Praktizierte Intermedialität: Deutsch-französische Porträts von Schiller bis Goscinny/Uderzo [1. Aufl.] 9783839413388

Dieser Band porträtiert Künstler und Wissenschaftler aus Deutschland und Frankreich, in deren Arbeiten intermediale Prak

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German Pages 370 Year 2015

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Praktizierte Intermedialität: Deutsch-französische Porträts von Schiller bis Goscinny/Uderzo [1. Aufl.]
 9783839413388

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Friedrich Schiller (1759-1805)
Gustave Flaubert (1821-1880)
Adolf Wölfli (1864-1930)
Hugo von Hofmannsthal (1874-1929)
Robert Musil (1880-1942)
Carl Einstein (1885-1940)
Kurt Schwitters (1887-1948)
Siegfried Kracauer (1889-1966)
Jean Cocteau (1889-1963)
Claude Simon (1913-2005)
Vilém Flusser (1920-1991)
René Goscinny/Albert Uderzo (1926-1977/*1927)
Gerhard Rühm (*1930)
Rolf Dieter Brinkmann (1940-1975)
W.G. Sebald (1944-2001)
Wim Wenders (*1945)
Frédéric Beigbeder (*1965)
Dietmar Dath (*1970)
Benjamin von Stuckrad-Barre (*1975)
Abbildungsverzeichnis
Tabula gratulatoria

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Fernand Hörner, Harald Neumeyer, Bernd Stiegler (Hg.) Praktizierte Intermedialität

Fernand Hörner (Dr.) ist Geschäftsführer am Frankreich-Zentrum der Universität Freiburg und Mitarbeiter am Institut für internationale Popularliedforschung, Freiburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Fragen der kulturellen und medialen Übersetzung, Diskursanalyse und Populärkultur. Harald Neumeyer (PD Dr.) ist Akademischer Rat für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Bayreuth. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Austauschbeziehungen zwischen Literatur und Wissenschaft sowie Literatur und mediale Anthropologie des 20. Jahrhunderts. Bernd Stiegler (Prof. Dr.) ist Professor für Literaturwissenschaft mit Schwerpunkt Literatur des 20. Jahrhunderts im medialen Kontext an der Universität Konstanz. Seine Forschungsschwerpunkte sind Geschichte und Theorie der Photographie und der Medien sowie die deutsche und französische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts.

Fernand Hörner, Harald Neumeyer, Bernd Stiegler (Hg.) Praktizierte Intermedialität. Deutsch-französische Porträts von Schiller bis Goscinny/Uderzo

Diese Publikation wurde unterstützt vom Kulturamt der Stadt Freiburg sowie von der »Vereinigung zur Förderung des FrankreichZentrums der Universität Freiburg i.Br. e.V.«.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Anton Giulio & Arturo Bragaglia, Typist, 1913, postcard, 9 x 14 cm, Malandrini Collection, Florence. In: Giovanni Lista (Hg.), Futurism & Photography, London 2001, S.23. Satz: Alexander Müller Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1338-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung

Fernand Hörner/Harald Neumeyer/Bernd Stiegler | 9 Friedrich Schiller (1759-1805) Günter Schnitzler (Freiburg) | 15 Gustave Flaubert (1821-1880) Joseph Jurt (Freiburg) | 37 Adolf Wölfli (1864-1930)

Christiane Weller (Melbourne) | 53 Hugo von Hofmannsthal (1874-1929) Bernhard Greiner (Tübingen) | 69 Robert Musil (1880-1942) Tim Mehigan (Otago) | 87 Carl Einstein (1885-1940) Joan Ibáňez (Barcelona) | 105 Kurt Schwitters (1887-1948) Wolf Kittler (Santa Barbara) | 119 Siegfried Kracauer (1889-1966) Dorothee Kimmich (Tübingen) | 145 Jean Cocteau (1889-1963)

Harald Neumeyer (Bayreuth) | 159 Claude Simon (1913-2005)

Thomas Klinkert (Freiburg) | 183 Vilém Flusser (1920-1991) Rolf Kailuweit (Freiburg) | 203 René Goscinny/Albert Uderzo (1926-1977/*1927) Fernand Hörner (Freiburg) | 215 Gerhard Rühm (*1930)

Ursula Renner-Henke (Duisburg-Essen) | 235

Rolf Dieter Brinkmann (1940-1975) Bernd Stiegler (Konstanz) | 249 W.G. Sebald (1944-2001)

Gerhard Fischer (Sydney) | 265 Wim Wenders (*1945)

Claude Winkler-Bessone (Paris) | 291 Frédéric Beigbeder (*1965) Kathrin Klohs (Freiburg) | 303 Dietmar Dath (*1970)

Franziska Bomski (Freiburg) | 319 Benjamin von Stuckrad-Barre (*1975)

Christa Karpenstein-Eßbach/Wolfgang Eßbach (Mannheim/Freiburg) | 341

Abbildungsverzeichnis | 361 Tabula gratulatoria | 365

für Rolf G. Renner zum 65. Geburtstag

Einleitung F ERNAND H ÖRNER /H ARALD N EUMEYER /B ERND S TIEGLER

Jede Produktion und Wahrnehmung von Zeichen steht in einem kultursemiotischen Bezugsfeld. ROLF G. RENNER

»Intermedialität« ist in den letzten Jahren ein Zentralbegriff der Medien-, Literatur- und Kulturwissenschaften geworden. In vielfacher Hinsicht hat er heute jenen der »Intertextualität« abgelöst, der in den Debatten des Strukturalismus und Poststrukturalismus, der Semiologie und der Diskursanalyse in programmatischer Weise eine Textorientierung der Theorie wie Praxis signalisierte, auch wenn dieser (glücklicherweise) mit der Flut an Texten, die jener hervorgerufen hatte, nicht konkurrieren kann.1 Beide Begriffe jedoch sind darüber hinaus von heuristischem Interesse und signalisieren nicht nur eine bestimmte Fragestellung der Forschung, sondern auch eine theoretische Grundeinstellung, die in vieler Hinsicht die Ergebnisse der Untersuchungen überwölbt. Mit anderen Worten: Die Konjunktur der Intertextualität in Folge der französischen Texttheorie ist auch Indikator einer eigentümlichen Ontologisierung des Textes, der Schrift oder der Zeichen, die sich in sehr unterschiedlichen Spielformen von Roland Barthes über Jacques Derrida bis Julia Kristeva und ihrer Rezeption in Literatur-, Kunst- und Kulturtheorien findet. Wenn man heute die Texte Barthes’, Derridas oder Kristevas der 1970er Jahre liest, so taucht man in ein Reich der Zeichen ein, in dem »écriture« und »différance«, das Begehren des Textes und das Spiel der Signifikanten regieren. Die Intertextualität proklamiert zudem, dass es kein »hors texte« gibt: Ein jeder Text verweist strukturell auf (alle) andere(n), wobei die Grenzen

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Zu den einschlägigen Konzeptualisierung der Intertextualität vgl. exemplarisch Ulrich Broich, Manfred Pfister (Hrsg.): Intertextualität. Formen der Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen 1985; Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur: Intertextualität in der russischen Moderne, Frankfurt a.M. 1990.

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der Zeichenwelt nicht nur jene unserer Welt sind, sondern darüber hinaus als solche gar nicht in den Blick geraten können. Das wogende Meer der schillernden Signifikanten scheint grenzenlos zu sein. Demgegenüber ist die Entdeckung der Intermedialität, die in der Theorie erst in den 1980er Jahren einsetzt,2 ein Indikator des theoretischen Befundes, dass Medien trotz ihrer Differenz immer schon als Verbund existieren und als solcher analysiert werden müssen. Das bedeutet eben auch, dass die Mediendifferenz primordial ist und es weniger um unabschließbare Verweisketten als umbenenn-, identifizier- und ausweisbare Zeichenpraxen geht. Mit anderen Worten: Intertextualität ist ein Spiel mit der Pluralität klassischer Ordnungskategorien wie Text, Autor, Werk oder Schrift. Sie zielt letzten Endes auf deren Auflösung. Die Intermedialität hingegen spielt auch mit den verschiedenen Medien, Künsten und Gattungen sowie mit den historischen und pragmatischen Kontexten ihrer Produktion wie Rezeption. Intermedialität geht es um ästhetische, epistemische und mediale Strategien. Sie zielt auf funktionale Verschiebungen.3 Analysiert man diese Praktiken der Intermedialität, denn sie ist vor allem anderen eine Praxis, so kann dies – in eher systematischer Absicht – synchron oder aber diachron geschehen. Auf der einen Seite geraten Kunstwerke in den Blick, die sich programmatisch als Verbindung unterschiedlicher Medien verstehen: Das Spektrum reicht hierbei, um nur einige wenige Beispiele zu nennen, von dem Konzept des Gesamtkunstwerks und der auch in den Avantgarden virulenten Idee der Synästhesie bis hin zur Konzept-Kunst, der Fluxus-Bewegung und aktuellen Medienexperimenten. Alle diese Kunstwerke können – für sich genommen – in ihren spezifischen intermedialen Übersetzungsformen analysiert und dargestellt werden. Dabei zeigt sich, dass eine Auseinandersetzung mit den Künsten des späten 18. und des 19., sicher aber des 20. und 21. Jahrhunderts notwendigerweise auch eine inter-

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Der Begriff scheint erstmals in den 1960er Jahren aufzutauchen. »Intermedia« hingegen hat eine längere Geschichte, findet sich bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts und dann verstärkt im Kontext der Fluxus-Bewegung. Zur Theorie der Intermedialität vgl. den umfangreichen Band Joachim Paech, Jens Schröter (Hrsg.): Intermedialität – Analog/Digital: Theorien – Methoden – Analysen, München 2007; Gundolf S. Freyermuth (Hrsg.), Intermedialität, Transmedialität, Köln u.a. 2007; Irina O. Rajewsky, Intermedialität, Tübingen u.a. 2002; Mathias Mertens, Forschungsüberblick »Intermedialität«. Kommentierungen und Bibliographie, Hannover 2000. Vgl. auch weitere Hinweise in Fußnote 9. Vgl. allg. den informativem wie instruktiven Artikel »Intermedialität« von Jens Schröter: http://www.theorie-der-medien.de/text_detail.php?nr=12, Zugriff: 26. 2.2010

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mediale Perspektive einzunehmen hat, will sie die besondere Leistung des jeweiligen Kunstwerks in den Blick nehmen. Auf der anderen Seite gerät aber auch, wenn man diachron arbeitet, ein Aspekt in den Blick, den man als Geschichte der Wahrnehmung bezeichnen könnte. Betrachtet man das Phänomen der Intermedialität als dezidiert geschichtliches in seiner konkreten historischen Praxis, so fällt auf, dass es, wie Rolf G. Renner zurecht betont, »einen wahrnehmungstheoretischen, einen ästhetischen und einen technischen Aspekt« hat.4 »Die Bestimmung von Intermedialität«, so folgert er, »muß den historischen Vorgang des Medienwechsels ebenso wie die Interaktion und wechselseitige Transformation der Medien selbst ins Auge fassen.«5 Deutlich wird in dieser Interaktion, dass es nicht nur zu signifikanten Verschiebungen von Systemplätzen der Künste kommt, die durch Analyse dieser Interaktion überhaupt erst erkennbar werden. Zugleich geht es um eine radikale Neuakzentuierung des Abbildungsparadigmas und um eine Geschichte der Subjektivität und der menschlichen Wahrnehmung, die in je unterschiedlicher Weise Ausgangs- und Zielpunkt der ästhetischen intermedialen Praxis ist. Zwei Beispiele hierzu. In den Avantgarden der 1920er Jahre wird einerseits eine neue Form der Alltagswahrnehmung konstatiert, die meist durch den Topos der Großstadtwirklichkeit mit Simultanität und Akzeleration, Entfremdung und Überlagerung begründet wie veranschaulicht wird, um daraus dann andererseits auch eine neue intermediale ästhetische Praxis abzuleiten, die nur durch die radikale Absetzung von der Tradition zeitgemäß sein kann und deren Aufgabe es ist – so zumindest in der Vorstellung der Theorien –, den Schleier von den Augen zu reißen, den die alten Kunstformen mit ihren Konventionen über sie gebreitet haben. Weil die Wahrnehmung sich radikal verändert hat, müsse dies, so etwa Rodcenko, MoholyNagy oder Hausmann unisono, nun auch die Kunst tun, um dann ihrerseits wiederum die Wahrnehmung zu verändern. Die Tradition verstelle die Wirklichkeit, weil sie sich wie ein Filter vor oder über die Wahrnehmung gelegt habe (man kann sich diesen Gedanken durchaus verdeutlichen, wenn man die verwendete Metapher buchstäblich nimmt und sich eine Kamera vorstellt, vor deren Objektiv diverse Filter angebracht werden), die daher nicht bis zu den Dingen vordringen könne. Abhilfe können nur »unbelastete« technische

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Rolf G. Renner: Einleitung zum Kapitel zu »Intermedialität«, in: Dorothee Kimmich, Rolf G. Renner und Bernd Stiegler (Hrsg.), Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart, Stuttgart 2008, S. 423-431, S. 423f. Gegen eine feste Grenzziehung zwischen den verschiedenen künstlerischen Medien argumentiert Renner auch in seinem Aufsatz: »Intermediality and the Simulation of Space«, in: Seminar: A Journal of Germanic Studies 43/4 (2007), S. 385-397. Ebd., S. 424.

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Medien wie Photographie oder Film schaffen, die daher in höchst emphatischer Weise als Medien eines »Neuen Sehens« bestimmt werden. Diese Neubestimmung führt dann auch zu einer Neuakzentuierung der unterschiedlichen Künste: Die Photographie und der Film erhalten mit einem Mal im Feld der Künste eine herausragende Position zugewiesen, wird ihnen doch die mimetische Funktion zugeordnet, während die Aufgabe der Malerei vor allem in der Abstraktion gesehen wird. Gleichzeitig soll eine nachgerade ästhetische Erziehung programmatisch umgesetzt und der Betrachter gewissermaßen neu programmiert werden.6 Das Aufkommen der Physiologie im 19. Jahrhundert, die in weiten Teilen der Kunst intensiv rezipiert wird, ist ein weiterer Beleg für die Bedeutung einer Revolutionierung der Wahrnehmung als solcher, die sich als historische Variable erfährt. Dementsprechend vermerkt Rolf G. Renner: »Die Erforschung der psychischen, physiologischen und physikalischen Bedingungen des Sehens läßt zugleich den Anteil kultureller Codierungen jeder Wahrnehmung erkennen.«7 Diese werden überhaupt erkennbar durch die Untersuchungen der konkreten intermedialen Praxis einerseits wie durch die komplexe Rezeption von klassischen Texten oder Theorien der Physiologie in den Künsten andererseits. Man kann die Interferenz von Kunst und Physiologie der Anschaulichkeit willen durchaus paarweise anordnen: Gustave Flaubert und Hippolyte Taine, die Wiener Moderne und Ernst Mach, der Naturalismus und die materialistischen Theorien von Jacob Moleschott bis Ludwig Büchner und last but not least die Rezeption von Hermann von Helmholtz in der piktorialistischen Photographie zwischen 1890 und 1910. Die derzeit zu konstatierende Omnipräsenz des Begriffs Intermedialität ist ein Zeichen für den cultural turn der vergangenen Jahrzehnte.8 Viele der großangelegten Forschungsprojekte der letzten Jahre, die sich u.a. Kulturen des Performativen, Medienumbrüchen, der ästhetischen Erfahrung, der Differenz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit oder dem Realen widmen und gewidmet haben, verstehen sich dezidiert als kulturwissenschaftliche wie intermediale Projekte. Das Spektrum reicht dabei von Arbeiten zur Medien-

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Diese Position vertreten, um drei ästhetisch wie politisch sehr unterschiedliche Beispiele zu nennen, etwa Laszlo Moholy-Nagy, Raoul Hausmann und Alexander Rodcenko, auch wenn ihr jeweiliges Ausbuchstabieren des Programms sehr unterschiedlich ausfällt. Vgl. dazu expl. Bernd Stiegler, Theoriegeschichte der Photographie, München 2006. Rolf G. Renner: Einleitung zum Kapitel zu »Intermedialität«, S. 428. Vgl. hierzu Doris Bachmann-Medick: Cultural turn. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, 3. neu bearbeitete Auflage, Reinbek 2009. Wobei Intermedialität keineswegs im so genannten pictorial bzw. iconic turn aufgeht.

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konkurrenz, über detaillierte kultur-, literatur-, und medienhistorische Untersuchungen zu einzelnen Autoren oder Texten und auch Arbeiten zu Literaturverfilmungen, zur Oper und zu künstlerischen Avantgardeprojekten bis hin zu zeichentheoretischen Entwürfen und Analysen von Bildern in naturwissenschaftlichen Publikationen. Der von Joachim Paech und Jens Schröter herausgegebene umfangreiche Band Intermedialität unternimmt eine eindrucksvolle Bestandsaufnahme der aktuellen Debatten wie auch deren Ergebnisse.9 Die forcierte Beschäftigung mit Aspekten der Intermedialität ist schließlich Konsequenz der bereits in Walter Benjamins Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit formulierten Annahme einer Historizität der menschlichen Wahrnehmung, auf die oben bereits kurz eingegangen wurde. Der Medienwandel wird dabei als Indikator eines Wandels der Wahrnehmung, aber auch der kulturellen und gesellschaftlichen settings verstanden: Intermedialität ist ein Seismograph kultureller Umbrüche. Konsequent kennzeichnet der Begriff »Intermedialität« »nicht nur das Überschreiten von Mediengrenzen«. Er impliziert auch »grundsätzlich jede Berührung kulturell kodierter Kommunikationssysteme«,10 sodass eine Analyse von intermedialen Konstellationen immer auch einen Blick auf die historisch variablen Bedingungen und Regeln der Wahrnehmung ermöglicht. Der vorliegende Band zielt weniger auf vermeintliche mediale Voraussetzungen kultureller Konstellationen, mediale Umbrüche oder theoretisch schillernde intermediale Performanz. Vielmehr möchte er ganz konkrete Beispiele von »praktizierter Intermedialität« vorstellen. Es wird demnach der Versuch unternommen, Intermedialität nicht über vorgängige kultur-, medien- oder literaturwissenschaftliche Theorien, sondern über die Praxis in den Blick zu nehmen. Dazu werden in kurzen Portraits Künstler und Theoretiker aus Deutschland und Frankreich vorgestellt, die etwa zugleich als Maler, Schriftsteller, Musiker, Regisseure, Photographen tätig waren bzw. sind und die die von ihnen praktizierte Form der Intermedialität als Ausdruck theoretischer, ästhetischer und epistemischer Annahmen verstanden bzw.

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Joachim Paech, Jens Schröter (Hrsg.): Intermedialität – Analog/Digital. Vgl. auch Peter V. Zima (Hrsg.): Literatur intermedial: Musik – Malerei – Photographie – Film, Darmstadt 1995; Jörg Helbig (Hrsg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets, Berlin 1998; Herbert Foltinek, Christoph Leitgeb (Hrsg.): Literaturwissenschaft: intermedial – interdisziplinär, Wien 2002; Günter Schnitzler, Edelgard Spaude (Hrsg.): Intermedialität. Studien zur Wechselwirkung zwischen den Künsten, Freiburg 2004; Jürgen E. Müller (Hrsg.): Media Encounters and Media Theories, Münster 2008. 10 Rolf G. Renner: Einleitung zum Kapitel zu »Intermedialität«, S. 430.

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verstehen. Durch diese Portraits soll ein Panorama entstehen, das die unterschiedlichen Formen praktizierter Intermedialität als konkrete mediale Praxis und als Ausdruck bestimmter theoretischer, poetologischer oder epistemischer Annahmen anschaulich aufzeigt. Wenn etwa E.T.A. Hoffmann in den Bereichen der Musik wie der Literatur gleichermaßen aktiv ist, so ist dies nicht nur ein Zeichen für eine bestimmte Funktion, die er diesen unterschiedlichen medialen wie künstlerischen Feldern zuweist, sondern hat auch Konsequenzen für das jeweilige andere Feld. Die Musik hinterlässt ihre Spuren in der Literatur und die Literatur die ihren in der Musik. Darüber hinaus erweist sich die Arbeit in beiden Bereiche als Effekt spezifischer ästhetischer Modelle, Wirklichkeitsdeutungen und Wahrnehmungskonzepte, die dann notwendig in Musik und Literatur umgesetzt werden. Die Praxis ist auch hier der Lackmustest der Theorie. Gegenstand des mit diesem Band erstmals anvisierten Panorama praktizierter Intermedialität, das mehr als zwei Jahrhunderte von Friedrich Schiller bis Benjamin von Stuckrad-Barre umfasst und dabei Künste bzw. Medien wie Oper und Comic, Literatur und Bildende Kunst, Radio und Film präsentiert, sind keineswegs klassische Doppelbegabungen.11 Erörtert werden sollen Spielformen medialen Experimentierens, das nicht notwendig immer als ästhetisch oder wissenschaftlich gelungen angesehen werden muss. Mitunter gehört das Scheitern, wenn man etwa an die zahllosen Experimente August Strindbergs in höchst unterschiedlichen Bereichen denkt oder auch an die zahlreichen Zeichnungen Roland Barthes wie auch an seinen aufgegebenen Versuch, einen Roman zu schreiben, mit zum Programm. Doch Scheitern kann produktiv und instruktiv sein. Auch das ist eine Lehre, die wir aus der praktizierten Intermedialität ziehen können. In jedem Fall produktiv war die Zusammenarbeit mit dem Förderverein des Frankreich-Zentrums und dem Kulturamt der Stadt Freiburg. Beiden sei, neben den Gratulanten, für die großzügige finanzielle Unterstützung bei der Drucklegung dieses Bandes gedankt.

11 Vgl. hierzu Henry I. Schvey: »Doppelbegabte Künstler als Seher: Oskar Kokoschka, D.H. Lawrence und William Blake«, in: Ulrich Weisstein (Hrsg.): Literatur und bildende Kunst. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eins komparatistischen Grenzgebietes, Berlin 1992, S. 73-85.

Friedrich Schiller G ÜNTER S CHNITZLER (F REIBURG )

Es ist sicherlich kein Zufall, dass schon in den frühesten dichterischen Zeugnissen Schillers die »praktizierte« Intermedialität eine entscheidende Rolle spielt, denn hier wird ein sich bis in die Spätzeit erhaltender Wesenszug seines Schaffens sinnfällig, das sich von vornherein von medialen Grenzüberschreitungen intensivierende Wirkungen erhofft. In erster Linie beziehen sich diese intermedialen Versuche auf eine Verschränkung zwischen Dichtung und Musik, aber auch auf eine solche, die noch das Sichtbare, Nonverbale und damit die Theatralität und Performanz in diese Wechselwirkung einbezieht oder aber auch ohne die Musik die Wirkung der Sprache in einem ausgeklügelten theatralen Spiel, das sich nicht selten der Möglichkeiten Bildender Kunst versichert, zu verdichten trachtet. Exemplarisch zeigen sich diese medialen Grenzüberschreitungen bereits in der frühen »lyrischen Operette« Semele.

I. Schiller setzt in seiner Semele – gleichgültig, ob sie vertont und aufgeführt wird oder nicht – die Wesenhaftigkeit der möglicherweise nur im Vorstellungsvermögen des Autors beteiligten Künste geradezu experimentell ein und nimmt dabei in ihren Wechselwirkungen als Wirkungsästhetiker Möglichkeiten wahr, den Ausdruck zu intensivieren und zusätzliche Dimensionen, etwa der Simultaneität des Gegensätz-lichen und Entlegenen, zu erschließen, die der Wortsprache alleine nicht zur Verfügung stehen. Erstmals in Schillers Anthologie auf das Jahr 1782 publiziert, legt die Entstehungszeit der Semele 1779-1781,1 die weitgehend mit der der Räuber zusammenfällt,

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In der Nationalausgabe wird diese später datiert als etwa von Luserke-Jaqui, der jener Darstellung abspricht, Belege geboten zu haben. (Vgl. Semele, in: Schillers

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nahe, dass der Autor hier bevorzugt die Themen und Anliegen medial verdichtet zu gestalten trachtet, die im Horizont seines Beitrags zum »Sturm und Drang« wahrzunehmen sind. Trotz der rühmenden Erwähnung Tomas Manns, der 1955 sogar in dieser »Operette« im Rückblick auf seine eigene Entwicklung die »erste literarische Liebe« wahrnimmt,2 ist dieses Werk lange Zeit von der Forschung geradezu stiefmütterlich behandelt worden. Erst in den letzten Jahren scheint sich im Zuge einer genauere Untersuchung der Theatralität, besonders im späten 18. Jahrhundert,3 das Interesse nun eher verstärkt auf diese lyrische Operette von zwo Szenen4 zu legen. Es bleibt indessen hinsichtlich der Gattungszuordnung ein schwer zu interpretierendes Werk deshalb, weil eine Aufführung zu Schillers Lebzeiten nicht nachweisbar ist und auch darüber hinaus keine Musik zu dieser »Operette« existiert.5 Dies hat nun in der Forschung zu recht unterschiedlichen und partiell sogar abenteuerlichen Gattungs-Deutungen geführt, die eine Bandbreite ausfüllen von der Bestimmung des Werkes als ein präzise gestaltetes Libretto, zu dem eigentlich der Schiller-Vertraute und -Mitschüler Zumsteeg die Musik hätte komponieren sollen,6 bis hin zur Vor-

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Werke. Nationalausgabe, 5. Band, Neue Ausgabe, hrsg. v. Herbert Kraft u.a., Weimar 2000, S. 510, Matthias Luserke-Jaqui: Über Literatur und Literaturwissenschaft. Anagrammatische Lektüren. Tübingen 2003, S. 155). Thomas Mann: »Versuch über Schiller«, in: ders., Nachlese. Prosa 1951-1955 (Stockholmer Gesamtausgabe der Werke von Thomas Mann), Berlin, Frankfurt a. M. 1956, S. 57-140, S. 118-119. So etwa die aufschlussreiche, großartige Studie von Jörg Krämer: Deutschsprachiges Musiktheater im späten 18. Jahrhundert. Typologie, Dramaturgie und Anthropologie einer populären Gattung, 2 Bde., Tübingen 1998, Detlef Altenburg/Lorenz Jensen: »Schauspielmusik«, in: Musik in Geschichte und Gegenwart, Sachteil, Bd. 8, Sp. 1035-1049, und Detlef Altenburg: »Das Phantom des Theaters. Zur Schauspielmusik im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert«, in: HansPeter Bayerdörfer, Stimmen. Klänge. Töne. Synergien im szenischen Spiel. Tübingen 2002, S. 183-208. Auf die Gattung verweisender Untertitel in der Erstveröffentlichung Anthologie auf das Jahr 1782, Stuttgart 1782, S. 199-243. Zudem hat sich Schiller, der nicht selten zu sogar überzogenen Akten der Selbstinterpretation neigt, sich über dieses Werk und die mit ihm verbundenen Absichten, bis auf eine sehr kritische briefliche Stellungnahme vom 30.4.1789 gegenüber Caroline von Beulwitz und Charlotte von Lengefeld, offensichtlich niemals geäußert. Vgl. Hermann Fähnrich: Schillers Musikalität und Musikanschauung, Hildesheim 1977, S. 17.

F RIEDRICH S CHILLER | 17

stellung einer gesellschaftskritisch-parodistischen »Leseoperette«7 oder eines Werkes, das mit den Mitteln der Sprache die Musik zu vergegenwärtigen trachtet.8 Alle diese Auslegungen haben fraglos Argumente auf ihrer Seite, und keine kann eine allein gültige Lesart für sich beanspruchen; vielmehr dürfte gerade der Reiz Semeles dadurch besonders gesteigert werden, dass dieses Werk von all diesen Gattungszuschreibungen etwas hat und letztlich das Schillernde dessen exemplarisch vorstellt, das sich für alle Medien im Sinne jener Theatralität offenhält, die die Aufführungen in Stuttgart zur Zeit Schillers charakterisiert haben: Opernhaftes in Dramen, Dramatisches in den Opern, Musik im Sprechtheater ganz im Sinne der offenen Medien. Die neueren Forschungen zur Theatralität und zu den an Bühnen üblichen Gepflogenheiten zur Zeit Schillers lassen jedoch deutlich werden, dass die Voraussetzungen, unter denen etwa Finscher zu seiner Bestimmung der Semele als »Wortoper« gelangt, keineswegs stichhaltig sind. Eine scharfe mediale Grenzziehung, die präzise zwischen genau festgelegten Opern- oder Singspieltypen zu unterscheiden vermag, hat es gerade in der Entstehungszeit der Semele, zumal am Stuttgarter Theater, an dem Jommelli und dann auch Zumsteeg tätig waren, eben nicht gegeben. Man muss vielmehr von medialen Überlappungen oder multimedialen Theaterereignissen ausgehen, bei denen etwa zwischen Melodram, Singspiel, Comédie-ballet, sogar Ballett, verschiedenen Opern- und Operettenformen und auch Schauspiel ebenso wenig grenzscharf zu unterscheiden ist wie zwischen den unterschiedlichen Möglichkeiten, Musik auf der Sprechbühne einzubinden und mit der Wortsprache in einen wechselwirkenden Zusammenhang zu bringen. Unter diesen Voraussetzungen, dass selbst das Sprechtheater sich zur Musik in der Zeit Schillers in erstaunlicher Weise nicht nur offen hält, sondern sogar von sich aus die Musik konkret beruft und herbeisehnt, lässt sich überhaupt erst die Semele und auch Schillers Einstellung zur Bühne gerade in der intermedialen 7

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Diese wird in der Nationalausgabe (wie Anm. 1) S. 500, keineswegs überzeugend, propagiert. Der Text der Semele wird im Folgenden geboten nach Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 2, hrsg. v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München 1981, S. 1033-1052; im Text künftig mit der Angabe des Verses. Dies entwirft etwa – durchaus zu Widerspruch reizend – Ludwig Finscher: »Was ist eine lyrische Operette? Anmerkungen zu Schillers Semele«, in: Schiller und die höfische Welt, hrsg. v. Achim Aurnhammer u.a., Tübingen 1990, S. 148-155, S. 153-155. Zu erwähnen ist auch noch die Theorie der doppelten Lesart von Matthias Luserke-Jaqui, Literatur und Literaturwissenschaft, S. 175. In diesem Zusammenhang noch wichtig: Ethery Inasaridse: Schiller und die italienische Oper. Frankfurt a. M. u.a. 1989, S. 39-47, die eindrückliche Auslegung von Christa Vaerst-Pfarr: »Semele – ›Die Huldigung der Künste‹«, in: Walter Hinderer (Hrsg.), Schillers Dramen. Neue Interpretationen, Stuttgart 1979, S. 294-315 und Matthias Sträßner: Tanz-Meister und Dichter. Berlin 1994, S. 198-213.

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Verknüpfung und Wirkung verstehen. Der Autor unterstreicht diese bewusste und intendierte multimediale Offenheit dadurch, dass er mit der Gattungszuschreibung »lyrische Operette« eine Form beruft, die es nicht gibt und deren Benennung schon in sich das Nichtfestgelegte zeigt: »Operette«, so macht das in der Schiller-Zeit immer noch gültige Universal Lexicon von Johann Heinrich Zedler deutlich, ist kein festgelegter Gattungsbegriff, sondern kann »kleine Oper«, aber auch »Singspiel« bedeuten, und selbst die an der Opéra comique aufgeführten bürgerlichen Stücke wurden Operetten genannt.9 Auch die vermeintliche Präzisierung durch das Adjektiv »lyrisch« verstärkt das Unentschiedene, denn »lyrisch« kann von der »gebundenen Rede« über »Gedichtetes« bis hin zum »Musikalischen« und »Gesungenen«10 sehr vieles bedeuten: Schillers vermeintliche Gattungsbezeichnung signalisiert also gerade die mediale Vielfalt, Dichte und Grenzoffenheit. Es kommt weniger darauf an, ob Schillers Operette wirklich für eine Aufführung mit Musik bestimmt war und aufgeführt wurde, sondern dass der Autor in diesem Werk eine besondere Dichte in der Wechselwirkung zwischen allen Medien auch dann gestaltet hat, wenn die szenisch-visuelle Vergegenwärtigung wie die musikalische Realisierung sich nur in der Einbildungskraft des Autors abzuspielen vermögen. Schiller traut der intermedialen Vergegenwärtigung – theaterpraktisch oder in der Vorstellung – etwas zu, das er im reinen Schauspiel vermisst. Entschieden, zugespitzt und konstitutiv arbeitet Schiller in der Semele mit den Möglichkeiten intermedialer Wechselwirkungen, zumal der Wirkungsmacht der daran beteiligten Musik. In dieser intermedialen Bezüglichkeit vermag die Musik in Bereiche zu leiten, die den anderen Künsten verwehrt sind, weil sie keine derartigen Wirkungen zu erreichen vermögen. Es kommt durch sie zu Situationen, die in sich deshalb eine besondere Spannung und Intensität tragen, weil die Gegenwärtigkeit des Sichtbaren mit der intensivierenden Kraft der Musik Augenblicke von exzeptioneller Eindrücklichkeit vorzustellen vermag: Kämpfe, Liebesgefühle, Schmerz: dies alles vergegenwärtigt sich so unmittelbarer und nachdrücklicher als in jedem reinen Sprechdrama. Der Gedanke, sich eine eigene Wirklichkeit und Welt zu schaffen, die die Grenzen des bloß Deskriptiven durchbricht, sich nicht im bloßen positivistischen Beschreiben, sondern in der Öffnung zum Umfassenden, Metaphysischen und auch zum Unmittelbaren zu betätigen, – dies ist etwas, das in der Musik am ehesten möglich wird. Da dieses aber nicht ganz vom Raumzeitlichen unserer Welt getrennt sich verwirklichen darf, weil alle 9

Vgl. dazu auch den Kommentar in der Nationalausgabe (wie Anm. 1), S. 525-526 und Johann Heinrich Zedler: Großes vollständiges Universallexikon, Stichwort »Singspiel«. 10 So etwa Christa Vaerst-Pfarr, »Die Huldigung der Künste«, S. 313.

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Bereiche des Innen wie Außen, der Unmittelbarkeit und auch Vermittlung umfasst werden sollen, bietet sich wiederum die von Schiller intendierte Medienverbindung an, die in ihrer doppelten Fiktionalität die Schranken zum Metaphysischen durchbrechen und dennoch im Hier und Jetzt anheben kann. Man sieht leicht, dass diese wenigen theoretischen Andeutungen in Wahrheit schon auslegende Hinweise auf Semele in sich bergen. Schiller bietet in seiner »lyrischen Operette« eine Fülle von Hinweisen, die das Szenische, das Nonverbale im Blick und in Bezug auf den Text und die Musik gezielt und umfassend einsetzen – eine Besonderheit, die dem Jugendfreund, Komponisten und späteren Klavier-Bauer Andreas Streicher schon aufgefallen war, der in seiner Erinnerungsschrift Schillers Flucht von Stuttgart nach Mannheim und Aufenthalt in Mannheim von 1782-1785 bezüglich der Semele hervorhebt: »Auch dichtete er, ausser vielen andern Sachen, in diesem Zeitpuncte eine Oper Semele, die so großartig gedacht war, daß, wenn sie hätte aufgeführt werden sollen, alle Mechanische Kunst des Theaters damaliger Zeit, und man darf sagen, auch der jetzigen, nicht ausgereicht haben würde, um sie gehörig darzustellen.«11

Nun mag es sein, dass Andreas Streicher in seinen vierzig Jahre nach der gemeinsamen Flucht verfassten Erinnerungen nicht mehr alle Gegebenheiten des Stuttgarter Theaters präsent waren,12 das in der Zeit Jommellis aufgrund einer großartigen Ausstattung offensichtlich kaum Probleme mit aufwendigen Inszenierungen hatte,13 zumal mit Huldigungsspielen auf den Herzog Karl Eugen und die Reichsgräfin Franziska von Hohenheim. Aber selbst wenn man diese mögliche Unschärfe in Rechnung stellt, bleibt von der Äußerung Streichers zumindest dasjenige wohl unbestreitbar gültig, dass Schiller in seiner »Oper« Semele deutlich auf die visuellen, szenischen Möglichkeiten setzt, und das bedeutet, dass der nonverbalen Mitteilung in diesem

11 Erstmals erschien diese Erinnerungsschrift, die u. a. über die gemeinsame Flucht aus Stuttgart berichtet, 1836 in Stuttgart/Augsburg. Hier zitiert nach der Ausgabe Andreas Streicher: Schillers Flucht, Stuttgart 1959, S. 26. 12 Dies behauptet zumindest der insgesamt recht einseitig argumentierende und sehr eng in Schillers Semele ausschließlich eine politisch motivierte Persiflage auf die damaligen Huldigungsspiele wahrnehmende Kommentar in der Nationalausgabe, S. 500ff. Natürlich ist in Semele auch ein gewichtiges Stück Herrschaftskritik des Stürmers und Drängers Schiller gegenwärtig, doch das ist nur eine Lesart, und, hinsichtlich der Bedeutung dieses Werkes überhaupt, sicherlich nicht die wichtigste. 13 Vgl. dazu die umfassende Dokumentation und Darstellung von Reiner Nägele (Hrsg.): Musik und Musiker am Stuttgarter Hoftheater (1750 - 1918), Stuttgart 2000.

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Werk eine besondere Aufgabe zuwächst – selbst dann, wenn es zu gar keiner Theaterrealisierung in der Zeit Schillers gekommen ist. Zu erinnern ist aber auch daran, dass Streicher ja nicht der einzige Komponist war, der zu den besonders engen Freunden seiner Sturm und DrangZeit zählte: eine Besonderheit, die nicht ohne Einfluss auf die Semele und die anderen sich vielfältig der Musik öffnenden Werke – nicht nur – dieser Zeit geblieben sein dürfte. Schiller wurde im Juni 1781 Andreas Streicher14 vorgestellt, und zwar durch die Vermittlung eines anderen Komponisten: sein Mitschüler an der herzoglichen Akademie und enger Freund Johann Rudolf Zumsteeg, der nicht nur durch ansprechende Goethe-Vertonungen berühmt wurde, sondern auch schon für Die Räuber Gesangsnummern geschrieben hatte. Zumsteegs Kontakte zu Schiller blieben auch später in einem sehr vertrauten Tone bestehen; dies zeigen die Briefe, etwa der vom zwölften Februar 1800 an Schiller, in dem Zumsteeg unverblümt um eine Veränderung des Gedichtes An die Freude nachsucht, um es besser vertonen zu können.15 Es scheint unter der Voraussetzung, dass Schiller Zeit seines Lebens beim Schreiben seiner Texte darüber in ständigem produktiven Gedankenaustausch mit Vertrauten stand, geradezu undenkbar, dass er nicht mit Zumsteeg und – möglicherweise nach einem ersten, durchaus vorläufigen Abschluss der »lyrischen Operette« im März 178116 – mit Streicher über die Semele gesprochen hat und von beiden nicht nur Hinweise auf eine musikalische Ausgestaltung, sondern auch bedeutsame Winke auf die genaue Positionierung von Arien, Rezitativen und Inzidenzmusiken sowie sicherlich auch musikgestützte szenische Effekte erhalten konnte. Selbst wenn er Streicher nicht mehr in die produktionsästhetische Phase eingebunden hat oder nicht mehr einbinden konnte: dass sich der Komponist gerade an das Werk gut erinnern kann, das an seinem eigenen Medium der Musik von allen Schiller-Texten am entschiedensten partizipiert, ist gewiss und damit gewinnt auch jener Hinweis auf die bedeutsame Funktion des Nonverbalen in

14 Streicher hatte aber schon am 15. Dezember 1780 beim Stiftungsfest Schiller aufmerksam und sehr beeindruckt zur Kenntnis genommen – auch wenn es noch nicht zu einem Gespräch zwischen beiden kam. Das berichtet Streicher in seinen Erinnerungen. Vgl. dazu etwa auch Rüdiger Safranski: Schiller oder Die Erfindung des Deutschen Idealismus, München/Wien 2004, S. 98ff und S. 138. 15 Streicher, der sich später mehr auf den Unterricht und, nach seiner Eheschließung mit Nannette Stein, sehr erfolgreich auf das Klavierbauen verlegte (Goethe besaß u. A. ein Instrument aus dem Hause Streicher, das heute noch zu Tonaufzeichnungen genutzt wird), gehörte mit seiner Frau zu den wenigen späten Vertrauten Beethovens. 16 Diesen Termin setzt die auch in der Darstellung der Entstehungsgeschichte nicht völlig überzeugende Nationalausgabe, S. 505.

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der »Oper« wieder an Authentizität, – ein Hinweis überdies, der sich jederzeit am Text belegen lässt. Fähnrichs Vermutung, dass Zumsteeg als Komponist der Semele vorgesehen war, ist zwar nicht belegt, gewinnt aber unter den hier angedeuteten Voraussetzungen und auch eingedenk dessen, dass Streicher – vielleicht als Folge seines Austausches mit dem ihm vertrauten Zumsteeg und natürlich mit Schiller selbst – von »Oper« spricht, zweifellos eine gewisse Plausibilität.17 In den Saal des großartigen königlichen Palastes zu Theben stürzt effektvoll die zornentflammte Juno aus der Götterwelt; sie wird von ihrem prachtvollen Pfauenwagen gebracht, umgeben von einer »hellen niederfließenden Wolke« (vor V. 1). Die tief verletzte, auf Rache sinnende Göttin erscheint mit allen Insignien ihrer Macht, die nicht von dieser Welt ist: sie gebietet herrisch Wagen und Wolken, die augenblicklich wieder »verschwinden«, gibt ihrem extremen Hass und Zorn freien Lauf, lässt ihre Eifersucht und ihre Racheabsicht gegenüber dem »sterblich schwache[n] Weib« Semele (V. 9) sinnfällig werden und gibt in der von Schiller im Text angekündigten »Arie« (V. 17ff.) über sich selbst, ihre Vorgeschichte und die des kommenden Geschehens Auskunft, vermehrt die bereits angesprochenen Themen noch um diejenigen der Schönheit und Vergänglichkeit (V. 40f.), Göttertum und Menschenwelt (V. 48ff.), Macht, Geheimnis und Intrige (V. 51ff.). Weiterhin ist auch unausgesprochen der für Schiller so bedeutsame thematische Zusammenhang von Macht und Ohnmacht gegenwärtig: Das machtvolle Erscheinen der Juno steht in diametralem Gegensatz zu ihrer Machtlosigkeit gegenüber dem sie betrügenden Zeus, den sie später nur durch einen intriganten Plan gegenüber der zwar schönen, aber zugleich nicht allzu klugen, von Prachtvorstellungen ihrer vielleicht bevorstehenden Vergöttlichung benebelten Semele, wieder an ihre Seite zu zwingen vermag – eine Wende, die Schiller indessen in Semele ebenso vorenthält wie den Tod der frevelnden Geliebten, obwohl dieser am Ende unausweichlich ist. Juno trägt noch einen weiteren merkwürdigen Gegensatz in sich: einerseits lässt sie in der die Vorgeschichte nachholenden »Arie« keinen Zweifel daran, dass sie den moralisch von ihr verurteilten, frevelnden Zeus (V. 8) nicht nur wegen Semele, sondern einer Fülle anderer Liebschaften für ihren Gram und den Verlust ihres Stolzes klagend verantwortlich macht und deshalb bekämpft, andererseits aber ist es gerade dieser frevelnde, von ihr angeklagte Zeus, aus dessen Existenz sie ihre eigene königliche Würde und ihren Stolz herleitet: »Bin ich nicht Fürstin der Götter? […] Nicht des Flammenschleuderers Frau?« (V. 3032). In dieser Selbstaussprache, von Schiller bewusst »Arie« überschrieben, offenbart sich Juno als von Gegensätzen gekennzeichnete Gestalt, die ihre erst durch die Aufklärung und deren Beglaubigung der Subjektivität möglich 17 Vgl. Fähnrich, Schillers Musikalität, S. 17.

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gewordene antikenferne Selbstanalyse zugleich verbindet mit einer Reflexion über den Dramenkonflikt. Dies geschieht in der Weise der von Goethe stets gerühmten Schillerschen Präzipitation, der unausweichlichen, unerbittlichen Spannung zu einem Ende hin: Der Racheplan wird der Arie folgend, wohl in einem Rezitativ, benannt, die Vorgeschichte ist vergegenwärtigt und alles drängt nun unaufhaltsam zu einer Realisierung des Rachegedankens: Das Geistige erfordert die Tat. In der Exposition ist in der spezifischen spannungsvollen Verdichtung Schillers bereits das gesamte Werk enthalten, und alles weitere ergibt sich notwendig aus diesem Einsatz: Der hier mitreißend entwickelte, titanische Plan der Juno drängt im Sinne eines »Ich werde – ich will« in der Folge unweigerlich zur Einlösung. Dabei steckt im Vollzogenen schon die Konsequenz des nächsten Schritts: Alles ist sogar bereits schon entschieden: es muss nur noch vollzogen werden. Jeder Vorfall, jeder Satz, jedes Geschehen birgt in dieser mitreißenden, spannungsvollen wie unausweichlichen Präzipitation in sich bereits die Notwendigkeit des nächsten Schritts. Es schließt sich nach dem Auftritt der Semele das grandiose, an viele andere Werke Schillers erinnernde Macht- und Intrigenspiel der Juno an, dem die Geliebte des Zeus in einer Art tragischer Ironie18 verfällt: Ihr Ende wird mit dem von Zeus verlangten Beweis seine Identität unausweichlich. Bedeutsam ist aber noch ein vermeintlich nebensächlicher Regiehinweis, denn nun verdunkelt sich die Szene, derselbe prachtvolle königliche Saal wird mit dem Auftritt der Semele düster, die anfänglich macht- und kraftvolle Gestik im Auftritt der Juno hat ihre Energien verloren.19 In ihren ersten Worten entwirft Semele sprachlich Nonverbales, zur Musik, zum Ariosen Drängendes: Synästhesien, denen etwas Vergebliches, Kraft- und Mutloses auch durch die Bewegungszüge (zweimal wird das Verb »neigen« verwendet) innewohnt;20 damit deuten sie die Wende im ganzen Geschehen ebenso an wie die Machtlosigkeit des Menschen Semele, die so gerne Göttin werden möchte, in Wahrheit aber der List und Intrige der nun als Mensch, als alte Amme Beroe, erscheinenden Göttin Juno hilflos ausgeliefert ist:

18 Juno/Beroe rührt durch den Hinweis auf die Pest das Mitleid der Semele, die diesem menschlich begrüßenswerten Zug nachgibt und gerade deshalb letztlich sterben muss. 19 Zu Beginn der zweiten Szene, vor dem Auftritt des jugendlich-menschlichen Zeus, erscheint, bezeichnend genug, derselbe Saal in »plötzliche[r] Klarheit« (vor V. 383). 20 Dieser Auftritt erinnert sowohl inhaltlich wie hinsichtlich des Situativen an Aithras Einsatz in der Ägyptischen Helena von Hofmannsthal und Strauss – eine Szene, die gleichfalls ohne Musik nicht denkbar ist.

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»Die Sonne neigt sich schon – … / Durchbalsamet den Saal mit Weihrauchdüften, / Streut Rosen und Narzissen ringsumher, / Vergeßt auch nicht das goldgewebte Polster – / (Vor sich ) Er kommt noch nicht – die Sonne neigt sich schon – / (In die Szene) Und haltet köstliche Früchte / Bereit« (V. 67-73)

In dieser visuell erfassbaren Gegensätzlichkeit zwischen Junos Kraft und Semeles Machtlosigkeit offenbart sich zudem das von Schiller stets beachtete Gesetz des Wechsels: Nichts hält intensive Dramatik ohne lyrische Besinnungsmomente aus, und alleine schon deshalb erfordert die sich gewaltig und rachedurstig gebärdende Juno das Gegengewicht der beinahe schon resignativ-kraftlosen Semele, muss also dem Eruptiven das Versonnene folgen, um auch die gebrochenen Töne zu vergegenwärtigen. Schiller gestaltet ein eindrucksvolles, für seine Texte bezeichnendes, in allen Ebenen gegenwärtiges, antithetisches Spiel von Macht und Ohnmacht, Schein und Sein, Täuschung und Wahrheit: Der Mensch will zum Gott werden, die Götter erscheinen als Menschen, als täuschende und liebende, als alt und jung, die Göttin hat Angst vor der Hässlichkeit des Alters, die sterbliche Semele erscheint in der Blüte menschlicher Schönheit21 und bringt damit die machtlos-mächtige Juno in äußersten Zorn, der von ihrer Eitelkeit Zeugnis ablegt; der bettelnde Zeus will unter Verzicht auf seine Götterstellung sogar Mensch bleiben, – ein Angebot, das das menschliche Wesen Semele deshalb ablehnt, weil es dann nicht mehr in die Götterwelt aufzusteigen vermag: ein verwirrendes Spiel von Wahrheit und Lüge, Offenheit und Verstellung, von dialektischen Gegensätzen schillerscher Prägung, die in vieler Hinsicht – dazu zählt auch das in der Namensverwendung sinnfällig werdende Ineinanderblenden der griechischen und römischen Sphäre – an Kleist erinnern.22 Möglicherweise beabsichtigt Schiller mit diesem Ineinssehen des Griechischen und Römischen eine Transformation des Vorgestellten vom spezifisch kulturgeschichtlich Verorteten ins Gesetzhafte, Generelle oder in die Ebene der von ihm selbst als zentral bestimmten Grundfragen des Menschen. Dafür spricht die deutliche Zuspitzung auf die angesprochenen Themen in der

21 In diesem Zusammenhang ist die Orientierung an der Temperamentenlehre auffallend (V. 294), die auf das medizinische Dissertationsprojekt von Schiller verweist, das auch auf die Gestaltung der Räuber erheblichen Einfluss genommen hat. Vgl. dazu sehr aufschlussreich Katharina Grätz: »Familien-Bande. Die Räuber.« In: Günter Sasse (Hrsg.): Schiller. Werk-Interpretationen, Heidelberg 2005, S. 11-34. 22 Thomas Mann weist bereits auf den Bezug der Semele zu Kleist hin. Vgl. Thomas Mann: »Versuch über Schiller«, S. 118.

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Exposition wie auch die gegenüber der Ovidschen Vorlage23 vorgenommenen (wenigen) Veränderungen. Dazu zählt etwa die als Beleg für fürstliche Willkürherrschaft geltende, von Merkur24 zu verkündende Schlussentscheidung des Zeus, die im Zusammenhang mit der von Schiller zusätzlich eingebundenen Pest in Epidaurum zu sehen ist: Dieser Komplex steht für die politische Intention Schillers. Gegenüber Ovid geändert ist auch die von Zeus der Semele mehrfach eingeräumte Möglichkeit, sich im Zusammenhang mit dem von Hera teuflisch suggerierten Wunsch, den Gott in seiner eigentlichen Gestalt zu sehen, sich frei zu entscheiden: Dies steht natürlich für die Schiller stets bedeutsame, aufklärerisch begründete Selbstentscheidung einer starken Subjektivität. Das gegenüber Ovid neu aufgenommene Motiv des Gegensatzes von Schönheit und Hässlichkeit belegt ebenso das in Gegensätzen sich präsentierende Denken Schillers wie die in beinahe wörtlicher Anspielung an Don Karlos präsentierte Kontraposition von Sich-Öffnen und Verschließen.25 Eingedenk aller dieser hier bewusst vergegenwärtigten und gestalteten, den inneren Werkzusammenhang bestätigenden Grundfragen Schillers,26 zu denen auch noch die Problematik der Vergöttlichung zu zählen ist, vermag jene Deutung des Werkes als bloße Parodie auf höfische Huldigungsspiele sehr wenig zu überzeugen, zumal auch die präzise sprachliche und szenische Durcharbeitung keine zusätzlichen Argumente für diese fragwürdige Auslegung zu bieten vermag.27 Man muss demgegenüber den immer noch zu wenig beachteten wesenhaften, intermedialen Experimentcharakter der »lyrischen Operette« genauer

23 Ovid: Metamorphosen 3. 259-315. Schiller verzichtet auf das Geschehen um Schwangerschaft und Geburt des Abkömmlings Dionysos; zudem setzt er erst mit der Ankunft Junos im Palast in Theben ein (Metamorphosen 3. 273). 24 Merkur kommt bei Ovid nicht vor. 25 Vgl. die Äußerung Domingos gegenüber Don Carlos in der Exposition (V. 5,6) mit derjenigen Semeles gegenüber Juno in der Gestalt der Beroe V. 105 und umgekehrt V. 232-233. 26 Dies lässt sich auch an der auffallenden Anlehnung an die Begrifflichkeit der Freimaurer ablesen, deren Welt auch im Don Karlos gegenwärtig ist. In Semele ist etwa in V. 465 vom »Weltbau« und V. 496 vom »Meisterstück« die Rede. 27 Die Vergöttlichungsproblematik hat Vaerst-Pfarr (»Die Huldigung der Künste«, S. 302-304) unter Stützung auf Gerhard Kaiser ebenso vorzüglich dargestellt wie die durchdachte und präzise konstruierte Sprachstruktur des Werkes (ebd. S. 296298). Es muss auch angesichts der Analyse von Vaerst-Pfarr noch einmal gesagt werden, dass keine der ernst zu nehmenden Werkauslegungen alleine für sich in Anspruch nehmen kann, die »lyrische Operette« völlig auszuloten: Die politische Dimension kann ebenso wenig geleugnet werden wie Luserkes Doppellektüre als »affirmative und als kritische Rede« (Luserke-Jaqui, Literatur und Literaturwissenschaft, S. 165): In diesen Lesarten erschöpft sich das Werk nicht.

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in den Blick nehmen. Die in der Exposition sich bereits exemplarisch für das gesamte Werk vorstellende Aussagedichte des Nonverbalen, die sich besonders beim rasenden, »Sturm und Drang«-haften Außersichsein der Gestalten bewährt,28 lässt sich bis zum Ende des Stückes mühelos verfolgen.29 Die Regiehinweise offenbaren alleine schon die Kraft des Szenischen, der Bewegungszüge, des Gestischen und Pantomimischen. Die Vergegenwärtigungen, die das Nonverbale leistet, beschränken sich jedoch nicht nur auf die unmittelbare Gestik, die sichtbaren Farb- und Lichtverhältnisse, sondern beziehen auffallend intensiv auch die geschilderten, sich beinahe dem Ballett öffnenden Pantomimen und Bewegungszüge in einer Weise mit ein, dass diese erzählten Gebärden noch intensiver und ausgreifender anmuten als die tatsächliche Gestik und damit eine größere Ausdruckdichte gewinnen als diese.30 Überdies wird die Funktion des Visuellen in Schillers Werk auch dadurch in ihrer Bedeutung noch eindrücklicher, dass in den Text Vorstellungen eingegangen sind, zu denen sich der Autor aus Winckelmanns Beschreibungen des Apollo im Belvedere hat anregen lassen.31 Die Schilderung des jugendlichen Zeus durch Semele (V. 148-169) enthält wesentliche Elemente der göttlich-distanzierten Entrücktheit in Winckelmanns Text und bezieht überdies auch die Musik in diesen synästhetischen Entwurf ein: In der Anspielung auf die »Sphärenharmonie« (V. 163) wird diese Kunst implizit als Zeichen einer kosmischen Ordnung der Welt vergegenwärtigt, und damit wird die Genauigkeit der Musik als Zahlenkunst – ihre andere Seite zum unmittelbar Gemüthaften – betont.

28 Z. B. V. 366, 373, 450ff. und V. 525. Der »Sturm und Drang« wird am Ende von Schiller sogar selbst herbeizitiert, wenn im Text mehrfach auf den aufbegehrenden Prometheus angespielt wird. 29 Matthias Luserke-Jaqui hat dankenswerter Weise in seiner Abhandlung über die Semele (Literatur und Literaturwissenschaft, S. 161f) die »durch die Regieanweisungen definierten Affektprofil[e] der Figuren« zusammengestellt. 30 Das hat Matthias Sträßner vorzüglich gezeigt (Tanz-Meister, S. 206-213). Dies erinnert an die Mitteilungsdichte Hofmannsthals, die dieser mit seinen geschilderten Pantomimen und Gebärden, etwa im Andreas-Roman, zu erreichen vermag. Umfassend, wenngleich zuweilen aus der Sicht des Theaterpraktikers etwas zu weit gehend in der Darlegung des Szenischen in Semele Ethery Inasaridse (Schiller und die italienische Oper, S. 42-44). 31 Dies hebt auch der Kommentar der Nationalausgabe, S. 536f hervor. Auffallend ist, dass Winckelmann im zweiten Entwurf Beschreibung des Apollo in Belvedere den Zusammenhang mit Pygmalion sieht, der auch in Schillers Semele V. 496 von Zeus selbst benannt wird. Vgl. Johann Joachim Winckelmann: »Entwürfe zur Beschreibung des Apollo im Belvedere«, in: ders., Kleine Schriften, Vorreden, Entwürfe, hrsg. v. Walther Rehm, Berlin 1968, S. 269-285, S. 276.

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Eingedenk dieser Bedeutung, die Schiller dem Nonverbalen zukommen lässt, das wiederum in einem unauflöslichen Zusammenhang mit den sichtbaren Figuren und deren wortsprachlichen Äußerungen steht, muss nun auf die dritte Kunst in diesem Werk die Rede kommen, die ja nicht frei erfunden ist, sondern auf die Schiller selbst in seinem Text insgesamt fünfmal dezidiert hinweist: die Musik. Er beruft sie im Untertitel mit »lyrische Operette«, mit der »Arie« in der Exposition, der »Sinfonie« als Zwischenszenenmusik und zweimal an exponierter Stelle in der zweiten Szene, wenn Zeus sich bemüht, gegenüber Semele Beweise für sein Gottsein zu erbringen. Zunächst ist alleine schon die Arie in der Exposition ein deutlicher Hinweis auf die verdichtende und intensivierende Wirkungsmacht der Musik. Die Arie, die in Singspielen dieser Art keiner festen Form zu gehorchen haben, ist hier zweistrophig und zudem im Sinne der Exposition funktional für das ganze Werk. Sie wird immer eingeleitet durch ein vorangegangenes Rezitativ, dem im Eingang sicherlich auch eine Art Vorspiel oder eine dem Geschehen gemäße, erregte Inzidenzmusik vorausgegangen ist. Nun erst, in dieser wechselwirkenden Bezüglichkeit der drei Medien wird die gesamte Aussagedichte der Exposition verständlich und sinnfällig. Der großartige szenisch-gestische Auftritt der Juno wird durch ihre gehetzten Hasstiraden und durch eine anzunehmende intensivierende Musik in der Arie als Ort der Selbstaussprache um ungeahnte Ausdrucksdimensionen gesteigert. Dass dies in der für Schiller besonders wichtigen Exposition mit ihrer innewohnenden Präzipitation geschieht, unterstreicht noch einmal die Bedeutung der hier konkret benannten Intermedialität – und damit eben auch der Musik. Dem Wirkungsästhetiker Schiller geht es nicht nur um den Gemütszustand, die leidenschaftliche Erregtheit und Ergriffenheit der Ideen verfolgenden Figuren auf der Bühne, nicht nur um ein dichtungsimmanentes Pathos, sondern immer auch um die Wirkung auf den Zuschauer: Auch der Betrachter soll in diesen Zustand der Erregtheit durch die Ansprache des Gemüts, besonders also durch die Musik, geführt werden. Folglich legt Schiller seine Texte auf die Sichtbarkeit und die Wirkung auf den Betrachter hin an, und damit wird er zum genuinen Theaterautor, der der Kraft der Szene, der Mimik, der Gebärde und damit der wortlosen Mitteilung, auch und gerade in der Vermittlung und Kraft des Pathetischen, vertraut. Und genau diese Affektdarstellung wird nun noch in einer medialen Überschreitung durch die dem Autor bekannte Wirkungsmacht der Musik als ästhetisch stärkstes Medium in Gestalt einer Arie intensiviert. Betrachtet man unter dieser Voraussetzung noch einmal die szenischtextliche Darbietung der Arie, dann wird deutlich, dass es dem Autor an dieser Stelle um besonders verdichtete und sich zugleich jäh wandelnde Gemütslagen geht, die wiederum das gesamte folgende Geschehen überhaupt erst initiieren. Um diese in den Stimmungslagen sich abzeichnenden jähen

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Umschwünge, die sich einer Gleichzeitigkeit des Gegensätzlichen öffnen, überhaupt angemessen zu fassen, bedarf es der Musik mit ihrem besonderen Vermögen zur Simultaneität, zu jenem bereits erwähnten »Simultankontrast«. Die Zwischenmusik, von Schiller »Sinfonie« (vor V. 383) genannt, ist als eine Art Überleitung zur zweiten Szene und wohl auch als eine atmosphärische Vorwegnahme der zweiten Szene vorstellbar, die einerseits in einer gewissen strukturellen Parallelität zur ersten Szene steht, andererseits die in der ersten Szene geweckte Präzipitationsspannung linear zum Ende führt. Man kann sich gut vorstellen, dass Schiller sich bei dieser Zwischensymphonie an Reichardt, aber noch mehr an den theoretischen Forderungen Johann Scheibes von 1745 orientiert hat, der ausdrücklich, die Multimedialität auch im Schauspiel fordernd, hervorhebt, dass diese »Sinfonien« sich auf die Inhalte zu beziehen haben und Wirkung auf die Zuschauer ausüben sollten, deren Gemütsbewegung durch die Musik auf die einzelnen Szenen oder Aufzüge einzustimmen.32 Ein beeindruckendes Beispiel für die offene Theatralität, die Musik und Nonverbales, Visuelles, gerade im Hinblick auf die »doppelte Fiktionalität« mit ihrer Öffnung der Wirklichkeitsgrenzen einbindet, ist, neben der Expositionsszene, in den Machtbeweisen des Zeus gegenüber Semele zu sehen. Hier verlangt Schillers Text, in dem das Thema »Gott-Mensch« eine zentrale Rolle spielt, ausdrücklich Musik, um in der intermedialen Verschränkung die Wirkungsmacht der Musik im Wechselbezug zu den anderen Medien intensivierend und Simultanes begünstigend zu nutzen: Diese Musik, die die Verwandlung und das Einbeziehen des »Jenseitigen« fördert, wird vom Autor ausdrücklich gewünscht. Dabei ist es durchaus offen, ob am Ende tatsächlich gesungen wird oder die Musik eine melodramatische Verdichtung im Sinne jener grenzoffenen Medialität bedeuten soll oder kann. Dies bleibt in dieser intermedialen Verschränkung unbeantwortet.33 Die visuell attraktive Vorstellung des plötzlich im Saal sichtbaren Regenbogens wird gesteigert durch Musik: »Die Musik begleitet die Erscheinung« (vor V. 507). Das von Zeus inszenierte Gewitter als zweiter Beweis seiner Macht gegenüber Semele wird von einem Regiehinweis begleitet, dessen dort formulierte Funktion der Musik auch noch für den folgenden

32 Vgl. dazu erhellend Altenburg/Jensen »Schauspielmusik«, Sp. 1042f. 33 Dagegen spricht, dass das Begleiten der Musik im Regiehinweis betont wird; auf ein Singen des Textes dagegen deuten die sanglichen, verkürzten Verse im Dialog Zeus – Semele.

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dritten Beweis, das Verschwindenlassen der Sonne und damit des Lichts,34 Gültigkeit hat: »Er reckt die Hand aus. Knall, Feuer, Rauch und Erdbeben. Musik begleitet hier und in Zukunft den Zauber.« (vor V. 517) Ausdrücklich hebt Schiller hier mit dem Wort »Zauber« die auf das Aufbrechen der Wirklichkeitsgrenzen bezogene Macht der Musik in ihrem Vermögen der doppelten Fiktionalität hervor, die er am nachhaltigsten in der intermedialen Verschränkung mit der sprechenden Szene in ihrer nonverbalen Mitteilung und der die Situation ermöglichenden Wortsprache eingesetzt sieht: Der Weg zu E.T.A. Hoffmanns Öffnung zum Wunderbaren, Szenen Wagners und zu den »Verwandlungen« von Hofmannsthal und Strauss35 ist nahe und vorgezeichnet – wie schon zuvor beim Einsatz des »Simultankontrastes«, den die Arie der Exposition nutzt. Von dieser von Schiller selbst berufenen Öffnung zum »Zauber«, zum Wunderbaren also, fällt noch einmal ein aufschlussreicher Blick auf die bedeutsame Exposition: Die Musik entfaltet ihre Möglichkeiten zur doppelten Fiktionalität schon im ersten Zusammentreffen von Physischem und Metaphysischem, von Götterwelt und Menschenwelt – und darin ist das Thema der Vergöttlichung Semeles eingebettet: Zunächst wird dieser gesamte Zusammenhang vorgestellt im Möglichkeitshorizont des Zusammentretens der beiden Seinsweisen: Und damit beginnt die Musik enthaltende Exposition, in der bereits durch Junos Worte (V. 43-50) das Vergöttlichungsthema der Semele gegenwärtig ist. Gewiss hält sich Schillers »lyrische Operette« Semele für einige Lesarten offen – Deutungen, die sich keineswegs widersprechen, sondern gleichzeitig Gültigkeit besitzen. Natürlich lässt sich, wie etwa die Nationalausgabe hervorhebt, die gesellschaftskritische Dimension mit deutlichen Angriffen gegen die Willkürherrschaft der Potentaten nicht übersehen: Diese an Kabale und Liebe erinnernde, Schillers »Sturm und Drang« weitgehend kennzeichnende Haltung offenbart sich besonders am Ende der Semele, wenn der selbstverliebte und nun vom unausweichlichen, allerdings von ihm selbst herbeigeführten Tod der Semele getroffene Zeus seiner Augenblicksstimmung nachgibt und die bereits befohlene, von Merkur den Menschen über-

34 Wenn hier nichts mehr zu sehen ist, wirkt alleine die intensivierende und die Wirklichkeit öffnende Musik. 35 Auch die auffallende Bedeutung der Synästhesien weisen auf Wagner und Strauss voraus. (vgl. dazu Sträßner, Tanz-Meister, S. 213). Schon Thomas Mann nennt Schillers Semele in einem Atemzug mit Wagners Lohengrin, vgl. Thomas Mann, »Versuch über Schiller«, S. 118. Inasaridse nimmt die Nähe der Semele zur durchkomponierten Oper eines Richard Strauss wahr. (Inasaridse, Schiller, S. 44).

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mittelte Hilfe mit den Worten »Verderbe sie wieder! […] Glücklich soll niemand sein!« (V. 574/575) willkürlich zurücknimmt. Angesichts der präzise durchdachten intermedialen Wirkungszusammenhänge jedoch, die sich der Stärken der beteiligten Medien auch und gerade in der Verschränkung ungemein genau bedienen, muss man in diesem wichtigen frühen Werk Schillers ein den damaligen Bühnenpraktiken entsprechendes Experiment transmedialer Theatralität, von Wechselwirkungen zwischen Text, Visuellem und Musik wahrnehmen.

II. Schiller selbst sieht in dieser Öffnung zum Musiktheater noch unerschlossene, wenngleich in der Antike vorgeprägte Wege, seinen Bühnenwerken neue Ausdrucksnuancen zu erschließen. Diese Intention zielt jedoch nicht nur auf die Oper, wenngleich Schiller konkret diese Gattung und deren Vorzüge in seinem berühmten Brief an Goethe vom 29. Dezember 1797 benennt: »Ich hatte immer ein gewisses Vertrauen zur Oper, daß aus ihr wie aus den Chören des alten Bacchusfestes das Trauerspiel in einer edlern Gestalt sich loswickeln sollte. In der Oper erläßt man wirklich jene servile Naturnachahmung, und obgleich nur unter dem Namen von Indulgenz könnte sich auf diesem Wege das Ideale auf das Theater stehlen. Die Oper stimmt durch die Macht der Musik und durch eine freiere harmonische Reizung der Sinnlichkeit das Gemüt zu einer schönern Empfängnis, hier ist wirklich auch im Pathos selbst ein freieres Spiel, weil die Musik es begleitet, und das Wunderbare, welches hier einmal geduldet wird, müßte notwendig gegen den Stoff gleichgültiger machen.«36

Sieht man diesen im Grunde eine vollständige Ästhetik in sich bergenden Brieftext im Zusammenhang mit der konkret von Schiller für viele seiner Bühnenwerke erwünschten oder auch imaginierten Musik, dann wird offenkundig, dass es ihm nicht um eine konkrete Opern-, Singspiel-, Melodramoder »Operetten«-Form, sondern um die Einbeziehung der Musik auf der sich szenisch präsentierenden Theaterbühne geht, also um die mediale Offenheit und Wechselwirkung der drei Zeichensysteme Text, Musik und Szene. Genau diese Ausweitung über die Gattung Oper hinaus, mit der sich überdies eine Öffnung der medialen Grenzen einstellt, die ganz präzise der Theaterpraxis seiner Stuttgarter Sturm und Drang-Zeit in der Ära Jommellis 36 Schiller am 29.12.1797 an Goethe. In: Johann Wolfgang Goethe: Briefwechsel mit Schiller. Gedenkausgabe der Werke Goethes, hrsg. v. Ernst Beutler, Bd. 20, Zürich 1964, S. 480.

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entspricht, machen nicht nur bereits die Musikeinlagen in den Räubern und anderen Werken offenkundig, sondern die ungemein aufschlussreiche Bemerkung Goethes vom dritten Dezember 1808 im Gespräch mit Riemer, Wilhelm von Humboldt und dessen Sohn Theodor. Goethe reißt hier zunächst den philosophisch-ästhetischen Horizont auf, indem er einen wichtigen zusammenfassenden Hinweis auf diejenige Wesensbestimmung von Dichtung und Musik gibt, die von beinahe allen Richtungen der Kunstlehre vertreten wird: »Musik sei die reine Unvernunft, und die Sprache habe es nur mit der Vernunft zu tun.« Diesen Satz könnte man leicht in die Sprache Hegels wie Schopenhauers, Kierkegaards wie E.T.A. Hoffmanns übertragen und in den dann jeweils gültigen ästhetischen Kontext einbringen, durch den allerdings die von Goethe formulierte Wesensbestimmung eine je andere Färbung und – vor allem – Wertung gewinnen würde. Goethe lässt sich nicht auf eine derartige Wertung ein, sondern nutzt diesen unbestreitbaren, von ihm präzise benannten Wesensunterschied zwischen Musik und Sprache zu einer anderen Konsequenz: Für ihn darf zur Musik nicht gesprochen werden.37 Er wendet sich also gegen die Gleichzeitigkeit von Unvernunft und Vernunft, und das bedeutet auch: gegen das Melodram, bestimmte Formen des Rezitativs und gegen manche Art von Schauspielmusik. Das trifft allerdings Schiller und seine von Anfang an sinnfällig werdende Bestrebung, in seinen Theaterstücken Musik erklingen zu lassen, und zwar nicht nur als gesungene Texte wie etwa Chöre, Lieder und Arien oder Zwischenmusiken als »Sinfonien« ohne Text, sondern als Inzidenzmusik mit emotionsintensivierender Absicht, eine Art melodramatische Steigerung des Gesprochenen also. Und genau dies wirft Goethe in der bedeutsamen Gesprächsnotiz Schiller geradezu scharf vor, wenn er in der Formulierung Riemers kundtut: »Es war den 3. Dezember 1808 abends. Humboldt speiste mit und es war viel vom Theater, Musik und dergleichen die Rede. Schiller hatte besonders den Tic bei Musik sprechen zu lassen, zum Beispiel die Jungfrau von Orleans. Goethen war das immer zuwider, wie er oft genug äußerte.«38

Im 22. Brief über die ästhetische Erziehung des Menschen fordert Schiller eindringlich ein Überschreiten der Grenzen zwischen den Künsten, stellt sie 37 Diese Äußerung bedarf deshalb einer Diskussion, weil Goethe selbst zum gesprochenen Text, so etwa zum Eingang des Faust-Dramas, Musik fordert. (Vgl. dazu Goethes Brief vom 1.5.1815 an den Grafen Bühl.) Allerdings ist dieser Text Goethes sehr selbstreflexiv und deshalb für eine Musik weniger geeignet. Vgl. dazu Detlef Altenburg, »Phantom des Theaters«, S. 195-197. 38 Riemer über den 3. Dezember 1808, in: Goethes Gespräche. Erster Teil, Gedenkausgabe der Werke Goethes, hrsg. v. Ernst Beutler, Bd. 22, Zürich 1964, Nr. 842 (S. 525).

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einzeln in die Verflochtenheit, die einem angemessenen Zugang zur Kunst im Entwurf auch entspricht: eine kulturgeschichtlich und schöpfungstheoretisch überzeugende Verschränktheit und Vielfalt, die in der frühen Semele zu einer Realisierung führt, die sich als musiktheatrales Gattungskontinuum der medialen Offenheit jener Zeit versichert, die keine scharfe Trennung der Sparten und der Gattungen in der Theaterwirklichkeit kennt. Nimmt man den Brief an Goethe vom 29. Dezember 1797, die Gesprächsnotiz vom dritten Dezember 1808 und den 22. Brief »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« zusammen, dann wird offenkundig, weshalb und in welcher ausgreifenden, die Oper als bestimmte Gattung weit übersteigenden medialen, wechselwirkenden Überlappung Schiller Text, Musik und Szene auch im Schauspiel und der »lyrischen Operette« gleichzeitig auf die Bühne bringen will – sei es konkret oder in der sich für eine Realisierung offen haltenden Vorstellung: •



• • • • •

Die Visualisierung des Geschehens erschließt besondere Möglichkeiten der Sprache des Sichtbaren, die später etwa Hofmannsthal und Strauss in Opern wie im Ballett vorbildlich ausgelotet haben. Das Einbinden von Musik in diese intermediale Verknüpfung stellt eine Beziehung zwischen den Künsten her, und das bedeutet im Felde dieses Wechselspiels stets, dass die Musik zum Text Stellung nimmt, ihn interpretiert, und der Text empfängt dabei Wirkungen von der Musik: Sie stellt sich zum Beispiel auf die Affekte ein, die die Szene und der Text visuell und sprachlich berufen und bringt sich damit bezugnehmend, wechselwirkend konstitutiv und »musiktheatralisch« in das Werk ein. Damit wird neben dem Text und der Szene auch die Musik zum »sprechenden Teil« der Werke; dies gelingt besonders dann, wenn sie etwa den Ausdruck intensiviert, abwesende Gestalten und Vorstellungen musikalisch vergegenwärtigt oder 39 Gegensätzliches und ein Nacheinander simultan vorstellt. Damit verbunden sind vermöge der unterschiedlichen Zeitstruktur in den beteiligten Medien Bühnenwirkungen, die sich durch eine auf diesem Wege konstituierte »doppelte Fiktionalität« einer »Unwirklichkeit«

39 Diese nur angedeuteten Möglichkeiten intermedialen Wechselspiels führen in die Mitte der Ästhetik-Debatte und zu den Folgen der unterschiedlichen Zeichenstruktur in den beteiligten Medien. Vgl. dazu Günter Schnitzler: »Drama als Libretto. Verdis Schiller«, in: Günter Sasse (Hrsg.), Schiller. Werk-Interpretationen. Heidelberg 2005, S. 175-198. Vgl. auch zu dem wichtigen Begriff des »Simultankontrastes« Carl Dahlhaus: »Zeitstruktur in der Oper«, in: Die Musikforschung 34, 1981, S. 2-11.

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öffnen oder, anders gesagt: gerade hier liegt auch ein Grund für eine theatral einleuchtende Vorstellung von Unwahrscheinlichem, Märchenhaftem und Verschlungenem.

III. Diese aus den gebotenen Textauszügen erschließbare Theorie mit ihren angedeuteten Zielen ist bei Schiller bis zum Ende gültig, denn nicht nur die Semele40 lässt jene »praktizierte« Intermedialität erkennen, sondern auch die in jenen Jahren entstandenen sowie späteren Dramenschöpfungen: Sie alle tragen die in der Semele nachgewiesenen librettohaften Züge, jene nonverbale, visuelle und auch – gedachte wie in Bühnenmusiken realisierte – musikalisch wirksame Intensivierungsmacht, von der etwa im Brief an Goethe die Rede war. Auf einige Werke Schillers sei unter dieser Perspektive knapp hingewiesen: Im parallel zur Semele entstandenen Sprechdrama Die Räuber gestaltet Schiller eine Libretto-Struktur, in die überdies ausgreifend Möglichkeiten nonverbaler Mitteilung eingebunden werden.41 Zunächst muss die Fülle von Massenszenen im Drama erwähnt werden, die nach einem genauen Prinzip der Steigerung und des Zurücknehmens von Schiller eingesetzt werden; dies wird begünstigt durch die raschen Schauplatzwechsel im Drama, die jeweils die Situationen für Massenszenen und für eher lyrisch gemeinte Passagen überhaupt erst schaffen. Strukturell wird dies von Schiller nach einem Prinzip gestaltet, das der Oper geradezu zu entstammen scheint: dem wohlbedachten Wechsel von Dramatik und Lyrik, von Eruptivem und Versonnenem eingedenk des Wissens, dass fortwährender »Hochdruck« auf die Dauer ebenso langweilig wird wie eine unausgesetzt verhalten-lyrische Stimmung. Dass bei Schiller sich dieser zwar deutlich intendierte Wechsel in den Räubern noch nicht in der Weise niederschlägt, dass das Drama auch die Zwischenwerte, die gebrochenen Töne vorzustellen vermag, liegt nicht an einem Nichtbefolgen jenes Gesetzes des Wechsels, sondern daran, dass der Autor in

40 Dies dürfte auch für den zeitgleich 1779 entstandenen Librettotext Der Jahrmarkt gelten. 41 Vgl. Peter Michelsen: Der Bruch mit der Vaterwelt. Studien zu Schillers Räubern. Heft 16 der Beihefte zum Euphorion, Heidelberg 1979. Günter Schnitzler: »Schiller und Verdi. Zur Poetik von Drama und Libretto am Beispiel des RäuberStoffes«, in: Markus Engelhardt, Pierluigi Petrobelli, Aldo Venturelli (Hrsg.), Verdi e la cultura tedesca. La cultura tedesca e Verdi. Verdi und die deutsche Kultur. Die deutsche Kultur und Verdi, Parma 2003, S. 61-80.

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diesem frühen Werk die lyrischen Passagen noch nicht mit dem Leben auszufüllen verstand, das er späteren Texten einzuschreiben in der Lage war. Weiterhin wäre als opernhaft in der Struktur des Werkes zu bezeichnen: die Intensität der Affektdarstellung, das Pathos in den extremen Gemütslagen der Gestalten; hervorzuheben sind natürlich noch die sehr effektvollen, im Visuellen sich bereits ausgebenden Szenen des Schwert-Testaments, die Turmszene und der Schlossbrand; dies alles sind überdies Szenen, die Schiller wiederum genauestens bedacht plaTziert hat, die nicht in der puren Abfolge von bloßen Höhepunkten sich ereignen, sondern eben gemäß jenem gerade auch für die Oper gültigen Gesetz des geforderten Wechsels. Opernhaft sind zudem die Abenteuerlichkeit des Geschehens, die extremen Gemütszustände, der affektive Charakter der rührenden Szene und das Verhältnis zwischen Natur und Heldentum. Sogar noch im formalen Bereich gibt es bedeutende Nähen: so etwa die »jagenden Aktschlüsse« bei Schiller, die nach dem Gesetz der Spannungsund Geschehenssteigerung stets zu einem Höhepunkt hinlaufen; dies ist in der Tradition der italienischen Oper in gleicher Weise als dynamische und auch als Temposteigerung, als »accelerando«, auszumachen. In der italienischen Oper ist dies nicht überraschend, aber im Drama sind diese Situationen des übersteigerten pathetischen Ausdrucks doch eher ungewöhnlich. Wenn man sich im zweiten Akt die zweite Szene des Dramas im Hinblick auf die pathosbetonenden Regieanweisungen vergegenwärtigt, dann fühlt sich der Leser wie Zuschauer in die typisierend leidenschaftliche Gebärdensprache der affektbetonten Oper versetzt, doch in Schillers Räubern findet man diese Regiehinweise auf weniger als zwei Seiten: »mit veränderter Stimme«, »auffahrend«, »Will hinwegrennen«, »verhüllt sein Haupt in das Küssen«, »in Entzückung«, »wild auf Hermann losgehend«, »wie aus einem Todesschlummer aufgejagt«, »gräßlich schreiend, sich die Haare ausraufend«, »umherirrend im Zimmer«, »schreiend, sein Gesicht zerfleischend«. (II/2) Zudem ist in diesem Sturm und Drang-Schauspiel immer wieder von Musik, von Musikinstrumenten, durch Musik evozierte Stimmungen die Rede, beinahe so, als ob es Schiller von vornherein auf eine Vertonung des Dramas angelegt hätte. Es wird nicht nur das Lied des Abschieds Andromaches von Hektor, sondern auch in der fünften Szene des vierten Aktes das Brutus und Cäsar-Lied Karl Moors genannt. Zudem singt Amalia dem alten Moor vor. Weiterhin sind Karls Monologe gemäß der Struktur verschiedener Arientypen gestaltet, und durch die Funktion der Räuber ähnelt die Szenen-

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struktur Schillers oft derjenigen der traditionellen Opernszene, die sich aus Solo und Chor zusammensetzt.42 Aber nicht nur Die Räuber, sondern auch die Nähe von Kabale und Liebe sowie Don Karlos, Wallensteins Lager und der Jungfrau von Orleans zum Libretto mit all seinen medialen Offenheiten, nonverbalen, szenischen Verdichtungen und möglichen intermedialen Wechselwirkungen ist offenkundig, und Verdis Hinwendung gerade zu diesen Dramen als Vorentwürfe eigener Opern stellt eine ebenso eindrückliche Bestätigung dieser Einsicht dar wie Donizettis Vertonung der Maria Stuart, auf deren Librettonähe mehrfach hingewiesen wurde.43 Selbst den für die Oper zentralen Chor, der in Musikbühnenwerken im 19. Jahrhundert obligatorisch wird, trachtet Schiller noch für sein Sprechdrama zu gewinnen. Schon im Opernbrief vom 29. Dezember 1797 hatte Schiller ja gegenüber Goethe vom Chor gesprochen: »Ich hatte immer ein gewisses Vertrauen zur Oper, dass aus ihr wie aus den Chören des alten Bacchusfestes das Trauerspiel in einer edleren Gestalt sich loswickeln sollte«. Nur vermeintlich ist hier der antike Chor ausschließlich gemeint, den Schiller zwar genau studiert hat, von dem er auch ohne Frage tief beeinflusst ist, doch wird er in einer Weise umfunktioniert, die nicht mehr viel mit der Antike gemein hat, sondern ihn in eine Rolle bringt, die der bei italienischen Opernkomponisten des 19. Jahrhunderts durchaus vergleichbar ist. In der Braut von Messina führt Schiller einen Chor ein, der auf die Widersprüchlichkeit im Spiel der Mächte aufmerksam machen soll. Aber er bietet diesen Chor nicht nur als ein Instrument, das registriert, sondern er bildet ihn um, »indem er ihm die Doppelrolle als Akteur und Commentator zuweist, – ein sinnvoller, wenn auch ungriechischer Auftrag.«44 Schon im Einsatz seiner wichtigen Studie »Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie« stellt Schiller seine Erwägungen in den Horizont musikalischer Bühnenwerke: »Nur die Worte gibt der Dichter, Musik und Tanz müssen hinzu-

42 Vgl. dazu ausführlich und noch weitere wesentliche Nähen des Räuber- Dramas zur Oper benennend: Ethery Inasaridse, Schiller und die italienische Oper, S. 139151. 43 Vgl. dazu Dieter Borchmeyer: »Schiller und Verdi oder die Geburt des Dramas aus dem Geiste der Oper«, in: Daniela Goldin Folena und Wolfgang Osthoff (Hrsg.), Verdi und die deutsche Literatur, Laaber 2002, S. 21-37; Günter Schnitzler, Drama als Libretto; Kea Flörcken: »Musik im Schauspiel – Schauspielmusik in Friedrich Schillers romantischer Tragödie Die Jungfrau von Orleans«, in: Musik in Baden-Württemberg 12 (2005), S. 35-61. 44 Gerhart Baumann: »Dichtung und Commentar«, in: ders., Sprache und Selbstbegegnung, München 1981, S. 162-179, S. 170.

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kommen, sie zu beleben.«45 Er kennzeichnet überdies den Chor als mithandelnde »wirkliche Person und als blinde Menge«46 und zudem als »sinnlich mächtige Masse, welche durch ihre ausfüllende Gegenwart den Sinnen imponiert.« Aber, und dies zeigt jene andere Funktion an, der Chor verlässt auch »den engen Kreis der Handlung, um sich über Vergangenes und Künftiges, über ferne Zeiten und Völker, über das Menschliche überhaupt zu verbreiten, um die großen Resultate des Lebens zu ziehen und die Lehren der Weisheit auszusprechen. Aber er tut dieses mit der vollen Macht der Phantasie, mit einer kühnen lyrischen Freiheit, welche auf den hohen Gipfeln der menschlichen Dinge wie mit Schritten der Götter einhergeht – und er tut es, von der ganzen sinnlichen Macht des Rhythmus und der Musik in Tönen und Bewegungen begleitet.«47 Hier wird eindrücklich offenkundig, dass der schillersche Chor zugleich Urteilender und Mithandelnder ist, sich als gespalten, »im Streit mit sich selbst«48 vorstellt: er wird zum einseitigen Anhänger und zugleich zur Ordnungsmacht und gewinnt dadurch eine Doppelrolle in der Simultaneität. Gerade das aber ist ja nichts anderes als das besondere Vermögen der Musik, bezeichnet im Grunde ganz präzise Aufgabe und Funktion des Chores in der Oper, der sich in diesem Medium in seiner Simultancharakterisierungsmöglichkeit vorstellt und gleichzeitig eine Doppelrolle oder gar Mehrfachrollen oder -stellungen einnehmen kann. Man braucht nur an die Chöre zu Beginn des Don Carlo von Verdi zu denken, die, »Akteur und Commentator« zugleich, »daseinsunmittelbar« handeln und überdies den gesamten Horizont der Oper ausziehen, auch die Widersprüchlichkeit und widerstreitenden Mächte dabei vorstellen, – vor allem, wenn man sich der ungekürzten Fassung des Don Carlo erinnert. So stellt sich auch bei der Betrachtung des Chores in jenem Brief an Goethe ein Zusammenhang mit der Oper und ihren Möglichkeiten her, die Schiller bewusst zum vorbildlich gesehenen Vergleich heranzieht. In der hier deutlich werdenden Nähe zur Oper bestätigt sich Richard Wagners Überzeugung, der in Schillers Musikalisierung der Tragödie eine Entwicklung zum musikdramatischen Gesamtkunstwerk wahrnahm; aber auch die Hinwendung Verdis zum Autor findet in dieser intermedialen Offenheit Schillers ihren Grund: Man muss in dessen bedeutenden Vertonungen noch einen weiteren Beleg für die »praktizierte« Intermedialität Schillers sehen,

45 Friedrich Schiller: »Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie«, in: ders., Sämtliche Werke in fünf Bänden. (wie Anm. 7). Bd. 2, S. 815-823, S. 815. 46 Ebd. S. 823. 47 Ebd. S. 821. 48 Ebd. S. 823.

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der sich in dieser auffallenden Rezeptionslinie eindrücklich niederschlägt. Verdis Interesse an Schiller ist eben kein Missverständnis,49 sondern Ergebnis einer bedachten Wahl, die zudem Wesentliches über die Poetik der ausgewählten Dramen und deren Autor zu offenbaren vermag: In dieser schöpferischen Anverwandlung Verdis, in dieser zunächst merkwürdig erscheinenden Rezeptionslinie, schlägt sich eine besondere Einsicht in die Texte des gesamten Schiller nieder, die tief in die Struktur der Dramen führt und deren opernhafte, librettistische Faktur offen legt, die eine organische Transformation in das andere Medium deshalb ermöglicht, weil sie selbst schon eine »praktizierte« intermediale Offenheit und Bezüglichkeit in sich birgt, welche der Opernkomponist im Namen Schillers weiterträgt.

49 Stellvertretend für diejenigen Autoren, die in Verdis Interesse für Schiller ein Missverständnis vermuten, seien nur Kurt Honolka (Kulturgeschichte des Librettos. Opern – Dichter – Operndichter, Wilhelmshaven 1979) und Eckhard Henscheid (»Verdi und die Gemütlichkeit«, in: ders. und Chlodwig Poth, Verdi ist der Mozart Wagners. Ein Opernführer für Versierte und Versehrte, Luzern 1979) genannt.

Gustave Flaubert J OSEPH J URT (F REIBURG )

I NTERMEDIALITÄT

BEI

F LAUBERT

Wenn man die intermedialen Beziehungen bei Flaubert beleuchten will, muss man sich zunächst das neue skopische Regime im 19. Jahrhundert vergegenwärtigen, so wie es etwa Philippe Hamon in seiner Untersuchung Imageries beschrieben hat.1 Malerei und Literatur behaupten nun nicht mehr einen exklusiven Status. Neue visuelle Medien tauchen nun auf und schaffen einen neuen Typus von Medienkonkurrenz, der für die Literatur eine Herausforderung darstellt. Victor Hugo hat den agonistischen Charakter zwischen der Literatur und der bildenden Kunst schon im Titel eines Kapitels von Notre Dame de Paris (1831) zum Ausdruck gebracht: »Ceci tuera cela«: das gedruckte Buch wird die gotische religiöse Architektur und ihre Bilder aus Stein und Glas ersetzen. Erstaunlicherweise wird der Literaturhistoriker Marc Angenot unter demselben Diktum »Ceci tuera cela« die antagonistische Beziehung zwischen Literatur und Presse am Ende des 19. Jahrhunderts bezeichnen.2 Mit der technischen Reproduzierbarkeit der Bilder verlieren diese, wie das Walter Benjamin in seinem berühmten Aufsatz unterstrichen hat, ihre Aura. In den Straßen und auf Mauern der Städte, aber auch in den Appartements treten nun zahllose industriell gefertigte Bilder auf. Man spricht von einer Inflation der Bilder. Diese Inflation geht einher mit einer Krise der Imagination und des Imaginären, aber auch mit einer Krise der Sprache, in die sich immer mehr Gemeinplätze einschleichen, die man nun mit einem

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Philippe Hamon, Imageries. Littérature et image au XIXe siècle. Paris, José Corti, 2001 sowie Carl Havelange, De l’œil et du monde. Une histoire du regard au seuil de la modernité. Paris, Fayard, 1998. Marc Angenot, »Ceci tuera cela, ou: la chose imprimée contre le livre«, Romantisme, 44, 1984, p. 83-104.

