat sich gegen die These der Negation von Ausdruckmöglichkeiten gewendet und im Gegenzug die strukturellen und funktionalen Ähnlichkeiten mit Lyrik in der Spätprosa Becketts betont, vgl. Hardt, Manfred: Poetik und Semiotik, Tübingen: Niemeyer 1976, S. 135156. Oppenheim, Lois: The Painted Word. Samuel Beckett’s Dialogue with Art, Ann Arbor: University of Michigan Press 2000, S. 8. Zum intermedialen Charakter des Werks Becketts vgl. Hartel, Gabriele: »…the eyes take over…« – Samuel Becketts Weg zum »gesagten Bild«. Eine Untersuchung von The Lost Ones, Ill Seen Ill Said und Stirrings Still im Kontext der visuellen Kunst, Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2004, S. 94106. Vgl. Armstrong, Gordon: Samuel Beckett, W. B. Yeats and Jach Yeats. Images and Words, Lewisburg: Bucknell University Press 1990, S. 57.

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(Text-)Körper und Räumlichkeit in Becketts Le Dépeupleur mungsakt selbst lenkt. In diesem Zusammenhang beziehe ich mich auf einen kurzen Text Gilles Deleuzes, der zu Becketts Fernsehspiel Quad entstanden ist, jedoch eine Gesamtinterpretation des Werkes unter dem Vorzeichen des ›épuisement‹ vornimmt.6 Scheint der Begriff einerseits die Bewegung des künstlerischen Schöpfungsprozesses Becketts zu umreißen, die sich zunächst auf sprachlicher, dann auf stimmlicher und schließlich auf bildlich-räumlicher Ebene artikuliert, so steht er andererseits für jene Haltung des modernen Subjekts, dem jegliche metaphysische Gewissheit entzogen ist. Der letzte Punkt meiner Ausführungen ist vor diesem Hintergrund der Relation zwischen Raum und Körperlichkeit gewidmet.7

Die Er-Schöpfung des Möglichen: Raum und Bild in Becketts Spätprosa In einer seiner kunsttheoretischen Schriften zu den Arbeiten des Malers van der Velde bestimmt Beckett die Dynamik von Bewegung und Stillstand, von Werden und Vergehen als Wesen der Literatur. »Ici tout bouge, nage, fuit, revient, se défait, se refait. Tout cesse, sans cesse. On dirait l’insurrection des molécules, l’intérieur d’une pierre un millième de seconde avant qu’elle ne se désagrège. C’est ça la littérature.«8 In Becketts Parallelisierung von Malen und Schreiben kommt die kontinuierliche Spannung zum Ausdruck, die sich aus der Möglichkeit des Scheiterns der Kunst und der gleichzeitigen Notwendigkeit der Darstellbarkeit der Leere ergibt, die nicht mehr auf eine referentielle Wirklichkeit verweist, sondern auf die künstlerische Enthüllung des Unsichtbaren. Die Realisierung einer Kunst des »presque-vide«, »presque-vivant«, »presque-noir«, die Beckett in Worstward Ho als einen Prozess fortschreitender Abstraktion erfahrbar werden lässt,9 verweist auf eine progressive Aushöhlung des 6

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Vgl. Deleuze, Gilles: »L’épuisé«, in: Beckett, Samuel: Quad et autres pièces pour la télévison, suivi de »L’épuisé« par Gilles Deleuze, Paris: Minuit 1992, S. 55-106. Zu einer allgemeinen Qualifikation der Raum-Körper-Konstellationen im Werk Becketts vgl. Vogel, Christina: »Raum-Körper-Konstellationen in der modernen Literatur. Samuel Beckett«, in: Ernest W. B. Hess-Lüttich/Jürgen E. Müller/Aart van Zoest (Hg.), Signs & space: an International Conference on the Semiotics of Space and Culture in Amsterdam, Tübingen: Narr 1998, S. 182-195. Beckett, Samuel: Le monde et le pantalon, Paris: Minuit 1990, S. 40. Vgl. Ost, Isabelle: Samuel Beckett et Gilles Deleuze: carthographie de deux parcours d’écriture, Bruxelles: Facultés universitaires Saint Louis 2008, S. 25f.

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Silke Segler-Meßner Raumes, die Gilles Deleuze in seinem Essay »L’épuisé« mit dem Begriff des ›épuisement‹ zu fassen sucht. Bereits in den beiden gemeinsam mit Félix Guattari verfassten Bänden Capitalisme et schizophrénie, die 1972 und 1980 erschienen sind, konstituieren Becketts frühe Texte den Referenzpunkt für die Vision des schizophrenen Raumes eines gespaltenen, dezentrierten Subjekts.10 Mit ›épuisement‹ versucht Deleuze jenen Schwebezustand des Beckett’schen Kosmos zu umreißen, der jede Form eindeutiger Identifikation und Bedeutungszuweisung unmöglich macht. Als Variation der Formel »Tout se divise en soi-même«11 aus Malone meurt, auf die sich in Deleuzes Perspektive Becketts Serie der »disjonctions«12 gründet, heißt es in Nouvelles et textes pour rien: »Oui, j’ai été mon père et j’ai été mon fils.«13 Die Affirmation des sprechenden Ich, selbst zugleich Vater und Sohn, Schöpfer und Geschöpf zu sein, lässt ein Begehren nach Aufhebung der Differenzen sichtbar werden, die nicht mehr nach außen projiziert werden, sondern sich im Innenraum der sprechenden Instanz abspielen. »La disjonction est devenue incluse, tout se divise, mais en soi-même, et Dieu, l’ensemble du possible, se confond avec Rien, dont chaque chose est une modification.«14, kommentiert Deleuze in »L’épuisé« den zitierten Satz. Der Einschluss des Ausgeschlossenen, das solcherart selbst wieder zum Objekt künstlerischer Aneignung wird, konstituiert die Prämisse eines unabschließbaren Spiels von Differenzen und Wiederholungen, was dazu geführt hat, dass viele Kritiker das Œuvre Becketts mit einer Textmaschine vergleichen. In »L’épuisé« wendet sich Deleuze neben dem Fernsehspiel Quad insbesondere den Erzählungen und kurzen Prosastücken zu und differenziert zwischen unterschiedlichen Formen der Er-Schöpfung in Becketts Werk. Er liefert damit gleichzeitig einen Referenzrahmen für eine mögliche Klassifikation der Beckett’schen Darstellungsverfahren, die er auf drei Niveaus situiert. Als ›langue I‹ bezeichnet er die Serien von Wortreihen, die in Form von Auflistungen geschlossene Satzgefüge ersetzen und in assoziativer Weise miteinander verbunden sind. Ziel dieses Prozesses der verbalen Er-Schöpfung, die Deleuze mit »épuiser le possible avec des mots«15 umschreibt, ist eine Auslöschung der dingweltlichen Materialität, an deren Stelle substantivische Kombinationen treten, die weder durch Oppositio10

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Vgl. Bryden, Mary: »The schizoid space: Beckett, Deleuze and L Épuisé«, in: Sjef Houppermans (Hg.), Beckett and la psychanalyse and psychoanalysis, Amsterdam: Rodopi 1996, S. 85-93, hier S. 86. Beckett, Samuel: Malone meurt, Paris: Minuit 1951/2004, S. 12. G. Deleuze: »L’épuisé« (wie Anm. 6), S. 59. Beckett, Samuel: Nouvelles et textes pour rien, Paris: Minuit 1958, S. 121. G. Deleuze: »L’épuisé« (wie Anm. 6), S. 59f. Ebd., S. 65.

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(Text-)Körper und Räumlichkeit in Becketts Le Dépeupleur nen noch durch subjektive Präferenzen strukturiert sind, sondern eine Kette von Variationen präsentieren, die keinen offensichtlichen Nutzen haben. Becketts Roman Watt wird in diesem Zusammenhang als exemplarisches Beispiel atomisierender, er-schöpfender Verbalserien genannt, die keine sinnhafte Organisation erkennen lassen, wie z.B. die Serie der möglichen Fußbekleidung des Protagonisten (›chausette‹-›bas‹ ›brodequin‹-›soulier‹-›chausson‹16) oder die Serie der möglichen Platzierung der Möbelstücke (›commodecoiffeuse-table de nuit-table de toilette‹, ›debout-pattes en l´air-sur le ventre-sur le dos-sur le flanc‹, ›lit-porte-fenêtre-feu‹17). Diese erste »langue des noms«18, welche die Möglichkeiten des sprachlichen Materials auszuschöpfen sucht, evoziert die Präsenz einer zweiten so genannten Metasprache, die auf eine Er-Schöpfung der Worte selbst zielt und mit den Stimmen assoziiert wird, die von nirgendwo kommen und die Anderen bzw. den Anderen verkörpern, der spricht. Die Anderen repräsentieren mögliche Welten, entwerfen mögliche Geschichten, die allein durch ihre Stimmen bezeugt werden, und verfolgen den Sprecher mit obsessiven Erinnerungsbildern, die ihn daran hindern, zur ersehnten ›silence‹ zu gelangen. Diese Anderen sind Murphy, Watt, Mercier und auch das erschöpfte Ich des Innommable, das sich in Worm verwandelt und jeder Möglichkeit des Sprechens beraubt ist. So ist Worms Stimme als letzte nominale Inkarnation des Innommable nicht mehr als ein Gemurmel. »Mais Worm est le premier de son espèce. On dit ça. C’est que je ne le connais pas. Lassé, renonçant à me dresser, lui aussi se fera peut-être remplacer, ayant posé les jalons. Il n’a pas encore eu la parole, le pauvre. Il murmure, je n’ai cessé d’entendre son murmure, pendant que les autres discouraient. A eux tous il a survécu, à Mahood aussi, si Mahood n’est plus. Je l’entends encore, fidèle, me suppliant d’apaiser cette langue morte des vivants.«19

Die Stimmen der Anderen schließen sich, so Deleuze, zu »flux mélangeables«20 zusammen und verdeutlichen, dass die ›langue des noms‹ auf einem kombinatorischen Zusammenschluss von Worten und Dingen beruht, der nicht im Besitz des Sprechers ist, sondern ihm vorausgeht. Worms Gemurmel, das auf eine Regression in ein vorsprachliches Stadium anzuspielen scheint, befindet sich am Übergang zu einer dritten Artikulationsebene, die jenseits des Sprachlichen auf 16 17 18 19 20

Vgl. Beckett, Samuel: Watt, Paris: Minuit 1968/2007, S. 208f. Vgl. ebd., S. 212-214. G. Deleuze: »L’épuisé« (wie Anm. 6), S. 66. Beckett, Samuel: L’innommable. Paris: Minuit 1953/2004, S. 85. G. Deleuze: »L’épuisé« (wie Anm. 6), S. 66.

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Silke Segler-Meßner der Ebene der Bilder und Räume zu verorten ist. Die Genese eines Bildes vollzieht sich zum einen in Momenten der Stille, in denen die Stimmen schweigen, und kann zum anderen durch Signalbegriffe ausgelöst werden, die im Redefluss auftauchen, wie es in Bing der Fall ist. »Bing image à peine presque jamais une seconde temps sidéral bleu et blanc au vent.«21 In Analogie zu den evozierten Bildern, deren Konturen ebenso bestimmt wie verschwommen bleiben, erscheint auch der Raum in Becketts Spätprosa und insbesondere in seinen Fernsehfilmen immer als ein »espace quelconque, désaffecté, inaffecté«22, der jedoch zugleich exakt geometrisch definiert sein kann, wie z.B. der Zylinder in Le Dépeupleur oder die Rotunde in Imagination morte imaginez. Insofern der Raum die Matrix konstituiert, die erst die Aktualisierung von Handlungen und Ereignissen ermöglicht, versucht Beckett dieses Ursprungsszenario in Form möglichst neutraler, d.h. eigenschaftsloser räumlicher Ausdehnungen zu visualisieren, die zwar nicht genau zu lokalisieren sind, aber deren Virtualität ein Höchstmaß an möglichen, auszuschöpfenden Szenarien garantiert. »L’espace jouit de potentialités pour autant qu’il rend possible la réalisation d’événements; il précède donc la réalisation, et la potentialité appartient elle-même au possible.«23 Dieser ›espace désaffacté‹ verbindet sich bei Beckett mit der Erfahrung von Bewegung und Stillstand. Die zahlreichen Ausflüge an der Seite seines Vaters finden ihr Echo in den Wanderungen seiner Protagonisten, die den Raum mit Schritten zu durchmessen suchen. Derartige Erinnerungsbilder werden insbesondere in Compagnie evoziert, in der sich die Figur im Dunkeln auf den Rücken gelegt hat und sich ruhelos eine gerade Linie abschreiten sieht, begleitet von dem rhythmischen Klang der gezählten Schritte. Dieses Durchstreifen des Raumes, das sich in seiner eigenen Bewegung erschöpft, ohne jemals an einen Endpunkt zu gelangen, bildet den imaginären Fluchtpunkt, an dem sich die Opposition von ›ici‹ und ›ailleurs‹ auflöst, wie es in Pour finir encore heißt: »Et rêve d’un parcours par un espace sans ici ni ailleurs où jamais n’approcheront ni l’éloigneront tous les pas de la terre.«24 Zu dieser dritten künstlerischen Ausdrucksweise rechnet Deleuze insbesondere die Fernsehspiele, situiert die Genese der sich verflüchtigenden Bilder und des sich ausdehnenden Raumes jedoch in den Romanen und insbesondere in den kurzen Prosatexten der Spätphase.

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Beckett, Samuel: Bing, in: ders., Têtes-mortes, Paris: Minuit 1967/1972, S. 59-66, hier: S. 64. G. Deleuze: »L’épuisé« (wie Anm. 6), S. 74. Ebd., S. 76. Beckett, Samuel: Pour finir encore et autres foirades, Paris: Minuit 1976, S. 16.

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(Text-)Körper und Räumlichkeit in Becketts Le Dépeupleur Becketts Spiel mit der künstlerischen Er-Schöpfung des Möglichen entspringt weniger einem avantgardistischen Formalismus als einer Haltung, die die Figur des ›épuisé‹ verkörpert, den Deleuze zu Beginn seines gleichnamigen Essays skizziert. In dem Maße, in dem die Haltung als Selbstverhältnis zu bestimmen ist, das sich in der Relation zur Welt und zum Anderen artikuliert,25 handelt es sich um eine existenzielle Entscheidung, die mit der Frage der Lebensauffassung verbunden ist. Wenn Deleuze einleitend die Figur des ›épuisé‹ von der des Ermüdeten scharf abgrenzt, der subjektiv zwar außerstande ist, das Mögliche zu verwirklichen, dem objektiv aber weiterhin Möglichkeiten offen stehen, so verdeutlicht er, dass der Akt der Erschöpfung über die rein physische Verausgabung hinausgeht. Im Gegensatz zum Ermüdeten hat der ›Er-Schöpfte‹ alles Mögliche erschöpft, wobei nicht genau zu bestimmen ist, ob die Erschöpfung des Möglichen der Verausgabung des Subjekts vorausgeht oder umgekehrt. Als erstes konstitutives Merkmal dieser Haltung führt Deleuze die Auflösung des sprachlichen Ordnungssystems an, durch das Aussagen mit intentionalen Handlungen verbunden werden. Insofern jeder sprachliche Ausdruck auf Exklusion beruht und einer Intention, einem Projekt oder einer Präferenz korrespondiert, entwirft Becketts Werk einen alternativen Kosmos, in dem nicht die Realisierung, sondern die Potenzialität der Existenz im Zentrum steht, die zum dynamischen Prinzip der Variationen und Permutationen in den Romanen avanciert. Prämisse für diese Verausgabung des Wirklichen ist die vollkommene Selbst- und Bedingungslosigkeit des ›épuisé‹, der nicht nur die Realität in zahllosen, nicht enden wollenden Reihen und Serien von Substantiven zu zerstreuen sucht, sondern selbst zur Figur der Auflösung wird, die sich der Agonie preisgibt und den Leichengeruch wahrnehmbar werden lässt. In dieser Demonstration des Comment c’est, des nicht allein abstrakt proklamierten Todes des Ichs oder des Autors, sondern der konkret physischen Erfahrung des Vergehens, sieht Deleuze das eigentliche Verdienst Becketts: »Beaucoup d’auteurs sont trop polis, et se contentent de proclamer l’œuvre intégrale et la mort du moi. Mais on reste dans l’abstrait tant qu’on ne montre pas ›comment c’est‹, comment on fait un ›inventaire‹, erreurs comprises, et

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Vgl. hierzu die sehr anregenden Ausführungen Frauke Annegret Kurbachers, die sie zum Begriff der Haltung im Rahmen eines Vortrags auf dem Essener Kongress der Deutschen Gesellschaft für Philosophie (2008) formulierte: Kurbacher, Frauke Annegret: »Was ist Haltung? Überlegungen zu einer Theorie von Haltung im Hinblick auf Interindividualität«. Dokumentation. Sektionsvorträge. Lebenswelt und Wissenschaft. XXI. Deutscher Kongress für Philosophie. http://www.dgphil2008.de/fileadmin/download/ Sektionsbeitraege/03-2_Kurbacher.pdf (2008; Zugriff am 5.8.2010), S. 3.

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Silke Segler-Meßner comment le moi se décompose, puanteur et agonie comprises: ainsi Malone meurt.«26

Physische Erschöpfung und Er-Schöpfung des Möglichen gehören zusammen und bedingen sich gegenseitig. Als exemplarische Körperhaltung des ›épuisé‹ verweist Deleuze auf die Figur in Nacht und Träume, die erschöpft am Tisch sitzt, den Kopf auf den Händen. Im Gegensatz zur Figur des Ermüdeten, der aufgrund einer vorübergehenden Erschöpfung seiner vitalen Ressourcen außerstande ist, sich zu bewegen, ist der ›Er-Schöpfte‹ dazu verurteilt, zum gedächtnislosen Zeugen des Anderen zu werden. Der Begriff der Verurteilung indiziert, dass die Haltung des ›épuisé‹ keiner freien Wahl entspringt, sondern auf einen Seinsmodus verweist, der ihm vorausgeht. Als Allegorie der »conditio humana« ist die Figur des Erschöpften zeitlos, er ist da, bevor er geboren wird und bevor der Andere zu existieren beginnt. In einer Reihe mit den Verurteilten Dantes situiert Deleuze die Schar der vollkommen selbst- und bedingungslosen Gestalten der Prosa Becketts, die als Resonanzraum der Worte, Stimmen und Klänge die Vergeblichkeit alles menschlichen Handelns spiegeln, das in letzter Konsequenz darauf ausgerichtet ist, in Analogie zu den Bewohnern des Zylinders in Le Dépeupleur einen Ausweg aus der Immanenz des Seins zu finden und daran scheitert. Die Qualifizierung des ›épuisé‹ als »témoin amnésique«27 impliziert ein Paradox, insofern der Zeuge als Erinnerungsfigur par excellence gilt, die von einem Ereignis Zeugnis ablegt, das sie als Außenstehender beobachtet oder selbst miterlebt hat.28 Die Gedächtnislosigkeit der Figuren Becketts realisiert sich insbesondere in der Spätprosa in dem Verlust ihrer sprachlichen Kommunikationsfähigkeit. Eingeschlossen in ihren agonisierenden Körper sind sie verstummt und verfügen über kein Innenleben. Ihre innere Leere ist Ausdruck einer vollkommenen Selbstaufgabe, die es ihnen ermöglicht, zum Spiegel des Anderen zu werden, der in ihren Augen die Bestimmung seiner Existenz erblickt. Als Resonanzraum der Worte, Stimmen und Klänge echoen sie das Scheitern des modernen Subjekts bei seinem Versuch, eine Bleibe auf Erden zu finden.

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G. Deleuze: »L’épuisé« (wie Anm. 6), S. 62f. Ebd., S. 65. Vgl. Agamben, Giorgio: Quel che resta di Auschwitz, Turin: Bollati Boringhieri 1998, S. 15.

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(Text-)Körper und Räumlichkeit in Becketts Le Dépeupleur

Offene und geschlossene Räume in der Spätprosa Trotz der Unterschiedlichkeit der Darstellungsverfahren lässt sich Becketts Prosa, die in Fortsetzung des Innommable – »je vais continuer«29 – in den sechziger Jahren entsteht, durch eine auffallende Kohärenz charakterisieren. In der rhizomatischen Ordnung seines Werkes spiegeln sich zahlreiche Prosastücke wechselseitig. Auch Imagination morte imaginez (1965), Bing (1966) und Le Dépeupleur (1968-1970) zeichnen sich durch eine komplexe intertextuelle Relation aus, was auf der einen Seite durch ihre gemeinsame Genese bedingt ist und was sich auf der anderen Seite in zahlreichen Resonanzeffekten, Referenzen und Wiederholungen beobachten lässt, die als innertextuelles Verweissystem zu dechiffrieren sind. In Analogie zu den Romanen der Trilogie, die explizit oder implizit aufeinander anspielen, wie z.B. in den undefinierten genealogischen Verwicklungen – Moran, Molloy, Malone, Mahood, Worm, der Innommable –, sind die drei genannten Kurzprosastücke durch die Variation einer diegetischen Ursprungsszenerie miteinander verbunden, wie ich sie zu Beginn meiner Ausführungen skizziert habe. In diesen Texten, die weder als Roman noch als Novelle oder als Erzählung bezeichnet werden können, steht die Konstitution einer räumlichen Leere im Zentrum, die »au pire lorsque presque«30 erfahrbar sein soll. Beginnt Molloy mit dem Satz »Je suis dans la chambre de ma mère«31 und stellt der Ich-Erzähler in Malone meurt einige Seiten nach dem Beginn fest »Situation présente. Cette chambre semble être à moi«32, womit zumindest eine rudimentäre Lokalisierung der Erzählsituation gegeben ist, handelt es sich in der Spätprosa Becketts um einen Raum, dem jede spezifische Bestimmung entzogen ist, um solcherart einen ›espace désaffecté‹ bzw. einen ›espace inaffecté‹ zu schaffen. Dabei kann es sich einerseits um einen nach außen geschlossenen und andererseits um einen nach innen begrenzten Raum handeln.33 Zu der Serie klar begrenzter Räumlichkeiten zählt der Aufenthaltsort der menschlichen Körper in Le Dépeupleur, dessen vollkommen perfekte geometrische Abstraktion auf ein Ursprungsszenario menschlicher Schöpfung anzuspielen scheint: »C’est l’intérieur d’un cylindre surbaissé ayant cinquante mètres de pourtour et seize de haut pour l’harmonie.«34 Während der Erzähler in Le Dépeupleur auf die Legende eines Ausgangs am Grunde des Zylinders verweist, durch den die Figuren ihrem Ge29 30 31 32 33 34

S. Beckett: L’Innomable (wie Anm. 19), S. 213. Ders.: Cap au pire, Paris: Minuit 1991, S. 56. Ders.: Molloy, Paris: Minuit 1951/1982, S. 7. Ders.: Malone meurt (wie Anm. 11), S. 13. Vgl. I. Ost: Samuel Beckett et Gilles Deleuze (wie Anm. 9), S. 61-66. Beckett, Samuel: Le Dépeupleur, Paris: Minuit 1970, S. 7.

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Silke Segler-Meßner fängnis entfliehen könnten und somit zumindest virtuell der Ausbzw. Aufbruch der hermetisch geschlossenen Form möglich ist, scheint die Beschreibung der Rotunde in Imagination morte imaginez einen hermetischen Einschluss zu suggerieren, aus dem es kein Entkommen gibt. »Pas d’entrée, mesurez. Diamètre 80 centimètres, même distance du sol au sommet de la voûte. Deux diamètres à angle droit AB CD partagent en demicercles ACB BDA le sol blanc. Par terre deux corps blancs, chacun dans son demi-cercle. Blancs aussi la voûte et le mur rond hauteur 40 centimètres sur lequel elle s’appuie.«35

Die nach innen begrenzten Räume zeichnen sich durch die Limitierung einer vorbestimmten Menge möglicher Handlungsfolgen aus, die sich aus der oben als erste Sprache definierten Generierung verbaler Serien ergibt. In dem Zylinder, in dem jeder der Bewohner seinen »dépeupleur«36 sucht, sind die möglichen Bewegungen auf ein Minimum begrenzt: am Fuß der Leitern warten, auf die Leiter klettern, in die Nischen krabbeln, sich paaren. Auch die möglichen Positionen der Körper lassen sich auf vier Varianten reduzieren: zirkulieren mit oder ohne Pause, einen Platz behaupten, bis man vertrieben wird, schließlich die Suche aufgeben und unbeweglich werden, sich hinsetzen. »Vus sous un certain angle ces corps sont de quatre sortes. Premièrement ceux qui circulent sans arrêt. Deuxièmement ceux qui s’arrêtent quelquefois. Troisièmement ceux qui à moins d’en être chassés ne quittent jamais la place qu’ils ont conquise et chassés se jettent sur la première de libre pour s’y immobiliser de nouveau. […] Quatrièment ceux qui ne cherchent pas ou nonchercheurs assis pour la plupart contre le mur […].«37

Ausgehend von einer beschränkten Zahl an Variablen kann nur noch das Register entfaltet werden, dass sich aus dem Aufzählen jedes möglichen Ereignisses ergibt. Ähnliches gilt für die begrenzte Welt von Watt, für den im Haus von Monsieur Knott jede Geste des Alltags Teil eines routinierten Rituals ist, jedes Objekt sich in den seriellen Reihen mit einer Bezeichnung verbindet, die nur lose in Bezug zu der Funktion des Gegenstands steht. Der potentiellen Unbestimmtheit der Dingwelt, deren Sinnverlust zur Quelle einer undefinierbaren Bedrohung wird, versucht Watt mit den Signifikantenketten entgegenzuwirken, die die wuchernden Bedeutungen bän-

35

Ders.: Imagination morte imaginez, in: ders., Têtes-mortes (wie Anm. 21), S. 49-57, hier S. 51.