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Begriff aus der typographischen Reproduktion cliché nennt – das sprachliche Pendant zum reproduzierten Bild.3 Wenn sich nun im 19. Jahrhundert die Bilder vervielfachen, dann ist das den Verfahren der industriellen Reproduktion und ihrer Verwertung durch Industrie und Handel geschuldet (Reklame), dann durch die Erfindung der Photographie (mit Niépce und Daguerre 1827/29 als Abbildungstechnik und dann ab 1840 mit William Fox Talbot als Vervielfältigungsverfahren). Schließlich fanden Bilder und Photos auch Eingang in die Presse. Die Gründung des Magazins mit dem sprechenden Namen L’Illustration im Jahre 1843 ist dafür ein evidenter Beleg. Der Holzschnitt war zunächst das erste Verfahren, um Texte zu illustrieren.4 Die Photographie illustrierte ab den 1880er Jahren die Reportage. Die Entwicklung der Lithographie und der Holzschnitte führte zur Gründung von Magazinen, die Reproduktionen von Kunstwerken verbreiteten, die Karikaturen veröffentlichten und zahllose Bilder publizierten. Bekannt waren hier die Zeitschriften L’Artiste ab 1831, Charivari und Magasin Pittoresque ab 1833.5 Das 19. Jahrhundert wurde zum Jahrhundert des Bildes, das den Text immer mehr zurückdrängte. Dieser Prozess lässt sich in symmetrischer Weise auch daran ablesen, dass immer mehr Begriffe aus dem Bereich der bildenden Kunst in den Bereich der Literatur eindrangen. So etwa der Begriff Tableau, der nun auch für bestimmte Textsorten wie Literaturgeschichten oder Gedichte (Tableaux parisiens) verwendet wurde.6 Wie war nun die Reaktion Flauberts auf diese Bilderinvasion, die das 19. Jahrhundert kennzeichnete?

I. F LAUBERT

UND DIE

P HOTOGRAPHIE

Flaubert erscheint zunächst eher als imagophob. Auf seiner Orientreise (1850-1851) hatte er Maxime Du Camp begleitet, der einer der Pioniere der Photographie war und ein Album von 125 Orient-Photos publizierte, das auf

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4

5 6

Siehe dazu Philippe Hamon, »Images à lire et images à voir: ›images américaines‹ et crise de l’image au XIXe siècle (1850-1880)«, in: Stéphane Michaud, JeanYves Mollier, Nicole Sary: Usage de l’image au XIXe siècle, Paris, Créphis 1992, S. 235-246. Siehe dazu Claude Bellanger, Jacques Godechot, Pierre Guiral, Fernand Terron : Histoire générale de la presse française. T. III: De 1871 à 1940. Paris, P.U.F 1972, S. 95-96. Siehe Jacques Lethève, »Flaubert et le monde des images«, Bulletin de la Bibliothèque Nationale, 5/6, 1980/81, S. 32. Dazu Philippe Hamon, »Le Musée et le texte«, R.H.L.F., 95, Nr. 1, 1995, S. 4.

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große Resonanz stieß.7 Es handelt sich hier um das erste wichtige Buch, das mit Photographien illustriert war – eine Art Inkunabel. Für Flaubert war aber die Photographie ein mechanisches Verfahren ohne jede persönliche Dimension. In einem Brief an seine Geliebte Louise Colet brachte er seine Ablehnung gegenüber der Photographie zum Ausdruck, die nie die Wahrheit einer Person erfassen könne.8 In seinen Augen idealisiert die Erinnerung und auch das Auge (aufgrund der selektiven Perzeption) das Gesehene, was bei der photographischen Reproduktion nie der Fall sei. In einer Umfrage von Taine über die Wahrnehmungsübersteigerung zeitgenössischer Autoren antwortete Flaubert: »Je crois que généralement (et quoiqu’on en dise) le souvenir idéalise, c’est-à-dire choisit. Mais peut-être l’œil idéalise-t-il aussi? Observez notre étonnement devant une épreuve phtographique. Ce n’est jamais ça qu’on a vu. (C, III, 562).«9

Das berührt den Kern von Flauberts Ästhetik. Die Kunst muss das Ideal erfassen (was nicht Idealisierung bedeutet) und sie muss gleichzeitig wahr sein: »On n’est idéal qu’à la condition d’être réel & on n’est vrai qu’à force de généraliser.« (C, III, 807) Durch die schöpferische Gestaltung soll der Künstler zu einer Wahrheit vorstoßen, die gleichzeitig wahr und universell ist. Darum akzeptiert Flaubert eine Gravur von Louise Colet, bei der ein Künstler am Werk war (»J’ai la gravure qui est dans ma chambre à coucher. C’est une chose bien faite, bien dessinée, bien gravée et qui me suffit.« (C, II, 394)). Aus diesem Grund weigerte er sich auch, sich photographieren zu lassen. Drei Mal ließ er sich von Maxime du Camp photographieren, aber immer verkleidet als Nubier, eine Rolle spielend, damit man nicht auf die Idee komme, etwas von ihm im photographischen Bild erkennen zu wollen.10

7

Egypte, Nubie, Palestine et Syrie. Dessins photographiques recueillis pendant les années 1849, 1850 et 1851, accompagnés d’un texte explicatif et précédés d’une introduction par Maxime Du Camp. Paris, Gide et Baudry, 1852, 2 Bände. 8 »Je déteste les photographies à proportion que j’aime les originaux. Jamais je ne trouve cela vrai [...] Ce procédé mécanique appliqué à toi surtout m’irriterait plus qu’il ne me ferait plaisir.« (C II, 349, 14. April 1853) Wir zitieren die Korrespondenz von Flaubert nach der Ausgabe der ›Bibliothèque de la Pléiade‹ (Band I: 1980, Band II: 1980, Band III: 1991, Band IV: 1997, Band V: 2007). 9 Siehe dazu auch Hubertus von Amelunxen, »Photographie und Literatur. Prolegomena zu einer Theoriegeschichte der Photographie«, in: Peter V. Zima (Hrsg.): Literatur intermedial. Musik – Malerei – Photographie – Film. Darmstadt, WBG, 1995, S. 209-231. 10 Siehe Madeleine Cottin, »Une image méconnue: la photographie de Flaubert prise en 1850 au Caire par son ami Maxime Du Camp«, Gazette des Beaux Arts, 6, 66, 1965, S. 235-239.

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Nadar und Carjat hatten ihn photographiert, aber er erlaubte nicht, dass diese Bilder veröffentlicht wurden. Die Zeitgenossen konnten sich von ihm nur ein Bild über die Karikaturen von Lernot machen. Flaubert übersetzt seine negative Haltung gegenüber der Photographie auch in seinem fiktionalen Werk. So schildert er sehr ironisch in Madame Bovary, wie Charles seiner Frau eine Freude machen möchte, indem er ihr eine photographische Ablichtung (»un beau daguérréotype«) zu schenken gedenkt. Die Idee wird nicht weiterverfolgt; sie dient dazu, die Naivität und den kleinbürgerlichen Stil von Charles bloßzustellen.11 Gegen Ende seines Lebens muss Flaubert allerdings gespürt haben, dass die Photographie nicht nur ein rein mechanisches Reproduktionsverfahren war, sondern dass der Photograph hier durchaus auch gestaltend eingriff. »Il n’y a pas de vrai«, schrieb er 1880. »Il n’y a que des manières de voir. Est-ce que la photographie est ressemblante? pas plus que la peinture à l’huile, ou tout autant.« (C, V, 811) Hinsichtlich einer Sphinx, die er in Ägypten gesehen hatte, bemerkte er, keine Zeichnung könne eine Vorstellung von diesem Monument vermitteln, es sei denn eine Photographie, die von Maxime Du Camp aufgenommen worden sei. Aber er fügt sogleich eine Beschreibung hinzu, die Aspekte der Pyramide evoziert, die eine Photographie nicht zu zeigen vermöge. Wenn Flaubert, ähnlich wie Baudelaire12 dem neuen Medium gegenüber skeptisch war, so erkannte er immerhin, dass die Photographie eine neue Wahrnehmungsweise schuf.

II. B UCH -I LLUSTRATIONEN Es gibt noch einen unmittelbareren Text-Bild-Bezug, die Illustrationen literarischer Texte. Auch hier war Flaubert kategorisch dagegen. Hinsichtlich des Projekts einer illustrierten Ausgabe von Salammbô schrieb er an seinen Freund Ernest Duplan: »Jamais, moi vivant, on ne m’illustrera, parce que la plus belle description littéraire est dévorée par le plus piètre dessin. Du moment qu’un type est fixé par le crayon, il perd ce caractère de généralité, cette concordance avec mille objets connus qui font dire au lecteur: ›J’ai vu cela’ ou ‚Cela doit être‹. Une femme dessinée ressemble à une femme, voilà tout. L’idée est dès lors fermée, complète, et toutes les phrases sont inutiles, tandis qu’une femme écrite fait rêver à mille femmes. Donc, ceci étant une

11 Siehe dazu Dolf Oehler, »La répudiation de la photographie. Flaubert et Melville«, in: F. Lecercle, S. Mesina (Hrsg.), Flaubert, l’autre. Presses universitaires de Lyon 1989, S. 104-115. 12 Susan Blood, »Baudelaire Against Photgraphy: An Allegory of Old Age«, MLN, Vol. 101, Nr. 4, September 1986, S. 817-837.

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question d’esthétique, je refuse formellement toute espèce d’illustration.« (C, III, 221222)

Flaubert widersetzt sich radikal der Idee einer Konvertibilität zwischen Wort und Bild-Kunst und unterstreicht so die Spezifität der Künste. Die Sprache vermag einen Gegenstand als Prototypen von seinen prädikativen Eigenschaften zu trennen, wie das der Kunsthistoriker Gottfried Böhm sehr klar hervorgehoben hat: »Während ein reales Ding, z.B. ein Baum, sich im Wechsel seiner Erscheinungsformen (kahl, belaubt, noch las geschlagenes Holz) als der immer gleiche kategoriale Sachbestand behauptet und als solcher auch sprachlich bestimmt zu werden vermag, kann dies von einem gemalten Baum niemals gelten. Die Identität eines realen Dinges beruht auf der Möglichkeit, sein Sein von seinem Erscheinungswesen zu trennen. Dies kann deshalb gelingen, weil die kategoriale Stabilität einer Sache durch ihre wechselnden Erscheinungsformen hindurch einen Vorrang behält, der traditionell auch als der Unterschied von Substanz und Akzidenzien beschrieben wurde. [...] Die Identität des gemalten Dinges konstituiert sich völlig anders. Der im Bild erscheinende Baum ist vom Ort und vom Kontext seines Erscheinens nicht abzuheben.«13

Was für Flaubert wichtig ist, das ist die literarische Wirkung. Die evozierten Dinge und die Personen sollen einen solchen konkreten Allgemeinheitsgrad erreichen, dass der Leser seine eigene Welt darin wieder finden kann. »Le plus important c’est de faire rêver.« »Ce n’était pas la peine d’employer tant d’art à laisser tout dans le vague, pour qu’un pignouf vienne démolir mon rêve par sa précision inepte.« (C, III, 226) Ein einziges Mal wünschte Flaubert, dass man einem seiner Texte ein Bild hinzufügt; er wünschte, dass man seiner Erzählung Saint Julien in den Trois Contes eine Lithochromie des entsprechenden Kirchenfensters der Kathedrale von Rouen hinzufüge.

13 Gottfried Boehm, »Zu einer Hermeneutik des Bildes«, in: H.G. Gadamer/ G. Boehm (Hrsg.), Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften. Frankfurt a.M., Suhrkamp 1978, S. 449-450. Siehe dazu auch Rolf G. Renner: »Was die eine Kunst bei der anderen erfasst und sich erborgt, unterstellt sie dem eigenen Gesetz und verändert es dadurch. Jede Aufnahme ist zugleich eine Umwandlung, doch nicht selten legt gerade das Verwandelte einen ursprünglichen Sinn frei. Dieser offenen Beziehung korrespondiert eine verdeckte. Sie weist darauf, dass sich Bilder und Texte gerade in dem treffen, was sie nicht offen abzubilden vermögen. Ausgerechnet diesen Sachverhalt aber verschweigen sie meist vor allem da, wo sie sich zitieren.« (Rolf G. Renner, »Schrift-Bilder und Bilder-Schriften. Zu einer Beziehung zwischen Literatur und Malerei«, in: Peter V. Zima (Hrsg.), Literatur intermedial, S. 173).

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»Et cette illustration me plaisait précisément parce que ce n’était pas une illustration, mais un document historique. – En comparant l’image au texte on se serait dit : ›Je n’y comprends rien. Comment a-t-il tiré ceci de cela?‹ – Toute illustration en général m’exaspère – à plus forte raison quand il s’agit de mes œuvres : – et de mon vivant, on n’en fera pas – dixi.« (C, V, 543)14

III. F LAUBERTS

VISUELLE

S ENSIBILITÄT

Wenn Flaubert das photographische Bild und die Text-Illustration ablehnt, dann weil er überzeugt ist, dass die beiden Darstellungs-Modi die spezifisch literarische Darstellungsweise nicht ersetzen können. Das heißt aber keineswegs, dass ihm eine visuelle Sensibilität abging und dass er sich nicht für die bildende Kunst interessiert hätte. Die visuelle Perzeption scheint ihm ein fast mystisches Glücksgefühl zu verschaffen. Das kann man etwa seinen Notizen zur Ägypten-Reise entnehmen: »C’est alors que jouissant de ces choses, au moment où je regardais trois plis de vagues qui se courbaient derrière nous sous le vent, j’ai senti monter du fond de moi un sentiment de bonheur solennel qui allait à la rencontre de ce spectacle, et j’ai remercié Dieu dans mon cœur de m’avoir fait apte à jouir de cette manière [...]«15

Sein Blick ist nicht nur sinnlich, sondern auch analytisch: »Je sais voir et voir comme voient les myopes, jusque dans les pores des choses.« (C, II, 30) Das Sehen ist in seinen Augen die unabdingbare Voraussetzung für das Schreiben. So rät er 1845 – er ist erst 23 Jahre alt – seinem SchriftstellerFreund Alfred de Pottevin Folgendes: »Observe bien tout cela au moins, étudie-moi chaque détail, fais-toi prunelle.« (C, I, 234). Oder etwas später gegenüber demselben Briefpartner: »Pour qu’une chose soit intéressante il suffit de la regarder longtemps.« (C, I, 252) Als er durch Ägypten reiste, machte er sich zunächst beschreibende Notizen, dann gab er, wie er schrieb, diese Albernheit bald auf. Es sei viel besser, ganz schlicht Auge zu sein (»il vaut mieux être œil tout bonnement« (C, I, 602)).

14 Flaubert konnte allerdings nicht verhindern, dass man sich nach seinem Tode nicht mehr an sein Illustrationsverbot hielt. Insbesondere zu seiner Tentation de saint Antoine gibt es zahlreiche Illustrationen, besonders die von Odilon Redon. Siehe dazu Claudia Müller-Ebeling, »Verbotene Illustrationen. Zehn illustrierte Ausgaben der Tentation de saint Antoine von Gustave Flaubert«, Philobiblon, 37. Jg., Heft 1, März 1993, S. 273-289. 15 Gustave Flaubert, Voyage en Egypte. Edition intégrale du manuscrit original établie et présentée par Pierre-Marc de Biasi. Paris, Grasset 1991, S. 274.

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Flaubert nutzte seinen Sehsinn nicht nur gegenüber der Natur, sondern auch angesichts der Werke der bildenden Kunst. Er berichtet mit großer Bewegung von der emotionalen Wirkung, die Gravuren in seiner Kindheit auf ihn ausübten. Ein großer emotionaler und intellektueller Schock wurde durch Breughels Gemälde Die Versuchung des Heiligen Antonius bei ihm ausgelöst, das er 1845 im Palazzo Balbi in Genua sah. »C’est l’œuvre de toute ma vie«, schrieb er noch 1872 in einem Brief an Frau Leroyer de Chantepie. »Puisque la première idée [du futur roman] m’est venue à Genes, devant un tableau de Breughel et depuis ce temps-là je n’ai cessé d’y songer et de faire des lectures afférentes.« (C, IV, 531) Er hatte im Übrigen schon 1845 gegenüber seinem Freund Alfred Le Pottevin gesagt, er würde seine ganze Sammlung des Moniteur und noch tausend Franken dazu geben, um dieses Bild von Breughel zu kaufen. Als er das Bild gesehen habe, habe er unmittelbar daran gedacht, diese Konfiguration für das Theater zu arrangieren. Adrianne Tooke hat auf dem Bild von Breughel sehr schön den angstvollen Blick des Heiligen festgestellt, der durch die Erscheinung der Monstergestalten erschreckt wird und seinen Blick dem Buch zuwendet, das auf seinen Knien eine Art Zuflucht darstellt. Das Buch auf dem Bild mit den schrecklichen Erscheinungen sei so eine Art mise en abîme des Schaffens von Flaubert, der auch eine letzte Zuflucht im Buch, im Text suche.16 Man findet dann bei Flaubert auch schon eine erste Beschreibung der formalen Aspekte des Bildes sowie dessen Wirkung: »Tout semble sur le même plan. Ensemble fourmillant, grouillant et ricanant d’une façon grotesque et emportée, sous la bonhomie de chaque détail. Ce tableau paraît d’abord confus, puis il devient étrange pour la plupart, drôle pour quelques-uns, quelque chose de plus pour d’autres, il a effacé pour moi toute la galerie où il est, je ne me souviens déjà plus du reste.«17

Das Bild von Breughel ist aber für Flaubert nicht so sehr eine materielle Quelle für seinen künftigen Roman als vielmehr Ausgangspunkt einer Ästhetik, die Chimären erfassen und das Unfassbare träumen will. Da Flaubert keine Reproduktion von Breughels Bild kaufen konnte, verschaffte er sich 1846 eine Gravur einer Radierung von Jacques Callot aus dem Jahre 1634, die dasselbe Sujet darstellte und die er in seinem Pavillon in Croisset auf-

16 Adrianne Tooke, Flaubert and the Pictorial Arts. From Image to Text. Oxford University Press 2000, S. 109. Wir verdanken dieser Studie wertvolle Anregungen. 17 Gustave Flaubert, Œuvres complètes, t. 10. Paris, Club de l’Honnête Homme 1973, S. 373.

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hängte. »J’aime beaucoup cette œuvre«, schrieb er in einem Brief an Louise Colet. »Il y avait longtemps que je la désirais. Le grotesque triste a pour moi un charme inouï. Il correspond aux besoins intimes de ma nature bouffonnement amère. Il ne me fait pas rire mais rêver longuement. Je le saisis bien partout où il se trouve et comme je le porte en moi ainsi que tout le monde voilà pourquoi j’aime à m’analyser.« (C, I, 307).

Flaubert fand so in diesem Bild eine Übersetzung seiner Innenwelt und seiner Ästhetik, die das Grotesk-Traurige erfassen wollte und die von diesem »unmöglichen« Sujet fasziniert war. Es gibt zahllose Kommentare von Flaubert zur Malerei, zu den Gemälden, die er gesehen hatte, sowohl in seiner Korrespondenz als auch in seinen Notizbüchern, aufgrund seiner Museumsbesuche in Frankreich, Italien und im Orient. Adrianne Tooke glaubt, dass Flaubert eine umfassendere Kenntnis der damaligen Kunstsammlungen hatte als Théophile Gautier oder die Brüder Goncourt.18 Flaubert hat aber im Unterschied zu anderen SchriftstellerKollegen nie die etablierte Gattung der Kunstkritik ausgeübt, obwohl er auch dazu angehalten wurde. »[...] je n’admets pas que l’on fasse la critique d’un art dont on ignore la tecnique! Et puis à quoi bon tant de critique!« (C, IV, 917) Flaubert glaubte so nicht, eine Kunstkritik durch die alleinige diskursive Kompetenz des Schriftstellers legitimieren zu können. In seinen Augen ist eine technische Kompetenz unabdingbar. Das belegt einmal mehr seinen ausgesprochenen Sinn für die Spezifität einer jeden Kunstgattung.

IV. D IE

PIKTURALE

S CHREIBWEISE

Ausgestattet mit einem wachen Sehsinn und einer großen Sensibilität für das bildliche Kunstwerk, aber ablehnend gegenüber der Photographie, der TextIllustration und der Kunstkritik äußerte Flaubert seinen Bild-Sinn in entscheidender Weise in seinen fiktionalen Werken und dies auf zwei Arten. Zunächst waren Kunstwerke Inspirationsquellen für seine Werke – wir haben das schon für die Versuchung des Heiligen Antonius gesehen. Er vertraute nicht bloß der Imagination. Er stützte sich für seine Romane auf eine Vielzahl schriftlicher Quellen, aber auch auf bildliche Darstellungen.

18 Andrianne Tooke, Flaubert and the Pictorial Arts, p. 97-180; id. »Flaubert on Painting: The Italian Notes (1851)«, French Studies, vol. XLVIII, 1994, S.154173.

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Dann zeichnen sich die Romane von Flaubert durch eine Vielzahl von bildlichen Passagen aus. Die zahlreichen Beschreibungen, Porträts, Szenen und Tableaux sind dem visuellen Register zuzurechnen. IV.I. K UNSTWERKE

ALS I NSPIRATIONSQUELLE

Im Roman Madame Bovary finden sich zahllose Anspielungen auf die industriell gefertigte Bilderwelt.19 In einer Wirtschaft im Saint-Gervais-Viertel essen Emma und ihr Vater aus zerkratzten bemalten Tellern, auf denen die Geschichte der Mademoiselle de La Vallière dargestellt war – eine Anspielung auf eine Geliebte von Louis XIV, die dann ins Kloster eintrat – ein Motiv, das in der katholischen bildlichen Erbauungspropaganda sehr verbreitet war. Dann betrachtet die junge Emma im Gebetbuch während der Messe die sentimentalen religiösen Vignetten. In eine fantastische Welt wird Emma entführt durch die Lektüre der Keepsake, romantische Heftchen, die neben Gedichten und Geschichten viele bildliche Darstellungen enthielten. In der Kirche von Yonville steht eine Kopie eines Bildes der Heiligen Familie, die vom Innenministerium übersandt wurde. Kunst erscheint in diesem Kontext vor allem als Kopie. In der Vitrine des Apothekers Homais steht die ästhetische Anordnung der Gegenstände völlig im Dienste des Kommerzes. Die Sentimentalität von Léon leuchtet auf, wenn er Emma mit der Figur einer Muse in Verbindung bringt, deren Abbildung er in einem Laden gesehen hat, oder wenn er sie wiederum vergleicht mit klischeehaften Figuren der bildenden Kunst etwa mit der Odaliske im Bad oder der bleichen Frau von Barcelona. Die Welt der reproduzierten Bilder ist so in Madame Bovary omnipräsent; es ist eine banalisierte Bilderwelt; es sind meist Reproduktionen von romantisch-sentimentalem Inhalt. Diese banale Bildwelt kennzeichnet vor allem Emmas Liebhaber Léon – sie steht in Parallele zur Evasions-Literatur von Emma. Für den Roman Salammbô stützte Flaubert sich auf sehr umfangreiche historische Quellen20, aber auch auf seine Orient-Erinnerungen, die er bei seiner dreimonatigen Reise nach Tunesien und Algerien 1858 auffrischte. Was für ihn noch wichtiger als die wenigen Überreste der punischen Zivilisation war, das war der unmittelbare visuelle Kontakt mit den Schauplätzen

19 Siehe dazu Jean Seznec, »Flaubert and the graphic Arts«, Journal of the Warburg & Courtauld Institutes, VIII, 1945, p.175-190; id., »Madame Bovary et la puissance des images«, Médecine de France, no 8, 1949, p. 37-40 Philippe Hamon, Imageries, passim. 20 Siehe dazu Joseph Jurt, »Literatur und Archäologie: Die Salammbô-Debatte«, in: Brigitte Winklehner (Hrsg.), Literatur und Wissenschaft. Begegnung und Intgration. FS Rudolf Baehr. Tübingen, Stauffenburg Verlag 1987, S. 101-117.

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seines Romans: »J’ai bien humé le vent, bien contemplé le ciel, les montagnes et les flots.« (C, IV, 271), so schrieb er in einem Brief. Man konnte aber auch nachweisen, dass Flaubert sich bei den Schilderungen in seinem Roman in sehr direkter Weise an Personen und Szenen erinnerte, die von Orientmalern beschworen worden waren, die damals sehr en vogue waren: Decamps, Delacroix, Horace Vernet; deren Bilde hatte er oft gesehen oder zumindest die Reproduktionen in der Zeitschrift L’Artiste.21 Für die Schilderung der 48er Revolution in L’Education sentimentale stützte Flaubert sich auf zahllose schriftliche und bildliche Quellen. Er bezog sich auf Gravuren und Lithographien, die Szenen der Revolution populär machten. Er übernahm aber nicht einfach die Vorlagen, sondern veränderte sie oder vermittelte sie über die Perspektive einer Person. Die schon erwähnte Zeitschrift L’Illustration hatte eine Broschüre Journées illustrées de la Révolution mit zahlreichen Gravuren herausgegeben. Die Bemerkung »Le fauteuil fut enlevé à tour de bras, et traversa toute la salle en se balançant«22 erinnert an eine Gravur aus dieser Broschüre »Le peuple promenant le trône de Louis-Philippe«. Im selben Kapitel liest man bei Flaubert: »Sur le trône, en dessous, était assis un prolétaire à barbe noire.« – das erinnert an eine Karikatur von Daumier mit dem Titel Le gamin de Paris aux Tuileries. Flaubert inspirierte sich in der Tat oft an den Karikaturisten wie Daumier, Gavarni und Henri Monnier für seine Personen. Sein satirischer Blick auf die Mittelmäßigkeit und Beschränktheit der Spiess-Bürger orientiert sich an diesen Darstellungen. Rosanette etwa in der Education sentimentale erinnert an Freudenmädchen von Gavarni. Wenn er die zeitgenössischen Künstler – außer Moreau – als zu akademisch betrachtete, so schätzte er doch – wie Baudelaire – die Karikaturisten sehr. Wenn er auch für volkstümliche Kunst aufgeschlossen war, dann war das im Kontext der etablierten Kultur provozierend und ironisch gemeint. Schließlich kann man noch auf die Werke der Schule von Barbizon hinweisen, die für ihn Inspirationsquelle für die Schilderung des Waldes von Fontainebleau waren. Die visuellen Vorbilder in der Kathedrale von Rouen für die Trois Contes haben wir schon erwähnt. Vertraut war er auch mit den verschiedenen Darstellungen Salomés durch Gustave Moreau, als er seine Salomé in der Erzählung Hérodias schilderte.

21 Louis Hourticq, La Vie des images. Paris, Hachette 1927, S. 208-214. 22 Gustave Flaubert, L’Education sentimentale. Paris, Garnier 1964, S. 290.

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IV.II. MALERISCHE PASSAGEN Es gibt schließlich auch zahlreiche malerische Passagen in den Fiktionen Flauberts, wo er sich selber als ein Maler mit Worten versteht, der Bilder zum Lesen schaffen will. Diese malerischen Perspektiven sind aber nicht identisch mit den Beschreibungen. Denn in den Augen Flauberts löst die einfache Beschreibung, die Aufzählung von Details noch keinen malerischen Effekt aus. Erst eine gewisse Suggestion lässt ein Bild entstehen, lässt sehen, träumen. So hat er etwa hinsichtlich der beschreibenden Poesie von Leconte de Lisle geschrieben: »Il lui manque la faculté de faire voir.« (C, II, 298). Théodore de Banville hingegen hat sehr gut das übersetzt, was Flaubert unter der malerischen Qualität der Literatur verstand. »Ce n’est pas en décrivant les objets sous leurs aspects divers et dans leurs moindres détails que le vers les fait voir /.../; mais il suscite dans leur esprit /sc. Dans celui des lecteurs/ ces images ou ces idées, et pour les susciter il lui suffit en effet d’un mot. De meme, au moyen d’une touche juste, le peintre suscite dans la pensée du spectateur l’idée d’un feuillage de hetre ou du feuillage de chene: cependant vous pouvez vous approcher du tableau et le scruter attentivement, le peintre n’a représenté en effet ni le contour ni la structure des feuilles de hetre ou de chene, c’est dans notre esprit que se peint cette image, parce que le peintre l’a voulu. Ainsi le poète.«23

Flaubert versuchte rein statische Beschreibungsverfahren zu vermeiden und ebenfalls der Versuchung der allzu gängigen romantischen Metaphorik zu widerstehen. »Je suis gêné par le sens métaphorique qui décidément me domine trop. Je suis dévoré de comparaisons, comme on l’est de poux, et je ne passe mon temps qu’à les écraser; [...]«– so in einem Brief von 1852 (C II, 220). In seinen malerischen Passagen versucht Flaubert, das Spiel des Lichts wiederzugeben, und dadurch dynamisiert er die Beschreibung. Hier ein Beispiel aus Madame Bovary: »Par les barreaux de la tonnelle et au delà tout alentour, on voyait la rivière dans la prairie, où elle dessinait sur l’herbe des sinuosités vagabondes. La vapeur du soir passait entre les peupliers sans feuilles, estompant leurs contours d’une teinte violette, plus pâle et plus transparente qu’une gaze subtile arrêtée sur leurs branchages. Au loin, des bestiaux marchaient; on n’entendait ni leurs pas, ni leurs mugissements; et la cloche sonnant toujours, continuait dans les airs sa lamentation pacifique.«24

23 Théodore de Bainville, Petit traité de poésie française. Paris, Lemerre 1891, S. 54-55 cité par Adrianne, Tooke, Flaubert, p. 74-75. 24 Gustave Flaubert, Madame Bovary. Paris, Garnier 1964, S. 147.

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Dass es sich hier um eine malerische Passage handelt, ist offensichtlich. Die visuelle Dimension wird gleich zu Beginn angesprochen durch das Verb »on voyait« (»man sah«); damit wird auch ein Blickpunkt markiert. Sichtbare Aspekte werden hervorgehoben: Farben (»violet«,»pâle«) und auch Formen (»des sinuosités«/Krümmungen, »contours«/ Konturen). Aber gleichzeitig tritt der Romancier mit Worten in Konkurrenz mit dem Maler, indem er die Landschaft als bewegte evoziert (»passait«/ ging vorbei, »estompait«/ verwischte, »marchaient«/ liefen.) Die akustische Dimension wird zunächst verneint »on n’entendait ni...ni...« (man hörte weder...noch), dann wird aber der Ton der Glocke evoziert und gleichzeitig über eine anthropomorphe Projektion interpretiert (»lamentation pacifique«/ friedliche Klage) – was nur in der Literatur möglich ist, für Flaubert eine »immaterielle Kunst«. Eine andere Beschreibung muss man in diesem Zusammenhang unbedingt erwähnen, die Beschreibung von Rouen. »J’ai l’intention de peindre Rouen« (C, II, 575), schrieb er in einem Brief an Louis Bouilhet im Mai 1855. Hier nun die Beschreibung: »Puis, d’un seul coup d’oeil, la ville apparaissait. Descendant tout en amphithéâtre et noyée dans le brouillard, elle s’élargissait au-delà des ponts, confusément. La pleine campagne remontait ensuite d’un mouvement monotone, jusqu’à toucher au loin la base indécise du ciel pâle. Ainsi vu d’en haut, le paysage tout entier avait l’air immobile comme une peinture; les navires à l’ancre se tassaient dans un coin; le fleuve arrondissait sa courbe au pied des collines vertes, et les îles, de forme oblongue, semblaient sur l’eau de grands poissons noirs arrêtés. Les cheminées des usines poussaient d’immenses panaches bruns qui s’envolaient par le bout. On entendait le renflement des fonderies avec le carillon clair des églises qui se dressaient dans la brume. Les arbres des boulevards, sans feuilles, faisaient des broussailles violettes au milieu des maisons, et les toits, tout reluisants de pluie, miroitaient inégalement, selon la hauteur des quartiers. Parfois un coup de vent emportait les nuages vers la côte SainteCatherine, comme des flots aériens qui se brisaient en silence contre une falaise. Quelque chose de vertigineux se dégageait pour elle de ces existences amassées, et son cœur s’en gonflait abondamment, comme si les cent vingt mille âmes qui palpitaient là eussent envoyé toutes à la fois la vapeur des passions qu’elle leur supposait. Son amour s’agrandissait devant l’espace, et s’emplissait de tumulte aux bourdonnements vagues qui montaient. Elle le reversait au dehors, sur les places, sur les promenades, sur les rues, et le vieille cité normande s’étalait à ses yeux comme une capitale démesurée, comme une Babylone où elle entrait.«25

Auch hier wird gleich zu Beginn die visuelle Perzeption markiert »d’un seul coup d’oeil« »mit einem einzigen Blick«, »vu d’en haut« »von der Höhe aus gesehen«. Auch hier wird die Landschaft dynamisiert durch Verben, die eine

25 Gustave Flaubert, Madame Bovary. Paris, Garnier 1964, S. 244.

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Bewegung anzeigen (»descendant« ging hinunter, »elle s’élargissait« »weitetete sich aus«,»le fleuve arrondissait sa courbe« »der Fluss schlängelte sich«, »les cheminées poussaient« »aus den Fabrikschloten quollen« usw.). Aber auch hier wird die visuelle Wahrnehmung durch die akustische ergänzt »on entendait le ronflement […] avec le carillon clair« (über dem dumpfen Dröhnen hörte man das helle Geläut der Glocken). Dann wird die visuelle Kunst noch explizit genannt. »Vu d’en haut, le paysage tout entier avait l’air immobile comme une peinture« (Von der Höhe aus erschien die Landschaft unbewegt wie ein Gemälde). Der Schriftsteller schreibt so der Malerei die Statik zu. Die Literatur erscheint dann implizit vielseitiger, weil sie das Statische zu dynamisieren vermag. Die Beschreibung erscheint gleichzeitig wie die Beschreibung eines Bildes. Es wird zwischen Hinter- und Vordergrund unterschieden. Die Stadt wird wie ein Amphitheater gesehen (Blick von oben). Formen werden erwähnt, die Krümmung des Flusses, »la forme oblongue des îles« »längliche Inseln«). Farben werden auf der Fläche verteilt »noirs«, »verts«, »brun«, »violet«. Die Beschreibung beginnt mit einem Panorama und endet mit dem Himmelshorizont in der Ferne. Die Beschreibung von Rouen ist deutlich in zwei Abschnitte gegliedert. Im ersten Abschnitt wird die Stadt so gezeigt, wie sie ist, im zweiten wird sie durch den Blick Emmas gefiltert. Die allgemeine Perspektive im ersten Abschnitt wird angezeigt durch die unpersönliche Wahrnehmung: »on apercevait« (man nahm wahr), »on entendait« (man hörte). Dann wirkt die Stadt auf Emma: »Quelque chose de vertigineux se dégageait pour elle de ces existences amassées« (Für Emma ging etwas Schwindelerregendes von dieser Masse aus), »son cœur s’en gonflait« (ihr Herz schlug höher), »son amour grandissait« (ihre Liebe wuchs). Die Wirkung der Stadt-Landschaft auf Emma gipfelt in der imaginären Verwandlung der »alten Normannenstadt« in eine »capitale démesurée« (eine übergrosse Metropole). Rouen ist in ihren Augen (»à ses yeux«) zum Babylon geworden. Die Imagination von Emma verleiht der Stadt eine Aura der Dekadenz und schreibt den braven Normands ein romantisches Leben zu, das vor allem ihrer Lektüre der romantischen Heftchen entspricht.26 Philippe Hamon stellt in der genannten Beschreibung von Rouen ein Verfahren fest, das er metonymisches Bild nennt.27 So werden die länglichen Inseln mit »großen schwarzen Fischen« verglichen; oder die Figuren der normannischen Bauern an einer anderen Stelle des Romans haben die Süßmost-Farbe. Das Bild wird nur mehr durch die Berührungsrelation geschaf26 Zur subjektiven Dimension der Beschreibung, die sich der Fokalisierung durch Emme verdankt siehe jean Maurice, Descriptions de Rouen au XIXe siècle: »›réalisme‹ et ›illusionisme‹«, Etudes normandes, no 2, 1990, S. 121-129. 27 Philippe Hamon, »Images à lire«, S. 239.

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fen und nicht mehr durch die Analogie, die der Metapher der Romantik entspricht. Diese Einebnung des Bildes bedeutet nach Hamon das Scheitern des Prinzips der Analogie in einem Roman, der nun gerade das Scheitern thematisiert. Die Realität erscheine bloß mehr als Inventar von nebeneinander gereihten Gegenständen. Die metonymischen Bilder seien so ein Pendant zu den zahllosen industriellen Bildern. Schließlich könnte man in der Education sentimentale ähnlich wie in Zolas L’Oeuvre auch noch einen Künstlerroman sehen.28 Frédéric hatte als Schüler pittoreske Sujets gezeichnet; später will er auch malen. Er zögert zwischen Malerei, Musik und Literatur und möchte dann wieder zur Malerei zurückkehren, die ihn auch in die Nähe von Madame Arnoux, der Frau des Kunsthändlers, brächte. Flaubert rahmt Frédéric mit zwei Figuren aus der Welt der Kunst ein: M. Arnoux und Pellerin, der Maler. Pellerin hieß im Übrigen auch der Erfinder der Epinal-Bilder. Ob über diesen Namen auch eine ironische Note von Seiten Flauberts anklingt? Pellerin vertritt im Roman zunächst ein ästhetisches Ideal, das dem von Flaubert entspricht; er tritt für eine Kunst ohne Kompromisse ein. Er ist allerdings eine ambivalente Figur. Trotz bester Absichten sind seine Realisierungen nicht auf der Höhe seiner Ideen. Er gibt sich damit zufrieden, die großen Meister nachzuahmen. Aus den Entwürfen zum Roman wird klar, dass Flaubert über diese Figur eine enge Mimesis-Konzeption kritisieren wollte. Pellerin malt im Roman zu drei Schlüssel-Szenen jeweils Bilder, das Porträt von Rosanette, dann das Tableau républicain und schließlich das Porträt des toten Sohnes von Rosanette. In den beiden Porträts sucht er alte Meister zu imitieren und scheitert. Im Kontext der 48er Revolution produziert er sein Tableau républicain »La République, ou le Progrès, ou la Civilisation, sous la figure de Jésus-Christ conduisant une locomotive, laquelle traversait une forêt vierge.«29 Allein schon der Titel, der in heterokliter Weise Sujets aneinander reiht, übersetzt Flauberts Ironie gegenüber einer Kunst, die sich als engagierte versteht und die er als einen Niedergang Pellerins

28 Siehe zu diesem Aspekt Alison Fairlie, »Pellerin et le thème de l’art dans L’Education sentimentale«. Europe, no 485-487. Sept.-Okt.-Nov. 1969, S. 38-50; id., »Aspects de l’histoire de l’art dans L’Education sentinmentale«, R.H.L.F., Juli-Okt. 1981, S. 597-608; Helena Shillony, »L’art dans L’Education sentimentale et L’Oeuvre: (re)production et originalité«, Australian Journal of French Studies, vol XIX, Nr. 1, 1982, S. 41-50; Claudine Gothot-Mersch, »Quand un romancier met un peintre à l’oeuvre: le portrait de Rosanette dans L’Education sentimentale«, in: Jean-Louis Cabanès (éd.), Voix de l’écrivain. Mélanges offerts à Guy Sagnes. Toulouse, Presses universitaires du Mirail 1996, S. 103-115. 29 Gustave Flaubert, L’Education sentimentale, S. 300.

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hinsichtlich seines ersten ästhetischen Ideals einschätzt. Der Niedergang wird dann nach Flaubert noch dadurch angezeigt, dass der Maler zum Photographen wird, nach Baudelaire »das Refugium aller gescheiterten Maler.«30 Der allgemeine Niedergang wird aber auch in der Figur von Arnoux angezeigt, der sich zuerst als Maler verstand, um dann Inhaber eines Kunstjournals und eines Kunstgeschäfts zu werden mit dem bezeichnenden Titel »L’Art Industriel«. Er repräsentiert die Kompromittierung der Kunst durch das Geld sowie das billig zu habende Sublime, das die Bourgeois so mögen, um dann als Devotionalien-Händler im Saint-Sulpice-Viertel zu enden. Über diese satirischen Porträts brachte Flaubert seine Enttäuschung gegenüber dem Fehlen jeder künstlerischen Sensibilität bei einer großen Zahl seiner Zeitgenossen zum Ausdruck. »Les gens soi-disant éclairés deviennent de plus en plus ineptes en fait d’art«, schrieb er in einem Brief. Anfangs 1869 »Ce qui est l’art même leur éch-appe. Les gloses sont pour eux chose plus importante que le texte« (C, IV, 4). Man kann mit Manuela Günter im Gefolge von Walter Benjamin und Gustav Le Bon einen Konnex zwischen den (neuen) Medien und der Masse sehen.31 Die Tausenden von getrennten einzelnen können unter dem Einfluss neuer Verbreitungsmedien, die heftige Gemütsbewegungen auslösen, die Kennzeichen einer psychologischen Masse annehmen. Flaubert steht diesem Konnex entgegen. Er wollte immer gegen die Masse schreiben, verstand sich als Zugehöriger einer kleinen Kunstgemeinde und war nicht bereit, Kompromisse einzugehen. Nicht die Breitenwirkung war ihm wichtig, sondern das ästhetische Überleben. Gegenüber den neuen Medien – der Photographie, der vervielfältigten Bilder, der Presse – war er äußerst skeptisch. Trotzdem sind die Medien in seiner Welt ex negativo präsent. Er unterstreicht sehr stark die Spezifität eines jeden Mediums. Er behauptet noch einmal den Primat der Literatur und will durch sein Werk den Beleg erbringen, dass diese jeder Konkurrenz gewachsen ist, ja die visuellen Medien überbieten kann.

30 Baudelaire, »Salon de 1859«, in: Critique d’art. Paris, Gallimard, 1992, S. 278. 31 Manuela Günter, Im Vorhof der Kunst: Mediengeschichten der Literatur im 19. Jahrhundert. Bielefeld, transcript 2008.

Adolf Wölfli C HRISTIANE W ELLER (M ELBOURNE )

»Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen. Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte »Geist«, »Seele« oder »Körper« nur auszusprechen. [...] die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urtheil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze. [...] Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muß: Wirbel sind sie, in die ich hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt. [...] Seiher führe ich ein Dasein, [...] das nicht ganz ohne freudige und belebende Augenblicke ist. [...] es ist ja etwas völlig Unbenanntes, auch wohl kaum Benennbares, das, in solchen Augenblicken, irgendeine Erscheinung meiner alltäglichen Umgebung mit einer überschwellenden Flut höheren Lebens wie ein Gefäß erfüllend, sich mir ankündet.«1

Die Worte entfallen Chandos, er fällt aus der Sprache heraus in die Welt der Objekte. Nicht die Sprache spricht zu ihm, sondern das wortlose, stumme Ding. Es erschließt sich ihm und zugleich öffnet sich ihm das Erhabene, eine gleichsam göttliche Vision bemächtigt sich seiner. Ein psychotischer Zustand, ein halluzinatorisches, parasitäres, befremdendes Erleben, in dem die Sprache versagt, dieses aber im Falle des Briefs gleichwohl äußerst beredt in Worte gefasst werden kann. Während Chandos die psychotische Sprache

1

Hugo von Hofmannsthal: »Ein Brief«, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. XXXI, Erfundene Gespräche und Briefe, hrsg. v Ellen Ritter, Frankfurt a.M. 1991, S. 4555, S. 48-50. Vgl. zu Ein Brief auch: Gotthart Wunberg: Der frühe Hofmannsthal. Schizophrenie als dichterische Struktur, Berlin 1965.

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beschreibt, verfehlt er sie. Die Metapher, die Chandos nicht mehr zu verstehen meint, bleibt in seinem Schreiben tragfähig. Die Psychose inszeniert sich hier nicht im Sprechen, wie z.B. bei Thomas Bernhard, dennoch rückt der Chandos-Brief die Verflochtenheit von Sprache, Objekt und Körper, wie sie in der psychotischen Erfahrung sichtbar wird, ins Blickfeld. Dieser Verbindung – diesem Zusammenfließen von Schriftlichem und Visuellem, Wort und Objekt – möchte ich im Folgenden unter Bezugnahme auf einige Werke der Prinzhorn-Sammlung bzw. der von Adolf Wölfli nachgehen. Denn das, was im Chandos-Brief in literarischer Sprache verhandelt wird, wird in den Werken von Wölfli und den Prinzhorn-Künstlern im Übergang vom Visuellem zum Schriftlichen evident. Die Prinzhorn-Sammlung besteht aus den von Hans Prinzhorn und Karl Willmanns in Heidelberg zusammengetragenen Werken psychiatrischer Patienten, die in deutschen, österreichischen und schweizerischen Kliniken um die Jahrhundertwende behandelt wurden. Doch nicht nur Hans Prinzhorn, von 1918 bis 1922 unter Willmanns Assistenzarzt in der Heidelberger Psychiatrie, der neben Psychologie und Medizin auch Philosophie, Musik und Kunstgeschichte studiert hatte,2 beschäftigt sich mit der »Bildnerei der Geisteskranken«.3 Besonders in Bezug auf den Zusammenhang von Schriftlichem und Visuellem, sowie durch seine detailierte Analyse des Werks von Wölfli sei hier der Schweizer Psychiater Walter Morgenthaler zu nennen.4

2

3

4

Thomas Röske ließ seine Dissertation über Prinzhorn unter dem Titel Der Arzt als Künstler erscheinen. Thomas Röske: Der Arzt als Künstler – Ästhetik und Psychotherapie bei Hans Prinzhorn. Bielefeld 1995. Vgl. auch Werner Mirbach: Psychologie und Psychotherapie im Leben und Werk Hans Prinzhorns (1886-1933), (= Beiträge zur Geschichte der Psychologie, hrsg. v. Helmut E. Lück (Hrsg.), Bd. XX), Frankfurt a.M. 2003. Hans Prinzhorn: Die Bildnerei der Geisteskranken. Ein Beitrag zur Psychologie und Psychopathologie der Gestaltung, Berlin 1922. Andere frühe Arbeiten zum Thema: Marcel Rèja: Die Kunst der Verrückten, Wien/New York 1997 [im französischen Original L’art chez les fous, 1907]. Fritz Mohr: »Über Zeichnungen von Geisteskranken und ihre diagnostische Verwertbarkeit«, in: Journal für Psychologie und Neurologie 8 (1906) 3: S. 99-140. Alfred Kubin: »Die Kunst der Irren«, in: Das Kunstblatt (1922): S. 185-190. Karl Jaspers: Strindberg und van Gogh, Berlin 1925. Richard Arwed Pfeiffer: Der Geisteskranke und sein Werk, Leipzig 1923. Hans Bürger-Prinz: »Über die künstlerischen Arbeiten Schizophrener«, in: O. Bumke (Hrsg.): Handbuch der Geisteskrankheiten, Bd. IX, Berlin 1932, S. 668-704. Walter Morgenthaler: Ein Geisteskranker als Künstler. Adolf Wölffli, Wien 1985, [Erstveröffentlichung: Bern 1921]. Ders. »Übergänge zwischen Zeichnen und Schreiben bei Geisteskranken«, in: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 3 (1918): S. 255-305.

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Prinzhorn liest das Schaffen des psychotisch Kranken vor allem auf seinen künstlerischen Wert hin, d.h. auf die Gestaltungsprinzipien im Sinne einer an Ludwig Klages orientierten Ausdruckslehre und eines an Conrad Fiedler und Aby Warburg geschulten Kunstbegriffs. Schon Ernst Kris hatte diesen ästhetischen Ansatz Prinzhorns kritisiert, und die Werke als einen Selbstrettungsversuch des vom psychotischen Zerfall bedrohten Ichs gesehen. Inge Jádi, die in den 1980er Jahren Kuratorin der Prinzhorn-Sammlung wurde, betont, dass sowohl ein rein ästhetisches Interesse als auch ein rein psychiatrisches den Werken nicht gerecht wird. Für sie ist das Werk allerdings so zwingend mit der Existenz des Psychotikers verknüpft, dass es nur in Serie, als ganzes Œuvre, verstanden werden kann. Der repetitive, zwanghafte Charakter der Werke, die immer wieder das gleiche Thema umkreisen, offenbart eine Logik, die anders ist, als die nicht-psychotischer Kunst.5 Den zwanghaften, seriellen Charakter des Schaffens hebt auch Morgenthaler am Beispiel Wölfli hervor. »Scheinbar das Gegenteil seines [Wölflis] Schaffens ist seine Masslosigkeit, die sich als Funktion hauptsächlich im Nichtaufhörenkönnen zeigt: Er schreibt und schreibt und schliesst endlich ab, um gleich noch etwas hinzuzufügen, oder überhaupt, vom letzten Satz ausgehend gleich etwas Neues frisch anzufangen und wenn es auch nur eine Variation des soeben Beendeten wäre.«6

Morgenthaler spricht hier auch von dem Horror vacui, von dem Zwang, keine Lücken entstehen zu lassen7, welches, wie er in seinem Aufsatz »Übergänge zwischen Zeichnen und Schreiben bei Geisteskranken« sowohl dekorative Zwecke haben kann, aber auch den Erregungsphasen in der Schizophrenie sowie katatonischen Zuständen geschuldet sein mag.8 Morgenthaler deutet Wölflis Bild-, Schrift- und Klangwelten vor dessen biographischen Hintergrund, liest in ihnen Erregungs- und Ruhezustände, als auch die zwanghafte Wiederholung kindlichen Erlebens ab. Auch Jacques Lacan versteht in einem 1933 erschienen Aufsatz Psychose zwar als eine schöpferische Kraft, aber ebenso als ein Problem der Kommunikabilität des kognitiven Prozesses.9 Ihm geht es, ausgehend von Freud, in 5

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Inge Jádi: »Blickwinkel – Sehweisen – Horizonte«, in: Wahnsinnige Schönheit. Prinzhorn Sammlung [Ausstellungskatalog], Verlag Das Wunderhorn. 1997, S. 24-34, S. 32f. Morgenthaler: Ein Geisteskranker als Künstler, S. 16. Ebd., S. 16. Morgenthaler: »Übergänge zwischen Zeichnen und Schreiben bei Geisteskranken«, S. 282-283. Jacques Lacan. »Allgemeiner Überblick über unsere wissenschaftlichen Arbeiten (1933)«, in: ders., Über die paranoische Psychose in ihren Beziehungen zur Per-

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seinen Arbeiten zur Psychose um die sich sprachlich niederschlagende Struktur derselben. Freud hatte schon 1894 vorgeschlagen, dass die grundlegende Struktur der Psychose auf der Verwerfung basiert.10 Wie die Verleugnung der ödipalen Situation die Neurose bedingt, so sitzt die Psychose auf der Verwerfung der Kastrationsandrohung auf. Diese beiden grundsätzlich verschiedenen Abwehrhaltungen bestimmen fürderhin die Beziehung des Subjekts zur Außenwelt und zur Realität. Die Verwerfung ist nach Freud weitaus radikaler als die Verleugnung, da sie nicht zur Verdrängung ins Unbewusste und damit zur Rückkehr des Verdrängten führt, sondern zu einer radikalen Abspaltung des Unerträglichen. Während in der Neurose, die Realität durch Tagträume und Fantasien stets neu verhandelt werden kann, wird sie in der Psychose durch das Wahnsystem überschrieben. Dieses Wahnsystem besitzt eine eigene Logik, die mit der der Realität rivalisiert, und die dem psychotischen Ich vermeintlich die nötige Unterstützung gewährt. Dieser Mechanismus der Verwerfung ist für Lacan nur in Bezug auf die Sprache zu denken. Die ödipale Triangulierung ergibt sich für Lacan in und aus der Sprache, bzw. der symbolischen Ordnung heraus. Sie ist gebunden an die Signifikation; eine Signifikation, die auf dem Postulat eines ursprünglichen Signifikanten aufsitzt. Dieser ursprüngliche oder phallische Signifikant, der Namedes-Vaters, ist in der Psychose verworfen, d.h. der Anker- oder »Steppunkt«11 des symbolischen Systems wird als solcher nicht etabliert. Könnte man also in Anlehnung an Freud und Lacan die Verwerfung des ursprünglichen Signifikanten als das die Psychose strukturierende Moment begreifen, möchte ich an dieser Stelle nochmal etwas anders ansetzen, nämlich bei Freuds Differenzierung der Wort-, Sach- und Objektvorstellung und seinem Konzept des Dings. Dies besonders im Hinblick darauf, da die Werke der Psychotiker, so z.B. von Else Blankenhorn, Barbara Suckfüll, Heinrich Hermann Mebes, Oskar Herzberg, August Johann Klose – alle vertreten in der Prinzhorn-Sammlung – sowie von Adolf Wölfli eine ständige »Gattungsübertretung« inszenieren. Stephan Kammer spricht hier in Bezug auf Wölfli von einem »Fundamental-Graphismus«,12 einer »irreduziblen Hybridität«,13

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sönlichkeit und frühe Schriften über die Paranoia, hrsg. von Peter Engelmann, Wien 2002, S. 397-404. Sigmund Freud: »Die Abwehr-Neuropsychosen«, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. I, hrsg. von Anna Freud et al. Frankfurt a.M. 1999, S. 57-74. Jacques Lacan: Die Psychosen. Das Seminar von Jacques Lacan. Buch III, hrsg. von Jacques-Alain Miller, Weinheim/Berlin 1997, S. 305ff. Stephan Kammer: »Auf/Zeichnung. Funktionen des Skriptualen bei Adolf Wölfli«, in: Gernot Grube, Werner Kogge und Sybille Krämer (Hrsg.), Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, München 2005, S. 343-356, S. 354. Kammer: »Auf/Zeichnung. Funktionen des Skriptualen bei Adolf Wölfli«, S. 344.

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in der die Kategorien »Text« und »Bild« nicht mehr zu unterscheiden sind. In seinem Artikel »Das Unbewußte« definiert Freud die Wortvorstellung als an die Sachvorstellung gebunden, d.h. zusammengefügt zur Objektvorstellung und enthalten im Vorbewussten, bzw. im Bewusstsein. Die Sachvorstellung wiederum ist im Unbewussten verankert.14 In Lacans Lesung ist die Wortvorstellung damit an das Realitätsprinzip gebunden, die Sachvorstellung an das Lustprinzip. Die Übersetzung der Sachvorstellung in die Wortvorstellung – der Wahrnehmung in Bewusstsein – geht einher mit der Ablösung des Primärprozesses durch den Sekundärprozess.15 Während also Sachvorstellung und Wortvorstellung prinzipiell anders gestaltet sind, wird in der Psychose diese Differenzierung oder Abgrenzung und damit der Primär- und Sekundärprozess instabil. Peter Widmer, in seiner Beschäftigung mit den Psychosen, definiert Freuds Konzepte der Paraphrenie und der Paranoia als zwei, innerhalb des Spektrums der Psychose unterschiedliche Strategien in Bezug auf die Wort- bzw. Sachvorstellung. Nach Widmer ist die Paraphrenie (Freuds Begriff für die Schizophrenie) ein Verlust der Sachvorstellung, die zu einer Überbesetzung der Wortvorstellung in der Objektvorstellung führt. Mit diesem Verlust bleibt dem Subjekt nur die leere Hülle der Sprache. Das Subjekt schützt sich gegen diesen Verlust, indem es Wörter besetzt als seien es Objekte. Resultat ist die für die Schizophrenie typische delirische Rhetorik.16 Die Wortvorstellung bezieht sich hier nicht auf die Sachvorstellung sondern auf den Klang oder das Klangbild,17 Freuds sogenannte Organsprache.18 Lacan verweist auf die Wort-Affinität in der Schizophrenie.19 Die Wortvorstellung, die keine Sachreferenz in Bezug auf die Realität hat, wird in den Körper übersetzt. Die Patienten, deren Arbeiten ich im Folgenden untersuchen möchte, sind ihren Krankenakten zufolge als schizophren oder auch wie im Fall von Wölfli als schizophren paranoisch beschrieben worden. In der Paranoia ist das Verhältnis zum Objekt etwas anders gelagert als in der Schizophrenie. Paranoia als Identifikationsstörung mit der Autorität oder

14 Sigmund Freud: »Das Unbewußte«, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. X, hrsg. von Anna Freud et al., Frankfurt a.M. 1999, S. 263-303. 15 Jacques Lacan: Die Ethik der Psychoanalyse. Das Seminar Buch VII (1959-1960), Weinheim/Berlin 1996, S. 65. 16 Peter Widmer: »Paraphrenie – Ein vergessenes Konzept Freuds«, in: Peter Widmer und Michael Schmid (Hrsg.), Psychosen: Eine Herausforderung für die Psychoanalyse. Strukturen, Klinik, Produktionen, Bielefeld 2007, S. 75-101, S. 97. 17 Michael Meyer zum Wischen: »Zur Erfindung des Namens«, in: Peter Widmer und Michael Schmid (Hrsg.), Psychosen: Eine Herausforderung für die Psychoanalyse. Strukturen, Klinik, Produktionen, Bielefeld 2007, S. 121-149, S. 129. 18 Widmer: »Paraphrenie – Ein vergessenes Konzept Freuds«, S. 98. 19 Lacan: Die Ethik der Psychoanalyse, S. 57.

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dem Gesetz ist übertragen auf die Sprache eine Störung vor allem in Bezug auf das, was dieser Sprache als Gesetz zugrundeliegt, d.h. den phallischen Signifikanten. Die paranoide Störung führt zu einem Zerfall der Wortvorstellungen und einer Überbetonung der Sachvorstellungen. In der Paranoia versucht das Subjekt den Körper zu limitieren, der nach Widmer »der schrankenlosen Lust« ausgeliefert ist.20 Dieser Exzess der Lust sucht, nach Lacan, nach einer Begrenzung,21 die in den wahnhaften Regeln und Gesetzen, von denen sich der Paranoiker verfolgt fühlt, immer wieder durchgespielt wird. Für Widmer ist die Paranoia eine Struktur, in der der unkastrierte Körper auf der Suche nach einem Gesetz ist, wogegen in der Paraphrenie oder Schizophrenie die Wortvorstellung nach einem Objekt sucht.22 Der Versuch der Selbstheilung, hier im psychotischen Symptom, besteht in der Paranoia demnach in einem »Wiederanklammern« an das Gesetz, in der Schizophrenie in dem »Wiederanklammern« an die Objekte.23 Ob sich diese Unterscheidung schlüssig im bildnerischen Werk der Psychotiker ablesen lässt, kann im Rahmen dieses Artikels allerdings nicht beantwortet werden. Vielmehr scheint mir, dass in der bildernischen Ausgestaltung des Wahns beide Aspekte mit unterschiedlicher Betonung zum Tragen kommen. Referenzpunkt sowohl der Sache als auch des Wortes ist für Freud das Ding. Es wirkt regulierend und limitierend, als ein ewiges Versprechen, dass dort jenseits des Objekts mehr sei.24 Auch für Lacan ist dieses Ding etwas, das, zwar eng an die Sache oder das Wort gebunden, seinen Platz an einem anderen Ort hat, fremd, gar feindlich dem Subjekt als das ganz Andere, ganz Äußerliche gegenübersteht.25 Die Wortvorstellung ist das Bewusstsein in Bezug auf die Sachvorstellung, die wiederum der Wahrnehmung gleichkommt. Lacan formuliert dies auf Deutsch als »Die Sache ist das Wort des Dinges«.26 Während also die Wortvorstellung eine Übersetzung der Sachvorstellung in das Medium der Sprache auf der Ebene des Vorbewussten/Bewussten ist, ist die Sachvorstellung eine Übersetzung des Dings in das Unbewusste, d.h. dies Ding »wird zum Ursprung aller Repräsentanzen und Vorstellungen von Vollkommenheit«.27 Das Ding wird hier zum eigentlichen

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Widmer: »Paraphrenie – Ein vergessenes Konzept Freuds«, S. 99. Lacan: Die Ethik der Psychoanalyse, S. 69 Widmer: »Paraphrenie – Ein vergessenes Konzept Freuds«, S. 99. Ebd., S. 100. Hans-Dieter Gondek: »Die Sprache und das Ding bei Freud und Lacan«, in: texte – psychoanalyse. ästhetik. kulturkritik, Heft 4/1993, 13. Jg.: S. 7-26. S. 10. 25 Lacan: Die Ethik der Psychoanalyse, S. 67. 26 Ebd., S. 80. 27 Peter Widmer: »Das Unbedingte der Psychoanalyse – oder: Der Krug geht zum Brunnern bis er bricht«, in: August Ruhs und Walter Seitter (Hrsg.), Auflösen,

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Objekt des Begehrens. Repräsentiert wird es nach Freud und Lacan von der Mutter, dies jedoch nur unvollkommen, da auch die Mutter bzw. die Beziehung des Kindes zu ihr mit einem Mangel behaftet ist. In dieser Übersetzung des Noumenalen ins Empirische geht das Andere des Anderen verloren. Diese Sachvorstellung historisiert und kategorisiert das absolut Andere und versieht es mit Attributen. Die Übersetzung von einer Vorstellung in die andere bringt Verschiebung, Verdichtung, Metonymisierung und Metaphorisierung mit sich. Diese Verstellungsarbeit überdeckt das Unerhörte, – diesen Wunsch nach Einheit oder Vollkommenheit – während er doch gleichzeitig virulent bleibt. Das Ding als Flucht- oder Referenzpunkt der Signifikation ist die Leere oder Leerstelle, diese strukturierende und bindende Kraft »im Zwischenraum der Signifikanten«.28 Dieser Aspekt des Dings bleibt im phallischen Signifikanten oder im Namen-des-Vaters erhalten. Der phallische, ursprüngliche Signifikant ruht auf auf diesem halluzinatorischen Ding, d.h der Signifikant verweist auf eine Wahrheit, die jenseits seiner selbst liegt, und für die das Ding einsteht. Von dieser Überlegung ausgehend, könnte man sagen, dass in der nicht-psychotischen Sprache der Verweischarakter als solcher offensichtlich bleibt. Das Ding verbleibt im Halluzinären, der ursprüngliche Signifikant verweist auf etwas, was stets sowohl präsent als auch verloren bleibt. Das Gesetz, der Name-des-Vaters, ist ein Pakt, der den Umgang des nicht-psychotischen Subjekts mit der Wirklichkeit regelt, welches, wie in der Neurose, verleugnet werden kann, aber auch in dieser Verleugnung stets als existent begriffen oder bejaht wird. Die Verwerfung des ursprünglichen Signifikanten in der Psychose, und damit die Verwerfung einer Wahrheit, deren Garant das Ding ist, zerstört den Konnex zwischen Subjekt und Wirklichkeit. Der Verweischarakter, verstanden als metaphorischer Umgang mit der Wirklichkeit, bleibt dem psychotischen Subjekt verschlossen. In der Psychose ist dies die Erfahrung der absoluten Entfremdung, in der die Objekte/Gegenstände »sprechen«, sich offenbaren wie im Chandos-Brief, und andersherum die Wörter zu Objekten werden können, d.h. die Signifikanten keine Signifikate also keine Bedeutungen im Kontext einer allgemeinverständlichen Sprache mehr haben. Hier, wo keine Bedeutung mehr ist, wird alles Bedeutung. Der Psychotiker bedient sich nach Lacan der Signifikanten, nicht um etwas zu signifizieren, sondern um zu täuschen.29 Doch die Imitation der Sprache verfehlt die Wirklichkeit. Das Wort wird zur Formel

Untersuchen, Aufwecken. Psychoanalyse und andere Analysen, Wien 1995, S. 169-195, S. 175. 28 Widmer: »Das Unbedingte der Psychoanalyse – oder: Der Krug geht zum Brunnen bis er bricht«, S. 177. 29 Lacan: Die Psychosen, S. 221.

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oder zum »Losungswort«,30 das Blei »im Netz des Diskurses«.31 Auf der Schnittstelle von Schreiben und Zeichnen, von Schriftlichem und Visuellem, wird dies, wie schon Morgenthaler gezeigt hat, besonders evident. Das Werk von Else Blankenhorn (1873-1921) aus der PrinzhornSammlung, bestehend aus Hunderten von gemalten Geldscheinen, lässt auf ein Wörtlichnehmen der Metapher schließen bzw. auf eine Sprache, der sich die Metapher verschließt. Blankenhorn stammte aus großbürgerlichen Verhältnissen. In ihrer Schulzeit sexuell missbraucht, litt sie unter körperlichen Fragmentierungsängsten, glaubte ihre Nerven seien zerrissen und ihr Kopf löse sich vom Körper. Nach dem Tod des ebenfalls schizophrenen Vater befürchtete sie, ihre Mutter sei ermordet worden und auch sie selbst solle vergiftet werden, auch dass sie schwanger und ihr Gehirn durchlöchert sei. Eingewiesen in die Anstalt Reichenau malte, schrieb und komponierte sie. In ihrer Wahnwelt imaginierte sie sich als engelsgleiche Else von Hohenzollern, lebte zusammen mit Kaiser Wilhelm II und strickte ihm wollene Unterhosen. Ihre Pflegerin komplementierte die Verbindung zwischen ihr und Wilhelm II. In dieser heiligen Trinität glaubte sie die Toten, zumeist tote Ehepaare, auferstehen lassen zu können. Um allerdings die hungrigen Toten zu versorgen, brauchte es Geld, welches sie in unzähligen hochdotierten Geldscheinen produzierte.32 Feste Bestandteile dieser Zeichnungen sind das Motiv von mindestens zwei frontal, den Betrachter direkt anblickenden Engelsfiguren, die die Beine eng aneinanderliegend zur Seite gebogen haben. Die Augen sind stark betont und erinnern fast wie bei Wölfli an eine Brille oder Maske, auch tragen die Engel Ringe in beiden Ohren. Oftmals ist ein Reichsadler beigefügt, gelegentlich eine kleine (Kinder-?)Figur, sowie ein ausgemalter Kreis, an einen Erdball oder die Sonne erinnernd.33 Beschriftet sind die Zeichnungen mit einem Geldwert, z.B. »100000 Milliarden« oder »200 Centuplonen«34 sowie einer Art Garantie oder einem Versprechen. Eines ihrer Werke kommentierte Blankenhorn einer Erklärung auf der Rückseite der Zeichnung zufolge so:

30 Ebd., S. 306. 31 Lacan: Die Psychosen, S. 43. 32 Siehe Fallbeschreibung von Bettina Brand-Clausen im Austellungskatalog: Sammlung Prinzhorn. Wunderhülsen & Willenskurven. Bücher, Hefte und Kalendarien, Bettina Brand-Clausen und Erik Stephan (Hrsg.), Gera 2002, S. 159. 33 Vgl. Austellungskatalog: Sammlung Prinzhorn. Wunderhülsen & Willenskurven. Bücher, Hefte und Kalendarien, S. 32-33, sowie Wahnsinnige Schönheit. Prinzhorn-Sammlung, Das Wunderhorn GmbH 1997, S. 61. 34 Siehe Sammlung Prinzhorn. Wunderhülsen & Willenskurven. Bücher, Hefte und Kalendarien, S. 32-33.

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»Die Figuren sind Schutzengel, die Pat. zur Beruhigung braucht. Der große links oben hat einen kleinen auf dem Schoß. Die/ Ohrringe dienen lediglich zur Anschauung. Das Geschlecht der Engel ist nicht zu erkennen. Das sei bei/ Engeln immer so. Die Beine seien zusammengewachsen. »Das ist sicher so, damit nichts/ passiert«. – Den Reichsadler und die Kaiserkrone habe »Wilhelm« ihr geschenkt.–/ »200 Centuplonen« sei falsch. Es müsse heißen »Quadroplonen«.«35

Blankenhorn beschreibt hier ihre Arbeit als verweise diese auf ein Bedeutungssystem, dass sie selbst nur quasi unwillkürlich wiedergeben kann. Die zusammenge-wachsenen Beine der Engel entspringen nicht ihrer Phantasie, sind nicht ihre Erfindung, sondern sind vorgegeben, und können daher nur abgebildet werden. Über ihren Sinn kann Blankenhorn nur mutmaßen. Auch die Veranschaulichung durch die Ohrringe verweist scheinbar auf einen symbolischen Gehalt, ohne dass dieser tatsächlich näher identifiziert werden könnte. Oder ist die »Anschauung« der Ohrringe nicht so sehr Veranschaulichung als vielmehr ein »Angeschautwerden« durch die Ohrringe, die dem Betrachter als von der Seite gezeigte Kreolen erscheinen, als verdoppelten und unterstrichen sie die stark betonten Augen der Engelsfiguren. Bemerkenswert ist auch der Fehler, der Blankenhorn unterlaufen ist, als habe sie etwas mißverstanden, als sei der Wert der Banknote selbstevident. Ihre Produktion wird von Blankenhorn selbst als Re-Produktion begriffen. In seiner Arbeit zu Wölfli merkt Morgenthaler an, wie sich die Einzelheiten des Dargestellten über Jahre hinweg gleichbleiben bzw. wie ein Motiv, dass Wölfli in den Anfangsjahren in der Anstalt Waldau gemalt hatte, in genau der gleichen Form viele Jahre später, ohne dass die frühere Arbeit präsent gewesen wäre, noch einmal mit genau den gleichen Details wiederholt. Morgenthaler schließt daraus, dass Wölfli besonders in seinen Sonnenbildern lediglich seine optischen Halluzinationen wiedergibt.36 Mag also der »falsche« Geldwert bei Blankenhorn auf eine Missrepräsentation des Wahngebildes hinweisen, so scheint das »Verschreiben« in einem Text ihrer Geldscheinzeichnungen anders gelagert. Der Text der Zeichnung lautet: 100000 MILLIARDEN • EDLE FREUNDSCHAFT • DER GANZEN ERDE – • IN TREUEREHELIEBE • PFLICHTTEUELIEBE – WILHELMELSEBERTA ELSE37

35 Ebd., S. 32. 36 Morgenthaler: Ein Geisteskranker als Künstler, S. 52f. 37 Zitiert nach Sammlung Prinzhorn. Wunderhülsen & Willenskurven. Bücher, Hefte und Kalendarien, S. 33. Exponat Katalognummer 26.

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Auffallend an diesem Text sind neben der Unterstreichung und der durchgängigen Großschreibung, das Ineinander-Laufen der Wörter und der »Fehler« im Wort »PFLICHTTEUELIEBE«. Die letzteren beiden Formen können als Neologismen verstanden werden, ein typisches Merkmal psychotischer Sprache, in der die tradierten Sprachelemente dem Erleben des Psychotikers keinen adäquaten Ausdruck zu verleihen vermögen. Diese Aneinanderreihung von Substantiven findet sich auch in der ProsaWölflis, so in Wortschöpfungen wie »Gott-Vatter-Himmel-SteernRiesen-Gletscher«38 oder »Santta-Maria-Steern-Riesen-Doorn-Riesen-Grand Platz«.39 Morgenthaler zufolge dienen diese Wörter dazu, auf zentrale Zusammenhänge innerhalb des Wahnsystems zu verweisen.40 Wie bei Blankenhorn wird auch bei Wölfli sowohl der eigene Name, als auch der Name von Autoriäten in diese Weise hervorgehoben. Er unterzeichnet seine Werke zumeist in späteren Jahren mit »heil. Skt Adolf II« bzw. Formulierungen wie »Gezeichnet seine steerbende Exzellentz, Ritter, Adolf, von Skt. AdolfHeim. Herzogtumm, Skt. Adolf-Wald. Europa. Eerde. Schöpfung. Weltall«.41 Abbildung 1: Else Blankenhorn: 100000 Milliarden (Geldschein)

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Wölfli, zitiert nach Morgenthaler: Ein Geisteskranker als Künstler, S. 23. Wölfli, zitiert nach ebd., S. 35. Ebd., S. 19. Wölfli, zitiert nach ebd., S. 37.

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Bei Blankenhorns Wort »PFLICHTTEUELIEBE« ist man zuerst versucht, dies hingegen nicht als Neologismus sondern als Lapsus zu lesen. Das Vergessen des Buchstaben »R« als eine Rückkehr dessen, was im Unbewussten verschlossen gehalten werden sollte. Nicht »Treue« hält hier »Pflicht« und »Liebe« zusammen, sondern das Element »teue«, dass sich umstandslos auf »teuer« erweitern ließe. Man fühlt sich an Freuds Traum erinnert, in dem dieser das Essen oder Kosten des Spinats, mit dem Wunsch erklärt, nicht für alles (z.B. die Liebe seiner Frau) teuer bezahlen zu müssen.42 Doch was in der Neurose, oder hier in Freuds Traum wiederkehrt, kehrt aus dem Unbewussten zurück, beruht also auf Verleugnung. Das Verworfene jedoch kehrt nach Lacan nicht aus dem Unbewussten zurück, sondern quasi von Außen, aus dem Realen. Das Wort ist also nicht Indiz für ein unerhörtes, im Lapsus zu hörendes Begehren sondern für eine gezielte Anpassung der Sprache an die Logik des Wahns. Die Verbindung von Liebe und Geld ist hier nicht metaphorisch zu verstehen, oder nur insofern als die Metapher in der Psychose stets wörtlich genommen werden. Das Wort verweist nicht auf andere Worte, operiert nicht fluid im symbolischen Feld, sondern weist auf einen bestimmten Punkt, ein Objekt, eine Stelle außerhalb. Wie um die sexuelle Bedrohung im Nachhinhein abzuwehren, die Beine der Engel fest zusammengewachsen sind, so gehen die Wörter feste Verbindungen ein. Die Sprache wie auch der visuelle Ausdruck gerinnen in einer Geste der unendlichen Wiederholung. Die Massenproduktion der Geldscheine soll nach Blankenhorns Logik das Loch, das der Tod und die Liebe geschlagen haben, – hier der phantasierte Tod der Ehepartner und ihre teure Wiederauferstehung – stopfen. Die Wahnvorstellung findet sich gebannt in dem einen Wort, welches erweitert werden könnte auf den Satz: Blankenhorns Verpflichtung durch die und zur Liebe ist (zu?) teuer. Im Geldschein findet dieser Sachverhalt seinen sinnfälligen Ausdruck. Die Lebensumstände, d.h. die frühe sexuelle Traumatisierung und die Disfunktion des Vaters werden hier nicht neurotisch sondern psychotisch »verarbeitet«. Auch bei Wölfli wird die eigene Lebensgeschichte in einem Wort bzw. einem immer wiederkehrenden bildnerischen Motiv komprimiert, dem des »Unfalls« oder Sturzes. Er selbst unterzeichnet z.B. mit »Adolf Wölfli. Ausrangierter Unfall«.43 Der Fall oder »Un=Fall« kondensiert den Sündenfall (d.h. die ersten sexuellen Erfahrungen und Übergriffe), den Fall der Familie (der Vater ist Alkoholiker, die Mutter »liederlich«) und den Fall aus der Familie (mit 8 Jahren wird Wölfli Verdingbub), die verschiedenen Unglücksfälle (Missgeschicke, die Wölfli zustoßen und für die er hart bestraft wird, auch der Verlust der Liebesbezie42 Sigmund Freud: »Über den Traum«, in: ders., Gesammelte Werke., Bd. II, hrsg. von Anna Freud et al., Frankfurt a.M. 1999, S. 643-700, 649ff. 43 Wölfli, zitiert nach Morgenthaler: Ein Geisteskranker als Künstler, S. 38.

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hung mit 18 Jahren), den medizinischen Fall (als Patient in der Waldau). Das Wort wird hier »beim Wort genommen« und erscheint bildnerisch im Motiv des Fallens oder Stürzens. Dieser Sturz endet entweder mit einer wundersamen Rettung, einem Auffangen des Stürzenden oder einem Zerschellen am Boden, auf das aber gleich wieder eine Auferstehung folgt. Auch den Namen, den sich Wölfli gibt – Skt. Adolf II – mag man vor diesem Motiv des Fallens und Auferstehen deuten, der eigene Name zwischen dem Verweis auf die Heiligsprechung, d.h. die Auferstehung, und den Tod bzw. dessen Überwindung, steht doch die II buchstäblich für diesen später geborenen, zweiten Adolf in der Familie.44 Ähnlich funktionieren die in den Zeichnungen alle Leerstellen ausfüllenden »Vögeli« – diese sind die Übertragung des sexuellen Begriffs ins Bildliche. Abbildung 2: Adolf Wölfli: Die Kreuzigung Jesus Christi (1917)

44 Adolf Wölfli hatte einen früh verstorbenen Bruder gleichen Namens, nach dem Wölfli benannt wurde. Vgl. Julius von Ries: Über das Dämonisch-Sinnliche und den Ursprung der ornamentalen Kunst des Geisteskranken Adolf Wölfli, Bern 1946. Zit n. Alfred Bader und Leo Navratil: Zwischen Wahn und Wirklichkeit, S. 188.

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Morgenthaler spricht hier von einer »Pansexualisierung«.45 Auch bei Wölfli könnte man also wie bei Blankenhorn davon sprechen, dass seine Arbeiten die Katastrophe, die sich aus der Gleichung Liebe=Tod ergibt, immer wieder neu aufzuheben versuchen. Als könnte diese Überproduktion von Geldscheinen oder »Vögeli« eine Kohärenz der Wirklichkeit herbeizwingen. Dies muss zwangläufig scheitern, da hier nicht die für das Subjekt konstitutive Erfahrung der Differenz (der Differenz zwischen den Signifikanten, und damit das Aushalten von Anwesenheit und Abwesenheit, von (begehrter) Vollkommenheit und (erfahrbarem) Mangel), sondern die Überdeckung jeglicher Lücken und Leerstellen angestrebt wird. Barbara Suckfüll, deren Arbeiten ebenfalls durch die zwanghafte Aufhebung der Leere gekennzeichnet sind, verbindet auf visuell überzeugende Weise Text und Bild. Suckfüll (1857-?), eine Bäuerin und Mutter von fünf Kindern, erkrankte im Alter von 50 Jahren. Wegen ihrer starken Erregungzustände und ihrer Tobsucht wurde sie in die Irrenanstalt Werneck eingewiesen. Sie entwickelte zwanghafte Rituale, wie z.B. das Umkreisen des Tisches oder das Abwerfen ihres Kopftuchs. Der behandelnde Arzt vermerkt ihren Schreibeifer und die Neigung in Klangassoziationen zu sprechen. Sie selbst gibt an, dass sie ohne sich zu besinnen oder anzustrengen schreiben kann, da sie nur das wiedergibt, was die Stimmen ihr vorsagen.46 Für ihre über 20 Jahre lang entstehenden Briefe und Texte verlangt sie von dem Krankenhauspersonal große Geldsummen.47 Ihre Arbeiten bestehen aus einer grazilen Schrift, die den Grundriss von Alltagsgegenständen nachzieht. Gelegentlich werden nicht nur die Außenlinien der Gegenstände nachgezeichnet, sondern diese Linien werden aufgelagert und heben sich ab von einer den ganzen Bogen bedeckenden Schrift. Eine besonders elegante Arbeit aus dem Jahre 1910 ist ein mit regelmäßigen, horizontal angeordneten Schriftzügen beschriebenes Blatt, vor deren Hintergrund eine größere Ellipse bestehend auf Schrift eine kleinere umrandet. Diese zwei Ellipsen, die eine quer-, die kleinere darin längsgerichtet, wirken im ersten Moment wie ein aufgerissenes Auge mit Pupille. Sie stellen die Waschschüssel und die Wasserkanne der Patientin dar. Der Text wiederholt das Abgebildete wie an dem folgenden Auschnitt deutlich wird: »Und. Heute. Haben. Wir. Sonntag. Auch. Den. Erßten. Sonntag. Nach. Maria. Himmelfahrt. Auch. Und. Da. Wirts.

45 Morgenthaler: Ein Geisteskranker als Künstler, S. 61. 46 Vgl. Sammlung Prinzhorn. Wunderhülsen & Willenskurven. Bücher, Hefte und Kalendarien, S. 126. 47 Siehe Suckfülls Fallgeschichte in: Sammlung Prinzhorn. Wunderhülsen & Willenskurven. Bücher, Hefte und Kalendarien, S. 163.

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Der. Einundzwanzigßt. Sein. So. Denk. Ich. Wie. Fein. Und. Daß. Iß. Daß. Waschlavor. Halt. Auch. Daß. Hab. Ich. Schon Einmal. Gezeichnet. Auch. Und. Da. Brachte. Die. Rothe. Heute. Kalteß. Auch. Zu. Kalteß. Waschwasser. Bracht. Sie. Heut. Und. Der. 2 Teufel. War. Auf. Wache. Auch. Daß. Hörte. Ich. Von. Selbst.«48

Der Fluss der Wörter ist durch die Interpunktion nach jedem Wort unterbrochen, als müsse der Sprache eine rigide Struktur aufgezwungen werden, da die herkömmliche Syntax dem Psychotiker nicht zur Verfügung steht. So wie das Blatt mit Wörtern bedeckt ist, so ist jede Lücke zwischen den Wörtern durch einen Punkt verstellt. Das Aneinanderreihen der Wörter in ewig gleicher Manier betont den Parallelismus, die metonymische Grundstruktur der Sprache, die in der Psychose so typisch ist. So wie bei Suckfüll und Blankenhorn das einzelne Wort substantivischen Charakter annimmt – zum »Dingwort« wird – werden Text und Bild, Wort und Objekt ununterscheidbar. Abbildung 3: Barbara Suckfüll: ohne Titel (1910)

48 Suckfüll zitiert nach Wahnsinnige Schönheit. Prinzhorn-Sammlung, S. 175. Inv. Nr. 1956 verso.

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Man könnte also im Rückgriff auf Widmers Beobachtungen zur Paranoia und Paraphrenie sagen, dass sowohl bei Suckfüll und Blankenhorn als auch bei Wölfli die Welt im Wort=Objekt fest-gestellt wird. Dies wiederum jedoch trägt paranoische Züge, da diese Feststellung das fehlende Gesetz – den Namen-des-Vaters in seinem Bezug zum Ding – an der metonymischen Oberfläche der Sprache neu zu schaffen versucht. Das Werk des Psychotikers ist ein grandioser (Wieder-)Belebungsversuch der Wirklichkeit. Doch wie der Psychotiker keine »Gattungsgrenzen« kennt, ihm Schrift, Bild und Ton eins sind, so bleibt ihm jegliche Art von Unterscheidung (sprachlich, sexuell) verschlossen. Seine Zeichen und Chiffren führen keine Differenz ein, d.h. sie können nur unendlich wiederholt werden bis sie als das erscheinen, was sie von Anfang an waren: als tote Buchstaben.

Hugo von Hofmannsthal B ERNHARD G REINER (T ÜBINGEN )

Jede Aufführung eines Dramas verbindet die Sprache der Worte mit der Sprache des Körpers. So ist diese Spielart der Intermedialität konstitutiv für die Gattung »Drama« und wird daher zu Recht auf deren Feld und nicht auf dem expliziter Intermedialität reflektiert. Anders stellt sich dies dar, wenn ein Drama beide Medien nachdrücklich trennt, um auf dieser Grundlage dann nach Beziehungen zwischen beiden zu fragen. Der einfachste Fall ist der, dass ein Drama nur eines der beiden Medien bedient und nun beobachtet werden kann, wie das zweite Medium das erste »ersetzt«: Sei dies im Miteinanderhandeln von Figuren ohne Sprache (Ballett, Pantomime, radikal in dieser Hinsicht auch Peter Handkes Drama Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten1, das nur aus Regieanweisungen für das Agieren der Figuren besteht), sei dies im Drama, das sich um theatralische Realisierung nicht kümmert oder nicht zu kümmern scheint (die sog. »Lesedramen«) und oft gerade darum zu einem Feld theatralischer Innovationen wird. Hofmannsthal hat sich auf beiden Feldern dramatischer »Monomedialität« bewegt, man denke an seine Arbeiten für das Ballett,2 an seine auch theoretische Auseinandersetzung mit Tanz und Pantomime,3 auf der anderen Seite an seine lyrischen Dramen, die theatralischer Realisierung fernstehen. Demgegenüber ruft Hofmannsthal in seinem Elektra-Drama beide dramatische Medien auf, wobei er sie allerdings nachdrücklich voneinander trennt, zumindest was die Hauptfigur Elektra betrifft. Auf der einen Seite ist sie die Wortgewaltige, was Klytämnestra in der großen Unterredung mit ihrer Toch-

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Peter Handke: Die Stunde da wir nichts voneinander wußten. Ein Schauspiel, Frankfurt a.M. 1992. Z.B. die Ballette Der Triumph der Zeit (1901) und Josephslegende (1912). Z.B. die Aufsätze »Über die Pantomime« (1911), verschiedene Aufsätze über Eleonora Duse (1892 und 1903), über Ruth St. Denis (1906) und der Dialog »Furcht« (1907).

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ter konstatieren lässt: »Wie du die Worte / hineinbringst« (D II, 2064), d.i. »hinein« in das Verdrängte, dieses ins Medium des Wortes überführend, womit sie sogar die Möglichkeit einer »talking cure« – i.S. Freuds und Breuers – der traumatischen Störung und der auf diesen aufruhenden hysterischen Symptome Klytämnestras aufscheinen lässt; zugleich ist Elektra ganz davon ausgefüllt, Zeichen zu sein, auf den Mord an ihrem Vater verweisend, auf ihn, psychologisch modern gesprochen, als ihr Trauma fixiert, ist sie damit in gleichem Maße ebenso Zeichen des ausstehenden Sühneaktes an der Gattenmörderin, das eine bedingt und bewahrheitet das andere. Auf der anderen Seite wird der Bewegungsstil Elektras, wenn sie körperlich agiert, ohne zu sprechen, entweder mit dem eines Tiers verglichen (so hält zu Beginn die Regiebemerkung für den ersten Auftritt Elektras fest: »Elektra kommt aus dem schon dunkelnden Hausflur gelaufen. Alle drehen sich nach ihr um. Elektra springt zurück wie ein Tier in seinen Schlupfwinkel« [D II, 187]; ihren Napf mit Essen, so berichten die Mägde, setzte man Elektra »zu den Hunden« [D II, 188]; nachdem Elektra damit geendet hat, ihrer Mutter auszumalen, wie Orest sie erschlagen wird, im Angesicht Elektras, die durch ihr »stummes Dastehn« der Mutter das »letzte Wort« einer Bitte um Schonung zunichte macht, sagt die Regiebemerkung zu Elektra, sie stehe »in wildester Trunkenheit« [D II, 210]; nachdem Elektra vergeblich ihre Schwester umworben hat, anstelle des vermeintlich toten Orest die Rachetat zu vollziehen, besagt die Regiebemerkung: »Sie fängt an der Wand des Hauses, seitwärts der Türschwelle, eifrig zu graben an, lautlos, wie ein Tier. Hält inne, sieht sich um, gräbt wieder« (D II, 219); wenn Orest im Haus Klytämnestra tötet, sagt die Regiebemerkung über Elektra, die vor der Tür des Hauses steht: »allein, in entsetzlicher Spannung. Sie läuft auf einem Strich vor der Tür hin und her, mit gesenktem Kopf, wie das gefangene Tier im Käfig« [D II, 229]) oder das körperliche Agieren Elektras wird, statt als tierhaft, als von einem Gott, des Gottes der Entgrenzung erfüllt vorgestellt, wenn sie nach den Sühnemorden an Klytämnestra und Ägisth zum ekstatischen Tanz der Mänaden anhebt, mit dem diese den Gott Dionysos huldigen und ihn in die Gegenwart rufen. So ist an der sprechenden Elektra herausgehoben, ihre Gewalt nur im Wort zu haben und nur Zeichen zu sein, während ihr körperliches Agieren, ihre »Rhetorik des Leibes« Bereichen jenseits der Herrschaft des Logos angehört, denen des Tiers oder des Gottes. Dieser Aufspaltung und Verselbständigung der dramatischen Medien entsprach ideal der vom Naturalismus 4

Werke Hofmannsthals werden nach folgender Ausgabe zitiert: Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, Frankfurt a.M. 1979/80. Für Zitatnachweise im Text werden folgende Siglen verwendet: EEG: Erzählungen, Erfundene Gespräche und Briefe; D II: Dramen II; RA I – III: Reden und Aufsätze I: 1891-1913, II: 1914-1924, III: 1925-1929).

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Otto Brahms sich entfernende Theaterstil Max Reinhardts mit seiner Absage an Bebildern, an Gebärden und Bewegungen, die den Text nur nachahmen, sowie seiner Tendenz, die Elemente des theatralischen Geschehens zu verselbständigen, um so zum autonomen Ausdruck zu gelangen, der keinem Bezug jenseits des Kunstwerks verpflichtet ist.5 Mit der Isolation und Entgegensetzung der beiden dramatischen Medien legt das Stück zugleich ein Verhältnis wechselseitiger Bedingtheit beider nahe: Gerade weil Elektra nur Wort und Zeichen ist, bleiben ihr für das körperliche Agieren allein die vom Logos nicht strukturierten Bereiche. Hofmannsthal beruft diese Opposition immer wieder, in der Regel jedoch innerhalb eines Mediums. So stellt im »Chandos-Brief«, den Hofmannsthal ein Jahr vor der Hauptarbeit an Elektra verfasst hat, der junge Lord seinem früheren Wortprunk, der ihm jetzt eine »aufgeschwollene Anmaßung« seines Geistes erscheint (EEG, 464), ein Sich-Offenbaren einfacher, alltäglicher Dinge in einer Art mystischer Präsenzerfahrung entgegen. Für das Medium des wortlosen Agierens der Körper, also des Tanzes, stellt Hofmannsthal analog im Dialog Furcht (EEG, 572-579),6 vier Jahre nach Elektra geschrieben, dem harmonisch kultivierten, klassisch-griechischen Tanz, der mimetisch ist, einem komplexen kulturellen Zeichensystem aufruht, den präzivilisatorischen Tanz gegenüber, der Vollzug eines archaischen Fruchtbarkeitsrituals ist: ohne »Inhalt«, a-mimetisch, ganz aus sich begründet, pure rhythmische Bewegung, die in sexueller Hingabe der tanzenden Frauen endigt und so als Quelle des Schöpferischen gedeutet werden kann. Der Dialog betont allerdings auch, dass es unmöglich ist, aus der Sphäre der Kultur in die solch eines a-kulturellen Tanzes zu wechseln, dass aus der ersteren nur der Traum eines ganz anderen Tanzes entworfen werden kann, der als »ganz Anderer« an die Welt der kulturellen Zeichensysteme zurückgebunden bleibt. Hofmannsthals Elektra hat nun darin ihre Besonderheit, dass diese im Schaffen Hofmannsthals offenbar immer wieder berufene Opposition der dramatischen Medien des Wortes und des wortlosen Agierens des Körpers einen Bruch erfährt. Nachdem Orest Klytämnestra und Ägisth erschlagen und so den Mord an Agamemnon gesühnt hat, hebt Elektra zu einem Tanz

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Vgl. hierzu die Beschreibung von Gertrud Eysoldts Spiel als Elektra der Uraufführung in: Monika Meister: »Eine neue Schauspielkunst? Getrud Eysoldts ›Elektra‹-Interpretation in der Uraufführung von 1903«, in: Ilija Dürhammer, Pia Janke (Hrsg.), Richard Strauss - Hugo von Hofmannsthal: Frauenbilder, Wien 2001, S. 195-210. Hierzu: Gabriele Brandstetter: »Der Traum vom anderen Tanz. Hofmannsthals Ästhetik des Schöpferischen im Dialog Furcht«, in: Elsbeth Dangel-Pelloquin (Hrsg.), Hugo von Hofmannsthal. Neue Wege der Forschung, Darmstadt 2007, S. 41-61.

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an, von dem zuerst gesagt wird, er sei mänadisch (Elektra habe »den Kopf zurückgeworfen wie eine Mänade«), anschließend, er sei »namenlos«, worauf Elektra, nach der Aufforderung an alle herbeigeeilten Männer und Frauen, sich ihr anzuschließen, zu »schweigen und [zu] tanzen«, tot zusammenbricht (vgl. D II, 233 f.). Es hat sich eingebürgert, die Attribute dieses Tanzes – »wie eine Mänade« und »namenlos« – als gleichbedeutend anzusetzen7, Elektra also in Fortführung und Steigerung ihrer früheren Totenfestphantasie (vgl. D II, 191) einen Tanz kultischer Entladung und Reinigung vollführe, anlog dem Tanz der Teilnehmerinnen dionysischer Feste oder dem wilden Tanz der Bacchantinnen, die in nächtlicher Prozession durch Wälder und Berge streifen, wie dies Erwin Rohde und Walter Pater in ihren, Hofmannsthal bekannten Schriften vorgestellt haben.8 Dass Elektras Tanz aber keineswegs eine kollektive kultische Handlung in Gang setzt, er vielmehr solitär bleibt und alsbald mit dem Tod der Tänzerin abbricht, wird, sofern dies 7

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Von neueren Interpretationen des Dramas resp. dieses Tanzes seien genannt: Mathias Mayer, der diesem Tanz zuerkennt, dass sich in ihm, »kein Moment des des Symbolischen, Darstellerischen oder Zeichenhaften« finde, er vielmehr »pure Präsenz« sei. In ihm manifestiere sich das »sprachlose Glück Elektras«, das sich allerdings »nicht in der Lebenswirklichkeit, sondern nur am Rand des Lebens oder gar außerhalb erfahren« lasse. (Mathias Mayer: Hugo von Hofmannsthal, Stuttgart, Weimar 1993, S. 60); Karl Heinz Bohrer: »Die Wiederholung des Mythos als Ästhetik des Schreckens. Hugo von Hofmannsthals Nachdichtung von Sophokles‘ Elektra«, in: ders., Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit, Frankfurt a.M. 1994, S. 63-91; Gabriele Brandstetter: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt a.M. 1995 (insbesondere Kapitel: »Der Tanz der Mänade«, S. 182-206 und »Feuer-Tanz«, S. 275-289); Juliane Vogel: »Priesterin künstlicher Kulte. Ekstasen und Lektüren in Hofmannsthals Elektra«, in: Hellmut Flashar (Hrsg.), Tragödie. Idee und Transformation, Stuttgart, Leipzig 1997, S. 287-306; Michael Worbs: »Mythos und Psychoanalyse in Hugo von Hofmannsthals Elektra«, in: Thomas Anz (Hrsg.), Psychoanalyse in der modernen Literatur. Kooperation und Konkurrenz, Würzburg 1999, S. 3-16; Malcolm Davies, »The Three Electras: Strauss, Hofmannsthal, Sophocles, and the Tragic Vision«, in: Antike und Abendland. Beiträge zum Verständnis der Griechen und Römer und ihres Nachlebens, Bd. XLV, 1999, S. 36-65; Monika Meister: »Die Szene der Elektra und die Wiener Moderne. Zu Hugo von Hofmannsthals Umdeutung der griechischen Antike«, in: Henry Thorau, Hartmut Köhler (Hrsg.), Inszenierte Antike – Die Antike, Frankreich und wir, Frankfurt a.M., Bern u.a. 2000, S. 59-86; Timo Günther: »Vom Tod der Tragödie zur Geburt des Tragischen. Hugo von Hofmannsthals Elektra«, in: DVJS 79 (2005), S. 96-130. Vgl. Erwin Rohde: Psyche: Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen, 2 Bde. (erstmals 1891 und 94), hier Bd. 2, Tübingen 1925, S. 47, Walter Pater: Greek Studies (1901) u.a. mit einem Essay über die »Bacchanalien des Euripides«; Hofmannsthal besaß ein Exemplar dieses Bandes.

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überhaupt beachtet wird, dem modernen psychologischen Diskurs der Hysterie zugerechnet, den Hofmannsthal hier mit dem Zitat des dionysischen Kultes verbindet, wobei der entgrenzende, »besessene« Tanz in Körperbild und Choreographie weniger Freud und Breuers Studie über die Hysterie als Charcots Beschreibung des großen hysterischen Anfalls verpflichtet ist,9 der, von Gliederstarre (Katalepsie) ausgehend, über Entfesselung und Ekstase wieder in Erstarrung mündet, die im Falle Elektras allerdings eine letale ist. Dass Hofmannsthal für den Schlusstanz Elektras starke Anleihen an zeitgenössischen kulturhistorischen Arbeiten zum mänadischen Tanz wie an klinisch-psychologischen zum hysterischen Anfall gemacht hat, steht außer Zweifel, hat allerdings auch dazu verführt, den Ablauf dieses Tanzes auf diese Vorgaben einzuschränken. Nun gibt es aber auch Gründe, zwischen dem Anfangsvergleich der zum Tanz ansetzenden Elektra mit einer »Mänade« und der Charakterisierung des Tanzes als »namenlos« eine Verschiebung anzusetzen. Schon auf der Wortebene widersprechen sich die Attribute. Als »mänadischer« hätte der Tanz ja gerade einen Namen, hätte er fest umrissene Bewegungsfiguren und Verweisungsbezüge, sei es altertumswissenschaftlich zum griechisch-archaischen Kult, sei es im Horizont der neuesten Psychologie zum hysterischen Anfall, wäre er namenlos nur, insofern er als dionysisch entgrenzter alle kulturellen Zeichensysteme mimetischer Tänze durchbräche. Gerade die Bezüge, die das Attribut des Mänadischen aufrufen, lassen jedoch am »namenlosen« Tanz Momente des Scheiterns deutlich werden: Der mänadische als präzivilisatorischer Tanz, wie ihn der Dialog Furcht entwirft, ist gemeinschaftlich und er endet in sexueller Hingabe der bacchantisch entfesselten Frauen, also nicht mit Tod sondern mit dem Zeugen neuen Lebens. Das legt nahe, den »namenlosen« Tanz als Abbruch des‚ »mänadischen« zu deuten. Liest man wiederum den mänadischen Tanz nicht kulturhistorisch sondern modern psychologisch als großen hysterischen Anfall, so fügt sich dem Elektras Aufforderung an alle Umstehenden nicht, sich ihrem Tanz anzuschließen. Die Wendung nach außen, auch wenn sie ohne Echo bleibt, verweigert eine restlose pathologische Vereinnahmung des Tanzes, verlangt mithin zwischen aufgerufenem Bewegungsbild und Fortführung im Raum des Namenlosen zu unterscheiden. Ist derart aber die Aufmerksamkeit dafür geweckt, dass der »namenlose« Tanz auch eine andere Qualität als der »mänadische« haben könnte, statt einen solchen auszuführen, ihn zu unterbrechen und damit scheitern zu lassen, gibt sich ein dramaturgisches Bauprinzip zu erkennen, das diesen Tanz als Schluss- und Höhepunkt einer Rei-

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So Juliane Vogel, Priesterin, S. 302 f. und Gabriele Brandstetter, Tanz-Lektüren, S. 188 ff. u. 199; vgl. Manfred Schneider (Hrsg.), Jean-Martin Charcot/Paul Richer, Die Besessenen in der Kunst, Göttingen 1988.

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he von Einschränkungen, Abbrüchen und Verschiebungen im Agieren Elektras erweist. Elektras Auftrittsmonolog zeigt sie gebunden an den toten Vater und die Stunde seiner Ermordung und eben diese Fixierung, die Weigerung, anderes als diesen Augenblick in ihr Leben eintreten zu lassen, wird ihr zur Gewähr des Gegenbildes, eines prunkvollen Totenfestes für Agamemnon, das ausgemalt wird als Blutorgie an dessen Mördern, deren Gesinde und allen Tieren des Hauses. Während im Vorbild dieser Szene, dem Leichenbegängnis des Patroklos im 23. Gesang der Ilias10, die Tier- und Menschenopfer aber wirklich vollzogen werden, imaginiert Elektra das »Prunkfest« (D II, 191) mit seinen Grausamkeiten und ihrem abschließenden »königlichen Siegestanz« (D II, 191) nur, um von Chrysotemis zuletzt wie eine Nachtwandlerin (vgl. D II, 192) aus ihrem Traum gerissen zu werden. In der großen Dialogszene zwischen Mutter und Tochter, zu der es bei Sophokles kein Pendant gibt, bringt Elektra ihre Mutter dazu, die verdrängte Tat anzuerkennen, indem sie eben dieses Verdrängte zu Wort bringt: »Klytämnestra […] Und wir selber, w i r ! und unsre Taten! Taten! Wir und Taten! Was das für Worte sind. Bin ich denn noch, die es getan? Und wenn! Getan, getan! Getan! Was wirfst du mir da für ein Wort in meine Zähne! Da stand er, von dem du immer redest, da stand er und da stand ich und dort Ägisth, und aus den Augen die Blicke trafen sich: da war es doch noch nicht geschehn! Und dann veränderte sich deines Vaters Blick im Sterben so langsam und grässlich, aber immer noch in meinem hängend – und da wars geschehn: dazwischen ist kein Raum! Erst wars vorher, dann wars vorbei – dazwischen hab ich nichts getan. Elektra Nein, die dazwischen liegt, die Arbeit, die tat das Beil allein. Klytämnestra Wie du die Worte hineinbringst. 10 In der Deutung Erwin Rohdes, nach der diese Grabfeier als Zeugnis uralter Kultpraxis, Überbleibsel einer überwundenen barbarischen Religionsstufe anzusehen sei (vgl. E.R., Psyche, Bd. 1, S. 19 ff.)

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Elektra Nicht so tüchtig, noch so flink wie du Axthieb auf Axthieb.« (D II, 206)

Indem Elektra ihre Mutter zwingt, das Verdrängte anzuerkennen, es in ihr Ich zu integrieren, zwingt sie sie zugleich, den von Orest erwarteten rächenden Todesstreich in ihre Vorstellungswelt aufzunehmen, den Elektra in allen Details, übergenau, wie mit der Zeitlupe gesehen, ausmalt, bis hin zum krönenden Schluss: »erhängt ist dir die Seele in der selbstgedrehten Schlinge, sausend fällt das Beil, und ich steh da und seh dich endlich sterben! Dann träumst du nimmermehr […]« (D II, 210)

So hat Elektra Klytämnestra gezwungen, die verdrängte Tat und die nicht weniger verdrängte ausstehende Sühnetat mit allem Schrecken, also allen beteiligten Affekten, zu wiederholen, mit Umspringen der Rollen von Täter und Opfer, wobei Elektra als die Instanz, die die Wiederholung des Traumas in Gang gebracht hat und sie verantwortet, dabei immer betont, dass nicht sie, sondern ein anderer, Orest, den Racheakt vollziehen werde. So scheint die Szene recht genau die Bedingungen zu erfüllen, die Freud und Breuer für eine gelingende Heilung von hysterischen Symptomen (in diesem Falle die Heilung Klytämnestras von ihren Angstträumen) aufgestellt haben: »Wir fanden nämlich […], daß die einzelnen hysterischen Symptome sogleich und ohne Wiederkehr verschwanden, wenn es gelungen war, die Erinnerung an den veranlassenden Vorgang zu voller Helligkeit zu erwecken, damit auch den begleitenden Affekt wachzurufen, und wenn dann der Kranke den Vorgang in möglichst ausführlicher Weise schilderte und dem Affekt Worte gab. Affektloses Erinnern ist fast immer völlig wirkungslos; der psychische Prozeß, der ursprünglich abgelaufen war, muß so lebhaft als möglich wiederholt, in statum nascendi gebracht und dann ›ausgesprochen‹ werden.«11

Aber die von Freud und Breuer entworfene Bedingung der Heilung wird in Wahrheit gar nicht erfüllt. Denn nicht Klytämnestra, sondern Elektra hat – stellvertretend – den psychischen Prozess mit den beteiligten Affekten wiederholt und ihm Worte gegeben. Es wäre im Horizont der Figur Elektra auch kontraproduktiv, die Mutter von ihren Angstträumen zu heilen. Das erlaubte dieser ein befreiteres Sich-Vorsehen gegen einen Rächer Orest und würde

11 Josef Breuer, Sigmund Freud: Studien über Hysterie, in: Sigmund Freud, Gesammelte Werke, hrsg. von Anna Freud u.a., London 1952, Bd. 1, S. 85.

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nichts hinsichtlich der traumatischen Fixierung Elektras auf die Mordtat am Vater und die ausstehende Sühnetat bewirken. Elektra hat mithin eine »falsche« Handlung in Gang gesetzt, in der Logik des ganz von ihr her konzipierten Stücks erscheint es daher völlig stimmig, dass diese Handlung mit der Nachricht vom vermeintlichen Tod Orests abgebrochen wird. Auch die nächste Handlung, zu der Elektra ansetzt, endet mit Scheitern. Elektra sucht eine Stellvertreterin, die anstelle Orests den Racheakt vollziehen wird, an Chrysotemis versagt jedoch ihre Wortmacht. Viel ist darüber nachgedacht worden, warum das Drama, das vollständig in Elektra zentriert ist, die Rachetat – sei es auch gegen den tradierten Mythos – nicht von Elektra selbst vollziehen lässt. Immerhin hat Hofmannsthal selbst Maximilian Hardens Bemerkung, die Tat Orests bleibe die eines »namenlosen Fremdlings«12 emphatisch zugestimmt.13 Aus größerem zeitlichen Abstand (1916) und in einem anderen pragmatischen Kontext – dem Bemühen, in den ersten Jahren des Weltkriegs als Dichter gleichfalls in den Raum der Taten einzutreten – hat Hofmannsthal die Antwort gegeben, der Akt des Tötens sei Elektra geschlechtertypologisch versagt. Elektra sei »schon als Geschlecht unfähig […] die Tat zu tun. Die Tat ist für die Frau das Widernatürliche (so schon Klytämnestra) […]. Ihre Tat ist Mutter sein.« (RA II, 31) Hofmannsthal nennt an dieser Stelle selbst schon den Einwand, dass das Stück ja von Klytämnestras Mord an Agamemnon ausgeht, also von der Mord-Tat einer Frau. Wenn er diese Tat als widernatürlich einstuft, besagt dies doch nicht, dass die Frau zur Tat unfähig sei. Dem widerspricht schon das Stück selbst, da Elektra nach der Nachricht vom vermeintlichen Tode Orests Chrysotemis, also eine Frau, zur Täterin zu bestimmen sucht. Den Gründen, die sie hierfür vorbringt, widerspricht das Drama selbst. Sie, Elektra, könne die Tat nicht allein vollbringen, da Klytämnestra des Nachts von Ägisth umgeben sei (vgl. D II, 216). Später wird Orest die Tat allein vollbringen, in einem Moment der Abwesenheit Ägisths Klytämnestra und anschließend den zurückgekehrten Ägisth töten. Weiter argumentiert Elektra, Chrysotemis sei stark, während ihre eigenen Arme verdorrt seien, um im nächsten Augenblick doch zu betonen, sie umschlinge mit diesen Armen die Schwester so unerbittlich, dass diese, wenn sie sich sträube, den Knoten nur noch fester ziehen werde (vgl. D II, 216). Gegenüber Orest argumentiert Elektra anders: »Der ist selig,

12 Maximilian Harden: »Elektra«, in: Die Zukunft XII (1904), S. 357. 13 Im September 1904 schreibt er Harden u.a.: »Der Hauptgedanke Ihres Aufsatzes, daß die Elektra besser wäre, wenn der Orest nicht darin vorkäme, beschäftigt mich sehr. Ich glaube, Sie haben recht. Es ist jedenfalls das Fruchtbarste oder das einzig Fruchtbare was jemand darüber geschrieben hat.« (Zitiert nach: Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke, Bd. VII (Dramen 5), hrsg. von Klaus Bohnenkamp und Mathias Mayer, Frankfurt a.M. 1997, S. 403.

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/ der tuen darf!« (D II, 228). Mithin ist nicht zu fragen, warum Elektra nicht handeln »kann«, vielmehr, warum sie dies nicht »darf«. Elektra ist fixiert auf den Augenblick der Ermordung Agamemnons; Opfer und Täter waren andere, sie stand außerhalb. So konnte sie restlos zum Zeichen werden, das diesen Mord ständig erinnert und ebenso Zeichen des ausstehenden Sühnemordes. Auch der Racheakt muss Elektra in der Position der nicht-handelnden Außenstehenden belassen, nur dann kann ihre traumatische Fixierung auf den Mord am Vater und ihre vollständige Reduktion auf Zeichen-Sein aufgehoben werden. So scheitert auch dieser Handlungsansatz Elektras, anstelle Orests eine andere Rächerin zu finden, und wird abgebrochen. Es folgt die Wiedererkennung der Geschwister die damit enden müsste, dass Elektra Orest das Beil aushändigt, mit dem Agamemnon erschlagen worden ist, damit der Sühnemord zum genauen Spiegelbild der Mordtat Klytämnestras werde. Zu den viel diskutierten Fragen zur Handlung des Dramas gehört die, warum Elektra Orest das Mordbeil Klytämnestras nicht gibt, das sie doch für die Sühnetat bewahrt hat. Elektra klagt »Ich habe ihm das Beil nicht geben können!« (D II, 229), was eine zweifache Deutung zulässt: zum einen im Sinne dramatischer Ironie: sie hatte begonnen, das Beil auszugraben und wurde gerade durch Orests Erscheinen und die Unterredung mit ihm abgehalten, die Handlung zu Ende zu bringen. Das »Nicht-Können« gründete dann in einer äußeren Behinderung. Es kann aber ebenso auf eine innere Hinderung verweisen, in dem Sinne, dass die Bedingungen nicht gegeben waren, um Orest die »richtige« Mordwaffe zu geben. Dass Hofmannsthal im schon zitierten Selbstkommentar von »Vergessen des Beiles« spricht (vgl. RA II, 31), bestärkt die zweite Lesart, nimmt man Vergessen als »Fehlleistung«.14 Orest scheint den Helden der antiken Tragödie nahe: Sein Handeln ist ihm von den Göttern als Geschick auferlegt, aber diese Götter sind keine geglaubte, ja nicht einmal eine gewusste Instanz mehr: »Ich weiß nicht wie die Götter sind. Ich weiß nur, sie haben diese Tat mir auferlegt, und sie verwerfen mich, wofern ich schaudre.« (D II, 226)

Schaudern, so führt Orest wenig später aus, lässt ihn die Vorstellung, der Mutter bei der Tat in die Augen schauen zu müssen (vgl. D II, 226), was er mit der Frage an die Schwester verbindet, ob sie der Mutter ähnlich sehe (vgl. D II, 227), ein Schaudern mithin vor dem Fluch, Mutter- und Verwandtenmörder zu werden. Elektra verneint die Ähnlichkeit mit der Mutter, ob-

14 Seine Theorie der Fehlleistung hatte Freud 1901, d.h. zwei Jahre vor der Arbeit Hofmannsthals an Elektra in der Schrift Zur Psychopathologie des Alltagslebens publik gemacht.

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wohl sie früher dieser entgegengehalten hatte, »mein Gesicht / ist aus des Vaters und aus deinen Zügen / gemischt« (D II, 210), und sie erspart Orest den Anblick der Mutter, indem sie ihm eine andere Situation beim Mord an Agamemnon vorstellt, nicht den Augen-Blick zwischen Agamemnon und Klytämnestra, mit Ägisth als Zeugen, gefolgt vom langsamen Brechen des Auges Agamemnons, wie dies Klytämnestra selbst erinnert hat (vgl. D II, 206). Auf diesen Umstand des Todes müsste als Gegenhandlung ein Tötungsakt erfolgen, bei dem ein analoger Augen-Blick zwischen Klytämnestra und Orest, mit Elektra als Zeugen statthätte, dem dann das Brechen von Klytämnestras Auge folgen müsste. Stattdessen stellt Elektra Orest vor, Klytämnestra habe auf ein zuvor verdecktes Haupt Agamemnons eingeschlagen: »Orest Schwester, ob die Mutter nicht dir ähnlich sieht? Elektra wild Mir ähnlich? Nein. Ich will nicht, daß du ihr ins Gesicht siehst. Wenn sie tot ist, dann wollen wir zusammen ihr Gesicht ansehen. Bruder, sie warf unserm Vater ein weißes Hemde über, und dann schlug sie auf das, was vor ihr stand, auf das, was hilflos, was ohne Augen war und sein Gesicht nicht nach ihr wenden konnte […] auf das schlug sie mit hochgehobnem Beil von oben zu.« (D II, 227 f.)

Mit dieser Verfälschung der zu sühnenden Tat kann Orests Tat nicht zur ausgleichenden Gegenhandlung werden und damit auch nicht zurücknehmen, was in Klytämnestras Tat gründet, d.i. die vollständige Festlegung Elektras darauf, Zeichen zu sein, das unentwegt auf die vergangene und die ausstehende Tat verweist, wie sie dies selbst gegenüber Orest betont: »[…] denn alles war mir um seinet [d.i. des toten Vaters] willen nichts, es war mir alles nur Merkzeichen, und jeder Tag, war nur ein Merkstein auf dem Weg.« (D II, 227)

Da Elektra verfälscht hat, worauf sie verweist, kann sie das Zeichen, das den Racheakt Orests als ausgleichende Sühnetat bewahrheiten und damit sie selbst aus dem Zeichen-Sein befreien würde, das Mordbeil, nicht weitergeben. Nach solchem Verfehlen kann der Tanz Elektras nach dem Racheakt

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Orests nicht Erfüllung dessen anzeigen, beglaubigen und feiern, worauf sie als Zeichen gespannt gewesen war. Wie in allen Handlungen, die bisher gezeigt worden waren – In-die-Gegenwart-rufen des Vaters, Streitgespräch mit der Mutter, Versuch, die Schwester für die Tat zu gewinnen, Beihilfe zu Orests Tat, die als bloße Illusion zurückzunehmen waren, abgebrochen wurden, scheiterten oder von Elektra verfälscht wurden –, setzt Elektra erneut zu einer Handlung an, zu dem vom Gott der Entgrenzung erfüllten Mänadentanz, den die Regiebemerkung jedoch sogleich zu einem »namenlosen Tanz« verschiebt und mit dem Tod der Tänzerin abbricht. Die Namenlosigkeit dieses Tanzes erweist sich dabei als semiologisch sehr präzise Bezeichnung. Elektra, in ihrem Wesen auf Zeichen-Sein festgelegt, hat durch Verfälschen dessen, worauf sie als Zeichen verweist, eine Tat generiert, die sie aus ihrer Fixierung auf Zeichen-Sein nicht befreien kann. Eine andere Tat kann aber nicht mehr stattfinden, da die Mörder des Vaters nun ermordet sind. Als ihr Sein nach der Tat offenbart Elektra durch ihren Tanz daher, Verweisendes zu sein, Signifikant, dem ein Bezugsraum des Verweisens, ein Signifikat, prinzipiell entzogen ist. So ist ihr Tanz zwar im Feld der Namen (Signifikanten) angesiedelt, es gibt aber keinen Bezugsraum der Namen, stattdessen Leere, Fehlen, der Tanz ist als zu benennender gerade namenlos. Was sich im »namenlosen Tanz« eröffnet, ist ein Raum der Leere, des Nichts zwischen Repräsentation und Präsenz. Damit aber gibt das Drama Elektra eine zweite Antwort auf die Sprachkrise des zwei Jahre zuvor verfassten »ChandosBriefes«. Hatte dieser dem Scheitern der sprachlichen Semiose ein mystisches Sich-Offenbaren unscheinbarer Dinge – also eine Art erfüllter Präsenz – gegenübergestellt, so entwickelt das Drama zu dieser eine Reversform: Offenbarung von Leere, von Nichts im Bruch des Bezugs von Repräsentation und Präsenz. Bedenkt man diese Konsequenz, so erscheint die in anderem Zusammenhang gegebene Einschätzung des »namenlosen Tanzes« als eine »Schlüsselszene in Hofmannsthals Œeuvre«15 nicht übertrieben. Dieser semiologische Gehalt des »namenlosen Tanzes« gilt analog auch für den Bezug der beiden dramatischen Medien an dieser Stelle. Das Drama hat diese, wie dargelegt, voneinander getrennt und gegeneinander geführt: das Medium des Wortes in der sprachgewaltigen, auf reines Zeichen-Sein festgelegten Elektra, das Medium des Körpers in Elektras tierhafter oder vom Gott der Entgrenzung erfüllten Rhetorik des Leibes. Der mänadische Tanz, zu dem Elektra anhebt, wäre ein Umschlagen des reinen Zeichen-Seins in Körperbewegung, die frei von aller Strukturierung durch den Logos ist. Es wäre dies eine metonymische Relation, die Körperfigur der umfassenden Entgrenzung erwiese sich als das ganz Andere der Sprachfigur der reinen Verweisung und gerade als ihr ganz Anderes auf diese zurückbezogen wie 15 Monika Meister, »Die Szene der Elektra«, S. 84.

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Erfüllung auf Erwartung. Dieser metonymische Bezug der beiden dramatischen Medien erfährt im »namenlosen Tanz« einen grundlegenden Bruch. Das reine Zeichen-Sein schlägt nicht in sprachlose Bewegungsfigur des Körpers um, es bleibt erhalten, aber bezugslos, womit anstelle der Körperfigur, in die der Umschlag stattzufinden hätte, sich Leere ausbreitet. So eröffnet das Drama im Aufbrechen des Bezugs zwischen den beiden dramatischen Medien einen Raum des Nichts. Was aber besagt diese Handlungsführung, die in strenger dramaturgischer Konsequenz auf den so verstandenen »namenlosen Tanz« und den Tod Elektras hinführt, für die Eigenart der in diesem Drama geleisteten Aneignung der antiken Tragödie? Hofmannsthal hat in einem vielzitierten Selbstkommentar betont, dass ihm von Anfang an der Tod Elektras und generell eine »andere Elektra« als die des Sophokles vor Augen gestanden habe und er sich ebenso vom Klassizismus Goethes habe absetzen wollen.16 Dem entspricht ein nachdrückliches »Eindunkeln« der Szene und geistigen Atmosphäre: Das Stück spielt nicht von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, sondern hebt in der Abenddämmerung an und führt in die Nacht, es spielt nicht vor dem Palast, sondern im inneren Hof der Rückseite des Palasts, der überschattet wird von einem Feigenbaum, zwischen dessen Blättern die untergehende Sonne blutrote Flecken auf den Boden und die Wände wirft.17 Elektras Einsamkeit im Leid hat, im Unterschied zu Sophokles‘ Drama, für den Zuschauer kein Gegengewicht in einem frühen Auftritt des noch unerkannten Orest, der von Beginn an dafür bürgte, dass die Sühnetat vollzogen werden wird. Klytämnestra wird nicht entlastet, indem erinnert würde, dass ihr Gattenmord auch Rache an Agamemnons Opferung ihres Kindes Iphigenie war, so erscheint sie als nur von niederen Trieben geleitete Gattenmörderin. Die Welt, die berufen wird, erscheint archaisch, vor dem Griechentum Homers und der großen Tragiker situiert, auf kultische Handlungen hin gespannt, in deren Zentrum Menschenopfer stehen, man denke an die Totenfeier für Agamemnon, die Elektra imaginiert, oder daran, dass Elektra ihrer Mutter die ausstehende Rachetat Orests als Beschreibung des rechten Blutop-

16 Vgl. Tagebuchaufzeichnung vom 17. Juli 1904: »Der erste Einfall kam mir Anfangs September 1901. Ich las damals, um für die Pompilia gewisses zu lernen den Richard III. […] und die Elektra von Sophokles. Sogleich verwandelte sich die Gestalt dieser Elektra in eine andere. Auch das Ende stand sogleich da: dass sie nicht mehr weiter leben kann […]. Als Stil schwebte mir vor, etwas gegensätzliches zu Iphigenie zu machen, etwas worauf das Wort nicht passe: ›dieses gräcisierende Produkt erschien mir beim erneuten Lesen verteufelt human.‹ (Goethe an Schiller.)« (Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke, Bd. VII, Anm. 13, S. 399 f.) 17 Vgl. »Szenische Vorschriften zu Elektra (1903)«, in: D II, S. 240-242.

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fers gegen ihre Angstträume vorstellt, oder an die Nichterwähnung des Geschicks Iphigenies, das den kulturellen Schritt der Ersetzung des Menschenopfers durch das Tieropfer festhält, wie insgesamt »Blut« die vorherrschende Metapher des Stückes ist. Die Aufspaltung und Vereinseitigung der theatralischen Medien in der Figur der Elektra bekräftigen diese Arachaisierung weiter. Elektras körperliches Agieren gehört Bereichen an, die nicht vom Logos strukturiert sind, es ist tierhaft oder, mit dem mänadischen Tanz, dem Gott der Entgrenzung verpflichtet. Mit letzterem scheint die Situation heraufgerufen zu werden, aus der die Tragödie hervorgegangen ist, die Zitation des Gottes Dionysos in die Gegenwart durch eine kultische Begehung; aber trotz der Aufforderung Elektras, sich ihrem Tanz anzuschließen, kommt die Bildung eines »Chors« nicht zustande. Das andere theatralische Medium wiederum, die Sprache, erscheint in der wortgewaltigen Elektra so eingesetzt, dass es die traumatische Fixierung der Figur auf reines Zeichen-Sein manifestiert und so zur Einfallspforte moderner tiefenpsychologischer Erkenntnisse über Hysterie wird, die in einem unverarbeiteten Trauma gründet. So unterstützen die beiden theatralischen Medien einander in der Archaisierung des Dramas und der Pathologisierung der Hauptfigur, die zusammenlaufen im mänadischen Tanz als kultischem Akt. Die attische Tragödie entstand daraus, dass die Zitation des Gottes Dionysos in die Gegenwart distanziert wurde durch Überführen in Spiel. Analog wird auch in Hofmannsthals Elektra-Drama der dionysische Akt distanziert, allerdings nicht durch Überführen von Präsenz in Repräsentation, sondern durch Unterbrechung und Verschiebung des »mänadischen« zum »namenlosen Tanz«. Voraussetzung hierfür ist Elektras »Verfälschung« der Tat des Orest, so dass diese nicht mehr die genaue Gegen- und damit aufhebende Sühnehandlung zur Ermordung Agamemnons werden kann: Orest muss Klytämnestra im Augenblick der Tat nicht in die Augen sehen, womit seine Tat für ihn vom Gehalt des Muttermordes entlastet wird und ebenso, da er auch nicht mehr der Ähnlichkeit zwischen Klytämnestra und Elektra innewerden muss, vom Gehalt des Verwandtenmordes. Elektra entlastet Orests Handeln von Tragik, die ohne ihre Verfälschung der Tat darin gegeben wäre, dass Orest einerseits eine Tat von den Göttern auferlegt, ihm also nicht in Rechnung zu stellen wäre, die ihn andererseits jedoch gleichwohl mit schwerster Schuld – des Muttermordes – belasten würde, die einen neuen Sühneakt verlangte, der wieder neue Schuld generieren würde. In Aischylos’ Orestie wird die Reihe immer neuer Verschuldungen dadurch beendet, dass Orests Tat einem Gericht von Menschen, dem Areopag, unterworfen und dort über die Prävalenz von Mutter- oder Vaterrecht entschieden wird. In Sophokles‘ Elektra ringt sich der Chor am Ende zu einer sehr verhaltenen Feststellung durch, dass mit Orests Sühnetat die Ordnung der Gesetze wiederhergestellt und Atreus‘ Geschlecht nun endlich zur Freiheit (worunter

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man Befreiung aus dem Bann des Tragischen verstehen kann) durchgedrungen sei. In Hofmannsthals Drama entlastet Elektra Orest aber nicht nur subjektiv und für den Augenblick der Tat von Tragik, sondern auch objektiv, wenn man ihren Tod, der sich aus der Verfälschung der zu sühnenden Mordtat konsequent ergibt, als Stellvertretung für den Sühnetod nimmt, der Orest durch seine Tat eigentlich auferlegt wäre, als eine Stellvertretung dabei, die auch Sühne für Schuld ist, einer Schuld Elektras gegenüber dem toten Vater, da sie eine Sühnehandlung, die seiner Ermordung genau antworten würde, verhindert, seine Ermordung mithin nicht vollständig entsühnt wird. Die Unterbrechung des mändadischen Tanzes durch den »namenlosen«, auf den der Tod Elektras folgt, gibt sich so als Verschiebung der Tragik von der Figur des Orest auf die Elektras zu erkennen. Elektra nimmt stellvertretend die Tragik, die im Akt des Muttermordes beschlossen ist, auf sich. Auf der Ebene des dramatischen Diskurses stellt sich das als Opfer dar. Das Drama opfert seine Hauptfigur. So erkennt es auf der einen Seite eine tragische Stellung des Menschen in der Welt an, erkennt dies neu an, denkt man an Hegels Bestimmung, dass in der Neuzeit mit zunehmender Ausdifferenzierung aller Verhältnisse Konflikte sich abstumpften, Positionen gar nicht mehr mit unvermittelbarer Einseitigkeit aufeinander träfen:18 Elektra, vollkommen eins mit dem Opfer Agamemnon, dann jedoch den Akt der Entsühnung des Mordes an ihm verfälschend, wird dramaturgisch folgerichtig selbst zum Opfer. Auf der anderen Seite führt das Drama mit diesem Opfer aus tragischer Weltsicht gerade heraus, da es Verhältnisse begründet, in der der Akt, der eine Untat sühnt, nicht selbst wieder zur Untat wird, die einen neuen Sühneakt verlangt. So leistet gerade die moderne Variante des Mythos, die den Tod Elektras vorsieht, eine Rückkehr in die antike Konstellation des tragischen Opfers und dessen paradoxen Gehaltes, eine Welt anzuerkennen, in der der Mensch unverfügbaren Gewalten ausgesetzt ist, und zugleich aus solcher Welt herauszuführen.19 Versteht man Elektras Tod als Stellvertretung für den zu fordernden Tod Orests und damit als Herausführen aus tragischer Welt, wird das paradoxe Verhalten Hofmannsthals nachvollziehbar, dass er auf der einen Seite betont, er habe das Elektra-

18 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik, in: ders.: Werke in 20 Bänden (Theorie Werkausgabe), Bd. 15, Frankfurt a.M. 1970, insbes. S. 555-569. 19 In diesem Sinne bestimmt Walter Benjamin den Tod des tragischen Helden der Antike als stellvertretendes Opfer für die vom mythischen Bann (Benjamin spricht von »dämonischer Weltordnung«) sich befreiende Menschengemeinschaft. (W.B.: Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. I.1, Frankfurt a.M. 1991, S. 285 f.)

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Drama nur schreiben können, weil er als Gegenstück immer ein Dramenprojekt »Orest in Delphi« vor Augen gehabt habe, was auf eine Entsühnung des Orest verweist, er auf der anderen Seite aber dieses Drama gerade nicht geschrieben hat, er vielmehr nach Fertigstellen der Elektra zu anderen Projekten übergehen konnte: »Mir wäre das Stück selbst in seiner fast krampfhaften Eingeschlossenheit, seiner grässlichen Lichtlosigkeit ganz unerträglich, wenn ich nicht daneben immer als untrennbaren zweiten Theil den ›Orest in Delphi‹ im Geist sehen würde, eine mir sehr liebe Conception […]. Es wird aber keineswegs das nächste sein, was ich mache.«20

Auch Hofmannsthals Abgrenzung gegenüber der »verteufelt humanen« Iphigenie Goethes bestätigt sich in diesem Zusammenhang. Die Verständigung der Kontrahenten kommt in Goethes Drama zustande, weil das eigentliche Handlungsproblem, die Heilung des Orest, deretwegen das Kultbild der Diana aus dem taurischen Heiligtum geraubt werden sollte, zuvor schon gelöst worden ist, hier jedoch ohne »Opfer«, vielmehr durch eine quasi theatralische Veranstaltung: Orest glaubt in Iphigenie, der Thoas aufgetragen hat, die griechischen Fremdlinge der Göttin zu opfern, die wiedergekehrte Mutter zu erkennen, die er ermordet hat, so lebt er den traumatischen Akt des Muttermordes mit allen beteiligten Affekten nochmals durch, allerdings mit sich als Opfer und dem ehemaligen Opfer jetzt als Täter. Gleichzeitig steht Iphigenie jedoch helfend neben ihm, wird sie das befohlene Opfer nie vollziehen. So kommt es zur kathartischen Heilung des Orest, wobei das Motiv des Opfers vollständig im Raum des Fiktionalen bleibt. Eine analoge kathartische Heilung bahnt sich in Hofmannsthals Drama für Klytämnestra in der Unterredung mit Elektra an, die jedoch, wie dargelegt, unterbrochen wird. Für die »Heilung des Orest« im Sinne einer Herausführung aus tragischer Schuld verzichtet Hofmannsthals Drama dann jedoch nicht – auf seiner diskursiven Ebene – auf ein »Menschenopfer«, es »opfert« vielmehr seine Hauptfigur, was seiner archaisierenden Hinwendung zu einem vorzivilisatorischen Griechentum voll bluttriefender Kulthandlungen durchaus entspricht. Im Horizont solchen Verständnisses des Todes Elektras nicht als Klimax, sondern als Unterbrechung dionysischer Ekstase, kann weiter die Art spezifiziert werden, in der sich dieses Drama auf die antik-griechische Tragödientradition bezieht. Auf der einen Seite scheint die Konstellation, aus der die Tragödie hervorgegangen ist, markant wiederholt zu werden: ein Ineinander von Präsenz des Gottes (Teilhaben an dessen Gegenwart in der dionysischen Ekstase) und Repräsentation (die unaufgelöst bleibende Fixierung Elektras

20 Brief vom 10. November 1903 an Hans Schlesinger, in: Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke, Bd. VII, Anm. 13, S. 387.

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auf Zeichen-Sein); das eine macht sich, in einem Akt der Unterbrechung, im anderen breit, was man als einen dissonantisch verlaufenden metaphorischer Prozess beschreiben kann. Kulturgeschichtlich war dieses die griechische Tragödie kennzeichnende Ineinander der Weg, die Präsenz des Gottes in der Repräsentation fortschreitend zu distanzieren, eine Transformation, als deren Motor Aristoteles die Katharsis bestimmt hat. Auf der anderen Seite war an Hofmannsthals Elektra hinsichtlich der Handhabung der dramatischen Medien eine ganz andere dramatische Struktur herauszuarbeiten: eine metonymische Relation zwischen Körperaktion jenseits aller Strukturierung durch den Logos, die im »mänadischen Tanz« auf dionysische Ekstase bezogen wird, und Festlegung auf reines Zeichen-Sein, die sich in Elektras Wortmächtigkeit kundgibt: ein metonymisches Verhältnis mithin von Präsenz des Gottes und Repräsentation. Fragt man nach einer Tradition für diese Art Theatralität, wird man vom griechischen Theater weg zu einer biblischen Szene geführt, dem sog. Isaak»Opfer« (Gen. 22), das die jüdische Überlieferung gar nicht unter dem Begriff des Opfers fasst, da das entscheidende Moment der Szene ja gerade darin besteht, dass Issak nicht geopfert wird, vielmehr unter dem der »Bindung« (hebräisch Aqedah), d.h. der Handlung, die dem geforderten Opfer vorausging, der Bindung Isaaks durch Abraham, um ihn zu töten. Die Szene hält, denkt man an ihren Schluss, der Opferung eines Widders anstelle Isaaks, in der jüdischen Tradition kulturgeschichtlich den Augenblick der Ersetzung des Menschenopfers durch das Tieropfer fest. Es ist eine Szene, die für das jüdische Gottesbild und die Deutung des Verhältnisses zwischen Mensch und Gott von grundlegender Bedeutung und so in genuiner Weise mit der jüdischen Existenz verbunden ist.21 Zwischen Gottes Gebot an Abraham, seinen einzigen Sohn zu opfern und die Ausführung treten keinerlei Aufschub oder Stellvertretung. Abraham fragt weder nach dem Sinn des Gebots, obwohl damit Gottes Verheißung, er werde ihn zum Stammvater eines unzählbaren Geschlechts machen, hinfällig wird, noch bittet Abraham, wie zuvor im Falle von Sodom, Gott um Abschwächen des Gebots. Abraham spricht sein »hinein«, »hier bin ich« und macht sich mit Isaak auf den Weg. Wenn Gott Abraham auffordert, seinen »einzigen Sohn« (Gen. 22,2) zu

21 Einen Überblick über die vielfältigen Aspekte dieser Szene in theologischer, kulturhistorischer literarischer und bildkünstlerischer Hinsicht geben die Beiträge eines Tübinger Symposions zu Genesis 22: Bernhard Greiner, Bernd Janowski, Hermann Lichtenberger (Hrsg.): Opfere deinen Sohn! Das ›Isaak-Opfer‹ in Judentum, Christentum und Islam, Tübingen 2007; eine neue Deutung der Szene auf dem Hintergrund der komplexen jüdischen Auslegungsgeschichte gibt Stéphane Mosès: »Warum Isaak nicht geopfert wurde«, in: ders., Eros und Gesetz. Zehn Lektüren der Bibel, München 2004, S. 23-55.

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opfern, fallen Opfer eines Stellvertreters und Selbstopfer zusammen; denn dieses Opfer würde die Selbstauslöschung von Abrahams Stamm bedeuten. So hat Abraham hier nicht nur den Sohn zu opfern, sondern jede Art Stellvertretung, jedes »Als Ob« im Angesicht Gottes. Auf den Anruf Gottes gibt es kein Ausweichen in Repräsentation, kein Theater, keine Zeichenökonomie. Nach solchem Absehen von jeder Art Stellvertretung erneuert Gott den Bund mit Abraham und eröffnet ihm, mit dem Verweis auf den Widder, den Raum der Stellvertretung. So geht Stellvertretung in dieser Szene aus ihrer absoluten Vermeidung hervor, hat in dieser Tradition der Raum der Repräsentation und damit das Theatralische absolute Präsenz als seine Grundlage. Die kultische Vergegenwärtigung des Gottes wird hier nicht, analog zur Genese des griechischen Theaters aus dem Dionysoskult, auf einem »anderen« Feld des Spielens ausgeführt und damit distanziert. Absolute Präsenz des göttlichen Wortes, das kein Als Ob zulässt, eröffnet in der AquedahSzene den Raum der Repräsentation, diese wird eingeführt als das Andere der Präsenz. Im griechischen Theater ist die Relation von Präsenz und Repräsentation metaphorisch, das eine entfaltet sich im anderen, was Transformation erlaubt und damit Distanzierung und Katharsis. Die Szene am Morijah-Berg fasst diese Relation demgegenüber metonymisch, das Eine steht für das Andere, ist seine andere Seite. Folgert man aus dieser Szene eine eigene Art Theatralität, der in der jüdischen Kulturgeschichte eine Manifestation in einer expliziten Theaterpraxis allerdings sehr lange verwehrt blieb, so enthält diese Theatralität – im Unterschied zur griechischen Tradition des Theaters – einen ganz anderen Präsenzgedanken, d.i. die Chance, den Raum der Repräsentation zu durchbrechen auf eine neue Erfahrung von Präsenz hin und in solchem Akt zugleich in neuer Weise Gemeinschaft zu stiften: beides zentrale Anliegen der Theateravantgarde des 20. Jahrhunderts,22 zugleich leitende Orientierung der Theaterarbeit Max Reinhardts, dem Hofmannsthal bei einer Begegnung im Mai 1903 spontan eine moderne Bearbeitung der Elektra versprochen23 und der dann auch für die Uraufführung des Stücks auf seinem Berliner »Kleinen

22 Hierzu ausführlicher: Bernhard Greiner: »Aqedah (›Fesselung‹) des Theaters: Die Theater-Moderne als Feld der Begegnung griechischer und jüdischer Theatralität (am Beispiel Arthur Schnitzlers und Franz Kafkas)«, in: Christine Magerski, Robert Savage, Christiane Weller (Hrsg.), Moderne begreifen. Zur Paradoxie eines sozio-ästhetischen Deutungsmusters, Wiesbaden 2007, S. 337-350. 23 Vgl. die Tagebuchaufzeichnung vom 17. Juli 1904: »Anfang Mai [1903] sah ich die Eysoldt im Nachtasyl und dann bei einem Frühstück. Ich versprach gleich bei diesem Frühstück Reinhardt, ihm eine Elektra für sein Theater und für die Eysoldt zu machen.« (Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke, Bd. VII, Anm. 13, S. 400.)

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Theater« die Regie besorgt hat.24 Hofmannsthals Elektra führt beide Theatertraditionen in der Figur der Unterbrechung zusammen. Das metonymische Verhältnis von Präsenz und Repräsentation, das die Behandlung der theatralischen Medien in diesem Stück kennzeichnet und im »mänadischen Tanz« Elektras ihre Klimax findet, ist, wie nun deutlich geworden ist, der jüdischen Theatertradition zuzurechnen. Sie wird in der Fortbildung des mänadischen Tanzes zum »namenlosen«, auf den der Tod Elektras folgt, durchkreuzt von einer Wiederholung der Konstellation des tragischen Opfers, die im Akt der dionysisch-ekstatischen Vergegenwärtigung des Gottes dem Anderen, d.i. dem Zeichen-Sein Elektras und damit der Repräsentation Raum gibt und so die Konstellation wiederholt, aus der die griechische Tragödie hervorgegangen ist. Das »Namenlose« als Bruch des metonymischen Bezugs der jeweils isolierten und einander entgegengesetzten dramatischen Medien zeigt sich so zugleich als Brechungsfigur der Ineinanderführung zweier grundlegend verschiedener Arten von Theatralität, der jüdischen, die sich von der Szene der »Bindung« Isaaks herschreibt und der griechisch-europäischen, die das Drama, archaisierende und modern-tiefenpsychologische Orientierung miteinander verbindend, aufgreift. Hofmannsthal hat sich zur Verbindung von antik-griechischer und jüdischer Tradition programmatisch bekannt, in Mitteilungen an Ernst Hladny, in denen er u.a. zu seinem Elektra-Drama ausführt: »Ein […] Element werden Sie nicht übersehen haben: den Ton des alten Testaments, insbesondere der Propheten und des hohen Liedes. […] Ich halte den Ton des alten Testamentes für eine der Brücken – vielleicht die stärkste – um dem Stil antiker Sujets beizukommen.«25

Die »verbindliche« Formulierung verschweigt allerdings, dass diese »Brücke« im Elektra-Drama dem Brechen der einen Tradition an der anderen dienstbar gemacht wird – auf der Grundlage einer theatralischen Intermedialität, die an deren Interesse auf Unterbrechung statt auf Verbindung zielt. Die Wirkungsgeschichte des Dramas bekräftigt, dass Hofmannsthal hiermit eine für das 20. Jahrhundert wegweisende Neuaneignung der antiken Tragödie gelungen ist.

24 Ausführlicher hierzu Bernhard Greiner: »Damenopfer für das Theater: Hofmannsthals und Reinhardts Begegnung in der Arbeit an Elektra«, in: ders., Beschneidung des Herzens. Konstellationen deutsch-jüdischer Literatur, München 2004, S. 199-224. 25 Mitteilungen an Ernst Hladny, geschrieben zwischen 1909 und 1911, in: Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke, Bd. VII, Anm. 13, S. 459.

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I. In einem kürzlich erschienenen Aufsatz in der Zeitschrift Seminar1 skizzierte Rolf Renner Ansätze zu einer Theorie der Intermedialität, indem er die Gemeinsamkeiten zwischen den Medien besprach, statt – was in der kritischen Reflexion über diese Fragen häufig vorkommt – mediale Unterschiede in den Mittelpunkt zu rücken. Diese Diskussion läuft Lessings Laokoon-Projekt2 auf ähnlichem Gebiet insofern entgegen, als angebliche Diskrepanzen zwischen der Plastik und der Poesie in der Wiedergabe des Raum-Zeit-Kontinuums für Lessing schon ausreichen, um diese beiden Kunstformen in der Frage der Vermittlung von Emotionen stark voneinander abzuheben. In seinem berühmten Essay aus dem Jahr 1766 stellte Lessing die These auf, dass die zeitliche Abfolge als künstlerisches Anliegen in der Poesie letztlich schwerer wiegt als Raumfragen, die eher für die bildende Kunst von Bedeutung erscheinen. Solche intermedialen Unterschiede werfen der Ansicht Lessings zufolge ein entscheidendes Licht auf Winkelmanns Standpunkt in Bezug auf die Laokoon-Skulptur, demgemäß die Empfindung unmittelbar erlebter, schrecklicher Schmerzen – das Hauptthema des Werkes – erst dann mit Erfolg zu vermitteln wäre, wenn zuerst einem dem Bereich der Plastik vorbehaltenen Gesetz der Zurückhaltung Genüge getan würde (was Winckelmann in seinem einflussreichen, 1755 veröffentlichten Werk Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei undBildhauerkunst3 zum Anlass nimmt, das Wesen der griechischen Plastik in der Idealität von

1 2 3

Rolf Renner: »Intermediality and the Simulation of Space.« Seminar: A Journal of Germanic Studies 43/4, Nov. 2007, S. 385–397. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon. Berlin 1766. Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. Heilbronn 1885 (1755).

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»edler Einfalt und stiller Größe« zu sehen). Im Medium der Poesie dagegen, das den Anforderungen des zeitlichen Aspekts gerecht zu werden habe, orientiere sich der römische Dichter Vergil in der Aeneis an keinem emotionale Ausbrüche zügelnden Gesetz der gefühlsmäßigen Umsicht. Vergils Laokoon lasse seinen Gefühlen stattdessen freien Lauf. Rolf Renner sucht Distanz zu solchen Annahmen, die feste Grenzen zwischen den verschiedenen Kunstformen vorschreiben, indem er darauf hinweist, dass bei aller sonst anzutreffenden Verschiedenheit sämtliche Medien der Bestrebung folgen, den Raum auf prägnante Art und Weise in Szene zu setzen, was ja letztlich heißt, dass sich diese Medien ungeachtet ihres unterschiedlichen Handhabens von Themen und Motiven und ihrer je eigenen Materialität mit der gleichen Frage der Raumsimulation konfrontiert sehen. Zudem zielen sie bei aller Eigenheit auf ähnliche Grundeffekte ab. Als Beispiel führt Renner die Illusionierung an, die im Hinblick auf die bildende Kunst als die Fähigkeit der Bilder definiert wird, die Überwindung der technischen und materiellen Begrenztheit der Zweidimensionalität durch die Simulation der Dreidimensionalität zu erreichen4. Innerhalb der Plastik wie auch jenseits von ihr soll dieser Auffassung gemäß jedes Kunstwerk dazu angehalten sein, Illusionierungspraktiken einzusetzen, um die Einbildungskraft stimulierende Raumvorstellungen in für Rezipienten effektiver Weise entstehen zu lassen. Dadurch, dass er die Wichtigkeit der Beziehungen zwischen den einzelnen Medien bespricht, weicht Renner platten Grenzbestimmungen in der Kunst aus. So entsteht eine komplexe, grenzüberschreitende Problematik der Raumsimulation, die als technische Aufgabe zu einem alle Kunstrichtungen vereinigenden Grundanliegen der Kunst erklärt werden kann. Renners Bemerkungen in Bezug auf Fragen der ästhetischen Raumkonstruktion in der Kunst bieten einen fruchtbaren Ansatzpunkt für solche Fragen im Falle Robert Musils, eines österreichischen Schriftstellers, Stückeschreibers und Essayisten, dessen literarische Tätigkeit in die ersten drei Dezennien des 20. Jahrhunderts fällt. Musils auffälliger Wille zum Experimentieren in der Literatur scheint sowohl von literarischen Traditionen Abschied zu nehmen als auch gleichzeitig gewissen Praktiken des Films – der neu aufkommenden Kunstform in Musils Zeitalter – verschuldet zu sein. Ganz in diesem Sinne versteht Birgit Nübel5 Musils kurzen Prosatext Triëdere, einen Text, so Nübel, der eine dem Film analoge Prozedur der »Dekontextualisierung« und »Entpragmatisiering in Bezug auf den Betrachter« anstrebe6. Diese dekontextualisierenden und entpragmatisierenden Effekte ergeben sich 4 5 6

Renner, wie Anm. 1, S. 386. Birgit Nübel: Robert Musil: Essayismus als Selbstreflexion der Moderne. Berlin 2006. Nübel, a.a.O., S. 481.

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aus Musils Besprechung des Mittels der Isolation in Triëdere, eines Mittels, das darauf ausgerichtet ist, dass jedes Objekt, das sich der »triëdernden« Perspektive des Erzählers zeigt, als Objekt für sich untersucht werden kann, d.i. als Objekt, das zunächst seines sinnverleihenden Kontextes entbehrt. Die Entpragmatisierung des Blicks, die Musil hinsichtlich des Mittels der Isolierung bespricht, weist diesen Annahmen zufolge Gemeinsamkeiten etwa mit Filmtechniken wie dem »close-up« auf, die, wie Béla Balázs beispielsweise in Der sichtbare Mensch7 bespricht, durchaus die Intention zu verraten scheinen, das sonst nicht auf diese klare Weise erblickte Gesicht des Menschen der modernen Zeit zum ersten Mal in dessen wahrer Gestalt richtig sichtbar zu machen – eine Entpragmatisierung freilich, die eine Repragmatisierung im Bereich des althumanistischen Erziehungsprojekts des vortechnischen Zeitalters nach sich ziehen soll. Dass Robert Musil eine solche Repragmatisierung im Sinne eines alteuropäischen Erziehungsprojektes jedoch fern liegt, wird im Folgenden zu zeigen sein. Ins Besondere wird die These aufgestellt, dass sich Musil zwar an einer neuen Schulung des Blicks interessiert zeigt, auch dass dies sehr wohl dem allgemeinen Interesse von Musils Zeit an Blickverfahren entspricht, das das neue Medium des Films nur noch weiter erhöht haben mag, so dass in Musils Fall der allgemeine Einfluss des Films nicht ausgeschlossen werden kann, dass aber dieser Einfluss an sich letztlich nicht von ausschlaggebender Bedeutung für Musil war. Die hier vertretene Ansicht schreibt dagegen dem Umstand Bedeutung zu, dass Musils technisches Interesse am Sehen im Wesen der Technik selbst verankert ist, dass er in Triëdere nämlich einen Gedanken- und Sinnkomplex entwickelt, dessen innere Logik nicht in erster Linie dem Film entlehnt ist, sondern dem Bereich der technischen Wissenschaften verpflichtet bleibt. Mag deshalb vieles dafür sprechen, die weltanschauliche Haltung des Erzählers in Triëdere mit Musils Bekanntschaft mit dem Film in Verbindung zu setzen, scheint es mir doch eher der Fall zu sein, dass die in diesem Text anzutreffenden Ansätze zu einer neuen Theorie des Blicks – ohne dass Musil sie allerdings jemals zu einer richtigen Blicktheorie herausgearbeitet hätte – in den Umständen einer komplexen literarischen Entwicklung aufzusuchen sind, bei der außerliterarische Einflüsse eine signifikante Rolle spielten. Das Gebiet, von dem hier die Rede ist, kann als Medium im gewöhnlichen Sinne des Wortes freilich nicht bezeichnet werden. Dennoch lassen sich in Musils Fall Stationen einer lebenslänglichen Auseinandersetzung mit der Wissenschaft und der Technik ausmachen, deren Verfechter in der Zeit vor der Wende ins 20. Jahrhundert gerade dabei waren, für diesen Bereich nicht nur generelle Wissensansprüche, sondern auch gerade den Anspruch zu 7

Béla Balázs: Der sichtbare Mensch. Wien, Leipzig 1924.

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erheben, eine ganz neue Sicht auf die Dinge zu ermöglichen 8. In dieser neuen Sehweise, dieser Optik mit Erkenntnisanspruch können Elemente eines Dialogs rekonstruiert werden, der vor der Folie von Rolf Renners soeben erwähnter intermedialer Diskussion mit Gewinn gelesen werden kann. Es sei hier somit der Vorschlag gemacht, die »zwei Kulturen« der Wissenschaft und der Kunst9 erneut zum Thema zu machen, allerdings nicht als ewig von einander getrennte Sphären, in denen abweichende Denkmuster und Deutungszusammenhänge aufscheinen, sondern gleichsam als mediale Formationen, die in oft nicht geahnter Weise in- und miteinander verflochten sind und sich daher in vielfältiger Art wechselseitig beeinflussen. Wichtig ist dabei die Annahme, dass auch die technischen Wissenschaften mit der Aufgabe der Raumgestaltung beschäftigt sind. Inwiefern die überprüfbaren Wahrheitskriterien unterliegende Raumwiedergabe, die die technischen Wissenschaften kennzeichnet, von Problemen der in der Kunst erzielten Raumsimulation immer streng abzugrenzen sind, ist, wie noch zu zeigen sein wird, eine Frage, die sich in Musils Zeit für Wissenschaftler und Schriftsteller in gleichem Maße stellte. Bemerkenswert an Musils literarischer Entwicklung – das ist nun meine These – ist von Anfang an seine starke Beziehung zu den technischen Wissenschaften. Musil wuchs in einer technisch interessierten Familie auf. Sein Vater Alfred, ausgebildeter Ingenieur, wurde 1891 Professor für Maschinenbau an der Technischen Universität Brünn (jetzt: Brno). Nach einem kurzen Aufenthalt an einer Militärakademie in Wien im Jahre 1897 trat der jüngere Musil ein dreijähriges Studium an der Abteilung seines Vaters in Brünn an, anschließend absolvierte er ein einjähriges Volontariats bei Professor Julius Carl von Bach an der Technischen Universität Stuttgart. Aus dieser Beschäftigung mit den technischen Wissenschaften kann angenommen werden, dass Musils beruflicher Weg eher in Richtung der Technik als der Literatur liegen sollte; Musils früheste literarische Tätigkeit fand dieser Ausrichtung entspre-

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Vgl. die Einschätzung des Physikers Ernst Mach (1885): »Die Kenntnis des räumlichen Sehens hat im Verlauf des 19. Jahrhunderts wesentliche Fortschritte gemacht, nicht allein durch den Gewinn an positiver Einsicht, sondern auch durch die Beseitigung der in diesem Gebiete von verschiedenen Philosophen und Physikern […] angehäuften Vorurteile, wodurch erst die für positive Entdeckungen nötige Unbefangenheit gewonnen werden musste«: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen. Jena 19229 (1885), S. 101. Vgl. Charles Percy Snow: The Two Cultures and the Scientific Revolution. Cambridge 1959.

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chend in den Stunden nach beendeter Arbeit im Labor während seines Volontariats statt.10 Musils erste weltanschauliche Orientierung entstand somit vor dem Hintergrund einer technisch-wissenschaftlichen Ausbildung. Dies war eine Orientierung, die den am naturwissenschaftlichen Experimentalismus erhärteten Erkenntnissen über die Welt große Bedeutung beimaß. Trotz des lebhaften Interesses an der Literatur, das in der Zeit um 1900 herum in Musil erwachte, scheint Musil sich nie ernsthaft mit dem Gedanken getragen zu haben, von seiner wissenschaftlichen Haltung gegenüber der Welt abzurücken. Eher scheint sein Interesse darauf gerichtet gewesen zu sein, diese zwei unterschiedlichen Denk- und Auslegungsmöglichkeiten – zum einen die im Wissenschaftlichen, zum anderen die im Literarischen verankerte Ausrichtung auf das Leben – gleichzeitig aufrechtzuerhalten, ohne dass deren jeweiligem Erkenntnisanspruch die Spitze genommen werden sollte. Was sich an Musils früher literarischer Entwicklung also bemerkenswert ausnimmt, ist Musils Bestreben, den gelegentlich mit einander harmonierenden, gelegentlich mit einander wetteifernden Anspruch von Literatur und (Natur)Wissenschaft, etwas Wertvolles über die Welt auszusagen, gleichzeitig zur Geltung zu bringen. Eine frühe Äußerung zu diesen Umständen lässt sich in Musils erstem Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß finden, den Musil 1903/04 begann und 1906 veröffentlichte. Der junge Internatsschüler Törleß, den ein gleichsam forensisches Interesse an den Gewaltpraktiken zweier Mitschüler im Internat überkommt, ohne dass er sich an diesen Praktiken selbst richtig beteiligt, stellt dabei fest, dass eine klare moralische Position in Bezug auf die Brutalität der Schüler weder ausfindig gemacht noch konsequent bezogen werden kann. Angesichts der »Verwirrungen«, denen er im Laufe des Romans ausgesetzt sieht und die er trotz wiederholter Anstrengungen nicht von sich weisen kann, kommt er zu dem Schluss: »Ich weiß: die Dinge sind die Dinge und werden es wohl immer bleiben; und ich werde sie wohl immer bald so, bald so ansehen. Bald mit den Augen des Verstandes, bald mit den anderen […]«11. Diese Worte, die gegen Ende des Romans zur Sprache gebracht werden, weisen auf die Erkenntnis des Erzählers wie auch des Autors Musil hin, dass die in unterschiedlichen Erfahrungskomplexen des Menschen angesiedelten zwei Verstehensweisen der Menschen – die technischunparteiische, die mit der Wissenschaft assoziiert ist, sowie die emotionalwertende, moralisch-kritische, die mit der Kunst einhergeht – in ihren 10 Zum Autor und Zeithintergrund, vgl. Tim Mehigan: Robert Musil. Stuttgart 2001, S. 9–17. 11 Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Reinbek bei Hamburg 1987, S. 138.

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Grundtendenzen letztlich doch nicht miteinander in Einklang zu bringen sind.12 Die Position, die Musil in seiner Reife bezieht und über die seine späteren Werke Aufschluss geben, sieht ein Maß an Toleranz für dieses Problem vor, dem er in jungen Jahren offensichtlich nur mit Verwirrung gegenüber treten konnte. Die besondere Form, in der dieses Problem in fast allen seinen Werken zur Diskussion gebracht wird, wird Musil nicht zuletzt auf Grund seiner Erziehung in einer wissenschaftlich orientierten Familie und seiner technischen Ausbildung aufgedrängt. Musils Bedeutung als Schriftsteller verdankt sich zum einen dieser besonderen Orientierung an den Tatsachen und Verfahrensweisen der Wissenschaft13, die zum Faktum des vom Einzelnen erlebten subjektiven Lebens notwendig auf Distanz geht, zum anderen in der Ausrichtung der Literatur gerade auf Fragen der subjektiven Erfahrung von einzelnen Menschen. Trotz der Beschäftigung mit der Literatur während seines Ingenieur-Studiums, die den ersten literarischen Erfolg bringen sollte, entschloss sich Musil, sich zunächst nicht der Literatur, sondern der Wissenschaft zu widmen: 1903 schrieb er sich in einem höheren Studium der Psychologie und Philosophie an der Universität Berlin ein. Nicht einmal der unerwartete Erfolg des Törleß nach Erscheinen des Romans im Jahre 1906 konnte Musil daran hindern, seine Doktorarbeit zu Ende zu schreiben und dem weiteren Gang seiner akademischen Karriere mit Zuversicht entgegenzusehen. Dieses zu diesem Zeitpunkt wohl hauptsächlich aus beruflichen

12 In dem späteren Hauptwerk Der Mann ohne Eigenschaften charakterisiert Musil diese Erfahrungskomplexe als »Geistesverfassungen, die einander nicht nur bekämpfen, sondern die gewöhnlich, was schlimmer ist, nebeneinander bestehen, ohne ein Wort zu wechseln, außer daß sie sich gegenseitig versichern, sie seien beide wünschenswert, jede auf ihrem Platz. Die eine begnügt sicht damit, genau zu sein, und hält sich an die Tatsachen; die andere begnügt sich nicht damit, sondern schaut immer auf das Ganze und leitet ihre Erkenntnisse von sogenannten ewigen und großen Wahrheiten her«: Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek bei Hamburg 1987, S. 248 (im Folgen mit der Sigle »MoE« und nachfolgender Seitenzahl im Haupttext nachgewiesen). 13 Hierzu Claus Hoheisels Einschätzung der Bedeutung der Wissenschaften in Musils Werk: »Musils literarisches Werk ist ohne elementares Lehrbuchwissen der naturwissenschaftlichen und mathematisch-statistischen Spezialdiskurse nicht adäquat zu lesen. Der Grund liegt in der direkten, operationalen Ankopplung der verarbeiteten Fachdiskurse. […] Die Verbindungen zwischen den verschiedenen (naturwissenschaftlichen, mathematischen) Wissensbereichen werden bei Musil niemals bloß durch Metaphorik oder Analogiebildung erzielt, sondern immer auch durch wissenschaftliche Zusammenschau der entsprechenden Spezialdiskurse […].« »Physik und verwandte Wissenschaften in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Ein Kommentar«. Diss. Bochum, S. 462.

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Gründen gehegte Interesse an den Wissenschaften mag aus den viel versprechenden Neuerungen auf dem Gebiet der psychologischen Wissenschaft zusätzlichen Auftrieb bekommen haben – Neuerungen, deren Sinn es war, der Psychologie, wie auch anderen Wissenschaften, eine besser fundierte empirische Basis zu geben. Die funktionalistische Ausrichtung der Wissenschaft, die Musils Interesse an der Psychologie zweifelsohne noch weiter erhöhte, diente Musil in seiner Dissertation sogar zum epistemologischen Ausgangspunkt: Seine Doktorarbeit14 beschäftigte sich wissenschaftskritisch mit den Grundideen des Physikers Ernst Mach, eines der Hauptvertreter des Funktionalismus, der sich in seinen Schriften vorgenommen hatte, sich über Scheinprobleme der Metaphysik zu erheben und den Naturwissenschaften ein ganz neues Programm zu geben. Musil schloss seine Promotionsarbeit zu den Lehren Machs unter der Betreuung des Doktorvaters Carl Stumpf im Jahre 1908 ab.

II. Machs funktionalistische Annäherungsweise im Bereich der Psychologie und Physiologie schlug sich in einem wichtigen Werk Die Analyse der Empfindungen nieder, das zuerst 1885 veröffentlicht wurde15. Als Musil mit seiner Dissertation anfing, war dieses Werk schon zum fünften Mal aufgelegt worden. Mit diesem Werk beabsichtigte Mach nichts weniger als eine grundlegende Infragestellung der Metaphysik – eine Metaphysik, die seit Descartes von einem Dualismus zwischen der mentalen Sphäre der Erfahrung einerseits und der physischen Sphäre der in die Umwelt »verlängerten« Materie andererseits ausgegangen war. Die Bewusstseinssphäre hatte die Metaphysik schon deshalb als getrennt angesehen, weil der Bezug zum religiösen Denken auch weiterhin gewährleistet und ein Raum für die Weiterentwicklung menschlicher Rationalität ermöglicht werden sollte. Dass die Menschen damit vom Rest der Schöpfung, einschließlich der Tierwelt abgesondert wurden, wurde als notwendige Konsequenz dieses Dualismus betrachtet. Machs Intention war es, der aus cartesianischen Ansätzen hervorgehenden Einschränkung des Denkens beizukommen, indem darauf verwiesen wurde, dass das, was wir unter menschlicher Wahrnehmung verstehen, nichts anderes als ein Agglomerat von abstrakten Sinnesdaten ist, die mittels der menschlichen Wahrnehmung aufgenommen, in relativ loser Weise an den Gefühlsbereich gebunden und von da aus sodann mit dem menschlichen Willen in Kontakt

14 Robert Musil: Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs und Studien zur Technik und Psychotechnik. Reinbek bei Hamburg 1980. 15 Mach, wie Anm. 8.

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gebracht werden. Während diese Sinnesdaten vom dem Willen unterworfenen Gefühlsapparat – als Ich bezeichnet – stabilisiert sind, können weder die Sinnkomplexe, die sich aus dem Kontakt mit der Welt ergeben, noch das Ich selbst als konsequent, veränderungslos oder absolut gegeben bezeichnet werden. Eher lässt sich das Ich als nur »relativ beständig« bezeichnen: »Die scheinbare Beständigkeit des Ich besteht vorzüglich nur in der Kontinuität, in der langsamen Änderung. Die vielen Gedanken und Pläne von gestern, welche heute fortgesetzt werden, an welche die Umgebung im Wachen fortwährend erinnert (daher das Ich im Traume sehr verschwommen, verdoppelt sein, oder ganz fehlen kann), die kleinen Gewohnheiten, die sich unbewußt und unwillkürlich längere Zeit erhalten, machen den Grundstock des Ich aus.«16

Die Auflösung des Ich in entindividualisierte Empfindungsdaten stellt in Machs Lehren die erste Stufe der Auflösung der Umgebungswelt in Gestalten, Körper und Materie dar, die ihrerseits ebenfalls jeglicher Individuation entbehren (dass die Materie den Anschein der individualisierten Formen annimmt, ergibt sich Machs Ansicht nach nur aus praktischen Rücksichten). Statt eines »Dinges an sich«, das Mach für reine Einbildung hält, bedient sich Mach des Kant’schen Terminus der »Erscheinungen«, um die vielfältige Art und Weise anzugeben, auf die die physischen Elemente der Welt sich als sinnliche Eindrücke den menschlichen Sinnen einschreiben (»Eindrücke« ist der von Mach favorisierte terminus technicus für die Erscheinungen, den er vom britischen Empirismus, vor allem Locke und Hume17 übernahm). Für Mach sind diese Sinneseindrücke zuerst da – dies ist der Keim seiner Kritik an Descartes, der davon ausgeht, dass der Physis in jedem Fall der Umstand der mentalen Bewusstheit vorauszudenken ist. Mach stellt eine dem gerade entgegengesetzte These auf, die darin besteht, dass die Daten des Bewusstseins erst durch die Sinne aufgenommen, in sinnliche Eindrücke umgewandelt und dann schließlich in kognitive Formationen übergehen, die Mach »Gedankensymbole« nennt18. Bei aller operativen Kraft dieser Gedankensymbole bleibt als leitende Annahme die Feststellung erhalten, dass die Welt erst aus der Empfindung entsteht und dass Entitäten wie Körper und Ich nur praktische Behelfsmaßnahmen sind, deren Funktion es ist, den Menschen ihre immer nur provisorische Orientierung in der Welt zu geben. Statt solcher praktischen Behelfsmaßnahmen, die in der Philosophie in Gegenstände und Substanzen und damit irrigerweise in unveränderliche

16 Ebd., S. 3. 17 Vgl. ebd., S. 3, n. 2 und S. 38: »Da meine Ausgangspunkte von jenen Hume’s nicht wesentlich verschieden sind, ist wohl deutlich.« 18 Ebd., S. 10.

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Wahrheiten umgewandelt worden sind, schlägt Mach eine funktionalistische Vorgehensweise vor, die von jeder essentialistischen Annahme über die Umgebungswelt Abschied nimmt. Der neue Schwerpunkt der Analyse besteht darin, dass alle Elemente der Welt wie auch alle Empfindungen, die in Subjekten vorkommen, nur insofern erschließbar sind, als sie in Beziehung zu anderen Elementen und Empfindungen zu setzen sind, mit anderen Worten, insofern diese Elemente mit ihresgleichen in funktionale Beziehungsmuster eintreten19, die der Analyse offen stehen. Der Schwerpunkt der Analyse verschiebt sich daher von im Ich stabilisierten kognitiven Formationen zu Funktionen hin, die in jenseits vom Ich anzutreffenden Gebilden vorkommen, die auf das Ich einwirken und an die sich das Ich erst zu gewöhnen hat. Damit stellt sich Mach den überkommenen Bewusstseinstheorien kritisch gegenüber. So kann er als Beispiel anführen, dass das Aussehen eines Bleistifts geändert wird, wenn man ihn ins Wasser taucht. In diesem Fall unterscheiden wir für gewöhnlich zwischen Schein und Sein, um die Änderung in der Erscheinungsweise zu erklären, aber was berechtigt uns zu einer solchen Unterscheidung? »In beiden Fällen liegen doch Tatsachen vor, welche eben verschieden bedingte, verschiedenartige Zusammenhänge der Elemente darstellen. Der eingetauchte Bleistift ist eben wegen seiner Umgebung optisch geknickt, haptisch und metrisch aber gerade«20. Machs Herausforderung an die Metaphysik – eine Metaphysik, die, wie Mach glaubt, vom endlosen Streit über die Körper-Geist-Problematik verfolgt, der weiteren Entwicklung der Naturwissenschaften nur im Wege gestanden habe – besteht erstens darin, die Aussagekraft der Empfindungen ganz gleich ihres scheinbaren Wahrheitsanspruchs zu stärken, und zweitens, jede apriorische Annahme in Bezug auf die Zusammensetzung des Ich zu verwerfen. Da das Ich sich vor allem daran festmacht, inwiefern es über einen gewissen Zeitraum Kontinuität erlangt, und da solche Kontinuität auf der Basis funktionaler Beziehungsrelationen, die sich aus der Interdependenz mit anderen Ereignissen der Materie ergibt, messbar erscheint, müssen um der sinnvollen Analyse willen die Essenz des Ich sowie jede Annahme hinsichtlich seiner Souveränität aufgegeben werden. In diesem Sinne, wie Mach behauptet, müsste das Ich als »unrettbar« angesehen werden21. Statt der Essenz des Ich, die der Wissenschaft nicht zugänglich ist, nimmt sich Mach vor, nur jene inhaltlichen Aspekte der bewussten Erfahrung als wissenschaftlich erschließbar zu betrachten, die sich in funktionalistischen Zusammenhängen jenseits des Individuums der Analyse präsentieren.

19 Ebd., S. 13. 20 Ebd., S. 8. 21 Ebd., S. 19.

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Machs funktionalistischer Ansatz legt es darauf an, die Metaphysik aus der Naturwissenschaft auszutreiben. Dies wird im Wesentlichen dadurch erreicht, dass radikal induktive Prinzipien auf die Elemente der empirischen Welt angewendet werden. In Musils 1908 fertig gestellter Dissertation, die auf Machs Epistemologie fokussiert ist und Machs Projekt, den Naturwissenschaften eine ganz neue Stoßrichtung zu verleihen, untersucht, hinterfragt Musil kritisch die Durchführbarkeit eines solchen Projekts. Die Ablehnung der Naturnotwendigkeit – das Gerüst, auf dem Machs induktive Ausrichtung aufgebaut ist – scheint Musil ins Besondere fragwürdig zu sein. Trotz solcher Bedenken ist dennoch klar erkennbar, dass der Mach’sche Funktionalismus für Musils ganze Ausrichtung auf die Literatur von Bedeutung bleibt und ihm so etwas wie eine methodologische Orientierung und eine grundsätzliche Fragestellung gibt. Diese Orientierung und Fragestellung erwachsen aus Machs Erkenntnis, dass sich das menschliche Denkvermögen in Idealisierungen übt, die von den elementaren Zuständen der sinnlichen Empfindung ausgehen. Obwohl solche Idealisierungen aus einem stabilen Kern von Sinneseindrücken entstehen, wird damit Machs Ansicht nach nichts Wesentliches über die wahre Gestalt der physischen Realität ausgesagt, auf die sie sich vermutlich beziehen. Auch wenn sich diese Idealisierungen dem Bewusstsein mit großem Erfolg einprägen, dürfen sie laut Machs Verständnis keineswegs zum Status der Wahrheit aufsteigen. Dieser in den Mach’schen Lehren angesiedelten fruchtbaren methologischen Offenheit wusste Musils literarische Generation – jene Schriftsteller, die um die Wende zum 20. Jahrhundert vor allem in Wien tätig waren – mit großem Enthusiasmus zu folgen. Hugo von Hofmannsthal entwarf eine programmatische Antwort auf Machs Lehren in der kleinen Schrift Ein Brief (1901),22 einem fiktiven Brief an Francis Bacon, der einer der einflussreichsten frühen Befürworter der induktiven Vorgehensweise in den aufkommenden Naturwissenschaften am Ende des 16. und am Anfang des 17. Jahrhunderts war. Auch Hermann Bahr zählte zu den Schriftstellern aus Musils literarischer Generation, die aus Machs Ideen Inspiration schöpften. Machs Ideen vom »unrettbaren Ich« nahm Bahr zum Anlass23, zu einer ganz neuen Annäherung an Fragen der Moral aufzurufen. Für Musil dagegen gingen die Implikationen aus Machs induktiv-funktionalistischer Verfahrensweise weit über eine generelle Anregung der literarischen Vorstellungskraft hinaus. Machs provokante Ideen dienten Musil in Werken wie dem experimentell 22 Hugo von Hofmannsthal: Brief des Lord Chandos an Francis Bacon. Darmstadt 1975. 23 Vgl. Hermann Bahr: »Das unrettbare Ich.« Die Wiener Moderne: Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Hrsg. von Gotthart Wunberg, Stuttgart 1981, S. 147f.

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ausgerichteten Novellenband Vereinigungen (1911), dem experimentell konzipierten Drama Die Schwärmer (1921) und auch sogar dem großen unvollendeten Roman Der Mann ohne Eigenschaften (1930; 1933) dazu, die Basis der subjektiven Erfahrung von Leben ganz neu zu denken. Im Mann ohne Eigenschaften, einem Roman, der inzwischen zu den großen Werken der Weltliteratur zählt, sollte Musil die Folgen aus Machs anti-essentialistischer Vorgehensweise in Bezug auf das Ich dermaßen aufgreifen, dass jede Frage des Protagonisten in eine Frage radikalen Urteilens umgewandelt wird, bei dem nichts schon gegeben ist noch gegeben werden kann und keine Überlegung, die einer Handlung vorausgeht, aus moralisch-ethischen Gründen kurzerhand zu verwerfen wäre.

III. Musils Ausrichtung als Schriftsteller wird daher sowohl durch seine frühe berufliche Orientierung an den technischen Wissenschaften als auch durch eine Begegnung mit dem Physiker Ernst Mach beeinflusst, dessen psychischphysiologischer Parallelismus darauf abzielte, der Naturwissenschaft am Ende des 19. Jahrhunderts ein neues Fundament zu geben. Während vielen Schriftstellern aus Musils Generation die Suggestivkraft von Machs Ideen deutlich war, sah keiner von ihnen mit größerer Intensität und Klarheit die Folgen ein, die sich aus Machs Lehren für die Literatur ergaben. Aus diesen Lehren erwuchs für Musil sogar ein ganzes literarisches Programm. Dies lässt sich an dem Spätwerk Nachlaß zu Lebzeiten (1936)24 ersehen, einer Sammlung kurzer Prosastücke – Musil bezeichnet sie als »Bilder«, »Unfreundliche Betrachtungen« und »Geschichten« – die in der Hauptsache in den 1920er Jahren verfasst wurden. Der Einfluss von Machs IchVerständnis wird beispielsweise in Die Amsel augenscheinlich, der längsten Geschichte der Sammlung, die Machs Verständnis der aus funktionalen Beziehungsgeflechten gewonnenen Kontinuität des Ich zum Ausgangspunkt nimmt: »Man ändert sich […] vom Scheitel bis zur Sohle und von den Härchen der Haut bis ins Herz, aber das Verhältnis zueinander bliebt merkwürdigerweise das gleiche und ändert sich sowenig wie die Beziehungen, die jeder einzelne Mensch zu den verschiedenen Herren pflegt, die er der Reihe nach mit Ich anspricht.« (NzL, 131)

24 Robert Musil: Nachlaß zu Lebzeiten. Reinbek bei Hamburg 1990 (im Folgenden mit der Sigle »NzL« mit Seitenzahl im Haupttext nachgewiesen).

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Am Schluss der Geschichte, einer Debatte zwischen zwei Freunden über das Wesen menschlicher Erfahrung wie auch darüber, wie angesichts dieser IchBeständigkeit große Entscheidungen im Leben noch möglich sind, werden Inhalte Mach’scher Provenienz auch zur Sprache gebracht. Wie der Text nun erzählt, wacht der mit »Azwei« bezeichnete Freund mitten in der Nacht auf, als er den Gesang einer Nachtigall vernimmt. Im gleichen Augenblick entschließt er sich, seine Frau zu verlassen und »der Nachtigall zu folgen«. Später in einem Passus, in dem von dem Tod seiner Mutter die Rede ist, wird er erneut in der Nacht geweckt, wieder einmal ist es Nachtigallgesang, den er hört. Halb wachend, halb noch im Schlaf erkennt er den Vogel, den auf dem Fenstergesims im Mondlicht erspäht, als eine Amsel – Amseln ahmen nämlich den Gesang anderer Vögel nach. Die Amsel spricht zu ihm mit der Stimme seiner Mutter. Als ihn Aeins, sein ungläubiger Freund, nach der Bedeutung dieser Begebenheiten fragt, erwidert Azwei: »es hat sich eben alles so ereignet; und wenn ich den Sinn wüßte, so brauchte ich dir wohl nicht erst zu erzählen. Aber es ist, wie wenn du flüstern hörst oder bloß rauschen, ohne das unterscheiden zu können!« (NzL, 154). Im Lichte der Wichtigkeit, die Machs psycho-physischem Parallelismus zugeschrieben ist, kann etwa von einer gefühlsduseligen Neu-Romantik hier nicht die Rede sein. Was sich in dieser Erzählung vielmehr ausdrückt, ist eine Ethik, bei der zur Vermittlung menschlicher Erfahrung dem Empfindungsbereich eine Schlüsselrolle eingeräumt wird. Da es kein souveränes Ich-Gebilde ist, das für die Aufnahme der Empfindungsdaten sorgt, sondern ein Ich, in dem sich die Sinnesdaten augenblicksweise festigen und in Gefühlskomplexe übergehen, ehe sie sich wieder verflüchtigen, kann es doch wohl keinen Sinn haben, von dem letzten Wert oder der Bedeutung von Azweis Geschichten zu reden. Ihren Wert, ihre Bedeutung zu erzählen, muss einer neuen Erzählung anvertraut werden, »d[er] dritte[n] Geschichte, wie sie enden wird, weiß ich nicht« (NzL, 154). Daher kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, dass das Erzählen einen eindeutigen Sinn ergibt. Vielmehr ruft es weitere Erzählungen herbei, deren Sinn für das Ich immer neu zu ermitteln wären. Dabei kommt es Musil – Machs funktionalistischem Weltverständnis zufolge – wohl letztlich darauf an, das Ausmaß dessen zu erweitern, was zu den Möglichkeiten menschlicher Erfahrung gezählt und gewertet werden kann. In dem zuerst 1926 veröffentlichten Prosatext Triëdere lässt sich eine ähnliche Absicht erkennen, die darin besteht, über die gewöhnlichen Erfahrungsmöglichkeiten der Menschen hinauszugehen. In diesem kurzen Prosatext sind die Ablehnung herkömmlicher Verstehensweisen und die Einführung neuer keinesfalls, wie bei Die Amsel, als Ergebnis der Logik des Erzählten anzusehen; vielmehr stellt dies gerade die Voraussetzung zum Erzählen selbst dar. Triëdere bespricht nämlich den Aufbau einer alternativen Sehwei-

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se in Bezug auf die Objekte, die sich dem Sehvermögen eröffnen. Das technische Mittel, an Hand dessen diese alternative Sehweise zustande kommt, ist ein Prismenfernrohr, das dem unten Abgebildeten ähnlich sein dürfte: Abbildung 1: »Hensoldt-Prismendoppelfernrohr« 6 x 26 Wetzlar 1900. Mit freundlicher Erlaubnis von Herrn Ted Brink abgedruckt.

Die Effekte25 des durch doppelte Bespiegelung des Strahlengangs erzielten Sehens werden vom Erzähler als durch einen starken linearen Perspektivismus gekennzeichnete beschrieben: die binokularen Gläser verschärfen an einem mit dem Triëder erspähten Gebäude, das dem Aussichtspunkt des Erzählers gegenüber liegt, den Eindruck des Perspektivismus dermaßen, dass bald von einer »grauenvolle[n] Malersage vom Verschwinden der Linien« die Rede ist, »die gerüchtweise übertrieben werde« (NzL, 84). Dem Erzähler schwebt an dieser Stelle keine Normalisierung der sich im Blickfeld befind-

25 Indem er sich auf Bergmann-Schaefers Lehrbuch der Experimentalphysik (1993) beruft, beschreibt Claus Hoheisel diese Effekte wie folgt: »Das Fernglas besteht im Prinzip aus einem Objektiv, welches ein Zwischenbild auf das Okular wirft. Durch letzteres wird dann das vergrößerte Zwischenbild betrachtet. Zur räumlichen Verkleinerung des Strahlenganges und zur Erzeugung eines aufrechten Bildes schaltet man ein sogenanntes Prismen-Umkehrsystem zwischen Objektiv und Okular«: Hoheisel, wie Anm. 13, S. 121.

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lichen Objekte etwa durch den subjektiven Faktor eines berichtigten Sehens vor. Vielmehr wird gerade auf das Gegenteil abgezielt: Das, was sich zuerst als entstellte Sicht auf die Dinge zeigt, soll gleichsam unbereinigt zur Geltung kommen. Auf diese Weise kommt den in Augenschein genommenen Gegenständen deshalb Bedeutung zu, weil, wie bei Machs eingetauchtem Bleistift, diese Objekte auf eine andere weltanschauliche Haltung gegenüber den Dingen der Welt schließen lassen. Insofern kann dem einfachen Umstand des binokularen Sehens durchaus auch philosophischer Wert zugesprochen werden; das Triëder dient dazu, eine neue Theorie des Blicks zu gründen: »Sie [die Theorie, T.M.] heißt Isolierung. Man sieht Dinge immer mitsamt ihrer Umgebung an und hält sie gewohnheitsmäßig für das, was sie darin bedeuten. Treten sie aber einmal heraus, so sind sie unverständlich und schrecklich, wie es der erste Tag nach der Weltschöpfung gewesen sein mag, ehe sich die Erscheinungen aneinander und an uns gewöhnt haben.« (NzL, 85)

Die tragende Idee dieses kurzen Prosatexts ist es somit, neue Verständnismöglichkeiten an dem Punkt aufzuzeigen, an dem an den in Augenschein genommenen Objekten deren gewöhnlicher Horizont der Signifikanz reduziert und letztlich ganz durchbrochen wird. Unter diesen Umständen wird etwa nicht von einer sich auf den Aussichtspunkt des Erzählers langsam zubewegenden Straßenbahn die Rede, die den S-förmigen Windungen der Bahngleise folgt, sondern von einer schachtelartigen Form, die, durch den strengen linearen Perspektivismus des Triëders betrachtet, sich einmal vergrößert, einmal wieder einengt und verkleinert. In der gleichen Weise werden Passanten nicht gesehen, wie sie unbekümmert ihren Weg auf der Straße zurücklegen, sondern das unbeholfen wirkende Gebaren von Menschen, wie sie den strapaziös erscheinenden physischen Anforderungen des Gehens gerecht zu werden suchen. Hinsichtlich des Mittels der Isolierung wird man schließlich des menschlichen Charakters selbst nicht als festen Gebildes gewahr, auf das Erfahrung und Bildung aufbauend eingewirkt haben, sondern als eine Art Bekleidung, die je nach Art ihres Besitzers passend oder unpassend getragen wird. Musils Blicktheorie hat somit zwei Aspekte. Zum einen sorgt sie für eine Unterbrechung des gewöhnlichen Sehens. In dieser Hinsicht weist sie mit Humes philosophischem Projekt in dem Treatise of Human Nature (1739) Gemeinsamkeiten auf, da dieser die Theorie aufstellte, dass die menschlichen Sinne der elementaren Kraft von »custom« und »habit«, der Gewöhnung also, untergeordnet sind (in seiner Dissertation hat Musils Humes Einfluss

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auf Mach besprochen26). Die Macht der Gewohnheit ist es, die unserem Sehvermögen und damit auch unseren Anschauungen und Intuitionen ihre – durchaus auch funktional zu verstehenden – Rahmenbedingungen liefert. Damit werden dem Sehvermögen, wie den anderen menschlichen Sinnen ja auch, kontextbezogene Informationen vorausgeschickt, die das zu Erkennende gleichsam mitgestalten. Musils neue Theorie, die ihrerseits auf Machs funktionalistisch »anti-metaphysische« Denkrichtung aufgebaut ist, hebt an dem Punkt an, an dem solche antizipatorische Strukturmuster durchbrochen werden sollen. Das Durchbrechen der antizipatorischen Haltung gegenüber den im Blickfeld befindlichen Objekten stellt den wissenschaftlichen Aspekt der neuen Optik dar: Die Isolierung ist der Punkt, an dem sich der Anspruch der Menschen, Mensch zu sein, als »tödlich durchschnitten« (NzL, 86) erweist, an dem sich die Wissenschaft als Wissenschaft in ihrem Anspruch erfüllt, über die Menschen in Richtung einer die Menschen nicht beachtenden Universalwissenschaft hinauszugehen. Der zweite Aspekt von Musils Theorie, die ebenfalls Mach’schen Denken verschuldet ist, festigt auf der philosophischen Ebene das, was sich dem auf einmal bereinigten Sehen eröffnet. Schließlich kann auf Grund des Wegfalls der antizipatorischen Vorgeformtheit der unter der Annahme herkömmlichen Sehens erscheinenden Dinge ein genuiner kognitiver Gewinn erwartet werden. Da Musil aber damit rechnet, dass diese neue Wahrnehmungsweise keinen immer nur gemütlichen Erkenntnisertrag einbringt, nennt er die aus den Erfahrungsdaten neu gewonnenen Perspektiven »schrecklich, wie es der erste Tag nach der Weltschöpfung gewesen sein mag« (NzL, 85). Das Ideal des neuen Sehens ist somit keinesfalls ein mit einer rosaroten Brille versehenes: Der Prosatext wird im Sammlungsband wohlgemerkt dem Typus »Unfreundliche Betrachtungen« zugeordnet. Wie die Erzählung Die Amsel dennoch andeutet, dient das neue Sehen durchaus dazu, die von der ungeläuterten Normalsicht auferlegten Festlegungen des Sehens aufzubröckeln, damit sich sowohl Denken wie auch Gefühl in offeneren und weniger festgefahrenen Bahnen bewegen können. Darüber hinaus aber macht dieses Sehen neue Erkenntnisse über die Welt möglich. Dies wird in dem Text beispielsweise im Bild des scheinbar sorglos daher kommenden Mannes in den besten Jahren angedeutet, dessen Gang, durch das Triëder erschaut, auf die autopoietischen Züge animalischen Lebens schließen lässt. Im Triëderblick erhascht, entpuppt sich der Mensch damit nicht etwa in althumanistischer Weise als von Gott gelenktes Subjekt der Weltschöpfung, sondern als »ein menschliches System […], das nur darauf bedacht war, sich selbst zu behaupten, und gar nichts für andere übrighatte!« (NzL 88). Der ironische Unterton, der in diesen Worten mitschwingt, deutet darauf hin, dass die neue Optik in Bezug 26 Vgl. Musil, Beitrag, S. 19.