36 37

S. Beckett: Le Dépeupleur (wie Anm. 34), S. 7. Ebd., S. 12f.

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(Text-)Körper und Räumlichkeit in Becketts Le Dépeupleur digen. Becketts ›ars combinatoria‹ hat demnach den Einschluss der außertextuellen Wirklichkeit zum Ziel, die Koinzidenz von Raum und Erkenntnis. Erkennen impliziert in diesem Kontext, einen Raum zu entwerfen, in dem jedes Ereignis virtuell bereits stattgefunden hat, so dass alles Unvorhersehbare eliminiert ist.38 Öffnung und Schließung beginnen sich in Becketts Spätprosa in dem Augenblick zu mischen, in dem mögliche Ordnungsmuster des Räumlichen ihre Bedeutung verloren haben, so dass Oppositionen wie oben versus unten, hier versus da hinfällig sind. Der bereits zitierte Ausschnitt aus Pour finir encore evoziert jenen vollkommenen ›espace desaffecté‹ als räumlichen Archetyp der Kurzprosa Becketts, den Deleuze insbesondere in den Fernsehspielen realisiert sah. In der Beschreibung wüstenhafter Ausdehnungen, in denen das Auge keine Bewegung wahrnimmt, in denen der Himmel die Erde spiegelt und umgekehrt, erfüllt sich der Traum von einem ›espace sans ici ni ailleurs‹, wie der Beginn von Sans exemplarisch verdeutlicht: »Ruines vrai refuge enfin vers lequel d’aussi loin par tant de faux. Lointains sans fin terre ciel confondus pas un bruit rien qui bouge. Face grise deux bleu pâle petit corps cœur battant seul debout. Eteint ouvert quatre pans à la renverse vrai refuge sans issue. Ruines répandues confondues avec le sable gris cendre vrai refuge. Cube tout lumière blancheur rase faces sans trace aucun souvenir. Jamais ne fut qu’air gris sans temps chimère lumière qui passe. Gris cendre ciel reflet de la terre reflet du ciel. Jamais ne fut que cet inchangeant rêve l’heure qui passe.«39

In der vollkommenen Stille dieses räumlichen Szenarios bildet die Unbeweglichkeit und die Absenz jeder Bewegung das einzige Echo, so dass die Zeit nichts anderes ist als ein ›inchangeant rêve‹. In dem grausandigen verlassenen Ödland bleibt nichts außer ›quatre pans à la renverse‹ als Refugium für den Blick inmitten dieser Wüste, ein Ruinenblock, der mit denen eines verfallenen Körpers verwechselt werden kann.

Visualisierung des Raumes in Le Dépeupleur Abgesehen von der rein formalen Qualifizierung der Räume in Becketts Spätprosa nach den Kriterien der Öffnung und Schließung 38

39

Zu dem Aspekt der Geschlossenheit der Räume Becketts vgl. Berensmeyer, Ingo: »Klaustrophobische Aussichten: Samuel Becketts geschlossene Räume«, in: Ralph Kray (Hg.), Geschlossene Formen, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 153-172. Beckett, Samuel: Sans, in: ders., Têtes-mortes (wie Anm. 21), S. 67-77, hier S. 69.

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Silke Segler-Meßner vollzieht sich die narrative Modellierung des Räumlichen nicht allein durch den Rückgriff auf architektonische Beschreibungen, sondern auch durch die Bewegung der Menschen, die geometrische Grundmuster erkennen lässt. Den körpermotorischen Handlungsschemata korrespondiert die Anordnung der Objekte, die in diesem Bildaufbau keine dem Menschen untergeordnete Position einnehmen, sondern gleichwertig sind, worin die von Deleuze erwähnte Auflösung der Hierarchien und die Dezentralisierung des Subjekts als Konstituente des Werkes Becketts deutlich wird, das keine Sonderstellung innerhalb der kosmischen Ordnung einnimmt. Das Erzählen einer Geschichte realisiert sich vor diesem Hintergrund im Rückgriff auf formale Determinanten oder auf geometrische Grundmuster, die mehrfach wiederholt und solcherart in dem Bewusstsein des Rezipienten verankert werden. Die Zerlegung der ›histoire‹ in eine nicht kontinuierlich aufeinander folgende Serie von Bildern und Eindrücken erinnert ebenso an photographische wie an filmische Verfahren wie etwa die Montage, deren Zwischenräume bzw. Leerstellen als Markierungen für das Leserbewusstsein dienen, das, wie bereits die direkte Anrede in der zweiten Person Plural in Imagination morte imaginez verdeutlicht, direkt zur schöpferischen Kooperation animiert werden soll. Wie Manfred Smuda zu Recht betont, insistieren die späteren Prosatexte darauf, »dass ihre Strukturen selbst wahrgenommen werden und nicht auf außertextuelle Strukturen bezogen werden.«40 Ziel ist es, durch das Senden optischer Signale einen assoziativen Vorstellungsfilm zu erzeugen, der bewusst auf die Animationsfähigkeit der Worte rekurriert. Während Imagination morte imaginez und Bing aus einem einzigen Textstück bestehen, das an Stelle von Absätzen durch Präsenz und Absenz von ›chaleur‹, ›lumière‹ und ›blancheur‹ im Fall von Imagination morte imaginez und das Auftauchen der Signalbegriffe ›Bing‹ und ›Hop‹ in Bing strukturiert wird, setzt sich Le Dépeupleur aus fünfzehn Segmenten zusammen, die eine inhaltliche Ordnung erkennen lassen.41 Übernimmt der erste Abschnitt die Funktion einer Exposition, in der Ort, Objekte und Figuren präsentiert werden, so alterniert die Perspektive in den folgenden vier Fragmenten zwischen dem Innenraum des Zylinders und dem Verhalten der dort lebenden Bewohner. Die ersten fünf Prosasegmente sind in einander entgegengesetzten Einstellungen montiert und setzen sich zu einer Collage zusammen, die ein visuelles Gesamtbild jener gleich im ersten Satz evozierten Bleibe bzw. Wohnstätte liefern, »où des corps 40

41

Smuda, Manfred: »Kunst im Kopf – Becketts späte Prosa und das Imaginäre«, in: Hartmut Engelhardt (Hg.), Samuel Beckett, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 211-235, hier S. 226. Vgl. G. Hartel: »… the eyes take over…« – Samuel Becketts Weg zum »gesagten Bild« (wie Anm. 4), S. 128-140.

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(Text-)Körper und Räumlichkeit in Becketts Le Dépeupleur vont cherchant chacun son dépeupleur.«42 Die folgenden drei Abschnitte bilden eine inhaltliche Einheit, da sie den Verhaltenscode der Kletterer präsentieren. In den Segmenten zehn bis vierzehn wechselt die Perspektive von der Gruppe der ›grimpeurs‹ zu der Gesamtheit der Bewohner, von denen einzelne Figuren oder Figurengruppen in Nahaufnahmen aus dem Erzählfluss herausragen. Das letzte Prosafragment schließlich wirft einen Blick in die Zukunft und skizziert ein Endzeit-Tableau, auf das ich im folgenden Kapitel näher eingehen werde. In den ersten fünf Fragmenten von Le Dépeupleur dominiert der Wechsel zwischen Detailaufnahme und Totale, der, verstärkt durch die Anwesenheit eines kameraähnlichen »œil qui cherche«43, an die filmische Montagetechnik erinnert und den Eindruck abgeschlossener Bilder evoziert, die eine »image mentale parfaite«44 in der Imagination des Lesers kreieren sollen, auch wenn die Möglichkeit eines solchen Bildes sogleich von dem Erzähler in Frage gestellt wird: »Or il est douteux qu’une tel existe.«45 Die Konstitution eines perfekten Bildes, das weder mit Vernunft noch mit Erinnerung kontaminiert ist, hat Deleuze als Ideal der dritten Sprache Becketts definiert.46 Die Stimme des Erzählers in Le Dépeupleur fungiert in diesem Zusammenhang als Regisseur – Deleuze spricht hier von »Ouvreur ou Présentateur«47 –, der sukzessive die einzelnen Komponenten des bewegten Bildes entfaltet. Thematisiert der Einleitungssatz, »Séjour où les corps vont cherchant chacun son dépeupleur«48, die Spielhandlung in einer Totalen, die durch den Gebrauch des Präsens den Eindruck filmischer Jetztzeit akzentuiert, so folgt gleich darauf ein Kameraschwenk auf den Raum, der durch den Kontrast von Weite und Enge determiniert ist. »Assez vaste pour permettre de chercher en vain. Assez restreint pour que toute fuite soit vaine.«49 Es folgt eine genaue geometrische Definition der Bleibe, bevor in drei »topic sentences«50 das Licht eingeführt wird, dessen wechselnde Intensität nicht nur die Bewegung der Bewohner kontrolliert – Helligkeit impliziert Bewegung, Dunkelheit hingegen Stillstand –, sondern auch die Imagination des Lesers aktiviert: Durch das Spiel 42 43 44 45 46 47 48 49 50

S. Beckett: Le Dépeupleur (wie Anm. 34), S. 7. Ebd. Ebd., S. 11. Ebd. Vgl. G. Deleuze: »L’épuisé« (wie Anm. 6), S. 70f. Ebd., S. 73. S. Beckett: Le Dépeupleur (wie Anm. 34), S. 7. Ebd. E. Brater: »Mist-takes. Mathematical and Otherwise in The Lost Ones« (wie Anm. 1), S. 107.

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Silke Segler-Meßner mit Licht und Schatten wird der flackernde, pulsierende Charakter der Bleibe filmisch suggeriert. Mit der Einführung des ›suchenden Auges‹ wechselt die Blickrichtung von der Objektivität der ursprungslosen Totalaufnahme zur Subjektivität des ›camera eye‹, von dessen Standpunkt aus nun die Temperatur, der Ton und die Objekte im Zylinder in den Blick genommen werden. Das Oszillieren der Temperatur zwischen Hitze und Kälte, ein Motiv, das auch in Imagination morte imaginez von konstitutiver Bedeutung ist, übernimmt die gleiche aktivierende und einfrierende Funktion wie das Licht und akzentuiert die visuelle Opposition zwischen Bewegung und vollkommener Starre. Im Gegensatz zu den extremen Schwankungen von Licht und Temperatur dominiert auf der Tonebene der Eindruck einer gedämpften Stille, die ebenso wie in den Filmen Becketts das Sichtbare plastisch in den Vordergrund treten lässt. Aufgrund des gummiartigen Materials des Bodens und der Wände sind selbst die Fußtritte, Faustschläge oder Kopfstöße der Bewohner nicht zu hören. »Sol et mur sont en caoutchouc dur ou similaire. Heurtés avec violence du pied ou du poing ou de la tête ils sonnent à peine.«51 Die Impulsivität und Heftigkeit der Gesten erfährt aufgrund der fast vollständigen Tonlosigkeit eine dramatische Intensivierung, die stumm von der Verzweiflung der Bewohner kündet, die kurz zuvor in einer Großaufnahme als Haufen chaotisch wimmelnder Körper gezeigt wurden. Als einzige Objekte in dem leeren Innenraum des Zylinders werden nun die Leitern präsentiert, die für einen Großteil der Bewohner eine existenzielle Funktion haben, insofern sie die Möglichkeit eines Ausbruchs eröffnen. Gleichzeitig stören sie aufgrund ihrer asymmetrischen Verteilung der zum Teil fehlenden Sprossen und ihrer variierenden Größe die Harmonie der geometrisch exakten Ordnung, die im dritten Prosasegment in ihren Konstruktionsdaten exakt wiederholt wird inklusive der Licht- und Temperaturverhältnisse. Von den Leitern fährt der Kamerablick die Wand empor zu dem letzten Element dieses »premier aperçu«52, den Nischen und Tunneln, die in der gleichen fragmentarischen Satzstruktur eingeführt werden wie Licht und Temperatur: »Niches ou alvéoles.«53 Die Nischen sind zum Teil durch Gänge miteinander verbunden, was jedoch, wie der Erzähler-Regisseur sogleich betont, eine Seltenheit ist, da die Mehrzahl nur über einen Aus- und Eingang verfügt, was er als Zeichen des »découragement«54 deutet. Auch hier schwenkt die Perspektive von der Groß- auf die Detailaufnahme

51 52 53 54

S. Beckett: Le Dépeupleur (wie Anm. 34), S. 8. Ebd., S. 12. Ebd., S. 10. Ebd., S. 11.

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(Text-)Körper und Räumlichkeit in Becketts Le Dépeupleur einer einzelnen Nische, in der ein liegender Körper quasi als Bild im Bild gerahmt erscheint. »Une bouche plus ou moins large donne rapidement accès à un coffre d’ampleur variable mais toujours suffisante pour que par le jeu normal des articulations le corps puisse y pénétrer et de même tant bien que mal s’y étendre.«55 Der Wechsel von objektiver zu subjektiver ›Kamera‹ wiederholt sich zu Beginn des zweiten Erzählfragments, in dem die Bewohner zunächst als anonyme Masse zahlenmäßig in ihrer räumlichen Verteilung eingeblendet werden, um sie im Folgenden aus einem bestimmten Blickwinkel in vier Gruppen zu kategorisieren, der auf die Subjektivität der Einstellung verweist. »Vu sous un certain angle ces corps sont de quatre sortes.«56 Die Exaktheit der sich anschließenden Aufteilung widerspricht der Unbestimmtheit der gewählten Perspektive, deren Standpunkt nicht genauer lokalisiert werden kann. Der Wechsel von Groß- und Nahaufnahme durchzieht Le Dépeupleur wie ein optischer Grundrhythmus, der ebenso wie die Auf- und Abwärtsbewegungen an den Wänden und die unmittelbare Aufeinanderfolge von Bewegung und Stillstand der Etablierung visueller Muster Vorschub leistet, die dem Leser bei der Rezeption als Orientierung dient und zugleich den Filmcharakter des Dargestellten hervorhebt. Mit der gleichen Zoom-Technik, mit der die Leitern und die Nischen ins Bild kommen, werden nun die Bewohner visualisiert, womit deutlich wird, dass sie keine privilegierte Stellung innerhalb des Raumes haben. Die vier präsentierten Körper-Gruppen differieren in Bezug auf den Grad der Bewegung, angefangen mit vollkommener Ruhelosigkeit bis hin zu totaler Lethargie. Die variierenden Bewegungsabläufe führen zur Konstitution unterschiedlicher räumlicher Zonen auf dem kreisrunden Boden des Zylinders. In unmittelbarer Nähe der Mauer situiert sich die Trägerzone, in der sich auch die auf eine Leiter wartenden ›chercheurs‹, einige sitzende Sucher und die vier Besiegten befinden, die jegliche Suche aufgegeben haben. In einer abschließenden Einstellung aus der Vogelperspektive erscheint diese rein formale Verteilung der Bewohner als kreisförmige Gegenbewegung von ›chercheurs‹ und ›grimpeurs‹. »Leur [chercheur] lente ronde à contre-courant des porteurs crée une seconde piste plus étroite encore et respectée à son tour par le gros des chercheurs. Ce qui convenablement éclairé et vu d’en haut donnerait par moments l’impression de deux minces anneaux se déplaçant en sens contraire autour du pullulement central.«57

55 56 57

Ebd., S. 10f. Ebd., S. 12. Ebd., S. 26.

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Silke Segler-Meßner Dieses Bild der gegenläufigen Bewegungskreise wird zu Beginn des zwölften Fragments erneut eingeblendet, was zu einer Aktivierung der gespeicherten Informationen führt. »Le fond du cylindre comporte trois zones distinctes aux frontières précises mentales ou imaginaires puisque invisibles à l’œil de chair.«58 In Analogie zu den Schwankungen von Licht und Temperatur flackern in der narrativen Sequenzserie des Dépeupleur wiederkehrende Bilder auf, die den Eindruck eines pulsierendes Textgewebes evozieren, das mal verschwommen, mal gestochen scharf Einblicke in ein surreales Szenario gewährt. Neben der unmittelbar gedächtnisstimulierenden Funktion der wiederkehrenden Bilder scheint das übergeordnete Ziel der unterschiedlichen Perspektiven auf das Innenleben des Zylinders, der so genannten Bleibe der zweihundert Bewohner, darin zu resultieren, einen geordneten, abgeschlossenen Kosmos zu entwerfen, der nach Gesetzen zu funktionieren scheint, die ein vollkommen reibungslos funktionierendes Miteinander garantieren. Die architektonische Harmonie der Bleibe reflektiert sich in einem sozialen Gefüge, das alle Verstöße sanktioniert, die die Bewegungscodes der einzelnen Figurengruppen zu unterminieren drohen, ob es sich um die unnötige Blockade von Leitern oder um das Vordrängeln am Fuße der Leitern handelt. Stetig sieht sich die etablierte Ordnung, die sich auf dem Prinzip der Bewegung gründet, bei Zuwiderhandlungen von Chaos und Stillstand bedroht, wie der Erzähler nüchtern am Beispiel eines Kletterers illustriert, der sich in einer Nische einrichtet, wodurch die zur Nische führende Leiter ihre Funktion verlieren würde. »Et si d’autres suivaient son exemple comme fatalement ils le feraient on aboutirait au spectacle de cent quatre-vingt-cinq corps grimpeurs moins les vaincus voués au sol pour toujours.«59

Visionen der Endzeit: Körper und ›Besiegte‹ Die Bewohner der Bleibe, in der jeder seinen ›Verwaiser‹ sucht, werden nicht als Menschen bezeichnet, sondern als ›Körper‹, die aufgrund der besonderen Lebensbedingungen in dem Zylinder sogar die Fähigkeit zur sexuellen Reproduktion verloren haben. »Ceux qui se mêlent encore de copuler n’y arrivent pas.«60 Im dreizehnten Prosafragment, in dem die Auswirkungen des Klimas auf die Körper thematisiert werden, räumt der Erzähler die Möglichkeit einer Erektion und Penetration ein, die als existenzielle Notdurft und nicht als

58 59 60

Ebd., S. 38. Ebd., S. 20. Ebd., S. 8.

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(Text-)Körper und Räumlichkeit in Becketts Le Dépeupleur Akt des Lustgewinns beschrieben wird. Auch wenn im ersten Satz dieses Abschnitts die mögliche Existenz einer Seele evoziert wird, die unter den Licht- und Temperaturverhältnissen zu leiden hat, bleibt der Fokus auf die äußere Hülle der Bewohner, auf die Haut und ihre Abwehrsysteme gerichtet: »Mais elle [l’âme] en souffre certainement moins que la peau dont tous les systèmes de défense depuis la sueur jusqu’à la chair de poule se trouvent à chaque instant contrariés.«61 Die vollkommene Nacktheit der Leiber impliziert einen Akt der Entblößung, der hier jedoch weniger mit dem paradiesischen Zustand der Unschuld als mit der Ausnahmesituation assoziiert wird, in dem sich die Gemeinschaft der Kletterer, Sucher und Besiegten befindet. In dem Maße, in dem das Innenleben der Bewohner ausgeblendet wird und allenfalls negative Affekte wie Wut und Zorn wahrnehmbar sind, scheinen sie auf physiologische Reiz-ReaktionsSchemata reduziert. Der Kampf ums Überleben realisiert sich vor diesem Hintergrund nicht als ethische Entscheidung, sondern als Widerstand der biopolitischen Substanz, auf die der Körper reduziert wird.62 So hat die Nacktheit der weiblichen und männlichen Körper jeglichen erotischen Reiz verloren und wird zum Spiegel eines physischen Verfalls, der unaufhaltsam seinem natürlichen Ende zustrebt. »Car lui-même peau à sa façon sans parler de ses liquides et paupières il n’a pas qu’un seul adversaire. Ce dessèchement de l’enveloppe enlève à la nudité une bonne partie de son charme en la rendant grise et transforme en un froissement d’orties la succulence naturelle de chair contre chair.«63

In Analogie zur physischen Auflösung befindet sich auch die soziale Gemeinschaft der Lebewesen in dem Zylinder in einem Zersetzungsprozess. Zwar werden zu Beginn des zweiten Prosafragments verwandtschaftliche und freundschaftliche Relationen erwähnt, diese haben jedoch ihre gruppenbildende und Ordnung stabilisierende Funktion verloren, da die Identifikation des Anderen aufgrund der Dichte und Dunkelheit fast unmöglich geworden ist. »Parents proches et lointains ou amis plus ou moins beaucoup en principe se connaissent. L’identification est rendue difficile par la presse et l’obscurité.«64 Im zehnten Prosafragment, das mit der fast identischen Wiederholung des ersten Satzes aus dem zweiten Abschnitt beginnt und damit die bereits gespeicherten Informationen zu den Bewohnern aktiviert, werden die Körper gemäß ihres Geschlechts 61 62 63 64

Ebd., S. 46. Vgl. G. Agamben: Quel che resta di Auschwitz (wie Anm. 28), S. 76-80. Ebd., S. 46f. Ebd., S. 12.

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Silke Segler-Meßner und ihrer unterschiedlichen Entwicklungsstadien differenziert. »Corps des deux sexes et de tous les âges depuis la vieillesse jusqu’au bas âge.«65 Besondere Aufmerksamkeit erfahren an dieser Stelle die Säuglinge und krabbelnden Kleinkinder, die keiner der aufgestellten Kategorien zuzuordnen sind und wie Fremdkörper innerhalb des sterilen Raumes wirken, in dem es keine Möglichkeiten einer Entfaltung kleinkindlicher Aktivitäten gibt und bereits diejenigen, die sich dem Bewegungsdrang der ›chercheurs‹ und ›grimpeurs‹ widersetzen, überlaufen werden, ob es sich um die an der Wand sitzenden Sucher oder um die vier bis fünf Besiegten handelt, die noch nicht einmal reagieren, wenn man auf sie tritt.66 Die im Zylinder lebende Masse menschlicher Körper, deren soziale Harmonie auf einem Gleichgewicht zwischen »ordre et laisseraller«67 basiert, definiert sich weniger über ein gemeinsames Wertesystem als über den von der Mehrzahl geteilten Glauben an einen Ausgang, den der Erzähler an zahlreichen Stellen als Trugschluss dechiffriert. Dieser Mythos eines anderen Lebens verleiht der auf sich selbst zurückgeworfenen Existenz im Zylinder ein Ziel, das sporadische Manifestationen von ›fraternité‹ und die Ausbildung einer rudimentären Moral der gegenseitigen Rücksichtnahme ermöglicht. »Il suffirait d’une vingtaine de volontaires décidés conjugant leurs efforts pour la maintenir en équilibre à l’aide au besoin d’autres échelles faisant office de jambes de force. Un moment de fraternité.«68 Diese singulären Formen der Fürsorge sind jedoch utilitaristisch motiviert, insofern sie dem übergeordneten Ideal der Suche nach einem Ausweg dienen, und werden von den exzessiven Gewaltausbrüchen konterkariert, mit der sich einzelne den Weg zu bahnen suchen und in denen sich die ohnmächtige Wut des Scheiterns artikuliert. An die Stelle verbaler Kommunikation, die alle Bewohner des Zylinders verloren haben, treten Gesten und Augenbewegungen, mit denen die ›chercheurs‹ und die ›chercheurs sédentaires‹ den Kontakt mit den anderen suchen. In dem Maße, in dem die Hoffnung auf Ausbruch erwacht, intensiviert sich die Bewegung der Augen, die nur bei den ›vaincus‹ gesenkt oder geschlossen sind. Paradoxerweise konstituieren die ›Besiegten‹, die an der Wand gelehnt mit gesenktem Kopf sitzen, die eigentlichen Gewinner innerhalb des Bewegungssystems des Zylinders. Ihre Haltung der Untätigkeit nähert sie der Figur Belacquas aus Dantes Divina Commedia an und ist

65 66 67 68

Ebd., S. 26. Vgl. ebd., S. 25. Ebd., S. 39. Ebd., S. 18f.

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(Text-)Körper und Räumlichkeit in Becketts Le Dépeupleur nicht mit Passivität oder Trägheit zu verwechseln, sondern eine Form der Katargesis. Als Sinnbild der Hoffnungslosigkeit verkörpern sie einen Seinszustand, der jenseits von Verdammnis und Heil zu situieren ist. Sie konstituieren das eigentliche Ziel der Suche, wie in dem letzten Prosasegment deutlich wird und sind an die wiederkehrende Vision einer Endzeit gebunden, in der alle Bewegung zum Stillstand und damit alles Leben zum Ende gekommen ist.69 Der Wechsel zwischen Licht und Dunkelheit, zwischen Wärme und Kälte und damit zwischen Agilität und Starre versinnbildlicht eine Ausnahmesituation zwischen Leben und Tod, deren experimenteller Charakter durch die Beobachtungsposition verstärkt wird, in der sich Erzähler und Leser befinden, die beide durch die Linse des ›œil cherchant‹ gleichsam in einen Guckkasten blicken. Auch wenn durch die Verwendung des Präsens der Eindruck einer sich endlos ausdehnenden Gegenwart evoziert wird, so tauchen von Anfang an Hinweise auf einen möglichen Endpunkt des skizzierten Szenarios auf. Gleich im ersten Fragment findet sich die erste Anspielung auf ein Endzeit-Tableau, das die Unvergänglichkeit der Bleibe in Frage stellt. »Tous se figent alors. Leur séjour va peut-être finir.«70 Am Ende des zweiten Prosasegments markiert der Wechsel vom Präsens ins Futur den Einschub einer Endzeitvision. »Et loin de pouvoir imaginer leur état ultime où chaque corps sera fixe et chaque œil vide ils en viendront là à leur insu et seront tels sans le savoir. Ce ne sera plus alors la même lumière ni le même climat sans qu’il soit possible de prévoir ce qu’ils seront. Mais à envisager l’une éteinte faute de raison d’être et l’autre fixe dans le voisinage de zéro. Dans le noir froid de la chair immobile.«71

Die zahlreichen Bruchstücke der avisierten Auflösung des Lebens im Zylinder verdichten sich im abschließenden Prosafragment des Dépeupleur zu einem Gesamtbild, das durch den intertextuellen Verweis auf Primo Levis Se questo è un uomo die Assoziation mit der Welt der Vernichtung in den deutschen Konzentrationslagern nahe legt.72

69

70 71 72

Zu dem Aspekt des Weltuntergangs bzw. der Apokalypse vgl. Brockmeier, Peter: »Das ›undenkbare Ende‹ in einer ›undenkbaren Vergangenheit‹. Zur Darstellung metaphysischer Ansichten in Samuel Becketts Le Dépeupleur«, in: Gerhard R. Kaiser (Hg.), Poesie der Apokalypse, Würzburg: Königshausen & Neumann 1991, S. 269-280. S. Beckett: Le Dépeupleur (wie Anm. 34), S. 7. Ebd., S. 14. Vgl. Rabaté, Jean-Michel: »Beckett et la poésie de la zone: (Dante... Apollinaire. Céline...Lévi)«, Samuel Beckett today/Aujourd’hui 8 (2000), S. 75-90, hier S. 81.

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Silke Segler-Meßner In der letzten Einstellung des Dépeupleur fährt die Kamera über die Masse der erstarrten Leiber auf dem Boden des Zylinders, die sitzend oder stehend in ihrer Bewegung eingefroren sind, da es aufgrund der Begrenztheit des Raumes und der Vielzahl an Körpern keine Möglichkeit gibt, sich hinzulegen. In den Fokus der Wahrnehmung gerät ein letzter Überlebender, der sich in der Menge zu regen beginnt und dessen Zugehörigkeit zur Gattung Mensch mehrfach mit der wiederauftauchenden Formel ›si c’est un homme‹ in Frage gestellt wird, die der französische Titel des Werkes Levis ist. Er sucht nicht mehr nach einem Ausweg, sondern bahnt sich den Weg zu jener Besiegten, die zuvor den ›chercheurs‹ als Orientierungspunkt auf der Suche nach möglichen unbenutzten Nischen diente. »Le voilà donc si c’est un homme qui rouvre les yeux et au bout d’un certain temps de fraye un chemin jusqu’à cette première vaincue si souvent prise comme repère.«73 Die ›vaincue‹ verkörpert exemplarisch jene Haltung der vollkommenen Bedingungs- und Selbstlosigkeit, die dem Überlebenden nun eine Antwort auf seine letzte Frage gibt: Es gibt keinen Ausweg aus dem Zylinder, sondern allein die Option, das Mögliche zu erschöpfen. Bei dem Blick in ihre Augen entdeckt er jene »calmes déserts«74, in denen er sich selbst verliert und damit zur Ruhe kommt. In dem Augenblick, in dem er seinen Platz gefunden hat, gelangt alle Bewegung zum Stillstand und es entsteht ein Bild jener vollkommenen Stille, die den idealen Fluchtpunkt der Spätprosa Becketts bildet: »Lui-même à son tour au bout d’un temps impossible à chiffrer trouve enfin sa place et sa pose sur quoi le noir se fait en même temps que la température se fixe dans le voisinage de zéro. Se tait du même coup le grésillement d’insecte mentionné plus haut d’où subitement un silence plus fort que tous ces faibles souffles réunis.«75

73 74 75

S. Beckett: Le Dépeupleur (wie Anm. 34), S. 54. Ebd. Ebd., S. 54f.

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Raum und Objekt in Samuel Becketts Le Dépeupleur ANNE BEGENAT-NEUSCHÄFER »All I want to do is sit on my ass and fart and think of Dante.« (Samuel Beckett)

Von Anbeginn an hat Samuel Beckett sein Schreiben in Beziehung zu Dante gesetzt: Bereits 1923/24 folgte er der Lectura Dantis des Italianisten Rudmose-Brown am Dubliner Trinity College und etwa zehn Jahre später antwortete er auf die Frage eines Freundes, was er gerne im Leben täte: »All I want to do is sit on my ass and fart and think of Dante.«1 Die kleine boutade erhellt Becketts poetologischen Keimentschluss und verhüllt ihn zugleich in einer selbstironischen Distanz. Damit beleuchtet Beckett grell die Bedeutungslosigkeit solchen Tuns für eine Gesellschaft, in der Reflexion und Meditation nicht nur an die Peripherie sinnvoller Tätigkeiten gerückt sind, sondern nicht einmal mehr erfasst werden können, weil sie materiell als physische Tätigkeiten in ihrem unmittelbaren ökonomischen Nutzen nicht quantifizierbar sind. Das, was Gerhard Neumann in der Deutung von Dante and the Lobster als durchgängige Isotopien erkannt hat, nämlich »die Produktion von Text gegen die Reproduktion des Körpers«2, ist in diesem Satz Becketts paradoxal zugespitzt und als absurde Gleichung benannt. Es weist in der Nennung des Namens zurück auf den, der die drei Jenseitsreiche als »Dichter der irdischen Welt«3 beschrieben hat und bestimmt zugleich den modernen Ort des Denkenden in der Haltung des Insichselbst-Versunkenen. Dieser Nicht-Produktive gibt sich nicht mehr

1 2

3

Zit. nach Frasca, Gabriele: »Dante in Beckett«, Esperienze letterarie: rivista trimestrale di critica e di cultura X, 4 (1985), S. 37-55, hier S. 38. Neumann, Gerhard: »Inszenierung und Destruktion. Zum Problem der Intertextualität in Samuel Becketts Erzählung Dante and the Lobster«, Poetica 19 (1987), S. 278-301, hier S. 279. Auerbach, Erich: Dante als Dichter der irdischen Welt, Berlin und Leipzig: De Gruyter 1929.

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Anne Begenat-Neuschäfer der ihm notwendigen Muße hin, sondern steht als Untätiger am Rande der Leistungsgesellschaft, wird von dieser nicht als Intellektueller und geistige Autorität geachtet, sondern im Gegenteil an die Grenze des Verstummens gedrängt. Icon der müßigen, indolenten Haltung des Denkenden ist die Figur des Belacqua aus Dantes zweiter Cantica, bei Beckett mit dem Zunamen Shuah versehen und als Selbstverweis in den umgekehrten Initialen zu deuten. Belacqua Shuah tritt erstmals in der bereits erwähnten Novelle Dante and the Lobster, die Beckett 1932 zu einem Preisausschreiben einreichte, in Erscheinung. Die Erzählung basiert ihrerseits auf dem unveröffentlicht gebliebenen Roman Dream of Fair to middling Women. Um ihn als Hauptfigur ist nachfolgend der »Roman in Erzählungen«4 More Pricks than Kicks von 1934 zentriert. Erster Erforscher einer anders verlaufenden Grenze des Verstummens in der Volkssprache war Dante selbst, der mit den Unsagbarkeitstopoi, welche die drei Cantiche durchziehen, immer wieder auf das Überbordende einer Wirklichkeit verweist, die mächtiger ist als das ihm zur Verfügung stehende Wort. Als Zeuge und Dichter dieser Wirklichkeit demütigt und erhebt er sich selbst, stellt sich in die Rolle des unabweisbaren, weil gleichzeitig dichterischen Augenzeugen. Beckett transferiert im Anschluss an und unter Bezug auf Dante den Ort des Intellektuellen und die Grenze des Sagbaren, des Verstummens in die Moderne. Den Ausgangsort bildet Dantes Commedia, die in ihrer Gesamtheit als »klar benennbarer Prätext«5 erkennbar bleibt, sein verstummender, verblassender Erzähler als Statthalter des Dichters und seines Wahrheitsanspruches im Text wird Belacqua. In der kritischen Literatur wurde Becketts Bezug auf Dante häufig erörtert, wenngleich, wie Kuon schon 1993 anmerkte, noch immer eine Gesamtwürdigung dieses komplexen Verhältnisses aussteht.6 Es würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen, alle Gründe zu erörtern, die Beckett über die eigene Neigung zu Dante hinaus dazu bewogen haben, die Commedia als Referenztext zu wählen. Entscheidend und für unseren Zusammenhang ausschlaggebend scheinen mir zwei Aspekte bei Dante zu sein, die Becketts Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. Dante schafft, um die Entkörperlichung der von ihm beschriebenen jenseitigen Wirklichkeiten fassbar zu machen, eine genaue Topographie von Hölle, Läute4 5

6

Birkenhauer, Klaus: Samuel Beckett in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1971, S. 53. G. Neumann: »Inszenierung und Destruktion. Zum Problem der Intertextualität in Samuel Becketts Erzählung Dante and the Lobster« (wie Anm. 2), S. 281. Vgl. Kuon, Peter: Lo mio maestro e ’l mio autore, Frankfurt am Main: Klostermann 1993, S. 208.

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Raum und Objekt in Samuel Becketts Le Dépeupleur rungsberg und Himmel, er gibt dem Unsagbaren jeweils einen Ort, der die Vorstellung – seine eigene wie die des Lesers – trägt, wenn das Wort versagt. Bestimmung des Ortes und Verwandlung der Rede gehören also für Dante zusammen. Dazu bedient er sich als erster zweier Ebenen, die er in der Hölle als humanitas und bestialitas in Beziehung und gegeneinander setzt, von denen aus er den Text gegen materiale Widerständigkeit konstituiert. Im Himmel prallen humanitas und divinitas aufeinander. So zeigt er vor allem in der ersten Cantica das »Erlöschen der Sprachproduktion als Bedeutungsgenerierung im Angesicht der Selbstreproduktion des Körpers«7, was Neumann für Becketts Dante and the Lobster als den Gegensatz Sprachproduktion – Selbstreproduktion bestimmt. In der zweiten und dritten Cantica hingegen verdeutliche Dante zunehmend und in einer aufsteigenden Klimax »das Versagen der Sprache angesichts ihrer sonst erprobten Bewährung im Akt der Bedeutungsproduktion«8, er beschreibe sein Scheitern als Übersetzer zwischen zwei Ordnungen, stilistisch steigere er hier die Verwendung der Unsagbarkeitstopoi. Die erste Frage, die es zu erörtern gilt, lautet also, wie Beckett die mentalen Raumentwürfe Dantes nutzt, die zweite, was er damit zu übersetzen sucht, Übersetzung noch einmal verstanden im Sinne Neumanns als »Versuch der Rettung des ›Sinns‹ gerade in der Übertragung in ein fremdes linguistisches System, die Bewährung des Signifikats der Sprache über deren wechselnde Signifikanten hinweg.«9 Es könnte sein, dass die Rückblende auf das Dante’sche Verständnis von Übersetzen auch ein neues Licht auf Becketts theoretischer Betrachtung seiner Zweisprachigkeit wirft, aber die Auseinandersetzung mit dieser Thematik gehört nicht in diesen Zusammenhang. Die dritte Frage lautet, wie und wozu Beckett übersetzt. Eine Deutungsoption scheint sich mir allerdings aufgrund des durchgängigen Rückbezuges auf Dante für die Beckett’schen Texte von selbst auszuschließen: So selbstverständlich der Leser dem Dichter Dante die zahlreichen Variationen des Unsagbarkeitstopos angesichts der Reise durch die drei Jenseitsreiche abnimmt, ja diese wiederholten Hinweise, jenseits aller captatio benevolentiae, geradezu die Glaubwürdigkeit seines Zeugnisses unterstreichen, so sehr ginge derselbe Leser, wollte er Beckett auf blanke Dekonstruktion jeglichen Sinnes und ausschließliche Autoreferentialität festlegen, in die Irre, das heißt: in die Falle der Sackgasse einer Lektüre, die im Kreise liefe und sich in sich selbst verirrte. Unwillentlich, 7

8 9

G. Neumann: »Inszenierung und Destruktion. Zum Problem der Intertextualität in Samuel Becketts Erzählung Dante and the Lobster« (wie Anm. 2), S. 280. Ebd. Ebd.

187

Anne Begenat-Neuschäfer aber nicht zufällig fände er immer wieder zur Eingangsterzine der ersten Cantica zurück: »Nel mezzo del camin di nostra vita / Mi ritrovai in una selva oscura / La dritta via era smarrita« und würde auf diese Weise durch Becketts intertextuelle Referenz an den Ausgangspunkt der Deutung Dantes zurückgeleitet. Unter den späten Erzählungen Samuel Becketts nimmt der 1966 verfasste und 1970 veröffentlichte Text Le Dépeupleur, von Elmar Tophoven als Der Verwaiser übersetzt,10 eine Sonderstellung ein. Die Erzählung schildert einen sinnhaften Ausschnitt aus einem Gesamtgeschehen, sie wird von einem Erzähler berichtet, der als außenstehender Beobachter den Sachverhalt in einem wertfreien, objektiven Stil beschreibt, und sie nennt im Gegensatz zu den unterschiedlichen Gruppierungen der Massenlosen, deren Existenz geschildert wird, einen Eigennamen, der Becketts gesamtes Werk durchzieht, den des Florentiner Dichters Dante. Mit diesem, im Gegensatz beispielsweise zu den zuvor in Têtes mortes zusammengestellten Prosatexten, relativ langen Werk kommt Beckett indirekt auf seine Anfänge, genauer gesagt: auf seine erste Erzählung von 1932, Dante and the Lobster, und auf More Pricks and Kicks von 1954 zurück. Hier fungierte Belacqua Shuah, Transposition des gleichnamigen Florentiner Lautenmachers Belacqua, als Hauptperson. In Dantes zweiter Cantica begegnet der Wanderer Dante diesem Florentiner Künstler am Fuße des Läuterungsberges,11 als er versucht ist, den steilen und mühsamen Aufstieg durch die Felsspalte hin zur ersten Stufe des Berges, zu dem ihn der vorauseilende Vergil rastlos antreibt, für eine Weile zu unterbrechen. Es ist die einzige Begegnung im vierten Gesang und ihr kommt von daher eine besondere Bedeutung zu. Der Wanderer sieht einen Büßer in der Position des In-sich-selbst-Versunkenen, der offensichtlich die Hast und Unruhe der reuigen Seelen nicht teilt, sondern träge seine ihm auferlegte Wartezeit absitzt. Er nennt ihn Vergil als Beispiel für einen Säumigen. Belacqua aber erkennt seine Stimme und antwortet mit leisem Spott: 12

»›Geh du hinauf, denn du bist tüchtig‹.«

Auch der Wanderer erkennt ihn und wird neugierig: 10

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Beckett, Samuel: Werke – Band 4: Erzählungen, in Zusammenarbeit mit Samuel Beckett hg. von Elmar Tophoven, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S. 211-238. Alighieri, Dante: Die Göttliche Komödie. II. Teil: »Purgatorio – Der Läuterungsberg«, Italienisch und Deutsch, übersetzt von Hermann Gmelin, Stuttgart: Klett 21974, Gesang IV, Vers 106-122, S. 50f. Ebd.

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Raum und Objekt in Samuel Becketts Le Dépeupleur »Da merkt’ ich, wer er war; und die Erschöpfung, Die meinen Atem noch etwas beklemmte, 13 Verhinderte mich nicht, hinzuzutreten.«

Belacqua weist ihn auf den Sonnenaufgang hin, der Wanderer Dante belächelt sein Verhalten, weil es ihm unverändert zum irdischen Leben erscheint: »Doch als ich dort war, hob er kaum den Schädel Und fragte: ›Hast du richtig auch gesehen Den Sonnenwagen auf der linken Seite?‹ Die Lässigkeit und seine kurzen Worte 14 Verzogen meinen Mund zu einem Lächeln.«

Der Wanderer lächelt zum einen aus Freude darüber, am fremden Ort eine aus Florentiner Jugendtagen vertraute Person gefunden zu haben, zum anderen belächelt er in diesem Antepurgatorio die menschlichen Gewohnheiten, die noch ganz irdisch vertraut und beurteilbar erscheinen, konkret: Belacquas vertraute Bemäntelung der eigenen Trägheit. Doch Belacqua liest als Verstorbener in seinen Gedanken und klärt ihn über die Frist auf, die er einhalten muss, und die er, im Gegensatz zum vergangenen irdischen Dasein, gut zu nutzen gedenkt: »Und er zu mir: ›Bruder, was soll das Steigen? Ich würde droben doch nicht eingelassen Vom Engel Gottes, der die Pforte hütet. Erst muß der Himmel soviel mal sich drehen, Eh ich hinein darf, wie im Leben drüben, Weil ich mit guten Seufzern solang säumte; Sofern nicht früher ein Gebet mich rettet, Das mir aus gnadenvollem Herzen steiget; 15 Ein andres findet kein Gehör im Himmel.«

So belehrt der träge Belacqua den eifrigen Wanderer und warnt ihn unter implizitem Verweis auf das Gleichnis von Maria und Martha vor vorschnellen Verurteilungen. Der moderne Belacqua Becketts allerdings wird namentlich im Dépeupleur nicht erwähnt, wenngleich, und darauf hat die kritische Literatur durchgängig abgehoben, der Inhalt des Erzählgeschehens wie auch seine räumliche Ordnung auf den Läuterungsberg zurückbezogen werden müssen, denn auf das Gespräch mit Belacqua im 13 14 15

Ebd. Ebd. D. Alighieri: Die Göttliche Komödie. II. Teil: »Purgatorio – Der Läuterungsberg« (wie Anm. 11), Gesang IV, Vers 127-135, S. 52f.

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Anne Begenat-Neuschäfer Antepurgatorio, das dem Wanderer Dante ein Lächeln entlockte, spielt der Erzähler an, wenn er die Haltung der Nicht-Sucher mit einem Verweis auf »Dantes seltenes mattes Lächeln«16 beschreibt. Beginnen wir mit der räumlichen Ordnung: Als »Bleibe, wo Körper immerzu suchen«17 wird im Verwaiser »das Innere eines niedrigen Zylinders mit einem Umfang von fünfzig Metern und einer Höhe von sechzehn wegen der Harmonie«18, »ungefähr zwölfhundert Quadratmeter Gesamtfläche, davon achthundert Wand«19 bestimmt. »Es sind Höhlen in der Wand über einem in halber Höhe herumführenden gedachten Sims. Sie befinden sich also nur an ihrer oberen Hälfte. Mehr oder weniger breite Löcher verschaffen rasch Zugang zu kleinen Gelassen unterschiedlicher Geräumigkeit, die jedoch immer ausreicht, damit der Körper mit Hilfe des normalen Spiels der Gelenke da eindringen und sich dort auch schlecht und recht ausruhen kann. Sie sind so angeordnet, dass jeweils vier um eine fünfte herum kunstvoll vom Quadrat abweichende Vierecke mit einer durchschnittlichen Seitenlänge von sieben Metern bilden. […] Einige Nischen sind durch Tunnel miteinander verbunden, die in die Wanddicke hineingetrieben wurden und bis zu fünfzig Meter Länge erreichen können. Aber die meisten haben keinen anderen Ausgang als den Eingang.«

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Der Zylinder, die zunächst unüberwindlich scheinende glatte Wand, dann die unterschiedlich langen Leitern evozieren Dantes Läuterungsberg, dessen steile, unzugängliche Felswand und die Steigung seines Anstieges in Steilwegen (cornici oder gironi) als den Bezug der räumlichen Gestaltung. Freilich ist der Zylinder des Dépeupleur insofern nicht mit dem Läuterungsberg vergleichbar, als er sein Inneres, aus dem es kein Entrinnen gibt (es sei denn, man vertraute auf nie verifizierte Gerüchte), geschlossen durch eine Gummiwand gegen die Außenwelt abschirmt und daher auch nicht die Möglichkeit bietet, den Himmel und die Übergänge von Tag und Nacht zu beobachten. Die Geschlossenheit des Raums, seine Unentrinnbarkeit, seine Düsternis im fahl-gelblichen, rot-dumpfen Licht und seine graduell schwankenden Temperaturen zwischen 0 und 25 Grad leiten über zu einer zweiten räumlichen Assoziation, die gleichfalls Dantes Commedia entlehnt ist. Sie wird durch die Beschreibung des oberen Drittels des Zylinders gestützt: Die Simse in halber Höhe, die Nischen und Tunnel erinnern wie in einer filmischen Überblendung nicht nur an den Läuterungsberg, sondern sogleich auch an den umgekehrten Zylinder, der den Trichter der Hölle heraufbeschwört, 16 17 18 19 20

S. Beckett: Werke – Band 4: Erzählungen (wie Anm. 10), S. 216. Ebd., S. 213. Ebd. Ebd., S. 216. Ebd., S. 214f.

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Raum und Objekt in Samuel Becketts Le Dépeupleur dessen Abstieg in die Kreise zum tiefsten Punkt hin immer beschwerlicher, unwegsamer, gefährlicher und kälter wird, bis die Zone des ewigen Eises erreicht ist. Auch ist der tiefste Punkt des Höllentrichters wie die Arena des Dépeupleur in Zonen unterteilt. Die gegenläufigen, sich an den Außenrändern bewegenden Kreise der Sucher erinnern an Dantes Antinferno im dritten Gesang des Inferno, in dem die Lauen ratlos herumlaufen und von Ungeziefer geplagt werden, auf das wiederum die Benennung des »Insektengezirps«21 verweist, das der Erzähler im Dépeupleur auf den Generator für Licht und Temperatur zurückführt. Die Beschreibung des Aufenthaltsortes der Lauen bei Dante liest sich wie die Ortsangabe für den Erzählbericht des Dépeupleur: »Hier hört ich Seufzer, Klagen, Weherufe In einer sternenlosen Nacht ertönen, Weshalb ich erst in Tränen ausgebrochen. Verschiedene Sprachen, wilde Schreckenslaute, Worte des Schmerzes und Geschrei des Zornes, Schrille und heisere Stimmen, Handgemenge, Vollführten ein Getümmel, das ohn’ Ende In diesen zeitlos trüben Lüften kreiset, 22 Wie Sand, gejagt in einem Wirbelsturme.«

Es unterscheidet den Verwaiser allerdings erheblich vom dritten Gesang des Inferno, dass hier der Erzählton neutral und impassibel bleibt. Kein Mitgefühl, keine Betroffenheit mit den Geschehnissen im Zylinder werden vermittelt. In schroffem Gegensatz dazu steht das menschliche Empfinden des entsetzten Wanderers Dante, dem der Führer Vergil erklärt, was es mit diesen Seelen auf sich hat: »Und ich, dem schon das Haupt umwand das Grauen, Sprach: ›Meister, was ist das, was ich dort höre, Was für ein Volk, von Schmerzen überwältigt?‹ Und er zu mir: ›Solch elend Leben müssen Die trüben Seelen jener Menschen führen, Die ohne Lob und ohne Schande lebten. Vermischt sind sie mit jenem bösen Chore Der Engel, der einst, weder abgefallen Von Gott, noch ihm getreu, allein gestanden. Der Himmel will sich nicht mit ihnen schänden, Und auch die tiefe Hölle schließt sich ihnen, 21 22

S. Beckett: Werke – Band 4: Erzählungen (wie Anm. 10), S. 227. Alighieri, Dante: Die Göttliche Komödie. I. Teil: »Inferno – Die Hölle«, Italienisch und Deutsch, übersetzt von Hermann Gmelin, Stuttgart: Klett 21968, Gesang III, Vers 22-30, S. 36-39.