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auf ihre Brauchbarkeit für die Menschen ihrerseits einer eigenen kritischen Reflektion bedarf. Für Musil führt sie auf Resultate, die nicht von vornherein gutzuheißen sind: Zum einen trägt sie, wie der Erzähler berichtet, »zum Verständnis des einzelnen Menschen« bei, zum anderen jedoch auch »zu einer sich vertiefenden Verständnislosigkeit für das Menschsein« (NzL 88). Ob der funktionalistische Erkenntnisertrag des ersteren den zivilisatorischen Erkenntnisverlust des letzteren überwiegt – dies gehört zu den Grundfragen, die in Musils Werken zur Diskussion gestellt sind – bleibt letztlich dahingestellt.27 Die Erzählung, die über Musils literarische Intentionen vielleicht am klarsten Aufschluss gibt, ist der kurze Prosatext Das Fliegenpapier, das 1913 in einer Zeitschrift erschienen war und auch in die Sammlung Nachlass zu Lebzeiten aufgenommen ist. Wie bei Triëdere ist eine Anreicherung des normalen Sehens durch ein technisches Mittel zwar impliziert, aber erst im letzten Satz des Textes explizit angegeben, in dem von einem »Vergrößerungsglas« die Rede ist, durch das die letzten Augenblicke im Leben einer Fliege inspiziert werden. An diesen Augenblicken, in denen das Verenden von Fliegen, die auf einem Fliegenpapier landen, mit der Lage der Menschen in Verbindung gesetzt wird, wird die Prämisse des Textes etabliert: Das Auge, das sich öffnet und schließt, erscheint dem Erzähler »wie ein winziges Menschenauge« (NzL, 13). Bemerkenswert ist es dabei, dass diese Prämisse nicht etwa aus einem Gefühl der Verwandtschaft zwischen Tieren und Menschen erwächst. Vielmehr wird der Vergleich mit der Fliege und dem Menschen in Machs antimetaphysischem Sinne durchgehalten, d.h. auf der Basis sich dem kühlen Blick zeigender evidenter Tatsächlichkeit. So kann die Sterblichkeit der Menschen gleichsam von außen mit der gleichen Evidenz wie jene der Fliege betrachtet werden: Eine Situation, die sich »aus Konvention« anbahnt, als die Fliege auf dem Fliegenpapier stecken bleibt, macht sämtliche Phasen des konventionellen Niedergangs bis in ein Verenden hinein durch, das mit einem ebenso konventionellen Ende – dem Auf- und Zumachen der Augen – seinen Schlusspunkt erreicht. So endet ein Fliegenleben eigentlich so unauffällig und kläglich, wie es begonnen hat.

27 Kordula Glander ist der Ansicht, dass Musils späteren Schriften, d.h. denen, die nach den Vereinigungen (1911) erschienen sind, »eine fortschreitende Emanzipierung des Literarischen« gegenüber dem Wissenschaftlichen attestiert werden kann (Kordula Glander: »Licht und Farbe in Texten Robert Musils.« »Alle Welt ist medial geworden.« Literatur, Technik, Naturwissenschaft in der Klassischen Moderne. Hrsg. von Matthias Luserke-Jaqui, Tübingen 2005, S. 135). Dagegen scheinen mir das Literarische und das Wissenschaftliche in Musils Werken in einem niemals ganz aufgelösten, weil auch nicht ganz auflösbaren Spannungsverhältnis zu stehen.

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Ehe es aber soweit ist, tritt die entscheidende Wende ein, als sich die Fliege an den Knien vorbeugt, um ihre Situation zu entlasten. In diesem Augenblick erscheint sie, heißt es, wie Menschen, die sich unter einer schweren Bürde fortzubewegen suchen. Unter solchen Umständen mutet ihre Lage »tragischer als Arbeiter« an, »wahrer im sportlichen Ausdruck der äußersten Anstrengung als Laokoon« (NzL, 12). Jedoch entsteht hier keine des Humanismus verdächtige Sympathie, an der ein Bild des Menschen im moralischen Sinne normalisiert werden kann. Wenn von Menschlichkeit die Rede sein soll, dann wird das eine Menschlichkeit der äußeren Umstände sein: der Humanismus immanenten Seins, des gewöhnlichen Erlebens, des alltäglichen Kampfes um Leben vor einem ebenso alltäglich erscheinenden Tod. Im Kontext dieses bescheidenen, weil erdgebundenen, mit immanentwissenschaft-lichen Mitteln aufzuschließenden Humanismus lässt Musil den Laokoon-Mythos wieder aufleben, jedoch mit diesem wesentlichen Unterschied: Es macht sich angesichts des Ausdrucks schrecklicher Schmerzen diesmal weder ein Gesetz der Zurückhaltung bemerkbar, noch verlagert sich der Ausdruck unverblümter Emotion auf Grund intermedialer Differenz bis in den Bereich der Poesie hinein, was Renners Analyse, wie wir gesehen haben, ohnehin schon als überhöht erscheinen lässt. Musils Überwindung des kulturellen Modells exemplarischen Leidens, das sich in die Kulturgeschichte des Abendlandes eingeschrieben und seither große Bedeutung für das Kunstverständnis aller Medien gehabt hat, findet auf dem Grund sich endlos wiederholenden alltäglichen Lebens statt, dessen Augenscheinlichkeit nichts mehr ist als die einer Stubenfliege. Ob und inwiefern diesen Umständen, diesem Grund immanenten Daseins Bedeutung zugeschrieben werden kann, hängt von einer Perspektive ab, die streng genommen jenseits von Musils neuer Theorie des Blicks zu verorten ist. In diesem Fall, so kann abschließend angemerkt werden, indem wir uns auf Azweis Antwort auf Aeins’ Skepsis beziehen, muss jedwede sinnsuchende Erhebung letztlich als Sache des Rezipienten betrachtet werden. Damit gelangt Musils neue Theorie des Blicks bewusst an ihre Grenzen. Was jenseits dieser Grenzen liegt, bleibt ungewiss, auf jeden Fall aber utopisch – eine »Utopie der induktiven Gesinnung« (MoE, 1901) vielleicht, die am Ende auf doch nichts anderes führte als einen »anderen Zustand« des Denkens und Gefühls, von dem erzählt werden kann, solange noch Hellhörige sind, solange der Wille zum Erzählen selbst erhalten bleibt: »und mehr kann ich dir nicht sagen; das ist die dritte Geschichte, wie sie enden wird, weiß ich nicht« (NzL, 154).

Carl Einstein J OAN I BÁŇEZ (B ARCELONA )

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Eine fächerübergreifende Perspektive kennzeichnet das Werk von Carl Einstein, dem Kunsthistoriker und wesentlichen Vertreter der expressionistischen »absoluten Prosa«.1 Geboren 1885 in einer jüdischen Familie in Neuwied (Karlsruhe), folgt Einstein der »klassische[n] Karriere eines Unangepassten«2 und bleibt trotz seiner Beteiligung an zeitgenössischen Kreisen und Debatten ein Einzelgänger, was die Eigenart seines Schaffens deutlich macht. Avantgardismus und Antiavantgardismus bilden den Rahmen seines Werkes von der Zeit des Expressionismus bis zum Zweiten Weltkrieg. Dem politischen Exil in Paris 1928 folgen die Teilnahme am spanischen Bürgerkrieg an der Seite der Anarchisten und die spätere Flucht und der Selbstmord in den Vorpyrenäen (1941). Im Werk Einsteins werden Diskursivität und Visualität stets konfrontiert: Während Diskursivität als Medium der Individuumsidee, Vernunft und Logik verabscheut ist,3 wird Visualität zum Medium der Imagination erhoben. 1

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Zu Einsteins Kunsttheorie vgl. Sybille Penkert: Carl Einstein. Beiträge zu einer Monographie, Göttingen 1969; Heidemarie Oehm: Die Kunsttheorie Carl Einsteins, München 1976; zu seiner Beziehung zum Expressionismus vgl. Rainer Rumold: »Carl Einstein: Sprachkrise und gescheitertes Experiment ›absoluter Dichtung‹«, in: Martha Woodmansee (Hrsg.): Erkennen und Deuten, Berlin 1983, S. 254-272; Gert Quenzer: »Absolute Prosa. Carl Einsteins ›Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders‹«, in: Du Nr. 17, 1965, S. 53-65; Herbert Kraft: Kunst und Wirklichkeit im Expressionismus. Mit einer Dokumentation zu Carl Einstein, Bebenhausen 1972. Hermann Haarmann, Klaus Siebenhaar: »Vorwort«, in: dies. (Hrsg.), Carl Einstein. Werke, Berliner Ausgabe. Band 1, 1907-1918, Berlin 1994, S. 8. Vgl. dazu Einstein: »Man hat bis jetzt die Vernunft benutzt, die Sinne zu vergröbern, die Wahrnehmung zu reduzieren, zu vereinfachen. Im ganzen, die Vernunft

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Laut Einstein gelingt es der Malerei, die Dynamik und die Transformationsprozesse einer nicht fixierten und nicht fixierbaren Wirklichkeit zu integrieren. In dieser Kunst erfüllt sich nach Einstein die Darstellung der Moderne, die auf einer dynamischen Subjekts- und Wahrnehmungskonzeption basiert. Aus einer literaturkritischen, kunsthistorischen und kunsttheoretischen Perspektive, der ein kulturkritisches Denken zugrunde liegt, beschreibt Einstein die Eigenschaften von Medien als Träger von kulturellen Zeichen und als symbolische Formen. Er stellt das Visuelle über die Sprache, die Phantasie über den Logos, dem er einen gewissen bürgerlichen Realismusanspruch vorwirft. Trotz dieser Ablehnung bleibt die Sprache das Medium seiner Wahl und die Kritik an der Literatur, die von der Sprachkrise der ausgehenden Jahrhundertwende und den neuen Ausdrucksformen der ansetzenden Avantgarde gesteuert wird, Ausgangspunkt von Einsteins Thesen zur ästhetischen Moderne. Diese stellen das Zentrum eines theoretischen Diskurses über die neuen Formen der Wahrnehmung und des Kunstschaffens dar.4 Dazu gehören die Hervorhebung der englischen Romantik, für die laut Einstein Beckfords Vathek (1872) exemplarisch steht,5 und die Verwerfung der Literatur des Naturalismus.6 Dabei schließt sich Einstein mit seiner Kritik an der Metapher und an der Beschreibung den allgemeinen Thesen des literarischen Expressionismus an.7 Ebenfalls in Anlehnung an den expressionistischen Simultaneitätsbegriff konzipiert er für die Literatur eine Theorie der »qualita-

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verarmte; die Vernunft verarmte Gott bis zur Indifferenz; töten wir die Vernunft; die Vernunft hat den gestaltlosen Tod produziert, wo es nichts mehr zu sehen gibt«. Carl Einstein: »Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders«, in: Carl Einstein. Werke, Band 1, S. 105. Zu Bergsons Einfluss in Einsteins Werk vgl. Johanna Dahm: Der Blick des Hermaphroditen. Carl Einstein und die Kunst des 20. Jahrhunderts, Würzburg 2003, S. 89f. Auch Ernst Mach gehört zu seinen Quellen, vgl. dazu Lilianne Meffre: Carl Einstein. 1885-1940. Itinéraires d’une pensée moderne, Paris 2002. Carl Einstein: »Vathek«, in: Carl Einstein. Werke, Band 1, S. 41-44. Auch der Symbolist André Gide gehört zu seinen Vorbildern; vgl. dazu »André Gide«, in: Carl Einstein. Werke, Band 1, S. 51-54. Carl Einstein: »Camille Lemmonier«, in: Carl Einstein. Werke, Band 1, S. 181. Carl Einstein: »Ich dachte mir da eine Sache«, in: Hermann Haarmann, Klaus Siebenhaar (Hrsg.), Carl Einstein. Werke, Berliner Ausgabe. Band 4, Texte aus dem Nachlass I, Berlin 1992, S. 154. Er wird öfters mit Autoren wie Benn, Döblin, Walser und anderen verglichen, auch der Gattung des Grotesken zugeteilt, und sein Prosastück Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders als Beispiel einer »Reflexionsform« der Prosa interpretiert, vgl. dazu Moritz Bassler: Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910-1916. Tübingen 1994.

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tiven Zeit«, die keiner progressiven Struktur unterliegt und darauf abzielt, die Kunst als »Totalität des Lebens« zu betrachten.8 Des Weiteren zeigen in der Aktion, Pan und anderen Zeitschriften veröffentlichte Essays9 den Anspruch eines »revolutionären« Willens gegen das Tradierte und die überlieferten Formen: Ein neuer Wille zur Form wird zum leitenden Ansatz seines Schaffens.10 Einsteins Meisterwerk im diskursiven Medium ist ein Text, der eigentlich dessen Subversion verfolgt: Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders (1910/12), öfters betrachtet als groteske Novelle, als Vorbild der absoluten Prosa, ist der Versuch des Autors, eine Literatur zu entwerfen, die sich auf eine aus der Malerei stammende Form stützt, nämlich den Kubismus. Die Hauptbestandteile dieser Kurzgeschichte sind Multiperspektivität, Subjektivität, Darstellung einer dynamischen, beispielsweise synästhetischen Wahrnehmung,11 Figuren als Typen und ideologische Repräsentationen der Kunst wie des Denkens12 und avantgardistische Suche nach der Originalität als »Wunder«.13 Dabei verstößt Einstein gegen die progressive Struktur des Naturalismus, gegen die logische Darstellung von Ereignissen und die klare Ausdifferenzierung von Außen- und Innenräumen, den wirklichen und imaginären. In den imaginären Innenräumen entfalten sich zahlreiche Visionen, Halluzinationen, Gespenstererscheinungen und »Epiphanien«, was den visuellen Charakter des Textes ausmacht. Aus der Reduktion der Sprache resultieren verwirrende Anweisungen eines »unreliable narrators«, der so-

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Carl Einstein: »Totalität«, in: Carl Einstein. Werke, Band 1, S. 217-218. »Qualitative Zeit« wird als simultane Zeitstruktur von Einstein einer quantitativen Erzählstruktur entgegengesetzt, bei der sich die Geschichte episodenhaft aufbaut. Einstein beteiligt sich am »Neuen Club« (vgl. dazu Richard Sheppard: Die Schriften des Neuen Clubs, 1908-1914, Band 1, Hildesheim 1980) und am »Neopathetischen Cabarett«. Carl Einstein: »Anmerkungen«, in: Carl Einstein. Werke, Band 1, S. 142. De Pol redet in diesem Sinne sogar von einer »Poetik des Lichtes« im Bebuquin, die sich im synästhetischen Charakter des Textes zeigt; Dirk de Pol: »›Totalität‹ – Die Kant-Rezeption in der Ästhetik des frühen Carl Einstein«, in: Philosophisches Jahrbuch, Nr. 104, 1997, S. 132. Vgl. dazu das siebte Kapitel, »Der Abschied von der Symmetrie«, in dem die Hauptfigur Bebuquin einem Wandel unterliegt: er bricht ausdrücklich mit dem Klassizismus und wird Romantiker (Einstein: Bebuquin, S. 106f). Vgl. dazu auch: »Ehmke Laurenz, Platoniker gehe nur Nachts aus, weil es da keine Farben gibt. Ich suche die reine ruhende einsame Idee, diese Dame tatkräftig rhythmische Erregung. Ich bin eigentümlich, da ich von zwei Dingen ruiniert werde, einem höheren der Idee und einem niederen der Dame« (Ebd., S. 110-111). Carl Einstein: Bebuquin, S. 125. Dabei zeigt sich im »Dilettantismus« der Figuren eine latente Avantgardekritik, die Einsteins Einzelgängercharakter beweist.

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wohl außerhalb wie innerhalb des Erzählten existiert und quasi zwischen beiden Ebenen springt. Auch die Dialoge der Figuren, die auf abstrakten Diskussionen und scheinbar »sinnlosen« und »alogischen« Reden basieren, tragen zur Komplexität des Textes bei, die die gesamte frühere Prosa des Autors prägt. Durch die Metatextualität wird die Erzählung als Fiktion entlarvt,14 und das diskursive Medium an sich wird dekonstruiert durch die Subversion seiner historisch und traditionsbedingt herrschenden Ansätze. Alles in der Novelle dreht sich um »Schachtelwörter«:15 Die Begriffe Wunder, Logik, Vernunft, Imagination und Dilettantismus sind rekurrente Sinnzentren, die den Text strukturieren. Es handelt sich um Symbole, Signifikanten mit beweglicher Bedeutung, unfixierbare Sinnkonstruktionen, mit denen Einstein die Darstellungs- und Vorstellungsstruktur des Kubismus in die Literatur umsetzen will. Ab 1912 wendet sich Einstein intensiv dem visuellen Medium der Malerei aus einer wissenschaftlichen Perspektive zu, womit seine Karriere als Kunsthistoriker beginnt. In der 1914 veröffentlichten Negerplastik untersucht er die Form der afrikanischen Plastik als eine Vorform des Kubismus. Für ihn gilt die primitive Bildhauerei als autonomes Schaffen einer transzendentalen Wirklichkeit und ihr Produkt als ein ästhetisch-religiöser Artefakt, bei dessen Wahrnehmung das Subjekt ins Objekt integriert wird.16 Damit meint Einstein, dass die plastische Form das Sehen modelliert und nicht umgekehrt. Höhepunkt seiner theoretischen Beschäftigung mit der Malerei ist die 1926 im Propyläen-Verlag erschienene Kunst des XX. Jahrhunderts, eine renommierte Kunstmonographie vom Impressionismus bis zum Surrealismus.17 Darin entwirft Einstein neue, im Kontext des Surrealismus entstandene Begriffe wie das Transvisuelle und das Halluzinatorische, um die Identifikationsprozesse zwischen Betrachter und Kunstwerk zu erläutern. Zur selben Zeit nehmen seine Überlegungen zum Kubismus zu, besonders im Rahmen seiner Mitarbeit an den Zeitschriften Querschnitt von Flechtheim und Kunst14 Im Bebuquin heisst es: »Herr, gib mir ein Wunder, wir suchen es seit Kapitel eins«; Einstein: Bebuquin, S. 117. 15 Peter Fuss: Das Groteske: ein Medium des kulturellen Wandels, Köln-WeimarWien 2001, S. 407. 16 Carl Einstein: Negerplastik, in: Carl Einstein. Werke, Band 1, S. 241. 17 Vgl. dazu Uwe Fleckner: »Das zerschlagene Wort. Kunstkritik des Kubismus und ›kubistische‹ Kunstkritik im Werk von Pierre Reverdy, Guillaume Apollinaire und Carl Einstein«, in: ders., Prenez garde à la peinture. Kunstkritik in Frankreich 1900-1945. Berlin 1999, S. 481-536. Zur Sprache und zum kunsttheoretischen Diskurs als Sprache vgl. Erich Kleinschmidt: »Das Rauschen der Begriffe. Produktive Beschreibungsproblematik in Carl Einsteins ›Kunst des XX. Jahrhunderts‹«, in: Weimarer Beiträge, Zeitschrift für Literatur-wissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaft, Nr. 47, 2001, S. 507-524.

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blatt von Westheim. Schon 1923 hatte Einstein einen Brief an Picassos Kunsthändler, Herrn Daniel-Henry Kahnweiler, geschrieben, in dem er seine Hypothese eines »Kubismus des Denkens« ausformulierte18 und damit über Bebuquin reflektierte: Sein Versuch, den Kubismus in Literatur umzusetzen, sei zwar gescheitert, allerdings stehe der Kubismus immer noch als ästhetisches Prinzip der Moderne für ihn im Vordergrund.19 Der Kubismus wird sozusagen als Vorbild moderner Kunst affirmiert, während der Expressionismus einer scharfen Kritik verfällt.20 Die Forschung hat Einsteins kunsttheoretische Schriften sorgfältig untersucht, denn es ergeben sich unterschiedliche Probleme, wie zum Beispiel seine Berechtigung als Kunsttheoretiker überhaupt. Manche Kritiker zeigen, dass Einstein in der Negerplastik eine sehr eigene, von der Moderne zu stark beeinflusste Idee der primitiven Kunst erläutert, indem er sich intensiv auf das Theoretische konzentriert, ohne konkrete Beispiele aus der Kunstgeschichte zu geben.21 Auch die Kunst des XX. Jahrhunderts weist in ihrer Form und ihrem Stil einige Besonderheiten auf. Es handelt sich nämlich nicht um eine akademisch-historisch, sondern subjektiv komponierte Monographie, die auf sehr unausgewogene Weise auf die einzelnen Epochen eingeht. Zudem ist die Anzahl der angesprochenen Bilder gering im Vergleich zu den entworfenen und diskutierten Konzepten.22 Der wissenschaftliche Text folgt demselben Prinzip wie das literarische Werk Bebuquin: Schlüsselworte wiederholen sich, immer wieder auf neue Objekte bezogen, wodurch die übliche Trennung zwischen fachlicher und poetischer Sprache aufgehoben wird.

18 Für Einstein ist »dies kubische Erleben […] keine Sache der Theorie, sondern mäliges sich Abwandeln von Empfindungen« (Einstein: »Ich dachte mir da eine Sache«, S. 154). 19 Ebd, S. 156. 20 Vgl. Greg Osterkamp: »Däubler oder die Farbe – Einstein oder die Form. Bildbeschreibung zwischen Expressionismus und Kubismus«, in: Gottfried Boehm, Helmut Pfotenhauer (Hrsg.), Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München 1995, S. 543-563; vgl. Carl Einstein: »Schmitt-Reute«, in: Carl Einstein. Werke, Band 1, S. 57 u. 61; und: »SchmittReute«, in: Carl Einstein. Werke, Band 1, S.64-65. Der Kubismus sei für Einstein funktional, dagegen seit der Expressionismus eine leere Form, die auf nichts hinweist. 21 Dies war eines der meistdiskutierten Themen auf einem Symposium in Madrid im Januar 2009, von Prof. Fleckner aus Hamburg organisiert (Das Programm ist unter folgender Adresse zu finden: http://www.museoreinasofia.es/programaspublicos/pensamiento-ydeba-te/simposio-carl-einstein/dossier_CarlEinstein.pdf). 22 Zum Beispiel das »Transvisuelle« in Bezug auf Paul Klee.

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Ende der zwanziger Jahre erfolgt Einsteins Mitarbeit an Documents, zusammen mit Georges Bataille und Michel Leiris, bei der sich eine Radikalisierung seiner theoretischen Ansätze im Rahmen des Surrealismus spüren lässt. Durch seine Teilnahme am »Dictionnaire absolu« ergibt sich eine Verschärfung seiner in den zwanziger Jahren zunehmenden Bürgertumsfeindlichkeit,23 die sich am deutlichsten in späteren Texten wie Georges Braque (1930) und Die Fabrikation der Fiktionen (um 1930) zeigt.24 Im ersten Text zeichnet Einstein eine Entwicklung von der Romantik über das Preußentum bis zum aktuellen Deutschland nach; im zweiten bricht er entscheidend mit der Avantgarde und der Intellektuellenfigur als Diener des Bürgertums. Nach seiner Abwendung von der Avantgarde kommt es zu einer starken Politisierung seines Lebens, die ihn in den spanischen Bürgerkrieg führt. Dort nimmt er in dem Text »Die Kolonne Durruti« noch einmal die Sprache als Medium in den Blick: Unter dem Einfluss des revolutionären Buenaventura Durruti konzipiert er eine kollektive Sprache, bei der das »Ich« durch das »Wir« ersetzt wird.25 Damit zeigt sich eine zirkuläre Entwicklung in seinem Werk, bei dem am Anfang und am Ende die Sprache die Mediendiskussion dominiert, während von 1914 bis 1928 die Malerei im Zentrum steht.

E INSTEIN UND DAS K INO : T ONI ALS PRAKTIZIERTER I NTERMEDIALITÄT

B EISPIEL

Während Einstein bislang in seiner Intermedialität dem Medium Schrift verhaftet blieb, gipfelt diese nun in seiner Mitarbeit am Drehbuch und am »scénario« für den Film Toni (1935). Davor sind in Einsteins Werk nur wenige Hinweise auf das Kino zu lesen, die sich hauptsächlich in den literari-

23 In den zwanziger Jahren wird der Autor politischer: Dadaismus und Kulturkritik lassen sich in seiner Teilnahme an Die Pleite (zusammen mit George Grosz) und Der blutige Ernst, zwei von ihm gegründeten kurzlebigen Zeitschriften, wahrnehmen. Preußen und die deutsche Tradition, mit Goethe und der Romantik an der Spitze, werden Ziel seiner Kritik und seiner radikalisierten Feindlichkeit, besonders gegen die Weimarer Republik seit 1923, als sein Theaterstück Die schlimme Botschaft verboten wurde. 24 Beim letzten handelt es sich um ein antiavantgardistisches »Pamphlet« (Helmut Heissenbüttel: »Vorwort«, in: Carl Einstein, Die Fabrikation der Fiktionen. Eine Verteidigung des Wirklichen, Reinbeck bei Hamburg 1973, S. 8), in dem Einstein die Rolle des Künstlers und Intellektuellen vehement kritisiert und für das Projekt einer kollektiven gesellschaftlichen Identität plädiert, die seine Überlegungen über Wahrnehmung und Kunst durch pragmatischere Gedanken ersetzt. 25 Carl Einstein: »Die Kolonne Durruti«, in: Haarmann, Siebenhaar (Hrsg,), Carl Einstein Werke. Berliner Ausgabe. Band 3, 1929-1940, Berlin 1996, S. 520.

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schen Schriften finden. So erhält zum Beispiel im Prosastück Bebuquin auch das Kino seinen Platz durch Fredegonde Perlenblick, eine Schauspielerin, die das Kino repräsentiert. Ihr Auftritt im achten Kapitel des Bebuquin hat viel von einer Groteske: Das Auto, aus dem sie steigt, wird personifiziert,26 das Licht der Scheinwerfer zeichnet unterschiedliche Figuren auf den Asphalt, und auf dem Wagen steht ein Projektor,27 der mit einem Werbespot der Zerstreuung der Bürger dient. Dadurch lässt Einstein das Kino als reines Unterhaltungsmedium für das Bürgertum erscheinen, das seinem künstlerischen Potential nicht gerecht wird. Über Fredegondes Gespräch mit den »Dilettanten des Wunders« wird am Ende der »Schmerzkakadu«, eine Halluzination, heraufbeschworen: Da die Schauspielerin zum Auslöser dieser Erscheinung wird, rückt das Medium Film in die Sphäre der Halluzination und der Phantasie.28 Des Weiteren erscheint 1913 Nuronihar. Eine Pantomime für Frau Napierkowska, Einsteins Umsetzung von Beckfords Vathek in eine Pantomimeninszenierung der Kalifageschichte. Die Pantomime Nuronihar nähert sich in ihrer medialen Form dem Kino an, denn es handelt sich um die Projizierung von Schatten auf eine Leinwand, wo Licht und Dunkelheit im Kontrast agieren. Zur Zeit ihrer Entstehung gilt die Pantomime als die Hervorhebung der Gesten und des Körpers gegenüber dem Denken und der Sprache.29 In der Aufarbeitung von Beckfords Vorlage entwirft Einstein den Schauplatz als den Ausdrucksraum eines nicht-verbalen Schauspiels durch szenische Anweisungen: Die Kommunikation wird aufs Gestische reduziert, auf Tanz und Licht-Schatten-Dynamik, und nur der Klang von Musik begleitet die Visualität.30 Damit positioniert sich Einstein entschieden gegen die 26 Die Hupe singt, und alle technischen Elemente unterliegen einem Prozess der Vermenschlichung gerade, als das Medium Kino zitiert und angesprochen wird (Einstein: Bebuquin, S. 118). 27 Ebd., S. 118-120. Zur Figur der Schauspielerin vgl. Heidemarie Oehm: Subjektivität und Gattungsform im Expressionismus, München 1993, S. 223. 28 Eine der Hauptfiguren beschwört vor der Schauspielerin: »jetzt bist du in die Träume gezogen. Schmerzkakadu los!« (Einstein: Bebuquin, S. 109). 29 Zum Kino als »Wiedergeburt der alten klassischen Pantomime« vgl. Hermann Duenschmann: »Kinematograph und Psychologie der Volksmenge (1912)«, in: Albert Kümmel, Petra Löffler, Medientheorie 1888-1933. Texte und Kommentare, Frankfurt a.M. 2002, S. 85-89. 30 Vgl. dazu die folgende Anweisung: »Die Landschaft ist ganz unnaturalistisch, räumlich ist sie einfach klar und disponiert, jedoch von reichen Farbnüancen bedeckt, die präzis bleiben müssen.« (Carl Einstein: »Nuronihar. Eine Pantomime für Frau Napierkowska«, in: Carl Einstein. Werke, Band 1, S. 159). Gleichwohl wird die »rhythmische Tanzbewegung« der dynamisierende Kern des Stückes (Ebd., S. 161).

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Sprache und konzipiert an ihrer Statt eine Gesamtstruktur von Bild und Ton als alleinigen Handlungsträger.31 Aufgrund der geringen Anzahl von Hinweisen, die eher auf eine Geringschätzung des Mediums hindeuten, überrascht Einsteins Mitarbeit an Toni. Diese beschränkt sich im Gegensatz zu seinem restlichen Werk nicht auf die theoretische Reflexion von Medien, sondern bietet ein Beispiel praktizierter Intermedialität.32 Die Parallelen des Drehbuchs zum Gesamtwerk sind offensichtlich: die Problematiken der Avantgardezeit werden in einen neuen Kontext übertragen und belegen darin die Wandlung des Autors von der ästhetischen zur politischen Diskussion. So führt er beispielsweise die Dialektik zwischen Bild und Sprache, die sein ganzes Werk prägt, im Film fort. In Anlehnung an seine Überlegungen zur modernen Kunst betrachtet Einstein den Film vermutlich nicht als Entwurf realer und realistischer Bilder; sie gelten für ihn als symbolische Bilder, deren Bedeutung weit über das Abgebildete hinausgehen. Wie intensiv Einstein an Toni mitgearbeitet hat, ist unklar; er erscheint jedoch im Drehbuch sowohl als Autor als auch als Entwerfer des »scénario«.33 Merkwürdigerweise bezieht sich allerdings der Regisseur Jean Renoir nie auf die Zusammenarbeit mit dem zu dieser Zeit renommierten Kunstkritiker. Ebenfalls merkwürdig ist, dass der ehemalige Avantgardist Einstein sich an der Produktion des laut Bazin »ersten Neuen-Realismus-Films«34 beteiligt hat. Dies ließe sich aber durch Renoirs und Einsteins Angehörigkeit

31 Ein dritter in dieser Hinsicht erwähnenswerter Text erscheint in den zwanziger Jahren: es handelt sich um eine kurz gefasste Meinung zur deutschen Kinoindustrie, »Die Pleite des deutschen Films«, veröffentlicht 1922 in Der Querschnitt. 32 Bei seiner kubistischen Umsetzung der Literatur kann von einem Transformationsprozess nicht die Rede sein (vgl. dazu Joachim Paech: »Intermedialität. Mediales Differenzial und transformative Figurationen«, in: Jörg Helbig (Hrsg.), Intermedialität: Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiet, Berlin 1998, S. 14-31, hier S. 25), denn es handelt sich um Strategien, die sich monomedial, d.h. im selben Text entwickeln (vgl. dazu Irina Rajewsky: »Intermediality, Intertextuality and remediation: A literary perspective on intermediality«, in: Intermedialités, Nr. 6, Herbst 2005, S. 43-64, hier S. 59). Der Einfluss der Malerei wäre dann verbunden mit dem Projekt neuerer literarischer Formen, nicht neuer medialer Formen oder der Literatur fremden Formen. 33 Jean Renoir, Carl Einstein: »Toni«, in: Claude Beylie, Special Renoir, L’Avantscéne cinéma, Nr. 251/252, 1980, S. 21-101. Bergan weist kurz auf »Karl Einsteins« Teilnahme hin (Roland Bergan: Jean Renoir: Projections of Paradise. Woodstock-New York 1992, S. 141). 34 André Bazin: Jean Renoir, New York 1992, S. 38.

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zur Kommunistischen Partei erklären.35 Auf dem Hintergrund dieser politischen Gemeinsamkeit wird vermutlich auch der Hass in der Gesellschaft zum Hauptthema von Toni; es handelt sich dabei um eine prototypische Geschichte36 über den vom Bild des Fremden hervorgerufenen Hass.37 Die Handlung dreht sich um den spanischen Arbeiter Toni, der aus Barcelona in die Provence reist, um in einem Steinbruch zu arbeiten. Er beginnt eine Romanze mit der französischen Bäuerin Marie und macht Bekanntschaft mit dem Landbesitzer Sebastian. Er verliebt sich in dessen Nichte Josefa, die aber Albert, einen geizigen Bürger, heiratet. Als sie diesen verlassen will, gerät das Ehepaar in Streit: Josefa bringt ihren Ehemann mit der Waffe um, mit der er sie zuvor bedroht hat. Toni kommt ihr zu Hilfe und flieht mit der Waffe; er wird am Ende von der Polizei verfolgt und ermordet, kurz nachdem Josefa ihr Verbrechen zugegeben und sich ergeben hat.38 Der Geschichte liegt eine zirkuläre Struktur zugrunde, die von einem bildlichen und tonalen Zeichenkomplex gestützt wird. Tonis Ankunft in der Provence mit dem Zug und seinem Spaziergang am »viaduc du Caronte«39 vorbei, der von Liedern mit unverständlichem Text begleitet wird, wiederholt sich am Schluss in der Ankunft eines weiteren Arbeiters, bei der dieselben Gesänge, diesmal verständlich, zu hören sind.40 Der Zug dagegen signalisiert die Ankunft von Fremden in dem Dorf und die Industrialisierung in der Region. Die Brücke, auf der Toni stirbt, symbolisiert die Trennung zwischen Tod und Leben, denn auf seiner Flucht überschreitet die Hauptfigur eben

35 Vermutlich treffen sich Einstein und Renoir im Rahmen der französischen KP in Frankreich; auch Renoir erlebt Anfang der dreißiger Jahre einen Wandel im politisch-gesellschaftlichen Bereich, und nach den Ereignissen vom 6. Februar 1934 »est décidé à participer à sa manière à l’action de ceux qui réclament plus d’égalité et de justice sociale« (Célia Bertin: Jean Renoir, cinéaste, Paris 1994, S. 44). An diesem Tag findet eine antiparlamentarische Demonstration der rechten Parteien auf der Pariser Place de la Concorde statt. Einstein wird Mitglied der KPD – um 1919, nach der Novemberrevolution und der Spartakistenliga. In Spanien aber wechselt er auf die Seite der Anarchisten. 36 Roger Viry-Babel: Jean Renoir: le jeu et la règle. Paris 1994, S. 72. 37 Leo Braudy: Jean Renoir: The World of His Films. New York 1985, S. 55-56; vgl. dazu Bertin: »les ouvriers immigrés espagnols et italiens ne sont pas acceptés par la population. Le drame reflète l’affrontement de traditions différentes, l’incompréhension due aux préjugés courants contre les étrangers, accusés de voler le travail et les femmes« (Bertin: Jean Renoir, S. 44). 38 Zu einer detaillierten Zusammenfassung der Handlung siehe Bergan: Projections, S. 141. 39 Renoir, Einstein: Toni, S. 100. 40 Ebd., S. 21 u. 100.

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diese Grenze.41 Als visuelles Zeichen wird der Zug als »image of limitation [...] of the determinism and fatality that controls the lives of the characters«42 interpretiert. Bild und Ton rufen am Ende des Films den Anfang wach, und die Wiederholung deutet das Schicksalhafte der Handlung an, die mit dem unschuldigen Sterben des Arbeiters schließt. Außerdem nimmt schon die Einblendung im »Prologue« den späteren Konflikt Tonis mit der ihn umgebenden Gesellschaft vorweg, indem er auf die Mehrsprachigkeit und die Problematik des Zusammenlebens von Einheimischen und Fremden hinweist: »Histoire vraie racontée par Jean Renoir d’après la documentation recueillie par Jacques Levert en vue de son roman ›Toni‹ (1). L’action se passe dans le midi de la France, en pays latin, où la nature, détruisant l’esprit de Babel, sait si bien opérer la fusion des races.«43

Damit rückt die Sprache ins Zentrum des Films, und zwar als Medium, das nicht zur Kommunikation und Erkenntnis führt, sondern zur Verwirrung und zum Konflikt. In der Kritik an der Sprache findet sich eine der Parallelen zu Einsteins literarischem Werk. War im Bebuquin die Rede von Figuren, die Kunststile verkörpern, und von abstrakten Begriffen, die die poetische Sprache konstruieren, handelt es sich im Film um das sprachliche clash of cultures, das zweifach vom kinematographischen Medium unterstützt wird: einmal durch die einheimischen Amateurschauspieler, die es inszenieren, und einmal durch die Darstellung eines besonderen Typus, des einwandernden Arbeiters, der sich durch Sprache und Herkunft von den Landesbewohnern unterscheidet.44 Aufgrund dessen wird der Film als »veritable chain of keys« beschrieben,45 hauptsächlich wegen der »mélange of accents – Italian, Spanish, Proven-

41 Nicht umsonst stirbt Toni auf dem »Viaduc de Caronte«, deren Namensgeber der mythologische Fährmann zur Unterwelt ist (Renoir, Einstein: Toni, S. 99). 42 Braudy: The world, S. 58. 43 Ebd., S. 21. Die genannte Vorlage von Leverts Roman existiert nicht, es handelt sich aber tatsächlich um einen wahren Fall. 44 Renoir sagt, Amateurschauspieler (und sogar Laien) würden nicht die »répétition« in ihrer Darstellung hervorrufen, sie seien »plus spontanés, moins artificiels«, denn sie würden »remplacer la routine par une création constante« (Renoir: Le passé vivant, S. 18). Diese Strategie entspricht – wie viele andere – dem Realismusanspruch des Films. Dabei steht die Diskussion der inneren Widersprüche des Mediums bezüglich der Dialektik zwischen Wahrheit und Realismus im Zentrum (Bazin: Jean Renoir, S. 39). 45 Ebd., S. 36.

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çal«.46 Das ist das Resultat dieser mehrfachen Sprach- und Kulturkodierung47 in einer Gegend, der Provence, die Renoir als »sauvage« bezeichnet.48 Neben der Sprache gehört die Übernahme von volkstümlichen Elementen zu einem der wesentlichen Kennzeichen des Films. Diese entspringt vermutlich Einsteins Vorliebe für die primitive Volkskunst und wird zur Charakterisierung der Bauern und der Region eingesetzt. In Toni werden auffällig viele chansons eingefügt; diese »commentent, comme autant de scolies malicieuses, l’action dramatique«;49 sie tragen zur Handlung bei und werden funktional. Die Lieder basieren auf einem »rengaine populaire« und stellen die einzige musikalische Untermalung des Films dar; es handelt sich um eine neue Musikkonzeption, die an die brechtschen Lieder erinnert.50 Die Sänger, die zu den Arbeitern gehören, werden sinnstiftende Elemente der Struktur:51 dabei haben die korsischen und italienischen Sänger »le soin d’improviser en toute liberté en marge du tragique destin de son héros. Il est troublant d’y decéler de curieuses interférences, conformes aux exigences du choeur antique«.52 46 Bergan: Projections, S. 142. Die »altérations linguistiques« der Figuren werden daher zum Bestandteil der Form und des Inhalts: Slang-Wörter und Neologismen gehören zum Wortschatz der Figuren, laut Beylie »la clef même de l’oeuvre [...] véritable chassé-croisé de langues et de dialectes méditerranées« (Claude Beylie: »Jean Renoir face au cinéma parlant«, in: ders., Special Renoir, L’Avant scéne cinéma, Nr. 251/252, 1980, S. 9-10). 47 Vgl. dazu Renoir in Premier Plan, 1962: »Chez ces déracinés, les passions sont vives et les hommes qui me servirent de modèles pour Toni m’ont semblé traîner derrière eux cette atmosphère lourde, signe du destin fatal des héros de tragédie, voire de chanson populaire« (zit. nach Viry-Babel: Le jeu, S. 74). 48 Jean Renoir: Le Passé vivant. Paris 1989, S. 18. 49 Ebd., S. 11. 50 Ebd., S. 11f. Laut Beylie »cette espèce de saupoudrage musical ne fut pas sans surprendre le public, dans la mesure où il est le plus souvent fondé (comme on l’a vu pour le son et le dialogue) sur un système de contrastes, provoquant chez le spectateur habitué aux ritournelles indigentes un réflexe de défense, de décrochage par rapport au spectacle montré« (ebd., S. 12). Vgl. dazu auch die Übernahme der Verfremdungseffekt-Theorie von Brecht aus einer nicht dramatischen, sondern ideologischen Perspektive (ebd., S. 12). 51 Sie wechseln zwischen Französisch und Korsisch und begleiten die Figuren (Renoir, Einstein: Toni, S. 22-24). Manchmal werden sie sehr fantastisch, machen die Gespräche nach (ebd., S. 33 u. 86). 52 Beylie: »Jean Renoir«, S. 13. Vgl. dazu »’l’efet de dissonance’, visant à souligner l’ambiance d’une scène par un motif musical divergent«, den Renoir in anderen frühen Filmen einsetzt (ebd., S. 14). Es handelt sich um eine »cacophonie sociale«, wie sie in anderen Filmen wie z.B. La Marseillaise oder La Règle du jeu zu finden ist, die zur Unverständlichkeit beiträgt.

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Bezüglich Einsteins Frühwerk ist auch die Interaktion von Sprache und Bild sehr relevant. Die Übereinstimmung der parole in den Dialogen mit dem szenischen Hintergrund der Geschichte schafft einen »espace structuré, homogène, vivant de sa vie propre, autour des acteurs et en dehors d’eux«. Es handelt sich um den »décors«, der für Renoir dem »état d’âme« gleicht.53 Und in diesem strukturierten Raum finden sich die unterschiedlichen »corrélations simboliques« zwischen der Subjektivität der Figuren und der objektiven Wirklichkeit, denn: »Le décor, qu’il fût naturel ou artificiel, devait respirer autour des personnages, être un lieu géométrique des actions et des passions, un centre de gravité sur quoi doit reposer l’œuvre entière […]: un cadre de vie«.54 Der Ausschluss jedes überflüssigen Elementes zugunsten der Darstellung des Fremden bestimmt ebenfalls den Film, bei dem die Folklore nicht allein als Schmuck erscheint. Die Räume der Natur wiederum sind eher als »lieus [...] ouverts à l’imagination«55 konzipiert. Wie Renoir 1956 sagt: »C’était la grande question du ›naturel‹ […] Le cinématographe peut-il se permettre la transposition ou doit-il, au contraire, se faire l’esclave de la nature?«56 Für Einstein ist diese Umsetzung der Natur vermutlich das Wesentliche am Medium Kino, darin liegt seine produktiv-funktionale Macht, durch die es das Medium Schrift übertrifft. In diesem Sinne steht der Film repräsentativ für Einsteins Versuch einer Ergänzung des Diskursiven und Erzählerischen durch die Bilder, die bereits im Bebuquin eine große Rolle spielt. Durch das (erzählte) Licht und die Synästhesie (als Darstellung einer Art subjektiver Empfindung) bezieht der Text visuell-kognitive Prozesse in die literarische Sprache mit ein. Doch das Visuelle als funktional erzählerisches Element erscheint erst im kinematographischen Medium. Im Drehbuch tauchen unterschiedliche Zeichen auf, die auf die Konstruktion eines visuellen und symbolischen Raumes hinweisen. Diese machen die natürlichen Hintergründe aus, Steinbruch, Natur und Wald aus der Provence; es sind Landschaften mit romantischer Bedeutung, in denen sich die Szenen der Sexualität, Gewalt und Leidenschaft abspielen. Im Gegensatz dazu finden die Konflikte um Eigentum und Geld immer im Inneren der Häuser statt, um einen Tisch im Licht einer kleinen Lampe: An ihm wird die Gier von Josefas Ehemann Albert und Cousin Gabi vorge-

53 Beylie: »Jean Renoir«; S. 16. 54 Deswegen ist dieser »décor […] jamais banal« (ebd.). 55 Ebd., S. 17f. Zur Zeit von Toni wollte er »amener les eléments non naturels« (zit. nach ebd., S. 18). Beylie knüpft damit an Renoirs Film mit der dem Vater verwandten Tradition des Impressionismus an, bei dem es um die Verarbeitung der »vraiesemblance« in der Darstellung ging (Beylie: »Jean Renoir«, S. 18). 56 Zit. nach ebd., S. 18.

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führt.57 Die Gestaltung solcher Elemente entspricht Einsteins Konzeption einer von einer kognitiven Bildstruktur und zeitlichen Raumorganisation geprägten Schrift und Erzählbarkeit. Es lassen sich also Spuren vom frühen avantgardistischen Einstein in der Geschichte von Toni herauslesen, die 1935, in seiner politischen Phase, eine neue Form in der pragmatischen Erzähl- und Darstellungsform des nouveau realisme finden. Der Film steht exemplarisch für diese Gattung, obwohl sein Inhalt und Stil die Grenzen der Gattung selbst übertritt. Renoir und Einstein arbeiten zusammen in einem laut Beylie künstlerischen Gesamtwerk mit großem Erfolg: »Le troubadour, le chroniqueur, le peintre, le dramaturge et le cinéaste se sont rencontrés, en un accord harmonieux et rare. On y sent palpiter la vie d’une collectivité, crépiter le feu dévorant des passions, se déchaîner les forces du destin. Paraphrasant Malraux, je dirais que c’est l’intrusion de la tragédie grecque dans le procès-verbal policier.«58

S CHLUSSFOLGERUNG Toni ist die Wiederaufnahme und Umsetzung von Einsteins kunsttheoretischen Ansätzen, die pragmatisch werden. Im Film ist nicht mehr die Rede von halluzinatorischen Identifikationsprozessen zwischen Bild und Betrachter. Konzepte der Wahrnehmung von Zeit und Raum wie Simultaneität und Totalität verlieren an Bedeutung. Einsteins Mitarbeit am Medium Film liegt weit entfernt von den Kreisen und Milieus, in denen er seinen Ruf verdient hat: sie findet in der politischen Spätphase statt, kurz vor seiner Reise nach Spanien, seiner Flucht und seinem Tod. Die Medientheorie als Schlüssel macht sein Gesamtwerk zu einem Ganzen mit mehreren zentralen Elementen und patterns, die immer wieder in einem anderen Kontext und mit ähnlichem Sinn und ähnlicher Wirkung auftauchen. Deswegen ist Toni, trotz seiner Nähe zum Realismus, auch nah an Einsteins avantgardistischem Denken wie der »Form der transzendentalen Wirklichkeit«, die er im Kubismus sucht. Kunstbild, Sprachbild und Filmbild sind die rekurrenten Sinnzentren seines Denkens und seiner medientheoretischen Überlegungen, die sein Schaffen, Beispiel einer praktizierten Intermedialität, ausmachen. Der Film bietet zudem eine dunkle Vorausahnung auf Einsteins tragischen Tod: Toni stirbt

57 Vgl. Renoir, Einstein: Toni, S. 88f. Im Bebuquin erscheinen Innenräume wie das Gemach oder die Kneipe (Einstein: Bebuquin, S. 109), die als Räume der Imagination zu bewerten sind. 58 Ebd., S. 19.

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unschuldig in der Provence, weil er Josefa beschützen will; Einstein seinerseits nimmt sich letztlich das Leben ebenfalls in einer südfranzösischen Gegend als unschuldiger Flüchtling vor der Gestapo.

Kurt Schwitters W OLF K ITTLER (S ANTA B ARBARA )

et sunt qui credere possint esse deos!1

Christian von Ehrenfels, der Begründer der Gestaltpsychologie,2 hatte einen Traum. Er träumte von der Lösung eines ganz persönlichen, zugleich aber auch die gesamte »Kulturmenschheit« betreffenden Problems, nämlich von der »Versöhnung der natürlichen und der kulturellen Forderungen der Menschennatur auch auf sexualem Gebiet.«3 Ausgangspunkt dieser Utopie war eine Beobachtung, die Ehrenfels im Jahr 1906 so formulierte: »In der Ursprünglichkeit seines Wesens strebt der männliche Vatertrieb weitmehr nach dem stolzen Bewußtsein, eine zahlreiche und gedeihende Nachkommenschaft ins Leben gesetzt zu haben, als nach Lebensgemeinschaft mit den Kindern.«4

Diese einfache Feststellung stürzte den Prager Dichter und Philosophen in einen Konflikt, über den er 1908 rückblickend schrieb: »Durch persönliche Erfahrungen […], war ich – es sind nun 13 Jahre her – zur Feststellung der Alternative gelangt: Entweder ich bin ein Individuum von total korrupten, sexualen Instinkten, oder es ist unsere monogamische Sexalordnung eine Institution von total korrumpierenden Tendenzen, – und ich hatte mich an die Aufgabe herange-

1 2 3

4

Publius Ovidius Naso: Metamorphosen, hrsg. von Erich Rösch, München 81979, IX, S. 203 f. Christian von Ehrenfels: »Über Gestaltqualitäten«, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 14, 1890, S. 249-292. Zitiert nach Wilhelm Hemecker: »›Ihr Brief war mir sehr wertvoll ...‹ Christian von Ehrenfels und Sigmund Freud – eine verschollene Korrespondenz,« in: Jean Clair, Cathrin Pichler, Wolfgang Pircher (Hrsg.): Wunderblock. Eine Geschichte der modernen Seele, Wien 1989, S. 568. Hemecker: »›Ihr Brief war mir sehr wertvoll ...‹ […]« S. 563.

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macht, das Dilemma ›sine ira et studio‹, mit allen Mitteln wissenschaftlicher Objektivität zu entscheiden. Nach mannigfachen Aufhellungsversuchen und psychischen Forschungsfahrten in die Höhe, Breite und Tiefe, hielt ich mich für berechtigt, die zweite der genannten Möglichkeiten für Tatsache zu erklären.«5

Da die »kulturelle Sexualmoral« im Unterschied zu ihrem natürlichen Gegenpol »massiv«6 in die biologische Selektion eingreife, so meinte Ehrenfels, führe sie notwendig zur konstitutionellen Degeneration der Menschheit: »Entfällt die Auslese, – das heißt gelangen alle Nachkommen in gleichem Maße zur Fortpflanzung –, so verschlechtert sich mit der Generationenfolge schrittweise die Konstitution, der betreffende Stamm entartet – degeneriert.«7

Als er diese Ideen im Jahr 1909 auf einer der Sitzungen der »Wiener Psychoanalytischen Gesellschaft« vorgetragen hatte, wachte Ehrenfels am nächsten Tag mit einem »Kater« auf, wie er seinem Gastgeber, Sigmund Freud, gestand: »In dieser Nacht vollzog sich die erste lebendige Berührung mit jener »Männlichkeit«, die ich hatte »wachrufen« wollen. Und der Erfolg: Daß man mich, mit schlecht verdeckter Ironie der Überlegenheit, als eine recht interessanten »Fall« zur Kenntnis nahm.«8

Die Herren von der »Psychoanalytischen Vereinigung« hatten von »Männerphantasie« und »Pubertätsphilosophie«9 gesprochen. Aber der Philosoph ließ sich nicht beirren. Noch in seinem letzten Lebensjahr verteidigte er seine Ideen in einem langen Brief an Freud, in dem es unter anderem heißt: »Eine biologisch richtig betriebene Eugenik wird allmählich die Rasse oder die Rassen (vermutlich vielfältige Bastardisierungen aus den gegenwärtigen Rassen)10 an den Tag stellen, welche die wünschenwertesten sind. Dieses Ziel kann aber nur erreicht werden, wenn bei der Auswahl der Generationen die Raumzugehörigkeit der betreffenden Individuen und ihrer Aszendenz als irgendwie in Betracht kommender Faktor

5 6 7 8 9 10

Ebd., S. 564. Ebd., S. 563. Ebd. Ebd., S. 565. Ebd. Franz Kafka hat schon im Jahr 1912 einen Vortrag besucht, in dem der Prof. Ehrenfels »vor Vertrauen zur Versammlung lächelnd für Mischrassen sich einsetzt«. Franz Kafka: Tagebücher, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller, Malcom Pasley, Frankfurt a.M. 1990, S. 371.

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prinzipiell und absolut ausgeschlossen und die Tüchtigkeit allein als bestimmend anerkannt wird. Dann wird sich die »beste Rasse« schon von selbst züchten! Daß unvorhergesehene, tief einschneidende wirtschaftliche und soziale Umgestaltungen miteinwirken werden, ist unleugbar und natürlich. Aber der oberste biologische Regulator, die natürliche Auslese, wird schließlich Ordnung schaffen. Denn nur solche Menschenvarietäten werden überleben, welche die große Forderung: Versöhnung der natürlichen und kulturellen Forderungen der Menschennatur auch auf sexualem Gebiet – zur allmählichen Erfüllung bringen – Ist das der Traum eines Jünglings? – Wenn ja, – so doch zugleich das Testament eines Greises …«11

Im ersten Teil dieses Briefes pries Ehrenfels die »Vorteile der künstlichen Befruchtung«, die sein Briefpartner angezweifelt hatte. In diesem Zusammenhang steht der lapidare Satz: »Der Zahl der Spermatozoen nach kann ein normaler Mann sämtliche Frauen der Erde zu Müttern machen.«12 Modern ausgedrückt: »Eier sind teuer, Sperma ist billig.«13 In technischer Hinsicht verdankt sich diese Einsicht demselben Instrument, das auch den Frauen die Gewissheit schenkte, dass sie bei der Fortpflanzung nicht nur ein Gefäß für männliche Zeugungskräfte sind: dem Mikroskop. Im Jahr 1931, als dieser Brief geschrieben wurde, gab es schon eine Technik, die es erlaubte, die von Ehrenfels so krude und körperlich formulierte Männerphantasie in einem ganz anderen Feld, dem des Geistes nämlich, Buchstäblich in die Tat umzusetzen. Denn wenn die künstliche Befruchtung »eine ins Ungeheure gehende Vervielfältigung der männlichen Zeugungspotenz der Zahl der Nachkommen nach«14 ermöglicht, dann tut der Rundfunk dasselbe für den ογοω σπερµατικοω – der Zahl der Empfänger nach. Die »An Alle!« gerichtete cq-Adresse, die Ehrenfels im Reich des Körpers so genannten »Generatoren« vorbehalten wissen wollte, verleiht Rundfunksprechern eine bis dahin noch nie dagewesene neue Macht über die Empfänger. Die theologischen Konsequenzen aus diesem neuen Stand der Dinge hat Kurt Schwitters in einem kleinen Text gezogen, der den Titel Radio. Eine Anregung, den Radioapparat produktiv auszunutzen15 trägt und der erzählt, wie eines schönen Tags »alle […] Frauen mittels elektrischer Wellenübertragung von Störchen ins Bein gebissen« wurden. Dabei stellt sich allerdings die Frage, wer diese Möglichkeit einer jungfräulichen Empfängnis von gera11 Hemecker: »›Ihr Brief war mir sehr wertvoll ...‹ […]«, S. 567. 12 Ebd. 13 Zitiert nach DER SPIEGEL, Nr. 20, 1990: »Sexualverhalten. Das Weibchen entscheidet.« 14 Hemecker: »›Ihr Brief war mir sehr wertvoll ...‹ […]« S. 567. 15 Kurt Schwitters: Das literarische Werk, hrsg. von Friedhelm Lach, Bd. 3: Prosa 1931-1948, Köln 1975, S. 39-41.

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dezu planetarischen Ausmaßen auf welche Weise nutzt. Bei Schwitters scheint es zunächst, als sollten sich die kühnsten Träume eines Christian von Ehrenfels erfüllen: »Es wurde bekannt, daß der stärkste Mann von der Welt in Radio hineinfunken sollte.« Kein Wunder also, wenn »bereits acht Tage vorher kein Empfangsapparat mehr zu haben« ist und wenn ein Mann, der zur Zeit der großen Stunde ins Kino gehen will und dazu ein junges Mädchen zur Begleitung sucht, keine Chance hat. Die große heilige Hochzeit aller Frauen mit dem stärksten Mann der Welt macht – wie in den Männerphantasien des Christian von Ehrenfels – alle anderen Männer überflüssig. Umso schrecklicher aber, als am nächsten Tag die Nachricht durch die Presse geht, »der Athlet, Herr Soundso, habe an jenem Abend nicht in Radio gefunkt, weil er plötzlich unpäßlich geworden wäre. An seiner Stelle habe sein Bruder, der bekannte Liliputaner, Herr Sowieso, in Radio gefunkt.« Da hilft es wenig, dass »der stärkste Mann der Welt« noch an jenem Tage »von einer Suffragette getötet« wird. Der Schaden ist einmal angerichtet, und genau neun Monate später wird »eine herrliche Predigt des Pastors Animus über die Verbreitung der Geschlechtskrankheiten, die an jenem Abend durch Radio verbreitet werden sollten,«16 von einem »allgemeinen Stöhnen« übertönt, denn zu dieser Stunde gibt es »keine Frau, kein junges oder älteres jüngeres Mädchen, die nicht […] einen strammen kleinen Zwerg geboren hätte. Es war eben deutsche Präzisionsarbeit.« Das Dementi, das besagt: »Der Bericht, daß seinerzeit der stärkste Mann der Welt unpäßlich geworden wäre, sei eine Falschmeldung gewesen«, kommt zu spät: »Die Kinder waren alle Zwerge geworden und blieben es auch. Was doch die liebe Einbildung macht!« Das Grundthema des Textes ist ein Spiel mit dem Doppelsinn des deutschen Verbs »empfangen«. Die eigentliche Pointe aber liegt darin, dass Schwitters – gleichgültig, ob er das bewusst tut oder nicht – den Begriff der Empfängnis auf eine alte, zwar nicht kanonische, aber sehr gut dokumentierte Vorstellung aus der christlichen Patristik bezieht, nämlich auf die Vorstellung der Empfängnis Jesu durchs Ohr, per aurem, der Jungfrau Maria. Schon in Augustins Predigt In Natali Domini, V, 3 heißt es: »Deus per angelum loquebatur, et virgo auribus impregnatur.«17 St. Agobard schreibt: »Descen-

16 Anmerkung im Original: »Druckfehler: es muß natürlich ›sollte‹ heißen.« Schwitters: Werk, Bd 3, S. 41. 17 St. Augustinus: »In Natali Domini, V, 3,« in: Patrologia Cursus Completus, hrsg. von Jacques-Paul Migne, Series Latina, Bd. 39, Paris 1844-1865, S. 1988. Es sei angemerkt, dass die patristischen Zitate hier zwar, so weit es mir möglich war, aus den Originalen nachgewiesen sind, aber allesamt erstmals in einer Studie von Ernest Jones zusammengestellt wurden. Vgl. Ernest Jones: »The Madonna’s Conception through the Ear. A Contribution to the Relation Between Aesthetics and Religion,« in: Essays in Applied Psycho-Analysis, London 1951, S. 261-359, S.

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dit de caelis missus ab arce Patris, introivit per aurem Virginis in regionem nostram indutus stola purpurea et exivit per auream portam lux et Deus universae fabricae mundi.«18 Und in einer Hymne, die bald dem Thomas Becket, bald dem Heiligen Bonaventura zugeschrieben wird, stehen die Verse: »Gaude, Virgo, mater Christi, Quae per aurem concipisti, Gabriele nuntio. Gaude quod a deo plena Peperisti sine pena Cum pudoris lilio.«19

Die im Kontext von Schwitters’ Text interessanteste Variante aber steht in des Heiligen Ephraem Homilie auf Christi Geburt. Darin heißt es unter anderem: »Per novam Mariae aurem intravit atque infesa est vita.«20 In der englischen Übersetzung von Sebastian Brock, der ausdrücklich anmerkt »ein Manuskript, das 823 in Odessa geschrieben wurde, British Library Or. 8606, und das nicht [von dem Herausgeber der kritischen Ephraem-Ausgabe, W.K.] Beck verwendet wurde,«21 eingesehen zu haben, steht dagegen der folgende Text: »Just as the bush on Horeb bore God in the flame, So did Mary bear Christ in her virginity.

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264. Kent R. Lehnhof: »Impregn’d with Reason. Eve’s Aural Conception in Paradise Lost«, in: Milton Studies, Nr. 41, 2005, S. 38-75, zitiert genau die gleichen Passagen wie C. G. Jung, ohne dessen Aufsatz zu erwähnen. St. Agobard: »De Antiphonario«, in: Opera Omnia. Corpus Christianorum, hrsg. von L. van Acker, Turnholt 1981, Continuatio Mediaevalis Serie, Bd. 5, S. 341. Die Handschriften-Verzeichnisse der Cistercienser-Stifte, Bd. 1: Reun, Heiligenkreuz-Neukloster, Zwettl Lilienfeld, Wien 1891, S. 424. Ich zitiere den lateinischen Text nach Ernest Jones: »The Madonna’s Conception through the Ear« und die stark davon abweichende englische Übersetzung nach The Harp of the Spirit. Eighteen Poems of Saint Ephrem, transl. Sebastian Brock, Studies Supplementary to Sobornost, No. 4, San Bernandino, California 1984, weil mir die beiden Bände der kritischen Ephraem-Ausgabe mit dem syrischen Text und der deutschen Übersetzung hier im fernen Kalifornien nicht zugänglich waren: Nachträge zu Ephraem Syrus, in: Corpus Scriptorum Christianorum Orientalium, Bd. 363: Textus, hrsg. von Edmund Beck, Bd. 364: Versio, übers. Edmund Beck, Louvain 1975 The Harp of the Spirit, S. 86; meine Übersetzung.

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Perfectly God, He entered the womb through the ear, in all purity the God-Man.«22

Der Schluss der Homilie liefert die typologische Deutung nach: »By means of the serpent the Evil one poured out his poison in the ear of Eve; the Good one brought low His mercy, and entered through Mary’s ear; through the gate by which death entered, Life also entered, putting death to death.«23

Es ist, um es noch einmal anders zu sagen, schwer und vielleicht sogar unmöglich zu entscheiden, ob Kurt Schwitters diese Vorstellung von der Empfängnis Christi durchs Ohr der Jungfrau Maria gekannt hat, und wenn ja, aus welcher Quelle. Umso so bemerkenswerter ist es, dass er in der Groteske Radio dem typologischen Deutungsmuster des Heiligen Ephraem sehr genau zu folgen scheint und zwar nicht nur dadurch, dass er den Gegensatz zwischen der göttlichen Zeugungskraft des »stärksten Manns der Welt« und der allzu menschlichen seines Bruders, des »Liliputaners« zum Thema macht, sondern auch durch ein Wortspiel mit dem Verb »verbreiten«, to broadcast, das ja bekanntlich »aussäen« heißt und das seit dem Jahr 1922 ebenso wie das Wort »empfangen« ein Schlüsselbegriff der Radiotechnik ist. Ich meine die Stelle, wo von einer herrlichen »Predigt des Pastors Animus über die Verbreitung der Geschlechtskrankheiten« die Rede ist, »die an jenem Abend durch Radio verbreitet werden sollten«, ein Witz, der durch die Anmerkung: »Druckfehler: es muß natürlich ›sollte‹ heißen«, eigens hervorgehoben wird. Das Ohr als Eingangspforte göttlicher Zeugungskraft, aber auch teuflischer Gifte wie in Shakespeares Hamlet. All das sind natürlich dumme Scherze, bestenfalls geeignet, um die Naivität anderer ad absurdum zu führen, wie das in einem der Zettel Ludwig Wittgensteins geschieht: »Die Philosophen, die glauben, daß man im Denken die Erfahrung gleichsam ausdehnen kann, sollten daran denken, daß man durchs Telefon die Rede, aber nicht die Masern übertragen kann. Ich kann auch nicht die Zeit als begrenzt empfinden, wenn ich will, oder das Gesichtsfeld als homogen, etc.«24

22 Ebd., S. 63-64, Zeile 13-19. 23 Ebd., S. 66, Zeile 161-166. 24 Ludwig Wittgenstein: Zettel, hrsg. von G. E. M. Anscombe, übers. G. H. White, University of California Press: Berkeley und Los Angeles 1970, Nr. 255, S. 45.

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Elektrische und elektromagnetische Kanäle übertragen Information, also nicht Materie. Das wissen Ingenieure und technisch geschulte Philosophen nur zu gut. Das ändert aber nichts daran, dass Schwitters’ Groteske Radio als Parodie auf die Allmachtsphantasien derer gelesen werden kann, die zu der Zeit, als dieser Text geschrieben wurde, das Recht beanspruchten, »in Radio hineinzufunken.« Die Anspielung auf die politische Situation in der späten Weimarer Republik wird umso prägnanter und prekärer, wenn man bedenkt, dass es im Deutschland der zwanziger Jahre tatsächlich einen Mann gab, der unter solchen Titeln wie »der Eisenkönig,« »der letzte Gladiator«, aber auch der »stärkste Mann der Welt« legendäre Kraftakte zur Schau zu stellen pflegte. Es war Josef Breitbart, der zu seiner Zeit prominenteste Vertreter dessen, was Autoren wie Sharon Gillerman und Todd Presner neuerdings als »Muskeljudentum« beschrieben haben.25 Wenn es richtig ist, dass Schwitters auf diese zeitgenössische Gestalt anspielt, dann fügt das der Geschichte von der durchs Ohr erfolgten ebenso jungfräulichen wie radiophonischen Empfängnis aller Frauen dieser Welt noch eine doppelt polemische Pointe hinzu. Der als »der stärkste Mann der Welt« an die Stelle des christlichen Gottvaters tritt, entpuppt sich nicht nur als ein Zwerg, sondern auch als Jude – das ist eine Blasphemie und zugleich ein Seitenhieb auf die Propagandapolitik der Nationalsozialistischen Partei. In diesem Kontext wäre es wichtig zu wissen, wann genau Schwitters’ Text Radio entstanden ist. In der von Friedhelm Lach besorgten Ausgabe von Schwitters’ literarischem Werk ist die Geschichte unter der Jahreszahl 1934 abgedruckt. Der Grund für diese Datierung ist vermutlich die Notiz, die der Autor selbst voranschickt: »Diese Abhandlung wurde geschrieben im Jahre 1934 von Herrn N. N., und wir geben sie an dieser Stelle schon jetzt unter Vorbehalt bekannt.« Der Text ist aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit schon früher entstanden. Dafür gibt es zwei Indizien. Das eine ist der Katalog Merz 20, der auf den 4.3.1927 datiert ist und in dem Schwitters unter den von ihm verfassten Zeitungsgrotesken auch eine mit dem Titel Radio erwähnt.26 Das andere ist die Datierung durch den Autor selbst. Sie macht nur einen Sinn, wenn man sie als Scherz versteht – und zwar als einen Scherz, der im Jahr 1927 nicht ganz so makaber klang, wie er

25 Sharon Gillerman: »Samson in Vienna: The Theatrics of Jewish Masculinity«, in: Jewish Social Studies: History, Culture and Society, Bd. 9, Nr. 2, Winter 2003, S. 65-98; Todd Samuel Presner: Muscular Judaism. The Jewish Body and the Politics of Regeneration, London und New York 2007. 26 Schwitters: Werk, Bd. 5, S. 255. Dieser terminus ante quem gilt zumindest unter der Voraussetzung, dass es im Werk von Kurt Schwitters nur einen Text mit diesem Titel gibt. Das ist, so weit ich sehe, auch der Fall.

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uns, die wir die Ereignisse der Jahre 1933/34 kennen, im Nachhinein erscheinen muss. Je nach dem wie man den Text datiert, gibt es zwei mögliche Lesarten. Entweder man versteht ihn als Polemik gegen den erbitterten Kampf, den die Nationalsozialisten in den zwanziger Jahren gegen die in der Verfassung garantierte »Überparteilichkeit«27 des deutschen Rundfunks in der Weimarer Republik führten, oder aber als Reaktion auf die in der Produktion des »Volksempfängers« kulminierende Radio- und Propagandapolitik der Nationalsozialisten nach der so genannten »Machtübernahme« im Januar 1933. Es bleibt zu hoffen, dass das Publikationsorgan, in dem Radio erschien, gefunden und damit die genaue Datierung des Textes bestimmt werden kann. Radio ist die virtuose amplificatio einer ganzen Reihe von Metaphern, die sich um das neue Medium gebildet hatten. Einige davon waren schon damals obsolet, etwa der Begriff des Funkens, der sich bis heute erhalten hat. Denn Marconis Knall- und Poulsens Löschfunken blitzten Mitte der zwanziger Jahre längst nicht mehr. Der Röhrensender hatte sie verdrängt. Aber das Wort war dazu angetan, Rhetoriker und Phantasten zu beflügeln. Richard Müller, ein Mitglied des Vollzugsrats der Arbeiter- und Soldatenräte, schwang sich am 18.12.1918 zu der folgenden Formulierung auf: »So haben wir also einen Vertrauensmann ernannt und von den Volksbeauftragten verlangt, daß sie gleichsam einen Vertrauensmann ernennen sollten, damit diese gemeinsam überwachen, was hinausgefunkt wird, aber auch überwachen, was hineingefunkt wird.«28

Auch die erotische und theologische Metaphorik war nicht neu. Wer die Operette Radiomädel gesehen hatte, ging, wie der Kritiker Hans S. von Heister schrieb, nach Hause, im Kopf die Worte und Melodie des Radiomädels: »Du mein kleines Radiomädelchen, Nimm die Hörer an Dein Schädelchen, Schalte ein die Liebeswelle Schnell in Deine Herzenszelle.«29

Die Operette hatte im Februar 1924 Premiere. »Zelle« war der Begriff, den die Fanatiker der Eindeutschung an Stelle des Wortes »Detektor« verwendet wissen wollten. Die theologische Dimension des Mediums entfaltete Alfons 27 Hans von Bredow: Vier Jahre deutscher Rundfunk, Berlin 1927, S. 24. 28 Zitiert nach Winfried Lerg: Die Entstehung des Rundfunks in Deutschland. Herkunft und Entwicklung eines publizistischen Mediums, Frankfurt a.M. 21970: S. 58. 29 Zitiert nach ebd., S. 23.

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Paquet in seinem Hörstück Funkspruch, das am 25.2.1926 vom SDR gesendet wurde: »O ihr Menschen hört die Stimme des Allmächtigen, des Allbelebenden, des Allerbarmers!«30 Andere gingen mit der Metaphorik weniger spielerisch um und nutzten sie zu sehr viel handfesteren, nämlich propagandistischen Zwecken. So zum Beispiel Arnolt Bronnen, der sich in seiner Rede über das Hörspiel gehalten auf der Tagung »Dichtung und Rundfunk« im September 1929 so vernehmen ließ: »Der Rundfunk ist heute die größte Macht für alle Künstler des Wortes. Diese Macht ist leer und wesenlos, ein schlotternder Schemen, der sich drahtlos verbreitet. Diese Macht muß erfüllt werden. Sie muß erfüllt werden vom Geiste, der ausströmt, vom Volke, das empfängt.«31

Bronnens völkische Ideen ähneln der Radiogroteske von Schwitters insofern, als sie – gleich dieser – die Konsequenz aus einem sehr traurigen Kapitel der Radiogeschichte ziehen. Denn das asymmetrische Verhältnis von Sender und Empfänger, von dem beide Texte zeugen, entspringt keineswegs einer technischen Notwendigkeit. Jeder Empfänger ist bekanntlich auch ein Sender, und jeder Sender ein Empfänger. Die Götter, die »in Radio hineinfunkten«, hatten sich in einer dubioser Verwaltungsmaßnahmen selbst dazu ermächtigt. Kurz nach dem Weltkrieg sah die Lage anders aus. Da beschränkten sich die Funker, die zum größten Teil aus Veteranen der aufgelösten militärischen Nachrichteneinheiten bestanden, durchaus nicht auf das bloße Hören. Sie nahmen sich vielmehr das Recht zu senden. Im Jahr 1918 gab das Wolff’sche Nachrichtenbüro, das bis dahin unter anderem auch für die Kriegsberichterstattung zuständig gewesen war, die folgende Meldung aus: »Berlin, 9. Oktober. Das Wolff’sche Telegraphische Bureau wurde heute mittag durch den Arbeiter- und Soldatenrat besetzt. Seit 3 Uhr steht der Nachrichtendienst dieses Büros unter der Vorzensur des Arbeiter- und Soldatenrats. Die Besetzung geschah ohne Schwierigkeiten, so daß der Nachrichtendienst für die deutsche Presse hierdurch keine Verzögerung erleidet.«32

Am 10. November bildet die Garde-Nachrichten-Ersatzabteilung, das ehemalige Telegraphenbataillon 1, Berlin-Treptow, das als »Leibgarde« Karl Liebknechts galt, um 14 Uhr einen Soldatenrat, »um für Ruhe und Disziplin der 30 Zitiert nach Gerhard Hay (Hrsg.): Literatur und Rundfunk 1923-1933, Hildesheim 1975, S. 254. 31 Arnolt Bronnen: »Rede über das Hörspiel«, in: Hay (Hrsg.): Literatur und Rundfunk, S. 339. 32 Lerg: Entstehung des Rundfunks, S. 46.

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Truppen zu sorgen.«33 Einen Tag zuvor schon war die so genannte »Zentralfunkleitung« von Mitarbeitern der technischen Abteilung für Funkgerät (Tafunk), die der Inspektion der technischen Abteilung der Nachrichtentruppen (Itenach) unterstand, gegründet worden.34 Die revolutionären Vertreter des Volkes hielten die Sender besetzt. Sie nahmen sich das Recht zu sprechen. Dem erbitterten und schlauen Kampf der Bürokraten des Post- und Innenministeriums gegen diese technisch verstärkte und rundum verbreitete vox populi hat Winfried Lerg in allen Einzelheiten nachgezeichnet. Ein paar Jahrzehnte später kannte der deutsche Rundfunk nur noch Konsumenten und ein paar wenige, gut überwachte Amateure. Die Post hatte sich unter Berufung auf ihre »Beförderungshoheit«35 durchgesetzt und den Rundfunkhörern, die zunächst als Fernsprechteilnehmer galten, das Recht abgesprochen, das sie ihnen heute noch bei der Briefpost ebenso wie bei Telegraph und Telefon zugesteht. Sie hatte, »das ›Senden‹, das heißt also das Sprechen, auch in Zukunft verboten. Erlaubt wird allein das Empfangen, das Hören.«36 Denn, so wurde es schließlich in dem »Gesetz über Fernmeldeanlagen« aus dem Jahr 1928 formuliert: »Das Recht, Fernmeldeanlagen, nämlich Telegraphenanlagen für die Vermittlung von Nachrichten, Fernsprechanlagen und Funkanlagen zu errichten und zu betreiben, steht ausschließlich dem Reiche zu.«37 Auf diesem Gesetz basierten die »Richtlinien für die Neuordnung des Rundfunks«, die am 17. November 1932 bekanntgegeben wurden und in denen es unter anderem hieß: »Der deutsche Rundfunk dient dem deutschen Volke. Seine Sendungen dringen unablässig in das deutsche Haus und werden in der ganzen Welt gehört. Dieser Einfluß auf Volk und Familie und die Wirkung im Ausland verpflichten die Leiter und Mitarbeiter zu besonderer Verantwortung. […] Die Pflege des Reichsgedankens ist Pflicht des deutschen Rundfunks. […] Aufgabe aller Sender ist es, das Gemeinsame der Lebensgemeinschaft des deutschen Volkes zu pflegen.«38

33 34 35 36

Ebd., S. 45f., S. 55. Ebd., S. 49. Ebd., S. 26. G. W. Evenius: »Rundfunk für alle,« in: Berliner Börsen-Courier, Nr. 459, 21.10.1923, 2. Beilage Morgenausgabe; Kommentar zur Pressevorführung vom 15. Oktober 1913, in der das erste Abendprogramm des deutschen Rundfunks für den 29. Oktober 1923 angekündigt wurde. Zitiert nach Lerg: Entstehung des Rundfunks, S. 161. 37 Zitiert nach Kurt Fischer: Dokumente zur Geschichte des deutschen Rundfunks und Fernsehens, (Quellensammlung zur Kulturgeschichte, hrsg. von Wilhelm Treue, Bd. 11), Göttingen 1957, S. 81. 38 Zitiert nach Kurt Fischer: Dokumente zur Geschichte des deutschen Rundfunks und Fernsehens, S. 85 f.

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Die erste Erwähnung der drahtlosen Telegraphie in Schwitters’ Werk findet sich, so weit ich sehe, in dem Text La grande Ardeur de Dada. Marche funèbre aus dem Jahr 1921: »Je vais vous expliquer: Dada c’est la grande racine de toutes les petites racines. Secret télésansfils miner ardeurs [Par derrière]. – Dada c’est la petite racinette, le petit fil de grâce sublime [c’est en illuminé que j’écris ceci]. Dada c’est la grande vague sacrée qui va de dada à Dada. À Dada Dada flotte en fleuve autour de Dada. Autour de Dada dadate dadadater Dada [soit dit pour tous qui ne savent pas encore]. – A Dada Dada Dada Dada Dada Dada Dada Dada Dada Dada. A Dadadadadadadadadadadadadadadadadadadadadadadadadadadadadadadadadadadadadadadadadadada.«39

Das ist von vielen Etymologien eine der witzigsten: Dada als Wort im Morsealphabet: da da = TT. Und es entspricht genau dem Stand der Technik. Denn im Jahr 1921 war die Funkentelegraphie, wie der Name schon sagt, zumindest in Deutschland noch kein Medium für die Stimme, sondern eine Schrift und zwar eine, die man mit den zwei Stellungen eines Schalters schrieb. Es war daher nicht nur ein Kalauer, sondern – mit Goethes Worten – ein »sehr ernster Scherz«, als Kurt Schwitters im Jahr 1935 das Studium der Schalter propagierte und dabei ganz nebenbei die medientechnische Etymologie des ominösen politischen Schlagworts der »Gleichschaltung« explizierte: »Wer fragt denn je, wie Kuhdreck aufs Dach kommt. Auch an das Wunder der Technik haben wir uns gewöhnt, und wir fragen nicht mehr, wie es kommt, daß mitten im Zimmer Licht wird, wenn wir an der Tür schaltern. In anderen Zimmern drückt man einen Knopf ein, und das Resultat ist das gleiche, es kommt Licht. In wieder anderen Zimmern dreht man einen Schalter, und da kommt kein Licht, sondern irgendeine Maschine geht an. Oder ein Mörder bricht in seinem Stuhl plötzlich zusammen, bäumt sich auf und stirbt. Oder eine Eisschrank-Kühlmaschine wird durch einen Schalter in Tätigkeit gesetzt. Manche Schalter kann man aber auch drehen und drehen, und es passiert nichts, oder nur Kurzschluß. Wir haben nämlich das Prinzip des Schalters noch nicht genügend studiert. Denn zwar sind Schalter Schalter, aber die Wirkung ist verschieden. Wer weiß, ob man nicht plötzlich durch einen Schalter eine Landschaft gänzlich verändern kann. […] ›Ich bin davon überzeugt‹, sagte Konrad, ›aber denken Sie an einen elektrischen Schalter, der aus Tag Nacht machen kann, wenn man ihn nur einmal umdreht. Meine Freunde und ich sind nun auf dieser stillen kleinen Insel im Besitz eines Schalters, der aus gut böse, aus böse gut, aus arm reich schalten kann, da genügt eine einzige ganz kleine Umdrehung. Das gilt natürlich nur für die uns angeschlossenen Sender. Sie sind zum Beispiel hier nicht gleichgeschaltet, daher werden sie auch nicht umgeschaltet.

39 Schwitters: Werk, Bd. 1, S. 83.

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Auch Ihre holdreizende Tochter nicht.‹ Der Stadtdavokat machte ein selten dämliches Gesicht. Da fuhr Konrad fort: ›Ich schalte jetzt um.‹«40

Drei Jahre später erschien Claude E. Shannons Magisterarbeit, die den Titel trug: A Symbolic Analysis of Relay and Switching Circuits.41 Der Gebrauch des Funkentelegraphen war zu Anfang der zwanziger Jahre durchaus keine Selbstverständlichkeit. Franz Kafka hat ihn zwar in seinem berühmten Medien- und Gespensterbrief an Milena Jesenská erwähnt,42 aber er hat im gleichen Jahr (1922) offensichtlich noch geglaubt, dass man aus fahrenden Zügen nicht mit der Umwelt in Verbindung treten könne. Daher kann der Impresario der Erzählung Erstes Leid den Wunsch seines Trapezkünstlers nicht sofort erfüllen. Er verspricht vielmehr, »gleich aus der nächsten Station an den nächsten Gastspielort wegen des zweiten Trapezes zu telegraphieren.«43 Dagegen ist Kurt Schwitters auf seiner Hollandreise im Jahr 1923 auf dem neuesten Stand der Technik: »Wenn z.B. ich mit D-Zug 1. Klasse an den lyrischen Windmühlen vorbeifahre, und unten fährt ein Bursch Mist, über uns aber fährt die Post durch die Luft, dann ist das eine enorme Spannung. Ich sende vom fahrenden Zuge ein Telegramm an meinen neuen Impresario in Nordamerika, während ein kleiner Hund den Mond anbellt. Soeben fährt ein Hundekarren ein Auto um. Sehen Sie, das ist Dada.«44

Als die Funkentelegraphie dann unter dem Namen Rundspruch oder Rundfunk endlich auch der Allgemeinheit zugänglich gemacht wurde, ist Schwitters einer der ersten, der die neue Technik für den Dadaismus reklamiert: »Der KONZERT. Unter diesem Titel veröffentliche ich eine Reihe von Banalitäten großer Zeitgenossen und großer Vorfahren, um zu zeigen, wie lebendig dada war und ist. Außerdem hat der Dadaismus sich der Radiovorträge angenommen, und was dem Publikum innerhalb der nächsten 6 Monate durch Radio geboten wird, ist ausschließlich dadá.«45

Das Sammelsurium von Sottisen, das Schwitters hierauf folgen lässt, unterscheidet sich von der Zufallsserie, die er an anderer Stelle von einer Fliege 40 Schwitters: Werk, Bd. 3, S. 94 und 99. 41 In: Transactions of the American Institute of Electrical Engineers, Nr. 57, 1938, S. 713 ff. 42 Franz Kafka: Briefe an Milena, erweiterte Neuausgabe, hrsg. von Jürgen Born, Michael Müller, New York, Frankfurt a.M. 1983, S. 302. 43 Franz Kafka: »Erstes Leid«, in: ders.: Drucke zu Lebzeiten, hrsg. von Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch, Gerhard Neumann, New York, Frankfurt a.M. 1994, S. 320. 44 »Merz 1, Holland Dada, Januar 1923, Nr. 5«, in: Schwitters: Werk, Bd. 5, S. 129. 45 Ebd., S. 183.

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generieren lässt, nur dadurch, dass die eine in der Dimension der Zeit spielt, während die andere sich im Raum bewegt: »Wie schon erwähnt, herrschte Winter, und draußen fror es unaufhaltsam. Das ist aber kein ersprießliches Klima für allerlei Getier, wie beispielsweise Fliegen. Die Dummen erfrieren, während die Klügeren sich in die warmen Häuser retten. So war eine größere Fliege in Pieps Haus gekommen, um dort zu überwintern. Piep bemerkte sie, als sie am Radioapparat zwischen den einzelnen Orten an der Skala herumlief. Plötzlich saß sie auf Rom, kitzelte sich hinter den Ohren, blickte ein wenig um sich, dann lief sie sehr schnell geraden Weges an Paris vorbei über die Stelle, an der man Moskau hören kann, die aber nicht verzeichnet ist, direkt nach Lahti. Dort kratzte sie sich wieder hinter den Ohren, dann lief sie über Modena, Köln im Bogen nach Kattowitz, dort schlief sie ein. Es war sicherlich ein beschaulicher schöner Platz für Fliegen im Winter, es war warm und hell, international, und man konnte die herrlichste Musik hören. […] ›Der Weg nach draußen führt über North Regional, Köln und dann über die kurzen Wellen nach Rabat und dann durch die inneren Teile des Radios‹, sagte Piep. Die Fliege war vollkommen ruhig und lauschte den Klängen des Manolawalzers von Waldteufel, wiederum aus Kalondborg. ›Komm jetzt raus!‹ sagte Piep mit ziemlicher Schärfe. Da begann die kleine Fliege zu laufen, zunächst nach Marseille, Berlin, zwischen Paris und Breslau hindurch nach Zagreb. ›Jetzt runter über Bordeaux, Rom!‹ sagte Piep und wackelte aufgeregt mit den Händen, indem er in der Luft den zu nehmenden Weg vor dem Radio aufzeichnete.«46

Der dokumentarische Teil des Textes lässt sich an jedem Radioapparat aus den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts überprüfen. Er stammt, wie es in der Überschrift heißt, aus »dem Land des Irrsinns.« Es ist das Land, in dem es zwar eine Stelle auf der Skala gibt, »an der man Moskau hören kann, die aber nicht verzeichnet ist«; dasselbe Land, in dem es ein Propagandaministerium gab, das am 4. Mai 1933 in den »Mitteilungen der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft m.b.H.« die folgende Meldung einrücken ließ: »Die russischen Sender bringen regelmäßig deutschsprachige Vorträge zum Zweck kommunistischer Propaganda. Es darf als selbstverständlich vorausgesetzt werden, daß deutsche Funkzeitschriften auf solche Veranstaltungen nicht hinweisen. Das gleiche gilt für ähnliche Veranstaltungen auch anderer ausländischer Rundfunkgesellschaften.«47

46 Schwitters: Werk, Bd. 3, S. 142-145. 47 Zitiert nach Ansgar Diller: Rundfunkpolitik im Dritten Reich, (Rundfunk in Deutschland, Bd. 2, hrsg. von Hans Bausch), München 1980, S. 284, dort auch ein Faksimile dieser Zeitungsmeldung.

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Doch der Text aus dem Land des Irrsinns ist mehr als eine politische Satire. Was die kleine Fliege auf der Senderskala vorführt, ist nicht nur ein Spiel, das in der Frühzeit des Rundfunks viele faszinierte, channel hopping avant la lettre, es ist zugleich der dadaistische Akt par excellence. Denn, so heißt es in dem Manifest dada complet. 1 aus dem Jahr 1923: »Dada zerstört die künstlerische Form durch wahlloses Nebeneinanderstellen.«48 Was das heißt, hat Schwitters im Jahr 1924 in einer denkwürdigen Abhandlung ausgesprochen, die in der polnischen Zeitschrift BLOK erschien: »Der Mensch hat einen Körper und einen Geist und noch ein Drittes, dessen Existenz ich zwar bestreiten muß – was er aber demungeachtet ziemlich häufig besitzt, nämlich eine Seele. Im Jahre 1924, als man in Deutschland beginnt, Wolkenkratzer zu bauen, als man mit Hilfe des Radios die Stimmen des ganzen Kontinents hören kann, als die Kunst zum Normativismus und zum Leben zurückkehrt, als das Leben umgekehrt gerade die normative Kunst fordert, in dieser Zeit nun ist die Seele eine Krankheit, sie ist die Psychose. Oh! Dann wird es schlecht. Wenn Dadá und die Seele zusammentreffen, wittert die Seele sofort einen Todfeind und eröffnet den Kampf. Nur, daß die kämpfenden Seelen für sich allein eine aussichtslose Sache sind, ihr Kampf also zwecklos ist. Die Seele, die bisher auf den Abwegen des Transzendentalismus umherirrte, empört sich, sobald sie ihr Spiegelbild im Dadá, natürlich umgekehrt sieht. Es begegnen sich dann plötzlich eine falsche Scheinheiligkeit und ein unaufrichtiges Pathos mit einem aufrichtigen Sarkasmus. Die Folge davon ist die gleiche, wie wenn man einen stark aufgepumpten Ballon mit einer Stecknadel durchsticht: Die Luft – ich wollte sagen: Die Seele entflieht.«49

Es fällt gewiss nicht immer leicht, die Scherze von Kurt Schwitters ernst zu nehmen. In dieser Abhandlung über den »Dadaismus« aber schreibt er Klartext. Die Stimmen, die die Wahnsinnigen aller Zeiten hörten und die noch den Senatspräsidenten Dr. Daniel Paul Schreber in die Praxis des Professors Flechsig und später in die Anstalt Sonnenstein verfolgten – seit den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts senden sie: »An Alle!« Mit den großen traumatischen Neurosen des Ersten Weltkriegs ging ein Zeitalter zu Ende. Unsere Zeit, in der die Stimmen der Geister, Großen Brüder und Götter allgegenwärtig sind, steht im Zeichen der Psychose. Der Dadaismus, wie Schwitters ihn versteht, nimmt diese Diagnose ernst. Wenn es wahr ist, dass die inneren Stimmen jetzt von außen kommen50 und dass der Geist Nachrichten mit und ohne Draht aussendet, dann kommt die

48 Schwitters: Werk, Bd. 5, S. 149. 49 Ebd., S. 193 f. 50 In Alfons Paquets »Gedanken über das Senden« sind die Künstler nichts anderes als Radios, nämlich »Das Instrument einer inneren Stimme.« Zitiert nach Hay (Hrsg.): Literatur und Rundfunk, S. 260.

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Kunst nicht mehr aus der Tiefe einer Psyche, sondern ist vielmehr nur ein kombinatorisches Spiel mit einem Zeicheninventar, das in einem bestimmten Material gegeben ist, und dann gelten Sätze wie die folgenden: »Draht ist die Seele der Elektrizität«;51 »DIE ALTE ABTEILUNG DICHTUNG WIRD NUN GESCHLOSSEN«.52 Was bei Hölderlin der »veste Buchstab«53 heißt, Kurt Schwitters nimmt es à la lettre: »Konsequente Dichtung Nicht das Wort ist ursprünglich Material der Dichtung, sondern der Buchstabe. Wort ist: 1. Komposition von Buchstaben. 2. Klang. 3. Bezeichnung (Bedeutung). 4. Träger von Ideenassoziationen.«

Dem folgt eine denkwürdige Interpretation des berühmtesten Gedichtes deutscher Sprache: »Die klassische Dichtung rechnete auf die Ähnlichkeit der Menschen. Sie betrachtete die Ideenassoziationen als eindeutig. Sie irrte sich. Jedenfalls baut sie ihre Schwerpunkte auf aus Ideenassoziationen: ›Über allen Gipfeln ist Ruh‹. Goethe will hier nicht bloß sagen, daß es still über den Gipfeln ist, sondern der Leser soll diese Ruhe ebenso genießen, wie der von seinen Amtsgeschäften ermüdete, im allgemeinen städtischen Umgang pflegende, Dichter selbst. Wie wenig allgemein solche Ideenassoziationen sind, erkennt man, wenn etwa ein Heidjer (Gegend 2 Menschen auf 1 qkm) solchen Vers lesen würde. Ihm würde sicherlich ›Blitz hasten zack die Untergrundbahn überfährt die Wolkenkratzer‹ bedeutend mehr imponieren. Jedenfalls löst bei ihm die Feststellung, daß es ruhig ist, keine poetischen Gefühle aus, weil ihm die Ruhe normal ist. Mit den poetischen Gefühlen rechnet der Dichter. Und was ist ein poetisches Gefühl? Die ganze Poesie der Ruhe fällt und steht mit der Gefühlsfähigkeit des Betrachters. Worte sind hier nicht gewertet. Außer einem bestimmten Klangrhythmus im Tonfall – ist nur eine Reimbeziehung von ›Ruh‹ und ›du‹ im nächsten Verse. Die einzige Beziehung der Teile klassischer Dichtung ist nur bezüglich der Ideenassoziationen, sprich poetischen Gefühle. Die ganze klassische Dichtung erscheint uns jetzt als dadaistische Philosophie, und sie wirkt umso verrückter, je weniger die Absicht zum Dadaismus vorhanden war. Heute pflegen die klassische Dichtung nur noch die Coupletsänger im Varieté.«54

51 Schwitters: Werk, Bd. 1, S. 88. 52 Ebd., S. 153. 53 Friedrich Hölderlin: »Patmos,« in: ders.. Sämtliche Werke, Bd. 2: Gedichte nach 1800, hrsg. von Friedrich Beißner, Stuttgart 1951, S. 172. 54 Schwitters: Werk, Bd. 5, S. 190.