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Anne Begenat-Neuschäfer Damit die Sünder sich nicht rühmen können.‹ Und ich: ›Mein Meister, sag mir, was ist ihnen So hart, dass sie so heftig klagen müssen?‹ Er gab zur Antwort: ›Kurz will ich berichten. Sie haben keine Hoffnung, je zu sterben, Und also niedrig ist ihr blindes Leben, Dass sie ein jedes andre Los beneiden. Die Erde lässt von ihnen keine Spuren, Von Recht und Mitleid werden sie verachtet. Sprich nicht von ihnen, schau und geh vorüber.‹ Und als ich um mich schaut’, sah ich ein Zeichen Mit solcher Schnelligkeit im Kreise laufen, Dass jede Ruhe ihm versagt sein musste. Und hinter ihm sah ich so große Scharen Von Leuten, dass ich niemals glauben mochte, 23 Dass je dem Tod so viele schon verfallen.«

Hölle und Läuterungsberg werden also in Becketts Verwaiser in ein einziges räumliches Bild verdichtet, und es ist bezeichnend für seine Vision der Moderne, dass er dabei den Schwerpunkt auf Antinferno und Antepurgatorio, also zwei Orte des Zwischenstadiums, der Nicht-Zugehörigkeit und damit der Ambivalenz legt, denen gerade der Durchgangscharakter Dauer verleiht. Mit der Konstruktion dieses Ortes schafft Beckett eine Verbindung zu den eigenen Theaterstücken, aber auch darüber hinaus und allgemeiner zur zeitgenössischen Dramaturgie, weist auf diese voraus. Man wird an einen Autor wie Bernard-Marie Koltès erinnert, der die Bühne als einen Durchgangsort betrachtet, an dem Begegnungen und Abschiede in Hast und in einem durchlässigen, neutralen Rahmen von Zeit und Raum geschehen. Für ihn wie auch für Beckett liegt der reale Bezug der Begegnungen und Situationen außerhalb des Spiels und ist für dieses nicht nutzbar zu machen oder gar zu instrumentalisieren; konkret hält das Theaterspiel nur das gewechselte Wort in der flüchtigen und zufälligen Begegnung. Koltès hatte es in seinen Gesprächen einmal so formuliert: »Ich nehme die Bühne des Theaters eher als einen provisorischen Ort wahr, den die Figuren unablässig verlassen möchten. So wie einen Ort, an dem sich die Frage stellt, dass dieses nicht das wahre Leben ist und wie man ihm deshalb entrinnen kann? Die Lösungen scheinen sich immer außerhalb der Bühne zu befinden, wie im klassischen Theater. So wird für mich, der ich der Generation des Films angehöre, das Auto zum Symbol alles dessen, was das Theater nicht ist: Schnelligkeit, Ortswechsel usw. Und das Spezifische des Theaters verlangt nunmehr, dass man es verlassen muss, um das richtige Leben zu finden. Es versteht sich von selbst, dass ich gar nicht weiß, ob es das richtige Leben über-

23

Ebd., Vers 31-56, S. 36-39.

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Raum und Objekt in Samuel Becketts Le Dépeupleur haupt gibt, und ob sich die Figuren, wenn sie es endlich schaffen, diese Bühne zu verlassen, nicht auf einer anderen Bühne, in einem anderen Theater wiederfinden, und so fort. Es ist vielleicht diese grundlegende Frage, die dem Theater 24 Dauer verleiht.«

Das Theaterspiel verdichtet für Koltès, in der Konkretheit der von Menschen geschaffenen dramatischen Situation, die individuellen und gesellschaftlichen Probleme in der Aktion, macht sie sichtbar im Wortwechsel, unterzieht sie somit dem Experiment der Bewusstwerdung durch den Zuschauer. Hier endet dann das Theaterspiel. Ursprung und Lösung des Konflikts müssen außerhalb des Spielortes gefunden werden. Gegenläufig zur eintönigen, horizontalen und verfließenden Transitorik des Durchgangs zieht Beckett die für die Hölle typische Erstarrung, die in der Wiederholung der immer gleichen Gesten und Bewegungen besteht, und den vertikalen Bewegungsdrang nach oben, der für den Läuterungsberg charakteristisch ist, in einem Bild zusammen, so dass Vorhölle und Antepurgatorio zusammengesehen werden in einer rastlosen Sinnlosigkeit, für deren Beschreibung Koltès’ Satz stehen könnte: »Und das Spezifische des Theaters verlangt nunmehr, dass man es verlassen muss, um das richtige Leben zu finden. Es versteht sich von selbst, dass ich überhaupt nicht weiß, ob es das richtige Leben überhaupt gibt, und ob sich die Figuren, wenn sie es endlich schaffen, diese Bühne zu verlassen, nicht auf einer 25

anderen Bühne, in einem anderen Theater wiederfinden, und so fort.«

Becketts Zusammenschau von Antinferno und Antepurgatorio indiziert eine Sinnentleerung – der Durchgang wird zum Durchgang um seiner selbst willen – und eine (Ver)Nichtung der optimistischen Dante’schen Idee der Beschleunigung im Aufstieg, die bei Beckett durch die Assoziation mit der Rastlosigkeit des Getriebenseins der Lauen kontaminiert wird. Es entsteht der Gesamteindruck einer endgültigen Verdüsterung in der Wahrnehmung der Topographie, und dieser von Beckett intendierte Effekt bildet seinen Kommentar zu Dantes Raumvorstellungen vom Standort der Moderne aus gesehen. Beckett, können wir folgern, ist wohl vertraut mit der Dante’schen Technik der Parallelverweise, die sich wechselweise erhellen, und macht sie sich zu eigen. Wenn im Gesang einer Cantica auf den gleichen Gesang einer anderen Cantica Bezug genommen wird, bedeutet dies bei Dante, dass der Leser aufgefordert ist, den metaphorischen Raum des Textkörpers zu betreten und sich 24 25

Koltès, Bernard-Marie: Une part de ma vie. Entretiens, 1983-1989, Paris: Minuit 22010, S. 54f. Ebd.

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Anne Begenat-Neuschäfer den (verborgenen) Sinn der Textstelle in der Zusammenschau der Verweise zu erschließen. Solche Parallelverweise spielen im Gesamtbau der Commedia eine große Rolle. Beckett nutzt im Dépeupleur diese Technik für zwei entscheidende Gestaltungsprinzipien: einmal, wie wir schon gesehen haben, zur Schaffung des Raumes, und zum anderen zur Bestimmung der Funktion des Erzählers und des Erzählgeschehens. Über die Verschränkung der topographischen Bezüge aus Inferno und Purgatorio wird Beckett eine zweite Gestalt einführen, einen weiteren Parallelverweis, der bei ihm Belacquas Pendant bildet und mit diesem zusammengesehen werden muss. Belacqua und dieser Zweite erlauben uns, Erzähler und Erzählgeschehen im Verwaiser zu bestimmen. Dazu müssen wir noch einmal zu Dantes metaphorischer Topographie zurückkehren, die bei Beckett eine ähnlich entscheidende Rolle spielt wie bei Dante selbst. Den Anstoß für Becketts räumliche Verdichtung der beiden entgegengesetzten Raumentwürfe von Hölle und Läuterungsberg mag der 26. Gesang des Inferno gegeben haben. Mit dem 26. Gesang befinden wir uns im achten Höllenkreis, unter den gewalttätigen Betrügern, also schon tief im Abstieg, in der sogenannten Malebolge, die insgesamt zehn Gräben umfasst.26 Hier gelangen der Wanderer Dante und Vergil im achten Graben in das Tal der betrügerischen Ratgeber, die in einer Flammenkugel ihre Verfehlung büßen. Der 26. Gesang hat einen dynamischen Übergang, weil er die beiden Wanderer beim Übergang vom siebten zum achten Graben zeigt, und er erhält durch den beschwerlichen Abstieg eine eigentümliche Spannung: Dante stürzt beinahe vor dem jähen und schlecht zu bewältigenden Übergang – wäre dieser steile, fast unüberwindbare Abstieg ein Gegenstück zu der unzugänglichen Hartgummiwand des Zylinders? –, als er von oben über das Tal der betrügerischen Ratgeber blickt, in das der greise Odysseus verwiesen wurde, der sich ihm in einer sich rasch bewegenden Flammenkugel nähert. Auch die Vogelschau von oben erinnert an den Standort des Erzählers im Verwaiser, der die Ereignisse und die Bewegungen im Zylinder überschaut. Das geradezu körperliche Verlangen des Wanderers Dante, mit der doppelflammigen (doppelzüngigen?) Lichtkugel des Odysseus und Diomedes ins Gespräch zu treten, hat Karlheinz Stierle als die unmittelbare Anziehung, die der Wissensdrang des Odysseus – das »divenir del mondo esperto« – auf den Dichter Dante ausübt, gedeutet.27 Odysseus berichtet dem Wanderer Dante über 26

27

Vgl. zu den folgenden Ausführungen auch Gmelin, Hermann: Kommentar zu Dante Alighieri. Die Göttliche Komödie. I. Teil: »Inferno – Die Hölle«, Stuttgart: Klett 21966, S. 380-395. Vgl. Stierle, Karlheinz: Francesco Petrarca. Ein Intellektueller im Europa des 14. Jahrhunderts, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004,

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Raum und Objekt in Samuel Becketts Le Dépeupleur sein Ende, das der Dichter Dante ohne Kenntnis der Odyssee aus Seefahrerberichten und mittelalterlichen Legenden schuf. Noch einmal gelang es demnach dem listenreichen Griechen, die Gefährten zu einer gemeinsamen Fahrt jenseits der Säulen des Herkules zu bewegen. Ihrer Neugier nach der unbekannten Welt wurde jedoch ein gewaltsames Ende gesetzt, als ihr Schiff an einem Berg zerschellte, bei dem es sich nach Ansicht einiger Interpretatoren der Commedia um den Läuterungsberg gehandelt haben könnte. So berichtet Odysseus dem Wanderer Dante den Ausgang seines letzten Abenteuers: »Fünfmal war schon entzündet und erloschen Das Licht des Monds im Auf- und Untergange, Seit wir die hohe Fahrt begonnen hatten. Da ist vor uns ein Berg emporgestiegen In dunkler Ferne, der schien so gewaltig, Wie ich es nie zuvor gesehen hatte. Wir freuten uns, doch ward es bald zum Unheil, Denn von dem neuen Lande kam ein Strudel Und schüttelte des Schiffes Vorderseite. Dreimal ließ er’s mit allen Wassern kreisen, Beim vierten Male ging das Heck nach oben, Der Bug nach unten, wie’s dem Herrn gefallen, 28 Bis über uns die Wogen sich geschlossen.«

Der hermetisch geschlossene, das Suchen der Seefahrer abwehrende und zunichtemachende Berg erinnert an das Material des Zylinders aus Hartgummi, an dem physisch und in der Lektüre des sensus litteralis alle Versuche Fuß zu fassen und in der Lektüre des sensus allegoricus im übertragenen Sinn alle Bemühungen um Erkenntnis abprallen. Zusammen mit dem fünften Gesang der Hölle, in dem die berühmte Liebesgeschichte von Paolo und Francesca geschildert wird, gehört der 26. Gesang zu den Ausnahmen, in denen der Wanderer Dante Gefühle für die Verdammten zeigt. Während der fünfte Gesang mit einer Ohnmacht des Wanderers endet, schließt der 26. abrupt mit dem Ende der Rede des Odysseus, das Verstummen des Wanderers bekräftigt seine Betroffenheit. Stierle kommt zu dem Schluss,

28

S. 131 und S. 146: »Dantes Leidenschaft ist die Frage. Mit ihr dringt er ein in das, was sich der Evidenz entzieht. Jede Frage ist eine Reise ins Unbekannte, das sich im Erfahrbaren auftut. Odysseus orientiert sich sehend im Ganzen der diesseitigen Welt, Dante dringt fragend ins Ganze des Universums ein. [...] Dante ist ein Odysseus der Frage«. D. Alighieri: Die Göttliche Komödie. I.Teil: »Inferno – Die Hölle« (wie Anm. 21), Gesang XXVI, Vers 130-142, S. 332-335.

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Anne Begenat-Neuschäfer »[…] dass Dante seinem Odysseus Züge von sich selbst gegeben hat, um an dieser Gestalt eines imaginären Experimentes ein Verhältnis zu sich selbst zu gewinnen. Die Leidenschaftlichkeit des Odysseus, mit der er sich dem Wis29 senstrieb hingibt, ist eine Projektion von Dantes eigenem Erkenntnisdrang.«

Erinnert nicht der hemmungslose Erkenntnisdrang des Odysseus, sein unbändiges Bedürfnis nach einem »imaginären Experiment« an den Ausgangsort des Erzählers im Verwaiser, der einen Versuch protokolliert um des Versuchs willen und nicht, weil er von dessen Sinnhaftigkeit überzeugt wäre und diese engagiert zum Ausdruck brächte? Reinhard Klesczewski hingegen betont in seiner Deutung des 26. Gesanges die Verurteilung des »empio Ulisse«, der einen Gegenentwurf zum »pius Aeneas« Vergils darstellt, durch den gläubigen Christen Dante: »Dante bestraft nicht den Forscherdrang des Odysseus, wohl aber die Hybris bei der Wahl seines Forschungsgebietes und bei der Ausweitung der Grenzen seines Forschens. Damit ist Odysseus der Sünde der curiositas verfallen, die Thomas von Aquin von der löblichen, auf Gotteserkenntnis gerichteten studiositas scharf unterscheidet.«

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Die Hybris bestünde im Verwaiser in der Tat in der Entscheidung, das Experiment mit Menschen durchzuführen. Curiositas und acedia, im Sinne eines träumerisch In-sichselbst-Versunkenseins und eines unbändigen Erkenntnisdranges jenseits der ethischen oder moralischen Grenzen, können wir in einer ersten Gleichsetzung folgern, machen nach den impliziten intertextuellen Verweisen auf Dantes Commedia in Becketts Dépeupleur Odysseus und Belacqua als die beiden Pole aus, zwischen denen der Erzähler steht. Aber was berechtigt den Dante geschulten Leser, Odysseus und Belacqua als Bezugspunkte eben des Erzählers im Verwaiser anzusehen? Für Belacqua ist die Sache schnell geklärt: Beckett selbst hat diese Verbindung mit einem Verweis auf das vom Anonimo überlieferte Aristoteles-Zitat, demzufolge Belacqua Dante geantwortet haben soll, »sedendo et quiesciendo anima efficitur prudens«31 bestätigt. Belacqua enthüllt sich demnach weder als ausschließlich unglücklich oder gar träge, sondern in der Vision 29 30

31

K. Stierle: Francesco Petrarca. Ein Intellektueller im Europa des 14. Jahrhunderts (wie Anm. 27), S. 140. Klesczewski, Reinhard: »Dantes Odysseus-Gesang«, in: Richard Baum/Willi Hirdt (Hg.), Dante Alighieri 1985. In memoriam Hermann Gmelin, Tübingen: Stauffenburg 1985, S. 17-30, hier S. 26. Vgl. dazu: Gmelin, Hermann: Kommentar zu Dante Alighieri. Die Göttliche Komödie. II. Teil: »Purgatorio – Der Läuterungsberg«, Stuttgart: Klett 21968, S. 95.

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Raum und Objekt in Samuel Becketts Le Dépeupleur Becketts als missachteter Intellektueller der Moderne, der in Wirklichkeit die Zeit des Wartens nutzt, damit sein Leben vor seinem inneren Auge vorbeiziehe. Auf diese Weise erlangt er im Erzählen literarische Weisheit. Auch der in bester Dante-Manier autobiographische Bezug über die Bedeutung Belacquas für Beckett findet sich in einer Bemerkung Becketts über Joyce aus dem Jahre 1956, die gleichermaßen aufschlussreich für sein Verhältnis zu Dante wie für sein eigenes Schreiben ist: »Je mehr Joyce wusste, umso mehr konnte er. Er strebt als Künstler nach Allwissenheit und Allmacht. Ich arbeite mit Ohnmacht und Unwissenheit.«32 Die Ohnmacht des Schreibens können wir der acedia zuordnen, dann zeigt sich Belacquas säumiges Warten im Antepurgatorio in der Freiheit des In-sichVersunkenseins, die der Erzähler sich nehmen muss, wenn er erzählen will. Beunruhigend mehrdeutig erscheint der implizite Verweis auf Odysseus. Inwiefern zeichnet sich der erzählende Beobachter des Dépeupleur durch eine verwerfliche curiositas oder gar durch eine zu berücksichtigende impietas aus? Ist die curiositas hier als ein Erzähldrang über das Erzählen hinaus zu denken und wäre vielleicht die letzte Reise des Odysseus vergleichbar einem (unerlaubten) Aufbruch des Erzählers in ein Gebiet, das nicht gesagt werden kann? Dies wäre eine mögliche und in einer Weiterführung von Dantes Sympathie für Odysseus durchaus positive Lesart bei Beckett. Schon Stierle hat aus Dantes Rückverweis vom 26. Gesang des Paradiso auf den 26. Gesang des Inferno (»Or figliuol mio, non il gustar del legno / Fu per sé la cagion di tanto esilio, / Ma solamente il trapassar del segno«33) die Schlussfolgerung einer positiven gemeinsamen Geschichte zwischen Adam und Odysseus gezogen, welche die erstarrte tote Erinnerung der Hölle (memoria morta) mit der lebendigen des Paradiso (memoria viva) sinnstiftend zu einem gemeinsamen Bewusstsein über den menschlichen ingenio zusammenfügt. Der Dichter wird in dieser Deutung zum Schöpfer und Hüter einer neuen, gedächtnisstiftenden mitopoetica. Dichterisches Erzählen würde dann in der Metapher des Vorstoßes in unerforschte Welten möglich, als Grenzüberschreitung des Wirklichen im Sinne des empirisch Erfahrbaren. Damit hätte sich Beckett eine Gegenfigur zum abgewerteten und a-sozialen Künstler und Intellektuellen der Moderne geschaffen, den seine Figur des Belacqua darstellt. Dass curiositas als positiver Impuls den Erzähler der Moderne bei Beckett anstoßen könnte, wird antithetisch aus der topo32 33

K. Birkenhauer: Beckett in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (wie Anm. 4), S. 3. Alighieri, Dante: Die Göttliche Komödie. III. Teil: »Paradiso – Das Paradies«, Italienisch und Deutsch, übersetzt von Hermann Gmelin, Stuttgart: Klett 1. Auflage o.J., Gesang XXVI, Vers 115-117, S. 304f.

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Anne Begenat-Neuschäfer graphischen Verschränkung von Antinferno und Antepurgatorio im Verwaiser ersichtlich. Im Antinferno scheut der Wanderer Dante vor den Lauen zurück, jenen »trüben Seelen […] die ohne Lob und ohne Schande lebten«34: »Der Himmel will sich nicht mit ihnen schänden, Und auch die tiefe Hölle schließt sich ihnen, 35 Damit die Sünder sich nicht rühmen können.«

Vergil beschreibt sie dort als diejenigen, denen nichts bleibt als die memoria morta, ein Zwischenreich, in dem man weder leben noch sterben kann: »Sie haben keine Hoffnung, je zu sterben, Und also niedrig ist ihr blindes Leben, Dass sie ein jedes andre Los beneiden. Die Erde lässt von ihnen keine Spuren, Von Recht und Mitleid werden sie verachtet. 36 Sprich nicht von ihnen, schau und geh vorüber.«

Im Gegensatz zum Dichter Dante nimmt sich Beckett als der Erzähler oder Berichter der Moderne der Ungesagten, Lauen, spurlos Vergangenen an und schafft ihnen Raum in der Literatur. Dantes »mattes Lächeln«37 fällt im Verwaiser also gerade auf diejenigen, die im Dante’schen Inferno aus jeder Erinnerung ausgeschlossen bleiben, keiner Gemeinschaft zugehören und an keinem Ort ankommen. Diese Namenlosen, diese Schattenwesen beschreibt der Erzähler, der damit im Gestus der Auseinandersetzung mit Dante zu einem neuen Odysseus, einem Odysseus der Moderne wird, welcher über die Säulen des Herkules hinaus dem dichterischen Erzählen ein ungesagtes Gebiet erschließt. Wo liegt der Anlass dieses Erzählgeschehens? Wir wissen nur, dass er außerhalb des literarischen Textraumes angesiedelt ist, denn auch Beckett begreift sich als einen Wanderer zwischen den Welten. Dieser Anlass schafft eine so umstürzende Zäsur, dass er Dantes Visionen der Jenseitsreiche vergleichbar ist, weil er ebenso nachhaltig das literarische Schreiben verändert und, so müssen wir ergänzen, den Dichter gleichermaßen in die Situation des Augenzeugen stellt. Um zu klären, auf welche Situation das Erzählgeschehen im Dépeupleur außerhalb des geschlossenen Raumes ver-

34 35 36 37

D. Alighieri: Die Göttliche Komödie. I.Teil: »Inferno – Die Hölle« (wie Anm. 21), Gesang III, Vers 34-35, S. 36f. Ebd., Vers 40-42, S. 36f. Ebd., Vers 46-51, S. 38f. S. Beckett: Werke – Band 4: Erzählungen (wie Anm. 10), S. 216.

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Raum und Objekt in Samuel Becketts Le Dépeupleur weist, ist zunächst ein weiterer intertextueller Umweg erforderlich. 1947 erschien beim Turiner Verlag De Silva in einer bescheidenen Auflage von 2.500 Exemplaren erstmals Primo Levis Bericht über seinen Aufenthalt in Auschwitz unter dem Titel Se questo è un uomo, nachdem das schon im Dezember 1946 vollendete Manuskript vom renommierten Verleger Einaudi zurückgewiesen worden war. Es fügte sich kaum in den literarischen Triumphchor der Nachkriegsära im Italien der Resistenza, die zumindest im Norden zahlreiche Orte von den Deutschen befreit hatte. Die Übersetzung ins Englische durch Stuart Woolf entstand in enger Zusammenarbeit mit Primo Levi, lag 1958 unter dem Titel If This is a Man vor und erschien 1959 bei Orion Press. Die deutsche Übersetzung durch Heinz Riedt folgte rasch, sie entstand 1959 gleichfalls in Abstimmung mit Levi und erschien 1961, die Übertragung ins Französische hingegen folgte spät, sie wurde erst 1987 bei Julliard veröffentlicht. Es ist möglich, sogar wahrscheinlich, dass Beckett als Zeitzeuge und Mitkämpfer der Résistance an diesem Text Interesse hatte und ihn gelesen hat. Unabhängig davon aber sind Konvergenzen bei Levi und Beckett in der Rezeption Dantes zu konstatieren, die dazu beitragen können, Becketts äußeren Erzählanlass zu bestimmen. Aus einem »unmittelbaren und heftigen Drang« heraus entstanden, von der erlebten Lagererfahrung zu berichten, hob sich Primo Levis Text in der Zielsetzung der wahrhaftigen Bezeugung von fast allen anderen Zeitzeugnissen ab. Levi selbst hat die Aufgabe des Zeugnisablegens in den Vordergrund gerückt und sich ihr Zeit seines Lebens, insbesondere gegenüber jungen Menschen der Nachkriegszeit und gerade auch jungen Deutschen, gestellt. So sagt er es selbst im Vorwort38. Ist sein Lagerbericht darum auf die Dimension des authentisch Erlebten, des mahnenden Zeitzeugnisses, oder auch des sich selbst befreienden Betroffenheitsdokuments einzuschränken? Wir können nur mutmaßen, welcher Erzähler aus Primo Levi geworden wäre, wenn er die Erfahrung des Konzentrationslagers nicht gemacht hätte, aber dass er zu einem solchen geworden wäre, ist schlechterdings kaum zu bezweifeln, darauf verweist Levis eigene Begründung, seine Geschichte zu erzählen. Er bezieht sich dabei auf die Odyssee, den Augenblick der Ankunft des Odysseus bei den Phäaken und dem gastlichen Gehör, das er dort fand.39 Die Begründung des Erzählens erinnert bei Levi zugleich an

38 39

Vgl. Levi, Primo: Se questo è un uomo, Edizione integrale, hg. von Giovanni Tesio, Torino: Einaudi 1997, S. 4. Vgl. Levi, Primo : »Intervista di Virgilio Lo Presti: ›Tornare, mangiare, raccontare‹« (1979), in: ders., Conversazioni e interviste. 1963-1987, hg. von Marco Belpoliti, Torino: Einaudi 1997, S. 48-75, hier S. 51.

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Anne Begenat-Neuschäfer die berühmten Verse zu Beginn der ersten Cantica, mit denen Dante seinen außergewöhnlichen Status als Erzähler begründet: »Und wie ein Mensch noch mit gepresstem Atem, Der sich vom Meere an den Strand gerettet, Zurückschaut nach den aufgeregten Wassern, So hat mein Geist, der, immer noch im Flüchten, Sich umgewandt, den Durchgang zu betrachten, 40 Das nie ein Wesen lebend noch verlassen.«

Dieses Zitat belegt einen konvergenten Rückbezug auf Dantes Commedia, der in der Stellung des Dichters als Augenzeuge und als Berichter des wahrhaft Geschehenen liegt. Levi macht den erkenntnisdurstigen und erzählbereiten Odysseus zur emblematischen Figur des neuen Erzählers schlechthin, zu der des Passeur, der den Weg in ungedachte und neue Einsichten bahnt. In einer expliziten Anspielung auf Dante trägt das erste Kapitel von Ist das ein Mensch? die Überschrift Die Reise. Mit dem Reisebeginn im engeren Sinne, dem der Deportation im verschlossenen Viehwaggon nach Auschwitz, setzt unwiderruflich die Einschränkung der Bewegung im Raum ein, mit der eine exakte topographische Visualisierung korreliert: Vom Waggon in das streng bewachte und umzäunte Lager, vom Lager in die enge Baracke und unter die Aufsicht des Schlafraumes, tagsüber die (als privilegiert geltende) Verbringung in die chemische Abteilung von Buna. Im Kapitel des wörtlichen Rückbezuges auf Dante, Der Gesang des Odysseus, erfolgt schließlich die Reinigungsarbeit in einem Tank, dessen Topographie an den Höllentrichter erinnert. Seine Erinnerung an Dantes 26. Gesang, die er im Gespräch mit dem Pikolo, Jean Samuel, beim Essenholen auffrischt, setzt bei Vers 86 des 26. Gesanges von Dante ein. Er wird im Folgenden insgesamt 19 Verse rekonstruieren, die in gedrängter Form das letzte Abenteuer und die letzte Reise des Odysseus bis zu seinem Schiffbruch wiedergeben. Auffällig ist dabei, dass fünf Terzinen vollständig wiedergegeben werden, die das Geschehen durch die Reduzierung auf die entscheidenden Etappen noch weiter verknappen. Kaum eingebettet in sein homerisches Umfeld wird Odysseus hier dramatisch prägnant als Reisender, Forscher, Menschenführer, der die Gefährten motiviert, und in der Vollendung seiner humanitas dargestellt. In der Auseinandersetzung mit der Figur des Odysseus, in einem literarischen Gespräch so fern der brutalen Realität des Lagers, werden, so scheint es in der ersten Lektüre, die letzten Widerstandskräfte gegen die Vertierung durch das Konzentrationslager mobilisiert. In diesen Zusam40

D. Alighieri: Die Göttliche Komödie. I.Teil: »Inferno – Die Hölle« (wie Anm. 21), Gesang I, Vers 22-27, S. 12f.

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Raum und Objekt in Samuel Becketts Le Dépeupleur menhang gehört das Aufgreifen des Dante’schen Gegensatzpaares humanitas und bestialitas, das sich wie ein roter Faden durch Levis Lagerbericht zieht. In die gleiche Richtung zielt auch die Deutung Kuons: »Die Divina Commedia hat in Se questo è un uomo eine doppelte Funktion. Auf der Ebene der erzählten Welt, der Welt des Konzentrationslagers, repräsentiert sie den unveräußerlichen Besitz, der dem Menschen bleibt, wenn ihm alles andere, Familie, Habe, Aussehen, selbst der Name, geraubt worden ist – die Erinnerung. Durch das mühsame Zusammenklauben der Dante-Verse im OdysseusKapitel versichert sich Levi, inmitten der Barbarei, seiner Zugehörigkeit zu einer Kulturgemeinschaft, d.h. (wenn man den Menschen als soziales Wesen definiert) seiner menschlichen Identität. Und durch die eigenwillige Auslegung des Odysseus-Gesanges auf die eigene Lebenssituation kommt er zu der Einsicht, dass in der gemeinschaftlichen Bewahrung eben dieser ›humanitas‹ unter den extremen Bedingungen eines Vernichtungslagers, der einzig mögliche Sinn seines Daseins (und seines Leidens) liegt. Die Divina Commedia wird zu einem ›guide to survival in his hell‹. Auf der Ebene des Erzählvorgangs hingegen stellt Dantes Text ein Strukturmodell dar, das Levi den Ausdruck seiner Grenzerfah41

rung und dem Leser ihr Verständnis erleichtert.«

Odysseus wäre demnach nicht nur ein Modell für den wissbegierigen, experimentierfreudigen Erzähler, sondern auch ein moralisches Vorbild, der seine Gefährten im Zeichen des ingenium noch einmal zu einer letzten Leistung auffordert. Dass der Wanderer Dante von Sympathie zu Odysseus erfüllt ist und sich über sein Ende betroffen zeigt, geht aus der genauen Lektüre des Gesanges hervor. Dennoch hat ihn der Dichter Dante in das Tal der betrügerischen Ratgeber verwiesen, und weder Levi noch Beckett haben dies ignoriert. Odysseus betrügt in Dantes Deutung nun nicht, weil er das Pferd der Griechen in die Stadt Troja geschmuggelt hat, sondern weil er, in seinem Alter und entgegen der Tugenden der antiken Helden, beispielsweise des frommen Aeneas, die Gefährten im Namen des ingenium mit betrügerischen Worten zu einer letzten Fahrt zu überreden versucht, anstatt sie nach den Irrfahrten die Sorge um ihre Familien wahrnehmen zu lassen. Helga Finter stellt in ihrer Interpretation eine Parallele zwischen Odysseus und Levi im Zeichen der Ambivalenz und nicht im Zeichen der humanitas her: Sie bestimmt die Sünde des Odysseus als Wortsünde, denn seine zentrale Aussage (»Bedenkt, aus welchem Samen ihr gekommen / Ihr seid nicht da, zu leben wie die Tiere, / Ihr sollt nach Tugend und nach Wissen

41

P. Kuon: Lo mio maestro e ’l mio autore (wie Anm. 6), S. 124f.

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Anne Begenat-Neuschäfer streben«42) ist doppeldeutig: Primo Levis Lektüre bzw. fragmentarische Rememorisierung klärt uns nun genauer über die Spezifik von Odysseus’ Vergehen auf. Seine Sünde ist nicht einfach ein Überschreiten von Wissensgrenzen, sondern es handelt sich hier um die Transgression von Grenzen, die ein göttliches Gesetz vorgibt. Odysseus bedient sich nicht eines unerlaubten Wissens, sondern macht einen falschen Gebrauch von Zeichen, um sein Ziel zu erreichen. Außerhalb eines ethischen Kontextes, den Odysseus gerade zu leugnen sucht, sind seine Worte Betrug: Zeichen und Sachverhalt stehen im Widerspruch. Damit ist aber Odysseus’ Zeichengebrauch der, der auch das Universum des Lagers kennzeichnet. Die Inschrift am Lagereingang schafft in zynischem Euphemismus ironische Distanz: ›Arbeit macht frei‹.43 Die Kernaussage der Rede des Odysseus, der leidenschaftliche Appell an die Gefährten »Ihr seid nicht da, zu leben wie die Tiere, / Ihr sollt nach Tugend und nach Wissen streben«44, den Dante vielleicht aus Horaz und aus Cicero kannte, wie Klesczeweski überzeugend in seinem Beitrag dokumentierte, wird hier zu einer neuen und ambivalenten, ja beunruhigenden appellativen Legitimation des Dichters. Für Levi ist Odysseus’ Welt nicht mehr, wie Stierle antithetisch Petrarcas Welt von der Dantes abhob, »eine Welt im Zeichen der Horizontalität und des ›divenir del mondo esperto‹, des der Welt kundig werden«,45 sondern der Häftling Levi und damit auch der im Zeichen des Odysseus stehende Erzähler ist des Grauens dieser Welt bis an die äußerste Grenze, ja über sie hinaus, kundig geworden. Der ingegno des Erzählers Levi findet, im Gegensatz zum Dichter Dante, keinen Halt mehr in der Vision des Gekreuzigten, der tröstend, im 14. Gesang des Paradiso, im Marshimmel erscheint,46 die seinem Wissensdrang brüderlich eine letzte Grenze setzen und ihn zugleich versöhnend zu sich erheben könnte. Der Erzähler Levi nimmt es nach Auschwitz auf sich, das Ausmaß des Gewussten und des Erfahrenen als ein neuer Odysseus mit betrügerischen Worten – weil die Grenzüberschreitung nicht ohne Betrug, ohne Verzerrung, Veränderung und Tönung durch die Sprache 42 43

44 45 46

D. Alighieri: Die Göttliche Komödie. I.Teil: »Inferno – Die Hölle« (wie Anm. 21), Gesang XXVI, Vers 118-120, S. 312f. Finter, Helga: »E’ bello raccontare i guai passati: Primo Levi, Schriftsteller und Zeuge«, Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 3-4 (1975), S. 437-450, hier S. 447. D. Alighieri: Die Göttliche Komödie. I.Teil: »Inferno – Die Hölle« (wie Anm. 21), Gesang XXVI, Vers 119-120, S. 312f. K. Stierle: Francesco Petrarca. Ein Intellektueller im Europa des 14. Jahrhunderts (wie Anm. 27). Vgl. D. Alighieri: Die Göttliche Komödie. III. Teil: »Paradiso – Das Paradies« (wie Anm. 32), Gesang XIV, Vers 100-106, S. 271f.

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Raum und Objekt in Samuel Becketts Le Dépeupleur mitteilbar ist – in die memoria viva zu überführen, in der festen Gewissheit, dass sie eines Tages gewusst und im Sinne des Apostels Paulus »erkannt« werde und dass dieser Tag die Verletzung des Erzählers, seine eigene identitäre Grenzüberschreitung rechtfertige. So soll Levi in einer Paraphrase gesagt haben: »Literatur entsteht immer aus einer Geste der Unreinheit«, die auf Elie Wiesels berühmte Worte anspielt: »Auch das Wort ist verbannt. Mit anderen Worten: Es hat sich eine Distanz zwischen Wort und Inhalt aufgetan. Das Wort entspricht nicht mehr der Bedeutung, die es enthält. […] Anders gesagt, auf welche Weise soll man das Dilemma überwinden: Entweder lügt der Erzähler oder es lügen seine Worte. Zu 47

welchem Zweck soll man die Lügen vermehren?«

Bei Levi wie bei Beckett wird Odysseus, in einer konvergenten Deutung Dantes, zum Icon des betrügerischen Erzählers, der mit Worten die überbordende Wirklichkeit nicht mehr adäquat zu berichten vermag. Es ist ein nicht mehr vor der jenseitigen Wirklichkeit Gottes verstummender Erzähler, sondern einer, dem die diesseitige und menschliche Wirklichkeit das Wort verschlägt und verfälscht. Ob er aus moralischem Appell zur Weitergabe an die nächste Generation wie bei Levi erzählt, bleibt bei Beckett völlig offen. Sein Erzähler wird getrieben von der curiositas, das Unsagbare zu berichten. Was nun erzählt Belacqua/Odysseus mit dem Geschehen im Zylinder, auf welchen Anlass außerhalb des Textkörpers verweist das Erzählgeschehen? Er erzählt im Stile und mit der Technik der Dante’schen Simultaneität die Geschichte derer, die keine Geschichte haben und darum ohne Erinnerung sind und auch in keiner solchen bewahrt werden, der Lauen, der Sucher, Nicht-Sucher und Besiegten, der Muselmänner und Untergegangenen. Die Lauen und die Untergegangenen zugleich, das meint die Täter und die Opfer, die in den einen gemeinsamen Strudel des endlosen Durchganges hineingerissen und dort umhergetrieben werden: »Denn nur im Zylinder gibt es Gewissheit, und draußen nichts als Rätsel.«48 Becketts Dépeupleur ist deshalb keine Allegorie, wie Kuon und andere vorschlugen,49 auch keine »umgekehrte«, wie es François Rastier in 47 48 49

Wiesel, Elie: Tutti i fiumi vanno al mare. Memorie, Milano: Bompiani 1996, S. 168. S. Beckett: Werke – Band 4: Erzählungen (wie Anm. 10), S. 229. Siehe dazu P. Kuon: Lo mio maestro e ’l mio autore (wie Anm. 6), S. 230: »Le dépeupleur ist eine Allegorie: in der Situation der Körper im Zylinder spiegelt sich die Situation des Menschen in der Welt, und zwar nicht ‚sub specie aeternitatis‘, sondern (…) unter den Bedingungen einer bestimmten, unserer, historischen Epoche.« Siehe zur Bestimmung des Begriffes der Allegorie – gegen den des Mythos-, bei Beckett ferner Neumeister, Sebastian:

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Anne Begenat-Neuschäfer seiner klugen Neudeutung von En attendant Godot formulierte50, weil der historische oder der Literalsinn und der metaphorische Sinn hier in eins genommen worden sind, miteinander so verschmolzen wurden, dass sie nicht mehr zu trennen und darum nicht mehr aufzulösen sind: »Alles ist nicht gesagt worden und wird nie gesagt werden.«51 Die optimistische Deutung des Erzählers als Halter der memoria viva und als Zeuge ist bei Beckett an ihr Ende gelangt: Die untergegangene, in sich versunkene, verbrannte und erstarrte Figur der Besiegten macht es deutlich. Auerbach bezeichnete Dante als den Dichter der irdischen Welt. Für Becketts Erzähler ist das Jenseits ganz irdisch: Jenseits der Shoa ist die memoria viva zur memoria morta verbrannt, es bleibt dem Erzähler ein Stammeln des Unsagbaren, das sich in den objektiven Bericht eines Zeugen kleiden kann, eines Zeugen, der die Tatumstände ins Universelle und nicht mehr Überwindbare hebt, wie es ein Auszug aus Der Namenlose von 1951 nahezulegen scheint, den aber der eigene Drang nach Erkenntnis immer wieder über das einmal Erkannte hinaustreibt, so dass er seinen privilegierten Status als Erzähler verliert und einer jener im Sandsturm des Antinferno Getriebenen wird, vor denen der Wanderer Dante entsetzt zurückweicht: »Es sind Worte, es gibt nichts anderes, man muss weitermachen, das ist alles, was ich weiß, sie werden aufhören, ich kenne das, ich fühle, dass sie mich loslassen, es wird das Schweigen sein, eine kurze Weile, eine ganze Weile, oder es wird meines sein, das währt, das nicht gewährt hat, das immer noch währt, es wird ich sein, man muss weitermachen, ich kann nicht weitermachen, man muss weitermachen, ich werde also weitermachen, man muss Worte sagen, solange es welche gibt, man muss sie sagen, bis sie mich finden, bis sie mir sagen, seltsame Mühe, seltsame Sünde, man muss weitermachen, es ist vielleicht schon geschehen, sie haben es mir vielleicht schon gesagt, sie haben mich vielleicht bis an die Schwelle meiner Geschichte getragen, vor die Tür, die

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51

»Das allegorische Erbe. Zur Wiederkehr Dantes bei Beckett (Le dépeupleur, 1970)«, in: Manuel Lichtwitz (Hg.), Materialien zu Samuel Beckett ›Der Verwaiser‹, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980, S. 107-128. Vgl. dazu Rastier, François: »Warten auf Valentin Temkine«, in: Pierre Temkine/Denis Thouard/Tim Trzaskalik (Hg.), Warten auf Godot: das Absurde und die Geschichte, übersetzt von Tim Trzaskalik, Berlin: Matthes & Seitz 22009, S. 43-94. Siehe ebd., S. 59: »In der allegorischen Tradition ist der evidenteste Sinn, der Literalsinn, zugleich auch der historische Sinn. Hier (sc. In Becketts Warten auf Godot) passiert ganz das Gegenteil: der historische Sinn ist so gut versteckt, dass er den anagogischen Sinn umkehrt, der in der allegorischen Tradition der höchste und letzte Sinn war, insofern er sich auf die letzten Dinge bezog, wie auf ihre Weise die absurdistischen Lektüren.« S. Beckett: Werke – Band 4: Erzählungen (wie Anm. 10), S. 233.

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Raum und Objekt in Samuel Becketts Le Dépeupleur sich zu meiner Geschichte öffnet, es würde mich wundern, wenn sie sich öffnete, es wird ich sein, es wird das Schweigen sein, da wo ich bin, ich weiß nicht, ich werde es nie wissen, im Schweigen weiß man nicht, man muss wei52

termachen, ich werde weitermachen.«

Das Weitermachen, auch um den Preis sich selbst bloßzustellen, zeichnet den gebrochenen, verdüsterten, entmachteten Erzähler der Moderne bei Beckett aus. Es ist der letzte, aber unwiderrufliche Akt der Freiheit, der letzte Ort des Widerstandes gegen das endgültige Experiment.

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K. Birkenhauer: Samuel Beckett in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (wie Anm. 4), S. 97.

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Raum und Objekt in Dream of Fair to middling Women (1932, publ. 1992) GERD ROHMANN Die narrative Raum- und Objektästhetik in Becketts Erstroman ist noch stark von seinen literarischen Vorbildern Proust und Joyce geprägt. Das Werk wurde als Amalgam von A la recherche du temps perdu und Ulysses bezeichnet.1 Durch die topographische Konkretheit der erzählten Räume Wien, Kassel und Dublin sowie die nur allzu durchsichtige Verschleierung biographischer Liebschaften als Objekte seiner Sehnsucht oder seines Verfolgungswahns hielt Beckett selbst den Roman für so intim, dass er dessen Publikation erst nach seinem Tode erlaubte,2 wenn auch einige Indiskretionen in seiner Kurzgeschichtensammlung More Pricks than Kicks (1934) enthalten sind.3 Die geschilderten Räume und Objekte seiner Erinnerungen sind aber nicht nur real, sondern auch kreativ. Grundlage meiner Interpretation von Dream of Fair to middling Women ist die Dubliner Erstausgabe,4 denn die Übersetzung von Wolfgang Held5 ebnet die im Original enthaltenen deutschen Stilelemente bis zur Unkenntlichkeit ein. Sie trifft auch nicht immer Becketts Humor, den Sinn der anglo-irischen Anspielungen, Unter- und Übertreibungen. Hier sind John Pillings kritische Kommentare recht hilfreich.6

1 2 3 4 5 6

Vgl. O’Brien, Eoin: »Foreword«, in: Samuel Beckett, Dream of Fair to middling Women, Dublin: The Black Cat Press 1992, S. vii. Vgl. ebd., S. x-xi. Vgl. ebd., S. ix. Beckett, Samuel: Dream of Fair to middling Women, hg. von Eoin O’Brien/ Edith Fournier, Dublin: The Black Cat Press 1992. Beckett, Samuel: Traum von mehr bis minder schönen Frauen, aus dem Engl. von Wolfgang Held, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996. Beckett, Samuel: Beckett’s ›Dream‹ Notebook, hg. von John Pilling, Reading: Beckett International Foundation 1999 und Pilling, John: A Companion to

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Gerd Rohmann Um Becketts Konzepten von Raum und Objekt näher zu kommen, habe ich nicht deutsche Definitionen übernommen, sondern Konnotationen aus dem Oxford English Dictionary zugrunde gelegt. So ist das englischsprachige Raumverständnis z.B. offener als das deutsche. »Room« ist »space that is or might be occupied by something. [...] Opportunity.«7 Beckett bezeichnet seinen ersten Roman symbolisch als »The chest into which I threw all my wild thoughts«.8 In der Tat ist Dream kein hermetisch verschlossener Kasten, sondern das Frühbeet seiner Lyrik, Romane und Theaterstücke, wenn die Pflanzen später auch immer karger sprießen. Der Ernüchterung folgt die Erleuchtung, denn den auktorialen Kommentar »The only unity in this story is, please God, an involuntary unity«9 darf man nicht chaotisch verstehen. Die Stadtlandschaften von Wien, Kassel und Dublin, aber auch die Erinnerungen des Erzählers Beckett an eine Galerie mehr bis minder schöner Frauen geben Dream eine assoziative Raumordnung und Objektivität, die man nicht als absurd abtun kann. Die Raumperspektive lässt Sinn erkennen: »The experience of my reader shall be between the phrases, in the silence, communicated by the intervals, not the terms of the statement.«10 Die Pausen sind bedeutungsschwangere Zwischen-Räume! Die Musik, besonders die Kompositionen des in der Stille seiner Taubheit versinkenden Beethoven, dienen Beckett als Ausgangsund Vergleichspunkt seiner Ästhetik des Ungesagten.11 »I think of Beethofen [sic] [...] he listens to the Ferne […] the notes fly about, a blizzard of electrons; […] compositions eaten away with terrible silences […] pitted with dire storms of silence […].«12 Durch die Musik vermittelte Stimmungen, Takte und Tempi wären ohne Pausen sinnlos. Beschreibungen von Kompositionen

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8 9 10 11

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Dream of Fair to middling Women, Tallahassee (FL): Journal of Beckett Studies Books 2004. Simpson, John/Weiner, Edmund (Hg.): The Oxford English Dictionary, Oxford: OUP 2010, Eintrag »Room«. Im Englischen ist diese Breite des Raumes als Möglichkeit bereits semantisch vorhanden. Bei Beckett ist dieser Raumbegriff so umfassend, dass er von der Urzelle des Lebens über Embryonalstellung Belacquas bis zum Traumuniversum von Dream of Fair to middling Women alles abdeckt. E. O’Brien: »Foreword« (wie Anm. 1), S. x und Motto dieser Ausgabe. S. Beckett: Dream of Fair to middling Women (wie Anm. 4), S. 132. Ebd., S. 137. Vgl. Maier, Franz Michael: Becketts Melodien: Die Musik und die Idee des Zusammenhangs bei Schopenhauer, Proust und Beckett, Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, Titelrückseite. S. Beckett: Dream of Fair to middling Women (wie Anm. 4), S. 138.

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Raum und Objekt in Dream of Fair to middling Women sind ohne Bewegungs- und Raummetaphern sprachlich nicht möglich. Der Roman Dream of Fair to middling Women, jener ›Kasten, in dem Beckett seine wilden Jugendträume verschließen‹ wollte, ist als greifbares Buch, aber auch als Fiktion ein Traum-Raum, nach Gaston Bachelards Poetik des Raumes (1957) ein »[...] Speicher verdichteter Zeit.«13 Unter dem Interpretationsaspekt erinnernd verdichteter Raumund Objektbeschreibungen ist der Roman weniger chaotisch oder gar absurd als Beckett ihn einschätzte. Außer den Innen-Räumen und den Stadtlandschaften Wiens, Kassels und Dublins sind also die mehr bis minder schönen Frauen Smeraldina, Alba, Syra-Cusa und Frica Objekte im Sinne von »Person or thing [presented to the mind] to which action or feeling is directed«14, wobei die erinnerten Personen als Objekte nur methodisch von den narrativen Räumen zu trennen sind.

Zum Erkenntniswert einer Analyse von Raum und Objekt in Dream of Fair to middling Women In der bedeutungsvollen Groß- und Kleinschreibung des Titels fallen Gefühlsnuancen von der Verklärung bis zur Verachtung auf. Becketts fiktiv autobiographischer Erzähler Belacqua ist der unerlösten Seele im Limbo von Dantes Divina Commedia15 nachempfunden, die ewig auf das Fegefeuer wartet, weil sie zu faul ist, ihre Sünden zu bereuen. Dies trifft auf Belacqua-Beckett nicht zu, aber auch er fühlt sich im Zustand zwischen Embryo im Mutterschoß und Leichnam im Grab, »[...] enwombed and entombed [...]«16, wobei dies Anfang und Ende eines jeden Lebens markiert, ohne dass andere es so brutal ehrlich wie Beckett ausdrücken. Schon Aristoteles hatte sich den »[...] Ort als das Umfassende des sich bewegenden Körpers vorgestellt.«17 Dieses Raumbewusstsein, gleichzeitig im Uterus und im Grab zu sein, kommt übrigens nicht allein von

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Zit. nach Weigel, Sigrid: »Zum ›topographical turn‹«, KulturPoetik: Zeitschrift für kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft 2 (2002), S. 151-165, hier S. 157. J. Simpson: OED (wie Anm. 7), Eintrag »Object«. Vgl. Alighieri, Dante: La Divina Commedia. Volume Secundo: »Del Purgatorio«, hg. von Giosofatte Biagioli, Napoli: Rondinella 1868, Gesang IV, Vers 103-107, S. 53. S. Beckett: Dream of Fair to middling Women (wie Anm. 4), S. 6. Ott, Michaela: »Raum«, in: Karlheinz Barck (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart: Metzler 2003, S. 113–145, hier S. 119.

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Gerd Rohmann Swifts Gedicht »Stella’s Birthday«,18 sondern geht auf Shakespeare zurück, den Beckett, Magister der Englischen Literatur des Trinity College Dublin (TCD), fast auswendig kannte: »The earth, that’s nature’s mother, is her tomb’ / What is her burying grave, that is her womb.«19 Auch Beckett schöpft Kreativität aus dem scheinbar energielosen Zustand in Todesnähe. »The mind suddenly entombed, then active in an anger and a rhapsody of energy, in a scurrying and plunging towards exitus, such is the ultimate mode and factor of creative integrity [...].«20 Der Schlüsselbegriff »exitus« tritt in Becketts Werk oft mit »redditus« als Gegensatzpaar auf und bezeichnet das ewige Kommen und Gehen.21 Man sollte nicht vergessen, dass Beckett 1931–1932 zwischen Kassel, Paris und Dublin pendelte, in Kassel eine an Tuberkulose kränkelnde Peggy Sinclair verlassen hatte und auch von Kassel aus seine akademische Laufbahn am TCD kündigte, um sich auf die Arbeit an seinem ersten Roman und eine Karriere als Schriftsteller zu konzentrieren. Die Ablehnung durch alle namhaften Verlage, Krankheit, Alkoholismus, das Zerwürfnis mit seiner Mutter und Liebeskummer wegen Ethna MacCarthy führten zu Depressionen und Rückzug in einen betäubungsähnlichen Zustand: »He lay lapped in a beatitude of indolence, [...] dead to the dark pangs of the sons of Adam, asking nothing of the insubordinate mind. He moved with the shadows of the dead and the dead-born and the unborn and the never-to-beborn, in a Limbo purged of desire.«22 »But in the umbra; the tunnel; when the mind went wombtomb; then it was real thought and real living, living thought.«23

Dies ist die Reduktion alles Körperlichen auf die asketisch intellektuelle, nicht durch Erbsünde und Physis limitierte Existenz, ein Wunschzustand, denn Dream ist auch eine kompensatorische Krea-

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20 21 22 23

Vgl. J. Pilling: A Companion to Dream of Fair to middling Women (wie Anm. 6), S. 28. Shakespeare, William: »The Most Excellent and Lamentable Tragedy of Romeo and Juliet«, in: Greenblatt, Stephen et al. (Hg.), The Norton Shakespeare: based on the Oxford Edition, New York/London: Norton 1997, Akt 2, Szene 2, Vers 9-10, S. 895. S. Beckett: Dream of Fair to middling Women (wie Anm. 4), S. 16. Vgl. J. Pilling: A Companion to Dream of Fair to middling Women (wie Anm. 6), S. 46. S. Beckett: Dream of Fair to middling Women (wie Anm. 4), S. 44. Ebd., S. 45 (Hervorhebung G.R.).