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Der dadaistische Dichter aber wendet sich dem Außen zu. Er betreibt »Werbe-Gestaltung«55 wie Kurt Schwitters oder ist Annoncenaquisitor wie Leopold Bloom, der Held des Ulysses von James Joyce. »Reklame ist Zeichen unserer Zeit.«56 »Die Kunst von heute ist die Sensation.«57 In der Psychose kehren die himmlischen Erfüllungen und höllischen Begierden, die das Subjekt verwirft, im Realen wieder. Ein Beispiel dafür wurde schon erwähnt: die Geschichte von der radiophonischen Verkündigung. Eine unheimliche Variante dazu ist die Erzählung Der Gast aus dem Jahr 1927, in der es unter anderem heißt: »›Vor 4 Jahren sind Sie nämlich gestorben, ohne es zu merken. Ihr Körper hat dem Geist eines hohen französischen Militärs, der von den Deutschen abgeschossen, ruhelos umherflog, so gut gefallen, daß er eine Kugel gegen Ihren Geist gelenkt und ihn getötet hat. Dann ist er in Ihren Körper eingezogen.‹ […] ›Nein, nein‹, sagte ich, ›Sie müssen sich irren, denn gerade im Weltkriege bin ich immer häuslich gewesen, ich war immer in meiner Heimat weit hinter der Front.‹ Da sagte der Fremde unheimlich, ohne eine Bewegung in seinen starren Zügen: ›Gerade Sie sind von einer Kugel getroffen worden, ob Sie es glauben oder nicht. Es gab im Weltkriege Kugeln, die von Frankreich über Deutschland direkt nach Japan geflogen sind und dort ihre Opfer gefunden haben.‹ – Ich bedauerte noch einmal, daß sich der französische General keinen geeigneteren Körper ausgesucht hatte, und hätte gern gewußt, wo denn nun die strategischen Fähigkeiten dieses Napoleon geblieben waren. Aber der Gast beliebte mich anders zu unterhalten, indem er sagte: ›Sie sind übrigens nicht der einzige Zwerg, es ist alles degeneriert.‹ – Mir ist dieser Gedanke an sich sehr geläufig, daß wir in einer Zeit der Überkultur leben, und so gab ich ihm ohne weiteres Recht. Er sah auf meine kleine Gestalt und wollte mir offenbar imponieren, indem er sagte: ›Früher waren die meisten Menschen mindestens 100 Meter hoch.‹ – ›Woher wissen Sie das‹, erwiderte ich, ›das müssen jedenfalls kleinere Meter gewesen sein, denn eine Ritterrüstung aus dem Mittelalter paßt selbst mir nicht mehr.‹ Da sagte der Gast: ›Sie irren sich, denn das Maß für die Größe eines Menschen ist stets sein Werk. Die Menschheit kann nie Werke leisten, die größer sind, als der Mensch werden kann. Nun ist Ihnen wohl bekannt, daß ein Wolkenkratzer in Amerika bis zu 100 Meter hoch wird. Folglich ist das ein Maß für die heute abnorm wirkende Größe früherer Menschengeschlechter.‹ Ich staunte ….., aber ich erwiderte ganz ruhig: ›Dann haben nach Ihrer Hypothese die Menschen früher bis zum Monde hören können, ohne mit der Wimper zu zucken, denn wir würden mittels Radio heute bequem Musik vom Monde hören können. […]‹«58

55 56 57 58

Ebd., S. 214-230. Ebd., S. 130. Ebd., S. 286-289. Schwitters: Werk, Bd. 2, S. 316 f.

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Die Riesen und die Zwerge, das Radio und die Wolkenkratzer – man sieht, Schwitters’ Dadaismus ist eine konsequente Medientheorie. In den technischen Apparaten seiner Welt werden teuflische Ängste und göttliche Wünsche wahr. Ein größenwahnsinniger Oberbürgermeister sprengt die Stadt Dresden in die Luft, während die Einwohner gespannt darauf warten, dass der ungeheure Knall auf ihren Radios übertragen wird,59 und die Weltuntergangsphantasie, die der Autor Howard Koch und der Regisseur Orson Welles dann an Halloween 1938 in ihrem Radiospiel War of the Worlds inszenieren sollten, fehlt auch nicht in Schwitters’ Werk, nur mit dem Unterschied, dass es in seinem Fall nicht zu einer einen ganzen Kontinent erfassenden Panik kam, weil sein Text nicht radiophonisch übertragen wurde: »LAUTSPRECHER Hier Berlin auf Welle 570 Wir wiederholen: WELTUNTERGANG Zusammenstoß wird voraussichtlich übermorgen früh erfolgen. Die Erde wird voraussichtlich verbrennen. Wir kommen anschließend aus Café Central mit Onkel Heini wieder. Radio spielt ›Onkel Heini‹.60 […] SECHSTE SZENE Radiozentrale Der Raum faßt nur ein Drittel der Bühnenbreite, ist ein kleines viereckiges rotausgeschlagenes Zimmer, nüchtern. Von der Decke hängt ein Mikrophon, an der Wand ein Lautsprecher. ANSAGER SCHMIDT allein, hantiert an den Gerätschaften Und wenn die Welten untergehn, So bleibt die Welle doch bestehn. Das Radio erzählt Euch allen, Was immer Neues vorgefallen. Und funk ich hier ins Mikrophon Hört man im Weltall jeden Ton. Durch unbegrenzte Weltenräume Verpflanzt die Welle Tat und Träume. Wir funken bis zum Untergang Ins Weltall kilometerlang. Noch bis zum Schluß die krummen Beini Des weltberühmten Onkel Heini.61 Sieht auf die Uhr und ruft hinter die Szene. Herr Kammersänger, siebzehn Uhr achtundfüfzig! PAULSEN kommt verdattert herein

59 Ebd., S. 231. 60 Ebd., S. 54. 61 Vgl. Schwitters: Werk, Bd. 1, S. 185.

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SCHMIDT

Morgen sind wir tot? Hat es noch einen Zweck? Wird jemand hören? Der Kammersänger Paulsen singt doch nur, Wenn alles voller Spannung lauscht! Die Höflichkeit des Radios ist Pünktlichkeit! Wir haben eine königliche Pflicht! Die Zeit ist um, ans Mikrophon. Paulsen zupft seine Krawatte zurecht und tritt ans Mikrophon.«62

Als es dann ernst wird und eine Figur namens Meisterlich befohlen hat, »Verbindung mit dem grünen Globus aufzunehmen!«, verstummen die Ansager und Subjekte, bis schließlich nur noch die künstlichen Stimmen der Apparate übrig bleiben: »MEISTERLICH SCHMIDT

Wir bitten noch um Antwort. Wir bitten noch um Antwort. Stellt den Lautsprecher an und Mikrophon ab. LAUTSPRECHER Sphärenmusik aus dem Lautsprecher sehr leise. Daneben Rückkopplungsgeräusche. Man hört abgebrochene Worte: Hier Lobe …. Welle eins … Morgen zehn Uhr drei und zwanzig Voraussichtlich …. …. sanfter Fahrt …. ………… Glück gewollt ….. Ganz dicht ….. Wenns aber nicht gewollt, Vielleicht ….«63

In diesem Text, einer Zusammenstoß betitelten Grotesken Oper in 10 Bildern, wird die Liebe zum radiophonischen Ereignis: »Gleichzeitig 3 Bilder, die gleichzeitig beleuchtet sind. Links und rechts oben zwei Ausschnitte a) und b), die das Heim zweier Freundinnen und das Heim zweier Freunde zeigen. Je 2 Klubsessel und ein Rauchtisch, hinten Tür und Lautsprecher. Atmosphäre angenehm verräuchert. […] Im Heim zweier Freundinnen Alli und Lo. Im Heim zweier Freunde Richard und Hermann.

62 Ebd., Bd. 4, S. 68. 63 Ebd., S. 70 f.

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Alli und Richard singen immer dasselbe gleichzeitig. Lo und Hermann singen immer dasselbe gleichzeitig.«64

In einem Brief vom Ende Juli 1929 schreibt Brecht an Ernst Hardt, den Regisseur des Hörspiels Der Lindberghflug,65 das am 27. Juli uraufgeführt werden sollte: »[…] ich habe über die Radiosendung des Lindberghfluges etwas nachgedacht und zwar besonders über die geplante öffentliche Generalprobe. Diese könnte man zu einem Experiment verwenden. Es könnte wenigstens optisch gezeigt werden, wie eine Beteiligung des Hörers an der Rundfunkkunst möglich wäre. (Diese Beteiligung halte ich für notwendig zum Zustandekommen des ›Kunstaktes‹.) Ich schlage also folgenden Bühnenaufbau für die Demonstration vor: Vor einer Leinwand, auf die die beiliegenden Grundsätze über die Radioverwendung projiziert werden – die Projektion bleibt während des ganzen Spieles stehen – sitzt auf der einen Seite der Bühne der Radioapparat, Sänger, Musiker, Sprecher usw., auf der anderen Seite der Bühne ist durch einen Paravent ein Zimmer angedeutet und auf einem Stuhl vor einem Tisch sitzt ein Mann in Hemdärmeln mit der Partitur und summt, spricht und singt den Lindberghpart. Dies ist der Hörer. Da ziemlich viel Sachverständige anwesend sein werden, ist es wohl nötig, auf der einen Seite die Aufschrift ›der Rundfunk‹ auf der anderen die Aufschrift ›der Hörer‹ anzubringen.«66

So wollte Brecht erreichen, was er im Jahr 1932 unter dem Titel Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. Rede über die Funktion des Rundfunks auf die Formel brachte: »Und um nun positiv zu werden: d.h. um das Positive am Rundfunk aufzustöbern; ein Vorschlag zur Umfunktionierung des Rundfunks: Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der denkbar größte Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, d.h. er wäre es, wenn er es verstände, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen. Der Rundfunk

64 Schwitters: Werk, Bd. 4, S. 52. 65 1930 erhielt das Stück den neuen Titel Der Flug der Lindberghs. Ein Radiolehrstück für Knaben und Mädchen. 1949/50, nachdem Brecht von den Verbindungen Lindberghs und seiner Frau zu den Nationalsozialisten erfahren hatte, strich er den Namen Lindbergh ganz und gab dem Stück den Titel Der Ozeanflug. 66 Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hrsg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller, Bd. 28: Briefe I: Briefe 1913-1936, hrsg. von Günter Glaeser, Berlin Weimar, Frankfurt a.M. 1998, S. 322.

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müßte demnach aus dem Lieferantentum herausgehen und den Hörer als Lieferanten organisieren.«67

Im Vergleich zu den Maßstäben, die Kurt Schwitters in seiner Oper Zusammenstoß gesetzt hatte, wirkt das viel gerühmte Experiment, das der Dichter Brecht auf den Baden-Badener Musiktagen anstellte, reichlich naiv. Denn der Versuch, dem Hörer mithilfe schriftlicher Anweisungen und der Vorschrift der »Hemdsärmeligkeit« das richtige Verhalten buchstäblich vorzuschreiben, verkennt den unterschwelligen Zauber eines Mediums, das die innere Stimme sprechen macht. Kein Zweifel, dass der Hörer mitsingt und summt. Das führt schon Schwitters vor. Aber Brechts Vertrauen darauf, dass er dem Hörer »optisch« schon den richtigen Standort zeigen könne, beweist in aller Deutlichkeit, daß er ein Literat geblieben ist, der von der Technik elektromagnetischer Medien nichts versteht. Das gilt auch für Brechts Aufsatz Der Rundfunk als Kommunikationsapparat, der dazu aufruft, das technische Faktum, dass jeder Empfänger auch ein Sender ist, zu nutzen, um die Partizipation des Publikums am öffentlichen und politischen Leben zu ermöglichen und zu stimulieren. Die Idee war im Jahr 1932, als Brecht diese Rede hielt, nicht neu, sondern vielmehr nur eine Neuauflage der Forderungen, die die so genannte »Leibgarde« Liebknechts schon im Jahr 1918 gestellt hatte, das heißt zu einem Zeitpunkt, da der Rundfunk noch ausschließlich ein Mittel zur Übertragung von Nachrichten, also noch kein Unterhaltungs- und Massenmedium war. Was Brecht – und nach ihm Enzensberger68 – übersieht, ist das simple Faktum, dass starke und weit reichende Sendeanlagen im Kapitalismus nur entweder von staatlichen Institutionen – wie in Deutschland – oder von finanzstarken Korporationen – wie in Amerika – betrieben werden können. Dazu kommt, dass der Zahl der möglichen Sender eine natürliche Grenze gesetzt ist, wie Hans Bredow schon im Jahr 1927 ausführte: »Übrigens ist die Freiheit des Rundfunks sowohl eine natürliche als auch eine rechtliche Unmöglichkeit, da die Zahl der verwendbaren Wellenlängen bei dem gegenwärtigen Stand der Technik beschränkt ist, ist es nicht möglich jedermann volle Freiheit zu lassen, ohne einen Mißklang und eine Verwirrung zu schaffen, die sowohl dem Rundfunkhörer als auch dem Sender zum Schaden wäre.«69

67 Bertold Brecht: »Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. Rede über die Funktion des Rundfunks«, in: Bertolt Brecht: Werke, Bd. 21: Schriften I, hrsg. von Werner Hecht, S. 552-557, S. 553. 68 Hans Magnus Enzensberger: »Baukasten zu einer Theorie der Medien: Kritische Diskurse zur Pressefreiheit«, in: Kursbuch 20, 1970. 69 Hans von Bredow: Vier Jahre deutscher Rundfunk, S. 26.

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Die Utopie von der Teilhabe aller sowohl an der Funktion des Sendens als auch an der des Empfangens ist erst im Zeitalter digitaler Medien und distribuierter Netzwerke Wirklichkeit geworden. Aber ob daraus auch das von Brecht angestrebte neue politische Bewusstsein hervorgegangen ist, bleibt abzuwarten. Jedenfalls hat sich bei aller Euphorie über die angebliche Verwirklichung demokratischer Ideale im Internet nichts daran geändert, dass die Herrschaft sowohl über die Netzwerke als auch über die Server weiterhin entweder in der Hand mehr oder weniger demokratischer Regierungen oder aber finanzstarker Korporationen liegt. Brechts Radioutopie ist ein schöner Traum. Die Radiogrotesken eines Kurt Schwitters, so albern sie auf den ersten Blick erscheinen, kamen der Wirklichkeit näher, einer Wirklichkeit, die schließlich beide, Brecht und Schwitters zwang, das Land zu verlassen, in dem sie geboren wurden. Beide flohen zunächst nach Norwegen. Über die Flucht nach diesem Land schrieb Schwitters ein Gedicht, in dem es heißt: »Die Deutschen kommen […] Das Radio? So früh? […] Das war schon Krieg – […] Wir müssen packen Nur das Nötigste.«70

Brecht emigrierte nach Amerika, Schwitters verschlug es nach England. Dort träumte er noch einmal davon, seine Ursonate, von der schon eine Schallplatte existierte71 und deren Scherzo er 1932 für den SDR aufgenommen hatte, endlich einmal vollständig »in Radio hineinzufunken«. Aus diesem Grund »hatte E. L. T Mesens in der London Gallery einen Merz-Abend veranstaltet und Herren von der BBC eingeladen in der Hoffnung, sie würden eine Plattenaufnahme machen. Sie gingen, noch während Schwitters alle seine Rezitationskünste aufbot.«72

So wurde die letzte Chance verpasst, jenes denkwürdige Klang-, Sprechoder auch Musikstück im Originalton abzuspeichern, in dem Kurt Schwitters

70 Schwitters: Werk, Bd. 3, S. 131. 71 Ebd., Bd. 5, S. 289. 72 Ernst Mündel: Kurt Schwitters in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1981, S. 112 f..

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den alten Traum der »Gutenberggalaxis«73 noch einmal, ein letztes Mal, im Zeitalter der elektrischen Medien zelebrierte. Die Ursonate zeigt, dass Lesen und Schreiben nicht notwendig mit dem Sinn verkoppelt sind, der den Klang vergessen macht; sie zeigt, dass Buchstaben auch den Nonsense übertragen, der nichts ist als sound; und sie zeigt schließlich, dass das Schreiben selbst in einer Zufallsfolge gründet, die wir alle kennen, obwohl sich ihr Gesetz in einer unwiderruflich verlorenen Vergangenheit verliert. Diese Zufallsserie ist das Alphabet.74 Kurt Schwitters kehrt es um und wiederholt es in verschiedenen Tempi, wobei er mit einer Ausnahme den ersten Buchstaben »a« elidiert:75 »Beim Schluß mache ich aufmerksam auf das beabsichtigte Rückklingen des Alphabets bis zum a. Man ahnt das und erwartet das a mit Spannung. Aber es hört zweimal schmerzlich bei b auf. Das b klingt hier in der Zusammenstellung schmerzlich. Beruhigend folgt die Auflösung im dritten Alphabet beim a. Nun aber folgt das Alphabet zum Schluß ein letztes und viertes Mal und endet sehr schmerzlich auf ›beeee?‹ Ich habe dadurch die Banalität vermieden, die sehr nahe gelegen hätte, die allerdings nötige Auflösung auf den Schluß zu verlegen.«76

Die Ursonate ist Kalligraphie fürs Ohr. Sie beweist, dass die beweglichen Lettern Gutenbergs, die einst für das Auge bestimmt waren, längst auch das Gehör erobert haben. Deshalb lassen sich mit dem Material des Alphabets Leittoneffekte und aufgelöste Akkorde wie in der musikalischen Harmonik erzielen. So wird nicht nur die Schrift, sondern auch die Musik deterritorialisiert. Denn es zeigt sich, dass signifikante Effekte weder im Buchstaben noch im musikalisch reinen Ton, sondern schon in Geräuschen und sinnlosen Lauten gründen,77 vorausgesetzt, dass sie einer Konvention entsprechen. Die

73 Herbert Marshall McLuhan: The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man, Toronto 1962. 74 Zur Funktion des Alphabets bei der Entstehung der phonetischen Schrift vgl. Barry Powell: Homer and the Origin of the Greek Alphabet, Cambridge 1991, S. 32-38 und 152-158. 75 Schwitters: Werk, Bd. 1, S. 242. 76 Ebd., Bd. 5, S. 291. 77 »[…] das beliebige abstrakte Gemälde ist eine so unendliche Vielheit, daß mir eine Theorie nie ausreichen wird, um es restlos zu erfassen. Genauso wäre in der Musik eine Theorie nie kompetent, ein Musikstück zu analysieren, wenn es nicht sich auf wenige ganz einfache Mittel beschränkt. Denn von den zahlreichen Klängen und Geräuschen wählt die Musik nur sehr wenige aus, bis vor einigen Jahrzehnten nur die ganzen und halben Töne, die sich sehr leicht in ein System bringen ließen, und nach diesem System läßt sich selbstverständlich auch eine Analyse stellen, jetzt arbeitet die Musik schon mit Viertel- und Achteltönen, mit Geräu-

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Ursonate führt vor, was die Medien tun: Sie schließen unsere Sinne kurz – und zwar sowohl im weiten (philosophischen) wie im engen (physiologischen) Sinn des Wortes. Schwitters’ Begegnung mit den Vertretern des BBC fällt ins Jahr 1947. Zu dieser Zeit wurde der Rundfunk in Deutschland nach englischem Vorbild reorganisiert. Der Krieg hatte nicht nur die militärischen und wirtschaftlichen, sondern auch die publizistischen Institutionen zerstört, mit denen die selbstherrlichen Führer des von ihnen so genannten Dritten Reiches glaubten rechnen zu können. Dabei hatte sich auch eines ihrer wichtigsten Mittel, die Propaganda, gegen sie gekehrt. Der Gedanke der tödlichen Wirkung der Propaganda stammt von Adolf Hitler. Er setzte sie mit jener mörderischen »Feuerwalze« gleich, die von den deutschen Strategen für die große Frühjahrsoffensive im letzten Jahr des Ersten Weltkriegs entwickelt worden war: »Was die artilleristische Vorbereitung für den frontalen Angriff der Artillerie im Grabenkampf bedeutet hat, das wird in Zukunft die psychologische Zermürbung des Gegners durch revolutionäre Propaganda zu tun haben, ehe die Armeen überhaupt in Funktion treten. Das gegnerische Volk muß demoralisiert und kapitulationsbereit sein, es muß moralisch in die Passivität getrieben sein, ehe man an eine militärische Aktion denken darf.«78

In den letzten Jahren des Krieges aber, den sie beide angezettelt hatten, gerieten Hitler und sein Propagandaminister in einen denkwürdigen Konflikt. Während Goebbels darauf bestand, das Volk weiterhin mit Durchhalteparolen zu bombardieren, wie man damals sagte, wurde es immer öfter nötig, die Rundfunkpropaganda aus militärischen Gründen zu verbieten, und zwar besonders in der Nacht, in der die Sendequalität am besten ist. Das Medium, dessen Zaubermacht mit Sicherheit einst zum Größenwahn eines Hitler und Goebbels beigetragen hatte, enthüllte die sehr irdische Natur dieser selbsternannten Sender, indem sie den feindlichen Bombengeschwadern den Weg zu ihren Zielen wies. Während die deutschen Radiostationen schweigen

schen, und die Theorie läßt sich nun nicht so erweitern, wie die Phantasie in der Musik arbeiten kann. Sie kann nicht mehr vorlegen.« Schwitters: Werk, Bd. 5, S. 256. 78 Hermann Rauschning: Gespräche mit Hitler, 1940; zitiert nach Fischer: Dokumente zur Geschichte des deutschen Rundfunks, S. 259. Es ist bekannt, dass Rauschnings Zeugnis alles andere zuverlässig ist. Da es aber hier nicht so sehr darauf ankommt, wer die Propaganda mit der Feuerwalze verglichen hat, sondern vielmehr darauf, dass dieser Vergleich überhaupt angestellt wurde, behält das Zitat im hier gegebenen Zusammenhang seinen Wert.

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mussten, waren die deutschsprachigen Propagandasendungen aus Schweden und England gut zu hören: »Die Schwierigkeiten waren natürlich auch Hitler nicht verborgen geblieben, so daß er sich veranlaßt sah, im Sommer 1942 schwere Vorwürfe gegen Goebbels und die Rundfunkführung zu erheben. Durch die Mißachtung seines vor Beginn des Krieges an das Propagandaministerium gegebenen Auftrags, in Deutschland den Drahtfunk einzuführen, sei die Situation entstanden. »Der Drahtfunk«, so ließ sich Hitler am 17. Juni 1942 in kleinem Kreis in seinem Hauptquartier vernehmen, »habe dadurch, daß er störungsfrei sei, für den einzelnen Hörer außerordentliche Vorzüge gegenüber unseren selbstempfangenden Radioapparaturen … Was ihn darüberhinaus aber vom Standpunkt der Staatsführung aus geradezu ideal erscheinen lasse, sei, daß er den zuständigen Stellen die Möglichkeit gebe, den Empfang zu regulieren.« Das hätte zur Folge gehabt, daß »dann der deutsche Rundfunkhörer keine unerwünschten ausländischen Sender« hätte abhören können. Hitler bezeichnete dieses Versäumnis als den »größten Versager des Propagandaministeriums«, wofür den Propagandaminister die alleinige Schuld treffe.«79

Elektromagnetische Wellen verleihen dem Sender nicht nur eine rätselhafte Macht über das Ohr der Hörer, sie verraten dem technisch gerüsteten Empfänger auch den Standort dessen, der spricht. Das ist der Grund, weshalb der ausgebildete Bordfunker und Stukaflieger Josef Beuys seine Multiples als Antennen definierte. Hitlers Traum vom »Drahtfunk« erfüllte sich schließlich in den späten achtziger und frühen neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts allerdings mit dem Unterschied, dass bei dieser so genannten Verkabelung nicht Kupferdrähte, sondern Glasfiberstränge verlegt wurden. Die Umstellung von elektrischen auf optische Netzwerke hatte einen technischmilitärischen Grund. Weil die von Kernfusionen ausgelösten elektromagnetischen Schockwellen in metallischen Leitern Starkstromimpulse induzieren, wären die elektronisch gespeicherten Daten in den Steuerzentralen der auf deutschem Boden stationierten U.S.-amerikanischen Truppen im Fall eines Atomkriegs buchstäblich mit einem Schlag gelöscht, die Bedingungen der Möglichkeit des Gegenschlags also ausgeschaltet worden. Optische Signale aber sind, solange die Kabel selbst nicht gekappt sind, gegen die von Atomschlägen ausgehenden elektromagnetischen Schockwellen gefeit. Was aber die Radioortung betrifft, so ist sie in den letzten beiden Jahrzehnten auf eine stets wachsende Zahl einzelner Fernsprechteilnehmer ausgeweitet worden. Weil das elektromagnetische Spektrum sehr viel mehr Kanäle hergibt, wenn die Trägerwellen eng gebündelt sind, müssen die Standorte derer, die über mobile Telefonnetze kommunizieren, sehr genau mittels des Global Positioning Systems festgestellt werden. Die dabei gewonnenen 79 Zitiert nach Diller: Rundfunkpolitik, S. 383 f.

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räumlichen und zeitlichen Koordination werden in den Telefonzentralen gespeichert. Wer jetzt noch ein mobiles Telefon benutzt, wird bald kein Alibi mehr haben.

Siegfried Kracauer D OROTHEE K IMMICH (T ÜBINGEN )

I. E INLEITUNG : Z WISCHEN

DEN

K ULTUREN

Siegfried Kracauers Werk ist kein gutes Beispiel für das, was man landläufig als »Intermedialität« bezeichnet. Und doch kann er in einem Band zur intermedialen Mediengeschichte und Medienphilosophie einen prominenten Platz beanspruchen. Dies weniger, weil es in seinen Texten um eine Erörterung des Verhältnisses von Bild und Text, Ton und Bild, Film und Musik, Photo und Unterschrift ginge. Vielmehr liegt Kracauers Leistung in der Übertragung einer Medien- und Wahrnehmungsgeschichte in eine moderne Erkenntnis- und Geschichtstheorie. Die Frage lautet für ihn: Wie lernen wir so denken, wie der Film uns lehrt zu sehen? Wie lernen wir so schreiben, wie die Photographie uns zeigt, dass die Welt beschaffen ist? Dabei geht es nicht um philologische oder kunstgeschichtliche Analysen dessen, was Filme und Photos repräsentieren und mit welchen ästhetischen Mitteln sie dies tun. Vielmehr geht es um die Frage, wie uns Film und Photographie mit der phänomenalen Welt konfrontieren und uns zugleich eine bestimmte Unzulänglichkeit von Begriffen vorführen, deren Reichweite einschränken und neue Ansprüche formulieren. An dieser philosophisch-ästhetischen Konzeption hat – neben den theoretischen Überlegungen die Analyse von Kunstwerken, Filmkritiken und soziologische Analysen – auch die eigene Biographie erheblichen Anteil. Kracauer arbeitete Zeit seines Lebens in höchst unterschiedlichen Kontexten, verfasste hunderte von Filmrezensionen und Feuilletontexten, beschäftigte sich aber auch intensiv mit der Operette, dem seinerzeit neuen Phänomen der Angestellten oder dem Kriminalroman. Auch schrieb er zwei Romane und einige höchst bemerkenswerte Texte, die zwischen Essays und Erzählungen oszillieren. Und darüber hinaus kann man möglicherweise den durch das Exil erzwungenen Wechsel vom Deutschen ins Englische seinerseits als eine

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Form der gelebten Intermedialität bezeichnen, die aufs Engste mit den Überlegungen zur erkenntnistheoretischen Leistung von Film und Photographie verbunden ist. Seine großen Bücher zum Film fallen jedenfalls in die Zeit des Exils.

II. Z WISCHEN

DEN

S PRACHEN

»Wie gespannt ich auf Dein Filmbuch bin, muß ich Dir nicht sagen. Halte mich nicht für den alten Cato, wenn ich Dich immer wieder daran erinnere, daß das Entscheidende, was unsereiner zu sagen hat, von uns nur auf deutsch gesagt werden kann.«1

So schreibt Theodor Adorno am 1.9.1955 aus Frankfurt an seinen Freund Siegfried Kracauer in New York. Der ließ sich offenbar nicht beeindrucken von der Warnung, denn seine Filmtheorie erscheint bekanntlich auf Englisch. Er antwortet Adorno postwendend am 5.9.1955: »Ich weiß, wie gut Du es meinst, wenn Du mich warnst, daß wir das Entscheidende nur deutsch sagen können. Was Du sagst, gilt sicher für bestimmte Gebiete der Literatur - - Poesie, Roman, und, sehr vielleicht, auch Essay. (Ich habe keinen rechten Zug mehr zum Essay, ohne daß ich versucht hätte, mein derzeitiges Mißtrauen gegen diese Form zu formulieren.) Aber Dein Catonisches Diktum trifft bestimmt nicht zu für Werke des Gedankens, der Theorie - - und ich meine hier eigenste Gedanken, eigenste Theorie. […] Mein Stilideal ist, daß die Sprache in der Sprache verschwindet wie der chinesische Maler im Bild, wobei ich mir bewußt bin, daß der Maler und das Bild, der Denker und die Sache eins sind - - up to a point.«2

Die kurze – von Kracauer ein wenig provokant auf Englisch abgeschlossene – Auseinandersetzung kommentiert in vieler Hinsicht die langen persönlichen und brieflichen Debatten der beiden. Sie markiert ein Phänomen, das für viele Emigranten seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts zu einer exis1

2

Theodor W. Adorno: Briefe und Briefwechsel, hrsg. von Theodor W. Adorno Archiv, Bd. 7 (=Theodor W. Adorno/Siegfried Kracauer: Briefwechsel 19231966), hrsg. von Wolfgang Schopf, Frankfurt a.M. 2008, S. 482. Das Motiv des chinesischen Malers findet sich u.a. auch bei den intellektuellen Weggefährten Walter Benjamin und Ernst Bloch. Vgl. Jhy-Wey Shieh: Grenze wegen Öffnung geschlossen. Zur Legende vom chinesischen Maler, der in seinem Bild verschwindet, in: Jürgen Wertheimer und Susanne Göße (Hrsg.), Zeichen lesen - Lese-Zeichen, Tübingen 1999, S. 201-226; sowie Bernhard Greiner, Hinübergehen in das Bild und Errichten der Grenze: Der Mythos vom chinesischen Maler bei Bloch und Benjamin und Kafkas Erzählung »Beim Bau der chinesischen Mauer«, in: ebd. Ebd., S. 484.

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tentiellen Frage wurde: War es möglich, in einer anderen Sprache das auszudrücken, was man im Deutschen formuliert hatte? Welche Konsequenzen hat ein Sprachwechsel? Welche Konsequenzen hat es andererseits, wenn man die Sprache nicht wechselt? Für viele der Autoren verband sich mit dem Wechsel der Sprache auch eine Veränderung von Sprachduktus, von Stil, ja nicht selten sogar von Inhalten, Konzepten und Methoden. Auch Hannah Arendt setzt sich auf eine sehr grundlegende Weise mit dieser Frage auseinander. Im Herbst 1950, also kurz vor dem Erscheinen ihres ersten amerikanischen Buchs, schreibt Arendt: »Pluralität der Sprachen: Gäbe es nur eine Sprache, so wären wir vielleicht des Wesens der Dinge sicher.«3 Und weiter heißt es dort: »Innerhalb einer homogenen Menschengemeinschaft wird das Wesen des Tisches durch das Wort Tisch vereindeutigt, um doch gleich an der Grenze der Gemeinschaft ins Schwanken zu geraten.«4 Diese »schwankende Vieldeutigkeit« der Welt ist allerdings, wie Arendt betont, kein peripheres Phänomen, sondern ein Phänomen von Peripherien und Teil der Überlegungen zu Denken und Sprechen bzw. Logik und Dialektik.5 Siegfried Kracauer entwickelt in und durch seine Emigration eine Position, die die Peripherie von Kulturen und Sprachen als wissenschaftlich produktiven Raum beschreibt. Dabei geht es um eine Form der Positionsbestimmung des Intellektuellen, Philosophen und Historikers. Man könnte von einer positiv gewendeten Entfremdungsphilosophie sprechen, die genau der Vorstellung von ursprünglicher Zusammengehörigkeit von Person, Wesen, Denken und Sprache, wie sie Adorno formuliert, widerspricht und damit eine Kulturalisierung von Theorie vermeidet. Es geht Kracauer dabei um einen heuristisch eingesetzten Selbstverlust. Dies ist eine Vorstellung, die Kracauer gerne auf Englisch – mit den Worten von Erwin Panofsky – als »selfeffacements«6 bezeichnet hat. Das Verfahren der ästhetischen und philosophischen Verfremdung und die biographische Fremdheit im Exil bilden sich aufeinander ab, allerdings nicht im Sinne einer fatalen Situation, sondern vielmehr als Beschreibung der genuinen Position des Wissenschaftlers, Historikers und auch Künstlers.7 Dabei spielen insbesondere die Medien Film

3 4 5 6 7

Hannah Arendt: Denktagebuch 1950-1973, hrsg. von Ursula Ludz/Ingeborg Normann, Bd. 1, Zürich 2002, S. 42. Ebd., S. 42 f. Ebd. Volker Breidecker (Hrsg.): Siegfried Kracauer – Erwin Panofsky, Briefwechsel, Berlin 1996, S. 180. Vgl. dazu die neueren Positionen der Lebenslaufforschung: Bernd Hausberger (Hrsg.): Globale Lebensläufe. Menschen als Akteure im weltgeschichtlichen Geschehen, Wien 2006, darin besonders S. 9-27.

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und Photographie eine entscheidende Rolle. Ihnen widmet er nicht nur zwei wichtige Bücher, sondern sie bilden auch den roten Faden einer Reflexion über Geschichte und Erinnerung, Erfahrung und Entfremdung. In der – englisch verfassten – »Summa« seiner Arbeit, seiner Geschichtsphilosophie, die postum 1969 mit dem Titel Last things before the last erschien, fasst er die Problematik noch einmal abschließend zusammen: »Geschichte gleicht Photographie unter anderem darin, dass sie ein Mittel der Entfremdung ist«8. Genauer ausgeführt wird die These in einem späteren Kapitel; dort wird über den Historiker gesagt, er lebe im »fast vollkommenen Vakuum der Exterritorialität«, dem wahren »Niemandsland«9. »Nur in diesem Zustand der Selbstauslöschung oder Heimatlosigkeit kann der Historiker mit dem Material, das ihm am Herzen liegt, vertraulich verkehren.«10 »In diesem Sinn zu warten kommt einer Art aktiver Passivität seitens des Historikers gleich. […] [S]ich treiben lassen und die verschiedenen Botschaften, die zu ihm dringen, mit allen angespannten Sinnen aufnehmen […]«11, sei das Ziel. Die Assoziation zum flanierenden Photographen, der seine Gegenstände nicht sucht, sondern findet, ist selbstverständlich gewollt. Kracauer betont ausdrücklich, dass es bestimmte Wissensformen gibt, die man nur als Exilant angemessen erfassen und einschätzen könne. Dazu gehören die Photographie und die moderne, nicht idealistisch denkende Geschichte. Voraussetzung für eine gelungene wissenschaftliche Arbeit und kritische Tätigkeit ist für Kracauer eine spezifische pragmatische, lebensweltliche und theoretische Selbstdistanzierung, ja eben etwas wie eine momentane Selbstauslöschung. Nicht nur das Objekt muss in »Klammern gesetzt« werden, wie es die Phänomenologie fordern würde, sondern auch das Subjekt selbst.12

8

Siegfried Kracauer: Werke, hrsg. von Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke, Bd. 4 (=Geschichte – Vor den letzten Dingen), Frankfurt a.M. 2009, S. 12 f. 9 Ebd. (Kapitel 4: Die Reise des Historikers), S. 95. 10 Ebd. S. 96. Er zitiert Schopenhauer, um die besondere Form der der Betrachtung zu illustrieren: »Vor ein Bild hat Jeder sich hinzustellen, wie vor einen Fürsten, abwartend, ob und was es zu ihm sprechen werde; und, wie jenen, auch dieses selbst nicht anzureden: Denn da würde er nur sich selber vernehmen.« Ebd., S. 96 f. 11 Ebd., S. 97. 12 Bei Paul Valéry gibt es eine Formulierung, die Ähnliches beschreibt: »Solange Dinge eine Bedeutung und sogar eine Form haben, befinden wir uns im Anthropomorphismus.« Was man erreichen sollte wäre dagegen: »So wie wir uns dem Wirklichen eines Wortes nähern, indem wir es durch ständiges Wiederholen, und wäre es das vertrauteste Wort, wie ein fremdartiges Geräusch vernehmen…. So wie ein Tier es hört.« (Paul Valéry, Cahiers/Hefte 2, (übersetzt von Max Looser, Hartmut Köhler, Christine Mäder-Viragh, Erika Tophoven-Schöningh), Frankfurt

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Dies geschieht z.B. auch durch einen reflektierten Sprachwechsel, der es ermöglicht, vom Rande her die verschiedenen kulturellen Formationen zu erfassen und zu durchdringen: »Als Fremder in einer Welt, die von Quellen evoziert ist, sieht er sich vor die Aufgabe gestellt – die Pflicht des Exilierten –, deren Oberflächenerscheinungen zu durchdringen, um jene Welt von innen her verstehen zu lernen.«13

Der Historiker ist immer Exilant.

III. Z WISCHEN

DEN

D ISZIPLINEN

Kracauer spricht in diesen Zusammenhängen nicht nur von Peripherien, sondern auch von Zwischenräumen, die sich ebenso zwischen Wissensgebieten wie zwischen Kulturen auftun. Er zählt dazu die Geschichte als Wissenschaft zwischen Literatur und strenger Wissenschaft, aber auch die Photographie, die zwischen Dokumentation und Kunst angesiedelt ist. Mit Bruno Latour würde man heute von Hybridisierung von Wissensgebieten und Wissensgegenständen sprechen.14 Kracauer besteht darauf, dass nur der exterritorial operierende Forscher, der seine Muttersprache verlassen kann, diese Entstehung von hybriden Gebieten angemessen erfassen kann. Medienwechsel, Kulturwechsel und Sprachwechsel gehören hier zusammen und kommentieren sich gegenseitig. Die Frage nach der Ähnlichkeit von Photographie und Geschichte muss allerdings noch genauer ausgeführt werden, um diesen Medienwechsel bzw. diese spezielle Form der Intermedialität mit dem Konzept der kulturellen Exterritorialität und der »Heimatlosigkeit« des Historikers zu verbinden: »Die Geschichte gleicht der Photographie unter anderem darin, daß sie ein Mittel der Entfremdung ist«15, so lautete die These, die Kracauer – selbst fast erstaunt – im Vorwort seiner Geschichtstheorie formuliert. Er habe dies und damit den Zusammenhang zwischen seinen verschiedenen Arbeitsgebieten erst zu Ende seiner Arbeiten und gewissermaßen im Rückblick konstatieren können. Auch der Rekurs auf die Photographie ist ein Rückblick, da Kracauer diesem Gegenstand nicht nur weite Teile des Beginn der späten Theorie

a.M. 1988, S. 105. Vgl. Karl Löwith, Paul Valéry – Grundzüge des philosophischen Denkens, Göttingen 1971, S. 9-25. 13 Siegfried Kracauer: Geschichte – Vor den letzten Dingen, S. 96. 14 Vgl. Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a.M. 2002. 15 Siegfried Kracauer: Geschichte – Vor den letzten Dingen, S. 12 f.

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des Films sondern bereits Ende der 1920er Jahre einen Essay gewidmet hatte, der aber zu anderen Schlüssen kommt als die späteren Überlegungen. In erster Linie geht es in History um die Verbindungen, die von diesem Werk zu seiner Filmtheorie von 1960 mit dem etwas befremdlichen Untertitel Die Errettung der äußeren Wirklichkeit (Redemption of physical reality) bestehen. Kracauer weist selbst auf diese Zusammenhänge mehrfach hin. Im Vorwort zu Geschichte – Vor den letzten Dingen (so der deutsche Titel) heißt es etwa: »Blitzartig wurden mir die verschiedenen Parallelen klar, die zwischen Geschichte und den photographischen Medien, historischer Realität und Kamerarealität bestehen.«16 Seine Filmtheorie bilde zusammen mit der Geschichtstheorie eine Kontinuität seiner Bemühungen, »die Bedeutung von Bereichen herauszuschälen, deren Anspruch, um ihrer selbst willen anerkannt zu werden, noch nicht Genüge geschah«.17 Ein solcher Bereich ist zum Beispiel die Photographie, weil sie weder einfach und unbestritten als Kunst gilt, noch reine Dokumentation ist; und auch die Geschichte ist ein solcher Bereich, weil sie als Disziplin und als Fach Wissenschaftlichkeit verlangt und doch einen unübersehbaren Anteil an fiktionalen Momenten hat. Kracauer stellt fest, dass Geschichte und Photographie einige heuristisch interessante Gemeinsamkeiten haben.18 Dabei hebt er nicht – wie man erwarten würde – auf den dokumentarischen Charakter von Photographie und Geschichte ab, sondern auf das Konzept der Entfremdung. »Entfremdung« wird auch hier nicht als negativer Begriff verwendet, sondern im Sinne von »Verfremdung«, d.h. im Sinne einer Aufhebung von stereotypen Wahrnehmungsformen, von Standardisierungen und Gewohnheiten. Mit diesem Konzept von Entfremdung stellt sich Kracauer in eine Tradition, die in den 1920er Jahren unter anderem von Theoretikern wie Béla Balázs, Viktor Schklowskij, Filmemachern wie Sergei Eisenstein, von Schriftstellern wie Robert Musil, Alfred Döblin, Walter Benjamin und natürlich auch von Bertolt Brecht in unterschiedlicher Weise vertreten wurde. »Entfremdung« zielt bei jedem der genannten Autoren auf Wahrnehmungskritik, die zu einem »neuen Sehen« führen soll;19 und dieses so genannte »neue Sehen« ist dann

16 Ebd., S. 11. 17 Ebd., S. 12. 18 Vgl. Detlev Schöttker: »Film als Herausforderung der Kulturwissenschaft. Siegfried Kracauer und Erwin Panofsky«. In: Merkur 51 (1997), Heft 8, S.724-733. 19 Über traditionelle Formen der Vorurteilskritik geht dieses Konzept insofern hinaus, als die ästhetische Komponente der Entfremdungserfahrung in den Vordergrund gerückt ist. Vgl. dazu etwa Sergei Eisenstein: »Montage der Filmattraktionen«. In: ders.: Das dynamische Quadrat, Leipzig 1988; S. 17-45; Viktor Schklowskij: Schriften zum Film, Frankfurt a.M. 1966; ders.: Theorie der Prosa,

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weniger das Ergebnis eines Reflexionsprozesses als vielmehr dasjenige einer ästhetischen Erfahrung, die Erkenntnis produziert. Als bevorzugte Medien einer solchen Erfahrung werden immer wieder der Film und die Photographie genannt. Die besonderen Mittel der Perspektivierung, Vergrößerung und Isolation, die die Photographie bietet, prädestinieren sie in Augen vieler dazu, die Wirklichkeit in ungewohnter Weise zu repräsentieren und damit die Aufmerksamkeit auf bisher Übersehenes zu lenken.20 Dies gilt insbesondere für die Dinge des Alltags, die, auf diese Weise aus ihrer gewohnten Umgebung isoliert, aus dem funktionalen Zusammenhang gelöst werden und dadurch einen anderen eigenen Charakter bekommen.21 Die Werke von Eugène Atget, Berenice Abbott, Albert Renger-Patzsch oder August Sander und Karl Blossfeld sind wohl die bekanntesten zeitgenössischen Beispiele einer solchen Verfremdung zum Zwecke der Sichtbarmachung. Die Photographie erfindet keine neuen Welten, sondern ist auf das Vorfindliche angewiesen, das sie durch eine bestimmte Weise des Arrangements und der Präsentation allererst »sichtbar« macht. Die durch die Großaufnahme und die Isolierung bewirkte »Dekonstruktion« von Zusammenhängen zwischen den einzelnen Objekten und ihrer gewohnten Umwelt ist es, was alle frühen Bewunderer der Photographie begeisterte.22

Frankfurt a.M. 1966; Béla Balázs: »Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films.« In: ders.: Schriften zum Film, hrsg. von Helmut Diedrichs u.a., München 1982, S. 45-143; ders.: Der Geist des Films, Frankfurt a.M. 1972; Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« (2. Fassung). In: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 7/1, Frankfurt a.M. 1991; vgl. dazu auch Carlo Ginzburg: »Verfremdung. Vorgeschichte eines literarischen Verfahrens.« In: ders.: Holzaugen. Über Nähe und Differenz, Berlin 1999, S. 11-41; vgl. zu technischen Innovationen und Verfremdung: Jonathan Crary: Suspension of Perception, Cambridge/Mass. 1999. 20 Vgl. Anton Kaes: »Das bewegte Gesicht. Zur Großaufnahme im Film«. In: Sander Gilman/Claudia Schmölders (Hrsg.): Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte, Köln 2000, S. 156-174. 21 Vgl. dazu Dorothee Kimmich: »Kleine Dinge in Großaufnahme. Aufmerksamkeit und Dingwahrnehmung bei Robert Musil«. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft XLIV (2000), S. 177-194. 22 Das beste Beispiel einer solchen Entfremdungserfahrung ist für Kracauer ein literarisches, das heißt die literarische Präsentation eines solchen Entfremdungserlebnisses, das in bezeichnender Weise sich der Metaphorik von Photographie bedient. Kracauer zitiert diese Stelle aus Prousts A la Recherche du temps perdu mehrfach. Es handelt sich um den Moment, in dem Marcel seine geliebte Großmutter überraschend, als er durch die Türe tritt, auf einem Sofa sitzen sieht. Er erkennt in diesem Moment, dass sie auch einfach eine alte Frau ist, nimmt also für

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In welcher Form muss man sich nun diese spezifische, ästhetisch vermittelte Wahrnehmungskritik im Zusammenhang mit historischem Denken vorstellen? Dem kracauerschen Historiker geht es nicht darum, in der Gegenwart, sondern im überlieferten Material der Geschichte »Ereignisse«, »Tatsachen«, »Momente« und »Gegenstände«, »Monumente« und »Dokumente« so zu isolieren oder zu perspektivieren, dass der vermeintliche Zusammenhang, also das, was man als »Historie« bezeichnet, gestört und dekomponiert wird. Für Kracauer erschöpft sich das ästhetische Paradigma der neuen Medien allerdings nicht in diesem »Schockeffekt«, der sich bekanntlich schnell verflüchtigt.23 Er ist vielmehr davon überzeugt, dass die Wirklichkeit, mit der wir im Alltag operieren, eine aus pragmatischen Gründen standardisierte, reduzierte und problemlos kommunizierbare Form von Realität ist. Photographie und Film sind dagegen in der Lage, das zu zeigen, was man sonst alles übersehen muss, das heißt, sie heben die notwendige Komplexitätsreduzierung wieder auf. Alltagswahrnehmung basiert gewissermaßen auf pragmatischen »Fiktionen«, während die durch Photographie und Film vermittelte Realität einen »Hyperrealismus« mit hoher Komplexität und irritierender Kontingenz bietet. Überlässt man sich in der historischen Forschung den üblichen Wahrnehmungsformen, die im Alltag tauglich sind, so hat man es dann allerdings nicht nur mit »pragmatischen Fiktionen« zu tun, sondern mit Ideologie. Die Erfahrung, die moderne Medien ermöglichen, erweist sich für den Historiker also nicht nur als eine weitere Perspektive unter anderen, sondern als unentbehrlicher Teil einer Selbstkontrolle des Wissenschaftlers im Sinne der virtuellen Selbstentfremdung zum Zwecke der Erkenntnis.24 Aus dieser – anhand von Photographie als Wahrnehmungsparadigma – entwickelten Konzeption von »Entfremdung« im Sinne eines historischpoetisch-technischen Verfahrens von »Errettung der äußeren Wirklichkeit«, ergeben sich für Kracauer eine ganze Anzahl weiterer Konsequenzen für Geschichtsschreibung. Zunächst wird durch die Entfremdungshypothese die Vorstellung von Geschichte als chronologischem Kontinuum in Frage ge-

eine kurze Zeit den Blick des Fremden an. Proust bezeichnet dies als den Blick des Photographen. Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 2 (=Die Welt der Guermantes), Frankfurt a.M. 1967, S. 1437 ff. 23 Vgl. dazu Theodor W. Adorno: Kritische Theorie, Frankfurt a.M. 1973, S. 231 ff. 24 Vgl. dazu Kracauers Begriff der Reise des Historikers (Siegfried Kracauer: Geschichte – Vor den letzten Dingen, Kapitel 4: Die Reise des Historikers, S. 92 ff.). Hier ist nicht nur von Entfremdung, sondern von einer zeitweiligen Selbstauflösung die Rede.

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stellt.25 Kracauer gehört zu denjenigen radikalen Kritikern, die Chronologie auch auf der meist unreflektiert bleibenden Ebene der Semantik aufspüren und dort insbesondere auf die oft unbewusste Verknüpfung von Chronologie und Kausalität hinweisen. Die Kritik der Chronologie steht im Dienste einer kritischen Metaphorologie.26 Eine weitere Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist die nach dem Verhältnis von Finden und Erfinden, Konstruktion und Rekonstruktion, die nach historischer Wahrheit und subjektiver Perspektive. Hier überrascht Kracauers Argumentation: Die scharfe Kritik an jeder Form von Essentialismus, an jedem Rest metaphysischer Geschichtsgläubigkeit, ließe zunächst vermuten, dass Kracauer einen radikalen Konstruktivismus vertreten müsse. Dies ist nicht der Fall. Mit geradezu wütender Schärfe geht er etwa gegen Croce, aber auch gegen Nietzsche an, denen er vorwirft, Geschichte vorschnell und mutwillig als reine Konstruktion zu behandeln. Kracauer leugnet natürlich nicht, dass der Standpunkt und das Erkenntnisinteresse des Forschers immer Auswirkungen auf die Ergebnisse haben. Allerdings verteidigt 25 Kracauer gibt eine Anzahl von verschiedenen Beispielen, wo Chronologie gewisse Schliche der Historiker befördert. Er spricht von historischer Rhetorik, von »stilistischen Bindemitteln«, die dazu dienen sollen, »die Komposition der allgemeinen Schilderungen zu straffen, so daß sie einen Hauch von Ganzheit annimmt, der an Kunstwerke erinnert.« (Siegfried Kracauer: Geschichte – Vor den letzten Dingen, Kapitel 7: Allgemeine Geschichte und ästhetischer Ansatz, S. 197 f.) An solche Kunstwerke allerdings, so muß man hier hinzufügen, die einer klassischen Idee von Ganzheit verpflichtet sind und natürlich nicht an solche, die er selbst als Beispiele avancierter Ästhetik nennt! An dieser Stelle unterläuft Kracauer selbst der Fehler, Ästhetik als Form der Verschönerung, Glättung und Abrundung zu sehen und damit im Bereich des Historischen zu diskreditieren. Daß dies nicht gemeint ist, führt er gleich im anschließenden Absatz aus. Zu Virginia Woolf, James Joyce und Marcel Proust bemerkt er: »Moderne Kunst stellt die künstlerischen Ideale, von denen der Allgemeinhistoriker sich inspirieren läßt, radikal in Frage […]. Und wegen des Wandels der ästhetischen Sensibilität, der sich daraus ergibt, hat seine Suche nach ästhetischer Kohärenz viel von ihrer Anziehung verloren.« Ebd., S. 200. Diese moderne Ästhetik, sollte man hier ergänzen, teilt mit dem Medium Photographie einige ihrer Charakteristika, so unter anderem die Isolation von einzelnen Szenen, die Unabgeschlossenheit und die Großaufnahme von Gegenständen oder Situationen. 26 Vgl. die Hinweise zu Blumenberg in: Siegfried Kracauer: Geschichte – Vor den letzten Dingen, Kapitel 7: Allgemeine Geschichte und ästhetischer Ansatz, S. 203. Vgl. auch das umfangreiche Nachwort von Ingrid Belke, in dem sie u.a, auch die Frühgeschichte der Gruppe »Poetik und Hermeneutik« skizziert und dabei iuf die Rolle Kracauers detailliert eingeht. Kracauer und Blumenberg haben jedenfalls einige sehr interessante Briefe gewecjhselt, die heute im DLA in Marbach aufbewahrt werden.

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er energisch ein irgendwie Objekthaftes, Ereignishaftes jenseits der Konstruktion. Dies ist letztlich aber nur in der auf ästhetischer Erfahrung basierenden Unabgeschlossenheit der Geschichte präsent und verweist auf das Kontingente in der Photographie. Eine solche wissenschaftsgeschichtliche Position, die sich zwischen Konstruktivismus und Realismus anzusiedeln scheint, ist nicht leicht zu charakterisieren. Meist handelt es sich auch bei anderen Autoren, die mit ähnlichen Intentionen arbeiten, ebenfalls um sehr individuelle Modelle. Carlo Ginzburg hat - darin mit Kracauer vergleichbar – ebenfalls immer am konkreten Beispiel Begriffe und Modelle der Interpretation, der Deutung, der Konstruktion, Dekonstruktion und Rekonstruktion von Quellen und Texten erarbeitet. Dabei spricht er nicht von Zeichen, die es zu deuten gilt, sondern von Indizien. Anders als Zeichen bewahren Indizien ihren materiellen Charakter; sie verweisen auf die Dinghaftigkeit des Zeichens, auf ihre Opazität. Kracauers Konzept ist mit dem von Carlo Ginzburg zu vergleichen, der von einem modernen »Indizienparadigma« spricht. Carlo Ginzburg entfaltet in seinem Essay über »Spurensicherung« die epistemologischen Grundlagen dieses von ihm so genannten »Indizienparadigmas«, das sich auf allen Wissensgebieten manifestiert:27 In der Kunstgeschichte werden damit seit Ende des 19. Jahrhunderts Bilder identifiziert, in der Paläontologie werden so kulturelle Wechselbeziehungen aufgedeckt, in der Kriminologie kommt die Fingerabdruckkartei auf (um 1880 werden die ersten Indizienprozesse mit Fingerabdrücken geführt) und Sherlock Holmes, die berühmte Romanfigur von Conan Doyle, wird zum Helden des Spurenlesens. Eine »Kunst« des Spurenlesens ist auch die Psychoanalyse, die ganz auf der indizierenden Kraft von Symptomen beruht. Indizien lesen zu können, ist eine Technik, die keine erlernbaren Regeln kennt. Ginzburg besteht auf ihrer »elastischen Härte«. »Es handelt sich hier um Formen eines tendenziell stummen Wissens – und zwar deswegen, weil sich seine Regeln nicht dazu eignen, ausgesprochen oder gar formalisiert zu werden. Niemand erlernt den Beruf des Kenners oder Diagnostikers, wenn er sich darauf beschränkt, schon vorformulierte Regeln in der Praxis anzuwenden. Bei diesem Wissenstyp spielen unwägbare Elemente, spielen Imponderabilien eine Rolle: Spürsinn, Augenmaß und Intuition.«28

27 Ginzburg, Carlo: »Spurensicherung: Der Jäger entziffert die Fährte. Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst«. In: ders.: Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis, München 1988, S. 78-124; vgl. besonders S. 116ff. 28 Ebd.

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Ginzburg sieht diesen Wissenstyp im Besitz »der Jäger, der Seeleute, der Frauen«. Jedenfalls verbindet er rationale, wissenschaftliche Methoden des Vergleichs – etwa die Fingerabdruckmethode – mit eher emotionalen Formen der Intuition, Phantasie und Erfahrung; damit weist sich das »Indizienparadigma« als eine genuin moderne Form der Wahrheitssuche aus, die wissenschaftliches und ästhetisches, rationales und emotionales Wissen nicht trennt, sondern kombiniert. Für Kracauer muss das Verhältnis von Kunst und Geschichtsschreibung, von Fiktion und Fakten selbst als ein historisch variables bestimmt werden: Eine grundsätzliche Lösung ist nicht möglich, wohl aber Aussagen zu speziellen historischen Konstellationen, innerhalb derer zwischen Geschichtswissenschaft und Kunst produktive Interferenzen entstehen. Die Eigenschaften moderner Ästhetik – insbesondere in der Photographie und im Film, aber eben auch in der von den neuen Medien inspirierten Literatur – können etwa mit der modernen Geschichtswissenschaft solche produktiven Interferenzen hervorrufen.

IV. S CHLUSS : Z WISCHEN

DEN

K ÜNSTEN

Um hier kurz zusammenzufassen: Photographie und Geschichtsschreibung sind für Kracauer als verwandt zu denken, weil beide für Entfremdung im Sinne einer Wahrnehmungs- und Sprachkritik stehen, weil der photographische und der historische Gestus eine Art von Dekomposition von Zusammenhängen bedingen, d.h. eine »Dekonstruktion« von Kontinuität, Kausalität, Motivation, Zwecken und Funktionen bewirken. Sie interferieren aber auch, weil beide versuchen müssen, eine nicht reduzierte, hoch kontingente Form von Realität zu repräsentieren, die lebensweltlicher Pragmatik nur entfernt gleicht – beide fordern damit einen Habitus, der neben der ethischen Verpflichtung des Wissenschaftlers auch eine Entscheidung für moderne und gegen jede Art von idealistischer Ästhetik impliziert. Offenbar sind sie beide Wissensformationen, die mit »elastischer Härte« operieren, die Technik des Spurenlesens befördern und ohne ein gewisses Stilgefühl keine Ergebnisse liefern. Die spezielle Kritik an jeder Form von – philosophischem und ästhetischem – Idealismus ist Kracauer immer ein besonderes Anliegen gewesen: der letzte Rest an Idealität, der jedem traditionellen Kunstwerk als »Werk« im Sinne des »So-Gewollten« eigen ist, sei im Photo getilgt.29 Die neue Kunst hat mit der Vorstellung vom Werk auch die von Ganzheit verabschie-

29 Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 1976, z.B. S. 85.

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det, gegenüber ihrer Umwelt zeigt sie keine systemische Abgeschlossenheit, sondern »Durchlässigkeit«. Durchlässigkeit meint hier, »sie müssen Zufallsmanifestationen durchlassen«.30 Für Kracauer sind Filme und Photographie mit einem logozentrischen Weltbild nicht kompatibel. Überall hängen »lose Enden«, die nie zu einem roten Faden verarbeitet werden können und es auch nicht müssen. »Da die Konfigurationen des Zufalls fragmentarisch sind, neigt Photographie des Weiteren dazu, an Endlosigkeit denken zulassen. Eine genuine Photographie schließt Vollständigkeit aus. Ihr Ausschnitt bezeichnet eine vorläufige Grenze; ihr Inhalt deutet über jenen Ausschnitt hinaus und verweist auf eine Mannigfaltigkeit von Erscheinungen des wirklichen Lebens, die in ihrer Ganzheit unmöglich zu erfassen sind.«31

Photographie und Geschichte sind nicht im gewöhnlichen Sinne Repräsentationen von etwas, sondern in einer spezifischen Weise mehr noch Verweise auf etwas, was nicht »da« ist. Dabei handelt es sich bei Kracauer keineswegs um eine Philosophie des Verschweigens oder der Unsagbarkeit. »Die Welt übersteigt unsere geistigen Fähigkeiten auf eine mal erstaunliche und mal erschreckende Weise […] wir können uns weder theoretisch noch ästhetisch die Beruhigung verschaffen, daß alles, was es gibt, in unsrer oder sonst einer Ordnung ist.«32

Der Verzicht auf Letztbegründung ist daher eine »Unterlassungstugend«33 und keine Resignation. »Die phänomenale Präsenz von Objekten und Ereignissen übersteigt das Vermögen ihrer deskriptiven Erfassung […].«34 Die Aufgabe von Kunst – und Geschichtsschreibung – ist dabei nicht, das Unsagbare zu beschwören, sondern vielmehr, das Ungesagte und Ungezeigte als ein potentiell Sagbares in Erinnerung zu rufen, die Indizien zu sammeln und zu sichten. Anders als etwa Walter Benjamin oder Robert Musil gerät Kracauer dabei nicht in Gefahr, dieses Unverfügbare, an dem er festhält, zu

30 Ebd. 31 Ebd. Daher auch Kracauers Vorschlag, »uns auf Großaufnahmen zu konzentrieren und von ihnen aus gelegentlich auf das Ganze zu schwenken, um es in Form von Aperçus zu bewerten.« (Siegfried Kracauer: Geschichte – Vor den letzten Dingen, S. 148.F) 32 Martin Seel: »Wie phänomenal ist die Welt?« In : ders.: Paradoxien der Erfüllung. Philosophische Essays, Frankfurt a.M. 2006, S. 171-189, hier S. 189. 33 Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1983, S. 940. 34 Martin Seel, Wie phänomenal ist die Welt?, S.186.

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mystifizieren.35 Er gehört keineswegs zu denen, die glauben »nur das Unsagbare sei der Worte wert«36. Es gelingt Kracauer vielmehr, einen konstruktivistischen Ansatz so mit der Idee eines Hyperrealismus moderner Medienästhetik zusammenzudenken, dass zwar kein kohärentes System – das hätte er als unangemessene Struktur verworfen – aber eine ungewöhnlich produktive Spannung entsteht.

35 »Die Einsicht, daß Machbarkeit strukturelle Grenzen hat, hat seit ihrer Verbreitung durch die Aufklärung den gegenaufklärerischen Ton verloren und mündet keineswegs zwangsläufig in schadenfrohe Ohnmachtsphantasien.« Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft, S. 940. 36 Vgl. Richard Rorty: Die Schönheit, die Erhabenheit und die Gemeinschaft der Philosophen, Frankfurt a.M. 2000, S. 38.

Jean Cocteau H ARALD N EUMEYER (B AYREUTH )

»Wohin mit Cocteau?«1 fragt Jochen Poetter anlässlich einer Ausstellung zu Leben und Werk Jean Cocteaus in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden, um verschiedene Varianten einer Antwort durchzuspielen: Zu den Literaten wegen seiner Gedichte und Romane, zu den Theatermachern aufgrund seiner Dramen und Ballette, zu den Filmautoren wie -regisseuren wegen seiner Drehbücher und Filme und/oder zu den bildenden Künstlern aufgrund seiner Gemälde, Zeichnungen, Lithographien und »Materialbilder«.2 Sieht man von der Musik ab, hat sich Cocteau in fast allen Kunstformen betätigt. Den Anfang machen die Gedichtbände La Lampe d’Aladin und Le Prince frivole aus den Jahren 1909/10, die er später von der Liste seiner Werke streicht, das Prosawerk Le Potomak, das er 1913 beginnt und mit dem er hinfort sein Œuvre anheben lässt,3 die 1914 in der von ihm mitbegründeten Zeitschrift Le Mot publizierten Zeichnungen und das zusammen mit Erik Satie und Pablo Picasso entworfene, 1917 uraufgeführte Ballett Parade. Wirft man einen Blick auf die weitere Entwicklung Cocteaus, so fallen zwei Aspekte auf. Zum einen ist seine künstlerische Produktion bis zu seinem Tod im Jahre 1963 von der Arbeit für die Bühne – 1959 entstand das Ballett Le Poète et sa muse, 1962 das Theaterstück L’impromptu du Palais-Royal – und durch die Abfassung von Gedichten – 1962 erschien der Gedichtband Le Requiem – gekennzeichnet. Zum anderen tritt die fiktionale Prosa – nach der Veröffent-

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Jochen Poetter: »Ein Dichter steht mit beiden Beinen im Himmel«, in: ders. (Hrsg.): Jean Cocteau. Gemälde. Zeichnungen. Keramik. Tapisserien. Literatur. Theater. Film. Ballett, Köln 1989, S. 10-16, S. 10. William A. Emboden: Jean Cocteau. Die visuelle Kunst, Stuttgart, Zürich 1989, S. 43. Vgl. Reinhardt Schmidt: »Leben und Werk Jean Cocteaus«, in: Jean Cocteau: Werkausgabe in zwölf Bänden, hrsg. von Reinhard Schmidt, Frankfurt a.M. 1988, Bd. 1, S. 238-248, S. 239.

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lichung der Hauptwerke Le Grand Écart (1923), Thomas l’imposteur (1923), Le Livre blanc (1928) und Les Enfants terribles (1929) – vollständig hinter den Bildenden Künsten und dem Film zurück. Die Beschäftigung mit den Bildenden Künsten setzt verstärkt ab der Mitte der 1920er Jahre ein: Cocteau veröffentlicht eine Serie von Selbstporträts unter dem Titel Le mystére de Jean l’Oiseleur (1925), illustriert seine Prosatexte Le Grand Écart (1926) und Thomas L’imposteur (1927) und organisiert eine Ausstellung seiner »Materialbilder« in der Galerie des Quatre Chemins (1926). Die Beschäftigung mit dem Film hebt 1930 mit Le Sang d’un poète an und mündet nach den Filmen La Belle et la Bête (1946) und Orphée (1950) sowie mehreren Verfilmungen von Theaterstücken in das künstlerische Vermächtnis Le Testament d’Orphée (1960).4 Diese Hinwendung zu visualisierenden Gestaltungsformen findet eine zusätzliche Ausweitung, als Cocteau 1948 seine erste Tapisserie Judith et Holophernes anfertigt,5 unter anderem 1950/51 die Villa Santo Sospir sowie 1956/57 den Trauungssaal des Rathauses von Menton ausmalt6 und schließlich 1958 in einer Ausstellung in Villefranche-surMer seine Keramikarbeiten der Öffentlichkeit präsentiert.7

I. DAS KUNSTPROGRAMM »Wohin also mit Cocteau«, mit einem Künstler, der in einem solchen breit gefächerten Spektrum Intermedialität8 praktiziert? Oder anders formuliert, um die Frage nach einem Etikett durch die nach der Motivation zu ersetzen: Was bringt einen Künstler dazu, in fast allen Bereichen der Kunst tätig zu sein? Cocteau war selbst mit der Irritation über die von ihm praktizierte Intermedialität konfrontiert. In der kunsttheoretischen Schrift La Difficulté d’être aus dem Jahre 1947, die sich rückblickend vor allem mit der eigenen Kunstproduktion auseinandersetzt, vermerkt er:

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Vgl. hierzu James S. Williams: Jean Cocteau, Manchester, New York 2006 Vgl. Karin Thönnissen: »Die Tapisserien von Jean Cocteau«, in: Poetter (Hrsg.): Cocteau, S. 330-332. Vgl. zum Trauungssaal Emboden: Cocteau, S. 81f. Vgl. Phillippe Madeline-Jolly: »Jean Cocteau und sein keramisches Werk«, in: Poetter (Hrsg.): Cocteau, S. 322-329. Zur neueren Theorie der Intermedialität vgl. vor allem Jörg Helbig: »Intermedialität – eine spezifische Form des Medienkontakts oder globaler Oberbegriff«, in: Jürgen E. Müller (Hrsg.): Media Encounters and Media Theories, Münster 2008, S. 77-85; Joachim Paech: »Intermedialität als Methode und Verfahren«, in: Müller (Hrsg.): Media Encounters, S. 57-75

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»Warum schreiben Sie Stücke? So fragt mich der Romanschreiber. Warum schreiben Sie Romane? So fragt mich der Dramatiker. Warum drehen Sie Filme? So fragt mich der Dichter. Warum zeichnen Sie? So fragt mich der Kritiker. Warum schreiben Sie? So fragt mich der Zeichner. Ja, warum eigentlich? So frage ich mich selbst.«9

Zwei Antworten gibt Cocteau. Zum einen sei er von einem »Geist« beseelt, der »sich aussagen [will]«.10 Damit begründet er seine intermediale Tätigkeit über ein Artikulationsbedürfnis, das weder auf nur ein Medium zu konzentrieren noch in nur einem Medium zu kanalisieren ist.11 Zum anderen ziele er darauf, dass »[s]ein Saatkorn überallhin fällt«.12 Damit motiviert er seine Beschäftigung mit mehreren Medien aus dem Wunsch, sich in allen Formen der Kunst fortzupflanzen. Beide Antworten erfahren indes eine Ergänzung. Mit Blick auf das Mitteilungsbedürfnis sieht sich Cocteau – unabhängig davon, in welchem Medium er arbeitet – selbst als ein Medium: »Ich werde niemals mein eigener Herr und Meister sein. Ich bin zum Gehorchen geschaffen. Auch von diesen Zeilen, die ich hier hinschreibe, wusste ich vor einer Woche noch nicht, dass ich sie heute zu schreiben habe.«13 Mit Blick auf den Fortpflanzungswunsch nimmt Cocteau eine Konkretisierung vor, die seine Kunstproduktion in dem tradierten Bildfeld von Geburt und Zeugung situiert:14 »Der Zeugungsinstinkt treibt den Dichter an, sein Korn weit über seine Grenzen hinaus zu säen.«15 »Die Lust«, die »die Gattung dazubringt, sich fortzupflanzen«, wird bei demjenigen, der »wie ein Mönch«16 lebt, verschoben in der Hervorbringung von Kunstwerken ausagiert und darin zugleich sublimiert. Der Homosexuelle Cocteau, für den eine Reproduktion der Gattung ohnehin nur um den Preis eines Verrats an der eigenen Begehrensstruktur möglich ist, zeugt sich in seiner Medien übergreifenden Kunsttä-

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Jean Cocteau: »Die Schwierigkeit, zu sein«, in: ders.: Werkausgabe, Bd. 11, S. 61. Ebd. Zum hier verwendeten Begriff des Mediums, der auch die Künste mit einbezieht und nicht die Differenz zwischen den Medien als technischen Apparaten der Datenübertragung und den Künsten als handwerkliche Praxis akzentuiert, vgl. Werner Wolf: »Intermedialität: Ein weites Feld und eine Herausforderung für die Literaturwissenschaft«, in: Herbert Foltinek, Christoph Leitgeb (Hrsg.): Literaturwissenschaft: intermedial – interdisziplinär, Wien 2002, S. 163-192, S. 165. Cocteau: »Die Schwierigkeit, zu sein«, S. 61. Ebd., S. 63. Vgl. Christian Begemann: »Gebären«, in: Ralf Konersmann (Hrsg.): Wörterbuch der philosophischen Metaphern, Darmstadt 2007, S. 121-134. Cocteau: »Die Schwierigkeit, zu sein«, S. 195. Ebd., S. 202f.

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tigkeit fort. Mehr noch: Er findet in der von ihm praktizierten Intermedialität die einzig adäquate Form einer Reproduktion seiner selbst, seines »Geistes«. Mit dieser Herleitung der intermedialen Produktion aus der Sexualität des Produzenten bleibt jedoch die Frage nach dem Wechselspiel zwischen den einzelnen Medien offen. Cocteau scheint hier eine klare Grenze zu ziehen: »Strebt unser Tätigsein nach verschiedenen Seiten, dann ist wichtig, dass wir die einzelnen Bemühungen nicht miteinander vermischen. Ich entscheide mich nie für ein Tätigkeitsfeld, ohne mich von allen anderen zu trennen.«17 Als Grund für diese Trennung der Medien im Moment der künstlerischen Arbeit führt Cocteau deren spezifischen Eigenschaften wie Verfahren an, argumentiert also medienästhetisch. So berichtet er, dass er während des Zusammenschnitts von La Belle et la Bête sich nicht auf die Inszenierung seines Dramas Les Parents terribles konzentrieren konnte, da beide Medien unterschiedliche Anforderungen stellen: Der Film verlangt die Auseinandersetzung mit einer Sprache, die »optisch ist«, das Drama die Auseinandersetzung mit »einem ortsgebundenen Text«.18 Doch impliziert diese strenge Trennung auch, dass sich die Beschäftigung mit dem einen Medium nicht in der mit einem anderen niederschlägt? Dazu später mehr! Ob Cocteau schreibt oder zeichnet, für die Bühne inszeniert oder einen Film dreht, in allen Fällen zielt seine Kunstproduktion auf eine Wirkung – auf die Evokation eines Wunderbaren.19 Im 1922 verfassten Vorwort zu den im Jahr zuvor uraufgeführten Les Mariés de la tour Eiffel spricht Cocteau vom »Wunder des Alltagsleben«,20 das er in seiner Kunst hervorzubringen beabsichtigt. In La Difficulté d’être konkretisiert er das zu erzielende Wunderbare wie folgt: »Es ist das, was uns hinaushebt über die Grenzen, in den wir leben müssen«.21 Das Wunderbare ergibt sich also aus einer Übertretung der Grenzen, die durch die Alltagswirklichkeit gezogen sind – durch das Gesetz der Kausalität, durch die distinkte Wahrnehmung von Raum wie Zeit und durch die funktional bestimmte Einordnung der Phänomene. Dadurch avanciert es zum »ganz und gar diesseitigen Mirakel, das in einer nicht analysierbaren Ungewöhnlichkeit besteht, die es den Dingen und Wesen ver-

17 Ebd., S. 61. 18 Ebd., S. 62. 19 Ähnlich – ohne Berücksichtigung des konstruktiven Moments – formuliert Reinhard Schmidt: »Einige Bemerkungen zur Ästhetik Jean Cocteaus«, in: Cocteau: Werkausgabe, Bd. 1, S. 229-237, S. 230: »Cocteau will das Wunderbare in der Welt entdecken.« 20 Jean Cocteau: »Die Hochzeit auf dem Eiffelturm«, in: ders.: Werkausgabe, Bd. 4, S. 9-53, S. 12. 21 Cocteau: »Die Schwierigkeit, zu sein«, S. 71.

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leiht«,22 und bildet »eine Bresche«,23 eine Störung in der Normalwahrnehmung, einen Riss im Erwartungshorizont, ein Nicht-Alltägliches im Alltag. Wie jedoch lassen sich die Grenzen, die die Wirklichkeit setzt, überschreiten? Durch eine Produktionstechnik, die auf die écriture automatique der Surrealisten verweist.24 Sie besteht darin, »sich bei wachem Bewußtsein des Traumablaufs« zu bedienen, um in eine »Art von Halbschlaf« zu fallen, »die den ungebundenen Erinnerungen dazu verhilft, sich zu entfalten, zu kombinieren, zu verknüpfen und ihr Aussehen zu verändern, bis sie, unabhängig von unserem Bewusstsein, Gestalt annehmen und uns zum Rätsel werden«.25 In einem Zustand zwischen Bewusstem und Unbewussten, unter Ausschaltung des Verstandes als regulativer Instanz werden den Vorstellungen freien Lauf gelassen, so dass sie – assoziativ, aleatorisch und kontingent – eine Wirklichkeit schaffen, die als »Rätsel«, als »nicht analysierbare Ungewöhnlichkeit«, als Bruch mit der Realität erscheint. Sein Kunstprogramm hat Cocteau bereits sehr früh in dem 1921 erschienen Gedichtband Poésies realisiert, der die lyrische Produktion von 1917 bis 1920 versammelt. Das Gedicht Ascenseur etwa beschreibt den alltäglichen Gegenstand eines Fahrstuhls in einer Reihe entstellender Bezüge wie Perspektiven, die ihn vollständig aus seiner gewöhnlichen Wahrnehmung herausnehmen. So wird er mit einem »Gabriel artificiel«, der vom Himmel herabstürzt, und mit einem »mât de hune«, der vom Mondlicht eingeölt ist, verglichen, um ihn schließlich als »ascenseur extraordinaire« zu qualifizieren.26 In dem Gedicht Le Printemps au fond de la mer, das im Titel die Schilderung eines Meeresgrunds suggeriert, verdichten zunächst die Bilder von »corail« und »éponges«, von »sable« und »poissons« die Vorstellung von einer Meereslandschaft, um dann in den letzten beiden Sätzen den Erwartungshorizont des Lesers aufzubrechen: »Un panache de globules gazouille dans le coin. Il s’échappe du petit robinet qui chance l’eau salée.«27 Das versprochene Meer entpuppt sich als Aquarium, was im Umkehrschluss heißt, dass der Alltagsgegenstand eines Aquariums derart verfremdet wird, dass es als geheimnisvolle Tiefsee erscheint. Bei dieser Evokation des Wun-

22 Ebd., S. 73. 23 Ebd., S. 74. 24 Zur écriture automatique vgl. u.a. André Breton: »Manifeste du surréalisme«, in: ders.: Manifestes du surréalisme, Paris 1972, S. 13-55. Zu Cocteaus Bezug zum Surrealismus vgl. Dirk Teuber: »Das Mysterium vom Vogelfänger«, in: Poetter (Hrsg.): Cocteau, S. 283-306, S. 299f. 25 Cocteau: »Die Schwierigkeit, zu sein«, S. 72. 26 Jean Cocteau: »Ascenseur«, in: ders.: Werkausgabe, Bd. 7, S. 26-29, S. 26. 27 Jean Cocteau: »Le printemps au fond de la mer«, in: ders.: Werkausgabe, Bd. 7, S. 54f., S. 54.

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derbaren spielt die Arbeit mit der Sprache eine zentrale Rolle. Ascenseur z.B. spricht von der Süße einer Fahrstuhlfahrt und vergleicht dieses Gefühl mit einem Masseur. Eine solche Ausweitung der Bildlichkeit verdankt sich keinen nachvollziehbaren Analogien, wie es bei den Vergleichen des sich in der Horizontalen bewegenden Fahrstuhls mit dem vom Himmel stürzenden Engel und mit einem sich zum Mond erhebenden Schiffsmast der Fall ist. Sie resultiert allein aus dem akustischen Assoziationsspiel mit dem Material der Sprache, mit den sich im Französischen reimenden Worten »ascenseur«, »douceur« und »masseur«.28 Cocteaus Wunderbares, das der Künstler durch die Versetzung in eine »Art von Halbschlaf« zu generieren und durch Präsentationstechniken der Verfremdung wie Entstellung zu evozieren hat, stellt also eine Grenzüberschreitung dar. Ein solches Wunderbares kann nach Cocteau jedes Medium darstellen: »Dem Wunderbaren, so wie ich es sehe, kann sich die Lichtspielkunst recht wohl verbinden, sofern sie nicht zu erzeugen vorgibt und sich mit der Rolle des Vehikels begnügt.«29 Darüber hinaus jedoch vermögen Medien selbst Grenzen aufzulösen. Dementsprechend vermerkt Cocteau bezüglich des Balletts, »dass es alle Sprachen spricht und dass es zwischen uns und jenen, die eine andere Sprache reden als wir, die Schranken niederlegt«.30 Zudem können bei der künstlerischen Arbeit sowohl die tradierten Grenzen der Kunstproduktion in einem Medium als auch die etablierten Grenzen zwischen den Medien überschritten werden, indem man neue Verfahren zum Einsatz bringt bzw. medienspezifische Techniken transponiert. So scheren Cocteaus Keramikarbeiten aufgrund der sparsamen Verwendung der Glasur31 ebenso aus dem ästhetischen Erwartungshorizont aus wie eine Reihe seiner Gemälde aufgrund des Verzichts auf den Schlussfirnis.32 Und so notiert Cocteau hinsichtlich seines 1946 uraufgeführten Theaterstücks Le Jeune Homme et la Mort: »Ist […] [es] ein Ballett? Nein. Es handelt sich um ein Mimodrama, bei dem die Pantomime sich so übersteigert, dass sie Tanz wird. Es ist ein stummes Spiel, in dem ich mich bemühe, die Ausdruckskraft von Worten und Schreien auf die Gestik zu übertragen. Das Wort ist in die Körpersprache übersetzt.«33

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Cocteau: »Ascenseur«, S. 26. Cocteau: »Die Schwierigkeit, zu sein«, S. 74. Ebd., S. 222. Vgl. Madeline-Jolly: »Jean Cocteau und sein keramisches Werk«, S. 326. Vgl. Emboden: Cocteau, S. 64. Cocteau: »Die Schwierigkeit, zu sein«, S. 225f.

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Schließlich vermag gar die Betätigung in einem Medium zu einer Grenzübertretung zu avancieren, wenn sie mit einer Auflösung der Normalwahrnehmung einhergeht: »Ich habe zu malen angefangen, weil ich merkte, wie die Tätigkeit des Malens uns derart aus uns hinaus versetzt, dass sie uns betäubt und uns für alles, was nicht das Bild ist, völlig unempfindlich macht.«34 In diesem fortgesetzten Spiel mit Grenzen – mit den Grenzen der Wirklichkeit, mit den Grenzen der eigenen Künstlerschaft, mit den Grenzen eines Mediums, mit den Grenzen zwischen den Medien – liegt ein weiterer Grund für die von Cocteau exzessiv praktizierte Intermedialität. Berücksichtigt man ferner, dass Cocteaus Kunst auch thematisch um die Überschreitung von Grenzen kreist – der Grenze der Geschlechter (u.a im Kunstessay Le Numéro Barbette sowie in den Prosatexten Le Livre blanc und Le Fantôme de Marseille), der Grenze zwischen Leben und Tod (u.a. in Le Sang d’un poète und im Orphée-Drama wie -Film), der Grenze zwischen Realität und Fiktion (u.a. in Parade, Les Mariés de la tour Eiffel und Thomas l’imposteur) –, dann erweist sich seine Kunst inhaltlich wie formal, produktions- wie rezeptionsästhetisch als ein permanenter Grenzgang zwischen kulturhistorisch geschiedenen Ordnungen und kunsttheoretisch getrennten Medien.

II. INSTRUMENTALISIERUNG UND/ODER FREISETZUNG DER MEDIEN Cocteaus Aussage im Vorwort zu Les Mariés, dass durch sein zwischen Tanz- und Sprechtheater changierendes Stück35 eine neue Theatergattung entsteht, die ihm »der plastische Ausdruck der Poesie ist«,36 lässt eine Deutung im engen Sinne von Poesie zu. Danach geht es für Cocteau in den Medien, die vor allem bzw. auch – die Bildende Kunst, das Theater und der Film – visuell arbeiten, um die Umsetzung des Programms, das er in den Poésies praktiziert: Sie alle sollen ein »Wunder des Alltagslebens« generieren, indem sie die alltägliche Gegenstände verfremden und die gewohnten Wahrnehmungsmechanismen suspendieren. Sie alle fungieren damit, wie dies Cocteau explizit mit Blick auf den Film in La Difficulté d’être formuliert, als »Vehikel« zur Evokation eines Wunderbaren. Ganz offensichtlich folgen die »Materialbilder« Cocteaus diesem ästhetischen Programm. Im Ausschneiden und Zusammenkleben, im Bemalen und

34 Jean Cocteau: »Der Lebensweg eines Dichters«, in: ders.: Werkausgabe, Bd. 12, S. 125-178, S. 142. 35 Vgl. Erik Aschengreen: »Der körperlose Flug der Träume – Jean Cocteau der Tanz«, in: Poetter (Hrsg.): Cocteau, S. 165-198, S.167. 36 Cocteau: »Die Hochzeit auf dem Eiffelturm«, S. 18.

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Formen von Papier, Stoff und Plastik, von Nägeln, Teigwaren und Zucker werden am konkreten Gegenstand und dessen überraschender Kombination mit anderen Gegenständen die »Wunder des Alltagslebens« sichtbar gemacht. Konsequent versieht Cocteau den Ausstellungskatalog mit dem Titel Poésie-plastique.37 Auch das Orphée-Drama und der Orphée-Film praktizieren die Visualisierung eines Wunderbaren, wenn man die von Cocteau in den Kostümen sowie in der raum-zeitlichen Situierung vorgenommenen Aktualisierungen38 nicht in der Weise versteht, dass sie einer Wiedervergegenwärtigung des Mythos dienen, sondern in der, dass sie den gegenwärtigen Alltag auf eine mythische Dimension hin, auf die Grenzübertretung von Leben und Tod, transparent werden lassen. Der Evokation eines Wunderbaren arbeiten gleichfalls Les Mariés zu. Das ganze Stück schreibt sich aus dem Wörtlichnehmen einer Metapher her,39 worauf der Photograph im Stück selbst verweist: »Stellen Sie sich vor, mein Photoapparat hat einen Defekt. Normalerweise, wenn ich sage: ‚Nicht mehr bewegen, gleich kommt ein Vögelchen raus’, kommt auch so ein kleines Vögelchen heraus. Heute morgen sage ich zu einer Dame: ‚Gleich kommt ein Vögelchen raus’, und ein Vogel Strauß kommt heraus. Jetzt suche ich den Strauß, er soll wieder in den Apparat zurück.«40

Jedes Mal, wenn der Photograph die auf dem Eiffelturm versammelte Hochzeitsgesellschaft photographieren möchte, treten aus dem Photoapparat, dessen Objektiv durch eine »Tür«41 und dessen Dunkelkammer durch einen »Gang, der in die Kulisse führt« dargestellt sind, neue Lebewesen hervor. Der »Defekt« des Photoapparats – anstatt Leben in Bildern zu bannen, Bilder ins Leben zu entlassen – macht die Plattform des Eiffelturms zu jenem Ort, an dem ein »Wunder des Alltagslebens« zur Erscheinung kommt: Die Welt der photographische Bilder dringt in die reale Welt ein, entstellt und verfremdet sie, so dass eine Badenixe mit Fangnetz und Korb einen Tanz auf-

37 Vgl. Emboden: Cocteau, S. 43f. 38 Im Drama – Jean Cocteau: »Orpheus«, in: ders.: Werkausgabe, Bd. 4, S. 55-145, S. 59 – tragen die Personen »das Kostüm der Zeit […], also: der Gegenwart«. Der Film – vgl. Jean Cocteau: »Orphée«, in: ders.: Werkausgabe, Bd. 8, S. 175-298, S. 185, S. 190-198, S. 201f., S. 221-224 u.ö.– beginnt in einem Café, lässt Autos und Motorräder vorbeirasen und immer wieder das Radio ertönen. 39 Vgl. Helmut Siepmann: »Poetik und Poesie des Theaters bei Cocteau«, in: Poetter (Hrsg.): Cocteau, S. 121-128, S. 122; Reinhard Schmidt: »Nachwort«, in: Cocteau: Werkausgabe, Bd. 4, S. 303-321, S. 309. 40 Cocteau: »Die Hochzeit auf dem Eiffelturm«, S. 26. 41 Ebd., S. 24.

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führt, ein Kind mit Bällen die Hochzeitsgesellschaft bewirft und ein Löwe einen General auffrisst. Die visuellen Medien scheinen Cocteau lediglich als »Vehikel« zu dienen, um seinem in der Lyrik entfalteten Kunstprogramm einen »plastischen Ausdruck« zu verleihen. Doch mit Blick auf Les Mariés ist auch eine andere Deutung möglich. Im Vorwort betont Cocteau nämlich: »Ich versuche also, die ›Poesie auf dem Theater‹ durch eine ›Poesie des Theaters‹ zu ersetzen.«42 Diese Äußerung opponiert einer Instrumentalisierung des Theaters. Vielmehr fordert sie eine Freisetzung der diesem Medium eigenen Möglichkeiten, um dadurch auch eine dem Theater genuine Poesie zur Anschauung zu bringen. Dementsprechend ist das Theater nicht der Wiedergabe eines Textes zu unterwerfen,43 sondern gilt es, die Körper der Schauspieler, deren Wirklichkeit in Pantomime und Tanz zu inszenieren sowie Kostüme und Bühnenbilder zu gestalten und mit Wirkkraft zu versehen.44 Nichts anderes macht Cocteau seit Parade. In diesem Ballett lehnt er die choreographischen Bewegungen des amerikanischen Mädchens an denen Charlie Chaplins an, um derart Bewegung als Bewegung auszustellen.45 Die beiden Manager in ihren kubistischen Kartonaufbauten erwecken den Eindruck, als lösen sie sich immer wieder aus dem Bühnenbild heraus, so dass sie zwischen ihrer Funktion als Spielfigur und ihrer Funktion als Dekoration oszillieren. Zugleich eröffnen sie dadurch ein Spiel mit Realität und Illusion,46 das auch durch das Bühnenbild dargestellt wird, insofern es Versatzstücke der Alltagswirklichkeit wie Leiter und Ball mit mythologischen Elementen wie dem meergeborenen Pegasus

42 Ebd., S. 15. 43 Konsequent betont Jean Cocteau: »Die geliebte Stimme«, in: ders.: Werkausgabe, Bd. 5, S. 9-46, S. 12, mit Blick auf La Voix humaine, es handle sich um »ein unlesbares Stück«, das »einer Schauspielerin als Vorwand dienen sollte. Das Werk soll ganz hinter ihrem Spiel verschwinden«. 44 Vgl. dazu allgemein die Aufsätze von David Gullentops, Jean Touzot, Nathalie Roelens und Suzanne Winter in: Pierre Caizergues (Hrsg.): Jean Cocteau & le théâtre, Montpellier 2000. 45 Vgl. Sebastian Goeppert, Herma C. Goeppert: Jean Cocteau & Pablo Picasso. Eine Künstlerfreundschaft, Berlin 2005, S. 38, die Abbildung der Schauspielerin Marie Chabelska. 46 Vgl. Frederick Brown: Jean Cocteau. Eine Biographie, Frankfurt a.M. 1985, S. 134f.

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Abbildung 1: »Kostüm des französischen und Kostüm des amerikanischen Managers«

kombiniert.47 Im 1920 erstmals aufgeführten Theaterstück Le Bœuf sur le toit bewegen sich die Schauspieler im extremen Gegensatz zur schnellen Musik48 und markieren damit die Wirklichkeit ihrer Körper gegenüber den Vorgaben des musikalischen Rhythmus. Die in von Parade bis Les Mariés verwendeten Masken und ausgestopften Kostüme schränken zwar das Körperspiel ein, verhandeln jedoch visuell weitere Grenzauflösungen – in den Figuren der Manager aus Parade und in den Figuren der in einer Bar versammelten Personen aus Le Bœuf sur le toit, die alle mit Pappköpfen von dreifacher natürli-

47 Vgl. das abgedruckte Bühnenbild bei Goeppert, Goeppert: Cocteau & Picasso, S. 46f. 48 Vgl. Emboden: Cocteau, S. 27

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cher Größe ausgestattet sind,49 die Grenze zwischen Mensch und Monstrum, in dem Vogel Strauß und dem Löwen in Les Mariés die Grenze zwischen Mensch und Tier. In diesem Stück gelingt Cocteau die Freisetzung der Körperwirklichkeit zweifelsohne am eindrücklichsten.50 Rechts und links im Bühnenvordergrund sind zwei Schauspieler in einem Kasten platziert, die auf der Höhe ihres Mundes einen Schalltrichter vor sich haben: »Diese beiden Phonographen kommentieren das Stück und tragen die verschiedenen Rollen vor.«51 Der Text wird damit von den Schauspielern, die innerhalb der vorgestellten Handlung agieren, abgekoppelt und auf die beiden Schauspieler übertragen, die im Verborgenen als Phonographen fungieren. Dadurch sind alle anderen Schauspieler in die Lage versetzt, ausschließlich ihre Bühnenwirklichkeit zur Anschauung zu bringen – ihren Körper, ihre Bewegungen, ihre Masken, ihre Kostüme. Cocteau ist es also um eine Freisetzung der Möglichkeiten des Theaters zu tun und erst in der Folge dieser Freisetzung um die Evokation eines »Wunders im Alltagsleben« mit den dem Theater eigenen Darstellungsverfahren. Doch gilt dies auch für die anderen angesprochenen, primär visuellen Medien der Bildenden Kunst und des Kinos? Die meisten Zeichnungen zu seinen fiktionalen Texten – etwa die zu Le Grand Écart oder zu Les Enfants terribles – geben Szenarien und Personal der erzählten Geschichten wieder, »illustrieren« also im Wortsinne, indem sie sich den textuellen Vorgaben unterwerfen. Die 1935 für die autobiographische Studie Portraits-Souvenir angefertigten Skizzen liefern »aus dem Gedächtnis« gezeichnete Portraits der im Text erwähnten Personen, die aufgrund ihrer Reduktion auf das Visuelle als defizitär reflektiert werden: »Eine Skizze gibt nur wenig her. Ich wünschte, ich könnten ihnen Farbe und Fülle der erloschenen Stimmen vermitteln«.52 Am weitesten in der Richtung einer Freisetzung der medialen Möglichkeiten der Bildenden Kunst gehen die 1926 unter dem Titel Maison de santé und die 1930 mit dem Journal d’une désintoxication, Opium, veröffentlichten Zeichnungen. In ihnen entwirft Cocteau über ungewöhnliche Perspektiven, die durch eine nur Konturen andeutende Linienführung akzentuiert werden, unmögliche Welten, in denen die Körper zerstückelt und die Körperproportionen verzerrt sind.53 So halten die dargestellten Figuren Her-

49 50 51 52

Vgl. Aschengreen: »Der körperlose Flug der Träume«, S. 167. Vgl. Schmidt: »Nachwort«, in: Cocteau: Werkausgabe, Bd. 4, S. 311. Cocteau: »Die Hochzeit auf dem Eiffelturm«, S. 24. Jean Cocteau: »Die Farben der Erinnerung«, in: ders.: Werkausgabe, Bd. 12, S. 9122, S. 86. 53 Von den Buchillustrationen Cocteaus schließen an diese Ästhetik – wenn auch in moderater Form – einzig die Zeichnungen zu Le Livre blanc an. Vgl. die Abbil-

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zen in den Mündern, sind der Länge nach gespalten, an Armen wie Beinen amputiert und haben überdimensionierte Köpfe, aus denen die Ohren, Lippen oder Augen hervorstehen. Doch diese unwirkliche Wirklichkeit, die allein auf dem Blatt Papier zu sichtbarer Realität werden kann, erweist sich gleichfalls als eine Illustration, nämlich des Opiumrausches, der, wie Cocteau in seinem Journal programmatisch betont, unsichtbare Welten sichtbar macht54 und »dem Formlosen Form«55 gibt. Dass die Bildende Kunst bei Cocteau demnach weitestgehend als »Vehikel« fungiert, veranschaulichen zudem die Zeichnungen, Lithographien und Gemälde, die schon behandelte Inhalte noch einmal darstellen.56 Abbildung 2: Zeichnung von 1928 aufgenommen in der französischen Erstausgabe von Opium. Journal d’une désintoxication

dungen in: Jean Cocteau: »Das Weißbuch«, in: ders.: Werkausgabe, Bd. 1, S. 139209, S. 193-209. 54 Jean Cocteau: »Opium«, in: ders.: Werkausgabe, Bd. 10, S. 128f. 55 Ebd., S. 132. 56 Zu Zeichnungen und Lithographien vgl. Emboden: Cocteau, S. 81. Zu den Gemälden, in denen Cocteau ab den 1950er Jahren vor allem die mythologischen Stoffe von Ödipus bis Orpheus darstellt, vgl. Geneviève Albrechtskirchinger: »Klassische Mythen im Werk Jean Cocteaus«, in: Poetter (Hrsg.): Cocteau, S. 310-321.

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Doch auch Theater und Film greifen bereits erörterte Themen, Motive57 und Stoffe58 auf, so dass sie gleichfalls als bloßes Instrument der Visualisierung erscheinen. Einer dieser Themenkomplexe ist der Tod. Auf seine frühe narrative Darstellung in Thomas l’imposteur folgt seine szenische Entfaltung im Drama Orphée, folgt seine erzählerische Präsentation in Les Enfants terrible, folgt seine filmische Gestaltung in Le Sang d’un poète. Dabei arbeiten die Prosatexte mit einer auktorialen Erzählinstanz, die durchgängig ein »Wunder des Alltagslebens« ins Zentrum der Narration rückt. Der Erzähler in Thomas l’imposteur betont mit Blick auf die Lügnereien seines Titelhelden, der sich für den Neffen eines adeligen Generals ausgibt, dass diese sich einer von einer »Fee« erteilten »Gabe«59 verdanken. Diese »Gabe« entzückt nicht nur sein Umfeld: »Er berührte in jedem seiner Zuhörer das Kind«.60 Sie verzaubert auch Guillaume Thomas, der »völlig eins mit seiner Legende« wird.61 Die Schwindelei entführt letztlich alle in die Welt des Kindes, in der Wahrheit und Lüge nicht geschieden sind. Der Erzähler in Les Enfants terribles hebt hervor, dass die Geschwister Paul und Elisabeth ganz im Zauberreich der Kindheit leben. Dieses ist durch magische Verwandlungen und halbbewusste Zustände gekennzeichnet, in denen die Alltagswirklichkeit suspendiert ist.62 In beiden Prosatexten deutet der auktoriale Erzähler sodann den Tod der Protagonisten im Kontext des von ihm zuvor evozierten Wunderbaren. Den Tod von Guillaume Thomas versteht er als Rückkehr in die Kindheit: »Das Kind und das Zauberreich werden eines.«63 Und den Tod von Elisabeth und Paul bewertet er als Einkehr in eine Welt der aufgehobenen Normen: »Nur wenige Augenblicke des Mutes noch und sie werden dort angelangt sein, […] wo man keinen Inzest mehr kennt.«64

57 Vgl. das Motiv des Spiegels, das zunächst in Le Grand Écart auftaucht, um dann im Orphée-Drama, in Le Sang d’un poète und im Orphée-Film eingesetzt zu werden. 58 Vgl. den Ödipus-Mythos, den Cocteau vor seiner Dramatisierung in La Machine infernale in den Gedichten Par lui-même und L’Oracle behandelt, und den Orpheus-Stoff, den Cocteau vor seiner Verfilmung in dem Gedicht Eurydice, in der Feder- und Tuschzeichnung Orphée und Eurydice und im gleichnamigen Drama darstellt. 59 Jean Cocteau: »Thomas der Schwindler«, in: ders.: Werkausgabe, Bd. 2, S. 9-136, S. 55. 60 Ebd., S. 56. 61 Ebd., S. 55. 62 Vgl. Jean Cocteau: »Kinder der Nacht«, in: ders.: Werkausgabe, Bd. 3, S. 12, S. 26. 63 Cocteau: »Thomas der Schwindler«, S. 128. 64 Cocteau: »Kinder der Nacht«, S. 161.

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In der Prosa bedarf es also einer Erzählinstanz, die kommentierend eingreift, um den Tod als Grenzübertretung zu akzentuieren. Damit jedoch behauptet der Erzähler etwas, was er mit seinen narrativen Mitteln nicht anschaulich machen kann. Genau darin liegt die zentrale mediale Differenz, die sich bei der Behandlung des gleichen Themas zwischen Prosa und Drama wie Film auftut. Was der Erzähler in Thomas l’imposteur und Les Enfants terribles lediglich suggeriert, vermögen die visuellen Medien zu zeigen. Durch einen Spiegel, der die Grenze zwischen Leben und Tod markiert, betreten in der letzten Szene von Orphée die durch den Blick des Orpheus zum zweiten Mal getötete Eurydike und der im Ansturm der Bacchantinen enthauptete Orpheus wieder ihr Haus, um sich neuerlich den Ritualen des Alltagslebens zu widmen: Sie setzen sich an den Tisch, sprechen ein Dankesgebet und trinken Wein.65 Durch ein Schlüsselloch betrachtet ein Dichter, Protagonist in Le Sang d’un poète, ein Erschießungskommando, bei dem sich die in Naheinstellung gefilmten Gewehrläufe auf einen Mexikaner richten: Kaum werden die Gewehre abgefeuert, »fällt« er; »kaum ist er gefallen, richtet er sich wieder auf«.66 Das Wunder, dass der Tod kein Tod ist, wird im Drama wie im Film durch die Bewegung der Körper vorgeführt und im Film durch die Technik des Schnittes hergestellt, da die Schüsse erst gezeigt werden, nachdem die Kamera die Gewehre und nicht mehr die Person fokussiert, auf die die Waffen angelegt sind. Film und Drama stellen also Körper zur Schau und setzen sie in Bewegung. Dadurch betreiben beide Medien eine Dynamisierung der von Cocteau für seine »Materialbilder« reklamierten poésie-plastique. Aufgrund der ihnen eigenen Darstellungsformen evozieren sie zudem ein anderes »Wunder des Alltagslebens« als die Prosatexte – das Wunder, dass die Grenze zwischen Leben und Tod nach beiden Seiten hin überschreitbar ist. Mit Blick auf die Möglichkeiten von Drama und Film, die etablierten Wahrnehmungsmodi zu suspendieren und Grenzen aufzulösen, ist es nur konsequent, wenn Cocteau ab den 1930er Jahren seine Romanproduktion einstellt und die Prosa für autobiographische Notizen wie ästhetische Reflexionen reserviert. Und mit Blick auf die Darstellung des Todes als eines künstlerischen Themas sind Drama und Film mehr als nur ein »Vehikel«. Cocteau speist ein und denselben Themenkomplex immer wieder in andere Medien ein, um zu erproben, welche neue Perspektiven auf den Gegenstand sich aus dem eingesetzten Medium ergeben, welche medienspezifischen Verfahren dieses für die Gestaltung bereithält und welches »Wunder des Alltagsleben« mit den genuinen

65 Vgl. Cocteau: »Orpheus«, S. 140f. 66 Jean Cocteau: »Das Blut eines Dichters«, in: ders.: Werkausgabe, Bd. 8, S. 9-70, S. 33.

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Techniken des jeweiligen Mediums zu erzielen ist.67 Auch darin liegt ein Grund für die von Cocteau praktizierte Intermedialität. Generierung eines Wunderbaren, sei es durch die Verfremdung des Alltäglichen, sei es durch die Irritation der Normalwahrnehmung, sei es durch die Überschreitung festgesetzter Grenzen – diese ästhetische Zielsetzung Cocteaus kann in der Lyrik durch Klangassoziationen, in den »Materialbildern« durch die überraschende Kombination des Heterogenen, im Drama durch das Körperspiel der Schauspieler sowie durch Kostüme, Masken und Bühnenbilder erreicht werden. Und im Film? Angesprochen sind bereits die Bewegung der Körper, was der Film indes mit dem Drama teilt, und die Technik des Schnittes. Diese Technik wird von Cocteau auch dazu verwendet, um Ortswechsel in einer Geschwindigkeit und Plötzlichkeit zu inszenieren, wie dies dem Theater nicht möglich ist. Vor allem im ersten Film, Le Sang d’un poète, sind es harte Schnitte, die den Wechsel der Räume initiieren. So springt die Handlung vom Zimmer des Dichters zu einer abendlichen Schneeballschlacht vor einer Schule und so führt am Ende das gesamte Geschehen in die Eingangssequenz zurück, in der ein schwankender Fabrikschornstein gezeigt wird: »Schnitt. Man sieht den Fabrikschornstein zusammenbrechen.«68 Derart vermag der Film über das Verfahren des Schnittes nicht nur eine Vielzahl differenter Räume zur Anschauung zu bringen, sondern auch spezifische Zeitmodi darzustellen: Die gesamte Ereignisfolge in Le Sang d’un poète spielt sich innerhalb der wenigen Augenblicke ab, in denen der Schornstein einstürzt. Das Verfahren des Schnittes ermöglicht es darüber hinaus, Verwandlungen zu initiieren. In dieser Funktion setzt es Cocteau vor allem in La Belle et la Bête ein. Durch den Schnitt von der Person, die in den Zauberspiegel des Tieres schaut, auf den Spiegel selbst, erscheint zunächst Adélaïde »als hässliche Alte« und dann Félicie als »grimassierendes Äffchen«.69 Diese Ver67 Beispielhaft hierfür kann Cocteaus Verarbeitung des Orpheus-Stoffes stehen. In dem Gedicht Eurydice wird der gewählten Kunstform entsprechend Orpheus als Sänger thematisiert. Dies jedoch aus der Perspektive der Gattin Eurydike, so dass eine verfremdende Darstellung des Mythos möglich wird, da Eurydike die Kunst Orpheus’ negiert. Die Zeichnung Orphée et Eurydice arretiert den Augenblick des Dramas, in dem die verstorbene Eurydike den enthaupteten Orpheus mit ins Totenreich holt, und stellt damit das Moment einer über den Tod hinausreichenden Liebe dar. Drama und Film, die im Unterschied zur Bildenden Kunst mit dem Prinzip der Bewegung arbeiten, fokussieren in ihren Darstellungen die Wiederkehr der Protagonisten aus der Unterwelt und damit die Grenze von Leben und Tod. 68 Cocteau: »Das Blut eines Dichters«, S. 60. 69 Jean Cocteau: »Die Schöne und das Tier«, in: ders.: Werkausgabe, Bd. 8, S. 71173, S. 158.

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wandlung der beiden Schwestern von Belle verflüssigt Grenzen, während das Theater, das in seinen medialen Möglichkeiten am Körper des Schauspielers orientiert bleibt, lediglich Grenzwesen wie im Orphée ein Pferd mit Menschenbeinen ausstellen kann. Durch den Schnitt von Avenant, der in den Pavillon des Tieres eingedrungen ist, auf die Diana-Statue und zurück auf Avenant kann derselbe »zum Tier verwandelt« werden, während der Gegenschnitt auf das Tier dasselbe als »Prinzen«70 präsentiert. Das Wunderbare, das damit die dem Film eigene Schnitttechnik realisiert, besteht darin, dass die Grenze zwischen Tier und Mensch in beide Richtungen übertretbar ist. Weitere genuin filmische Verfahren, die Cocteau kontinuierlich verwendet, sind Großaufnahme und Detailfokussierung, die oftmals kombiniert werden. In Le Sang d’un poète werden vor allem Gegenstände und Körperteile vergrößert bzw. fixiert,71 so dass dieselben partikularisiert und fragmentarisiert erscheinen, wodurch wiederum das Partikulare und Fragmentarische jeder Wahrnehmung reflektiert wird. Wenn die Kamera, während der Dichter auf seinem Gang über einen Flur durch Schlüssellöcher späht, »in Großaufnahme eine Blende in Form eines Schlüsselloches« zeigt, setzt sie den Zuschauer in die Position des Dichters und offenbart ihm, was der Dichter sieht: »Die Decke wird einzig von einer Opiumlampe beleuchtet, die chinesische Schatten einer Pfeife und einer Raucherhand wirft.«72 Dadurch wird nicht nur die Kamera als »verlängertes Auge« qualifiziert, sondern auch der Ausschnittscharakter menschlicher wie technischer Wahrnehmung vorgeführt. In La Belle und la Bête dienen Großaufnahme und Fokussierung zur Hervorhebung der Details, die die Handlung bestimmen. Zum einen wird die Rose, die der Kaufmann verbotenerweise im Garten des Tieres pflückt, wofür er mit dem Tod zu büßen hat, in Großaufnahme gezeigt.73 Zum anderen wird der Handschuh, den das Tier Belle gibt, damit sie sich von Raum zu Raum bewegen kann, fixiert.74 Damit stellt die Kamera zugleich die Details – wie etwa auch den bereits erwähnten Spiegel – aus, die die wunderbare Welt des Tieres kennzeichnen, und lässt sie durch Großaufnahme und Fokussierung zu magischen Details avancieren.

70 Ebd., S. 167f. 71 Vgl. Cocteau: »Das Blut eines Dichters«, S. 23, wo beispielsweise die Waschschüssel und dann die Hand des Dichters in Großaufnahme und/oder Fokussierung präsentiert werden. 72 Ebd., S. 36f. 73 Vgl. Cocteau: »Die Schöne und das Tier«, S. 99, S. 103, S. 104. 74 Vgl. ebd. S. 131f., S. 160f.

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Abbildung 3: Le Sang d’un poète

Cocteau ist sich der technischen Dimension des Mediums Film durchaus bewusst. So weist er in einem 1932 gehaltenen Vortrag zu Le Sang d’un poète auf die »Tricks«75 hin, die bei den Dreharbeiten zum Einsatz kamen, und benennt sie auch bereitwillig in seinem Drehbuch.76 Vor allem La Belle et la Bête arbeitet mit Trickaufnahmen. Zum einen machen Lichteffekte beim Eintritt Belles in ihr dunkles Schlosszimmer eine Reihe von Gegenständen wie Bett, Frisierkommode, Sessel, das in der Finsternis Unsichtbare sichtbar.77 Zum anderen ist die gesamte Schlusssequenz, in der sich Belle und der Prinz auf einem flatternden Mantel in den Himmel erheben, nicht nur mit Hilfe eines Sturmventilators und eines Sprungbretts, von dem die Darsteller abspringen, um auf einem Moospolster zu landen, gefilmt. Die Sequenz wird zudem in Zeitlupe gedreht und rückwärts abgespult, so dass auf die ruhende Haltung die Flugbewegung folgt.78 Gegenüber diesen optischen Effekten ist der Inhalt des Filmes sekundär. Anders gesagt: Die durch die Vorlage, das 1757 verfasste gleichnamige Märchen von Jeanne Marie Leprince de Baum-

75 Cocteau: »Das Blut eines Dichters«, S. 64. 76 Über die Sequenz, in der der Dichter in einen Spiegel eintritt, vermerkt er, dass der Spiegel durch ein »Wasserbecken« ersetzt und durch einen »schnellen Schnitt« der entsprechende »Trugbild-Effekt« hergestellt wird (ebd., S. 31). In ähnlicher Weise wird auch die Sequenz realisiert, in der sich Orpheus in den Spiegel begibt, vgl. Cocteau: »Orphée«, S. 253f. 77 Vgl. Cocteau: »Die Schöne und das Tier«, S. 110. 78 Vgl. ebd., S. 172f.

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ont, verbürgte Handlung fungiert als Motor für die filmische Evokation eines Wunderbaren, das durch den Medientransfer eine Erweiterung ins Visuelle erfährt. Dass es Cocteau um eine Freisetzung der medialen Möglichkeiten des Filmes geht,79 wird schon dadurch deutlich, dass er das gesamte Spektrum an Kamerapositionen und -techniken ausschöpft: Groß- und Nahaufnahme, Totale und Halbtotale, langsame und schnelle Kamerafahrten, Überblendung und Gegenschuss, Verwendung unterschiedlicher Objektive,80 Kameraeinstellung von oben und von unten, Kameraführung aus der Perspektive einer Figur und stillstehende Kamera, in deren Fokus die Figuren eintreten. Und was wird dadurch sichtbar gemacht? Grenzauflösungen zwischen Mensch und Tier, eine magische Dingwelt, Lichter im Dunkeln und fliegende Menschen. Das im Film dargestellte Wunderbare referiert damit nicht einfach auf die Märchenwelt von Leprince de Beaumont. Vielmehr erweist es sich als eine medientechnische Konstruktion,81 deren Mechanismen Cocteau im Drehbuch nicht zu verbergen sucht, sondern selbstbewusst ausstellt. Abbildung 4: La Belle et la Bête

79 Deshalb spricht auch Williams: Jean Cocteau, S. 195, vom »multi-cinema« Cocteaus. 80 So ausdrücklich im Drehbuch vermerkt, vgl. ebd., S. 98. 81 Gleiches gilt für das Verhältnis von Orphée-Drama und Orphée-Film. Der Film zeigt unter anderem das, was im Drama über die Gattungskonvention eines Botenberichts sprachlich eingeholt wird – die Unterwelt. In deren Visualisierung bringt Cocteau die dem Film eigenen Techniken zum Einsatz (vgl. Cocteau: »Orphée«, S. 287-289), um so das Wunderbare der »Zone«, des »Niemandslandes zwischen Leben und Tod« (ebd., S. 183), mit den dem Medium entsprechenden Verfahren herzustellen.

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III. ZWISCHEN DEN MEDIEN Cocteaus praktizierte Intermedialität besteht nicht nur darin, dass er in mehreren Medien arbeitet. Auch dort, wo er sich innerhalb eines Mediums bewegt, sind andere Medien präsent82 – sei es erstens durch inhaltliche Thematisierung, sei es zweitens durch formale Zitation oder sei es drittens dadurch, dass er ein Medium neben ein anderes Medium stellt. Cocteaus Ort ist also – sowohl mit Blick auf seine Kunstproduktion als auch hinsichtlich seiner Kunstprodukte – zwischen den Medien. Dabei dient die inhaltliche Thematisierung von Medien der Explikation von Handlungen und Personen. In Le Grand Écart wird die Wirkung, die von Germaine auf den jungen Forestier ausgeht, durch einen Medienvergleich beschreiben: »Wie auf der Filmleinwand eine Frau in einer Menschenmenge und das Gesicht der gleichen Frau, aber in Nahaufnahme und sechsfacher Lebensgröße, einander unvermittelt folgen – ebenso rasch erfüllte das Gesicht von Germaine die ganze Welt«.83 In Thomas l’imposteur werden die im Krieg Verletzten gleichfalls durch den Vergleich mit einem visuellen Medium geschildert: Sie »hatten die Hautfarbe, die Magerkeit und die Gebärden der Mönche des El Greco«.84 Während im ersten Fall der Bezug auf den Film ein primär optisches Ereignis als Überwältigung der sinnlichen Wahrnehmung konturiert, wird im zweiten Fall implizit die Defizienz der Prosa als einer nicht-visuellen Kunst thematisiert, da ihr die Plastizität fehlt, die durch die Referenz auf die Bildende Kunst eingeholt wird. Durch die Zitation der Bildenden Kunst wird demnach nicht nur dem Personal des Krieges Anschaulichkeit verliehen; vielmehr werden zugleich die Darstellungsgrenzen des zitierenden Mediums reflektiert. Doch Medien sind in Medien nicht nur durch Vergleiche präsent. Cocteau hat jedem technischen Medium der Datenübertragung eine Darstellung in Theater und Film gewidmet.85 Dabei avanciert das Medium zum Subjekt des Geschehens, ist mithin auch in seiner inhaltlichen Thematisierung mehr als ein »Vehikel«, dessen sich der Mensch bedient. In Les Mariés entlässt der Photoapparat die agierenden Figuren, denen sodann durch die Phonographen die Handlungen vorgegeben werden: »Das Bühnengeschehen folgt der Darstellung aus dem Munde der Phonographen«.86 In La Voix humaine hält

82 So die Definition von Intermedialität etwa bei Helbig: »Intermedialität«, S. 84, und Wolf: »Intermedialität«, S. 172-177. 83 Jean Cocteau: »Die große Kluft«, in: ders.: Werkausgabe, Bd. 1, S. 9-136, S. 42. 84 Cocteau: »Thomas der Schwindler«, S. 38. 85 Vgl. Jürgen Ritte: »Orpheus und die Flugmaschinen. Dichter und Dichtung bei Jean Cocteau«, in: Poetter (Hrsg.): Cocteau, S. 83-87. 86 Cocteau: »Die Hochzeit auf dem Eiffelturm«, S. 24.

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allein das Telefon die Verbindung zwischen einer auf der Bühne telefonierenden Frau und ihrem ehemaligen, auf der Bühne abwesenden Geliebten aufrecht – »Diese Schnur ist noch das Letzte, was mich mit dir verbindet« –87 und entscheidet dadurch über Leben und Tod der von ihrem Liebhaber verlassenen Frau. In Orphée lässt sich der Dichter Orpheus von einem Autoradio die Sätze der wahren Poesie diktieren, da »der geringste dieser Sätze aufregender ist als alle meine Gedichte«.88 In La Machine à écrire (1941) schließlich wird für die anonymen Briefe, die die Machenschaften eines korrupten Bürgertums aufdecken, eine Schreibmaschine als Autor verantwortlich gemacht.89 Dass es in dieser umfassenden Medienpräsenz keine Realität außerhalb der Medien gibt, inszenieren Les Mariés, insofern alle (Bühnen-)Wirklichkeit nicht nur aus dem Photoapparat kommt, sondern auch wieder in ihn zurückkehrt: »Der Apparat setzt sich nach links in Bewegung […]. Durch Öffnungen sieht man die Hochzeitsgesellschaft mit Taschentüchern winken«.90 Dass darüber hinaus die Medien unkalkulierbar sind und dass sich noch der Künstler dieser Unkalkulierbarkeit auszusetzen hat, formulieren gleichfalls Les Mariés in den Worten des Photographen und weisen dadurch die Medien auch als die Subjekte der Kunstproduktion aus: »Wenn ich wenigstens schon im voraus wüßte, was für Überraschungen mein defekter Apparat noch bereithält, dann könnte ich damit eine Nummer auf die Beine stellen. Aber leider zittere ich jedesmal, wenn ich den vermaledeiten Satz sage. Wer weiß, was da noch alles herauskommt!«91

Bei Cocteau ist jede Thematisierung der Medien selbstreflexiv: Es geht um die Grenze von Realität und Fiktion; und es geht um die Bedingungen der Möglichkeit von Kunst. Zweitens die formale Zitation der Medien. Vor allem das Drama und die Prosa ruft Cocteau immer wieder in ihren strukturellen Elementen auf, so dass die Arbeit in einem Medium darstellungsästhetische Konsequenzen für die Arbeit in einem anderen Medium zeitigt. Les Enfants terrible folgen in der Ausrichtung der Handlung auf einen fixen Ort, dem Zimmer der Kinder, der Raumorganisation, wie sie die frühen Theaterstücke von Parade bis Les

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Cocteau: »Die geliebte Stimme«, S. 35. Cocteau: »Orphée«, S. 222. Vgl. Ritte: »Orpheus und die Flugmaschinen«, S. 86. Cocteau: »Die Hochzeit auf dem Eiffelturm«, S. 53. Ebd., S. 33.

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Mariés bestimmt.92 In den Filmen Le Sang d’un poète und La Belle et la Bête verfährt die Kameraführung verschiedentlich in der Weise, dass sie wie beim Theater die Personen auftreten lässt. In der letzten Episode von Le Sang d’un poète schwenkt die Kamera vom Tisch, an dem der Dichter Karten spielt, zur Freitreppe, um eine neue Figur einzuführen: »Die Tür öffnet sich. Auftritt des schwarzen Engels.«93 In La Belle et la Bête nimmt die Kamera gleich dem Zuschauer eines Theaterstückes eine feste Position ein, um von ihr aus das Geschehen zu protokollieren: »Der Kaufmann steigt ab und kommt auf die Kamera zu. Totale: Der Kaufmann entfernt sich, den Rücken zur Kamera, das Pferd hinter sich her ziehend«.94 Die epische Instanz eines Erzählers bringt Cocteau auf der Bühne ab dem Moment zum Einsatz, da er mit Le Grand Écart und Thomas l’imposteur seine ersten Romane publiziert hat. Dem Orphée-Drama ist ein Prolog des Orpheus-Darstellers vorangestellt, der ein Spiel mit Realität und Fiktion eröffnet, wenn er behauptet: »Dieser Prolog stammt nicht vom Autor.«95 Von einem solch ironischen Spiel mit der souveränen Position des Autors sind die epischen Elemente, wie sie in dem 1934 uraufgeführten Stück La Machine infernale zum Tragen kommen, weit entfernt. Allen Akten ist eine anonyme Stimme vorgeschaltet, die nicht nur vorab den Ödipus-Mythos erzählt, um den Zuschauer in einen Wissensvorsprung gegenüber den handelnden Figuren zu versetzen, sondern auch die Bühnenereignisse interpretiert. So gibt diese Stimme gleich zu Beginn eine Analyse des gesamten Dramas, wenn sie betont, dass eine »von den teuflischen Göttern« erfundene »Maschine« vorgeführt wird, die auf die »mathematische Vernichtung eines Menschen« zielt.96 Von einer Freisetzung der medialen Möglichkeiten des Theaters kann mit Blick auf dieses Drama keine Rede sein: Durch die Einführung einer das Stück durchgängig kommentierenden Stimme wird das Bühnengeschehen einer metatextuellen Ebene unterstellt. In dieser kommentierenden Funktion tritt auch – allerdings nur punktuell – in den Filmen Le Sang d’un poète und Orphée eine Stimme auf, die als »Stimme des Autors«97 präzisiert ist. Diese Qualifizierung intendiert indes kein Spiel mit der Autorschaft. Vielmehr wird eine übergeordnete Instanz

92 Zu weiteren Bezügen des Romans auf das Theater vgl Karl Ulrich Syndram: »Die Spielräume der Kindheit. ›Les Enfants terrible‹«, in: Poetter (Hrsg.): Cocteau, S. 88-96, S. 89. 93 Cocteau: »Das Blut eines Dichters«, S. 52. 94 Cocteau: »Die Schöne und das Tier«, S. 93. 95 Cocteau: »Orpheus«, S. 62. 96 Jean Cocteau: »Die Höllenmaschine«, in: ders.: Werkausgabe, Bd. 4, S. 147-302, S. 154. 97 Cocteau: »Das Blut eines Dichters«, S. 21 u.ö.; Cocteau: »Orphée«, S. 221 u.ö.

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etabliert, der die auctoritas zukommt, die Filmhandlung zu organisieren und zu dechiffrieren. In Le Sang d’un poète nimmt diese Stimme eine Segmentierung der Ereignisse in vier »Episoden«98 vor, die von der Bilderfolge her nicht unterscheidbar sind. Während die dabei gewählten Episodentitel – z.B. »Die Entweihung der Hostie«99 – jedoch eher einer Zerstreuung des Sinns zuarbeiten, ist die Stimme in Orphée um Sinnstiftung bemüht. So deutet sie etwa das Verhalten der im Drama noch als »Madame la Mort« bezeichneten Prinzessin, ihrer Liebe zu Orpheus zu entsagen, als eine notwendige Verzichtleistung zur Verewigung des Poeten: »Der Tod eines Dichters muss sich opfern, um ihn unsterblich zu machen.«100 Drittens die Nebeneinanderstellung zweier Medien. Bei den von Cocteau vorgenommenen Illustrationen seiner Prosa bestimmt der Text das Bild, indem das Bild den Text repräsentiert. Ganz anders liegt der Fall bei den in dem Band Le Mystère de Jean L’Oiseleur versammelten Portraits. Diese mit Feder und Tusche ausgeführten Zeichnungen zeigen stets dasselbe: Den Kopf und die Schultern von Cocteau. Zuweilen sind sie erweitert um die Abbildung einer Hand, die einen Stift oder eine Feder hält, oder um die Darstellung von Sternen und Reptilien. Manche Blätter enthalten farbige Ergänzungen; auf modellierende Binnenzeichnungen wird hingegen weitestgehend und auf Licht-und-Schatten-Effekte gänzlich verzichtet.101 Doch dies ist nur die eine mediale Dimension der Selbstportraits, die Cocteau mit dem Pseudonym Jean L’Oiseleur unterzeichnet. Siebzehn der Zeichnungen hat er zudem mit Aphorismen zu Leben und Tod, zur eigenen wie zur Kunstproduktion anderer versehen. Diese sind um die Zeichnungen herum geschrieben, so dass anders als bei den Buchillustrationen nicht die Bilder dem Text, sondern die Texte dem Bild hinzugefügt sind. Die auf ein und demselben Blatt gezeichneten Portraits und niedergeschriebenen Aphorismen stehen jedoch in keinem Zusammenhang:102 Weder veranschaulicht das Bild den Text noch erläutert der Text das Bild. Genau darin allerdings besteht die selbstreflexive Pointe von Cocteaus Mystère, die zugleich das Rätsel der Blätter, eine ästhetische Geheimlehre, offenbart: Im Nebeneinander von Text und Bild wird gezielt deren Gleichrangigkeit inszeniert, wobei es dem Text vorbehalten ist, Fragestellungen der Kunst zu verhandeln, während das Bild die Visualisierung des Künstlers zu leisten hat. Auf diese Selbstreflexivität der Intermedialität weist auch das von Cocteau gewählte Pseudonym hin. Dessen Geheimnis lüftet der auf Blatt 23 notierte Text, der darauf verweist, 98 Cocteau: »Das Blut eines Dichters«, S. 22, S. 27, S. 43, S. 48. 99 Ebd., S. 48. 100 Cocteau: »Orphée«, S. 291. 101 Vgl. Teuber: »Das Mysterium vom Vogelfänger«, S. 283. 102 Vgl. ebd., S. 285.

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dass Guillaume Apollinaire Picasso als »L’Oiseau du Bénin«103 bezeichnet hat. Doch nicht nur der Maler Picasso ist »l’Oiseau du Bénin«. In Apollinaires Erzählung Le Poète assassiné von 1916 wird ein weiser Maler, zu dem sich ratsuchend der Dichter Croniamantal begibt, gleichfalls mit diesem Namen belegt.104 Ganz offensichtlich also verortet sich der bis 1925 vor allem als Schriftsteller in Erscheinung getretene »Jean« Cocteau mit der Wahl des Pseudonyms »L’Oiseleur« im Feld der Bildenden Kunst. Le Mystére de Jean L’Oiseleur veranschaulicht damit nicht nur im gleichberechtigten Nebeneinander von Bild und Text den Ort Cocteaus zwischen den Medien. Le Mystére de Jean L’Oiseleur spielt zudem in der Namensgebung des Produzenten eine Identität zwischen den Medien durch, die Cocteaus in den Folgejahrzehnten praktizierter Intermedialität einlösen wird. Abbildung 5: Le Mystére de Jean L’Oiseleur, Blatt 23

103 Zitat nach der Abbildung ebd., S. 293. 104 Vgl. zu diesen Zusammenhängen ebd., S. 295f.

Claude Simon T HOMAS K LINKERT (F REIBURG )

0. Es ist bezeichnend für die Kunst im Zeitalter der Autonomieästhetik, also seit dem späten 18. Jahrhundert, dass Kunstwerke nicht mehr unter dem Imperativ der Nützlichkeit stehen.1 Mit anderen Worten: Sie emanzipieren sich von Konventionen, Regeln und Erwartungen, die von innerhalb und von außerhalb des Kunstsystems an sie herangetragen werden. Dies ist in einem sehr weiten Sinne zu verstehen: Kunstwerke – gemeint sind hier in erster Linie literarische Kunstwerke – müssen nicht mehr die herrschende Moral bestätigen, sie können im Gegenteil das moralisch Fragwürdige (Werthers Selbstmord, Emma Bovarys Ehebruch) oder gar das Böse (Sade) ohne Distanzierung darstellen. Sie müssen nicht mehr herrschende Sinnsysteme bestätigen, sondern können sie außer Kraft setzen (Diderots Neveu de Rameau). Sie können auf semantische und mimetische Kohärenz verzichten (Rimbauds Illuminations). Sie können überlieferte Formprinzipien missachten (Prosagedicht, vers libre). Sie können die traditionellen Strukturen des Erzählens unterminieren, zum Beispiel indem sie Ereignishaftigkeit durch Ereignislosigkeit ersetzen und diese serialisieren (Flaubert), indem sie die Chronologie entstellen (Proust, Faulkner) oder indem sie das Verhältnis zwischen erzählender und nicht-erzählender Rede (Kommentar, Deskription, Analyse) verändern und dadurch die erzählende Rede an den Rand drängen (Musil). Die genannten (und viele andere) Verfahren bewirken im Sinne der russischen Formalisten eine Verfremdung der Form und führen zu einer Deauto-

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Vgl. hierzu Niels Werber: Literatur als System. Zur Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation, Opladen 1992. Für wertvolle bibliographische Unterstützung bei der Vorbereitung dieses Aufsatzes danke ich Frank Jäger.

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matisierung der Wahrnehmung.2 Die Deautomatisierung hat eine doppelte Zielrichtung: Sie lenkt den Blick zum einen auf die dargestellte Welt, die mit ganz neuen Augen gesehen wird, zum anderen auf den Akt der Darstellung, das heißt die formale Gestalt des künstlerischen Textes. Dadurch kommt neben manch anderem etwas in den Blick, das normalerweise bei der Wahrnehmung übersehen wird: die Medialität beziehungsweise genauer die Materialität des geschriebenen Textes.3 Dieser erscheint nicht wie etwa im realistischen Roman als ein transparentes Fenster, durch das man in eine Welt blickt, die der vertrauten Welt täuschend ähnlich sieht. Im Gegenteil: Der geschriebene Text stellt sich in seiner Zeichenhaftigkeit und in seiner Artifizialität dem Blick dar, er legt die ihn konstituierenden Verfahren bloß.4 Claude Simon (1913-2005), Träger des Nobelpreises für Literatur (1985), gehört zu denjenigen Autoren des mittleren und späten 20. Jahrhunderts, die mit großem Nachdruck einer Bloßlegung der Verfahren das Wort geredet haben.5 Seine poetologischen Reflexionen über die Materialität des literarischen Textes schlagen häufig die Brücke zur Malerei, die ihm als Paradigma der modernen, sich vom Mimetischen emanzipierenden und dabei ganz die eigene Materialität hervorhebenden Kunst gilt.6 In seiner experimentellen literarischen Praxis wird die Malerei ebenso wie die Photographie nicht nur

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Vgl. hierzu Viktor Šklovskij: »Die Kunst als Verfahren«, in: Jurij Striedter (Hrsg.): Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, München 1994, S. 3-35. Vgl. hierzu Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.): Materialität der Kommunikation, Frankfurt a.M. 1988. Zur Bloßlegung der Verfahren vgl. etwa Viktor Šklovskij: »Der parodistische Roman. Sternes Tristram Shandy«, in: Jurij Striedter (Hrsg.): Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, München 51994, S. 245-299. Simon war mit der Theorie der russischen Formalisten vertraut. So zitiert er Šklovskijs Aufsatz »Die Kunst als Verfahren« (vgl. »Réponses de Claude Simon à quelques questions écrites de Ludovic Janvier«, in: Entretiens 31 (1972), S. 23) und verweist auf Tynjanovs »Über die literarische Evolution« in seinem Aufsatz »Roman, description et action«, in: Paul Hallberg (Hrsg.): The Feeling for Nature and the Landscape of Man, Göteborg 1980, S. 79-93, hier S. 79, ebenso wie in seinem »Discours de Stockholm«, in: Claude Simon: Œuvres, hrsg. von Alastair Duncan, Paris 2006, S. 885-902, hier S. 892, 899 (wo sich auf S. 900 auch ein Hinweis auf Šklovskij findet). Zu dem seit dem 18. Jahrhundert sich grundlegend wandelnden Verhältnis zwischen Literatur und Malerei vgl. grundlegend Rolf Günter Renner: »Schrift-Bilder und Bilder-Schriften. Zu einer Beziehung zwischen Literatur und Malerei«, in: Peter V. Zima (Hrsg.), Literatur intermedial. Musik – Malerei – Photographie – Film, Darmstadt 1995, S. 171-208.

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häufig thematisiert, sondern es kommt nicht selten zu einer intermedialen Hybridisierung von Text und Bild.7 Im Folgenden wird zunächst die Poetik von Claude Simon skizziert, bevor dann in einem zweiten Schritt einige Beispiele seiner intermedialen Praxis analysiert werden.8

I. In seiner poetologischen Schrift »La fiction mot à mot« – einem 1971 bei einem Kolloquium zum Nouveau Roman in Cerisy-la-Salle gehaltenen Vortrag – greift Simon den Vorwurf eines Kritikers auf, der in Bezug auf seinen Roman Les corps conducteurs (1971) von »discontinuité« gesprochen und in diesem Roman eine »succession de descriptions« konstatiert hatte, »qui ne sont reliées entre elles par aucun procédé de la logique traditionnelle du récit«.9 Die von dem anonymen Kritiker eingeforderte traditionelle Erzähllogik unterzieht Simon nun seinerseits einer vernichtenden Kritik, indem er die 7

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Simons Affinität zur Malerei wurde vielfach untersucht; vgl. insbesondere Claud DuVerlie, »Pictures for Writing: Premises for a Graphopictology«, in: Randi Birn/Karen Gould (Hrsg.): Orion Blinded. Essays on Claude Simon, Lewisburg 1981, S. 200-218, Brigitte Ferrato-Combe: Écrire en peintre. Claude Simon et la peinture, Grenoble 1998, Peter Janssens, »Une restitution par la peinture: Claude Simon«, in: Paul Joret/Aline Remael (Hrsg.): Language and Beyond/Le langage et ses au-delà, Amsterdam/Atlanta 1998, S. 415-429. Zur Bedeutung und Funktion der Deskription bei Simon vgl. Maarten Van Buuren: »L’essence des choses. Étude de la description dans l’œuvre de Claude Simon«, in: Poétique 11 (1980), S. 324-333, Jean Rousset: »Écrire la peinture: Claude Simon«, in: ders.: Passages. Échanges et transpositions, Paris 1990, S. 153-188, Monika Mayr: Ut pictura descriptio? Poetik und Praxis künstlerischer Beschreibung bei Flaubert, Proust, Belyj, Simon, Tübingen 2001, S. 402-464, Thomas Klinkert: »Der Text als Bildmedium? Zu Text-Bild-Beziehungen bei Claude Simon und Georges Perec«, in: Beate Ochsner/Charles Grivel (Hrsg.): Intermediale. Kommunikative Konstellationen zwischen Medien, Tübingen 2001, S. 117-146, Mireille Calle-Gruber: »Le récit de la description ou De la nécessaire présence des demoiselles allemandes tenant chacune un oiseau dans les mains«, in: Claude Simon: Œuvres, S. 15271549. Weitere Beispiele von Simons intermedialer Praxis finden sich in meinen Untersuchungen »Der Text als Bild-Medium?« (zu Claude Simon: Histoire, Paris 1967) und »Intermedialität und Gedächtnis bei Claude Simon«, in: Walter Bruno Berg/Chiara Polverini/Frank Reiser (Hrsg.): Literatur und die anderen Medien in der Romania, Frankfurt a.M. (im Druck) (zu ders.: La bataille de Pharsale, Paris 1969). Claude Simon: »La fiction mot à mot« (1972), in: Œuvres, S. 1184-1202, hier S. 1185.

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Handlung von Stendhals La chartreuse de Parme – einem Roman, der von Balzac als »le chef-d’œuvre de la littérature d’idées« bezeichnet wurde – resümiert und darin nichts anderes erkennen will als »une suite d’événements parfaitement fortuits, de hasards, de coïncidences qui confinent au miracle«.10 Das einzige Ordnungsprinzip, dem die von Stendhal aneinandergereihten wundersamen Zufälle gehorchten, sei das der chronologischen Sukzession, »dans un temps à l’imitation de celui des horloges«.11 Nun sei allerdings die durch die Imitation der Uhrzeit erzeugte Kontinuität eine Täuschung, weil die erzählte Zeit eines Romans niemals gleichförmig sei, es stattdessen Beschleunigungen, Verlangsamungen, Brüche und Zeitsprünge – also Diskontinuität – gebe. Außerdem sei die Kontinuität eine rein äußerliche, denn »rien dans le texte lui-même (c’est-à-dire dans la matière même du récit), absolument rien (aucune ›figure‹ pour parler en termes de rhétorique, aucune assonance, aucune parenté d’images ou de structures, autrement dit aucun lien qualitatif) ne permet de passer d’un élément à l’autre, ne renvoie d’une description ou d’une narration à une autre.«12

Simons Kritik der traditionellen Erzähllogik beruht auf der Trennung von Signifikant und Signifikat, von Form und Bedeutung, von Medium und Botschaft. Was er zurückweist, ist die Vorstellung, dass der Roman sich äußerlichen Kriterien wie Chronologie und Logik zu unterwerfen habe. Die künstlerische Qualität eines Romans beruhe nicht auf der chronologischen Ordnung, auf der »justesse d’observation et de peinture des caractères ou des mœurs«.13 Es gebe im Gegenteil eine »logique interne du texte«, die auf der Ebene der Materialität des Signifikanten (»la matière même du récit«) angesiedelt sei. Die Sukzession von Textelementen müsse durch materiell wahrnehmbare Eigenschaften (Ähnlichkeiten der Lautgestalt, Wiederholungen, rhetorische Figuren) dieser Elemente motiviert werden; Simon nennt diese Korrespondenzen »liens qualitatifs«. Um seinen Gedanken zu verdeutlichen, verweist er auf die Malerei: »Est-ce qu’il n’est donc pas permis de se demander non seulement si, de même qu’indépendamment des choses représentées (nature morte, paysage, nu) il existe une

10 Ebd., S. 1186. 11 Ebd. 12 Ebd., S. 1187. Es sei darauf hingewiesen, dass Simon Stendhal an anderer Stelle durchaus positiv darstellt, etwa in »Roman, description et action«, S. 90, wo er in der Beschreibung der Schlacht von Waterloo in der Chartreuse die »préfiguration de toute la littérature moderne« zu erkennen glaubt. 13 Œuvres, S. 1188.

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logique de la peinture en soi, il n’existerait pas aussi une certaine logique interne du texte, propre au texte, découlant à la fois de sa musique (rythme, assonances, cadence de la phrase) et de son matériau (vocabulaire, »figures«, tropes – car notre langage ne s’est pas formé au hasard), mais encore si cette logique selon laquelle doivent s’articuler ou se combiner les éléments d’une fiction n’est pas, en même temps, fécondante et, par elle-même, engendrante de fiction.«14

Die Verlagerung der Aufmerksamkeit von der Ebene des Dargestellten (»observation«, »peinture des caractères ou des mœurs«) zur Ebene der Darstellung (»rythme, assonances, cadence de la phrase«) hat für Claude Simon ihr historisches Vorbild in der Malerei: »Je crois qu’en ce moment le roman se trouve dans une période de son évolution assez semblable à celle qu’a traversée la peinture dans la seconde moitié du siècle dernier, c’est-à-dire lorsque celle-ci a cessé de raconter ou de représenter des événements (Enlèvement des Sabines, Noces de Cana ou Massacres de Scio), pour entreprendre de présenter sans autre justification que lui-même un objet pictural. Ce que Cézanne ou Van Gogh nous ont montré à l’évidence c’est que, sauf dans les mauvais ou les médiocres tableaux pour lesquels la seule référence est la ressemblance, un personnage peint ne nous renvoie pas à quelque modèle »représenté« (que l’on compare le »portrait« d’Ambroise Vollard par Renoir et celui qu’en a fait Cézanne) mais seulement à lui-même, ce personnage édifié à l’aide d’une mince couche de couleur et dont nous pouvons voir s’architecturer les formes dans le rectangle de la toile entre, par exemple, la droite qui délimite non le chambranle d’une porte mais la séparation entre deux gris et l’angle obtus dont le prétexte est le coin du plateau d’une table.«15

Ebenso wie die Malerei im späten 19. Jahrhundert sich von der Repräsentation (Darstellung traditioneller Szenen aus der Bibel, dem Mythos oder der Geschichte, Porträtierung realer Personen) abgewendet habe, um sich auf sich selbst – und das heißt auf ihre materielle Gestalt (Farbe, Linie, Form) – zurückzubeziehen, verhalte es sich mutatis mutandis mit der Literatur. Die Abwendung von der Repräsentation ermögliche eine Fokussierung des Signifikanten und eine interne Kohärenz, die auf gemeinsamen »qualités« beruhe: der Wiederholung bestimmter Lexeme in verschiedenen Handlungszusammenhängen, dergestalt, dass durch diese Lexeme die nach der traditionellen Erzähllogik voneinander völlig getrennten Handlungselemente miteinander verklammert werden. Der Text bildet somit nicht eine ihm vorgängige Wirklichkeit ab, sondern er erzeugt fiktional eine Wirklichkeit und verleiht ihr kraft seiner »logique interne« eine zwingende Plausibilität. Einen wichtigen literarischen Vorläufer findet Simon in Marcel Proust, der zeitlich und räum-

14 Ebd.; Kursivierung T. K. 15 Ebd., S. 1193; Kursivierungen im Text.

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lich getrennte Ereignisse durch eine mit beiden gleichermaßen verbundene sinnliche Qualität (zum Beispiel den Geschmack einer in Lindenblütentee getunkten Madeleine) miteinander kombiniert habe. Mit diesem Verfahren vergleicht Simon das von ihm selbst in Les corps conducteurs verwendete: »De la même façon, certaines qualités communes regroupent ou si l’on préfère cristallisent dans un ensemble des éléments apparemment aussi disparates que ceux dont je parlais tout à l’heure (le fleuve tropical, l’enfant sur le trottoir, la vieille dame dans le hall de l’hôtel), exactement comme certaines qualités communes (harmoniques ou complémentaires, rythme, arabesque) rassemblent dans un tableau, permettent d’y cohabiter en constituant un ensemble pictural cohérent, les objets ou les personnages qui y sont représentés, même si, dans la »logique« du »réel«, ils paraissent absolument incrédibles, comme par exemple les monstres de Jérôme Bosch, les deux yeux dans un même profil de Picasso ou une Pêche à la baleine de Paul Klee, car, là aussi, ce n’est pas la vraisemblance imitative qui importe mais une autre espèce de vraisemblance et de crédibilité, autrement dit, la crédibilité picturale.«16

Auffällig ist hier, dass Simon, nachdem er sein eigenes literarisches Verfahren mit demjenigen Prousts parallelisiert hat, mitten im Satz die Referenzebene wechselt und einen erneuten ausgedehnten Vergleich mit der Malerei vornimmt. Was ihm vorschwebt, ist ein literarisches Äquivalent dessen, was er als »crédibilité picturale« bezeichnet. Die Malerei nimmt in Simons Poetik ganz offenbar den Stellenwert einer Leitkategorie ein.17 Dies kommt nicht von ungefähr, wenn man bedenkt, dass Simon sich in jungen Jahren selbst als Maler versucht hat und Zeit seines Lebens von der bildenden Kunst fasziniert blieb, ja dass sie neben der Literatur seine zweite künstlerische Hauptbeschäftigung war.18 16 Ebd., S. 1190. 17 Vgl. hierzu auch das Vorwort zu Orion aveugle, in welchem Simon den blinden Orion auf Poussins Gemälde zur Allegorie des Romanerzählers macht (Claude Simon, Orion aveugle, Paris 1970, ohne Seitenzahl). 18 In einer 1988 verfassten autobiographischen Skizze (Œuvres, S. LXIX-LXXI) schreibt Simon über sich: »Livré à lui-même, héritier d’une modeste fortune qui le dispense toutefois d’avoir à gagner sa vie, il mène celle-ci d’une façon paresseuse, suivant les cours de peinture de l’académie André Lhote jusqu’à son service militaire […]. Libéré au mois d’octobre 1935, il se remet à peindre, acquérant peu à peu une culture d’autodidacte au hasard de ses lectures […].« Nach seinem kurzen Spanienaufenthalt während des Bürgerkrieges fängt er wieder an zu malen: »Se remet à peindre.« Nach der Flucht aus dem deutschen Kriegsgefangenenlager versteckt er sich in der unbesetzten Zone Frankreichs und »se remet à peindre et à écrire«. Über die Nachkriegszeit schreibt Simon: »À partir de là […], il continuera à mener une existence partagée entre des tentatives de peinture et d’écriture.« (Alle Kursivierungen T. K.)

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II . Im Folgenden soll nun anhand einiger Beispiele Claude Simons intermediale Praxis vorgestellt werden. Schon in seinem frühen autobiographischen Roman La corde raide (1947), der verglichen mit den ab Ende der Fünfzigerjahre entstandenen Texten formal eher konventionell gestaltet ist, finden sich mehrere Exkurse zur Malerei.19 Darin entwickelt der Erzähler eine antimimetische Romanpoetik, die von dem frühen Text noch nicht eingelöst wird, sondern auf die späteren Romane (ab Le vent, 1957) vorausweist. Die höchste Wertschätzung des Erzählers genießt Cézanne, weil dieser durch den Verzicht auf logisch-rationale Rechtfertigung des von ihm Dargestellten (»sans raison ni postulat de raison«) die rein malerische Dimension (Farben und Linien) seiner Bilder fokussiert habe.20 Die Cézanne zugeschriebene Befreiung von der Notwendigkeit der Sinnerzeugung entspricht der von Simon später in »La fiction mot à mot« (1971/72) theoretisch begründeten Abkehr von der traditionellen Erzähllogik. II.I Diesen Schwenk vollzieht Simon in seiner literarischen Praxis Ende der Fünfzigerjahre. Seit Le vent unternimmt er in stets neuen Anläufen den Versuch, eine sich entziehende, rätselhafte Vergangenheit zu rekonstruieren, indem er unterschiedliche experimentelle Schreibweisen in der Nachfolge von Proust und Faulkner erprobt.21 Immer wieder wird dabei ein Nexus zwischen der Vergangenheitsrestitution und der bildenden Kunst hergestellt. So verweist der Untertitel von Le vent (Tentative de restitution d’un retable baroque) auf den Bereich der (religiösen) Kunst, welcher im Roman selbst gar nicht im Mittelpunkt steht. Insofern hat der Titel metaphorische Funktion: Der Text wird mit dem Versuch gleichgesetzt, ein zerstörtes Kunstwerk zu restituieren, wobei die Struktur dieses Kunstwerks für Simon von poetologischer Relevanz ist, insofern auf einem Bild simultan verschiedene, zeitlich voneinander getrennte Handlungselemente dargestellt sind.22 Die poeto19 Vgl. Claude Simon: La corde raide, Paris 1947, S. 12 f., 64-72, 89, 92-94, 108123. 20 Ebd., S. 113. 21 Zum Verhältnis Simon/Proust vgl. Thomas Klinkert: Bewahren und Löschen. Zur Proust-Rezeption bei Samuel Beckett, Claude Simon und Thomas Bernhard, Tübingen 1996, S. 169-242; dort finden sich auch Ausführungen zum Verhältnis Simon/Faulkner (S. 172-184) und weiterführende Literaturangaben. 22 So auch Ferrato-Combe: Écrire en peintre, S. 110 f.: »Ce n’est pas le caractère religieux du sujet qui retient son attention mais un mode particulier de composition picturale, qui réunit en un seul ensemble plusieurs représentations.«

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logische Funktion der bildenden Kunst/des Visuellen wird auch auf der histoire-Ebene markiert: So tritt der Protagonist des Romans, Antoine Montès, als Photograph in Erscheinung, der stets seinen Photoapparat bei sich trägt.23 An verschiedenen Stellen des Romans wird ein poetologischer Zusammenhang zwischen Erzählen, Erinnern und Visualität hergestellt. Einerseits wird auf die unüberbrückbare Differenz zwischen Erzählen und Geschichte hingewiesen, etwa in einem Kontext, in dem es darum geht, dass Montès dem Ich-Erzähler, der Montès’ Geschichte zu rekonstruieren und zu verstehen versucht, etwas erzählt, dass seine Erzählung aber »falsch« sei: »Seulement voyant, enregistrant sans en prendre tout à fait conscience, de sorte que le récit qu’il m’en fit fut sans doute lui-même faux, artificiel, comme est condamné à l’être tout récit des événements fait après coup, de par le fait même qu’à être racontés les événements, les détails, les menus faits, prennent un aspect solennel, important, que rien ne leur confère sur le moment.«24

Was hier angesprochen wird, ist die grundlegende semiotische Differenz zwischen Zeichen und Wirklichkeit; letztere kann von ersterer immer nur verfehlt beziehungsweise entstellt werden; es ergibt sich keine Deckungsgleichheit zwischen beiden. Im selben Zusammenhang wird der Photoapparat als Bildspender für den Prozess der Entstehung von Erinnerungsbildern verwendet: »Alors seulement lui, là, en train d’attendre la patronne que la serveuse a été prévenir, repassant probablement pour la centième fois en revue dans sa tête la série d’embêtements qui l’ont assailli depuis son arrivée dans ce pays […], et peut-être ne voyant même pas, pas plus que l’appareil photographique lui-même ne voit, ne connaît, n’est capable de se souvenir: sa rétine, oui, sa mémoire, oui, aussi […], puisque bien plus tard elle (sa mémoire) pouvait tout restituer […].«25

Der Photoapparat steht hier für eine auf mechanischer Wahrnehmung beruhende Erinnerung, die zwar exakt ist, aber dennoch die restituierte Vergangenheit verfehlt; diese Form der Wahrnehmung ist ohne Bewusstsein und entspricht damit der Formulierung, mit welcher das vorletzte Zitat beginnt (»Seulement voyant, enregistrant sans en prendre tout à fait conscience«). Per Analogieschluss ergibt sich die Konsequenz, dass, wenn aus Montès’

23 Zur Funktion der Photographie bei Simon vgl. grundlegend Irene Albers: Photographische Momente bei Claude Simon, Würzburg 2002; zu Le vent vgl. ebd., S. 56-72. 24 Le vent. Tentative de restitution d’un retable baroque, in: Œuvres, S. 1-191, hier S. 35. 25 Ebd., S. 35 f.

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Wahrnehmung, bei der das Bewusstsein fehlt, eine Erzählung resultiert, die ihren Gegenstand verfehlt (»de sorte que le récit qu’il m’en fit fut sans doute lui-même faux, artificiel«), es sich bei der photographischen Abbildung ebenso verhalten muss: Das durch sie erzeugte mechanische Bild von der Vergangenheit ist ebenso »falsch« wie Montès’ Erzählung. Der »falschen«, mechanischen Restitution der Vergangenheit wird eine andere Art des Erzählens und der Restitution von Vergangenheit entgegengestellt: »Et puis j’y fus de nouveau, entraîné malgré moi […], tiré moi aussi à sa suite, placé dans la perspective de ce temps qui s’allongeait comme un mur gris sans commencement ni fin, décrépi, avec ses vieilles affiches déchirées aux pans soulevés par le vent, leurs couleurs fanées, ou quelquefois encore vives, criardes, leurs caractères délavés, leurs fragments de textes sans commencement ni fin non plus, sans suite, se juxtaposant, se contredisant, apparaissant entre deux déchirures comme les visages de leurs personnages-réclames amputés d’un œil, d’une joue, d’un côté entier (et parfois réduits à une joue, un œil vous regardant, vous dévisageant, énigmatique au fond du temps énigmatique entre deux lambeaux de papier comme entre deux portières écartées) […]«26

Der Erzähler wird in dieser Situation förmlich in die Vergangenheit des Protagonisten Montès hineingezogen. Wichtig ist dabei Folgendes: Die Vergangenheit wird mit einer alten, verfallenen Mauer verglichen, auf der sich noch Fetzen von Plakaten befinden, die den Blick auf Text- und Körperfragmente freigeben. Diese Mauer ist nicht nur verfallen und fragmentarisch, sie dient nicht nur als Trägermedium für Zeichen, die in ihrer disparaten Juxtaposition ein authentisches Bild erinnerter Vergangenheit ergeben; diese Mauer ist auch ohne Anfang und ohne Ende (»sans commencement ni fin«). Damit zitiert Simon einen Ausdruck, den er schon in La corde raide poetologisch verwendet hat. Dort heißt es: »Ce genre d’histoires sans commencement ni fin, le public n’aime pas ça.«27

26 Ebd., S. 116 f. 27 La corde raide, S. 89. Auch Albers: Photographische Momente bei Claude Simon, S. 68, sieht einen Zusammenhang zwischen Le vent und La corde raide: »Damit überträgt Le Vent indirekt die in La Corde raide auf Cézanne bezogenen Äußerungen über neue Formen des Sehens und Wahrnehmens auf die Möglichkeiten des ›technischen Auges‹ der Photographie […]«. Es sei hier darauf hingewiesen, dass Simon das Bild der Überlagerung von Plakaten auf einer Wand, welche in Le vent als Gedächtnismetapher fungiert, in Triptyque als textgenerierendes Dispositiv wiederaufgreift. Insofern steht Le vent nicht nur mit La corde raide, sondern auch mit dem weiter unten zu behandelnden Roman Triptyque in Beziehung.

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Gemeint sind eben jene Erzählformen, wie Simon sie in Abgrenzung vom traditionellen Erzählen zu entwickeln versucht. In den Romanen der Sechzigerjahre (La route des Flandres, Le palace, Histoire, La bataille de Pharsale) experimentiert er mit Formen des Erinnerungsmonologs28 und der Textcollage beziehungsweise des bricolage.29 In den Siebzigerjahren entstehen Romane, die beinahe ausschließlich aus Beschreibungen bestehen (Les corps conducteurs, Triptyque, Leçon de choses). Die Ästhetik dieser Texte ist dezidiert anti-mimetisch. Einzelne Lexeme beziehungsweise Bilder fungieren als générateurs, die den Eindruck erwecken sollen, als würde der Text sich selbst erzeugen.30 Als zweites Beispiel von Simons intermedialer Schreibweise soll nun im Folgenden der 1973 erschienene Roman Triptyque betrachtet werden.

28 Der Begriff des »memory monologue« stammt von Dorrit Cohn: Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction (1978), Princeton 1983, S. 183 f. und S. 247-255. Eine monographische Darstellung von Simons Romanen der Sechzigerjahre findet sich bei Wolfram Nitsch: Sprache und Gewalt bei Claude Simon. Interpretationen zu seinem Romanwerk der sechziger Jahre, Tübingen 1992. 29 Zur Collage vgl. Ferrato-Combe: Écrire en peintre, S. 103-110, zum bricolage siehe Robert L. Sims, »Claude Simon’s Bricolage Technique in La Route des Flandres, Le Palace and Histoire«, in: Degré Second 7 (1983), S. 81-108. 30 Jean Ricardou zufolge ist schon Simons 1969 erschienener Roman La bataille de Pharsale als ein sich selbst generierender Text zu lesen; vgl. Ricardou: »La bataille de la phrase«, in: ders.: Pour une théorie du nouveau roman, Paris 1971, S. 118-158. Zur kritischen Einordnung von Claude Simons Werk in den Zusammenhang der radikal antimimetischen Texttheorie der Avantgardegruppe »Tel Quel« vgl. Klaus W. Hempfer: Poststrukturale Texttheorie und narrative Praxis. Tel Quel und die Konstitution eines nouveau nouveau roman, München 1976, S. 130168. Simon selbst hat sich später von Ricardou und dem Theorieumfeld der »Tel Quel«-Gruppe distanziert; vgl. etwa das Interview, welches er Lucien Dällenbach gegeben hat, in: ders.: Claude Simon, Paris 1988, S. 170-181, hier S. 174, wo er sagt, Ricardous »lecture roussélienne« seiner Bataille de Pharsale habe nichts mit seiner, Simons, Auffassung vom Schreiben zu tun.

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Abbildung 1: Paul Delvaux, Femme au miroir; 1936

II.II Triptyque entsteht unter anderem in der Auseinandersetzung mit den Bildern des Malers Jean Dubuffet, mit dem Simon auch eine Korrespondenz führte.31 Am 15. 5. 1973 schreibt Dubuffet an Simon, nachdem er Triptyque gelesen hat: »Je voulais vous dire […] que votre livre présente ce caractère qui me comble de plaisir, de procurer une lecture ininterrompue, je veux dire qu’on peut à tout moment l’ouvrir à n’importe quelle page, et trouver dans cette page la substance du livre entier. C’est un livre qu’on ne peut pas lire – si lire est commencer à la première page et finir à la dernière. Ici on ne finit pas. On peut faire usage du livre une vie entière. On peut le lire aussi en remontant de la fin au commencement. Il n’a pas un sens, il en a autant qu’on en veut. C’est un livre à utiliser comme un tapis de Perse. Ou encore comme un talisman, une boule de cristal. Il est d’un usage permanent. À tout endroit qu’on l’ouvre on est immédiatement transporté dans votre monde parallèle, votre monde homologue, où se trouvent abolis le petit et le grand, le léger et le lourd, le corporel et le mental, le départ et l’arrivée, le vide et le plein.«32 31 Zum Verhältnis Simon/Dubuffet vgl. Jean H. Duffy: »Claude Simon and Jean Dubuffet. A Formalist Analysis«, in: Reading between the Lines. Claude Simon and the Visual Arts, Liverpool 1998, S. 13-58. Duffy rekurriert zur Beschreibung der Gemeinsamkeiten zwischen dem Maler und dem Schriftsteller auf das Deautomatisierungskonzept der russischen Formalisten. 32 Jean Dubuffet/Claude Simon: Correspondance 1970-1984, Paris 1994, S. 12.

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Dubuffet liest Triptyque als einen Text, in dem Chronologie und Sukzession keine Rolle mehr spielen; man könne, so sagt er, den Text auf jeder beliebigen Seite aufschlagen und finde sofort die Substanz des ganzen Buches. Sukzessivität werde somit durch Simultaneität ersetzt, und dies gelte sowohl für die Struktur des Textes als auch für seine Rezeption. Simultaneität bedeutet nicht nur Simultanwahrnehmung, sondern auch, dass der Text und seine Lektüre keinen Anfang und kein Ende haben (»Ici on ne finit pas.«).33 Man könne den Text nicht nur an jeder beliebigen Stelle aufschlagen, sondern ihn auch in beliebiger Richtung lesen (»Il n’a pas un sens, il en a autant qu’on en veut.«). Damit erweist sich Triptyque für Dubuffet als ein Text, der das Narrative radikal transzendiert, weil er die Dimension der Zeit aufhebt. Am 21. 5. 1973 antwortet Simon auf diesen Brief und schreibt Folgendes: »Quand par exemple vous dites qu’il n’y a pas dans Triptyque un sens mais plusieurs, que le livre ne finit pas, vous mettez très exactement le doigt sur ce que j’ai cherché, et je suis déjà comblé. Mais il y a plus: c’est lorsque vous dites encore: »… où se trouvent abolis le petit et le grand, le léger et le lourd, le corporel et le mental, le départ et l’arrivée, le vide et le plein«… Auriez-vous senti que cela, c’est grandement à vous que je le dois et que, notamment, la série »campagne« de Triptyque était influencée par telles de vos peintures comme par exemple La vie de famille, la marée de l’Hourloupe ou encore Les riches fruits de l’erreur à propos desquels Max Loreau a justement écrit: ›Ici l’espace est plain [sic], il l’est d’un bord à l’autre de la toile. Etc.‹«34

Abbildung 2: Jean Dubuffet, Les riches fruits de l'erreur, 1963

33 Vgl. das oben zitierte »sans commencement ni fin« aus Le vent (S. 116) und aus La corde raide (S. 89). 34 Ebd., S. 14. Alle Hervorhebungen im Text.

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Simon stimmt Dubuffets Lesart somit vorbehaltlos zu und ergänzt, dass Teile des Romans von bestimmten Bildern Dubuffets angeregt worden seien. Dass es sich nicht um ein Verhältnis der Beeinflussung handelt, sondern um eine grundlegende Affinität beziehungsweise Konvergenz, zeigt sich im weiteren Verlauf des Briefes, wenn Simon sagt: »Ce n’est d’ailleurs pas la première fois que je me »rencontre« ainsi avec vous. Je me rappelle quelle a été ma surprise de voir, en 66, à votre grande exposition d’Amsterdam, ce Chemin bordé d’herbes, ou ce Pied du mur herbeux ou encore ce Court l’herbe sautent les cailloux, peints par vous dans les années 50 où j’avais de mon côté tenté de faire la même chose avec des mots dans certains passages de La Route des Flandres. Quand mon bonhomme se retrouve à quatre pattes sur un chemin ou couché, le nez contre le pied du mur…«35

In Triptyque alternieren drei Handlungsstränge miteinander, die Simon als »séries« bezeichnet und die er in Form von Plänen während der Entstehung des Romans schematisiert hat.36 Die drei Serien stehen in raumsemantischer Opposition zueinander und sind jeweils dominant einem bestimmten Maler zugeordnet: Serie A: nächtliche, herbstliche, nördliche Vorstadtlandschaft (Delvaux); Serie B: ländliche Szenerie mit Dorf, Bach, Brücke und Scheune (Dubuffet); Serie C: mondänes Mittelmeerseebad (Bacon). In den drei Serien wird jeweils von einer Transgression berichtet: In Serie A findet eine Hochzeit statt, bei der der Bräutigam seine frischvermählte Braut mit einer Kellnerin betrügt und später stark angetrunken wieder auftaucht; in Serie B soll ein Dienstmädchen auf ein Kind aufpassen; um sich mit ihrem Liebhaber ungestört in einer Scheune treffen zu können, vertraut sie das Kind zwei Jungen an, die es aber ihrerseits an eine Gruppe Mädchen weitergeben, um ungestört angeln und das Liebespaar in der Scheune beobachten zu können; am Ende ertrinkt das Kind im Bach; in Serie C versucht eine Witwe zu erwirken, dass ihr wegen Drogenbesitzes verhafteter Sohn aus dem Gefängnis freikommt; sie gibt sich in einem Hotel einem Politiker hin, der ihr aber nicht weiterhilft.37

35 Ebd., S. 14 f. 36 Vgl. Ferrato-Combe: Écrire en peintre, S. 210-217, Œuvres, S. 1234-1239 und Kommentar, ebd., S. 1420-1445. 37 Zu Serie A dienten laut Kommentar (Œuvres, S. 1425-1429) unter anderem als Vorlagen: Delvaux, Femme au miroir (1936), La visite (1939), Le mirage (1967); Serie B: Dubuffet, Les riches fruits de l’erreur, Le chasseur (1949), Scène de chasse (1962), Grand jazz band (1944); Serie C: Bacon, Three Studies for a Crucifixion (1962), Lying Figure (1959), Triptych Inspired by T. S. Eliot’s Poem

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Simon konstruiert seinen Text nicht auf der Basis der Logik einer Handlung (Chronologie, Kausalität und Sukzession), sondern auf der Basis formaler Relationen. Die Serien alternieren miteinander und verweisen durch ein Spiel von Analogien und Differenzen aufeinander. Es geht nicht um die Wahrnehmung einer Handlung, sondern um die Wahrnehmung des Textes. »Je propose un mode de lecture en évoquant ces peintures composées de trois volets qui représentent quelquefois des scènes totalement différentes et quelquefois un ensemble homogène (la vie d’un même saint). Mais ce qui fait l’unité de ce genre d’œuvres, c’est une unité de nature picturale, c’est, disons, que tel rouge en haut du volet de gauche peut renvoyer à tel autre rouge ou encore à tel vert en bas de celui de droite, si bien que les trois tableaux sont composés de manière à n’en former qu’un seul. Cette harmonie des couleurs et ces renvois de l’un à l’autre, voilà ce qu’indique le titre Triptyque, du moins dans mon esprit.«38

Abbildung 3: Francis Bacon, Three Studies for a Crucifixion, 1962

Es ist nun zu zeigen, wie Simons intermediale Schreibweise funktioniert. Die von ihm als Vorbilder genannten Maler werden im Text selbst nicht erwähnt, allerdings wird von Beginn an klar markiert, dass die dargestellte Welt in einem engen Zusammenhang mit Bildern (Postkarten, Plakate, Photos usw.) steht. So beginnt der Roman mit folgendem Satz: »La carte postale représente une esplanade plantée de palmiers qui s’alignent sous un ciel trop bleu au bord d’une mer trop bleue.«39 In dieser Bildbeschreibung findet sich ein erstes Moment der Irritation, insofern die Farben und die Konturen auf dem beschriebenen Bild nicht miteinander übereinstimmen, woraus Verfremdungseffekte und Grenzüberschreitungen resultieren: »Sweeney Agonists« (1967), Triptych – Studies from the Human Body (1970), Lying Figure with Hypodermic Syringe (1963). 38 »Claude Simon, à la question«, in: Jean Ricardou (Hrsg.): Claude Simon: analyse, théorie, Paris 1975, S. 427, zit. nach Œuvres, S. 1431. 39 Claude Simon: Triptyque, in: Œuvres, S. 741-884, hier S. 743.

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»L’encrage des différentes couleurs ne coïncide pas exactement avec les contours de chacun des objets, de sorte que le vert cru des palmiers déborde sur le bleu du ciel, le mauve d’une écharpe ou d’une ombrelle mord sur l’ocre du sol ou le cobalt de la mer.«40

Man kann dies als deutlichen Hinweis auf eine von Simon intendierte und im Folgenden immer wieder vorgeführte Durchbrechung üblicher Wahrnehmungsgewohnheiten lesen. Die Postkarte, welche einen Strand darstellt, befindet sich in einer Küche, in welcher ein Kaninchen zum Essen vorbereitet wird. Damit wird eine Unterscheidung verschiedener Wirklichkeitsebenen vorgenommen: Die Küche erscheint als die primäre Ebene, während die Strandlandschaft der Postkarte einen sekundären, da durch ein Bild repräsentierten, Status zu besitzen scheint. Diese Hierarchie verschiedener diegetischer Ebenen wird jedoch im Folgenden immer wieder infrage gestellt. In direkter Kontiguität zu der Küche mit dem toten Kaninchen wird eine Landschaft beschrieben, in der sich unter anderem eine Brücke, ein Kanal und eine Scheune befinden. Die Darstellung der einzelnen Landschaftselemente erfolgt im Modus einer Kamerafahrt, das heißt eines scheinbar subjektlosen Beobachtens der dargestellten Welt.41 Auch im späteren Verlauf des Textes wird, wie noch zu belegen sein wird, an einigen Stellen nahegelegt, dass ein Teil des Dargestellten Gegenstand eines Films zu sein scheint. Insofern wird von Beginn an mit der verbal simulierten Kombination verschiedener Medien gearbeitet: Malerei, Photographie, Film und Literatur verbinden sich zu einer komplexen Einheit. Diese Einheit ist so gestaltet, dass die Rekonstruktion einer mimetischen Ordnung der dargestellten Welt unmöglich erscheint. Eine genaue Analyse legt folgende Relationen nahe: In der genannten Scheune, welche in der Nähe einer Brücke und eines Kanals gelegen ist, findet ein Liebesakt statt, der von zwei Jungen durch ein Loch in der Wand beobachtet wird. An derselben Wand befinden sich auch diverse Plakate, auf denen einerseits eine Zirkusszene mit einem Clown und einem Dompteur zu sehen ist, andererseits ein Liebesakt zwischen einem Mann und einer Frau, die in einer Sackgasse an einer Ziegelmauer lehnen. Dieser Liebesakt ist in

40 Ebd. 41 Mayr: Ut pictura descriptio?, S. 411, spricht am Beispiel von Leçon de choses von dem »Eindruck, als ob das Objekt selbst aktiv wäre, ein bestimmtes betrachtendes Subjekt dagegen unerheblich sei: Jeder Beliebige kann das Objekt sehen, durch Verbalisierung ist zwar rahmenpragmatisch Betrachtung gegeben, aber binnenfiktional bleibt die schauende Person unbestimmt«. In Triptyque dagegen oszilliert die Beschreibung zwischen vermeintlicher Subjektlosigkeit und markierter Beobachtersituation.

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der Nähe eines Kinos situiert, in dem ein Film gezeigt wird. Dieser Film wiederum stellt den Liebesakt zwischen einer vornehmen Frau und einem Politiker dar, die sich in einem Hotel in dem Seebad treffen, welches auch auf der Postkarte des Romanbeginns dargestellt wird. Dies kann man wie folgt schematisieren: (1) Liebesakt in Scheune (Beobachtung durch Guckloch an Wand) (2) Zirkusszene und Liebesakt in Sackgasse neben Kino (beides auf Plakaten an Scheunenwand) (3) Liebesakt in Mittelmeerbad (Film, der im Kino auf Ebene zwei gezeigt wird) Die diegetischen Hierarchien werden jedoch fundamental infrage gestellt. So wird an einer Stelle gesagt, dass sich in dem Hotel (Ebene drei) eine Radierung befinde, auf welcher eine Liebesszene dargestellt sei. Diese nun hat seltsamerweise viele Elemente mit der Liebesszene in der Scheune (Ebene eins) gemeinsam, welche ja diegetisch übergeordneten Status besitzt: »La gravure en taille-douce représente l’intérieur d’une grange où une servante est renversée en arrière sur le foin, les jambes écartées, la jupe relevée sur le ventre découvrant sa vulve dodue et fendue comme un fruit. Son bras tendu devant elle, elle essaye de repousser sans grande conviction un valet de ferme qui s’apprête à la pénétrer. […] Dans l’encadrement d’une lucarne, au-dessus du couple, on peut voir les têtes de deux gamins rieurs qui contemplent le spectacle.«42

Auf der Radierung wird nicht nur ein Liebesakt in einer Scheune dargestellt, sondern dieser wird zudem auch von zwei Jungen durch eine Öffnung beobachtet. Es ist also unklar, ob die Scheune diegetisch auf einer höheren oder auf einer untergeordneten Ebene im Vergleich zu der Hotel-Liebeshandlung situiert ist. Diese logische Struktur ähnelt jener, welche den Bildern des Malers M. C. Escher zugrundeliegt: Ein Element ist hier einem anderen zugleich über- und untergeordnet. Auf der Ebene der Scheune und des toten Kaninchens findet eine Handlung statt, bei welcher ein Kind im Fluss ertrinkt. Diese Handlung wird dadurch motiviert, dass ein Dienstmädchen auf dieses Kind aufpassen soll, die Verantwortung aber zwei Jungen übergibt, um sich ungestört in der Scheune mit ihrem Liebhaber zu vergnügen. Die beiden Jungen vernachlässigen jedoch ebenfalls ihre Aufsichtspflicht und beobachten stattdessen das Liebespaar in der Scheune durch ein Guckloch. Infolgedessen ertrinkt das unbeaufsichtigte Kind schließlich im Kanal. Diese Handlung, die, wie es zunächst den Anschein hat, primären diegetischen Status besitzt, wird wiederum an 42 Œuvres, S. 766.

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einer Stelle als Handlung eines Films markiert, der auf einem Plakat angekündigt wird, welches zu dem Kino gehört, in dessen Nähe der Liebesakt zwischen dem Mann im Hochzeitsanzug und der Kellnerin stattfindet. Ebenfalls als Filmhandlung entpuppt sich in dieser Textstelle die Liebesszene im Hotel.43 Die genannten und zahlreiche weitere Irritationsmomente sorgen dafür, dass in dem Text, der ja ausschließlich aus Beschreibungen besteht, Dynamik entsteht. Dabei handelt es sich nicht um die herkömmliche Dynamik einer narrativen Handlung; es handelt sich vielmehr um die Dynamik von visuellen Konstellationen beziehungsweise Beobachtungssituationen; immer wieder wird im Text deutlich markiert, dass die genannten Szenen (teilweise heimlich) beobachtet werden. Die Dynamik des Visuellen wird dadurch verstärkt, dass es innerhalb der Beschreibungen immer wieder zu einem Umschlag von Statik zu Bewegung, von Bildbeschreibung zu Handlungsbeschreibung, kommt. Umgekehrt werden dann in die Handlungsbeschreibungen plötzlich wieder Bildbeschreibungen eingefügt, die die Dynamik arretieren. Insofern kommt die Aufmerksamkeit des Lesers niemals zur Ruhe; er muss sich stets neu orientieren im Gefüge der zwischen den einzelnen Beschreibungselementen bestehenden Relationen und Hierarchien. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht nicht die Handlung, sondern der Modus der Darstellung, und dieser Modus ist in komplexer Weise intermedial, obwohl im Text kein einziges reales Bild vorkommt, sondern alle Bilder nur verbal beschriebene Bilder sind. Insgesamt ist völlig unklar, welchen Wirklichkeitsstatus die dargestellte Welt besitzt. Man kann dies beispielhaft an folgendem Passus demonstrieren: »brunes et au ventre blanc est représenté au milieu d’un bond, les deux pattes arrière en extension, les deux pattes antérieures repliées. Il se détache sur le fond sombre où, derrière les grilles de la cage, on devine dans la pénombre la présence des rangées de spectateurs assis sur les gradins en entonnoir. Des bas noirs, montant un peu au-dessus du genou, gainent les jambes blanches de la fille, dont les pieds sont noués sur les reins de son partenaire. Les lèvres de la déchirure verticale s’écartent comme les pans de rideaux mal joints, ouvrant un angle aigu à peu près au centre de la piste. Le couple qu’elles dévoilent semble épié de toutes parts par les regards invisibles des spectateurs dont le pinceau de l’artiste a seulement dessiné les contours (têtes et épaules serrées comme des mouches sur une tartine) d’un épais trait noir. Par un autre artifice du peintre, toute la lumière semble se rassembler sur l’amas de membres emmêlés et mouvants du couple luttant comme au milieu d’un ring et que les rayons du projecteur sculptent violemment, le creusant d’ombres noires, posant sur les parties saillantes (fesses, dos, cuisses) des reflets argentés vigoureusement indiqués dans une pâte épaisse. Les effets de lumière et d’ombre fondent les deux corps en une masse unique

43 Ebd., S. 781.

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modelée dans une argile molle et grise, avivée de rose par endroits et luisante de sueur. L’ensemble se déforme, s’enfle, se creuse et se recompose sans cesse. Audessus de la tête calamistrée du dompteur un tigre au pelage fauve strié de rayures.«44

Beschrieben wird in diesem Passus die Überlagerung zweier Bilder, dergestalt, dass das eine, auf welchem eine Zirkusszene dargestellt wird, sich auf das zweite durch einen Riss in seiner Mitte öffnet. Dieser Riss gibt den Blick auf ein Liebespaar frei, welches nun durch eine optische Täuschung sich scheinbar im Zentrum der Zirkusmanege befindet, und von den Zirkusbesuchern beobachtet wird. Die palimpsestartige Überlagerung der beiden Plakate führt also zu einer ganz neuen Szene, deren Beschreibung zwischen Statik und Dynamik schwankt. So werden mehrmals der Maler und sein Pinsel erwähnt, andererseits ist die Rede von einem Projektor, so als handelte es sich um einen Film oder eine Theateraufführung, und schließlich wird die Umarmung der Liebenden so beschrieben, als handelte es sich um sich bewegende Körper, die aber wiederum zu Statuen metaphorisiert werden. Der unklare Wirklichkeitsstatus des Dargestellten korreliert also mit einer changierenden Metaphorik des Intermedialen (Maler, Plakat, Projektor, Statue, Theater). Durch die Beschreibung von fragmentarischen Handlungen, denen jedes erkennbare telos abgeht, und die zueinander in keinerlei logischer, chronologischer oder kausaler Relation stehen, zwingt der Text den Leser, seine Aufmerksamkeit vor allem auf die sprachliche Verfasstheit des Textes zu richten, aus welcher die Dynamik der Textentfaltung generiert wird. Jedes Wort kann potentiell zum Verknüpfungselement zwischen diegetisch getrennten Einheiten werden, sei es durch Analogien oder Differenzen. Der Übergang von der Zirkusszene zur Liebesszene wird beispielsweise durch die Beschreibung von Körperteilen und Farben markiert. So ist in der Zirkusszene von dem »ventre blanc« des Tigers die Rede und von seinen abgestreckten Hinterbeinen und seinen angewinkelten Vorderbeinen; in der Liebesszene dagegen ist die Rede von den weißen Beinen der Frau und ihren schwarzen Strümpfen und den »pieds […] noués sur les reins de son partenaire«. Die »bas noirs« verweisen zusätzlich per Kontrast auf die etwas weiter oben genannten »bas blancs« einer »fille de ferme«, die sich in der Scheune befindet. Durch solche Korrespondenzen wird der Leser also darauf eingestellt, dass er nicht etwa nach der Logik einer Handlung und nach deren Entwicklung, nach den Intentionen der Figuren usw. fragt, sondern dass er auf die Bewegung des Textes als einer komplexen Zeichenstruktur achtet und dass er minimale Nuancen und Differenzen ebenso wahrnimmt wie Analogien und Transformationen des vorhandenen Materials. Die Spannung 44 Ebd., S. 767.

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beruht also auf der Struktur des Signifikanten und nicht auf der Logik der Handlung und resultiert aus der Etablierung dessen, was Simon in »La fiction mot à mot« als »liens qualitatifs« bezeichnet. Was ebenfalls im Text immer wieder fokussiert wird, ist der Vorgang des Beobachtens, wobei eine besondere Aufmerksamkeit auf der Materialität des Beobachtungsmediums liegt. Gleich zu Beginn werden vielfach der Vorgang des Beobachtens und der Blick des Beobachters markiert: »De la grange on peut voir le clocher. Du pied de la cascade on peut aussi voir le clocher mais pas la grange. Du haut de la cascade on peut voir à la fois le clocher et le toit de la grange. […] Couché dans le pré en haut de la cascade, on voit les graminées et les ombelles […]. Sous cet angle les ombelles sont plus grandes que le clocher. En fait on ne peut pas regarder à la fois les ombelles et celui-ci.45 À l’intérieur de la grange, dans la pénombre, l’œil d’abord aveugle commence peu à peu à distinguer des formes mouvantes, l’éclat d’une chair blanche tranchant sur du noir. Les deux côtés rapprochés de la fente limitent étroitement, à droite et à gauche, le champ de vision.«46

Neben solchen im Text häufig vorkommenden Beobachtungssituationen, bei denen die jeweils eingeschränkte Perspektive des Beobachters besonders hervorgehoben wird, finden sich auch zahlreiche Hinweise auf Beobachtungen mittels Apparaten, beispielsweise im Zusammenhang mit einer Filmvorführung, wo es heißt: »D’impalpables paillettes de poussière tournoient en scintillant dans le pinceau blafard du projecteur. […] Dans les courts intervalles de silence entre la voix tonitruante du commentateur et les vagues de la musique d’accompagnement on perçoit de nouveau comme un bruit de fond permanent le grésillement régulier du mécanisme de l’appareil. À chacun des déplacements, à l’intérieur du pinceau, des soies rigides, lumineuses ou obscures, correspondent sur l’écran des modifications de l’image projetée.«47

III. Es konnte anhand ausgewählter Beispiele aus Claude Simons Œuvre gezeigt werden, dass bei diesem Autor eine besondere Affinität zur bildenden Kunst und zum Pikturalen besteht und dass diese Affinität einerseits poetologisch funktionalisiert, andererseits schreibpraktisch adaptiert wird. Im Verhältnis

45 Ebd., S. 744. 46 Ebd., S. 748. 47 Ebd., S. 760.

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zwischen Poetologie und Schreibpraxis konnten gewisse Ungleichzeitigkeiten festgestellt werden. Während Simon in seinem Frühwerk eine Poetik des Pikturalen entwirft, ohne dass seine Darstellungstechnik diese bereits adäquat umsetzen könnte, entwickelt er ab den späten Fünfzigerjahren intermediale Darstellungsformen, die von der Form des Erinnerungsmonologs ausgehen, um dann schließlich in die Beschreibungsromane der Siebzigerjahre zu münden. Ein poetologisches Programm formuliert der Autor insbesondere in seiner Schrift »La fiction mot à mot«. Obwohl Simon in seinen poetologischen Äußerungen immer wieder auf konkrete Maler und ihre Bilder eingeht und obwohl in der Forschung nachgewiesen werden konnte, dass bei der Genese seiner Texte bestimmte identifizierbare Bilder eine Rolle gespielt haben, muss auf der anderen Seite festgehalten werden, dass die Spuren dieser Bilder in einem Text wie Triptyque an der Textoberfläche getilgt werden, dass stattdessen aber das bildliche Element in vielfacher Weise als Komponente der Darstellung und der dargestellten Welt zum Einsatz gebracht wird. Im Zuge dieser experimentellen Darstellungsweise entstehen Texte, die ihren eigenen Darstellungscharakter, ihre Artifizialität zu Lasten ihrer mimetischen Lesbarkeit in den Vordergrund rücken.

Vilém Flusser R OLF K AILUWEIT (F REIBURG )

EINLEITUNG Es ist keineswegs evident, Vilém Flusser, der 12. Mai 1920 in Prag das Licht der Welt erblickte, als eine deutsch-französische Medienpersönlichkeit zu bezeichnen. Flusser entzieht sich, wie kaum ein anderer Philosoph territorialen Zuschreibungen. Sein Leben, das ihm in einem ambivalent problematischen Sinne als bodenlos erschien, hat dennoch gewichtige deutschfranzösische Momente. Diese nachzuzeichnen ist keine Aufgabe, die als ein letztlich irrelevanter Biographismus gering zu schätzen wäre. Das Leben ist bei Flusser aufs Engste mit dem Denken verwoben. Was an Flussers Leben deutsch, was französisch war, findet Eingang in sein Philosophieren und ist mitnichten arbiträr oder gar bedeutungslos. Vilém Flusser wächst als erstes Kind einer jüdischen Intellektuellenfamilie im Prag der 20er und 30er Jahre zweisprachig (deutsch und tschechisch) auf.1 Kafka gehört zum Freundeskreis seines Vaters und von Kafka übernimmt Vilém Flusser auch das Motto der gleichzeitigen Unmöglichkeit und Unverzichtbarkeit der deutschen Sprache.2 Das Tschechische, das Flusser nur in wenigen Briefen pflegt, wird in seiner sprachlichen Biographie eine unterschwellige Rolle spielen: eine Sphäre struktureller Mündlichkeit, auf der das

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Cf. Nils Röller, Silvia Wagnermaier (Hrsg.): Absolute Vilém Flusser, Freiburg 2003, S. 25. Im Folgenden orientiere ich mich an den biographischen Skizzen in Röller, Wagnermaier: Vilém Flusser sowie an denen von Rainer Guldin zusammengetragenen Briefen und Interviews (Rainer Guldin: Philosophieren zwischen den Sprachen. Vilém Flussers Werk, München 2005) und an der philosophischen Autobiographie Bodenlos (Vilém Flusser: Bodenlos. Eine philosophische Autobiographie. Frankfurt a.M. 1999; Vilém Flusser: Bodenlos. Uma autobiografia filosófica, São Paolo 2007). Cf. Guldin: Philosophieren, S. 251.