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Raum und Objekt in Dream of Fair to middling Women tion, die Verarbeitung von Traumata, welche Beckett zwischen 1928 und 1932 durchstehen musste. Am Raum Wien und Umgebung wird klar, wie sehr der junge Beckett durch die strapazenreiche Überwindung großer Entfernungen auch gegen den Raum der trennenden Entfernung kämpft. Seine erste große Liebe Peggy Sinclair hatte er während ihres Urlaubs in Dublin kennengelernt und reist ihr angeblich 599 km von Oostende durch Belgien, Deutschland und Österreich mit Klaustrophobie im geschlossenen Abteil bis Wien nach. »[...] in a horsebox, not a corridor coach, which explains why he stepped hastily out of the train at the Westbahnhof.«24 Die Entfernung von Oostende nach Wien beträgt in Wirklichkeit fast 1000 km. Die Schule geht ihm auf die Nerven und erregt seine Eifersucht: »Schule Dunkelbrau [Hellerau], ten miles out of town, on the fringe of the wild old grand old park of Mödelberg.«25 »[...] all day it was dancing and singing and music and douches and frictions and bending and stretching and classes – Harmonie, Anatomie, Psychologie, Improvisation, with a powerful ictus on the last syllable in each case.«26 Belacqua-Becketts latenter Puritanismus findet diese übertriebene Körperbezogenheit abstoßend. Die romantische Landschaft des Wienerwalds wird als dunkel und unheimlich empfunden, wohl auch, weil es in Irland keine zusammenhängenden Wälder gibt. Die peinlich sentimentale Liebes- und Abschiedsszene wird distanziert nüchtern geschildert: »[...] she lay there [...] on top of him, muttering her German lament: ›Dich haben! Ihn haben! Dich haben! Ihn haben!‹ They flew in a taxi to a jeweller’s where he bought her an exquisite silver powder-box [...] for her vanity bag. Then to a Friseur [...]. Then to a café. Then to the station.«27

Alles ist Eitelkeit. Der Abschied ist für Smeraldina sentimental, wird aber von Belacqua als vulgär empfunden, was ihr wörtlich preisgegebener Liebesbrief später beweist.28 »Smeraldina bit her lip with great skill and did the brave girl until the Platznehmen of the porters became final. Then her tears fell fast and furious. A hiccup convulsed the train. Off flew the green helmet [...] She assured him in a

24 25 26 27 28

Ebd., S. 12. Ebd., S. 13. Ebd., S. 14. Ebd., S. 30. Vgl. ebd., S. 55-61.

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Gerd Rohmann letter that she walked the streets as one demented, only returning to Dunkelbrau by the midnight train.«29

Der einseitig geschilderten Begierde folgt ein fast einseitig schmerzvoller Abschied. Bezeichnenderweise hatte Smeraldina für sich selbst eine Rückfahrkarte von Wien nach Dunkelbrau gekauft und für Bel eine einfache Zubringerkarte von Dunkelbrau nach Wien für die Weiterreise nach Paris gelöst. Dem stürmischen Besuch in Österreich und Peggys erweckter Leidenschaft schließen sich sechs zunehmend ernüchternde Aufenthalte in Kassel30 an. Belacqua und die wegen ihrer smaragdgrünen Augen als Smeraldina-Rima poetisierte Peggy sind die Protagonisten in Kassel zu Weihnachten/Neujahr 1928/29 und 1929/30. »Down the cobbled alley the of bitter Xmas trees [...] twixt tram and trottoir, the superb Wagen flew towards the spire that eliminates in impeccable imperial alignment the now dim height of Hercules and the mean cascade sullen and abandoned dropping, the little there was of it and because it bloody well had to, down the choked channel of Hohenzollern rocaille, snowclad, upon the castle.«31

Die Taxifahrt vom Hauptbahnhof zur Wohnung der Sinclairs in der Landgrafenstraße 5, heute Bodelschwinghstraße, führt durch die Hohenzollernallee, heute Friedrich-Ebert-Straße, bis zur Friedenskirche und nicht über die Wilhelmshöher Allee, wie Pilling kommentiert,32 da diese in Richtung Schloss Wilhelmshöhe verläuft. Kassels Vorderer Westen ist auch kein Armenviertel, sondern von Jugendstilvillen und mittlerweile von der neuen Samuel-Beckett-Wohnanlage geprägt. Von der Bodelschwinghstraße aus sieht man das mächtige Schloss, die Kaskaden und das Herkulesdenkmal, wie Beckett es beschreibt. Der Blick an der Friedenskirche vorbei ist so genau, dass ein Foto aus dieser Perspektive als Titelbild der Publikation Beckett und Kassel gemacht werden konnte. Obwohl Kassel als Stadtname nicht erwähnt ist, gibt es 13 Identifikationsbegriffe mit dem Raum Kassel: Das heute noch teilweise erhaltene Straßenpflaster, den typisch deutschen Weihnachtsschmuck mit Christbäumen, die vierspurige Allee mit zweigleisiger Straßenbahnstrasse

29 30 31 32

Ebd., S. 31. Vgl. Samuel Beckett Gesellschaft (Hg.): Samuel Beckett und Kassel 19281932, Göttingen: Verlag B. Heinz 2006, S. 26–39. S. Beckett: Dream of Fair to middling Women (wie Anm. 4), S. 67. Vgl. J. Pilling: A Companion to Dream of Fair to middling Women (wie Anm. 6), S. 130.

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Raum und Objekt in Dream of Fair to middling Women in der Mitte, den sturen nordhessischen Taxifahrer, einen der neobarocken Türme der Friedenskirche als Pickelhaube, die kaiserliche Reihung von Schloss (Sommerresidenz Kaiser Wilhelms II.), Wasserfällen und wegen der winterlichen Kälte nur rieselnder Hohenzollernkaskaden, den Herkules in 600m Höhe im Habichtswald, die Fulda, das Kasseler Rathaus, den Ratskeller und die »Wirtschaft on the Height«33, das Kaskadenrestaurant hoch im Schloßpark, wo Peggys und Bels Liebe in der Neujahrsnacht 1929/30 endet: »There they kissed again with any God’s quantity of tears.«34 »[...] It was all over bar the explanations and the jostling when he stepped off in the Wirtschaft on the Height that Silvester’s morrow, leaving her to her own devices to begin the new year in whatever way she saw fit.«35

Bel muss sich gefühlt haben wie der Judas in Ewald Dülbergs Abendmahl. Das Gemälde hing über der Wohnzimmercouch in der Wohnung der Sinclairs. Es ist nur als Titelfoto von John Pillings Companion to Dream of Fair to middling Women bekannt, da es wahrscheinlich als »entartete Kunst« der zeitgenössischen Moderne von den Nazis vernichtet wurde. Becketts Weihnachts- und Neujahrsbesuche in Kassel 1928/29 und 1929/30 sind in Belacquas Bewusstsein im Roman zu einem Aufenthalt zusammengezogen. Der geschilderte Besuch beginnt schon mit der Kollision von Smerrys allzu fordernder Sehnsucht und Bels durchfallbedingter Übelkeit, das Ende ist bedingt durch die Unvereinbarkeit weiblicher Sensualität – »[...] Smerry’s main interest seems to be food, with Bel as a kind of afters«36 – mit Bels Appetitlosigkeit und seinem Streben nach schriftstellerischer Reduktion des Körperlichen auf den Intellekt. Biographie und Fiktion sind bei Beckett eng verwoben, denn Smerrys Verstoßung ist bitterer als der Bruch des Liebesverhältnisses mit Peggy. Die Freundschaft mit Tante Cissie und Onkel William (»Boss«, »The Mandarin«) Sinclair ist durch Einladungen nach Kassel zu Ostern 1931 und im Januar 1932 belegt, auch der Ton in Peggys Briefen, die nicht erhalten sind, der aber durch Becketts Korrespondenz mit Thomas MacGreevy rekonstruiert werden kann, ist herzlich.37 Da Beckett durch Peggys Tod 1933, nach der Vollendung von Dream, traumatisiert war, kann es sich 33 34 35 36 37

S. Beckett: Dream of Fair to middling Women (wie Anm. 4), S. 106; 109. Ebd., S. 106. Ebd., S. 109. J. Pilling: A Companion to Dream of Fair to middling Women (wie Anm. 6), S. 200. Vgl. ebd., S. 203.

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Gerd Rohmann letztlich auch für ihn nicht um eine oberflächliche Beziehung gehandelt haben. Der Raum Dublin umrahmt Dream mit Jugenderinnerungen am Anfang und einer Epiphanie38 am Romanende als Beginn von Bels Versöhnung mit Smeraldina und seiner Karriere als Künstler. Dublin ist aber auch das provinzielle Regenloch mit seiner feuchten Kälte, den Flüssen, Kanälen, Häfen, ewig nassen Brücken und stöhnenden Straßenbahnen, welchem es auf immer zu entkommen gilt. »Behind him, spouting and spouting from the grey sea, the battalions of night, devouring the sky, soaking up the tattered sky like an ink of pestilence. [...] Magic, or, Deliverance from Love. [...] he would slip into the womb of the Grand Central burning on the waterside, and then he would crawl back home across the cobbles and his heart is a stone.«39

Dies ist negativer40 als Joyces monumentale Stadtgeschichte Ulysses, von deren verboser Gelehrsamkeit es für Beckett Abschied zu nehmen gilt zwecks Entdeckung der eigenen Kreativität aus der existenziellen Kargheit der Sprache. Bel ist ein heimatloser Landstreicher im Sumpf seiner Heimatstadt Dublin. Hier noch wortmächtig, erinnert Beckett an die Vergänglichkeit unseres ephemeren Daseins, der selbst der mächtige Fels vom Silver Strand, südlich von Wicklow, verfallen wird. »The rock was there, crumbling beyond a shadow of doubt, into dust; the wind was on the job, exfoliating the wrack; the inconstance of the sky was incontestable. And over and above all these conditions, the fickle sea and sand.«41 Und doch gewinnt der jetzt auktoriale Erzähler im »And«-Kapitel Irland unter Tränen etwas Positives ab: »What would Ireland be, though, without this rain of hers. Rain is part of her charm. The impression one enjoys before landscape in Ireland, even on the clearest of days, of seeing it through a veil of tears, [...].«42 Wieder ist der reale Raum poetisch verdichtet, denn nur im erweiterten Bewusstsein kann man wohl Irland an einem Sonnentag, wie so viele Iren bei der Emigration, durch einen Schleier von Tränen sehen.

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39 40

41 42

Vgl. Beja, Morris: Epiphany in the Modern Novel: Revelation as Art, London: Peter Owen 1971, S. 71: »[...] literary experience of suddenly understanding or becoming aware of something that is very important [...]«. S. Beckett: Dream of Fair to middling Women (wie Anm. 4), S. 28f. Vgl. Pilling, John: »SOMETHING FOR NOTHING: BECKETT’S DREAM OF FAIR TO MIDDLING WOMEN«, in: Colleen Jaurretche (Hg.), Beckett, Joyce and the Art of the Negative, Amsterdam/New York: Rodopi 2005, S.171–179, hier S. 171. S. Beckett: Dream of Fair to middling Women (wie Anm. 4), S. 189. Ebd., S. 239f.

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Raum und Objekt in Dream of Fair to middling Women Die traumhaften bis traumatischen jungen Frauen Syra-Cusa, Alba, Frica, Smeraldina-Rima sowie der Protagonist Belacqua selbst sind die Objekte – »Persons [...] to whom action or feeling is directed«43 – in Dream of Fair to middling Women. Alle Figuren sind fiktiv, aber realen Charakteren nachempfunden. Ebenso wie Beckett Fiktion und Wirklichkeit unauflöslich verwebt, verwischt er den Objekt- und Subjektcharakter der Figuren. Alba und Frica (middling Women) werden eher wie Objekte geschildert, Syra-Cusa im Grenzbereich zwischen Subjekt und Objekt (Fair to middling), Smeraldina-Rima und der autobiographische Protagonist Belacqua werden eher wie reale, empfindungsfähige Personensubjekte (middling to Fair) behandelt. Syra-Cusa ist nach der Hl. Lucia von Syracus benannt. Angespielt wird in Dream auf Lucia Joyce, die Beckett 1930 in Paris kennengelernt und ausgeführt hatte, wohl auch um seinem damaligen Vorbild James Joyce näher zu sein. In einem Gedankenzitat vergleicht Belacqua seine beiden Freundinnen: »[...] on my right, the powerfully constructed Smeraldina-Rima: on my left, the more lightly built Syra-Cusa.[...] on the one hand, the Smeraldina-Rima, the heavy brune, on the other, the Syra-Cusa, the welter brunette.«44 Als Beckett Lucia erklärte, dass er an einem sexuellen Verhältnis mit ihr nicht interessiert sei, gelang es der enttäuschten Lucia, Beckett als Verführer zu verleumden, der sie benutzt hätte, um mit Joyce zusammenzuarbeiten. Nachdem Lucias Schizophrenie offenkundig war und beide Literaten Probleme mit der Zensur und der Einwanderungsbehörde bekamen, fand Joyce 1932 zu seiner Förderung des jungen Beckett zurück. Santa Lucia ist die Schutzpatronin der Augen, doch Lucia hatte einen leichten, nicht erfolgreich operierten, Silberblick.45 Trotzdem preist Belacqua die Schönheit der Syra-Cusa: »[...] her body more perfect than dream [...].«46 Paris spielt als Raum keine Rolle im Roman. Am Ostersonntag 1931 stellt sich die Situation für Beckett folgendermaßen dar: Die Sinclairs haben Geldsorgen und erwägen wegen der zunehmenden Judenfeindlichkeit die Flucht nach Dublin. Peggys Gesundheitszustand hat sich dramatisch verschlechtert. »[...] having seen Lucia, whom he could not love, and then Peggy, whom he had ceased to love, within a few days from one another,

43 44 45 46

J. Simpson: OED (wie Anm. 14). S. Beckett: Dream of Fair to middling Women (wie Anm. 4), S. 34f. Vgl. J. Pilling: A Companion to Dream of Fair to middling Women (wie Anm. 6), S. 72. S. Beckett: Dream of Fair to middling Women (wie Anm. 4), S. 33.

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Gerd Rohmann [...] whilst still in Kassel, [...] furnished him with a possible armature for fictional creation.«47 Beckett bezeichnet Dream kompensatorisch als »[...] the German comedy«48 und schreibt an Chatto & Windus: »Of course it stinks of Joyce in spite of most earnest endeavours to endow it with my own odours.«49 Ethna McCarthy, von der Beckett 1931-32 in Dublin als Liebhaber verschmäht wurde, fungiert als Objekt einer beziehungslosen Beziehung unter dem Namen Alba in Dream. Der Nachtmensch Belacqua und Alba (die Morgendämmerung) sind ein Kontrastprogramm, treiben ein wenig Körperpflege und trinken im Schatten des Strandfelsens von Jack’s Hole, bis sie sich hinter einer Flaschenpalisade verbarrikadieren können. Zu sagen haben sie sich weniger als ein altes Ehepaar, was Belacqua zur Sprachreduktion auf das hintergründig Wesentliche anregt, aber die Magie ihrer Augen fesselt ihn: »Her great eyes went as black as sloes, they went as big and black as El Greco painted, [...] Pupil and white swamped in the dark iris gone black as night.«50 »[...] ›Smoke less‹, she said ›drink less, brood less.‹«51 Mary Manning war das Original von Frica. Beckett hatte mit ihr eine kurze Affäre, nachdem er 1930 von der Ecole Normale Supérieure (ENS) in Paris nach Dublin zurückgekehrt war, und nun Angst vor einer möglichen Schwangerschaft Marys.52 In Dream zählt Belacqua Frica wegen ihrer Hässlichkeit und Geilheit zu den »middling women«. Er denunziert sie als leidende Verführerin, als er nachts vom Regen durchnässt bei ihr Schutz sucht. »From the taut cock of her face [...] he supposed her to be in a state of more than usual excitement. [...] This he was conceited enough to ascribe to the prospect she appeared to entertain of his divesting himself instantly of every stitch.«53 Belacqua enttäuscht sie, indem er, statt sich nackt auszuziehen, nur ein Handtuch verlangt. Es gehört zu Becketts Gemeinheiten, dass er ironisch schildert, wie der arme Belacqua wegen Fricas Pflichten als Gastgeberin für ihre Party aus Zeitmangel vor einer Verführung gerettet wird. Der Roman Dream of Fair to middling Women beginnt auf der Spitze des langen Carlyle Piers in Dublin, wo sich Belacqua und 47 48 49 50 51 52 53

S. Beckett: Beckett’s ›Dream‹ Notebook (wie Anm. 6), S. ix. Ebd., S. x. Ebd. S. Beckett: Dream of Fair to middling Women (wie Anm. 4), S. 174. Ebd., S. 190. Vgl. J. Pilling: A Companion to Dream of Fair to middling Women (wie Anm. 6), S. 296. S. Beckett: Dream of Fair to middling Women (wie Anm. 4), S. 230.

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Raum und Objekt in Dream of Fair to middling Women »[...] a slob of a girl called Smeraldina-Rima [...]«54 beim Rendezvous umarmen. Beckett denkt bei der Namensgebung des Objekts von Belacquas Liebe und Leidenschaft an keine Geringere als Dantes Beatrice: »[...] agli smeraldi, / Ond’ Amor già ti trasse le sue armi.«55 Die poetischen Smaragde der Smeraldina-Rima, aus denen Amor einst seine Pfeile auf Dich abgeschossen hat, sind den Augen der authentischen Peggy Sinclair nachempfunden56, die als Irin auch gerne grüne Kleider trug. Der Vergleich mit ihrem Porträt von Karl Leyhausen liegt nahe:

Karl Leyhausen: Peggy Sinclair »Unspeakably lovely he thought she was in her coarse tweed mantle and the pale green casque [...].«57

54 55 56

57

Ebd., S. 3. D. Alighieri: La Divina Commedia. Volume Secundo: »Del Purgatorio« (wie Anm. 15), Gesang XXXI, Vers 116-117, S. 365. Peggys Augenfarbe smaragdgrün ist auf dem Original ihres hier abgedruckten Portraits von Karl Leyhausen zu erkennen. Vgl. auch Knowlson, James: Samuel Beckett. Eine Biographie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 115: »Ihre grünen Augen aber waren bezaubernd und sollten Beckett, der auf Augen überempfindlich ansprach, jahrelang beunruhigen.« S. Beckett: Dream of Fair to middling Women (wie Anm. 4), S. 29. Das Gemälde ist heute im Besitz der Familie von Becketts Freunden Dr. med. Marie Renate und Dr. med Dr. phil. Gottfried Büttner aus Kassel. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Frau Dr. Marie Renate Büttner.

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Gerd Rohmann Belacquas emotionales Verhältnis zu Smeraldina-Rima ist gespalten zwischen Altruismus und zynischem Narzissmus zum Selbstschutz vor leidvollen Erinnerungen: »[...] at the time we are referring to she was not an object at all, no, not an object in any sense of the word.«58 Bel sieht sich selbst als Objekt von Smerrys Lust, weil sie ihn dauernd abtastet und abknutscht. »[...] her body was all wrong, [...] Poppata, big breech, Botticelli thighs, knockknees, ankles all fat nodules, wobbly, mammose, slobbery-blubbery, bubbubbubbub, a real button-bursting Weib, ripe.«59 »[...] She stood up [...] and pulled down her dress behind. Poor girl, it was always rutsching up on her, the poop of her behind was so kolossal.«60 »[...] Smeraldina, that petulant, exuberant, clitoridian puella [...].«61 »[...] too big dolly that opens and shuts her eyes.«62

In seiner verächtlich inszenierten Opferrolle gibt Belacqua auch Smerrys vulgär-sentimentalen Liebesbrief aus Wien zum Besten: »Oh! Bel I love you terrible [sic], I want your body your soft white body naked!«63 »[...] I can at last have you, at last be ›Deine Geliebte‹.«64 »[...] I love you über alles in dieser Welt, mehr als alles auf Himmel, Erde und Hölle.«65 »[...] Mein Ruh ist hin mein Herz ist schwer ich finde sie nimmer und nimmer mehr. [...] I know what I am lifeing [sic] for, your last letter is always on my breast when I wake up in the morning and see the sun rise. Ich seh’ Dich nicht mehr Tränen hindern mich! My God! my true dog! my baby!«66

Beckett imitiert sogar Smerrys »Denglish« und kritisiert, dass sie weder korrekt Deutsch noch Englisch spricht, worauf sie nur erbost »Egal!«67 entgegnet. 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S. S. S. S. S. S. S.

12. 15. 93. 111. 214. 55. 56. 58. 59. 84.

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Raum und Objekt in Dream of Fair to middling Women Doch auf dem massigen Körper mit dem sprachfeindlichen, aber Kitsch liebendem Gemüt sitzt »[...] the loveliest little pale firm cameo of a birdface he ever clapped his blazing blue eyes on.«68 Die Zensur von Smeraldinas Körper und Geschmack imitiert nicht nur die Sprachspiele von Joyce, sondern manifestiert Beckett auch als den antiromantischen Vollender der Moderne. Doch der Faszination der smaragdgrünen Augen können die hellblauen Augen Belacquas/ Becketts nicht entrinnen, sie lösen am Ende des Romans sogar die heilende Kraft einer literarischen Epiphanie aus. Belacqua haben wir schon als Protagonisten des Romans kennengelernt, in dem außerdem dreimal ein Mr. Beckett persönlich angesprochen wird:69 »He is a great, big, inward man, [...].70 [...] a postpicassian man with a pen in his fist, doomed to a literature of saving clauses [...].«71 »Perhaps only the French language can give you the thing you want. Don’t be too hard on him, he was studying to be a professor.«72 »[...] Belacqua along with his palpitations and adhesions and effusions and agenesia and wombtomb and aesthetic of inaudibilities. [...] ›Oh but the bay, Mr Beckett, didn’t you know, about your brow‹.«73 »›Behold, Mr Beckett‹, he [Belacqua] said, whitely, ›a dud mystic‹. He meant mystique raté, but shrank always from the mot juste. [...] ›John‹ he said of the Crossroads, Mr Beckett. A borderman.«74

Die Unterschiede zwischen dem Autor Beckett und seinem literarischen Pendant Belacqua sind in diesem autobiographischen Roman gering bis spielerisch fließend. Es ist schon erstaunlich, dass der beste Kenner und Kommentator des Romans, John Pilling, die Struktur von Dream of Fair to middling Women als negativ chaotisch und die programmatische Grundlage des Erstlingsromans für Becketts späteres Werk gering einschätzt. Die obigen Zitate analysieren Beckett/Belacqua als bedeutenden, in sich gekehrten Menschen, den Begründer der Postmoderne nach Picasso, welcher sich

68 69 70 71 72 73 74

Ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 69; 141; 186. Ebd., S. 45. Ebd., S. 46. Ebd., S. 48. Ebd., S. 141. Ebd., S. 186.

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Gerd Rohmann zur Reduktion der Sprache bis zu einer Ästhetik des Ungehörten verurteilt fühlt und wichtige Werke, vor allem seine Romane ab 1946 und die späteren Theaterstücke ins Französische verfremdet, oder aber Übersetzungen in die Muttersprache Englisch oder ins Deutsche bis zum sparsamsten »mot juste« pedantisch überwacht. Sein Existenzgefühl ist der räumliche und zeitliche Stillstand zwischen Geburt und Tod, eine fast mystische, aber als endlos empfundene Grenzsituation. Obwohl die vielen Frauenbeziehungen Samuel Becketts, auch die zu seiner lebenslangen Gefährtin und späteren Ehefrau Suzanne Deschevaux-Dumesnil in einem bindungslosen Schwebezustand endeten, ist die Epiphanie Smeraldina Rimas ein Hoffnungsschimmer auf Erlösung. Natürlich bemerkt Beckett als widerwilliger Literaturnobelpreisträger von 1969 noch nicht den Lorbeerkranz, den man 1932 scheinbar um sein Haupt gelegt hat! Völlig durchnässt und betrunken hockt Belacqua am Ende des Romans in einer Nische am Tor zum Dental Hospital im nächtlichen Dublin. »[...] the locus of his fall from the vague grace of the drink must have intersected with that of his climb to that grace at its most agreeable point.«75 Dann hat er, sich in eine Art Ekstase marschierend, eine wunderbare Erscheinung: »Why did the Smeraldina-Rima elect to rise before him at this precise moment [...]? He called to mind the calamitous Silvester: how he had insulted her in the first instance by wanting to languish on quietly in the Wohnung, [...] how then he had all but swooned with joy at the spectacle of his [...] betrothed prancing off angrily in the embrace of the glider-champion; how then, having delivered her over to the unbridled desires of the Belshazzar and Herr Sauerwein the portraitist, of whom it may be now the moment to say that he did away with himself in the Seine, he jumped from a bridge, like all suicides, never from the bank, in consideration of his being too modern to live, he had sought, found, and lost, accompanied by the Mandarin, Abraham’s bosom in a house of ill fame.«76

Dies ist keine glückliche »mémoire involontaire« à la Proust, sondern eine büßerische Epiphanie, durch die Belacqua, wenngleich mit Ironie gewürzter Reue, Erlösung findet. Smeraldina-Rima hat alle anderen Geliebten durch Belacquas Erinnerung an Kassel besiegt. Die heftige Eifersucht auf den Tänzer Magersuppe, den lüsternen Tischherrn Belshazzar, einen reichen, ägyptisch aussehenden Zahnarzt,77 beim Silvesterabend im Rats-

75 76 77

Ebd., S. 226. Ebd., S. 228f. Vgl. J. Pilling: A Companion to Dream of Fair to middling Women (wie Anm. 6), S. 90.

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Raum und Objekt in Dream of Fair to middling Women keller, den Maler Leyhausen alias Sauerwein, weil er hier den klischeehaften Verdacht hegt, alle Maler gingen mit ihren Modellen ins Bett, bestätigt indirekt, dass Bel seine Smerry immer noch liebt. Hinzu kommt die Reue über seine Schwäche, die zur Vernachlässigung Smeraldinas führte, ihn aber nicht davon abhielt, mit dem Vater noch in der Neujahrsnacht eine Bar zu besuchen, die auch ein Bordell war und noch in der gleichen Nacht [wirst Du mich verraten!] aus Überdruss mit seiner quasi Verlobten zu brechen. Wenige Seiten vor dem Ende des Romans findet also eine bisher nicht beachtete Epiphanie statt, »[...] eine plötzliche Erhellung, die es dem Künstler ermöglicht, im ganz Alltäglichen das Besondere, die Kunst, wahrzunehmen.«78 Der Weg zum eigenen Konzept der folgenden Romane und vor allem zu den späteren, ab En attendant Godot (1953) typisch Beckett’schen Dramen, war damit frei. Es gibt aber nichts Autobiographischeres als Dream of Fair to middling Women in Becketts fragmentarischem Gesamtwerk außer und bis zu dem Prosatext Company (1980).79 Die Fokussierung der Interpretation weg vom Eindruck des Absurden hin zur Funktion und Bedeutung von Raum und Objekt führt zum Ergebnis einer kreativen und für Beckett folgenreichen Sinnsuche in Dream of Fair to middling Women.

78

79

Siedenbiedel, Catrin: Metafiktionalität in Finnegans Wake: Das Weibliche als Prinzip selbstreflexiven Erzählens bei James Joyce, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 98. Vgl. Rathjen, Friedhelm: Samuel Beckett, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006, S. 127.

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Verwandtschaften, Verweigerungen Notizen zu Raum, Identität und Handlung des Kunstsachverständigen Samuel Beckett KAI-UWE HEMKEN Wer sich den Wechselwirkungen zwischen Literatur und Bildender Kunst im Falle Samuel Becketts widmet, wird nicht umhin können, eine Mannigfaltigkeit bis hin zur Konfusion zu konstatieren.1 Beckett fühlte sich zu einer Vielzahl von unterschiedlichen Künstlern und Bildsprachen hingezogen, zeigte sich in unterschiedlichen Rollen des Kunstfreundes und die Forschung wird nicht müde, die komplexen bis profanen Äußerungen des Literaten zur zeitgenössischen Kunst bisweilen sogar zu überhöhen. Der Gesamteindruck des Unübersichtlichen, der sich nach einem Ausloten dieser Szenerie ergibt, scheint Beckett in der Prägnanz seines künstlerischen Werks zu bestätigen. Sinnvoll erscheint daher, nach einer rubrizierenden Klarstellung der Interessen Becketts an der Bildenden Kunst eine Konkretion vorzunehmen, die das Raum- und Handlungsge1

Vgl. hierzu: Beckett, Samuel: Das Gleiche nochmal anders. Texte zur Bildenden Kunst, hg. von Michael Glasmeier und Gaby Hartel, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000; Hartel, Gaby: »›Gestern war ich im Museum‹. Becketts ›éducation esthétique‹, skizziert anhand ausgewählter Notizen zur bildenden Kunst«, in: Samuel Beckett, Das Gleiche nochmal anders. Texte zur Bildenden Kunst, S. 75-84; Bruhns, Maike: »Ausgegrenzte Avantgarde: Beckett in den Künstlerkreisen der ehemaligen Hamburgischen Sezession«, in: Michaela Giesing/Gaby Hartel/Carola Veit (Hg.), Raubauge in der Stadt. Beckett liest Hamburg, Göttingen: Wallstein 2007, S. 89-101; Veit, Carola: »Becketts Hamburger Künstlergespräche: Begegnungen mit Franz Marc, Karl Ballmer, Willem Grimm, Karl Kluth«, in: Giesing/Hartel/Veit (Hg.), Raubauge in der Stadt. Beckett liest Hamburg, S. 102-118 sowie Mühling, Matthias: »Bildschön! – Samuel Beckett in der Hamburger Kunsthalle«, in: Giesing/Hartel/Veit (Hg.), Raubauge in der Stadt. Beckett liest Hamburg, S. 118-131; Oppenheim, Lois (Hg.): Samuel Beckett and the Arts. Music, Visual Arts and Non-Print Media, New York/London: Garland Publishing 1999, Glasmeier, Michael: »Bewegter Stillstand. Alte Meister im Quadrat«, in: ders., Samuel Beckett – Bruce Nauman, Ausst.-Kat. Kunsthalle Wien 2000, S. 149-159; The letters of Samuel Beckett, Vol. 1: 1929–1940, hg. von Martha Dow Fehsenfeld, Cambridge u.a.: Cambridge Univ. Press 2009.

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Kai-Uwe Hemken füge als wirkungsästhetisches Kalkül aus dem Geiste der modernen Kunst betrachtet. Eine Schlüsselrolle spielt hierbei die Reise Becketts nach Hamburg im Zeitraum von November 1936 bis April 1937, wobei sich seine kunstbezogenen Schriften als grundlegend für die folgenden Ausführungen erweisen.

Samuel Beckett in einer Ausstellung mit Werken von Bram van Velde, 1957 © Foto: Galerie Lelong, Paris Beckett war imstande, sich der Bildenden Kunst auf verschiedene Weise zu nähern. So trat er als traditioneller Kunstkenner in Erscheinung, der auf dem Felde der Kunst etwa der Neuzeit über Künstlerpersönlichkeiten, Bildwerke und Motivtraditionen offenkundig Bescheid wusste. Seine Kennerschaft, soweit sie sich rekonstruieren lässt, hat nicht nur seine kundigen Zeitgenossen verblüfft. Waren ihm doch die Werke eines El Greco, Giorgione, Adam Elsheimer oder Poussin bestens bekannt. Überdies zeichnet ihn ein detailfreudiger Blick auf die verschiedenen bildsprachlichen Konzepte von Paul Cézanne oder André Masson aus, ohne ein kunstwissenschaftliches Begriffsrepertoire zu beherrschen oder auch nur anwenden zu wollen. Im Ganzen praktizierte er einen – gelinde gesagt – recht unkonventionellen Zugang zur modernen Kunst, der außerhalb eines bildkünstlerischen oder gar wissenschaftlichkunstkritischen Regelwerks lag. 1959 erschien ein eigenartiger Text aus der Feder des Literaten, der schlicht und ergreifend mit Das Bild2 betitelt ist, dessen erste Sätze aufschlussreich sind: »Die Zunge nimmt Dreck auf dann hilft nur eins sie einziehen und im Mund drehen den Dreck drehen ihn runterschlucken oder ausspucken Frage ob er nahrhaft ist und Aussichten ohne wegen vielen Trinkens dazu genötigt zu sein 2

Beckett, Samuel: »Das Bild«, in: M. Giesing/G. Hartel/C. Veit (Hg.), Raubauge in der Stadt. Beckett liest Hamburg (wie Anm. 1), S. 69-74. Vgl. auch Schoell, Konrad: Über Samuel Becketts Werk. Essays und Studien, Kassel: Kassel Univ. Press 2008.

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Verwandtschaften, Verweigerungen ich nehme einen Mundvoll es ist einer meiner Notbehelfe behalte ihn ein Weilchen im Mund Frage ob er runtergeschluckt für mich nahrhaft wäre und was für Aussichten sich eröffnen es sind keine schlechten Momente mich verausgaben darauf kommt es an die Zunge streckt sich wieder rosig vor in den Dreck…«3

Für den aufgeschlossenen Leser eröffnet sich gleich nach der Lektüre der ersten Zeilen das Feld von Erwartung und Enttäuschung: Eine Dramaturgie, die eine Spannungskurve entwirft, Handlungsträger und Lokalitäten vorstellt, muss vermisst werden. In einer gewissen Monotonie und in einem ständigen Zwang zum Innehalten, um Anfang und Ende einer Handlungseinheit zu definieren, will sich kein Lesefluss einstellen. Stattdessen wird er aufgefordert, neben dem Inhalt und der Form das Medium zu berücksichtigen: die Sprache. Es zeigt sich in diesem Text eine ständige Aufforderung, der medialen Bedingtheit von Information Aufmerksamkeit zu schenken; und zwar nicht distanziert im Sinne einer begrifflichen Benennung, sondern im Augenblick der Anwendung von Sprache. Hier verbinden sich alle Blickachsen, geht es um die Wechselwirkungen von Bildender Kunst und Literatur bei Beckett: Ohne Punkt und Komma werden Handlungsfragmente aneinandergereiht, die nur äußerst bedingt einen Sinnzusammenhang eröffnen. Klammert man die Sinnfrage auf der ersten Rezeptionsebene aus, so stellt sich die Frage, welche Sinnfelder sich auf der zweiten oder gar dritten Deutungsebene eröffnen werden. Der Titel lässt vermuten, dass es hier um die Betrachtung eines Bildobjektes geht, doch wird rasch offenkundig, dass es sich hier wohl um Bilder der eigenen und fremden Imagination handelt. Es scheint, als würde Beckett Bilder der eigenen Assoziation – vermutlich ohne äußeren visuellen Impuls – abrufen und via Textsprache wiedergeben. Landläufig wird dieser Text als ein elaboriertes Indiz für ein Scheitern des Künstlers bei der Beschreibung des Objektes gedeutet. Beckett jedoch folgt meines Erachtens dem in der Kunstgeschichte der Moderne wohlbekannten Muster der Unmittelbarkeit, wenn er danach strebt, die Imaginationsfragmente ohne Reflexion niederzuschreiben. Eine Interpunktion wäre hier fehl am Platze, denn ansonsten entstünden Sinneinheiten, Wertungen und Gewichtungen der Informationen – sprich: ganze Handlungsabläufe – und wären dabei ein Indiz für Filterungen oder Reflexionen. Alle Handlungseinheiten haben eine Gleichrangigkeit im Verhältnis zum Ganzen und eröffnen dadurch eine inhaltliche Heterogenität. Vergleichbar sind diese ästhetische Struktur und dieses künstlerische Konzept mit dem Schaffen von Ernst Ludwig Kirchner und mehr noch mit jenem von André Masson; zwei Künstler, denen sich Beckett erklärtermaßen zugetan fühlte. Der deutsche Expressionist fühlte sich derart von der Reiz3

S. Beckett: »Das Bild« (wie Anm. 2), S. 69.

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Kai-Uwe Hemken überflutung in seinem Lebensumfeld, der Großstadt Berlin, heimgeholt, dass er eine neue Kunstsprache zu entwerfen trachtete. Die Schnelligkeit und Vielfalt der visuellen Reize verhindern ein Distanznehmen, so dass er sich entschloss, mit ihnen im Sinne des Döblinismus bzw. der Neurasthenie kurzerhand zu verschmelzen. Er sprach vom ekstatischen Zeichnen und verstand sich als Seismograph von optischen Eruptionen, der das Gesehene ohne Kontrolle mit dem Bleistift auf Papier zu bannen sucht. Etwa zehn Jahre später war es der Surrealist Masson, der mit seiner ›écriture automatique‹ für ein unkontrolliertes Zeichnen, das aus dem Unbewussten entspringe, plädierte. Es gilt für Masson, zunächst eine Art Trancezustand herzustellen, um anschließend den Zeichenstift über das Papier gleiten zu lassen. Das Resultat sind reine Gesten, Rhythmen oder ›Geschmiere‹, wie es der Künstler nennt. Im Verlauf dieses künstlerisch Gestischen entsteht unwillkürlich ein ›Motiv‹. Ein Innehalten, das heißt ein Reflektieren ist hierbei nicht vorgesehen. Den Trancezustand, der als Voraussetzung für die ›écriture automatique‹ bedeutsam ist, beschreibt Masson als eine Art Meditation. Diese sei vergleichbar mit dem selbstversunkenen Spiel eines Kindes: Demnach hantiere das Kind mit seinem Spielzeug nicht nur, sondern erhalte zugleich unerwartete Impulse vom Objekt. Aktiv und passiv sind in diesem Sinne zu gleichen Teilen auf beiden Seiten verortet. Beide Künstler strebten nach Unmittelbarkeit, d.h. nach einem authentischen Ausdruck des Ausgangsimpulses. Dieses Streben, das in der Bildenden Kunst seit dem frühen 19. Jahrhundert eine Konstante der stets wechselnden Avantgarde darstellt und in verschiedensten Facetten zum Vorschein kommt, ist letztlich eine Sprachkritik. Das grundsätzliche Unvermögen der Bild- wie Schriftsprache, eine Information in einem Reinheitszustand im Bild oder Text zu bannen, wird zum elementaren Gegenstand so mancher Konzepte der Klassischen Avantgarde. Besonders die französischen Surrealisten haben sich diesem Problemfeld konzeptionell gewidmet, wenn sie ihre Traum-, Visions- und Automatismusbilder erstellten und dabei die Rezeptionssphäre gleichberechtigt neben die Produktionsebene stellten. So schreibt denn auch Beckett in einem fiktiven Kunstgespräch über die Leistungen des Surrealisten: »Hier ist ein Künstler (i.e. Masson), der auf dem grausamen Dilemma der Expression buchstäblich aufgespießt scheint.«4 Hier ist die Verneinung des illusionierten Tiefenraumes nur ein Synonym für die Befreiung aus jenem strengen Regelwerk, das sich ›Perspektive‹ nennt

4

Beckett, Samuel/Duthuit, Georges: »Drei Dialoge«, in: ders., Das Gleiche nochmal anders.Texte zur Bildenden Kunst (wie Anm. 1), S. 50-60, hier S. 53.

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Verwandtschaften, Verweigerungen und die Bildende Kunst über Jahrhunderte hinweg gemaßregelt hatte. Es ist eine explizite Verweigerung, dem kunstakademischen Kanon einer Bildästhetik im Ganzen zu folgen. Hier fühlte sich Beckett Masson offenbar geistesverwandt. So lässt sich eine Anverwandlung von Bild und Text in Becketts Text Das Bild vermuten. Hier wie dort scheint eine Sprachkritik auf, wenn der Literat offenkundig danach strebt, seine Bilder der eigenen Imagination ohne Filterung wiederzugeben und diese (vermutlich) ohne Korrekturen drucken lässt. Beckett präsentiert sich als Medium seiner selbst, das um einen optimalen Selbstausdruck seiner Ich-Identität jenseits von Konventionen bemüht ist. Die Sinngebung jeder in dem Text beschriebenen Handlung im Einzelnen wie im Ganzen kann nur polyvalent konstruiert werden: eine allgemeingültige Deutung wird es auf der ersten Rezeptionsebene nicht geben. Wohl aber auf einer zweiten, d.h. konzeptionellen Ebene, die die Textästhetik als praktizierte und demonstrierte Sprachkritik ausweist.5 So nimmt es nicht wunder, wenn Beckett auch eine Verwandtschaft zu Paul Cézanne erkennen lässt. Cézanne gilt als Gründerfigur einer rein auf Optik ausgerichteten Kunst, wenn er die Bildsprache als eine schlichte Addition von bloßen Sehwerten betrachtet und das Diktum von Symbolik und Raumillusion aufgibt. Cézanne spricht hier von der ›Realisation‹, womit ein besonderes künstlerisches Verfahren gemeint ist: Die zu malende Landschaft wird vom Künstler als eine Ansammlung von Sehwerten betrachtet, die es ohne Deutung, Ästhetisierungen o.ä. auf die Leinwand zu geben gilt. Der Künstler und Vorbereiter der Klassischen Avantgarde lässt ein Bedeutungsvakuum entstehen, das auf dem Felde der Kunst nur mit großer Anstrengung zu bewältigen ist, wird diese doch stets mit der Bereitstellung von Botschaften verbunden. Beckett würdigt eben diese Leistungen des Malers, wenn er von einer Entkopplung vom Gegenstand und dessen bildlicher Darstellung schreibt: »Cézanne scheint der erste gewesen zu sein, der die Landschaft gesehen und sie als ganz spezielles Material bemerkt hat, unvergleichbar mit menschlichen Begriffen oder Ausdrücken jedweder Art.«6 5 6

Vgl. Seibert, Peter (Hg.): Samuel Beckett und die Medien. Neue Perspektiven auf einen Medienkünstler des 20. Jahrhunderts, Bielefeld: transcript 2008. S. Beckett, zit. nach G. Hartel, »›Gestern war ich im Museum‹. Becketts ›éducation esthétique‹, skizziert anhand ausgewählter Notizen zur bildenden Kunst« (wie Anm. 1), S. 78. Die hier skizzierte medienkritische Perspektive ist in der Bildenden Kunst eine Konstante, die sich nicht nur mit Kirchner, Masson und Cézanne sondern mit nicht wenigen Künstlern wie etwa Kurt Schwitters, Donald Judd, Joseph Kosuth oder Jochen Gerz erläutern ließe.

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Kai-Uwe Hemken Insgesamt lässt sich die Annäherung Becketts an die Bildende Kunst als eine Suche nach Geistesverwandtschaften beschreiben. Die ausgewählten Maler und Werke erwachsen in der Auseinandersetzung mit diesen als Stimulanz für eigene literarische Hervorbringungen, als Beweisführung der Richtigkeit des eigenen Denkens und als Werkzeug eigener konzeptionell orientierter literarischer Arbeit. Die Verwandtschaft von Avantgarde-Kunst und Becketts literarischem Schaffen wäre noch nicht erschlossen, ginge es allein um die Vermeidung eines Illusionsraumes, der Negation des akademischen Regelwerks oder um die diversen ›Instrumentalisierungen‹ der Bildenden Kunst seitens Beckett. Eine konzeptionelle Nähe wird an der medienkritischen Ausrichtung, die das Moment des Authentischen einschließt, erkennbar. Weitergehende Erkenntnisse liefert die Zusammenarbeit und Freundschaft Becketts mit Alberto Giacometti. Auf den ersten Blick hat diese Verbindung einen mehr anekdotischen Charakter, wenn sich beide Herren 1937 per Zufall im Pariser Café de Flore begegneten. Ihre sich daran anschließenden Zusammenkünfte bestanden hauptsächlich aus nächtlichen Spaziergängen, während derer die beiden Kulturschaffenden ausgedehnte Gespräche führten. Gedeutet wird diese Verbindung als eine Seelenverwandtschaft zwischen zwei Künstlern, die von einem »Gefühl von vergehendem Leben, von Hinfälligkeit und Todesnähe«7 getragen gewesen sei. Einig sollen sich beide darin gewesen sein, dass an dem täglichen Scheitern und der beständigen Einsamkeit des Künstlers in der Moderne die Kunst selbst kein Ausweg sei, wie mit nicht geringem Pathos konstatiert wurde. Eine konkrete Zusammenarbeit stellte sich im Mai 1961 ein, als Beckett Giacometti bat, das Bühnenbild für sein Stück Warten auf Godot zu entwerfen.8 Der Bildhauer wählte einen kargen Baum als Form, an der beide Beteiligten eine Nacht lang – so heißt es – gearbeitet hätten, um eine optimale Gestalt zu erlangen: »Eine ganze Nacht lang versuchten wir, den Gipsbaum größer und kleiner oder die Zweige dünner zu machen. Nie erschien es richtig, und der eine sagte zum anderen ›vielleicht‹«.9 Die Kunstgeschichtsschreibung deutet den Baum Giacomettis, der im Werk des Bildhauers eine Seltenheit darstellt,10 als Symbol für Leben und Tod. Weitere Stan7 8 9 10

Lord, James: Alberto Giacometti. Biographie, Zürich: Scheidegger & Spiess 1985, hier S. 162. Vgl. J. Lord: Alberto Giacometti (wie Anm. 7), S. 87. M. Giesing/G. Hartel/C. Veit (Hg.), Raubauge in der Stadt. Beckett liest Hamburg (wie Anm. 1), S. 353. Eine vergleichbare Formgebung lässt sich bei einer Kleinskulptur mit dem Hilfstitel Entwurf für einen Platz aus dem Jahre 1946 recherchieren. Vgl. hierzu Alberto Giacometti. Werke und Schriften. Ausst.-Kat. Schirn Kunst-

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Verwandtschaften, Verweigerungen dards der Deutung eines kahlen Baumes ließen sich anschließen, lassen den Interpretierenden aber stets ins Assoziative, Spekulative oder gar Anekdotische gleiten. Die plastischen Werke des Schweizer Künstlers Alberto Giacometti zählen zu den Höhepunkten in der Geschichte der Bildhauerkunst des 20. Jahrhunderts. Seine überlangen, sich zu Linien im Raum verschmälernden Figuren spiegeln ein besonderes Kunstverständnis, das der Philosoph und Existenzialist Jean-Paul Sartre als ein unermüdliches Suchen zum Zeitpunkt eines Neubeginns beschreibt.11 Kennzeichnend ist eine besondere Formgebung, die sich durch eine betont unregelmäßige Oberfläche und ein sich dadurch ergebendes unruhiges Licht- und Schattenspiel zu erkennen gibt. Giacometti bringt die Tatsächlichkeit des Materials zum Vorschein und verweist zugleich auf die Mechanismen der Wahrnehmung. Volumen und Materialität der Figur Giacomettis scheinen sich aufzulösen, so dass Sartre hier von der »absoluten Entfernung« spricht. Von Bedeutung ist also nicht die eine naturalistische Wiedergabe oder idealisierende Überhöhung des Porträtierten, sondern die im Akt der Wahrnehmung hervorgerufene Vorstellung.12

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halle Frankfurt, hg. von Christoph Vitali, Zürich: Scheidegger & Spiess 1998. Auf die polemische Frage eines Kritikers, warum ein Künstler wie Giacometti nach dreitausend Jahren der Bildhauerkunst, die eine zunehmende Perfektion der Herstellungsverfahren aufweise, die Möglichkeit einer ›fehlerlosen‹ Plastik ungenutzt lasse, antwortet Sartre, dass es im Falles Giacomettis nicht um eine Belieferung des Kunsthandels mit Dekorationen ginge. Das Gebot der Stunde sei vielmehr die Beweisführung jenes Umstandes, dass Bildhauerkunst überhaupt möglich sei. Das gestalterische Handeln und die Grenzüberschreitung seien die entscheidenden Aspekte eines solchen philosophisch-künstlerischen Verfahrens. Vgl. Sartre, Jean Paul: »Auf der Suche nach dem Absoluten (1948)«, in: Kunsttheorien im 20. Jahrhundert, Bd. II, hg. von Charles Harrison/Paul Wood, Ostfildern-Ruit: Cantz 1998, S. 732.

Vgl. Sartre, Jean Paul: »Über Giacometti«, in: Laszlo Glozer (Hg.), Westkunst. Zeitgenössische Kunst seit 1939, Köln: DuMont 1981, S. 144150.

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Kai-Uwe Hemken

Szene aus Warten auf Godot, Inszenierung am Berliner Schiller Theater, 1975 © Foto: Anneliese Heuer, Berlin Der karge Baum des Beckett’schen Bühnenbildes bettet sich stilistisch in das Schaffen Giacomettis ein und nimmt sich im Bühnengeschehen zwangsläufig als verlorene Erscheinung aus bzw. dient dem Publikum als dankbarer Blickfang in einem ansonsten leeren Bühnenraum. Die skulptural-solitäre Erscheinung des Baumes lässt vermuten, dass der Baum tatsächlich eine Symbolfunktion innehat, die – verstärkt durch das Stilmerkmal der Abstraktion – die gesamte Szenerie in ihrem Sinngehalt zu überspannen vermag und sich dem Betrachter in dieser Funktion als zu dechiffrierendes Metazeichen offeriert. Angesichts eines absurden Handlungsverlaufs der beiden Protagonisten Wladimir und Estragon nimmt man derlei Deutungsangebote dankend an. Begreift man jedoch – wie in der Literatur zu vermissen ist – nicht den Baum als Skulptur, sondern im Sinne Giacomettis den leeren Umraum als elementares ästhetisches Moment, auf das der Baum verweist, so eröffnen sich andere Sinngehalte der Kooperation eines Literaten mit einem Bildenden Künstler.