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Deutsche und andere Sprachen wie bei einem Palimpsest3 aufliegen: »Mann hatte deutsch zu schreiben, um diese Sprache mit tschechischen Elementen zu bereichern und vor der Barbarisierung durch die Nazis zu retten«.4 1938 beginnt Flusser ein Philosophiestudium in Prag, 1939 flieht er mit seiner Verlobten und deren Familie über London nach Brasilien, wo er 1940 vom Tod seines Vaters in Buchenwald erfährt. 1941 heiratet er Edith Barth und arbeitet zwanzig Jahre lang in der Import/Export Firma seines Schwiegervaters. Abends führt er autodidaktisch sein Philosophiestudium fort. 1960 findet Flusser über den Philosophen und Ingenieur Milton Vargas Eingang in die intellektuellen Kreise von São Paolo. Er wird Dozent an der Universität und erhält schließlich 1964 einen für ihn konzipierten Lehrstuhl für Kommunikationstheorie, den er 1972 aufgibt, um sich in Europa niederzulassen. Zwischen 1972 und 1980 führt die Familie Flusser eine prekäre nomadische Existenz zwischen Genf, Meran, Fontevraud an der Loire und Aix-enProvence. 1980 kaufen Vilém und Edith Flusser schließlich mit dem Erlös ihres Hauses in São Paolo ein Haus in Robion. Robion ist ein Rückzugsort,5 von dem aus die Flussers ihre zahlreichen Reisen planen. Zumal liegt es nicht weit von Aix-en-Provence, wo Vilém Flusser regelmäßig Lehraufträge übernimmt. Er hält desweiteren Vorträge in Paris, ein nachhaltiger akademischer Erfolg in Frankreich bleibt jedoch aus. Trotz zahlreicher intellektueller Kontakte gelingt es ihm nicht, sich beruflich zu etablieren. Eine besondere Begeisterung für Frankreich, so zeugen die Briefe an seinen Freund Alex Bloch, entwickelt Flusser nicht.6 Der Durchbruch gelingt ihm stattdessen in Deutschland, wo 1983 Für eine Philosophie der Photographie erscheint, das erste seiner Werke, das ein

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Im ersten (erhaltenen) französischen Typoskript seines Essays über die Geste des Schreibens thematisiert Flusser anhand des Deutschen und Portugiesischen seine Schreibpraxis: »Le texte portugais que je tape est une traduction du texte allemand. Le texte allemand est son système de référence. Mais je ne traduis pas comme un ›traducteur normal‹. Le texte allemand n'est pas le ›méta-texte‹, mais le ›pré-texte‹ de mon texte portugais. […] Il y aura, pour ainsi dire, ›entre les lignes‹ du texte portugais des vestiges des lignes allemandes. Ça sera une sorte de palympseste [sic].« (verfügbar unter http://www.flusser-studies.net/pag/08/le-gested-ecrire.pdf, Zugriff 19.2.2010.) Flusser: Bodenlos (1999), S. 80. In einem Brief an Alex Bloch vom 19.07.1981 beschreibt Flusser Robion als einen Ort, der seit der Steinzeit besiedelt ist und in seiner lange Geschichte nicht nur den antiken Völkern getrotzt, sondern Albigensern, sephardischen Juden, Calvinisten, Jakobinern und französischen Partisanen Unterschlupf gewährt hat und mehrheitlich kommunistisch wählt (cf. Guldin: Philosophieren, 63s). Guldin: Philosophieren, S. 63.

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publizistischer Erfolg wird.7 Im November 1983 etwa berichtet er in einem Brief an Bloch begeistert, wie er an der Kunsthochschule Marburg vom Dekan zu einem Vortrag empfangen wird. Sein Buch werde wie ein Klassiker vorgestellt. In der Folgezeit ist er zumal in Deutschland ein gefragten Redner und Autor.8 Flussers Wirkungskreis bleibt aber nicht auf Deutschland und Frankreich beschränkt. Auf Reisen kehrt er nach São Paolo und Prag zurück, obschon er seinen Wohnsitz in Robion belässt. Das sozialistische Prag erschüttert ihn:9 es erscheint ihm als eine fremde Stadt, die er fluchtartig gen Deutschland verlässt. Wie er Bloch schreibt, fühlt er sich »absurderweise in Bayern gerettet«. Eine Absurdität die aus einer symbolischen Umkehr der Jugenderfahrung erwächst. War die Prager Jugend eines jüdischen Intellektuellen durch die Angst vor Nazideutschland geprägt, so ist es Flusser in den 80er Jahren fast peinlich, dass sein Judentum seinen Erfolg in der BRD offensichtlich noch potenziert.10 Am 25. und 26. November 1991 spricht Flusser auf Einladung des Goetheinstituts in Prag. Es ist der erste Vortrag in seiner Geburtsstadt. Tief bewegt beginnt er auf Tschechisch zu sprechen, fällt aber nach wenigen Sätzen, ohne es zu merken, ins Portugiesische. Am 27. November 1991 stirbt er bei einem Autounfall auf der Rückreise nahe der deutschen Grenze. Er ist auf dem jüdischen Friedhof in Prag beerdigt. Seit Grab trägt hebräische, tschechische und portugiesische Inschriften.

WORTSPRACHEN Flussers Biographie bringt es mit sich, dass Deutsch, Portugiesisch und Englisch im Mittelpunkt seiner Arbeit an der Sprache stehen.11 Deutsch ist, wenn auch unter den Einflüssen des Tschechischen sowie der klassischen Bildungssprachen Lateinisch, Griechisch und Hebräisch, für Flusser ein Leben 7 8

Vilém Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie, Göttingen 1997 [1983]. Ein 1992 vom Sender Sat 1 posthum ausgestrahltes längeres Fernsehinterview steht für Flussers Medienpräsenz. (verfügbar unter http://www.youtube.com/ watch?v=mRjiODdr-JIM; http://www.youtube.com/watch?v=evkYGYFSob8, Zugriff 19.2.2010). 9 Edith Flusser (persönlich Mitteilung im November 2007) bestätigt dies: Vom Prag ihrer Jugend ist nichts geblieben. Die Auslöschung aller privaten Bande der Vorkriegszeit macht den Flussers die Stadt schwer erträglich. 10 Guldin: Philosophieren, S. 64f. 11 In Le geste d'écrire heißt es: »…c'est la pensée elle-même qui choisit la langue […] mes pensées ›philosophiques‹, tendent vers l'allemand, les pensée ›politiques‹ vers le portugais et mes pensées ›scientifiques‹ vers l'anglais« verfügbar unter http://www.flusser-studies.net/pag/08/le-geste-d-ecrire.pdf, Zugriff 19.2.2010.

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lang primäre Ausdrucksform seiner Gedanken. Nichtsdestoweniger wird die nicht zuletzt durch Sachzwänge geforderte Übersetzung und Rückübersetzung der eigenen Texte ein treibendes Moment seines Denkens.12 In Brasilien studiert Flusser philosophische Klassiker anhand englischer Ausgaben. Seine ersten philosophischen Schriften verfasst er auf Deutsch, geht jedoch im Bemühen um intellektuellen Austausch in den 60er Jahren zum Portugiesischen über und veröffentlicht seine ersten Werke auf Portugiesisch. Er versteht sein Schreiben als eine Arbeit an der portugiesischen Sprache, die er zu einer vollwertigen Wissenschaftssprache ausbauen möchte. Auf dieses ehrgeizige Projekt, das er selbst später für gescheitert erklärt,13 soll hier nicht näher eingegangen werden. Es löste, wie man sich leicht vorstellen kann, in seinem brasilianischen intellektuellen Umfeld nicht nur Begeisterung aus, steht jedoch im Kontext einer selbstbewussten, ja bisweilen aggressiven Geste, mit der Flusser seine sprachschöpferische Tätigkeit beschreibt: »Also geht es darum, gegen die Sprachen, die ich ja liebe, zu kämpfen; die Sprache zu vergewaltigen und die Sprachen zu zwingen, aus sich neue Informationen zu gebären«.14 Vor dieser Haltung ist keine Schriftsprache, der sich Flusser bedient, gefeit. In einem scharfen Bewusstsein um die Unterschiede in der mündlichen und schriftlichen Konzeption,15 verliert der Begriff der Muttersprache an Dominanz. Flussers Werk ruht in einem ganz anderen Sinne als dasjenige Jacques Derridas in einer sprachlichen Bodenlosigkeit. Derridas Bezug zum Französischen ist geprägt von einem Monolinguismus der Anderen. Dem algerischen Juden wird in der Mündlichkeit die dialektale Prägung seiner französischen Sprache vorgehalten, was ihn bei Vorträgen ein Leben lang verunsichert. Als Jude wirft man ihn unter dem Pétain-Regime vom Gymnasium und schließt ihn somit symbolisch aus der französischen Schriftgemeinschaft aus. Die schriftstellerische Brillanz seines Werks ist insofern ein steter Ver12 Guldin (2005) beschäftigt sich ausgiebig mit der Übersetzungsthematik, wobei die Arbeit am Portugiesischen breiten Raum einnimmt. Im Abschnitt »Ausschöpfen: Schreiben zwischen Übersetzen und Rückübersetzen« (271-292) kommt er jedoch auf die 80er Jahre und das Chargieren zwischen dem Französischen, Deutschen, Englischen und Portugiesischen bei der Ausarbeitung von Vorträgen und Publikationen zu sprechen. 13 Siehe hierzu das Kapitel 8 von Bodenlos. 14 Vilém Flusser: Zwiegespräche. Interviews 1967-1991, Göttingen 1996, S. 88. 15 »Diese Dialektik zwischen Wort und Ich, zwischen dem, was die Wörter sagen, und dem, was ich schreiben will, nimmt eine gänzlich andere Form an, wenn ich den Entschluß fasse, zu sprechen anstatt zu schreiben […] Es ist also ungenau zu sagen, dass die Schrift die Aufzeichnung der gesprochenen Sprache ist. Die Transkription eines Tonbands ist kein geschriebener Text« In: Vilém Flusser: Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Düsseldorf/ Bensheim 1991, S. 46.

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such, sich in diese Gemeinschaft zurück zu schreiben. Da er aus einer säkularisierten Familie stammt, hat er keinen Zugang zum Hebräischen. Das Arabische erlernt er nicht aufgrund der sozialen Distanz. Insofern bleibt das Französische im Alltag wie im Schreiben seine einzige Sprache, doch sie ist nicht die seine.16 Anders verhält es sich bei Flusser, dessen Leben gewissermaßen durch einen Plurilinguismus der Anderen geprägt ist. Dem Judentum in kritischer Distanz verbunden, ist er offen gegenüber dem Einfluss des Hebräischen. Ebenso bleibt das Tschechische für ihn eine Muttersprache. Wenn Arabisch und Französisch für Derrida eine Diglossie ohne Bilinguismus bilden, so erträgt Flusser die diglossische Spannung, die das Tschechische unter das Deutsche zwingt, und arbeitet subversiv mit tschechischen Elementen gegen die Herrschaftssprache an. Er lernt und verwendet ohne Vorbehalte Englisch, verschreibt sich aber nicht der anglophonen Dominanz. Das brasilianische Portugiesisch wird ihm in 30 Jahren zu einer weiteren Muttersprache, die vielleicht aufgrund des Scheiterns seiner Ausbau- und Aufwertungsbemühungen in der Sprachhierarchie den Platz des Tschechischen und damit der Mündlichkeit und Nähe einnimmt. Es ist die Sprache, in der Flussers Kinder aufwachsen, die Sprache, die sie als Muttersprache als die eigene beherrschen. Für Flusser selbst ist wie für Derrida keine Sprache die eigene. In Tschechien ist er als Angehöriger einer erst privilegierten und später verfolgten Minderheit aus der nationalsprachlichen Gemeinschaft ausgeschlossen, das Deutsche ist die Sprache der faschistischen Mörder seiner Familie. Brasilianisches Portugiesisch erlernt er als Exilant, Englisch über die kurze Zeit in London hinaus als Bildungssprache. Als er in den 70er Jahren nach Frankreich kommt, ist er über 50. Wie die Tondokumente17 seiner Vorträge belegen, spricht er fließend französisch, jedoch mit einem starken Akzent. Es verwundert insofern nicht, dass Flusser Robion einem Wohnsitz in Genf, Paris oder selbst Aix-en-Provence vorzieht. Unter den einfachen Leuten der

16 Cf. Jacques Derrida: Le monolinguisme de l'autre, Paris 1996. Für eine Interpretation des Werkes im Rahmen einer Schriftlichkeits-Mündlichkeits-Theorie siehe Rolf Kailuweit:»Der gespaltene Monolinguismus«, in: Johannes Angermüller, Martin Nonhoff (Hrsg.): PostModerne Diskurse zwischen Sprache und Macht, Hamburg / Berlin 1999, S. 113–120. 17 Ich danke dem Flusser-Archiv in Berlin und insbesondere Silvia Wagnermaier für die Zurverfügungstellung zahlreicher französischer Tondokumente mit Vorträgen und Diskussionsbeiträgen Flussers. Die unter dem Titel Farbcodes 21_1a und 21_b geführten Tondateien, die einen Vortrag in Aix-en-Provence aus dem Jahr 1988 festhalten, hat Sina Jürgens in ihrer BA-Arbeit transkribiert (Sina Jürgens: Flusser Transkriptionen. BA-Arbeit. Romanisches Seminar. Universität Freiburg 2007.

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südfranzösischen Provinz herrscht eine sprachliche Entfremdung, wie sie Derrida beschreibt: ein Monolinguismus der Anderen. Das Provenzalisch haben sie verloren, ihr Regionalfranzösisch wird in den Städten und zumal in Paris verlacht. Ob man einen accent de midi oder einen tschechisch-deutschbrasilianischen Akzent hat, macht in der Sprachenhierarchie Frankreichs keinen großen Unterschied. Von der Rückkehr nach Europa an tritt das Französische für Flusser aber nicht nur als Alltagssprache, sondern auch als Publikationssprache neben das Deutsche und Portugiesische. Desweiteren schreibt und publiziert er auch vermehrt auf Englisch, um sich auf der internationalen Bühne zu etablieren.18 Seine französischen Publikationen bleiben für sein Werk von geringerer Bedeutung: einige Aufsätze in Communication et langages und ARTitudes internationales, eine kurze Monographie nach einem Vortrag am Institut de l'Environnement 1973: Le monde codifié. Eine weitere kurze Monographie – La force du quotidien – erscheint im selben Jahr als Fremdübersetzung nach einem englischen Original. 1978 schließlich publiziert sein Freund Louis Bec am Institut Scientifique de Recherche Paranaturaliste die Schrift Orthonature / Paranature. Flussers Philosophie der Photographie, das Werk, das ihn 1983 in Deutschland berühmt macht, erscheint erst 1996 posthum in französischer Fremdübersetzung. Flussers französisches Schreiben sollte jedoch nicht unterschätzt werden. Es mag aus der Sicht der Rezeption von geringerer Bedeutung sein, aus der Produktionsperspektive prägt es sein Arbeiten seit den 70er Jahren. Rainer Guldin hat dies quellenkritisch anhand des kurzen Essays »Die Geste des Schreibens« nachgezeichnet, den ich in seiner französischen »Urfassung« und deutschsprachigen »Endfassung« (1991) bereits zitiert habe. Die ältesten Versionen des Textes sind ein englischsprachiges 18seitiges und ein französischsprachiges 15seitiges Typoskript.19 Guldin vermutet, dass eventuell die englische Fassung die erste ist, da Flusser gewöhnlich seine Texte während des Übersetzens, Umschreibens und Rückübersetzens kürzt. Eine zweite Textreihe bilden die erheblich kürzeren deutschen (5 Seiten) und portugiesischen Fassungen (7 Seiten). Der deutsche Text ist fragmentarisch und diente allein der Gedächtnisstütze für einen Vortrag.20 Die portugiesische Version dagegen folgt der ursprünglichen englischen und französischen, lässt aber den Mittelteil, in dem es um Flussers eigene Schreibpraxis geht, aus. Ihr

18 Ab 1972 erscheinen Aufsätze auf Englisch, u.a. in Main Currents in Modern Thoughts (New York) (cf. Röller / Wagnermaier: Flusser, S. 115). 19 Verfügbar unter http://www.flusserstudies.net/pag/08/the-gesture-of-writing.pdf; http://-www.flusserstudies.net/pag/08/le-geste-d-ecrire.pdf, Zugriff 19.2.2010. Vgl. Guldin: Philosophieren, S. 290. 20 Für einen Vortrag in Sankt Gallen am 01.12.1981.

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kommt, so Guldin,21 insofern eine Brückenfunktion zu für einen französischen Zeitungsartikel, der wiederum der deutschen Druckfassung von 1991 und der posthum erschienenen französischen Fassung von 1999 zugrunde liegt, in deren Nachwort Louis Bec darauf hinweist, das Flusser von 1978 bis 1990 an diesem Text gearbeitet habe.22 Inwiefern treten die verschiedenen Versionen in ein Spannungsverhältnis? Betrachten wir nur eine einzige Stelle. Im französischen »Prätext« heißt es: »Je suis convaincu que la pensée serait différentes si je la penserais ›haut‹. Elle serait soumise à des règles phonétiques, ›musicales‹, qui sont présentes, bien sûr, dans la formulation silencieuse aussi, mais d'une manière moins effective. C'est pourquoi je me méfi [sic] des textes basés sur des transcriptions magnétophones. La pensée ›à haute voix‹ n'a pas la même structure que la pensée écrite.«23

In der deutschen Druckfassung lautet die komplette, bereits in Fußnote 15 fragmentarisch zitierte Passage: »Diese Dialektik zwischen Wort und Ich, zwischen dem, was die Wörter sagen, und dem, was ich schreiben will, nimmt eine gänzlich andere Form an, wenn ich den Entschluß fasse, zu sprechen anstatt zu schreiben. Wenn ich spreche, erlegen mir die Wörter phonetische Regeln auf, und wenn ich sie ausspreche, werden sie zu tönenden Körpern und Schwingungen in der Luft. Dies ist eine andere Linearität als die des Schreibens. Es ist also ungenau zu sagen, dass die Schrift die Aufzeichnung der gesprochenen Sprache ist. Die Transkription eines Tonbands ist kein geschriebener Text.«24

Der subjektiven Ton des französischen Textes (»je suis convaincu«; »je me méfi«) ist einem distanzierten apodiktischen Stil gewichen. »Die Transkription eines Tonbands ist kein geschriebener Text«. Aber ist das Lesen des Transkriptes oder zumindest das Abhören der Tonbandaufzeichnung ein Erlebnis von Mündlichkeit? Die Stimme, so lehrt uns Derrida, ist, um zu kommunizieren, immer schon kontextlöslich und wirkt potentiell über den Tod des Sprechers hinaus.25 Man mag dies, wie Waldenfels, »unheimlich« finden. Wenn Waldenfels aber feststellen möchte: »Akustische Daten lassen

21 Guldin: Philosophieren, S: 291. 22 Ebd. 23 Verfügbar unter http://www.flusserstudies.net/pag/08/le-geste-d-ecrire.pdf, Zugriff 19.2. 2010. 24 Flusser: Gesten, S. 46. 25 Jacques Derrida: La voix et le phénomène, Paris 1967.

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sich speichern, nicht aber Stimmen«,26 so beschwört er eine Präsenz vormedialer Sinnstiftung, die gerade auch Flusser verneint: »Streng genommen kann man nicht denken, ehe man Gesten macht […] der gesamte Rest ist mythisch«27. Was uns aus Flussers Tondokumenten entgegenschallt, sind nicht einfach akustische Daten, sondern seine Stimme. Ein spezifischer, nur ihm eigener Tonfall und Duktus, der unabhängig von der je gesprochenen Sprache bleibt. Das rollende [r] im Französischen wie im Deutschen wird auch dem Laien auffallen. Eine feinere Untersuchung der Intonationslinien mag diese Stimme in ihrer Eigenart bestimmen. Indem man sie analysiert, wird man sie letztlich reproduzieren können. Tondokumente sind manipulierbar, wie es nicht erst, aber verstärkt im digitalen Zeitalter auch Photographien sind. Man kann sie auseinandernehmen und wieder zusammensetzen. Sie sind Lautbilder, deren Mehrwert über die Textebene hinaus, in der Ästhetik ihrer Wahrnehmung liegt. Hört man Flusser sprechen, so sagt einem die Stimme mehr als der Inhalt der Worte. Darin liegt nicht mehr und nicht weniger Unheimliches wie in einer Photographie oder einer Unterschrift: eine Kodierbarkeit des Ereignisses jenseits der Textsemantik, eine Kodierbarkeit, der das besonderes Interesse des Medienphilosophen Vilém Flusser galt.

BILDSPRACHEN Am Ende des Textes über die Geste des Schreibens stilisiert Flusser die Schriftsteller, zu denen er sich zählt, als »archaische Existenzen«, die eine »jämmerlich eindimensionale Geste« vollführen. Der Zeitgeist gebe eine andere Form des Denkens vor: »Man muß in Form des Video, in analogen und digitalen Modellen, in multidimensionalen Codes denken«.28 In der Tat lässt sich die philosophische Praxis Flussers nicht auf Textsemantiken reduzieren. Flusser ist ein Mann der Geste: der Stimme als Lautgeste (des Lautbildes), des Gestikulierens, der Selbstinszenierung. Sein Denken drückt sich nicht allein in der Eindimensionalität der Wortsprache aus, es appelliert an den Sehsinn: berühmt sind die Photos, die ihn, der auf einem Auge blind war, mit zwei Brillen auf dem Kopf zeigen.29 Die Pointe seines Weges in die Bildlichkeit liegt darin, dass sich in ihr ein Denken ausdrückt,

26 Bernhard Waldenfels: »Das Lautwerden der Stimme«, in: Sybille Krämer, Doris Kolesch (Hrsg.): Stimme, Frankfurt a.M. 2006, S. 191-210, hier S. 209. 27 Flusser: Gesten, S. 47. 28 Ebd., S. 49. 29 Siehe etwa das Titelbild in Guldin: Philosophieren oder http://www.flusser archive.org/aboutflusser/photogallery, Zugriff 19.2.2010.

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das nicht allein die Linearität der Texte illustriert. In Flussers Überlegungen zur Mediengeschichte, die seine Philosophie der Photographie einleiten, ist es die Schrift, die als rationale Linearisierung die Idolatrie der Höhlenmalerei mit einem Mehrwert an Sinn überwindet. Das Verhältnis von Photographie und Text ist dagegen ein umgekehrtes: die Photos dienen zur Bannung von Textolatrie, indem sie den Sinngehalt von Texten übersteigen. Wie die Bilder, man denke an die Hieroglyphen oder die chinesischen Schriftzeichen, die Grundlage der Schrift bilden, setzen Technobilder Schrift voraus. Mit deren Hilfe werden die Apparate und Programme entworfen, die zum Hervorbringen der Technobilder erforderlich sind. Wie die Schrift aber über die Bilder, aus der sie entsteht, hinausreicht, reduzieren sich Technobilder nicht auf die Schriftcodes, die ihrer Erstellung zugrunde liegen. Verdeutlichen kann man sich dies, wenn man bedenkt, dass das heutige Erstellen von Technobildern nicht in der Beherrschung linearer Programmiersprachen aufgeht, sondern in einem Manipulieren graphischer Benutzeroberflächen (etwa bei Adobe Photoshop) besteht. Das Problem, dem auch dieser Text unterliegt, ist allerdings, dass wir in unseren kritischen Ansprüchen nach wie vor im linearen Code der Wortsprache kommunizieren und den Code der Bilder nicht beherrschen. Deshalb erscheinen sie uns als Abbildungen der Realität. Der Manipulation durch Bilder in der kommerziellen wie politischen Propaganda zu widerstehen, wäre im Grunde nur durch den souveränen Umgang mit mehrdimensionalen Codes möglich. Die Versuche, wortsprachlich gegen diese Manipulation anzuschreiben, bleiben in ihrer Wirkung begrenzt: Es sind die Bilder, die die Worte zu ihrer Erklärung generieren und es besteht allein eine prekäre Hoffnung, dass die Worte auf die Erstellung der Bilder zurückwirken. Flusser sieht sich von daher zu einer Doppelstrategie gezwungen: er illustriert seine Texte mit Skizzen und Schemata, die er desweiteren mit Worten erklärt, ohne dass sich die Schemata darin erschöpfen.30 Es ist die Arbeit am Bild, in der Flussers klare und polemische Sprache an ihre Grenzen stößt: etwa in der Faszination, die Farbcodes auf ihn ausüben, als semiotische Systeme der Zukunft. Farbe, so Flusser in seinem Vortrag in Aix-en-Provence 1988, ist nicht vollauf digitalisierbar, da sie ein Kontinuum darstellt. Trotz-

30 Dies verdeutlichen etwa Flussers Vorlesungen über Kommunikologie, die, dem Nachwort des Herausgebers Stefan Bollmann zufolge, ursprünglich in São Paolo gehalten, für einen Vorlesungszyklus in Marseille 1977 in ein französischdeutsches Typoskript gefasst wurden. Flusser greift das Thema in Vorlesungen in Aix-en-Provence 1986/87 und Bochum 1991 wieder auf. Veröffentlicht wird der Zyklus jedoch erst 1998 auf Deutsch. Man kann vermuten, dass die Skizzen beim Vortrag in Form von Tafelbildern realisiert wurden, die gestische und lautbildliche Gestaltung kann die Druckfassung nicht wiedergeben.

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dem wirkt sie als distinkter Code:31 ein Paradox, das zu fassen die Notwendigkeit mit sich bringt, künstlerische und technische Ausbildung zu vereinen.32 Es ist das dialogische Prinzip – hier in Gestalt eines Dialogs zwischen Kunst und Technik, das Flusser gegen die totalitäre Manipulation des Denkens ins Feld führt. Dialog als Tradition jüdischen Philosophierens wird für Flusser zu einem Arbeitsprinzip, das er selbst an vielen Stellen seines Werkes reflektiert. So ist das zweite und längste Kapitel von Bodenlos mit »Dialog« überschrieben und enthält biographisch-philosophische Skizzen seiner mündlichen wie brieflichen Zwiegespräche mit Alex Bloch, Milton Vargas und vielen anderen der Weggenossen in der brasilianischen Zeit.33 Nils Röller hat indes auf einen anderen Dialog aufmerksam gemacht, der im Gegensatz zu den in Bodenlos skizzierten, die Bildmedien einschließt.34 Es handelt sich um den Dialog zwischen Flusser und dem algerienfranzösischen Video- und Konzeptkünstler Fred Forest. Flusser hatte bereits 1972 über ein Kunstprojekt von Forest geschrieben. 1974 treffen Flusser und Forest aufeinander. Flusser entwickelt gestikulierend seine Theorie der Gesten, Forest hält dies auf Video fest. Flusser bemerkt, dass er seine Gestik nach Maßgabe der Kamera verändert. Anschließend diskutieren Flusser und Forest über das Video und nehmen auch die Diskussion mit der Videokamera auf. Dieses Band wiederum spielt Flusser auf einem Kolloquium in Arles vor und regt damit eine Diskussion mit dem Publikum an. Er zieht damit das Video in einen Dialog, in dem es sein Potential offenbart: »Neben der ihm eigenen Reflexionsmethode […] ist das Wesentliche beim Video sein ausgesprochen dialogischer Charakter. Nicht nur erblicken alle Anwesenden einander im Monitor, so wie sie vom Operator gesehen werden, und sehen den Operator, wie er sie sieht (ein erschütterndes Erlebnis, sich zu sehen, wie man gesehen wird, beispielsweise sich von hinten zu sehen), sondern, was womöglich noch wichtiger ist: Videobänder können unmittelbar nach der Aufnahme auf den Monitor projiziert werden, und die Anwesenden können ihre eigenen Gesten und die aller anderen wieder ›rückgängig‹ machen (sie auslöschen oder sie durch andere ersetzen).«35

31 Vielleicht lässt sich die Faszination der Stimme ähnlich fassen. Sie entzieht sich in ihrer Klangfarbe ebenfalls der Digitalisierung. 32 Flusser Archiv Farbcodes_21-_1_a / 21_1_b, Transkription Sina Jürgens (2007). 33 Vilém Flusser: Zwiegespräche. Interviews 1967-1991, Göttingen 1996. 34 Nils Röller: »French dialog- Vilém Flusser und Fred Forest«, in: Rolf Kailuweit, Stefan Pfänder (Hrsg.): Franko-Media: Aufriss einer französischen Sprach- und Medienwissenschaft, Berlin 2009, S. 61-70. 35 Vilem Flusser: Kommunikologie, Franfurt a. M.1998, S. 199.

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Wie Röller herausarbeitet, nimmt Flusser im Dialog mit Forest jedoch zusehends Distanz ein. Er kritisiert, dass Forest sich als Beobachter außerhalb des Spiels stellt und den Gefilmten, Flusser inklusive, zu wenig Einflussmöglichkeiten gewährt: »Flusser versteht unter Dialog also die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen […] in scharfer Auseinandersetzung mit dem Gegenüber Verantwortung für den Gegenstand zu tragen«.36 Flussers Medienphilosophie ist eine dialogische, da sie anders als etwa der Ansatz von McLuhan nicht von einer passiven globalisierten Sesshaftigkeit (global village) ausgeht, bei der die Information über die Medien (vor allem das Fernsehen) ins Haus kommt, sondern von einem nomadischen Prinzip der Enthausung des Geistes getrieben ist. Die Information kommt nicht zu uns, um zu bleiben, sie treibt unseren Geist hinaus, der angesichts der Möglichkeiten der Neuen Medien außerhalb des häuslichen Umfelds wirken kann, ohne den Körper zu bewegen.37 Flusser entwickelt diese Theorie anhand des französischen Online-Dienstes Minitel, der seit 1982 besteht und der Verbreitung des Internets vorausging. Anders als der 1983 entwickelte deutsche BTX-Dienst wurde Minitel trotz des Siegeszugs des Internets bis heute nicht eingestellt. Minitel ist ein Videotext-Service, scheint somit wort- und nicht bildsprachlich zu funktionieren. Dennoch entwickelt Flusser anhand von Minitel eine Kommunikationstheorie, die eine Theorie des Internets avant la lettre ist, d.h. einer Theorie des digitalen Operierens, die eine unmittelbare Fernwirkung auslöst. Ganz gleich ob per Texteingabe oder Mausklick, die Wirkmächtigkeit vernetzten Handelns unterscheidet sich fundamental von der Produktion und Rezeption der Wortsprache.

FAZIT Vilém Flusser ist ein Medienphilosoph, der nicht allein durch seine Texte, sondern auch durch seine Gesten, letztlich durch die Mediatisierung seines Lebens wirkt. Er tut dies vor allem in den letzten zehn Jahren seines Lebens durch das Oszillieren in einem deutsch-französischen Raum, das im beschaulichen Provencenest Robion seinen Angelpunkt hat. Sein Aktionskreis ist jedoch auch in dieser Zeit nicht auf Deutschland und Frankreich beschränkt: São Paolo, London, New York und Prag sind wichtige Bezugspunkte. Als Medienphilosoph gibt er verstörende Einblicke in eine kodierte Welt jenseits der Schrift, die mit Worten – wie denen des vorliegenden Artikels – um36 Röller: French dialog, S. 69. 37 Rolf Kailuweit,: »Postmodern Nomadism and the Beginnings of a Global Village«, in: Flusserstudies 7, 2009, http://www.flusserstudies.net/pag/07/kailuweitpostmodernno-madism.pdf, Zugriff 19.2.2010.

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schrieben, aber nicht mehr beherrscht werden kann. Es ist keine Welt des Schweigens, in der sich in mythischer Erfahrung etwas zeigt. Was erfahrbar wird, ist kalkulierbar, nur beherrschen wir erst in Ansätzen den Code, der jener kommenden Welt der Technobilder zugrunde liegt. Indem ich an dieser Stelle ganz auf Skizzen und Bilder verzichte, verbleibe ich in den Grenzen einer Epoche, deren Abschluss Flusser erahnt. Es liegt an den Lesern, mithilfe des Internets sich in jener Welt der Technobilder zu orientieren, deren Funktionsweisen sich bereits im Wirken Flussers zwischen Frankreich, Deutschland und darüber hinaus vorwegnehmen.

René Goscinny/Albert Uderzo F ERNAND H ÖRNER (F REIBURG )

René Goscinny und Albert Uderzo haben gemeinsam eine Reihe von ComicSerienhelden erschaffen. 1951 treffen sich der 1926 geborene, in Buenos Aires aufgewachsene Goscinny und der ein Jahr später als Sohn italienischer Einwanderer in Frankreich geborene Uderzo,1 gründen die Comic-Zeitschrift Pilote und schaffen Comicfiguren wie den Piraten Jehan Pistolet, den Reporter Luc Junior, das Baby und den Hund Poussin et Poussif, das Geschwisterpaar Benjamine & Benjamine oder den Indianer Oumpah-Pah le Peau Rouge. Keine dieser Figuren indes kann es in Bezug auf Popularität und kommerziellen Erfolg mit ihrem schnauzbärtigen Gallier Astérix aufnehmen. Wie in dem Dokumentarfilm über französische Comics De Tintin à Titeuf2 deutlich wird, konnten sich die beiden Künstler den immensen Erfolg von Astérix allerdings selbst nicht erklären, wo doch andere ihrer Helden, wie etwa Oumpa-Pah, nach ähnlichen Prinzipien konstruiert wurden. Eine mögliche Begründung für den durchschlagenden Erfolg liefert der Philosoph Alain Duhamel in seiner Analyse der politischen Befindlichkeit Frankreichs mit dem Titel Le complèxe d’Astérix: »Goscinny et Uderzo ont su, mieux que quiconque depuis Tocqueville, résumer en leur héros tous les traits qui forment le tempérament politique français.«3 Diese Einschätzung von Duhamel, die das für Astérix zentrale Thema des nationalen Selbstbilds an-spricht, soll nun nichtsdestoweniger in einigen Punkten relativiert werden, um so die Ausgangsfrage dieses Artikels vorzustellen. In Bezug auf die französische

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Vgl. dazu und zur exzentrischen Beobachterrolle der beiden Autoren Christopher Pinet »Myths and Stereotypes in Astérix le Gaulois«, in: Contemporary French Civilzation, 1, 1977, S. 317-336, hier S. 319; Nicolas Rouvière: Astérix ou la parodie des identités, Paris 2008, S. 13f. Regie Olivier Delcroix et Patricia Lepic (2003). Alain Duhamel: Le complèxe d’Astérix. Essai sur le caractère politique des français, Paris 1985, S. 10.

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Nation lässt sich zweifellos einräumen, dass Fragen der nationalen Identität in den Astérix-Bänden eine große Rolle spielen, aber es wäre doch verkürzt, ihre Popularität damit zu erklären, dass sie originalgetreu den Charakter der Franzosen darstellen, denn dies verschweigt zum einen, dass wir es nicht mit Franzosen, sondern mit Galliern im Jahre 50 vor Christus zu tun haben und lässt zum anderen die Frage offen, warum dieses Werk weltweit, von Norwegen bis Neuseeland, übersetzt und bis in die letzten Winkel der Welt verbreitet wurde, in denen die Frage nach der französischen Befindlichkeit allenfalls eine untergeordnete Rolle spielt. Denn die Geschichten von Astérix und seinen Begleitern sind längst zu einem globalen Bestseller geworden, ein Paradox, das schon auf der ersten Seite der Astérix-Comics deutlich wird, wenn auf der linken Seite die vielen Übersetzungen aufgeführt werden und uns rechts die Karte mit dem kleinen gallischen Dorf gezeigt wird mit dem berühmten Anfang: »Nous sommes en 50 avant Jésus-Christ. Toute la Gaulle est occupée par les Romains... Toute? Non! Un village peuplé d’irréductibles Gaulois résiste encore et toujours à l’envahisseur.«4 Der Satz, der mittlerweile auch auf der Rue René Goscinny im 13. Arrondissement von Paris auf einem Straßenschild zu lesen ist, beschreibt das lokale und globale Dorf, in dem sich Astérix bewegt. Aber auch die Interpretation der kleinen Gallier als Chiffre für den Widerstand des Einzelnen gegenüber der Großmacht (oder auch: dem Aufbegehren der französischen exception culturelle gegen die Gleichmacherei der Globalisierung) reicht nicht aus, um den Erfolg zu erklären. Denn seine ersten Erfolge feierte Astérix zu Beginn der 1960er Jahre, als Fragen der Globalisierung lange nicht so präsent waren wie heute: Erschien der erste Band Astérix le Gaulois 1961 zunächst noch in einer Auflage von 6.000, ging 1964 der vierte Band Astérix Gladiateur schon mit 60.000 an den Start und der siebte Band Le combat des chef begann 1966 mit 600.000 Exemplaren in der Erstauflage. Ende der 1960er Jahre erschienen dann auch die ersten Übersetzungen, unter anderem ins Deutsche. Dieser Anstieg ist umso bemerkenswerter, als es in Frankreich zu der Zeit noch ein regelrechtes, von konservativen Kreisen durchgesetztes Comic-Tabu gab, welches dieses Medium mit juristischen und publizistischen Mitteln durch Indizierung und

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René Goscinny, Albert Uderzo: Astérix Légionnaire (= Bd. 10), Paris 1967, S. 3, alle folgenden Astérix-Zitate stammen aus diesem Band. Vgl. die dt. Fassung: »Wir befinden uns im Jahre 50 v. Chr. Ganz Gallien ist von den Römern besetzt… Ganz Gallien? Nein! Ein von unbeugsamen Galliern bevölkertes Dorf hört nicht auf, den Eindringlingen Widerstand zu leisten.« (Asterix als Legionär, Stuttgart 1971, S. 3).

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»Schundkampagnen« zu unterdrücken suchte, ähnliches geschah im Übrigen auch in den USA in der McCarthy-Ära und in Deutschland unter Adenauer.5 Der Erfolg von Astérix ist also weder einzig auf die Darstellung eines neuen Nationalhelden (wie dies Verdaguer6 und ähnlich ja auch Duhamel behaupten), noch auf eine allegorische Globalisierungskritik zurückzuführen, sondern vielmehr, so meine (Syn)-These, auf die Darstellung des Kontaktes der Gallier aus der bretonischen Küste mit anderen Nationen oder Regionen. Denn auf den ersten Blick fällt auf, dass alle Abenteuer der Gallier durch den Dialog mit anderen Kulturen, um nicht zu sagen: mit dem Anderen, geprägt sind. Konzentriert sich der erste Band noch auf die Auseinandersetzung der Gallier mit den Römern, wird dieser Dialog bereits im zweiten Band La Serpe d’Or (1962) erweitert, wenn Astérix das Leben in der Großstadt Lutetia kennenlernt (die Pariser sind ja ein Volk für sich), im dritten sind Astérix und Obélix bei den Goten, dann als Gladiatoren in Rom, machen eine Tour durch ganz Frankreich, bevor es sie nach Ägypten, England, Spanien, in die Schweiz etc. zieht. Es ist also der Dialog zwischen Eigenem und Fremdem, zwischen Galliern und Römern, aber auch zwischen Galliern und anderen Völkern, welches die Faszination von Astérix ausmacht und die Astérix somit auch für Nicht-Franzosen attraktiv macht. Und wenn dann bei diesen Begegnungen der von Duhamel evozierte Charakter der Franzosen zum Vorschein kommen sollte, so allerdings nicht monolithisch in Stein gemeißelt, sondern eher ambivalent und im Bachtinschen Sinne offen und dialogisch, als Ergebnis von Kommunikation. Selbst die bereits zitierte Einleitung führt uns in Form von Frage (Ganz Gallien?) und Antwort (Nein…) in die Handlung ein. Und schließlich, um Duhamel in einem letzten Punkt zu relativieren, ist dieses »Zusammenfassen« des komplexen (und manchmal auch komplexbeladenen) Charakters der Franzosen mehr als ein einfaches Resümieren, sondern vielmehr Ergebnis intermedialen Einfall- und Gestaltungsreichtums auf Text- und Bildebene. Es wird also im Folgenden darum gehen, zu fragen, wie die Kommunikation der Gallier mit anderen Gruppen dem Leser durch die intermedialen Techniken des Comics schmackhaft gemacht (um nicht zu sagen: kommuniziert) wird. Ausgangspunkt ist hier die Zentralität des Konzept des Dialogs auf allen Ebenen: des Dialogs zwischen Galliern und Fremden, des Dialogs zwischen Bild und Text, der verwendet wird, um diese interkulturellen Begegnungen im Medium Comic darzustellen, sowie schließlich des Dialogs der Astérix-Comics mit anderen Texten und Gattun5

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Yves Frémion: L’ABC de la BD, Paris 1983, S. 24; Christine Gundermann, Kristin Land: Jenseits von Asterix: Comics im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts. 2007, S. 28. Pierre Verdaguer: »Le Héros national et ses dédoublements dans San-Antonio et Astérix«, in: The French Review, 61:4, 1988 (März), S. 605-614, hier S. 605.

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gen im Sinne von Michael Bachtins Konzept der Dialogizität, welcher die Astérix-Comics zu einem vielschichtigen Kunstwerk gestaltet, das sowohl Kinder als auch Erwachsene und sogar Wissenschaftler anzusprechen vermag.

TEXT UND BILD IN DIALOG Alle Kollaborationen »zeichnen« René Goscinny für den Text und Albert Uderzo für die Bilder verantwortlich. Diese Deklaration lässt zunächst vermuten, dass Intermedialität hier nur in Arbeitsteilung praktiziert wird. Comics sind aber nicht einfach nur insofern intermedial als sie Text in Form von Sprech- und Denkblasen mit Bildern kombinieren. Vielmehr sind sowohl der Text als auch die Zeichnungen bereits in sich das Ergebnis einer praktizierten Intermedialität, da beim Comiclesen Schrift immer auch betrachtet und Bilder auch gelesen werden.7 Auch und sogar insbesonders bei Goscinny und Uderzo sind die Texte gleichsam illustrativ wie illustrierend und die Bilder »sprechen Bände« und zwar sowohl Bild- als auch Textbände. Astérix ist also das Ergebnis einer Kooperation zweier praktizierender intermedialer Künstler. Wie Scott McCloud in seinem Standardwerk Understanding Comics ausführt, kann diese intermediale Kombination textlastig erfolgen (indem das Bild den Text lediglich illustriert), bildlastig (indem Worte die Handlung wiederholen, welche die Bilder zeigen), zweisprachig (indem beide das gleiche ausdrücken), additiv (indem ein Element das andere verstärkt), parallel (wenn kein Zusammenhang zwischen beiden besteht), als Montage (bei der Wörter Bestandteil des Bildes werden oder umgekehrt) oder schließlich korrelativ, wenn Wort und Bild interagieren, um eine nur in dieser intermedialen Kombination vermittelbare Botschaft zu übermitteln.8 Aufgrund der starken Konzentration der Astérix-Comics auf den Dialog finden sich zweisprachige und Parallelkombinationen nur sehr selten. Auch additive Kombination sind kaum aufzufinden und wenn, so in den wenigen Stellen, in denen rückwirkend Handlung wiedergeben wird, etwa in Le Bouclier Arverne, wenn berichtet wird, wie der Schild des berühmten Galliers Vercingétorix in römischen und dann wieder in gallischen Besitz gelangt ist.9

7 8 9

Martin Schüwer: Wie Comics erzählen. Grundriss einer intermedialen Erzähltheorie der graphischen Literatur, Trier 2008, S. 210. Scott McCloud: Understanding Comics. The Invisible Art, New York 1993, S. 153-155. René Goscinny, Albert Uderzo: Le Bouclier Arverne (= Bd. 11). Paris 1968, S. 5, 44.

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Textlastige Kombinationen finden sich etwa bei der schon erwähnten Einleitung, während bildbasierte Kombinationen insbesondere bei den üppigen Darstellungen der Prügeleien zum Tragen kommen, die Dank des Zaubertranks der Gallier völlig asymmetrisch verlaufen. Dabei kommt auch verstärkt die Montage zum Tragen und zwar immer dann, wenn sich die Schläge mit »baff«, »plaf«, »tchac« etc. als Onomatopoesien (Onpos wie der eingeweihte Comic-Experte sagt)10 in das Bild einschreiben. Bezeichnend für den hohen Stellenwert des Dialogs bei Astérix ist hierbei aber, dass selbst bei den Prügeleien beständig kommuniziert wird. Sei es mit dem immer wiederkehrenden Kommentar, »Ils sont fous ces romains!«, den Astérix schon auf dem Innenband des Comics ausspricht, während er den Römer aus seinen Sandalen schlägt, oder aber mit launigen Bemerkungen seitens der Gallier oder der Römer. Dies ist insofern außergewöhnlich, als in den herkömmlichen Superheldencomics in Kampfszenen zumeist nur zweisprachige oder additive Text-Bild-Kombinationen vorherrschen, in denen der Text die Kampfszenen kommentiert, die Protagonisten aber in den seltensten Fällen um Komik bemüht sind, wie bei Astérix.11 In den folgenden Ausschnitten aus Astérix Légionnaire entsteht der Humor durch das Wortspiel mit gros im Sinne von dem Großteil der Truppen, das Obélix direkt als Beleidigung in Bezug auf seine Leibesfülle auffasst. Der Hinweis von Astérix, er solle lieber Erkundigungen über den Gefangenen einholen, verstärkt die komische Situation, in der das Verprügeln der Römer zu einer Geste wird, die lediglich en passant geschieht. In der Art und Weise, wie sich Obélix auf die Soldaten setzt und sie durch die Luft schleudert oder sich wie im zweiten Beispiel auf sie wirft, nimmt in der Feier des Gigantesken Anleihen an Gargantua, den grotesken Helden François Rabelais’, wie auch André Stoll schreibt.12 Die Maßlosigkeit von Obélix, die ja auch beim Essen zum Vorschein kommt, wird hier mit Liebe zum Detail in jedem einzelnen erschrockenen Gesicht des Römers dargestellt. Der Römer, der einem Gebirge gleich durch die von Obélix ausgelösten tektonischen Verschiebungen ganz oben landet, trägt die stolze römische Standarte mit der Inschrift SPQR (Senatus Populusque Romanus), das Hoheitszeichen des römischen Reiches, nur noch wie ein lästiges Beiwerk und weist Obélix in ausgesuchter Höflichkeit auf andere Verpflichtungen hin. Auch die Kampf-

10 Ernst Havlik: Lexikon der Onomatopöien: Die lautimitierenden Wörter im Comic, Frankfurt a.M. 1981, S. 8; vgl. Nicole Mahne: Transmediale Erzähltheorie. Eine Einführung, Göttingen 2007, S. 48. 11 Vgl. zur Analyse der Actioncomics ausführlich Schüwer: Wie Comics erzählen, S. 42-82. 12 Vgl. André Stoll: Astérix. Das Trivialepos Frankreichs. Bild- und Sprachartistik eines Bestseller-Comics, Köln 1975, S. 41ff., 91ff., 132ff.

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szenen werden also in korrelativen Kombinationen dargestellt, bei denen Wort und Bild eine Verbindung eingehen (um nicht zu sagen in Dialog treten), um eine groteske Kampfhandlung darzustellen, die nur in dieser intermedialen Kombination möglich ist. Abbildungen 1, 2: Astérix Légionnaire, S. 43 und S. 45

IN DIALOG MIT RÖMERN Wenn nun exemplarisch an einer Seite aus Astérix Légionnaire der intermedial dargestellte Dialog mit den Römern analysiert wird, so begründet sich die Auswahl dieses Comics erstens dadurch, dass jeder intermedial praktizierender Künstler natürlich ein Legionär ist, der in fremden Gefilden arbeiten muss und zweitens, weil die römische Fremdenlegion ein idealer Ort des Dialogs ist, denn Astérix und Obélix treffen dort auf Griechen, Goten, Ägyptern, Belgiern, Briten und natürlich Römer. Die korrelative Kombination von Text und Bild zeigt sich im ersten Panel darin, dass die Verzweiflung des Hinweises vom Legionärsausbilder Hotelterminus auf die Kantine erst in der Kombination seiner Körperhaltung mit hängenden Schultern und Kopf und einem Rest Angstschweiß, der ihm aus dem Gesicht tropft, deutlich wird. Die Kantine bildet den Rahmen dieser Seite, um die vergeblichen Versuche der römischen Ausbilder zu illustrieren, den bunten Haufen aus Galliern, Griechen, Belgiern, Briten und Ägyptern

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samt Dolmetscher, in das römische Ideal einer geordneten Armee zu verwandeln. In den ersten drei Panels zeigt sich sehr deutlich der von Martin Schüwer in Bezug auf Comics erläuterte Übergang vom Systemraum zum Aggregatraum (im Sinne Erwin Panofskys), da von einem architektonischen zu einem subjektiven Raumentwurf gewechselt wird.13 Abbildung 3: Astérix Légionnaire, S. 23.

Zunächst erhält der Leser einen Überblick über den Innenhof des Generalquartiers der Fremdenlegion, im zweiten Panel sind nur noch die Fliesen zu sehen, während im dritten Panel der Hintergrund nur noch rot ist, um die subjektiven Empfindungen des armen Römers im Wortsinn zu »untermalen«: Dieser sieht nicht nur rot, sondern läuft auch rot an und dann färbt sich der Hintergrund in gleicher Weise. So können synästhetische Erfahrungen, bei

13 Schüwer: Wie Comics erzählen, S. 140ff.

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der sich Gerüche, Farben und Geräusche entsprechen, wie es Baudelaire in seinem Gedicht »Correspondances« (eben nur in gedruckten Worten) ausdrückt,14 in der Literaturform Comic konkreter realisiert werden. Erstens durch die subjektive Gestaltung des Raums, bei dem die Gefühle des Römers einer Farbe entsprechen, zweitens aber auch durch die Typographie seiner Worte, welche dem Leser nicht nur über das Bezeichnete in Kenntnis setzen, sondern dabei auch die Gefühlen, mit denen diese Aussagen getroffen wurden, näherbringen:15 Das »Quoi?« im zweiten Panel gibt in seiner unsymmetrischen Ausrichtung zusammen mit dem ungeordneten Dorn der Sprechblase die Fassungslosigkeit des Römers wieder, die Dicke der Buchstaben die Lautstärke, in dem er sein Entsetzen zum Ausdruck bringt, und die aufsteigende Anordnung schließlich seine vor Wut überschnappende Stimme. Und auch wenn der Zenturio auf dem Panel gar nicht zu sehen ist, lassen die Tropfen, die zusammen mit der Sprechblase entstehen, darauf schließen, dass er Gift und Galle spuckt. Im Kontrast dazu steht der lässige Astérix, der in kleinen gleichmäßigen Buchstaben spricht und einen klaren, geraden Dorn zur Sprechblase führt. Zweifellos ist also der Comic eine Gattung, für welches Baudelaire als Dichter der Synästhesie und großer Bewunderer der grotesken Karikaturen von George Cruikshank mit ihrem explosiven Ausdruck und extravaganten Brutalität Feuer und Flamme gewesen wäre.16 Für die grotesken Kampfszenen trifft dies sicherlich zu, vielleicht auch für die kleinen Details, wie der Helm des Zenturios, der vor Erstaunen in die Höhe springt und geschmückt ist mit einem Helmbusch, der zunächst normal liegt, sich dann bei seinem Wutanfall aufrichtet wie ein Hahnenkamm, um dann schließlich komplett die Contenance verlierend die Verzweiflung des Römers illustriert. Belinconnus (der in der deutschen Fassung bezeichnenderweise Nixalsverdrus heißt) wird schließlich endgültig zur Verzweiflung getrieben, wenn der Dolmetscher ihn bittet, langsamer zu schimpfen, da er mit dem Dolmetschen nicht nachkomme. Seine Wut wird im nächsten Beispiel durch seinen geröteten Kopf, aufgerissenen Mund, zugekniffene Augen dargestellt und zudem auch symbolisiert durch Kringel um seinen Kopf, die seine negativen Energien, die er ausstrahlt, seine Wut, zum Ausdruck bringen. Auch hier

14 »Comme de longs échos qui de loin se confondent [...] Les parfums, les couleurs et les sons se répondent.« (Baudelaire, Charles: Œuvres Complètes, hrsg. von Claude Pichois, Paris 1976, Bd.1, S. 11. 15 McCloud: Unterstanding Comics, S. 123. 16 Vgl.: »Le mérite de George Cruikshank […] est une abondance inépuisable dans le grotesque. […] ce qui constitue surtout le grotesque de Cruikshank, c’est la violence extravagante du geste et du mouvement, et l’explosion dans l’expression.« (Baudelaire: Œuvres Complètes, Bd. 2, S. 566).

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wird dies im Text durch Großschreibung und fettgedruckte, große Buchstaben zum Ausdruck gebracht. Ist dies noch typisch für jeden Comic, in dem Schriftgröße und -dicke der Untermalung von lautem, leisen Sprechen, Schreien, Flüstern etc. dienen, so zeigt das nächste Bild die originelle praktizierte Intermedialität Goscinnys. Ganz links wird der Fanfarenton, der zum Essen einlädt, visualisiert, interessanterweise wird die Musik, von der Astérix ja spricht, hier nicht in ihrer Musikalität vermittelt (sonst wäre dies durch Noten symbolisiert), sondern nur in seinem Signalcharakter. Wenn Astérix also dem Zenturio vorwirft, den Musiker zu stören, so entsteht die Komik dadurch, dass der Leser die Fanfare nicht als Musik, sondern nur als Signal registriert und Astérix’ Weigerung damit seinen Unwillen ausdrückt, sich den militärischen Regeln zu unterziehen; eine subversive Weigerung, die den Zenturio schließlich zur Verzweiflung treiben wird. Der Belgier Mouléfix im nächsten Bild hingegen versteht das Zeichen und läuft zur Suppe, seine wallonische Herkunft wird durch das Fehlen des Apostrophs deutlich gemacht (»Ça est« anstatt »C’est«), ein Charakteristikum der belgischen Sprache, mit der durchgehend in Astérix et les Belges (1979, Bd. 24) gespielt wird. Obélix versteht den Belgier gut und freut sich, wie immer, über etwas zu essen. Der Gote Chiméric hingegen hat Verständnisschwierigkeiten und fragt den Übersetzer »La soupe?«, welcher antwortet »La soupe.« Das hier erfolgte Zitieren des Dialogs verfehlt schon die Wirkung, die erst in der korrelativintermedialen Darstellung deutlich wird: In allen Astérix-Bänden sprechen Gallier und Römer französisch und haben keine Verständnisprobleme. Wenn die Römer Latein sprechen, so tun sie dies nur anekdotisch und nur in Allgemeinplätzen, die allesamt im Übrigen aus dem Zitatenschatz des Grand Larousse, den pages roses stammen.17 Die Begründung für diese babylonischen Zustände wird im Übrigen bereits auf der ersten Seite des ersten Astérix-Bandes Astérix le Gaulois gegeben, wo die Verzweiflung der arg zugerichteten Römer mit dem Sprichwort kommentiert wird: »Les romains ils perdent leur latin«. In Anbetracht dieses Sprichworts, demzufolge man im Deutschen mit seinem Latein am Ende ist, versteht dann tatsächlich ein Römer den Ausspruch seines Kollegen »Vae victis!«, wehe den Besiegten, nicht mehr. Von da an kommunizieren die Römer untereinander nur noch auf Französisch, und die Gallier natürlich auch.

17 Nancy Senior: »Les Langues étrangères dans Astérix«, in: Canadian Modern Language Review/La Revue Canadienne des Langues Vivantes, 47:2, 1991 (Januar), S. 295-306, hier S. 297.

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IN DIALOG MIT GOTEN Die Goten hingegen sprechen eine andere Sprache: Rein inhaltlich lässt Goscinny diese auch Französisch reden, aber sie werden nicht von den anderen verstanden und verstehen die anderen nicht. Dies wird dadurch deutlich gemacht, dass sie zwar auf Französisch, aber in gotischer Schrift sprechen, ihre Sprechblasen sind dementsprechend nicht rund, wie bei Galliern und Römern, sondern annähernd quadratisch und mit scharfen Ecken. Auch der Dorn ist nicht rund, wie bei den Galliern, sondern wie bei einem Blitz gezackt. Rein typographisch kommt so also schon der militärische, strenge, um nicht zu sagen »zackige« Charakter der Goten zum Ausdruck. Dass der Gote in diesem Bild allerdings keine gotische Schrift, sondern zittrige Buchstaben hervorbringt, bedeutet uns, dass er nicht seine eigene Sprache spricht. Er versucht im Gegenteil, das französische (bzw. römische) Wort zu wiederholen und dies wird zum Ausdruck gebracht in seinem Versuch, die gerade, schnörkellose Schrift der Gallier und Römer nachzuahmen, bei der es anders als in der gotischen Schrift auch keine Groß- und Kleinschreibung gibt. Dass ihm seine fremdsprachlichen Versuche nur annähernd gelingen, zeigt also sein Unverständnis und sein fehlgeschlagener Versuch, diese Sprache nachzuahmen, sodass ihm der Übersetzer dies in seine Sprache (sprich: Schrift) übersetzen muss. Neben Worten finden sich innerhalb und außerhalb von Sprechblasen im Comic streng konventionalisierte Symbole (die etwa in den japanischen Manga-Comics auch stark von den US-amerikanisch-europäischen Modellen abweichen).18 Goscinny und Uderzo übertragen auch auf diese Symbole ihr Spiel mit der Differenz zwischen Goten und Römern/Galliern durch unterschiedliche typographische Codierung. Dies zeigt sich etwa beim Zenturio Hotelterminus, dem gerade Obélix’ Rüstung vor den Kopf geflogen ist:

18 Vgl. Susanne Phillips: Tezuka Osamu. Figuren, Themen und Erzählstrukturen im Manga-Gesamtkunstwerk, München 2000; Mahne: Transmediale Erzähltheorie, S. 50; McCloud: Understanding Comics, S. 131.

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Abbildung 4: Astérix Légionnaire, S. 21

Ist die Verwendung von Symbolen in Sprechblasen typisch für jeden Comic, so liegt der besondere Humor darin, dass Goscinny und Uderzo diese Sprache konsequent weiterdenken. Wenn also Zeichen wie ein Totenschädel und eine sich kringelnde Zündschnur Ausdruck für unmäßige Wut sind, da sie andeuten, dass man seinen Gegenüber am liebsten umbringen würde, so muss dies auch ins Gotische übersetzt werden. Die Typographie wird also auch auf die symbolische Comicsprache angewendet. Dass der Gote die Äußerung des Zenturios nicht versteht, nimmt die Comic-Konvention, dass Symbole inhaltliche Äußerungen wiedergeben, à la lettre und zwar im Wortsinn des Ausdrucks lettre. Der Gote fragt folglich nach dem Inhalt der Äußerung und der Übersetzer übersetzt ins Gotische. Aus der runden ZündschnurSchnecke rechts oben wird so eine eckige, welche die Dynamik des Zeichens unterläuft. Denn die seitlichen Aktionslinien, welche die Bewegung der runden Schnecke andeuten wirken in der eckigen Version deplatziert. Die Schnecke ebenso wie die dynamische S-Figur rechts unten, die ebenso ihre Rundungen verliert und quadratischer wird, parodieren so das Ordnungsbewusstsein der Goten. Rein typographisch kommt so der schon erwähnte »zackige« Charakter der Goten, ihre Starre und Unbeweglichkeit zum Ausdruck, Stereotypen mit denen ausführlich im zuvor erschienen Comic Astérix et les Goths (1963, Bd. 3) gespielt wird. Auch der Totenschädel bekommt so kantige Konturen, vor allem aber wird ihm die preußische Pickelhaube aufgesetzt. Schließlich wird aus dem symbolisierten Wurfstern ein Hakenkreuz, was die finsteren Goten nicht nur mit der preußischen Disziplin, sondern auch dem Militarismus der Nationalsozialisten verbindet. Dieses Detail fehlt in der deutschen Übersetzung, obwohl diese gewöhnlich alle Bilder und Symbole übernimmt, da die Übersetzer hier offensichtlich keinen Anstoß erregen wollten. Allerdings wirkt der Gote in seiner graphischen Gestaltung selbst keineswegs unsympathisch und tritt weder preußisch noch militärisch auf. Dass es vielmehr der römische Zenturio Hotelterminus ist, der seinen Legionären verzweifelt römische (um nicht zu sagen: preußische) Disziplin einzutrichtern versucht, ist Teil des Humors dieses Bandes, in dem die Le-

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gionäre um Astérix, die sich alle freiwillig zum Militär gemeldet hatten, trotz aller ihnen auferlegten Strapazen stets die herrschende Ordnung karnevalistisch verdrehen. Wer für Disziplin steht und wer diszipliniert, wird vollständig auf den Kopf gestellt. Diese verkehrte Welt, in welcher der Beherrschte zum Herrscher wird und die dem karnevalistischen Weltempfinden entspringt, ist Michail Bachtin zufolge im Übrigen auch kennzeichnend für die durch Dialogizität geprägte Literatur,19 auf die später noch Bezug genommen wird.

IN DIALOG MIT ÄGYPTERN Der Ägypter schließlich, um auf das Suppenbild zurückzukommen, versteht rein gar nichts. Sein Kommentar findet in Symbolen statt, welche der Zeichenfolge »…?«, dem Ausdruck für offene Fragen, entsprechen. Da Ägypter in Hieroglyphen schrieben, so die Logik und der Humor dieser Sprechblase, ersetzen sie auch einfache Satzzeichen durch Symbole. Diese Sprechblase ist dabei auch die einzige, welche die Äußerung des Protagonisten nicht transkribiert, sondern abstrahiert, indem der Leser über den Wortlaut seiner Äußerung, anders als beim Goten, im Unklaren gelassen und ihm nur der Inhalt der Äußerung wiedergegeben wird. Dass der Ägypter für das Fragezeichen allerdings die für den gallischen Druiden typische Sichel verwendet, der mit La serpe d’or ein eigener Band gewidmet wird, unterstreicht die amüsante aber eben auch komplexe Vermengung von Eigenem und Fremdem bei Astérix. Die Sprache des Ägypters ist also, in den Kategorien von William Peirce, nicht symbolisch, sondern ikonisch, da sie eine Ähnlichkeit zwischen Zeichen und Bezeichnetem aufbaut. Wenn dieser Ägypter folglich bei der Einschreibung in die Fremdenlegion seinen Namen Courdeténis nennt, erscheint in seiner Sprechblase nur ein Tennisplatz, was der Dolmetscher dann beflissentlich in Buchstaben übersetzt.20 Dieses Spiel mit der ikonischen Sprache des Ägypters wird im Zeichentrickfilm Astérix et Cléopâtre,21 für die ebenfalls Goscinny und Uderzo als Autoren verantwortlich zeichnen, mit audiovisuellen Mitteln weitergeführt. Stellvertretend soll hier auf den Vorspann des Filmes eingegangen werden, obwohl das Produzieren von Zeichentrickfilmen im Grunde eine Form von praktizierter Intermedialität ist, die ein eigenes Kapitel in diesem Band verdient hätte. Der Film beginnt mit einer Demonstration, wie sich die Ägypter

19 Michail Bachtin: Probleme der Poetik Dostojewskis, München 1971, S. 136ff. 20 Astérix Légionnaire, S. 18 ; vgl. Senior: »Les Langues étrangères dans Astérix«, S. 298. 21 Regie René Goscinny et Albert Uderzo (1968).

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vor 2000 Jahren zur Zeit Kleopatras ausdrückten. Man sieht und hört eine animierte Zeichentrickfigur sprechen und gleichzeitig ist über ihr eine Sprechblase eingezeichnet, in der die Äußerungen der Figur erscheinen. Der Zeichentrickfilm zitiert also zuerst einmal die Gattung Comic, aus der er sein Material entnommen hat – denn in der Tat ist dies die Verfilmung des gleichnamigen Comics. Während eben erwähnter Dialog aus Astérix Légionnaire das Medium Schrift durch typographische Gestaltung erweiterte, so zitiert der Zeichentrick zunächst das Medium Comic, um es sogleich mit filmischen Mittel zu erweitern. So wird das Spiel mit der ikonischen Verwandtschaft von Zeichen und Bezeichnetem auf die Spitze getrieben: Erscheint in der Sprechblase ein Auto, spricht der Ägypter das Wort Auto, das klingt wie die Geräusche eines startenden und fahrenden Autos: auch der Klang seiner Sprache ist also ikonisch. Zeigt die Sprechblase eine Mücke, ahmt der Ägypter das Summen nach und schaut gleichzeitig mit den Augen hin und her, als würde die Mücke um sein Gesicht kreisen: Die Mücke ist also nicht nur dadurch präsent, dass sie mithilfe der Sprechblase sowie der Artikulation des Ägypters ikonisch statt symbolisch dargestellt wird, sondern auch insofern sie direkt zu existieren scheint, sobald von ihr in artikulierten Lauten und in Sprechblasen gesprochen wird. Schließlich sieht man in der Sprechblase ein Ei und der Ägypter gackert dazu wie ein Huhn, dann muss er husten, was er in einer theatralischen à part-Geste tut, und das ikonische Ei in der Sprechblase verformt sich im gleichen Rhythmus, in dem er hustet, bis es schließlich durch das Husten aufplatzt. Anstelle der Arbitrarität von Zeichen und Bezeichnetem wird hier also eine direkte und unmittelbare Verbindung der beiden gefeiert, die sich sogar schließlich auf die Beziehung zwischen Sprecher und Zeichen überträgt. Der Sprecher im Hintergrund erläutert, dass durch die Übersetzungsversuche des alten Ägyptisch in die heutige Sprache einige Synchronisationsprobleme aufgetreten seien und zur Untermalung verlaufen dann die Lippenbewegungen des Ägypters zu seinen Worten asynchron. Der kurze Vorspann zitiert also nicht nur das Medium Comic, um es mit dessen eigenen Mitteln zu erweitern, sondern weist auch auf seine eigenen zeichentrickfilmischen Beschränkungen hin. Denn in der Tat entsprechen die animierten Lippenbewegungen nicht den Äußerungen der Zeichentrickfiguren, was allerdings in erster Linie daran liegt, dass die Mundbewegungen eben nur »comichaft« und nicht realitätsgetreu gestaltet sind. So wird der ikonische Charakter des Zeichentrickfilms selbst in Erinnerung gerufen, der nicht nur mit der ikonischen Sprache der Ägypter spielt, sondern eben auch nur eine ikonische Darstellung der Gallier und Ägypter ist.

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IN DIALOG MIT PIRATEN Bislang wurde gezeigt, wie die Dialoge der Comichelden durch den Dialog zwischen Text und Bild im Comic dargestellt wurden. Die dialogische Struktur von Astérix zeigt sich aber auch im Sinne Bachtins in dem Dialog mit anderen Werken und zwar Texten und Bildern. Bekanntermaßen hat Julia Kristeva Bachtins Idee der dialogischen Beschaffenheit der Literatur (und des Wortes im Allgemeinen), in der immer andere Stimmen mitklingen,22 zum Konzept der Intertextualität ausgebaut und dabei einen erweiterten Textbegriff zugrunde gelegt, der auch Nichtliterarisches umfasst.23 Um nun den Dialog von Astérix mit anderen Texten und Bildern zu untersuchen, möchte ich sozusagen diesseits von Kristeva bleiben und die Frage nach dem Textbegriff und der Definition von Intertextualität – oder terminologischer Alternativen wie etwa Intramedialität24 – ausklammern und diesbezüglich auf die Einleitung verweisen. Stattdessen möchte ich auf den Aspekt der Gattungshybridität zurückkommen, den Bachtin als zentrales Merkmal des dialogischen Romans bezeichnet. Denn ähnlich wie sich das von Bachtin untersuchte Werk Dostojewskis aus Gattungen wie Menipee, sokratischer Dialog, skaz, karnevalistischer Literatur etc. zusammensetzt,25 so macht auch Astérix ähnlich(e) disparate Anleihen. Neben dem karnevalistischen monde à l’envers in Bezug auf die Machthierarchien bei den Römern und die groteske Darstellung von Obélix ließen sich auch Parallelen zu der für Bachtin so wichtigen Gattung des skaz ziehen. Denn die Dialogdarstellung in Sprechblasen ist sicherlich im Geiste des skaz, der ja eine naturalistische Niederschrift einer lebhaften und spontanen mündlichen Erzählung ist.26 Und auch die Interpretation von Astérix als populäre Epopöe, wie bei Stoll und Röhl,27 deckt sich mit der Traditionslinie, die Bachtin von dieser antiken Gattung zum dialogischen Roman zieht.28 Zu diesen literarischen Bezügen kommen im Falle von Astérix aber vor allem auch Bezüge zu anderen Medien wie 22 Bachtin: Probleme der Poetik Dostojewskis, S. 204. 23 Julia Kristeva: »Poésie et Négativité«, in: dies.: Semeiotike. Recherches pour une Sémanalyse, Paris 1969, S. 246-277, hier S. 255. 24 So schlägt etwa Irina Rajewsky: Intermedialität, Tübingen 2002, S. 44ff., vor, unter Intramedialität die Bezüge innerhalb eines Mediums zu bezeichnen, wonach Intertextualität auch eine Form von Intramedialität wäre, während Intermedialität das Zusammenspiel unterschiedlicher Medien bezeichnet. 25 Bachtin: Probleme der Poetik Dostojewskis, S. 136. 26 Franziska Mosthaf: »Skaz«, in: Ansgar Nünning (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur und Kulturtheorie, Stuttgart 1998, S. 490-491, hier S. 490. 27 Stoll: Astérix; Magnus Röhl: »Le cycle d’Astérix – épopée de la 5e République. Quelques réflexions«, In: Moderna språk, 69:1, 1975, S. 35-43. 28 Bachtin: Probleme der Poetik Dostojewskis, S. 121.

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etwa Gemälden, welche das Comic in seine polyphone Struktur aufnimmt. Hierzu nur ein Beispiel: Nach der obligatorischen Begegnung mit den Piraten, bei der Astérix und Obélix deren Schiff zerstören, retten sich die Seeräuber auf ein Floß, und der Kapitän seufzt »Je suis médusé«. Bereits in diesen drei Worten zeigt sich Bachtins intertextuelle fremde Stimme, die sich äußerst vielschichtig gestaltet: Ein kindlicher Leser könnte dies in dem Sinne verstehen, dass er sich wie eine Qualle (méduse) fühlt, ein erwachsener Leser, der den Medusa-Mythos kennt, an das Bild der Versteinerung denken, da ähnlich wie der Anblick von Medusa auch das Auftauchen der Gallier Schaden und Schockstarre hinterlässt. Der an praktizierter Intermedialität interessierte Comicleser schließlich könnte im französischen Text auch die Anspielung auf Théodore Géricaults »Le radeau de la Méduse« erkennen, das in der Tat auch bildlich zitiert wird. Denn eine »fremde Stimme« wird in diesem Panel auch in Form eines Bildzitats hör- bzw. sichtbar:29 Abbildung 5: Astérix Légionnaire, S. 35

29 Die deutsche Übersetzung kann diesem bildreichen Wortspiel auf intertextueller Ebene nicht entsprechen und lässt den Piratenkapitän lediglich seinen Ausruf beenden, sodass er die erste Silbe »Flie…« ausruft bevor die Gallier entern und die zweite Silbe, wenn er bereits auf dem Floß sitzt. Anstelle der dialogischen Anspielung wird so lediglich die schnelle Zerstörung ihres Schiffes zum Ausdruck gebracht, Asterix als Legionär, S. 35, vgl. Stoll: Astérix, S. 116. Stolls Berechnungen zufolge gehen in der Übersetzung 70-80% des Sprachwitzes verloren (175).

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Abbildung 6: Théodore Géricault: Le radeau de la Méduse

Die Komik dieses Zitats besteht weniger in der Hintergrundgeschichte der Méduse (der Name eines französischen Schiffes, das vor Afrika strandete und ein Teil der Besatzung auf einem Floß hinterließ, auf dem bald Kannibalismus ausbrach), sondern im direkten Bildzitat. Die Bildaufteilung inklusive der Fluchtpunkte ist nahezu identisch angeordnet. Während bei Géricault die Besatzung des Floßes ihren Kollegen nachwinkt, die sich in den Rettungsbooten retten konnten und sie im Stich ließen, so winken die Piraten ihrem Schiff mit einem Tuch nach, dessen Flagge gerade im Meer untergeht, wobei das Tuch den Panelrahmen sprengt und so den Gesamteindruck des Bildes auflockert. Auch durch die unterschiedliche, bei Astérix viel hellere und freundlichere Farbgebung verliert sich die düster-romantische Untergangsstimmung. Die Figuren sind dabei identisch angeordnet, wobei sich Uderzo auf die Hauptfiguren beschränkt und einige anderen weglässt. Bei diesen sind die Ähnlichkeiten aber bemerkenswert: Der Anführer der Piraten trägt ein rotes Oberteil und hat lockiges Haar und Bartwuchs wie das Original von Géricault. Hinter ihm sitzt ein resignierter Insasse mit einem Kopftuch um die Stirn gewickelt, an der Tonne lehnen einige erschöpfte Gestalten, im Hintergrund diskutieren drei Männer, wobei der eine bei Géricault in den weiten Horizont zeigt, während bei Uderzo das Pendant nur gestikuliert. Ganz hinten auf dem Floß winken bei beiden Bildern ein dunkelhäutiger und ein hellhäutiger Mann mit Stofftüchern bzw. Hemden. Um sie herum liegen einige Versehrte, wobei diese bei Uderzo im Wortsinn mit einem blauen Auge von der Begegnung mit den Galliern davon gekommen sind, während sie bei Géricault vor Erschöpfung gestorben sind.

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Uderzo und Goscinny haben dabei nicht nur die Personen von Géricault kopiert, sondern lassen diese auch in den folgenden Astérix-Bänden immer wieder auf- (und unter-)tauchen: Barbe Rouge, der rote Kapitän mit der Augenklappe, der zwar zunächst immer unerschrocken dreinblickt, dann aber an den Folgen der Begegnung regelmäßig verzweifelt; Triple Patte, der gestikulierende Pirat, der eine Krücke und graue Haare bekommen hat und immer lateinische Zitate zum Besten gibt, sowie Baba, der dunkelhäutige Ausguck, der kein »R« aussprechen kann, womit die französischen Einwanderer aus Übersee nachgeäfft werden (was in der deutschen Übersetzung natürlich nur bedingt funktioniert).30 Dass die Piraten seit diesem ihrem ersten Auftritt in Astérix Légionnaire also immer wieder mit für sie fatalen Folgen auf unsere Gallier treffen, ist ein running gag, der direkt dem romantischen Gemälde von Géricault entsprungen ist. Im Sinne der bachtinschen Dialogizität haben Uderzo und Goscinny den Figuren Géricaults einen eigenen Charakter und eine eigene Sprache gegeben und trotzdem spricht durch diese (zumindest für den Eingeweihten) immer noch die fremde Stimme eines romantischen Gemäldes.

IN DIALOG MIT DEM BARDEN Insofern als Goscinny und Uderzo die Dialoge und Dialogizität in vielfältigen Varianten praktizierter Intermedialität darstellen, muss es doch auf den ersten Blick verwunderlich erscheinen, dass der einzige praktizierende Intermedialist im Astérix-Comic von der Kommunikation zumeist ausgeschlossen wird: Es ist dies der Barde Assurancetourix, im Deutschen etwas fantasielos mit Troubadix übersetzt, der sowohl in seinen Liedtexten als auch der gesanglichen Leistung und der Begleitung auf der Harfe so wenig überzeugend ist, dass er von seinen gallischen Freunden bei den meisten Festen geknebelt an einem Baum gefesselt wird, damit er die Feier mit seiner Kunst nicht verdirbt (s. Abbildung). Aus Sicht der Gallier zeitigen die intermedialen Vortragskünste von Assurancetourix so verheerende Folgen, dass eine assurance tout risque, also eine Vollkaskoversicherung dringend vonnöten wäre. Aus Sicht des Barden kann das Publikum seiner hohen Kunst aus Ignoranz nichts abgewinnen und er verachtet diese folglich als Barbaren, was insofern selbstironisch ist, da die Gallier, wie auch in dem ersten Zitat von Hotelterminus ersichtlich wird, ja allesamt von den Römern als Barbaren bezeichnet wurden. Wenn Assurancetourix in Astérix et les Normands (1966, Bd. 9) etwa die Gallier verlassen möchte, um seine Karriere in der Haupt-

30 Vgl. zur Übersetzungsproblematik bei Astérix im Allgemeinen: Monique Jacqmain, Herman Cole: »Astérix à la conquête de l’Europe«, in: Babel, 16, S. 4-12.

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stadt Lutetia weiterzuverfolgen, da er sich von Ignoranten umgeben sieht, scheint er den Elitarismus eines Avantgardisten zu verkörpern, der sich als unverstandener Künstler definiert, für den die Zeit noch nicht reif ist.31 Eine erste Deutung könnte deswegen sein, dass Uderzo und Goscinny sich damit vom Elitarismus der sogenannten Höhenkammliteratur absetzen und ihre Comics als Gegengewicht zum hermetischen Elitarismus der Literatur verstanden wissen wollen.32 Diese Interpretation würde darauf hinauslaufen, dass die beiden Autoren in Assurancetourix ihr Gegenbild sehen, das Andere, welches sie von sich weisen wollen. Doch wie im dialogischen Roman im Sinne Bachtins gibt es auch bei Astérix keine monolitischen, festgefügten Positionen, was in diesem Fall bedeutet, dass das Andere stets auch einen verstoßenen oder verdrängten Teil des Eigenen verkörpert, und folglich den Autoren ihre Figur Assurancetourix vielleicht gar nicht so fremd ist. Denn ihre Comics wurden vom breiten Bildungsbürgertum zunächst ja ebensowenig anerkannt wie die Kunst von Assurancetourix von den Galliern. Allerdings sind die Lieder, die Assurancetourix singt, Parodien populärer französischer Chansons,33 sodass er durch diesen Anachronismus gleichzeitig als unverstandener gallischer Avantgardekünstler und als repräsentativer Sänger des (französischen) Volkes in Erscheinung tritt. Gemeinsam ist Uderzo/Goscinny und Assurancetourix der unbedingte Wille, die eigenen Experimente gegen alle Widerstände fortzusetzen, nie die eigenen Überzeugungen zu verlieren sowie nicht zuletzt der posthume oder zumindest späte Erfolg. Denn durch letzteren unterscheidet sich Astérix von den anderen Comics aus der Feder der Autoren wie Oumpa-Pah oder Jehan le Pistolet. Und auch beim gallischen, Chansons singenden Barden ist es bestimmt nur eine Frage der Zeit, bis seiner Kunst der praktizierten Intermedialität der Durchbruch gelingen wird.

31 Nicolas Rouvière: »Les Figures paradoxales de l'auteur dans Astérix«, in: Recherches et Travaux, 64, 2004, S. 213-228, hier S. 214. 32 Verdaguer: »Le Héros national et ses dédoublements dans San-Antonio et Astérix«, S. 605. 33 Vgl. Rouvière: »Les Figures paradoxales de l'auteur dans Astérix«, 71.

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Abbildung 7: Astérix Légionnaire, S. 48

Gerhard Rühm U RSULA R ENNER -H ENKE (D UISBURG -E SSEN )

»grenzüberschreitungen zwischen den künsten kennzeichnen einen grossen teil meiner arbeit«,1 schreibt Gerhard Rühm. Wie aber bringt man »grenzüberschreitungen« in Bücher? Wie die mediale Vielfalt, die konkrete Materialität und die besondere Sinnlichkeit seiner künstlerischen Arbeiten? Eines Avantgardisten, der seit über 60 Jahren hartnäckig an der Konzeptkunst festhält? Die im Erscheinen begriffene, auf zehn Bände angelegte Werk- und Studienausgabe wird dazu beitragen, die ungeheure kreative Energie dieses Wort-Bild-Klang-Künstlers, eines ausgebildeten Musikers und Komponisten und späteren Graphikprofessors, vor Augen zu führen.2 Definitiv an seine Grenzen stößt eine solche Ausgabe, wenn es um die Dokumentation der Aktivitäten geht, die im »produktions-kollektiv« der »Wiener Gruppe«3 mit

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Gerhard Rühm: »musiksprache – bildmusik. intermediale aspekte meiner arbeit«, in: Entgrenzungen in der Musik 8, 1987, S. 304-315, S. 304. Rühms konsequente Kleinschreibung wird in allen Zitaten beibehalten. Gerhard Rühm: gesammelte werke, hrsg. von Michael Fisch, Berlin 2005ff. (im folgenden: gw); bisher sind erschienen die Bde. 1.1 / 1.2 gedichte, hrsg. von Michael Fisch, Berlin 2005; Bd. 2.1 visuelle poesie, Bd. 2.2 visuelle musik, hrsg. von Monika Lichtenfeld, Berlin 2006. In Vorbereitung sind Bd. 3 auditive poesie, hörspiele; Bd. 4 prosatexte, bildgeschichten; Bd. 5 theaterstücke, filme. Die Ausgabe wird ab 2010 fortgesetzt im Verlag Matthes & Seitz, Berlin. Publiziertes bis 2004 verzeichnet Michael Fisch: Gerhard Rühm – Ein Leben im Werk 1954-2004. Ein chronologisches Verzeichnis seiner Arbeiten, Bielefeld 2005 (Bibliographien zur deutschen Literaturgeschichte Bd. 14). So die Bezeichnung seit 1957; vgl. Die Wiener Gruppe. Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm, Wiener. Texte, Gemeinschaftsarbeiten, Aktionen [1965], hrsg. von Gerhard Rühm, erweiterte Neuausgabe, Reinbek 1985, den offiziellen Band Österreichs zur Biennale: die wiener gruppe. ein moment der moderne 1954-1960. die visuellen arbeiten und die aktionen / the vienna group. a moment of modernity. the visual works and the actions. friedrich achleitner; h.c. artmann; konrad

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ihren Hauptakteuren Friedrich Achleitner, H.C. Artmann, Konrad Bayer, Gerhard Rühm und Oswald Wiener entstanden. Nicht nur die Aktionen, jene legendären Vorläufer von Performance und Happening zwischen 1952 und 1964, dem Jahr, in dem Konrad Bayer Selbstmord beging, entziehen sich der Vermittlung. Auch die verschiedenen inter- oder plurimedialen Arbeiten, die Künstlerbücher, die performativen Laut- und Sprechtexte, die Hörspiele, Theater- und Musikstücke, können nur mit mehr oder weniger großen Kompromissen konserviert oder reproduziert werden. So scheint es der Verfasserin eines neueren Lexikonartikels »nahezu aussichtslos«, ein solches »absichtsvoll über die Spartengrenzen von Literatur-, Klang, szenischer bzw. bildender Kunst geführtes Werk wie dasjenige Gerhard Rühms in einen Artikel für eine dezidiert als Literaturlexikon ausgewiesene Publikation zu zwingen.«4 Unabhängig von der Frage, wie es gelingen kann, der Nachwelt die schwindelerregende Vielfalt von Rühms künstlerischen Tätigkeiten zu überliefern, ergibt sich das nicht minder komplexe Problem, wie über sie gesprochen werden kann. Denn sie lassen sich kaum auf einen gemeinsamen Nenner bringen oder in allgemeine Aussagen fassen; sie verlangen vielmehr von Fall zu Fall bzw. von Werkgruppe zu Werkgruppe eine genaue Analyse des jeweiligen Verfahrens, weshalb nicht selten die Interpreten in der Wiederholung von Allgemeinplätzen stecken bleiben. Hier kommt den Auskünften Rühms eine besondere Rolle zu – nicht nur werden sie bereitwillig gegeben, sie versuchen dem Fremdeln des Publikums aktiv mit Verstehenshilfen zu begegnen.5 Sie füllen Leerstellen, kontextualisieren oder erläutern die implizite Theorie, setzen auf diese Weise einen Rahmen, den die Arbeiten selbst vermeiden. So ergibt sich ein Paradox: während Rühm für seine Arbeiten Narration und Illustration ablehnt, stellen sie sich in seinen Auskünften unwillkürlich ein. Sie werden zum Supplement und zu einer, in immer wieder neuen Anläufen erzählten Geschichte von den

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bayer; gerhard rühm; oswald wiener, hrsg. von Peter Weibel, Wien / New York 1997, und den Katalog: Die Wiener Gruppe. Kunsthalle Wien 13.11.1998 21.2.1999, Wien 1998. Christiane Zintzen: »Gerhard Rühm«, in: Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, neu hrsg. von Thomas Kraft, München 2003, S. 1060-1064. Rühm dazu im Gespräch: »ich hab den fehler gemacht, würd ich sagen, in der ganz frühen zeit, in den fünfziger jahren, dass ich die sachen sozusagen kommentarlos hingestellt hab oder wie ›friss oder stirb‹. zum beispiel mein erster gedichtband im rowohlt-verlag gesammelte gedichte, visuelle texte, ist längst vergriffen, da ist kein einziges wort kommentar drin, und ich hab feststellen müssen, dass das sehr zum schaden der sache ist, dass es doch sehr wichtig ist, denn alles hat seine spielregeln [...]«. (Nov. 2009, s.u. Anm. 6).

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(theoretischen und praktischen) Voraussetzungen der intermedialen Erweiterungen und dem Ereignischarakter seiner Arbeiten. Auch mein Beitrag macht ausgiebig Gebrauch davon, erweitert noch um einen aktuellen Selbstkommentar aus dem November 2009.6 Auf das Thema der Intermedialität kommt Rühm vielfach zu sprechen, nicht zuletzt verbunden mit dem »klassischen« Wunsch nach einer Erweiterung der Ausdrucksmöglichkeiten von Sprache: »so gerate ich von der sprache zur musik, wenn mir das wort für das, was ich zum ausdruck bringen möchte, zu eng, zu begrenzt erscheint – parallel dazu vom schreiben zum gestischen zeichnen. so sind auch meine textmusiken oder ›tondichtungen‹, wie ich sie im buchstäblichen sinne verstanden nenne, auch – nicht nur – auseinandersetzungen mit grenzbereichen der sprache und allgemein des ausdrucks, versuche, etwas über die wortsprache hinaus zum ausdruck zu bringen, was ja in gewissem grade schon die reine lautdichtung angestrebt hat und mit immer differenzierteren mitteln (zum beispiel den technischen möglichkeiten des modernen tonstudios) weiter anstrebt.«7

Für den Typus der Lautdichtungen sieht er sich in der Tradition einer praktizierten oder erträumten Sprachgebrauchskritik seit der Romantik: »scheerbart, krutschonych, hugo ball und andere mehr sind aus bedenken gegen die durch alltäglichen gebrauch entwertete sprache schon früh zu einer ›reinen‹ lautdichtung gekommen, ja schon novalis hat von ihr geträumt. Hier vollzieht sich letztlich eine sublimierung der sprache in musik, vielleicht auch eine des rational begrenzten, des definierten oder definitiven ins vieldeutige und zugleich feiner differenzierte, ins prozessuale, die verwandlung des bloss repräsentierten in präsentation: die entdeckung des körpers, die versinnlichung des zeichens – das ist der poetische und ganz allgemein ästhetische akt par excellence.«8

Diesen ästhetischen Akt, die Sprech-, Bild-, Lauthandlung als Komposition und synästhetisches Ereignis, stiftet oder vollzieht, könnte man etwas empha-

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7 8

Die Reflexionen Rühms werden in der Werkausgabe einen eigenen Band füllen. Zuletzt ist bei Matthes & Seitz eine kleine Sammlung unter dem Titel Aspekte einer erweiterten Poetik. Vorlesungen und Aufsätze (Mit einem Nachwort von Jörg Drews. Berlin 2008) erschienen (im folgenden: Aspekte). Im Rahmen eines von Renate Kühn am Institut für deutsche Sprache und Literatur an der TU Dortmund am 21/22.11.2009 veranstalteten Rühm-Symposions führte Friedrich W. Block ein öffentliches Gespräch mit Gerhard Rühm. Ich danke Gerhard Rühm und Friedrich W. Block für die Erlaubnis zum Mitschnitt und die persönlichen Gespräche am Rande des Symposions. Rühm: »musiksprache – bildmusik«, S. 304f. Ebd.

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tisch sagen, der Mensch als Künstler. Zugrunde liegt diesem Akt praktizierter Intermedialität vor allem eine elementare Unterscheidung und Beobachtung, nämlich die »von gesprochener und geschriebener sprache. sprache äußert sich vor allem mittels akustischer zeichen (phoneme) und optischer zeichen (grapheme). sie bedient sich also zweier voneinander grundverschiedener medien. diese zeichen müssen nicht bloß mittel zum zweck (einer bestimmten mitteilung) sein, sondern können selbst als ausdrucksmittel gesetzt werden. zeichen haben, unabhängig von ihrer mitteilungsfunktion, eine eigene realität: man sieht sie oder hört sie. löst man sie von ihren begriffsinhalten los und benutzt ausschliesslich ihre materiellen eigenschaften, dann entstehen buchstabenbilder oder lautkompositionen. bleiben die wortgestalten (begriffe) gewahrt, kann der informationsgehalt des textes durch verschiedene schrifttypen und grade, die anordnung auf dem blatt usw. – oder durch betonung, klangfarbe, schallrichtung, entfernung usw. erweitert und differenziert werden [...]. demnach drängt sich eine grundsätzliche unterscheidung zwischen lese- und hörtexten auf.«9

Die visuellen Eigenschaften der Schrift öffnen die Grenze ins Feld der Zeichnung und des Graphischen, die lautlichen Eigenschaften der Sprache öffnen Grenzen hin zur Akustik und Musik. Für die performative Realisation des Sprach- oder Klang-Materials wird eine wie auch immer geartete Bühne gebraucht. Konsequenzen ergeben sich somit auch für die traditionelle Bühnenkunst. Programmatisch schreibt Rühm 1961: »das neue theater ist [...] gekennzeichnet durch eine grundtendenz: der realistischen, ›konkreten‹ einstellung zum material. es handelt sich um die sinnlichen erscheinungsformen (vom menschen ausgehend), ihre beziehungen und deren wirkung. das problem der einheit von ort und zeit ist im konkreten theater nicht mehr gestellt. denn hier wird nichts mehr vorgetäuscht, nichts beschrieben, nichts erzählt. es verhält sich so, wie es geschieht, und es geschieht jetzt und da, unter diesen oder jenen umständen (gegebenheiten), form und inhalt, darsteller und dargestelltes sind identisch. es ist immer gegenwart.«10

Hier, in der präsentischen Inszenierung, werden die akustischen, textuellen, visuellen Materialien so miteinander ins Verhältnis gesetzt, dass ihre grenzüberschreitende Kombinatorik etwas Neues, Drittes entstehen läßt, das unter keinen Umständen allein zustande gebracht werden könnte. Die verschiedenen Zeichensysteme mit ihrer gewöhnlich nicht reflektierten Qualität oder Materialität werden in einer »meta-medialen« Konstruktion zusammengeführt – als das »Sich-ereignen-lassen« ihrer eigenen ästhetisch-»plastischen« Potenz. 9 Rühm: »zu meinen auditiven texten«, in: Aspekte, S. 90-107, S. 93. 10 Rühm: »grundlagen des neuen theaters« [1962], wieder in: Aspekte, S. 54.

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Für die Rezipienten geht es um die sinnliche Evidenz dieser Überschreitung, nicht um die Botschaft eines Narrativs oder Signifikats; das wäre die subversiv oder provokativ zu vermeidende Sackgasse eines kulturell kanonisierten Sinns. Was aber wäre der Gewinn? Eine grund-legende Sensibilisierung für und Wahrnehmung von Zeit, könnte man sagen: »man wird mehr auf die gegenwart achten – also spontaner erleben, differenzierter wahrnehmen, überraschungen zugänglicher sein«.11 Aus der Rückführung bedeutsamer Zeichen, die auf Vergangenheit und Zukunft ausgerichtet sind, in sprachliches, optisches, akustisches Material in der Gegenwart, das plötzlich oder überraschend montiert, kollagiert oder gegeneinander geschnitten wird, entsteht Prägnanz und Aufmerksamkeit, eine Art postsemiotischer »Mehrwert« in der Gegenwart. Bedingung der Möglichkeit dieses Präsentischen, der Suche nach kürzesten Impulsen, ist die kleine Form, die Minimalisierung der eingesetzten Mittel. Das bedeutet nun nicht Reduktion von Komplexität, sondern gerade deren Produktion. Abbildung 1: Gerhard Rühm, jetzt jetzt ... Einladungskarte zur Ausstellung »Wort-gestaltung Lautgestaltung« in der Galerie Würthle, Wien 1958.