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Verwandtschaften, Verweigerungen

Samuel Beckett und Alberto Giacometti vor der Bühnenrequisite für Warten auf Godot, 1961, Foto: Georges Pierre © ADAGP/FAAG, Paris/VG Bild-Kunst, Bonn 2010 Im Fiktionsraum Bühne ereignet sich im Stück Warten auf Godot ein absurdes Sprachspektakel: Ohne Dramaturgie, ohne Referenzen an tatsächliche Begebenheiten, Zeiten oder Orte verlaufen die Szenerien, innerhalb derer sich die (elaborierten) Persönlichkeitsstrukturen der Bühnenhelden ein groteskes zwischenmenschliches Miteinander liefern. Die gängigen Interpretationen reichen von der Selbstdarstellung Ausgestoßener über das Sinnbild des ewigen Scheiterns bis zu autobiografischen Dimensionen, die in Wladimir und Estragon die Personifizierung von Beckett und Giacometti sehen. Zweifellos kann nicht auf der ersten, wohl aber auf der zweiten Deutungsebene ein Sinngehalt entschlüsselt werden. Auf der ersten Sinnebene herrscht durch die bereits beschriebene Sprach- und Handlungsabsurdität ein semantisches Vakuum, das vornehmlich eine physiologische Rezeption stimuliert. Unter den Handlungsträgern wie auch zwischen Publikum und Bühne herrscht vorrangig das Moment ›Aufmerksamkeit‹ vor, wie es einige Jahre später in den Massenmedien zumindest in den europäischen Breitengraden als elementare Kategorie wirksam werden sollte. Diese zielen nach allen Regeln der Zunft auf die permanente Aufmerksamkeit des anonymen Publikums, das über Mechanismen einer

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Kai-Uwe Hemken simulierten Aktualität funktioniert.13 Bei Warten auf Godot ist es das permanente Störmanöver, wenn eine Sinndimension, ein System, eine Narrativität angedeutet und zugleich wieder verworfen wird. Wiederholung, inszenierte Aktualität, Überraschung verleihen dem Ganzen einen enigmatischen Grundzug, der alles in allem dann doch eine Ermüdung erzeugt, auch wenn eine dauerhafte Rezeptionsanspannung erhofft wurde. Stattdessen eröffnet sich auf der zweiten Ebene eine Vielfalt von Interpretationsmustern, die – wie bereits angeführt – in verschiedene Richtung weisen können. Die Kargheit des Bühnengeschehens (Bühnenbild, Handlung) reduziert das Rezeptionsangebot auf ein Minimum, als gelte es, das in dieser Hinsicht verwöhnte Publikum zu provozieren. Beckett verweigert sich durch den Formenreduktionismus und die Nicht-Narrativität einem interpretierenden Zugriff durch die Öffentlichkeit. Die Bühnenhelden von Warten auf Godot entwickeln trotz interaktiver Rahmensetzung ein Höchstmaß an Selbstausdruck, der sich ebenfalls in Stücken wie Not I oder Play zeigt. Aus diesem Blickwinkel ist der Monolog einer Frau in Not I aus dem Jahre 1972 beispielhaft: Ein Mund erzählt die Geschichte einer Frau, die nach der Geburt von ihren Eltern verlassen wurde und im Heim aufwuchs. Das Gefühl des Verlassenseins und der Einsamkeit führte zu der Gewohnheit, Selbstgespräche zu führen, wodurch ihr Außenseiterdasein verstärkt wurde. Das Publikum sieht sich mit einer verdunkelten Bühnen-Szenerie konfrontiert, die allein das menschliche Sprechinstrumentarium und einen passiven Zuhörer präsentiert.14 Zu vermuten ist, dass sich hier das Sprechen vom Körper losgesagt hat, Mund und Zuhörer eigentlich eine Einheit darstellen. Entscheidend ist jedoch in unserem Zusammenhang, dass eine Potenzierung des Sprechaktes inszeniert wird, die das Gesagte trotz aller Dramatik zu einem reinen Rhythmus, zu einer bloß physikalischen Größe umformt. Die Selbstmitteilung, die in eklatant beklemmender Weise in dem Stück Not I zum Ausdruck kommt, erhält durch die extreme Reduktion der Ausdrucksmittel einen Abstraktionsgrad, der ein irritierendes Wechselspiel des Fak-

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Vgl. hierzu u.a. Werber, Niels: »Zweierlei Aufmerksamkeit in Medien, Kunst und Politik«, Kunstforum International. Ressource Aufmerksamkeit. Ästhetik in der Informationsgesellschaft 148 (1999), S. 139-151; Waldenfels, Bernhard: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004. Vgl. Veit, Carola: Ich-Konzept und Körper in Becketts dualen Konstruktionen, Berlin: Weidler 2002; Milz, Manfred: Das Innere als Oberfläche. Ein ästhetischer Dialog im Zeichen schöpferischer Entzweiungsprozesse (19291936), Würzburg: Königshausen & Neumann 2006.

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Verwandtschaften, Verweigerungen tischen mit dem Fiktiven treibt. In diesem Zuge wird das Szenografische zu einer basalen ästhetischen Sphäre. Giacomettis Bühnenbild für Warten auf Godot liefert in der ästhetischen Kargheit und gestalterischen Unterlassung ein Bedeutungsvakuum, das sich als Austragungsort einer Identitätsfindung mehr als nur anbietet. Um mit Sartre zu sprechen, scheinen sich die Bühnenhelden wie auch die Figur in Not I im Prozess einer Selbstvergewisserung zu befinden, die erst im Augenblick der Handlungs- und mehr noch der Sprechakte vollzogen wird. Das Moment des authentischen Ausdrucks, wie es in Not I, in dem eingangs erwähnten Text Das Bild und anderen literarischen Erzeugnissen aufscheint, verweist auf existenzialistische Vorstellungen im Sinne Sartres, der von dem Urzustand eines ›absoluten Bewusstseins‹ ausgeht, das wiederum als zentrale Quelle für Existenz unabdingbar sei.15 Ausgehend von dieser basalen Entität wird die Selbstgestaltung zu einer zentralen Forderung, die nicht in einem Egoismus mündet, sondern in der Eigenverantwortung zur Selbstgestaltung der eigenen Identität im Wechselspiel mit dem gesellschaftlichkulturellen Regelwerk. Hierbei spielt die Sprache eine nicht geringe Rolle. Sie sei es, die ausschließlich die »Wahrheit der Existenz« zu vermitteln vermag und in dieser Funktion »niemals rein« sein könne. Das Aufscheinen des Authentischen vermittels eines unreinen Ausdrucksmittels, genannt Sprache, wird in den genannten Kurzstücken und kunstbezogenen Texten als Problemstellung deutlich. Der medienkritische Ansatz, der Text/Sprache und Bild in einen Abgleich ihrer Ausdrucksmöglichkeiten überführt, wird hierbei besonders deutlich, wenn Beckett die Kunstwerke anderer oder gar die imaginierten Bilder als reine Stimulanzen der Sprache eines ungefilterten, unstrukturierten Selbstausdrucks instrumentalisiert. In Warten auf Godot wird das Moment des Selbstausdrucks des ›absoluten Bewusstseins‹ in einem Dialog veranschaulicht bzw. in Permanenz hergestellt. Das Fehlen eines Handlungsstrangs, der Anfang, Ende und Handlungsverlauf benennt, ist nur die Konsequenz; denn das Dauerhafte des Selbstausdrucks aus medienkritischer Perspektive bedarf keiner Dramaturgie, sondern mehr noch jener Absurdität, wie sie Estragon und Wladimir praktizieren. Es handelt sich bei diesem Stück konsequenterweise nicht um die Demonstration von Absurdität etwa als Sinnbild einer entgleitenden Wirklichkeit, mit der allgemein gefremdelt wird. Solcherlei Fiktionalität ist bei Warten auf Godot vielmehr eine faktische Realisierung im Sinne existenzialistischer Grundannahmen. Giacomettis Bühnengestaltung liefert keine Skulptur, die symbolisch auszudeuten

15

Vgl. Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts (1947), Reinbek bei Hamburg: rororo 1993.

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Kai-Uwe Hemken wäre, sondern die Leere des Bühnenraumes inklusive einer Akzentsetzung (Baum), so dass die Bühne zu einem Austragungsort zur Formung von Identität wird.16 Dass die Vorstellung eines Künstlerindividuums von nicht geringer Bedeutung ist, zeigt sich an der Verknüpfung fundamentaler Problemzonen der Moderne und einem auf Industriekultur referierenden Kunstbegriff: Die Entdeckung des Künstlerindividuums fußt auf einer Grundkonstante der Kultur der Moderne, der Identitätsbildung in der industrialisierten Gesellschaft, und wird in der Kunst in seiner Kernsubstanz offengelegt. Warhol thematisiert und inszeniert offenkundig das spannungsvolle Wechselspiel zwischen personaler und sozialer Identität: Unter Berufung auf die Identitätsforschung,17 die als Forschungszweig der Philosophie bzw. Soziologie u.a. zwischen individueller und kollektiver Identität unterscheidet, seien die Problemzonen der Identitätsbildung in der Moderne zum besseren Verständnis kurz angeführt. Grundlegend stehen sich die so genannte personale und die soziale Identität (Goffman) gegenüber, womit die Identität zwischen Individualität und Kollektivität in sozialen Prozessen gemeint ist.18 Als ›personale Identität‹ gilt die

16

17

18

Vgl. u.a. Jongen, Marc (Hg.): Philosophie des Raumes. Standortbestimmungen ästhetischer und politischer Theorie, Berlin: Fink 2008; Csaky, Moritz/Leitgeb, Christoph (Hg.): Kommunikation – Gedächtnis – Raum. Kulturwissenschaften nach dem »Spatial Turn«, Bielefeld: transcript 2009; Siegmund, Gerald: »In die Geschichte eintreten. Performatives Erinnern bei Rimini Protokoll und Klaus Michael Grüber«, in: Ebd., S. 71-92; Früchtl, Josef/Zimmermann, Jörg (Hg.): Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001. Auch ein Gottesdienst ähnlicher Zustand ist weder hier noch bei den anderen Werken und kunstbezogenen Texten zu vermuten, auch wenn sich die Kunstwissenschaft ob der Inhalte irritiert gibt; vgl. hierzu M. Mühling, »Bildschön! – Samuel Beckett in der Hamburger Kunsthalle« (wie Anm. 1). Die Moderne hat die Identitätsstiftung verstärkt thematisiert, da seit ca. 1800 nicht mehr von einer Selbstverständlichkeit verbindlicher Rollenverteilungen in gesellschaftlichen Strukturen und Prozessen auszugehen ist. Zugleich wird eine synchrone und diachrone Individualität behauptet, die ein Wechselspiel zwischen Individuum (personale Identität) und Gesellschaft (soziale Identität) annimmt. Während die Metaphysik die personale Identität aus dem Blickwinkel des biographischen Zeitverlaufs erörtert, behandelt die praktische Philosophie Aspekte der »Unsterblichkeit der Seele und die Möglichkeiten der individuellen Weiterexistenz nach dem Tode«. Vgl. u. a. Marquard, Odo/Stierle, Karlheinz (Hg.): Identität. München: Fink 1979. Vgl. Willems, Herbert/Hahn, Alois (Hg.): Identität und Moderne, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999; O. Marquard/K. Stierle (wie Anm. 17); Quante,

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Verwandtschaften, Verweigerungen Einheit von Erfahrungen, Erkenntnissen, die im Zuge einer originären Lebensgeschichte gewonnen werden und die zu einer solitären Persönlichkeitsstruktur geführt haben. Die ›soziale Identität‹ bezeichnet die Zugehörigkeit einer Person zu einer Mehrzahl von gesellschaftlichen Gruppen. Diese Mitgliedschaft in Interessensgruppen beinhaltet allein eine funktionale Zuordnung, so dass jeweils nur ein Teilbereich der personalen Identität angesprochen ist. Ein- und dieselbe Handlung einer Person kann somit verschiedene Bedeutungen besitzen, da sie gleichzeitig verschiedenen Sinnsphären, die hierdurch verschiedene Impulswirkungen erzeugen, zugehörig sein kann. Die Bühnenhelden in Warten auf Godot führen dem Publikum eine solche Identitätsbildung in aller Radikalität vor Augen, wenn sie bis zur sozialen und kommunikativen Inkompetenz ihrer personalen Identität ohne Filterung freien Lauf lassen. Dieser scheinbar authentische Selbstausdruck einer Ich-Identität ist in der Bildenden Kunst seit Beginn des 19. Jahrhunderts geläufig. Die Entdeckung des Künstlerindividuums und die damit verbundene Selbstinszenierung des Künstlers in der Öffentlichkeit ist ein Indiz für einen allgemeinen Legitimationsdruck der Kunst, in einer industriell geprägten Gesellschaft ihre Relevanz zu dokumentieren. Tatsächlich aber hatte sie bis heute diese gesellschaftliche Bedeutung trotz aller Künstlerskandale keineswegs eingebüßt. Im Gegenteil, besonders die radikale künstlerische Position ist ein Hinweis auf die Möglichkeit ungehemmt ausgelebter Subjektivität. Die bürgerliche Öffentlichkeit bedarf solcher Radikalitäten, dient doch die moderne Kunst als Projektionsfläche unausgelebter Wünsche nach größtmöglicher Entfaltung.19 Was der bildende Künstler mit seinen Skandalen und

19

Michael: »Personale Identität als Problem der analytischen Metaphysik«, in: ders. (Hg.), Personale Identität, Paderborn et al.: Schöningh 1999, S. 9-30. Steht der Künstler in der Moderne, d.h. in einer industriegeprägten Kultur unter einem permanenten Rechtfertigungsdruck, inwiefern die Kunst als wichtiger Bestandteil einer auf Verwertung zielenden Gesellschaft gelten kann, so begegnet ihm der Künstler sowohl mit verschiedenen Hinweisen auf die Bedeutsamkeit des eigenen Schaffens, wenn er eine Liaison mit der Wissenschaft, dem Alltag, dem Konsum, der Psychologie sowie mit dem Journalismus eingeht, oder mit der Inszenierung seiner eigenen Künstlerpersönlichkeit. Diese Selbstinszenierung wird von der Gesellschaft nicht nur als buntes Treiben des Randständigen akzeptiert, sondern sogar benötigt. Demnach entfaltet der moderne Künstler eine Art ›öffentliche Existenz‹ jenseits allgemeinverbindlicher Normgebungen. Tabubruch, Radikalisierung der eigenen Interessen, Arroganz, Kompromisslosigkeit und bisweilen soziale Inkompetenz sind Indizien für ein inszeniertes zügelloses Künstlerdasein, von dem sich das niveaugewohnte Bürgertum missbilligend abwendet. Vgl. hierzu Ruppert, Wolfgang: Der moderne Künstler. Zur

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Kai-Uwe Hemken künstlerischen Hervorbringungen als ungehemmte Selbstbestimmung öffentlich macht, scheint für Beckett ein ausgesprochenes Dilemma: Die Figuren Becketts externalisieren ungefiltert ihre mentalen, gedanklichen wie emotionalen ›Bewegungen‹ auf Kosten der Kommunikation, Reflexivität und biografischen Entwicklungsmöglichkeiten.20 Nicht nur Warten auf Godot, sondern auch ein Großteil der Beckett’schen Bühnen- und Filmstücke erwächst damit zu einem Spiegelbild gesellschaftlicher Befindlichkeit, wie sie sich besonders in den 1930er bis 1960er Jahren mit Blick auf Diktatur und Neuformierung der bürgerlichen Gesellschaft beobachten lässt.

20

Sozial- und Kulturgeschichte der kreativen Individualität in der kulturellen Moderne im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998. Vgl. hierzu im Gegensatz: Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik der Performativität, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004.

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AUTORINNEN UND AUTOREN ANNE BEGENAT-NEUSCHÄFER, geb. 1953, Professorin für Romanische Philologie an der RWTH Aachen. Publikationen insbesondere über das 16. Jh. (Lodovico Dolce, Agrippa d’Aubigné, Théodore de Bèze) sowie über die französische Literatur und das französische Theater des 20. Jh. (Nouvelle Revue Française, Théâtre du Soleil, BernardMarie Koltès). Spezialistin für die Literatur französischer Sprache Belgiens (Henry Bauchau, François Emmanuel, Pierre Mertens). DANIEL BENGSCH, geb. 1972, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Romanischen Seminar der Universität Mannheim. Zuvor Lehrtätigkeiten an den Universitäten Kassel und Konstanz. Promotion 2007 mit der Arbeit Ich erzählt. Analysen zur Narrativik in Frankreich (1893-1964) an der Universität Kassel. Forschungsinteressen: Erzählpoetik, Literaturtheorie und die Thematik des Scheiterns als ästhetische und poetologische Kategorie in Philosophie und Literatur. SEBASTIAN BLASIUS, geb. 1979, studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen und arbeitet als Theaterwissenschaftler und Regisseur. Seine Inszenierung von Das letzte Band mit einem Tänzer, ein Re-enactment von Becketts eigener Regiearbeit mit Martin Held von 1969, wurde europaweit zu Festivals und Gastspielen eingeladen. Zuletzt verfasste er Beiträge für Theater der Zeit sowie für die Publikation zur Internationalen Konferenz »Medien der Auferstehung« in Gießen (Hg. Helga Finter und Uwe Wirth). HORST BREUER, geb. 1943, Professor für englische Literatur an der Universität Trier, seit 2008 im Ruhestand. Zuvor Lehrtätigkeiten an den Universitäten Freiburg, Berlin (TU) und Marburg. Veröffentlichungen insbesondere zur Literatur der Shakespearezeit, zur englischsprachigen irischen Literatur und zur Literaturpsychologie. HELGA FINTER, geb. 1946, Professorin für Angewandte Theaterwissenschaft an der Universität Gießen. Forschungsschwerpunkte: Ästhetik der Stimme, Theatralität nicht-dramatischer Texte, historische Avantgarden, Theater und Medien. Publikationen (Auswahl): Der subjektive Raum, 2 Bde (1990), Die Schrift und das Unmögliche:

237

Raum und Objekt im Werk von Samuel Beckett Bataille lesen (Hg. mit Georg Maag, 1992), Grenzgänge. Theater und die anderen Künste (Hg. mit Gabriele Brandstetter und Markus Weßendorf, 1998), Das Reale und die (neuen) Bilder. Denken oder Terror der Bilder (Hg., 2008). THERESE FISCHER-SEIDEL, geb. 1942, Professorin für englische Literatur an der Universität Düsseldorf, seit 2008 im Ruhestand. Studium in Frankfurt a.M. und London, Lehrtätigkeiten in Gießen, Milwaukee und Madison (Wisconsin,USA), Beauftragte der Universität Düsseldorf für die Partnerschaft mit Reading (Zentrum der internationalen Beckett-Forschung) und Ko-Organisatorin mehrerer interdisziplinärer Beckett-Kongresse. Buchpublikationen über James Joyce und die Mythenparodie im modernen englischen und amerikanischen Drama. Zum 100. Geburtstag von Beckett erschien von ihr der Band Der unbekannte Beckett. Samuel Beckett und die deutsche Kultur (Hg., 2005). SUSANNE HARTWIG, geb. 1969, Professorin für Romanische Literaturen und Kulturen an der Universität Passau. Studium der französischen und der italienischen Philologie sowie der Altphilologie in Münster, Promotion 1998 (Münster), Habilitation 2004 (Gießen). Forschungsschwerpunkte: Theater des 20. Jh., Text-, Literaturund Kommunikationstheorien, lateinamerikanische Gegenwartsromane. Publikationen (Auswahl): Chaos und System. Studien zum spanischen Gegenwartstheater (2005), Einführung in die französische Literatur- und Kulturwissenschaft (mit Hartmut Stenzel, 2007), Bruders Hüter/Bruders Mörder. Intellektuelle und innergesellschaftliche Gewalt (Hg. mit Isabella von Treskow, 2010). KAI-UWE HEMKEN, geb. 1962, Professor für Kunstwissenschaft an der Kunsthochschule Kassel in der Universität Kassel. Studium der Kunstgeschichte, Philosophie und Literaturwissenschaft in Marburg und München, Promotion 1993, Habilitation 2004, kuratorische Arbeit am Sprengel Museum Hannover, Kunstsammlung NordrheinWestfalen in Düsseldorf, Kunsthalle Erfurt, Klassik Stiftung Weimar. Publikationen (Auswahl): Gedächtnisbilder. Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst (Hg., 1997), Gerhard Richter. 18. Oktober 1977 (1998), Bilder in Bewegung. Traditionen digitaler Ästhetik (Hg., 2000), Modernisierung des Sehens. Wahrnehmung in Wissenschaft und Kunst (Hg. mit Matthias Bruhn, 2008). MARK NIXON, geb. 1973, Lecturer in English Literature an der University of Reading und Direktor der Beckett International Foundation, Mitherausgeber von Samuel Beckett Today / Aujourd’hui und Journal of Beckett Studies sowie Co-Direktor des Beckett Digital

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Autorinnen und Autoren Manuscript Project. Neuere Veröffentlichungen: Publishing Samuel Beckett (Hg., 2010), Samuel Beckett’s Library (mit Dirk Van Hulle, 2011), Samuel Beckett’s ›German Diaries‹ (2011) sowie die BeckettEditionen Texts for Nothing and Other Short Prose 1950-1976 (Faber 2010) und Echo’s Bones (Faber 2011). GERD ROHMANN, geb. 1940, Professor für Anglistik/Literaturwissenschaft an der Universität Kassel, seit 2006 im Ruhestand. Studium der Anglistik und Romanistik in Marburg, Paris und Cambridge. Forschungsschwerpunkte: Shakespeare, Sterne, Shaw, Huxley und Beckett. Seit 1998 Kurator der International Aldous Huxley Society, seit 2005 Vorsitzender der Samuel Beckett Gesellschaft Kassel. SILKE SEGLER-MESSNER, geb. 1965, Professorin für Romanische Philologie an der Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Geschlechterbeziehungen in der Frühen Neuzeit, Erinnerungskultur nach der Shoah, französischsprachige Literatur des Maghreb und Afrikas. Publikationen (Auswahl): Archive der Erinnerung. Literarische Zeugnisse des Überlebens nach der Shoah in Frankreich (2005),Vom Zeugnis zur Fiktion. Repräsentation von Lagerwirklichkeit und Shoah in der französischen Literatur nach 1945 (Hg. mit Peter Kuon und Monika Neuhofer, 2006), Voyages à l´envers. Formes et figures de l´exotisme dans les littératures post-coloniales francophones (Hg., 2009). FRANZISKA SICK, geb. 1957, Professorin für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Kassel. Forschungsschwerpunkte: Theater der französischen Klassik, postdramatisches Drama und Theater, Avantgarden im 20. Jh. (Surrealismus, Nouveau Roman, Oulipo), Medialität und Gattung, Raum und Erzählung. Publikationen (Auswahl): Medium und Gedächtnis (Hg. mit Beate Ochsner, 2004), Zeitlichkeit in Text und Bild (Hg. mit Christof Schöch, 2007), Raumkonzepte. Disziplinäre Zugänge (Hg. mit Ingrid Baumgärtner und Paul-Gerhard Klumbies, 2009). JAN-HENRIK WITTHAUS, geb. 1970, Professor für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Kassel. Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, Romanistik und Kunstwissenschaft an den Universitäten Essen und Duisburg, Promotion 2003, Habilitation 2009. Lehrtätigkeiten an den Universitäten Duisburg-Essen, Stuttgart, Kassel. Forschungsgebiete: Wissenschaftsprosa der frühen Neuzeit; Literatur der Aufklärung; Repräsentation sozialer und politischer Welten im lateinamerikanischen Roman der Gegenwart.

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Lettre Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Juni 2011, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-89942-583-3

Markus Fauser (Hg.) Medialität der Kunst Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne März 2011, ca. 250 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1559-3

Evi Fountoulakis, Boris Previsic (Hg.) Der Gast als Fremder Narrative Alterität in der Literatur März 2011, ca. 280 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1466-4

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Lettre Irina Gradinari Genre, Gender und Lustmord Mörderische Geschlechterfantasien in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa März 2011, ca. 328 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1605-7

Mareen van Marwyck Gewalt und Anmut Weiblicher Heroismus in der Literatur und Ästhetik um 1800 2010, 314 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1278-3

Stephanie Waldow (Hg.) Ethik im Gespräch Autorinnen und Autoren über das Verhältnis von Literatur und Ethik heute Februar 2011, 180 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1602-6

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Lettre Christiane Arndt, Silke Brodersen (Hg.) Organismus und Gesellschaft Der Körper in der deutschsprachigen Literatur des Realismus (1830-1930)

Tabea Kretschmann »Höllenmaschine/ Wunschapparat« Analysen ausgewählter Neubearbeitungen von Dantes »Divina Commedia«

April 2011, ca. 216 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1417-6

März 2011, ca. 244 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1582-1

Christine Bähr Der flexible Mensch auf der Bühne Sozialdramatik und Zeitdiagnose im Theater der Jahrtausendwende

Ines Lauffer Poetik des Privatraums Der architektonische Wohndiskurs in den Romanen der Neuen Sachlichkeit

Juni 2011, ca. 364 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1557-9

März 2011, ca. 352 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1498-5

Dominic Berlemann Wertvolle Werke Reputation im Literatursystem

Denise Rüttinger Schreiben ein Leben lang Die Tagebücher des Victor Klemperer

Februar 2011, 436 Seiten, kart., 38,80 €, ISBN 978-3-8376-1636-1

Januar 2011, 478 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1615-6

Sandra Evans Sowjetisch wohnen Eine Literatur- und Kulturgeschichte der Kommunalka

Kirsten Scheffler Mikropoetik Robert Walsers Bieler Prosa. Spuren in ein »Bleistiftgebiet« avant la lettre

April 2011, ca. 294 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1662-0

2010, 514 Seiten, kart., 38,80 €, ISBN 978-3-8376-1548-7

Christian Kohlross Die poetische Erkundung der wirklichen Welt Literarische Epistemologie (1800-2000) 2010, 230 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1272-1

Henrike Schmidt Russische Literatur im Internet Zwischen digitaler Folklore und politischer Propaganda März 2011, ca. 678 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 42,80 €, ISBN 978-3-8376-1738-2

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