Für sein ernstes Intermedialitätsspiel, seinen Dienst an einer »erweiterten poetik«12, die das Experiment auf Dauer aktuell zu halten sucht, werden immer wieder neue Begriffe eingeführt oder ausprobiert, eine Maßnahme

11 Rühm: »zu meinen auditiven texten«, in: Aspekte, S. 91. 12 Vgl. Aspekte (Anm. 6).

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gegen den »katalogisierenden begriff«13, mit dem unsere akademischen Diskurse den ästhetischen Akt mortifizieren. In der neuen, von Rühm mit begleiteten Werkausgabe verzeichnet allein der Band zur »visuellen poesie« 18 verschiedene Werkgruppen. Es wird unterschieden in • schreibmaschinenideogramme • fototypogramme • typocollagen • fototypocollagen • zeitungsrisse • zeitungscollagen • schriftfrottagen • schriftzeichnungen • automatische schriftzeichnungen • skripturale meditationen • grafische reaktionen auf zeitungsmeldungen • kritische kalligraphie • briefbilder • vertuschungen • schrifttuschen • tuschtypocollagen • bildgedichte

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• adaptionen

Die Ablehnung des fremd bestimmten »katalogisierenden begriffs« bedeutet nicht den Verzicht auf Reflexion, ganz im Gegenteil. Rühm sucht die (scheinbare) Kontingenz seiner künstlerischen Handlungen zu »bearbeiten« durch eine Überfülle von selbstgefundenen Begriffen. Wenn man seine Kommentare einmal daraufhin beobachtet, ergibt sich Thesaurus der anderen Art: adaption, auditive poesie, auditiver text, automatische schriftzeichnung, automatische zeichnung, bleistiftmusik, coole poesie, coole serie, dialektdichtung, dialektgedicht, dialektstück, dichtung als gebrauchsanweisung, einton-musik, ein-wort-tafel, entfesseltes theater, erweiterte poesie, expression, fototypogramm, geräuschsymphonie, hörtext, imaginäres dialektge-

13 »allerdings betrachteten artmann und ich uns nie als ›konkrete dichter‹, schon aus der scheu heraus, unser arbeitsfeld durch einen katalogisierenden begriff festlegen zu lassen.« Rühm: »das phänomen ›wiener gruppe‹...« [1967], in: Aspekte, S. 24. 14 Gw 2.1. Vgl. auch Gerhard Rühm: Visuelle Poesie. Arbeiten aus vier Jahrzehnten. Schreibmaschinenideogramme, Typocollagen, Zeitungscollagen und Selektionen, Schriftzeichnungen, Textfrottagen, Leselieder, Briefbilder, Schrifttuschen. Mit einem Beitrag von Christina Weiß, Innsbruck 1996.

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dicht, ideogramm, invention, klangkörper, konkrete poesie, konstellation, kritische kalligraphie, lautkonstellation, leselied, lesemusik, lesetext, liederbild, litanei, literarisches cabaret, lyrische verbarien, mediale zeichnung, melogramm, methodischer inventionismus, montage, montage reiner geräusche, lautgedicht, permutative verarbeitung, poetischer act, poetische demonstration, poetisches gesellschaftsspiel, poetische handlung, progressive poesie, punktuelle dichtung, rechnen mit silben, schreibmaschinengedicht, sehtext, sprechgedicht, synthetischer text, totales theater, typocollage, visuelle poesie, visueller text, visuelle wort- und lautgestaltung, witz ohne pointe, wort- und lautgestaltung, wortkonstellation, wortspiel, zeitungsgedicht... Im Spielfeld der künstlerischen Handlungen gibt es feine Unterschiede: »keineswegs alle ›konkrete poesie‹ ist, wie oft angenommen, ›visuelle poesie‹«, stellt Rühm klar, »ein bedeutender teil davon ist auditiv konzipiert, das heisst: es handelt sich um poetische texte, die zum hören bestimmt sind, musikalische parameter der sprache aktivieren. ihre notation umfasst in der regel mehr oder weniger präzise vortragsschriften oder, im fall eines synthetischen textes, produktionsanweisungen. umgekehrt ist nicht jeder ›visuelle text‹ zugleich ›konkrete poesie‹. ein unverkennbar ›konkretes‹ material besteht darin, dass die visualisierung eine zusatzinformation erbringt, die der text selbst nicht enthält, also nicht tautologisch ist. das unterscheidet etwa das calligramme guillaume apollinaires – wie schon die figurengedichte des barock – grundsätzlich vom ideogramm der konkreten poesie.«15

Wie ernst es Rühm mit seinen Unterscheidungen ist, zeigt der Seitenhieb auf die Literaturwissenschaft,16 an der Rühm auch sonst kein gutes Haar läßt: »noch im jüngsten literaturlexikon des renommierten metzler-verlags findet man unter dem (übrigens beschämend flüchtig abgehandelten) stichwort ›konkrete poesie‹ als exemplarische abbildung ausgerechnet reinhard döhls apfel, ein in apfelform ausgeschnittenes typogramm mit dem mehrmals neben- und untereinandergesetzten wort ›apfel‹ – als kalauer ist auch ein ›wurm‹ darin. hier handelt es sich um ein groteskes missverständnis, denn die illustrative verdoppelung der aussage bietet ein treffliches beispiel dafür, was konkrete poesie eben nicht ist.«17 15 Rühm: »konkrete poesie« [2005], in: Aspekte, S. 39f. (zuerst in: gw 1.2, S. 11751177). 16 Vielfach beklagt wird der »literarische konservativismus der meisten sprach- und besonders literaturwissenschaftler«, der verhindere, dass etwa die besonderen intermedialen Verfahren der Konkreten Poesie angemessen verstanden würden. Vgl. Rühm: »musik als sprache und bildschrift. grenzbereiche meiner künstlerischen arbeit«, in: Aspekte, S. 80-89, S. 82. 17 Rühm: »konkrete poesie« [2005], in: Aspekte, S. 39f. (zuerst in: gw 1.2, S. 11751177); ähnlich, mit denselben Referenzen, auch seine Erläuterung zu den

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Das intermediale Verfahren darf, das ist wohl eine von Rühms wichtigsten Spielregeln, keine Redundanz erzeugen – was (unter bestimmten, jeweils zu klärenden Bedingungen) die Wiederholung von Zeichen keineswegs ausschließt. Auch im Dortmunder Gespräch 2009 besteht er darauf, »dass die visualisierung eines textes eine botschaft oder eine information bringt, die der text selbst noch nicht enthält, die nur visuell darstellbar ist. [...] da sieht man schon einmal, was los ist, mit der germanistik, wenn das antibeispiel zur konkreten poesie als das protobeispiel für konkrete poesie angeführt wird.«18 Historisch begründet Rühm seine und die Herkunft der Wiener Gruppe19 mit dem Bedürfnis von österreichischen Autoren, nach einer Zeit »gewaltsamer absperrung« wieder an »die verfemte moderne kunst« anzuknüpfen, die ja auch vor dem zweiten Weltkrieg noch keineswegs als akzeptiert gelten konnte. Die Wiener Gruppe trat somit in die gar nicht so einfach auszumachenden Spuren der Avantgardisten des Expressionismus,20 Dada, Surrealismus und des Konstruktivismus – ohne allerdings den Kategorisierungen und pseudorationalen -Ismen der akademischen Diskurse besondere Bedeutung beizumessen; vielmehr ging es um das wirkmächtige Potential dieser Avantgarden: »die bruchstückhaften informationen über expressionismus, dadaismus, surrealismus, konstruktivismus wurden gierig aufgenommen, weitergereicht, mühsam zu einem bild zusammengefügt.« Unter Mythenverdacht Fallendes wurde ausgeblendet: »was allerdings, etwa durch paul celan, als ›postsurrealismus‹ eben [Anfang der fünfziger Jahre. U.R.] in mode kam, lehnten wir als symbolisch verpanschten aufguss ab – das schien uns auf neue mythisierung hinauszulaufen, und alles mythische war

»schreibmaschinenideogrammen und fototypogrammen« in: gw 2.1, S. 739. Der geschmähte Artikel »Konkrete Dichtung« stammt von Günther Schweikle, in: Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen, hrsg. von Günther und Irmgard Schweikle. 2. Aufl. 1999, S. 249. In der inzwischen unter dem Titel Metzler Lexikon Literatur vorliegenden 3., »völlig neu bearbeiteten Auflage« (Stuttgart u.a. 2007) ist zwar der Apfel entfallen, der Artikel »Konkrete Dichtung« von MSE ist aber ebenfalls auf dem Forschungsstand von 1978 stehengeblieben und wenig brauchbar. – Reinhard Döhl, wie Max Bense und Helmut Heißenbüttel Mitglied der »Stuttgarter Gruppe«, hat sich auch als Literaturwissenschaftler betätigt. Sein »Apfelgedicht (Apfel mit Wurm)« entstand 1965. 18 Im Gespräch mit Friedrich W. Block. 19 Vgl. den Katalog zu Wiener Gruppe. Kunsthalle Wien, S. 9. 20 Neben den Anthologien von André Breton und Carola Giedion-Welcker gab vor allem der Band von Albert Soergel: Dichtung und Dichter der Zeit. Eine Schilderung der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte. Neue Folge: Im Banne des Expressionismus, Leipzig 1925, wichtige Impulse.

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durch den nationalsozialismus für uns endgültig diskreditiert. Wir zogen aus den erfahrungen der französischen surrealisten andere konsequenzen.«21

Konkret: anders als die Aufzeichnungen oder Projektionen der »messages automatiques« Bretons etwa,22 die an den Gegenstand gebunden bleiben, verhält sich Rühm bei seinem ›automatischen zeichnen‹ wie ein Aufschreibesystem, das sich dem materialen Instrument, dem Bleistift, hingibt und den Wechsel von Linie und Schrift tranceartig ausführt. »ein charakteristikum meiner automatischen zeichnungen besteht in der ununterbrochenen linie. i-punkte, t-querstriche und interpunktionen fehlen, weil sie den ablauf unterbrechen würden. wo sich ganze wörter herauskristallisieren, schließen sie unmittelbar aneinander an; zeilen sind durch zurückschwingende linien miteinander verbunden. blätter, die mit schrift begonnen haben, münden oft in zeichnungen: die schriftzeichen werden zuerst von reinen linien umspielt, eingewoben und lösen sich in liniengebilde auf, die figurale konturen annehmen können, zeichnung geht in schrift, schrift wieder in zeichnung über – beide lassen so ihren gemeinsamen psychografischen ursprung erkennen. [...] das blatt ist im grunde nur ein ausschnitt, das sichtbare spielfeld der permanenten metamorphose des gleichen: der spontanen ausdrucksbewegung der linie. sie demonstriert die fliessenden übergänge zwischen form und inhalt, erweist die gestalt als prozess, als mehr oder weniger komplexes durchgangsstadium im wechsel von verdichtung und entflechtung: figurales und nonfigurales sind nichts gegensätzliches, sondern graduelle positionen in einem kontinuum. die linie bedeutet als ganzes prinzipiell nur sie selbst; zuweilen aber bilden teile von ihr profile, schliessen sich zu formen, die über sie hinaus etwas anderes, ›eigenes‹ zu bedeuten scheinen – die linie wird zum zeichen oder ikon. oft überlagern neue linien ältere bis zur unkenntlichkeit, unlesbarkeit oder geben ihnen neuen sinn, deuten sie um. da der bleistift die fläche nicht verläßt, bleibt die kontinuität der bewegung als spur, eben in der ununterbrochenen linie, stets sichtbar, zeigt den großen zusammenhang – die linie gewissermassen als ›una materia‹, die alles hervorbringt und alles umfaßt.«23

Dass Intermedialität beinahe zwangsläufig Affinitäten und Aufmerksamkeiten ausbildet, die den Bereichen von Alchemie und Parapsy-chologie und andererseits Chaostheorie und Astronomie gelten, liegt auf der Hand. Bei allem Interesse an Struktur als Beziehungsverhältnis – von A und a, Mann

21 Vgl. Rühm: »das phänomen »wiener gruppe« im wien der fünfziger und sechziger Jahre« [1967], in: Aspekte, S. 7-35, Zitate S. 7 und S. 12f. 22 André Breton: »Le Message Automatique«, in: Minotaure 3/4, Dec. 1933, S. 54– 65. Vgl. dazu Rühm: »zu meinen medialen aufzeichnungen«, in: Aspekte, S. 59. 23 Ebd., S.62f.

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und Frau, Ich und Du, Scham und Scham, Welt und All, Raum und Zeit – sind es doch die daran angeschlossenen existentiellen Fragen nach der UrEnergie, nach Anfang und Ende, Leben und Tod, Leere, die, immer mit im Spiel sind – mit den Jahren immer dringlicher, wie mir scheint. Abbildung 2: Gerhard Rühm, automatische zeichnung, 1972

Damit erhalten die »grenzüberschreitungen zwischen den künsten« eine Richtung ins Grenzenlose: »als ich 1958 den rhythmus r verfaßte, schwebte mir eine art totales buch vor. der sinn des textes, seine aussage, sollte nicht bloß, wie üblich, durch die sprache, sondern durch möglichst alle am buch beteiligten materialien und funktionen hergestellt werden, also durch die verschiedenen möglichkeiten der typographie, durch die farbe und beschaffenheit der buchseite, durch den akt des umblätterns.«24

Wenn Rühm ein totales Buch machen lassen will, anstatt bloß Dichtung und Literatur, so wird der »klassische Leser« dezentriert. Es ist nur konsequent, dass bei seiner Sprengung von »Literatur« auch die Literaturwissenschaft mit ihren Abgrenzungen verunsichert wird, darin nämlich, dass die Grenze zwischen Autor und Interpret, zwischen Produzent und Rezipient zum Tanzen gebracht wird. Anstatt den Autor zu verstehen, bleibt dem Leser nur noch übrig, ihm in seinen »Machenschaften« zu folgen. Die Machenschaften, seine poiesis, bilden die Textur eines Objekts, das viel, viel mehr ist als

24 Rühm: »zu meinen auditiven texten«, in: Aspekte, S. 96. »rhythmus r« erschien 1968 in einer kleinen Auflage im Rainer-Verlag in Berlin.

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bloßer Text, aber auch mehr als bloße Sehfläche.25 Gewiß, man kann es lesen: »das thema ist auf die materielle behandlung zugeschnitten: es baut sich von der untersten sprachebene, der lautebene her, auf; es besteht in einer auswahl von begriffen mit ›r‹-anlaut. Aus dieser assoziativ verknüpften gruppe kristallisiert sich ein motiv heraus, das wie ein roter faden die ganze dichtung durchzieht und alle punktuellen assoziationen verknüpft: die ›regen‹-reihe (regen – rauscht – reizt – rings den – rand – und so fort). In den assoziationsblöcken, die sich an den begriffen der ›regen‹reihe ablagern – etwa ›rast‹ und ›reizt‹ – wird die sprache nicht nur unterhalb, sondern auch oberhalb der satzebene, auf der stilebene, manipuliert. der text führt mehrere stilarten vor: von der sachlichen, objektiven beschreibung der ›rippen‹, über die exzessive, subjektive sprache der beschimpfung anlässlich ›riechen‹, bis zur kinder- und blödelsprache von ›unte den ock geifen‹.«26

Gewiß, das heißt »Lesen«, aber genauer wäre: man kann es sich ereignen lassen... Wenn der Autor die Anleitung dazu gibt, liefert er zugleich die Interpretation. Auch fünfzig Jahre nach dem Aussinnen von »rhythmus r« kann ein literaturwissenschaftlicher Interpret den Autor nicht besser verstehen, als der Autor sich selbst: »es sind lauter begriffe, die mit ›r‹ beginnen, wie mein name, und so kommt auf der rückseite zum beispiel eine seite mit eingeklebtem sandpapier vor, was den eindruck ›rauh‹ vermittelt. oder zum beispiel eine seite, die rot ist, und da geht’s mir um eine sache, die mich interessiert, nämlich das abbild einer sache. zum beispiel mein rücken ist abgebildet, so dass ich sozusagen selbst vor dem leser mein buch lese, könnte man sagen. dann die sache selbst, also das ›rot‹ - dass eine sache rot ist. natürlich brauch ich deshalb das rot nicht mehr zu verwenden, da steht statt des begriffes ›rot‹ dann [...] das abbild, aber auch die beschreibung. die beschreibung funktioniert dann nach verschiedenen kriterien, es gibt eine lexikalische beschreibung zum beispiel der ›rippen‹, dann eine emotionale sache, das bezieht sich auf das ›riechen‹, und schließlich also des geräusches, also eine seite, die rausgerissen werden soll, was man natürlich nicht tut. ich hab’s auch nicht rausgerissen. aber das kann man sich ja vorstellen, wie das ist. was jetzt die beschreibung, also das stilmittel betrifft: es gibt den einzellaut, nämlich das ›r‹, es gibt das wort, verschiedene wörter, die mit ›r‹ beginnen, es hat auch eine abfolge, also mein zentrum. ich unterscheide ja zwischen handlung und thema. meine sachen haben in dem sinn [nur] in ausnahmefällen eine handlung. aber sie haben ein thema. das thema in dem fall ist ›regen‹, was ja, bei der kleinschreibung,

25 Vgl. dazu das Sonderheft »Sehflächen lesen« (hrsg. von Ulrich Schmitz und Ursula Renner), Deutschunterricht 55, Heft 4, 2005. 26 Rühm: »zu meinen auditiven texten«, in: Aspekte, S. 96f.

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Abbildungen 3 a-c: Seiten aus »rhythmus r«

so wie ich das praktiziere, doppeldeutig ist, weil es natürlich den regen bezeichnet, aber auch sich regen. und dann eben den satz, und dann die beschreibung. in dem sinn ist das für mich ein ganz zentrales buch, leider eben nur in einer ganz kleinen auflage. im katalog zur wiener gruppe bei der biennale,27 da ist es natürlich nicht entsprechend abgebildet, aber es ist wenigstens abgedruckt. zu diesem buch gehört eigentlich ein zweites, nämlich ›mann und frau‹, das bei luchterhand erschienen ist [1972].28 das ist 27 Vgl. Anm. 3, S. 562-569. 28 Das Buch entstand zwischen zwischen 1959 und 1964 (Klappentext).

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auch für mich ein ganz zentrales Werk; und ein drittes, das ist seit langem langem langem geplant, und das hab ich noch vor, in den nächsten zwanzig Jahren, fertig zu machen, und zwar soll das ›atmen‹ heißen. ›rhythmus r‹ bezieht sich gewissermassen auf mich, auf den autor selbst. ›mann und frau‹, das sagt schon der titel, ist eine dialogische sache. oder sagen wir, spricht das du an, und das ›atmen’‹ sollte die ganze menschheit – drunter geb ich’s nicht mehr [lacht] – umfassen.29 da können sie sich vorstellen, dass ich damit immer noch nicht fertig geworden bin. ›atmen‹ ist natürlich eine grundsätzliche sache, die alles enthält, das auf-, das einatmen der natur ... na ja. was vielleicht noch interessant ist zum ›rhythmus r‹, es gibt davon auch eine akustische version. [...] ich hab davon zwei aufnahmen gemacht,30 eine ist noch eine monoaufnahme, das liegt sehr weit zurück, und eine zweite stereoaufnahme.31 [...] was mich jetzt interessiert daran [...]: wie überträgt man einen derart visuell konzipierten text? ich hab das als totales buch bezeichnet, es ist dann kein zufall mehr, wo man umblättert, weil - bei einem normalen buch bestimmt das sozusagen der satzspiegel - was nicht mehr auf eine seite geht, kommt dann auf die nächste seite. bei mir ist das genau konzipiert, was auf die seite kommt. es ist ein unterschied, ob eine seite vollgedruckt ist oder ob nur ein einziges wort drauf steht, weil das dann ein unheimliches gewicht kriegt, oder eine leere seite kommt. denn eine leere seite hat die funktion ---- die ist nicht leer, sondern die hat die funktion einer pause, und das führt übrigens dann direkt zu den schriftfilmen. was mich interessiert hat dann bei den drei kinematographischen texten, die ich im sfb damals, also sehr früh, realisiert habe (die entwürfe liegen sehr viel weiter zurück), wo ich dann bestimmen kann das lesetempo, beim film, ich kann mehr oder minder die betrachter dazu zwingen, unter anführungszeichen sehr schnell zu lesen, weil die dinge schnell vorbeigehen, oder ich kann sie zwingen, ein wort lange zeit auf sich wirken zu lassen. das führt direkt zum schriftfilm letztendlich, dieses konzept des totalen buches. was mich jetzt interessiert hat, ist, wie kann man ein totales buch, also eine Sache, die visuell konzipiert ist, der erste versuch von der konkreten poesie her, zu einem komplexen text machen. die konkrete poesie hat sich ja in den fünfziger jahren immer auf einem Blatt abgespielt, die konstellationen sind einseitige blätter, so auch bei mir, ich hab zwar damals schon fünf, sechs blätter als zyklus zusammengefasst, wo auch das umblättern zum beispiel eine rolle spielt. aber der ›rhythmus r‹ ist für mich deshalb so wichtig, weil es den ersten versuch – für mich den ersten versuch - darstellt, eine komplexe form zu entwickeln, die also vielschichtig ist. das bedeutet, dass wenn ich einen rücken abbilde, in dem Fall meinen rücken,

29 Unter dem Titel »atmen« hat Rühm bereits 1965 ein ›Theaterstück‹ geschrieben, das sonst nur noch einen Untertitel (»ein stück für rund 2,7 milliarden menschen«) und eine »spielanweisung« (»von rund 2,7 milliarden menschen atmet jeder so lange er kann«) enthält. Gerhard Rühm: um zwölf uhr ist sommer. Gedichte, Sprechtexte, Chansons, Theaterstücke, Prosa. Auswahl und Nachwort von Jörg Drews, Stuttgart 2000, S. 156. 30 »rhythmus r« (Auditive Fassung 1968). Produktion: SFB 3. Regie: Gerhard Rühm. WDR 3, 8.5.1969. Wh.: WDR 3, 1.2.1974, stereophone Fassung: NDR 3, 1975. Abdruck in: WDR-Hörspielbuch, Köln 1969, S. 139-154. 31 Jetzt wieder auf der CD: »Für Oswald Wiener zum 65. Geburtstag« (2000).

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dann muss ich dafür, für die au... , ich hätt bald gesagt für die autistische, für die akustische fassung musste ich ein geräusch finden, das mit mir zu tun hat und mit ›r‹ beginnt; so ist dann statt des rückens ein rülpser drin, ein körpergeräusch. es muss ja mit dem körper zu tun haben. man hört auch das geräusch des regens und solche sachen. das sind die fixpunkte, die mich besonders interessieren.«32

32 Im Interview in Dortmund, 21.11.09.

Rolf Dieter Brinkmann B ERND S TIEGLER (K ONSTANZ )

In Wirklichkeit bin ich anders. ROLF DIETER BRINKMANN / KEINER WEISS MEHR, REINBEK BEI HAMBURG 1970, S. 91

I. D ER E LCHTEST

DER I NTERMEDIALITÄT während ich schreibe, höre ich manchmal Platten, und dann beim Schreiben verbinden sich das, was ich gerade schreibe, mit dem, was ich dazu höre und geben neue Assoziationen oder Spuren von Geschichten. ROLF DIETER BRINKMANN / BRIEFE AN HARTMUT, S. 188f

Wenn man nach Beispielen praktizierter Intermedialität sucht, so wird sich kaum ein zweiter Schriftsteller finden, der mehr mit Medien experimentiert und gearbeitet hat als Rolf Dieter Brinkmann. In den letzten Jahren sind gleich mehrere höchst eigenwillige wie originelle Publikationen, Filme und Editionen erschienen, die das gesamte Spektrum seiner Experimente vorstellen und so endlich überhaupt erst sicht- und hörbar machen: Rolf Dieter Brinkmann arbeitete nicht nur als gewissermaßen »klassischer« Schriftsteller, der einen Roman, recht zahlreiche Erzählungen und Gedichtbände herausbrachte, sondern entwarf auch Scrapbooks mit Collagen und Notizen, die heute zum Teil in faksimilierter oder edierter Form vorliegen.1 Er benutzte 1

Während Rom, Blicke (Reinbek bei Hamburg 1979) noch typographisch geglättet wurde, ist das bei Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand: Reise Zeit Magazin (Reinbek bei Hamburg 1987) und Schnitte (Reinbek

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über einige Monate hinweg intensiv ein Tonbandgerät, das ihm der WDR zur Verfügung gestellt hatte,2 fertigte nicht wenige Super 8-Filme mit einer privat erworbenen Kamera an,3 nahm zahlreiche Photos oder »Snapshots« auf,4 und sammelte nicht zuletzt höchst heterogene Bilder und Dokumente, die er dann zum Teil auch für seine Arbeitsbücher verwendete. Weiterhin erschienen einige seiner frühen Gedichtbände trotz ihres gewollt wie ostentativ populären Zugs in streng limitierten Auflagen mit Original-Illustrationen von zum Teil bekannten Künstlern, wie etwa Emil Schumacher.5 Andere von ihm herausgegebene Bände, wie etwa die legendäre Anthologie Acid greifen hingegen auf reproduzierte Bildbeispiele der Populärkultur zurück.6 Welcher Schriftsteller des 20. Jahrhunderts hat ein solches Spektrum an praktizierter Intermedialität vorzuweisen?

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bei Hamburg 1988) nicht mehr der Fall. Hier wurden die Arbeitsbücher Brinkmanns in der überlieferten Form reproduziert. Weitere Bände befinden sich nach wie vor im Besitz seiner Frau Maleen Brinkmann. Ders.: Wörter Sex Schnitt. Originaltonaufnahmen 1973, 5 CDs, hrsg von Herbert Kapfer und Katarina Agathos unter Mitarbeit von Maleen Brinkmann, intermedium rec. 023, 2005. Im Folgenden werden Zitate aus dieser CD-Sammlung als »Tonbandaufnahme« zitiert. Weiterhin auch: ders.: The Last One. Autorenlesungen Cambridge Poetry Festival 1975, intermedium rec. 023, 2005. Die erste DVD der vierteiligen Box mit den Brinkmann-Filmen (Harald Bergmann: Brinkmanns Zorn, 3 DVDs, Berlin 2007. DVD 1: Die Super 8 Filme 196770; DVD 2: Arbeitsbücher & Collagen 1971-73: Longkamp-Tagebuch sowie Schnitte Collagen; DVD 3: Die Tonbänder 1973-75 – Kinofassung) von Harald Bergmann ist den Super 8-Filmen gewidmet. Allerdings werden diese Filme dort offenbar nur in bearbeiteter, gestraffter und kompilierter Form wiedergegeben. Brinkmann experimentierte, »angeregt durch die Filmexperimente der New Yorker Underground [...] Filmer« (Briefe an Hartmut 1974-1975, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 113), nach eigenen Angaben seit 1967 mit Super 8-Filmen, die er auch während der Frankfurter Buchmesse in einer Galerie zeigte. Diese finden sich in allen Materialienbänden. Vgl. zur Verwendung der Photographien in Brinkmanns Werk auch Thomas von Steinaecker: Literarische FotoTexte. Zur Funktion der Fotografien in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W.G. Sebalds, Bielefeld 2007. Hier die genauen bibliographischen Angaben: Le Chant du Monde. Gedichte 1963-1964 (Olef/Eifel 1964) mit vier Radierungen von Emil Schumacher; Godzilla (Köln 1968) mit einer Zeichnung von H. Krüll; Standfotos (Duisburg 1969) mit Zinkätzungen von C. Lodenkämper. Vgl. hierzu auch Briefe an Hartmut, S. 107111. Vgl. hierzu Rolf Dieter Brinkmann und Ralf Rainer Rygulla (Hrsg.): Acid. Neue amerikanische Szene, Darmstadt 1969; sowie Rolf Dieter Brinkmann (Hrsg.): Silverscreen. Neue amerikanische Lyrik, Köln 1969.

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Wenn man weiterhin nach einem Künstler sucht, dem es mit seiner praktizierten Intermedialität mehr um das Ausloten von Aporien als um die Erschließung neuer Möglichkeiten ging, so bietet sich wiederum Brinkmann als Beispiel an. Brinkmann ist der vielleicht interessanteste Vertreter jener Schattengeschichte der Intermedialität, die sich beim besten Willen nicht als Erfolgsgeschichte von neuen künstlerischen Möglichkeiten, der Eröffnung einer neuen Wahrnehmung oder aber der inspirierenden wie auch mitunter schlicht Experimente fordernden wie fördernden Medienkonkurrenz beschreiben lässt, wie das in Praxis der der Theorie häufig und gerne postuliert wird.7 In Brinkmanns Arbeiten werden durch die Hybridisierung der verschiedenen verwendeten Medien keineswegs »gewaltige neue Kräfte und Energien«8 frei, wie Marshall McLuhan es noch prognostiziert hatte – es sei denn im Sinne einer gewaltigen Destruktionsenergie. Rolf Dieter Brinkmanns praktizierte Intermedialität scheint es sich vielmehr zur Aufgabe gemacht zu haben, die jeweiligen medienspezifischen Möglichkeiten auszuloten, um sie auf die Probe zu stellen und zugleich konsequent in die Aporie zu treiben. Kein Medium, mit dem Brinkmann arbeitete, bot ihm das, was er suchte. Jedes einzelne wurde nach mehr oder weniger kurzer Zeit wieder verworfen oder zumindest durch andere Medien ergänzt. Rolf Dieter Brinkmanns praktizierte Intermedialität ist eine Art Elchtest der technischen Medien des 20. Jahrhunderts, bei dem der Künstler erst dann Ruhe gibt, wenn der Apparat oder das Verfahren die Welt vom Kopf auf die Füße gestellt und sich keine neue, der Ent- und Verstellung enthobene Wirklichkeit gezeigt hat. Doch auch das ist nur eine Ruhe vor dem Sturm, da Brinkmann bereits das nächste Medium ausprobiert – um dieses wiederum in die Aporie zu treiben.

7

8

Vgl. zur Theorie der Intermedialität expl. den wichtigen Band: Joachim Paech und Jens Schröter (Hrsg.): Intermedialität – Analog/Digital: Theorien, Methoden, Analysen, München 2007. Einen knappen Überblick bietet der Artikel von Uwe Wirth: »Intermedialität«, in: Alexander Roesler und Bernd Stiegler (Hrsg.): Grundbegriffe der Medientheorie, München 2005, S. 114-121 (dort auch jeweils mit weiteren Literaturhinweisen). Marshall McLuhan: Understanding Media, Dresden 1994, S. 84.

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II. E INE

NEUE

S ENSIBILITÄT die Realisierung eines winzigen Teiles befreiter Realität ROLF DIETER BRINKMANN / DER FILM IN WORTEN, S. 240

Und dabei hatte alles so gut angefangen: Als Brinkmann den für Acid bestimmten Essay »Der Film in Worten« schrieb, ging es ihm noch um eine »neue Sensibilität«, welche die Literatur nicht nur auszuloten, sondern nachgerade unter Einbeziehung der Massenmedien und ihrer Bilder zu entwerfen hatte. In Absetzung von klassischen Kategorien wie dem literarischen Ausdruck, der Subjektivität, des Werks oder der Geschichte zielte die neue Literatur auf eine »physiologische Befreiung«,9 auf die Erkundung veränderter Dimensionen des Bewusstseins oder, William Burroughs zitierend, auf ein »Breakthrough in the Grey Room«,10 auf eine Bestimmung der Funktion von Literatur aus neurophysiologischer Perspektive. Die Auseinandersetzung mit der amerikanischen Pop-Literatur hatte eine poetologische Pointe, der es um die Bedingung der Möglichkeit der Literatur in der Gegenwart ging. Brinkmann las die zeitgenössischen amerikanischen Texte als mögliche Antworten auf eigene Fragen und deutete sie im Horizont durchaus klassisch europäischer Debatten. So findet sich in dem programmatischen Text »Der Film in Worten« nicht nur das Theorem, dass die Großstadt eine neue Natur sei, das von Georg Simmels Essay »Die Großstädte und das Geistesleben« bis hin zur klassischen Avantgarde eine Deutungsfolie der Gegenwart bildet, sondern auch jene wiederum seit der Neuen Sachlichkeit bekannte wie verbreitete Annahme, dass die Gegenwart das Zeitalter der Oberfläche sei. Ausgehend von Theoremen dieses Typs unternimmt Brinkmann eine Destruktion der überkommenen Ästhetik, die sich heute wie eine Art poetologische Praxis der Theorie der Postmoderne oder des Poststrukturalismus liest. All jene Theoreme, die sich auch bei Roland Barthes, Jean-François Lyotard, Michel Foucault oder Jacques Derrida (oder zumindest ihrer literaturwissenschaftlichen Umdeutung) finden, prägen auch die Überlegungen Brinkmanns. Vom »Tod des Autors« (Barthes) ist ebenso die Rede wie von der Überwindung von Gattungen und Literaturformen oder von der Aufgabe des Werkbegriffs. Doch was ist sein Lösungsvorschlag? Und was beobachtet er? 9

Rolf Dieter Brinkmann: »Der Film in Worten«, in: ders., Der Film in Worten. Prosa, Erzählungen, Essays, Hörspiele, Fotos, Collagen, 1965-1974, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 223-247, S. 224. Auch in: Erkundungen, S. 187. 10 Ebd., S. 227 und 229. Vgl. auch Briefe an Hartmut, S. 77: »Die Wirklichkeit ein Gehirnfilm? ›Break through in grey room‹, Burroughs, der Graue Raum ist das Gehirn, die grauen Gehirnzellen, wo die Vorstellungen produziert werden.«

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Die Gegenwart zeichne sich, so Brinkmann, nicht nur durch eine Beschleunigung, Technisierung und Urbanisierung, sondern auch durch ein massives Anwachsen von Bildern aus, auf das die Literatur zu reagieren habe: an die Stelle der traditionellen Addition von Wörtern müsse daher eine Projektion von Vorstellungen treten – die neue literarische Sprache habe eine neue Sensibilität auszubilden, der es um die Stimulation wie Simulation von (Vorstellungs-)Bildern geht. Literatur wird zu einem »Film in Worten«. Die Sprache solle sich »in Bildern ausdehnen, Oberfläche werden«,11 um so »ein aus einem Moment herauswachsendes Gewebe von realen Bedeutungen, Vorstellungen, Bildern, von Raum«12 zu erzeugen. Nicht Ekphrasis, sondern »Bilder mit Wörtern durchsetzt, Sätze, neu arrangiert zu Bildern und Bild(Vorstellungs-) Zusammenhängen«13 sollen die neue zeitgemäße Form der Literatur sein. Praktizierte Intermedialität ist für Brinkmann die poetologische Antwort auf die Veränderungen der Kultur in der Gegenwart. Doch ob diese allein ausreicht, überhaupt die Gegenwart zu erreichen, ist mehr als nur fraglich. In seiner Auseinandersetzung mit der Pop-Literatur skizziert Brinkmann noch ein »cross the border, close the gap«-taugliches Programm, das auf die intermediale Vernetzung einer Text-Bild-Oberfläche setzt, die Bilder diesseits oder jenseits der Sprache freisetzen soll: »Die Wörter«, so heißt es hier noch optimistisch, »lassen sich in den aus ihnen befreiten Imaginationen … selbst zurück […] – Bilder entstehen, die bisher nur im Ansatz artikulierbar sind – und die Kontinuität des Denkens ›erweist‹ sich als Fiktion.«14 Bilder sind die Antwort auf die Krise der Literatur in der Gegenwart und Intermedialität ist ihre literarische Umsetzung. Damit meint Brinkmann nicht nur die Koexistenz von Texten und Bildern, sondern auch eine weitergehende physiologische Befreiung, eine Art zerebraler Poetik, die im Gehirn Vorstellungsbilder zu produzieren wie zu erreichen sucht, die der Sprache vorgängig sind. Bereits in diesen frühen (programmatischen) Texten findet sich eine radikal sprachskeptische Haltung, die in Wörtern verfestigte Ideologien und versteinerte Vorstellungswelten vermutet und annimmt, »daß Sprachformen […] im Grunde Verhaltensformen bedeuten«,15 die nun in der intermedialen Literatur neuen Typs verflüssigt und aufgesprengt werden sollen. Diese Sprachkrise wird in Brinkmanns späteren Arbeiten/Materialbänden einer deutlich weniger optimistischen Einschätzung der Lage weichen. Seine Tage- und Collagebücher sind über weite Strecken Verzeichnisse der immer 11 12 13 14 15

Brinkmann: »Der Film in Worten«, S. 225. Ebd., S. 245. Ebd., S. 228. Ebd., S. 242. Ebd., S. 243.

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wieder neu unternommenen und immer wieder aufgegebenen Beschreibung von Realität. Die Sprache ist an die Stelle der Gegenstände getreten – und auch Bilder helfen hier nicht länger weiter. Die Sprachkrise führt zu einem dezidierten Realitätsentzug, der Seite für Seite sprachlich, bildlich, sprachbildlich ausbuchstabiert wird. Sprache ist hier wie dort die Artikulation der Norm, die zum Programm geworden ist und die die Wirklichkeit wie die Gegenwart verstellt. Die sprachliche Vorstellung wird zur Verstellung; das Zeichen hat das Bezeichnete so zugedeckt, dass es noch nicht einmal in der Zone der Aufmerksamkeit erscheinen kann. Bilder hingegen werden zumindest in diesen frühen Texten noch als Medien der Unmittelbarkeit wie der Oberfläche, unter der sich längst keine Tiefe mehr verbirgt, beschrieben, die der Gegenwart näher kommen als die Sprache. Die Sprache ist der Tod, Bilder hingegen sind das Spaltprodukt einer Zerstörung der Sprache durch Sprache, solle man doch, so Brinkmann, »auf Wörter oder Sätze und Begriffe so lange draufschlagen, bis das in ihnen eingekapselte Leben (Dasein, einfach nur: Dasein) neu daraus aufspringt in Bildern, Vorstellungen, dem synthetischen Leuchten, in einer sinnlichen Überfülle.«16

Abbildung 1: Rom, Blicke

16 Ebd., S. 246.

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III. STANDPHOTOS EINER GESCHICHTE DER ENTFREMDUNG ich möchte eine ganz andere Welt ROLF DIETER BRINKMANN / TONBANDAUFZEICHNUNG

In seinem Aufsatz »Der Film in Worten« findet sich – und das mag durchaus überraschen – an zwei Stellen ein Hinweis auf Siegfried Kracauers Photographie-Essay aus dem Jahr 1927.17 Die erste Verwendung ist dabei noch so kryptisch, dass sie im intertextuellen Dickicht zu verschwinden droht: »Wie drückt sich kanalisiertes Bewusstsein im Schreiben aus? Durch Stil? Durch einen button: Schlagt Heintje tot. No comment. ›Der Jugend gehört die Zukunft!‹ sagt meine Großmutter, die ›Krinoline‹ heißt.« Der hier enigmatischimplizite Bezug wird dann im letzten Satz des Textes aufgelöst, der sich nun wie eine Flaschenpost-Botschaft liest: »Zitat: ‌›Ist die Großmutter verschwunden, so ist doch die Krinoline geblieben.‹ (S. Kracauer.) Die Gegenwart stellt nur einen Sinn in ihrem Begriff dar, der äußerst profan ist und daher radikal: nämlich Zukunft werden zu wollen.«18 Doch was ist nun genau die Botschaft der Krinoline? Um sie vernehmen zu können, ist es erforderlich, die Grundzüge der Argumentation Kracauers knapp zu rekapitulieren: Kracauers Photo-Essay liest sich wie eine radikale Kritik dieses neuen technischen Mediums, das in seinen Augen eine riesige Wirklichkeitsvernichtungsmaschine darstellt, eine Art medialer Staubsauger, der die Gegenwart verschwinden lässt und eine Durchdringung wie verstehende Aneignung der Wirklichkeit unmöglich macht. Photographien, so Kracauer, »veranschaulichen nicht die Erkenntnis des Originals, sondern die räumliche Konfiguration eines Augenblicks; nicht der Mensch tritt in seiner Fotografie heraus, sondern die Summe dessen, was von ihm abzuziehen ist. Sie vernichtet ihn, indem sie ihn abbildet, und fiele er mit ihr zusammen, so wäre er nicht vorhanden.«19

Kracauer erläutert dies durch den Vergleich der Photographie mit einem Erinnerungs- bzw. Gedächtnisbild: während dieses das Wesen und die Wahrheit fassen könne, zeichne jene nur die pure Kontingenz des Augenblicks auf. Die Photographie ist das wirkungsvollste Mittel einer kulturindustriellen Gegenaufklärung, die Vergangenheit in zufällige Augenblicksbilder verwandelt, in zusammenhangslose Momentaufnahmen. Je mehr technische

17 Vgl. ebd., S. 237 und 247. 18 Ebd., S. 247. 19 Siegfried Kracauer: »Die Fotografie«, in: Wolfgang Kemp (Hrsg.), Theorie der Fotografie II, München 1979, S. 101-112, S. 108.

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Bilder, umso nachhaltiger die Zerstörungsleistung, umso konsequenter die Vernichtung des Gedächtnisses: »Noch niemals hat eine Zeit so wenig über sich Bescheid gewußt. Die Einrichtung der Illustrierten ist in der Hand der herrschenden Gesellschaft eines der mächtigsten Streikmittel gegen die Erkenntnis. Der erfolgreichen Durchführung des Streiks dient nicht zuletzt das bunte Arrangement der Bilder. Ihr Nebeneinander schließt systematisch den Zusammenhang aus, der dem Bewußtsein sich eröffnet.«20

Allerdings hält Kracauer eine letzte dialektische Wendung bereit, eine Pointe, die die Geschichte der Entfremdung auf die Spitze treibt, indem sie sie bildlich aufspießt: Wenn, so lautet die Überlegung, die Photographie nun schon die Wirklichkeit in eine banale wie zufällige Ansammlung ebenso zufälliger Gegenstände verwandele, dann könne man diese Bilder doch als eine Art Lektüreanweisung verstehen, dass auch die gesellschaftlichen Ordnungen keine natürlichen, sondern eben kontingente sind. Hinter den Bildern der Entfremdung dämmert das Bild einer anderen Wirklichkeit, das aber nicht mehr nur als bloße Möglichkeit aufscheint. Dieser Vorschein einer Gegenwart, die »Zukunft werden will« oder zumindest werden kann, zeigt sich in den photographischen Bildern. Man kann in dieser Perspektive Brinkmanns Beschäftigung mit der Photographie als eine wenn schon nicht dialektische, dann zumindest höchst ambivalente Aufzeichnung der Geschichte der Entfremdung deuten, die zudem nach künstlerischen Ausdrucksformen sucht: als sprachliche Standphotos, weiterhin als Lamentatio der zerstörten Welt und schließlich als Orientierung in der Gegenwart oder zumindest als ihr Versuch. Den sprachlichen »Standphotos«, so der Titel, der einigen Gedichten programmatisch mit auf den Weg gegeben wurde, geht es erst einmal um eine möglichst nüchterne Bestandsaufnahme dessen, was ist und sich in einem Augenblick zeigt: »Fast alle Gedichte sind wohl am genauesten zu charakterisieren als Momentaufnahmen, ›snapshots‹, Schnappschüsse (wassn Wort! Schnapp&Schüsse!) […]. – Also Momentaufnahmen, was gerade da ist, was für ein Gefühl, was für ein Gegenstand, was für ein Raum, was ich gelesen habe – und die Tendenz ist eigentlich gegen die Metapher, gegen ›Dichtung‹, und wofür? Für ein ›unritualisiertes Sprechen‹, wie das so schön und klug im Klappentext vom Lektor gesagt worden ist.«21

20 Kracauer: »Die Fotografie«, S. 109. 21 Brinkmann: Briefe an Hartmut, S. 44. Vgl. auch ebd.: »also Alltagssprache und Umgangssprache und die bildliche Vorstellung der Umgangs-Alltagssprache dinglich-konkret nehmen«. Und S. 48: »Du könntest auch sagen, der Gedichtband ist eine Gallerie [sic!] von Momentaufnahmen aus dem alltäglichen Leben, die – in Wörter fixiert – jetzt, nachher, zu betrachten und zu zerlegen sind usw. – jedes

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Antimetaphorisch sollen die Gedichte sein und wollen doch Bildern ähneln, da die Sprache bereits korrumpiert ist. Gedichte werden als photographieanaloge »Kurzzeitgedächtnisszenen«, ja sogar als »epiphanien«22 vorgestellt, die einen Augenblick in seiner gesamten Komplexität ausloten und aufzeichnen wollen. Alles, was sich in einem Augenblick zeigt, soll auch aufgezeichnet werden. Brinkmann rekurriert dabei auf klassische Theoreme der frühen Photographie: bei William Henry Fox Talbot etwa, um nur ein Beispiel unter vielen anzuführen, zeigt die Photographie in seiner Deutung auch gerade das en détail (daher die oft erwähnte Lupe, welche die Bild gewordene Wirklichkeit visuell neu erkunden kann), was sich der alltäglichen Wahrnehmung des Subjekts entzogen hatte und nun aber auf dem Bild erkennbar und wahrnehmbar wird. Brinkmann hingegen weist der Photographie eine solche »objektivierende« Funktion kaum noch zu, versucht aber das Subjekt als eine Art Kamera zu beschreiben, das gerade durch die photographieanaloge Aufzeichnung (und gleiches gilt auch für die Tonband- und die Super 8Aufnahmen) eingeklammert werden könne. Als »Standphoto« soll das Aufgezeichnete durchlässig wie durchsichtig gemacht werden für eine durchaus diachrone Perspektive: die Gegenwart ist mit Schichten der Vergangenheit überlagert, mit einer Patina tradierter Einstellungen, Deutungsmustern, Perspektiven etc. bedeckt. So wendet Brinkmann das anti-metaphorische Verfahren auf es selbst an, indem er die es begleitenden Bilder so beschreibt wie eben ein »Standphoto«: »›Bild von einem Hotel‹: wieder Bild (Vorstellungsbild, Gehirnbild) (Postkartenbild, Erinnerungsbild), wieder: Licht, Helligkeit, Klarheit – in der Erinnerung: Erinnerung als eine Dunkelkammer? Photo entwickeln, mit Licht, klar machen, deutlich machen, was? Einen gespeicherten Gehirnvorgang, worin das Gefühl festsitzt?«23

Die Geschichte der Entfremdung soll in Gestalt einer Verdinglichung der Sprache gegen sich selbst gewendet werden. So wie Kracauer in der Kontingenz der Photographien den Beweis für die Kontingenz der gesellschaftlichen Ordnungen erblickte, so deutet Brinkmann die Sprache als eine Wirklichkeitsentstellung, die komplexe Bilder der Entfremdung nicht nur hervorbringt, sondern in diesen zugleich aus- und entstellt. Die (literarischen) »Standphotos« stellen die Entstellung aus. Das photographische Klischee (denn so heißt der photographische Abzug in technischer Sprache) zeigt eben

Gedicht einzeln, wie eben ein Galeriebesucher, der sich Bilder anschaut: da sind die Gedichte nun auf die Buchseite gedruckt, und sie gefallen Dir.« 22 Ebd., S. 75. 23 Brinkmann: Briefe an Hartmut, S. 55.

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auch das geistige Klischee, das diese Aufnahme begleitet, das technische Bild legt das mentale bloß.24 Ein weiteres Verfahren, die Geschichte der Entfremdung in der Gegenwart zu wiederholen, ist die Litanei oder genauer die Lamentatio. Brinkmanns Texte lesen sich nicht selten wie moderne Erscheinungsformen dieser traditionellen Art und Weise, einen Verlust zu beklagen. Hier ist es kein geringer, geht es doch um den der Gegenwart und der Wirklichkeit in einem. Wenn der Brinkmann-Film mit dem O-Ton einer Verfluchung der Stadt Köln beginnt, so kann diese Szene Exemplarität beanspruchen. Weite Teile der Texte lesen sich wie eine Lamentatio in Form von klagender oder beschimpfender Listenpoesie. Ekphrasis wird zur Bestandsaufnahme der Ruinen der Welt, einer ruinierten Wirklichkeit. »Eine miese Realität«, heißt es oft, und weiter: »Ich kann nur sprechen, sobald mir etwas nicht gefällt / das Schöne ist für mich sprachlos.«25 Ähnlich der bestimmten Negation bei Adorno arbeitet sich die Literatur durch die Bezeichnung der Dinge als Abfall, Ungestalt oder Müll: sie werden einzeln benannt, um ihnen den Schein der Entfremdung zu nehmen, um ihnen die Sprache abzuziehen wie eine Haut. »Und jetzt«, »und jetzt«, »und jetzt« heißt es oft auch auf den Tonbändern,26 die unbedingte Gegenwart suchen und doch nur Dinge finden, die bereits entstellt sind und so einzeln aufgerufen werden. Brinkmann schreibt von sich, er »habe das Empfinden, [...] [sich] in rasendem Lauf quer über eine riesige Müllkippe«27 zu bewegen, erblickt überall nur »lebende Tote« und »Konserven von Bildern«.28 Dabei ist auch die Photographie nicht ohne Ambivalenz, da sich auch das Wahrgenommene in alte Bilder verwandeln kann und es ihm so erscheint, »als blätterte [er] buchstäblich in einem alten Fotoalbum«,29 das aber weniger einer Erinnerungs- als vielmehr einer Zerstörungsarbeit dient. Die Wirklichkeit in Standphotos und in Listen einer Lamentatio zu verwandeln, zielt gleichwohl auf eine neue Orientierung: »Sich orientieren! Wer kann das? Das setzt einen Blick ohne Voreingenommenheit voraus! Was ist Voreingenommenheit? Voreingenommenheit ist: Die Anwesenheit früherer Eindrücke und deren körperliche Bedeutung! Also: ich lege Schnittpunkte an: für mich: weiter.«30 24 Vgl. ebd., S. 45: »Das Bild, ein mentales Bild, ein Klischee, der Mond?« 25 Ders., Erkundungen, S. 193. 26 Rolf Dieter Brinkmann: Rom, Blicke, S. 152: »Anwesenheit, Gegenwart, hier und hier und jetzt...« 27 Ders.: Erkundungen, S. 194. 28 Ebd., S. 63. 29 Ebd., S. 344. 30 Ebd., S. 239.

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Und nun beginnt die Arbeit des Cut & Paste, die Collage und Montage, die Schnitte quer durch Gegenwart und Vergangenheit, durch die Bilder und die Sprache. Sammeln und Zerstören gehen Hand in Hand. Die Frage, was es heißt, sich im Denken und in der Sprache zu orientieren, beantwortet Brinkmann mit der Praxis des Schnitts. Wenn man die Grundhaltung von »Brinkmann, ein Dichterleben« skizzieren sollte, so geht das nicht ohne einen offenkundigen Widerspruch: einerseits geht es um Strategien des Aufzeichnens, des Registrierens, des Wahrnehmens und listigen Auflistens, andererseits um die Lust an der Zerstörung, darum, wie es auf den Tonbandaufnahmen heißt, »mit der Brechstange überall reinzuschlagen«. Die Erstellung von Listen, die Lamentatio des Verfalls und des Untergangs, das Sammeln von Standphotos, all das dient Brinkmann letztlich dazu, die sprachliche Schicht von den Dingen abzuziehen, die historischen Sedimente von ihnen herunterzuklopfen, die Gegenwart von der Last der Vergangenheit zu befreien: die Listen sollen nicht aufbewahren, sondern austreiben: sie sind Teil eines literarischen Exerzitiums, das auf der Suche nach dem »Infra-Alltäglichen« ist, um einen Begriff Georges Perecs leicht abgewandelt aufzunehmen. Es geht noch nicht einmal um das Ungewöhnliche, Außerordentliche oder dem Alltag Enthobene, sondern schlicht um die Beobachtung dessen, was ihn umgibt – allerdings ohne die schlechte Aura der verstellenden Bedeutung: »Durch einen Dunst von Bedeutungen tappe ich durch die Stadt«,31 schreibt Brinkmann, um sich dann auf die Suche nach einer Klarheit zu machen, die von den Dingen die Wörter abzieht und den »Wortfilm« entnimmt, um so eine Schicht zu erreichen, die »nur aus den Dingen besteht«, den, so die schöne Formel Maleen Brinkmanns, »wortlosen Raum«32 reiner dinglicher Gegenwart. Das ist die eigentümlich analytische Kunst Brinkmanns, der es um eine neue Form der Abstraktion geht: Während in den frühen Texten jenseits oder diesseits der Sprache noch die Bilder verheißungsvoll zu sein schienen und vermeintlich sprachlos und stumm lockten, so werden diese in den Collagebüchern auch zu Agenten einer normierenden Macht des Kollektivs und der Geschichte. Auch sie sind eine andere Form von Sprache, die in ähnlicher Weise einen unmittelbaren Zugang zu den Dingen verstellt und den Schleier der prägenden Tradition über sie breitet. Was bleibt dann aber noch zu tun? »Sammeln, Zerlegen, neu ordnen«,33 so beschreibt er die Aufgabe in Rom, Blicke. Und in den Erkundungen fragt er sich: »Ja, was betreibe ich eigentlich? Feldstudien! Der Angstatmosphäre, der Literaturatmosphäre, der Bewusstseinsatmosphäre, des Bewusstseins, das eingesperrt ist in der Zeit!«34 31 32 33 34

Ebd., S. 234. Ders.: Briefe an Hartmut, S. 283. Ders.: Rom, Blicke, S. 171 Ders.: Erkundungen, S. 227.

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Abbildung 2: Schnitte

Er erkundet das Museum auf der Straße mit seiner »verlorenen Zeit«,35 wirft seine Aufzeichnungsmaschine an, um den inneren Bildschirm leerlaufen zu lassen und zugleich die Dinge einzuspeisen in eine Kunst der Zerstörung qua Beschreibung. Am eindringlichsten unternehmen das wohl die Tonbandexperimente, die mitunter durch die Stadt gehen, aufzeichnen, benennen, bekla35 Ebd.

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gen, verfluchen, zerstören und doch eine Form der Authentizität proklamieren. Das Petrifizierte, Verdinglichte, Verfestigte soll wieder flüssig gemacht, aufgebrochen und dynamisiert werden. So etwa auch in den Super 8-Filmen, die, wenn man das Beispiel einer Zugfahrt in seine Heimatstadt Vechta nimmt, Wirklichkeit aufzeichnen und in einem Zug dynamisierend entstellen: eine Bildpoetik, die auf Destruktion wie auf Offenlegung der entstellten wie verstellten Oberfläche des Sichtbaren als entstellende Einstellung gleichermaßen setzt. Und wenn Brinkmann darin erinnert, dass »Kopf« und »kaputt« mit »caput« die gleiche etymologische Wurzel haben, dann geht es ihm um die Formel einer destruktiven Freilegung der Gegenwart, des Alltags und des Vorhandenen. »Was ist denn da tatsächlich? Das kann Literatur nicht zeigen, sagen.«36 Aber sie soll es gleichwohl leisten.

IV. WARTEN AUF DIE GEGENWART wieder reinzukommen in die Gegenwart. Wie ist die Gegenwart? Welche Struktur hat sie? Eine Vergangenheitsstruktur? Ist sie nur Verlängerung der Vergangenheit? ROLF DIETER BRINKMANN / BRIEFE AN HARTMUT, S. 194

»Ich will Gegenwart!«37 Das ist der kategorische Imperativ von Brinkmanns literarischer Destruktionsarbeit. »Was ich in der Gegenwart sah, konnte ich nur total verneinen«.38 Das ist die Formel der literarischen Lamentatio als bestimmte Negation. Wenn man nun Brinkmanns Experimentieren mit Collagen und Tonbändern, Cut-Up-Verfahren und narrativen Strategien insgesamt auf einen Begriff zu bringen versuchte, so wäre das wohl jener einer Freilegung einer unverstellten Gegenwart. Eckhard Schumacher hat die Aporien dieser Theorie wie Praxis filigran wie konzise herausgearbeitet.39 Es ist zugleich die Aporie von Brinkmanns praktizierter Intermedialität, die durchweg auf Gegenwart zielt und doch überall nur Vergangenheit findet, die das Ungestellte, Unverfälschte, Authentische freilegen will, und sich gleichwohl mit Phantomen, Geistern und Wiedergängern bescheiden muss.

36 37 38 39

Ders.: Tonbandaufzeichnung. Ders.: Rom, Blicke, S. 177. Ders.: Erkundungen, 174. Eckhard Schumacher: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2003, S. 57-109.

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»Gegenwart????? Reisen quer durch die gegenwärtigen Augenblicke sind immer Reisen durch die Vergangenheit, lautlose, schattige, aber scharfumrissene SexBallette, die durch die Wörter und Sätze hindurch inszeniert werden, knurrende Laute, Quieken und Grunzen, das aus den Cafes und Restaurants der Stadt in wirrem, wirbelnden Durcheinander stürzt, ich war auf der Reise durch diese Gegenwart, und jetzt zeige ich Ihnen diese Reisebilder wie zerbrochene und noch einmal zerbrochene Einzelheiten eines Traums.«40

Und weiter: »Gegenwart? Verfallendes, altes Datum, wie’ne alte Fahrkarte, die mit Erdnus[s]tüten, Zigarettenkippen […] und einem blendenden, weiten Nachmittagsaugenblick wie ein plötzliches, gräßlich sentimentales Heimwehgefühl, das sich genaugesehen eigentlich auf nichts Bestimmtes bezieht, über eine staubige, nächtliche Straßenkreuzung geweht wird.«41

Die Gegenwart ist für Brinkmann Ausgangs- wie Zielpunkt zugleich: an ihr gilt es anzusetzen und sie gilt es überhaupt zu erreichen. Sie ist das Emblem seiner praktizierten Intermedialität. Alle Versuche, alle Experimente zielen letztlich auf nichts anderes als auf die Gegenwart, ihre Erkundung, ja ihre Entdeckung. Brinkmann teilt mit der Avantgarde eines Alexander Rodcenko oder László Moholy-Nagy die Überzeugung, dass die Tradition den Blick auf die Gegenwart verstellt habe. Er ist allerdings ungleich skeptischer, was die Möglichkeiten der neuen technischen Medien anbetrifft. Während bei Moholy-Nagy die Photographie noch als die »objektive Sehform unserer Zeit« bestimmt wird, die es gestattet, den Schleier der Tradition von den Augen herunterzureißen, greift Brinkmann erst auf die Bilder der Pop-Literatur, dann auf die Photographie und den Film und schließlich auf das Tonband zurück, um jeweils festzustellen, dass ein jedes Medium zwar Authentizität und Gegenwart verheißt, dann aber doch in je unterschiedlicher Weise eben jene Entstellung der Wirklichkeit, die sich in der Sprache zeige, in anderer Weise umsetzt. Da helfen auch kein Aufzeichnen von Klopfgeräuschen mit dem Tonband, kein Gender Trouble der Super 8-Filme und auch keine SnapShot-Begeisterung der Photographie – auch wenn sie ein anderes Bild hätten zeigen sollen: »Schöne Utopie: wahrnehmen, sehen, aufnehmen, erleben ohne durch Wörter, Verstehen vorprogrammiert zu sein – direkt.«42 Es hilft kein Zurück- und Vorwärtsspulen der Tonbänder, um gegen die Geschichte anzuschreiben, da die Geschichte dennoch die Oberhand behält: »Die Ver-

40 Brinkmann: Erkundungen, 155. 41 Ebd., S. 156. 42 Ders.: Briefe an Hartmut, S. 78.

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gangenheit wörtlich genommen paralysiert das Bewußtsein der Gegenwart.«43 Eine letzte Wendung erlaubt die Fiktion – oder, mit Kracauer gesprochen, die Photographie als technisches Aufzeichnungsverfahren: »Nun ist jede Vergangenheit fiktiv«,44 heißt es in den Erkundungen, um den fiktiven Charakter der Wirklichkeit als Möglichkeit einer anderen Wirklichkeit zu deuten: »Wenn ein Bewusstsein erlaubte Das Fiktive der Vergangenheit fiktiv zu sehen«,45 so könnte sich die »Gegenwart von Blindbegriffen«46 dann letztlich doch als »Fiktion der Gegenwart«47 erweisen. Und wenn auch »Herkunft Fiktion heißt«,48 dann besteht die Aufgabe der Fiktion wie auch der praktizierten Intermedialität gerade darin, diese »geisterhafte Gegenwart und geisterhafte[n] Nachrichten«,49 diese »Geisterbahn aus Bildern und Sätzen«50 zu zerstören. Fiktion hat zur Aufgabe, Fiktion zu zerstören, zu zerschneiden: »Die Gegenwart ist die Verlängerung der Vergangenheit. Man muss Gegenwart mit Vergangenheit zerschneiden?«51 Und was erscheint dann? Was erscheint, wenn die Schnitte gut gesetzt sind? Eine neue aristotelische Einheit: die Einheit des Ortes, der Zeit und des Lebensstils. In wenigen Abschnitten der Tonbandaufzeichnungen, von Rom, Blicke und auch den Erkundungen findet sich die Vision einer Gegenwart als reiner Präsenz des nur Faktischen: »Es gab nichts zu denken, zu sagen, alles war da«, heißt es etwa in einer Tonbandaufzeichnung. Oder in den Erkundungen: »endloses sanftes rhythmisches Blau gleichmäßig mit so was Weißem Wattigen gefleckt fantastische Wolkenformationen diese endlose weiße Wüste weiß hochgedrückt und dann weiter über dem Blau und dann weiter blau und dann in diesen Raum wortlos und ohne eine einzige Geste zu machen die auf Vertsändnis [sic!] von Wörtern hofft und das bin ich der nichts mehr damit zu tun hat und weiter einfach bloß weiter eine unbegrenzte Reise und das ist fantastisch.«52

Und im Brinkmann-Film, der zwar einen Schauspieler hat, der aber nichts als reinen Brinkmann O-Ton spricht, der von den originalen Tonbändern 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52

Brinkmann: Erkundungen, S. 63. Ebd., 64. Ebd. Ebd., S. 66. Ebd., S. 230. Ebd., S. 240. Ebd., S. 232. Ebd., S. 234. Ebd., S. 278. Ebd., S. 83.

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stammt, findet sich ein Moment des Glücks in der Musik von »Soft Machine«, die nur da ist und klingt und verklingt. Und was ist das größte Glück der Gegenwart? Es ist wohl nicht mehr und nicht weniger als »unter erloschenen Buchstaben herzugehen«53 und dennoch und gerade deshalb überhaupt wahrnehmen zu können.

53 Brinkmann: Tonbandaufzeichnung.

W.G. Sebald G ERHARD F ISCHER (S YDNEY )

I. »The ever-surprising device of pictorial illustration«: mit diesen Worten beschreibt Susan Sontag die vielleicht aufffälligste Besonderheit der erzählenden Prosa W. G. Sebalds.1 Mit der Ausnahme seines ersten literarischen Werkes, dem langen Prosagedicht Nach der Natur (1988), das nahezu bilderlos ist, sind alle darauf folgenden fiktionalen Texte (und ebenso einige seiner späten literaturwissenschaftlichen Essays) reich bebildert: mit SchwarzWeiß-Photographien, oft mit Absicht grobkörnig und unscharf reproduziert, mit Faksimiles von Bildern und Texten aller Art (Fahrkarten, Ausschnitten aus Zeitungen oder Büchern, Stadtplänen, Rechungen oder Quittungen, Kalender- und Tagebucheintragungen, Reproduktionen von Postkarten, Gemälden oder Filmszenen, und vieles mehr). Diese Bilder, oft ohne Quellenangaben scheinbar absichts- und zusammenhanglos in den Text einmontiert, verleihen dem Werk eine Aura von dokumentarischer, gleichzeitig aber auch mysteriöser Authentizität. Es sind oft zufällig erscheinende Fundstücke, Relikte und Souvenirs der Reisen des Autors/Erzählers, die das Erzählte illustrierend dokumentieren und vertiefen, nicht selten aber auch verrätseln. Auf jeden Fall erzwingen sie, schon allein durch die mediale Andersartigkeit, das Interesse und die Aufmerksamkeit des Lesers. In den Jahren seit dem unzeitigen Tod Sebalds im Dezember 2001 ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dessen Werk sprunghaft angestiegen, und es überrascht nicht, dass gerade der intermediale Charakter der Sebaldschen récits illustrés zum bevorzugten Thema der Interpreten geworden ist. Dies betrifft sowohl die Rezeption im Ausland, zumal im angloamerikanischen Sprachraum, wo Sebald zuerst als international bedeutender

1

Susan Sontag: »A Mind in Mourning«. In: Times Literary Supplement, 25. Februar 2000.

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zeitgenössischer Autor anerkannt worden ist, als auch die inlandsdeutsche germanistische Literatur- und Kulturwissenschaft, die inzwischen mit der englisch-sprachigen Sebald-Forschung gleichgezogen hat. Ich möchte hier, stellvertretend für beide Sprachräume und Kulturkreise, auf zwei Untersuchungen hinweisen, die meines Erachtens den internationalen Forschungsstand repräsentativ dokumentieren. Jonathan J. Long vertritt in seiner Studie W.G. Sebald – Image, Archive, Modernity2 sehr ausführlich und in überzeugender Weise die These, dass die Darstellung des Problems der Moderne und deren Kritik im Zentrum des erzählerischen Werks Sebalds steht, und er untersucht die Verbindungslinien, die das Werk mit den Konzepten der wichtigen Theoretiker der europäischen Moderne verknüpfen. Der Kreis der Bezugspersonen ist dabei weit gespannt: von Freud über Benjamin und Barthes zu Foucault und Derrida, und zu den Autoren, die sich über den Holocaust und daran anschließend eine adäquate Erinnerungsstrategie und –ästhetik zu verständigen suchen, wie etwa Marianne Hirsch mit ihrem Konzept eines postmemory. Es geht Long dabei nicht nur um literarische, sondern auch um philosophische und psychologische Aspekte, um geschichts- ebenso wie medientheoretische Vorstellungen, oder um speziellere Fragestellungen im Bereich der Gedächtnis- und Traumaforschung. Wie Long nachweist, spielt vor allem die Fotografie als das – so Long – »emblematic medium of modernity« bei der intermedialen Auseinandersetzung Sebalds mit dem Phänomen der modernity im Kontext der europäischen Geschichte eine hervorragende Rolle.3 Die zweite Studie, auf die ich als repräsentativ für die Sebald-Rezeption in Deutschland verweisen möchte, ist die Dissertation von Susanne Schedel, »Wer weiß, wie es vor Zeiten wirklich gewesen ist?« Textbeziehungen als Mittel der Geschichtsdarstellung bei W.G. Sebald.4 Schedels Arbeit ist eine Untersuchung der Intertextualität bei Sebald, die nach Ansicht der Autorin eine »narrative Grundstruktur« in Sebalds Prosa und das für dessen »Dichtung zentrale poetische Verfahren« darstellt.5 Schedel macht zwischen Intertextualität und Intermedialität prinzipiell keinen Unterschied: »fremde« Texte bzw. Zitate oder Paraphrasen ebenso wie »fremde« Illustrationen erscheinen als Prätexte, deren inhaltliche wie thematische Funktionen es zu erklären gilt. Im zweiten Teil der Studie geht es dabei speziell um die Inter-

2 3 4 5

Jonathan.J. Long: W.G. Sebald – Image, Archive, Modernity. Edinburgh Press 2007. Ebd., S. 4. Susanne Schedel: »Wer weiß, wie es vor Zeiten wirklich gewesen ist?« Textbeziehungen als Mittel der Geschichtsdarstellung bei W.G. Sebald, Würzburg 2004. Ebd., S. 65, 10.

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pretation der Geschichtsbeziehungen als dem entscheidend wichtigen Thema der Sebaldschen Erzählungen. Im ersten Teil versucht Schedel, ausgehend von der aktuellen Intertextualitätsforschung, eine systematische Darstellung der Text-Prätext-Konstellationen, wobei nach dem jeweiligen Grad der »Markierungsdeutlichkeit« gefragt wird. In Bezug aus das intermediale Verfahren erweist sich dabei, dass die unterste »Nullstufe« (unmarkierte Intextualität) hier nicht in Frage kommt, da alle Illustrationen schon durch die semiotischgraphem-ische Signalwirkung als »fremde« Prätexte erkannt werden.6 Sinnvollerweise kann man daher von einer unmarkierten Intermedialität erst auf einer zweiten »Reduktionsstufe« sprechen: hier gibt der Text keinerlei Auskunft über die benachbarte, einmontierte Abbildung.7 Dies trifft auf viele der Fotografien zu, die Sebald kommentarlos in seine Texte einmontiert. Doch genauso typisch sind Text-Bild-Beziehungen, in denen explizit auf die Illustrationen Bezug genommen wird. Auf dieser von Schedel als »Vollstufe« bezeichneten Form der Intermedialität erweist sich vor allem der dokumentarische Charakter der jeweiligen Abbildung, die die Sinnkonstitution der Texte um eine bedeutende Dimension erweitert.8 Die Interpretation dieses Verfahrens, die einen effet du réel suggeriert, ist allerdings nicht immer unproblematisch, da Sebald – wie Schedel nachweist – vor »Fälschungen« keineswegs zurückschreckt; mit anderen Worten, er manipuliert die Bild-Text-Konstellation, nicht zuletzt um seine Leser gelegentlich zu verunsichern.9 Für die letzte »Potenzierungsstufe« des intermedialen Verfahrens schließlich ist die thematische Auseinandersetzung in der Form von Bildbeschreibungen und -interpretationen kennzeichnend.10 Im Gegensatz zu den Bildern von Matthias Grünewald und anderen Künstlern, die in Nach der Natur ausführlich beschrieben werden, aber nicht abgebildet sind, gibt es in Schwindel. Gefühle, Die Ausgewanderten, Die Ringe des Saturn und Austerlitz eine Reihe von Illustrationen von bekannten Werken der europäischen Malerei, die als mediale Prätexte in den Eigentexten Sebalds auftauchen und im Erzählzusammenhang eine wichtige Rolle spielen. Das bekannteste Beispiel dieser Art ist vermutlich die kommentierende Ekphrasis von Rembrandts Anatomiestunde (Die anatomische Vorlesung der Dr. Nicolaas Tulp; 1632) in Die Ringe des Saturn: das berühmte Gruppenporträt, einmal vollständig über eine Doppelseite und dann noch einmal in einem kleineren Abschnitt abgebildet (RS 24-

6 7 8 9 10

Ebd., S. 31. Ebd., S. 67. Ebd., S. 71. Ebd., S. 64. Ebd., S. 95.

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25, 2611), wird von Sebald ideologiekritisch, in Anlehung an Foucaults Thesen zu »Körper, Strafe, Macht, Disziplin«, als Beispiel der Subversion »cartesischer« Wissenschaftsprinzipien diskutiert.12 Schedel resümiert ihre Analyse des intertextuellen Verfahren Sebalds mit dem treffenden Hinweis, dass der Autor »insbesondere auf der expliziten Stufe nicht nur den Prätexten aus der Literatur, sondern auch denjenigen aus der Malerei die Aufgabe zuweist, Abbild eines Seelenlebens oder einer Weltsicht zu sein, in der sich der jeweilige Erzähler oder lyrische Sprecher geistesverwandt sieht und die er in seinem Erzählen reflektiert,« während der Abbildung von Fotografien eher »ein an sich dokumentarischer Charakter« zugeschrieben wird.13 Ich möchte im Folgenden versuchen, die Erkenntnisse von Long und Schedel, mit denen ich weitgehend übereinstimme, in einem Punkt zu ergänzen und zu vertiefen, und zwar in Bezug auf die Modalität der Darstellung von visuellen Prätexten; konkret geht es um die Frage, wie genau die Bilder, Fotografien, Faksimiles, Gemäldeabbildungen usw. in die Typographie und den Seitenumbruch des Buchtextes montiert sind. In einem weiteren Schritt möchte ich anhand eines Beispiels aus Austerlitz dann noch einmal auf die besondere Beziehung von bildlicher Darstellung und Ekphrasis zu sprechen kommen, wobei es sowohl um das Bedeutungspotential einer intertextuellen bzw. intermedialen Motivkette im letzten der vollendeten Werke Sebalds geht, als auch um die interpretatorische Einschätzung einer intermedialen Referenz, die »unmarkiert« an einer entscheidenden Stelle des Werkes erscheint.

II. Das typographische Arrangement von Text und Illustration auf einer Buchseite stellt oft eine drucktechnische Herausforderung dar, bei deren Lösung Setzer und Autor normalerweise zusammenarbeiten, zumal wenn das Buch auf der Basis des inzwischen üblichen Computersatzes hergestellt wird, der zuweilen »eigensinnig« seinen nicht immer durchschaubaren einprogrammierten Schritten zu folgen scheint. Dass der Autor hier Einfluss nehmen

11 Nachweise zu Sebald werden unter der Angabe der betreffenden Seitenzahl im Text genannt, wobei folgende Siglen benutzt werden: RS (Die Ringe des Saturn. Frankfurt a.M. 1997), SG (Schwindel.Gefühle. Frankfurt a.M. 1994), DA (Die Ausgewanderten. Frankfurt a.M. 1994), A (Austerlitz. Frankfurt a.M. 2003), LL (Logis in einem Landhaus. Frankfurt a.M. 2003) 12 Vgl. Long: W.G. Sebald, S. 80, 135. 13 Schedel: »Wer weiß, wie es vor Zeiten wirklich gewesen ist?«, S. 80.

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möchte, ist leicht verständlich, denn der typographische Eindruck, den die illustrierte Buchseite auf den Leser macht, muss sich einerseits ästhetisch behaupten und andererseits dem intendierten Aussagepotential des Textes inhaltlich wie thematisch entsprechen. Bei den meisten Illustrationen Sebalds ist dies kein besonderes Problem, denn in der Regel werden die Bilder, in durchaus unterschiedlichen Formaten, ohne Untertitel oder sonstige Hervorhebungen in das Seitenlayout eingebaut, ohne dass der narrative Fluss des Textes unterbrochen wird. Diese Fotos erscheinen wie zufällige Fundstücke, die außer der dokumentarischen allenfalls eine deiktische Funktion aufweisen. Die Dominanz dieses Verfahrens hat dazu geführt, dass man in der Forschung allgemein der Ansicht zu sein scheint, bei den Fotografien in Sebalds Texten handle es sich prinzipiell um Bilder ohne Untertitel: so spricht Roberta Silman von »captionless photographs« oder Claudia Öhlschläger von »rahmenloser Einbindung«.14 Tatsächlich gibt es aber ein zweites, für Sebald nicht weniger typisches Verfahren, indem der Autor durch die Formatierung seines Textes durchaus so etwas wie eine caption oder Rahmung seiner Bilder bewirkt. Ich möchte dafür hier nur drei Beispiele vorführen. Die Ringe des Saturn beginnt mit einem Bericht des im Krankenhaus von Norwich von einem psychischen Zusammenbruch genesenden Erzählers über seine Nachforschungen über den Verbleib des Schädels von Thomas Browne, der angeblich eine Zeitlang im Museum des Hospitals aufbewahrt wurde, wo Browne einige Jahre seines Lebens als Arzt praktiziert hatte. Auf Seite 21 erscheint dann, als zweite Abbildung des Buches (nach einem Foto des Fensters im Zimmer des Krankenhauses), eine offensichtlich historische Fotografie, die einen auf drei Büchern arrangierten Schädel im Profil darstellt. Durch die zentrierte Anordnung der Worte »Thomas Browne« in der Zeile unter dem Bild entsteht der Effekt einer Titelanzeige, auch wenn der Text in der folgenden Zeile im normalen Blocksatz syntaktisch bruchlos weitergeht: »kam am 19. Oktober 1605 in London als Sohn eines Seidenhändlers zur Welt« (RS 21). Durch das Text-Bild-Arrangement wird suggeriert, dass der abgebildete Schädel tatsächlich der von Browne ist und der Text so dokumentarisch abgesichert wird (obwohl Sebald eine unzweifelhafte Quellen-

14 Roberta Silman: »In the company of ghosts« [Review of The Rings of Saturn]. In: The New York Times Book Review, July 26, 1998. Zitiert nach: W.G. Sebald. Die Ringe des Saturn, Frankfurt a.M. 2001, S. 383–395. Hier: S. 385. Claudia Öhlschläger: »Medialität und Poetik des trompe-l’œil: W.G. Sebald und Jan-Peter Tripp«. In: Paul Michael Lützler, Stephan K. Schindler (Hrsg.): Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch, 6/2007, Tübingen 2007, S. 21–43. Hier: S. 38. Im Unterschied zu dem Verfahren von Sebald wird meist Alexander Kluge zitiert, dessen Illustrationen in der Regel mit einer Caption versehen sind.

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und Beweisangabe dafür nicht liefert). Gleichzeitig wird das Bild als ein quasi musealer Ausstellungsgegenstand auf der Buchseite präsentiert. Das Bild erscheint »gerahmt«, aber dennoch in die Syntax der Narration integriert. Das intermediale Arrangement bedeutet hier, dass die mediale Differenz einserseits unterlaufen, gleichzeitig aber auch markant herausgestellt wird. Man könnte es als eine Kritik der Praxis der musealen Präsentation ebenso als deren Bestätigung interpretieren: ein thematisches Paradox, das für Sebalds historische und kulturkritische Agenda kennzeichnend ist. In einer Variante dieses Verfahrens einer »Intermedialitätshandlung« geht Sebald einen Schritt weiter: hier mutiert das Bild zum Text, bzw. es wird, wie Schedel formuliert, zum »Anderen« der Sprache.15 So erscheint wiederum gleich zu Anfang eines Buches – hier Schwindel. Gefühle – die Abbildung eines Augenpaares, das einem Porträt Henri Beyles (Stendhal) entnommen ist, dessen Biografie von Sebald erzählt wird. Die Zeile über dem Bild, das dem Blocksatz des Textes angepasst ist, ist zentriert gesetzt; sie lautet: »Selbst seine weit auseinanderliegenden«, während die nächste Zeile unter dem Bild fortfährt mit: »deretwegen er zu seinem Leidwesen oft oft Le Chinois [genannt wird]« (SG 15). Die Illustration liefert hier dem Leser das fehlende Wort »Augen« (ohne das Komma, das man sich wohl pedantischerweise vor dem Relativsatz hinzudenken möchte). Schedel, die auf weitere Bild-Text-Arrangements dieser Art verweist, spricht hier von einem »spielerischen Element«, »das den Text anreichert«.16 Tatsächlich ist das spielerisch-performative Element in Sebalds intermedialer Verfahrensweise bisher wenig von der Forschung beachtet worden, vermutlich weil man meint, dass solche Spielereien nicht so gewichtig sind, dass sie einer weitergehenden Analyse bedürfen. Doch schon die gravitas der Austellung von Brownes Schädel, der ganz bewußt als memento mori an den Anfang von Die Ringe des Saturn platziert wird, widerspricht dem Eindruck einer wenig ernsten Spielerei. Bedenkt man weiterhin die Rolle als zentrales Leitmotiv, die Browne und dessen Werk in der Gesamtkomposition des Buches spielen, und vor allem auch, wie der englische Autor des 17. Jahrhunderts als ein dem Erzähler über die Zeiten hinweg wesensverwandter Autor präsentiert wird, dann zeigt sich die Bedeutung, die der dennoch spielerischen Anordnung der Bild-Text-Komposition zu Grunde liegt. Ähnliches liesse sich auch für die Bedeutung von Beyle/Stendhal als einer anderen wichtigen Bezugsperson für den Autor/Erzähler Sebald in Schwindel. Gefühle ausführen. Bei dem »postmodernen Maskenspiel« der frühen Sebald-Texte, wie Doreen Wohlleben schreibt, handelt es sich meines Erachtens keineswegs um eine postmoderne

15 Schedel: »Wer weiß, wie es vor Zeiten wirklich gewesen ist?«, S. 79. 16 Ebd., S. 74.

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Spielerei in dem Sinn, der »postmodern« mit »belanglos, beliebig« gleichsetzt.17 Auch das dritte Beispiel, das ich anführen möchte, belegt diese Einschätzung, denn hier geht es um ein noch gewichtigeres Thema, das als ebenso zentral im Werk Sebalds erscheint, den Holocaust. Im dritten Kapitels von Die Ringe des Saturn, in dem von Major George Wyndham Le Strange erzählt wird, einem der vielen exzentrischen Außenseiter, die das Personal des Buches ausmachen, erscheint eine Abbildung, deren Quelle im Text nicht identifiziert wird. Wyndham Le Strange hatte als Offizier im 2. Weltkrieg an der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen teilgenommen. Die Narration geht auf Bergen-Belsen überhaupt nicht ein, stattdessen erscheint eine doppelseitige Photographie, platziert unmittelbar nach dem Datum der Befreiung des Lagers, mit dem der Text auf Seite 77 unterbrochen wird: »14. April 1945«. Nach dem Foto wird der Text fortgesetzt mit den Worten »das Lager von Bergen-Belsen«, ohne dass es zu einer Unterbrechung der syntaktischen Verbindung kommt (RS 77–80). Das Foto, das von diesen beiden Signalen – Zeit und Ort – eingerahmt wird, zeigt ein Waldstück, in dem zahlreiche mit Wolldecken teilweise zugedeckten Leichen liegen. Zu dem schockierenden Bild gibt es keinerlei Kommentar; ebenso fehlt jeder Hinweis, wann und wo das Foto aufgenommen wurde. Die Nähe von Text und Illustration legt nahe, dass es eine Beziehung zu Bergen-Belsen und zur Geschichte des Lagers gibt, doch der Text verweigert die Bestätigung dafür. Es scheint, als ob das Datum und der Ortsname ausreichen, einen visuellen Gedächtnisblitz auszulösen, der die fortlaufende Beschäftigung des als Expatriat in England lebenden Autors mit der Geschichte seines Heimatlandes illuminiert. Gleichzeitig sieht der Leser das Geschehen aber von einer anderen, hier der alliierten Seite, wenn man so will, wobei der englische Offizier, der nach dem Krieg sich völlig aus der Gesellschaft zurückzog, ein eindrückliches Beispiel dafür zu liefern scheint, welche lang anhaltenden psychischen Folgen die direkte Konfrontation mit dem Holocaust auch bei Zeitgenossen und Zeugen hinterließ, die weder Opfer noch Täter, sondern Befreier waren. Doch könnte es sich bei dieser Art von intermedialer »Rahmung« nicht um einen Zufall handeln, der sich durch den Computersatz unwillkürlich und ungeplant eingestellt hat? Dass dies ausgeschlossen werden kann, belegt ein Vergleich der bei Fischer erschienenen Taschenbuchausgabe mit der gebundenen Erstausgabe, die zuerst in Enzensbergers Reihe Die andere Bibliothek publiziert wurde. Das im Bleisatz gedruckte Original weist ein anderes Seitenlayout und dementsprechend eine andere Pagination auf, doch die Rah17 Doreen Wohlleben: »Maske–Gesicht–Antlitz. Porträts bei W.G. Sebald in Bild und Text«. In: Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch, 6/2007, S. 1– 20. Hier: S. 17.

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mung des Bergen-Belsen-Bildes bleibt davon unberührt: sie ist in beiden Bänden identisch und – so muß man wohl schließen – vom Autor gewollt arrangiert.18 Ein Vergleich der deutschen Ausgaben mit den englischen Übersetzungen liefert dann den überraschenden Befund, dass in den englischsprachigen Texten durchgängig auf die beschriebenen Arten von caption und Rahmung verzichtet wurde.19 Man hat es offensichtlich nicht für nötig gehalten, das spezifische Seitenlayout der deutschen Originalfassungen mit dem Layout der Übersetzungen zu vergleichen und dann typographisch anhand einer entsprechenden Formatierung zu reproduzieren. Es fragt sich, warum Sebald – »scrupulous as he was in all his dealings and so meticulous over the editing of his writings that he spent hundreds of hours on the checking of their English versions«, so sein Freund und Übersetzer Michael Hamburger – auf die besonderen Aspekte der Übertragung der Text-BildArrangements offenbar keinen Einfluss nehmen wollte oder konnte.20 Den Lesern der englischsprachigen Übersetzungen geht so ein charakteristischer Teil der für Sebald typischen Intermedialitätshandlungen verloren, was freilich auch die Formulierung »captionless photographs« zumindest in der anglo-amerikanischen Rezeption erklären würde.

III. Die Manipulation der Sebaldschen Selbstporträts in Schwindel. Gefühle liefert ein weiteres Beispiel dafür, dass es um mehr geht als um eine eine harmlos-postmoderne, spielerische Selbstinszenierung. Vielmehr zeigt sich hier ein Prozess der Transformation oder Transmigration – ein Begriff, der auch in Ringe des Saturn eine zentrale Rolle spielt. Gemeint ist die performative Ausstellung der komplexen, im Wandel begriffenen Identität des Autors und Erzählers (in Personalunion), der als Ich-Erzähler in allen Werken Sebalds präsent ist, ohne dass jeweils von einer einheitlichen Persona gesprochen werden kann. In Schwindel. Gefühle wird die Metamorphose des deutschen Emigranten zum hybriden Expatriat in England paradigmatisch vorgeführt, begleitet von melancholisch-selbstreflexiven Exkursen und mit selbst-

18 Vgl. die betreffenden Seiten in der Ausgabe von Fischer (77–80) und der von Eichborn (79–82). 19 Elinor Shaffer, der dies auch aufgefallen ist, spricht von »inattentive book production«. Vgl. Elinor Shaffer: »W.G. Sebald’s Photographic Narrative«. In: Rüdiger Görner (Hrsg.): The Anatomist of Melancholy. Essays in Memory of W.G. Sebald, München 2005. S. 51–80. Hier: S. 55. 20 Michael Hamburger: »Translator’s Note«. In: W.G. Sebald and Jan Peter Tripp: Unrecounted, London 2004. S. 1–9. Hier: S. 1.

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ironischem Augenzwinkern. Dieser Erzählstrang beginnt (in der zweiten Erzählung des Bandes, »All’ Estero«) damit, dass der Pass des Erzählers aufgrund eines bürokratischen Mißverständnisses in seinem Hotel – die Geschichte spielt im oberitalienischen Feriengebiet am Gardasee – abhanden geommen ist: ein klassischer Fall von mistaken bzw. lost identity. Der anfangs namenlose Erzähler sieht sich so gezwungen, seine Identität zu offenbaren: er muss ein vom Polizeichef des Ortes aufgesetztes Dokument unterschreiben, in dem der Verlust des Passes bezeugt wird. In einer im Text reproduzierten Kopie dieser Bescheinigung (SG 117) hat der Autor nun eine entscheidende Änderung vorgenommen. Der Vorname – es ist anzunehmen, dass es sich dabei um den unmissverständlich deutschen Namen Winfried handelt – ist bis auf das Initial »W« geschwärzt, d.h. mit einem dicken schwarzen Strich unleserlich gemacht worden, ähnlich wie bei einem archivierten Dokument, das zensiert worden ist, um die Identität eines Informanten zu schützen. Auch aus der Unterschrift ist der ursprüngliche deutsche Vorname nicht zu rekonstruieren: der Passinhaber unterzeichnet mit W. Sebald (wobei das Initial so unleserlich geschrieben ist, dass man es auch als »M« lesen könnte: d.h. als »Max« Sebald, wie der Autor von seiner Familie und von Freunden genannt wurde). Einige Seiten später ist eine weitere Illustration im Text abgedruckt, nämlich eine Kopie des neuen Passes, ausgestellt vom deutschen Generalkonsulat in Mailand am 4. August 1987 (SG 129). Das Bild zeigt charakteristischerweise nicht die erste Seite, auf der der volle Name des Passinhabers steht, sondern die dritte Seite mit dem Passfoto, den Einträgen über persönliche Merkmale (»Augen: braun; Größe 184 cm«) und der Unterschrift des Passinhabers. Auch hier hat der Autor die Illustration manipuliert: diesmal verläuft ein dicker schwarzer Balken vertikal durch die Mitte des Fotos, sodass das Gesicht kaum mehr zu erkennen ist. Alles andere scheint authentisch zu sein: die Unterschrift, identisch mit der auf dem Polizeidokument, Stempel und Siegel, die kryptische Unterschrift des Konsularbeamten. Der Text informiert den Leser, dass – nachdem so die Identität »sichergestellt war« (SG 129) – die Reise mit neuem Pass nach Verona weitergeht, wo der Ich-Erzähler im Hotel »Zur goldenen Taube« absteigt, und zwar unter dem Namen »Jakob Phillip Fallmerayer, Historiker von Landeck« (SG 132). Wie der Erzähler mit seinen Figuren spielt, so spielt auch der Autor hier offensichtlich mit seinen Lesern. Die Fotografien, die anscheinend den Zweck verfolgen, die literarische Narration mit der Aura des Faktischen, Dokumentarischen zu legitimieren, erweisen sich als manipuliert. Dazu kommt, dass ausgerechnet der Pass und das Zeugnis der Polizei, die beide dazu dienen, die Identität des Trägers unmissverständlich klarzustellen und offiziell zu bezeugen, genau das Gegenteil bewirken: die Identität wird verunklart. Was unzweifelhaft bleibt, sind allein Initial und Familienname des Erzählers in beiden Dokumenten: W. Sebald. Dieser Name

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stimmt allerdings nicht überein mit dem des Autors auf der Titelseite: W.G. Sebald. Die doppelten Initialen, die bezeichnenderweise an die Namen englischer Autoren erinnern, sind ein literarisches Konstrukt; sie stehen für eine Kunstfigur, die weder mit der Person des Erzählers noch mit der des 1944 in Wertach im Allgäu geborenen Winfried Georg Sebalds identisch ist. Die englische Form der Initialen macht aber noch einmal nachdrücklich darauf aufmerksam, dass dessen deutscher Vorname bei dieser Metamorphose verschwunden ist. Der »reale« Ich-Erzähler, der am Ende dieses Identitätsspiels erscheint, ist »an exemplary fictional construction«, wie Susan Sontag schreibt.21 Sebald liebt diese intermedialen Identitätsspiele, in der er die eigene Person vorstellt und gleichzeitig verrätselt. In der Ambros Edelwarth-Geschichte aus Die Ausgewanderten z. B. gibt es ein Foto, das laut Textkommentar den Erzähler darstellen soll, der von seinem Onkel in Amerika fotografiert wurde. Doch auf dem Bild ist nur der schwarze Umriss einer Person im Trenchcoat zu sehen, vor einem Hintergrund aus grauem Sand, Brandungswellen und Himmel. Als Erkennungsdokument ist das Foto völlig nutzlos; die Person ist nicht zu erkennen (DA 130). In »All’estero« wird der Humor und das spielerisch-imaginative Element der Passverlust-Episode noch dadurch gesteigert, dass auf dem Polizeidokument neben der Unterschrift »W. Sebald« noch eine andere zu finden ist, die einer gewissen Luciana Michelotti, der attraktiven und charmanten Wirtin des Hotels, zu der sich der Erzähler gleich hingezogen fühlte, eine Empfindung, die zumindest in seiner Phantasie nicht auf Einseitigkeit beruhte. Auf dem Polizeidokument sind nun die Unterschriften der beiden nebeneinander wie auf einer Heiratsurkunde angeordnet, und so ist es keine große Überraschung, wenn der Leser erfährt, dass der Erzähler sich fühlte, als ob die beiden gerade »von dem Brigadier getraut worden« wären und dass sie jetzt, das Heiratsdokument in der Hand, auf Hochzeitsreise gehen und »miteinander hinfahren [könnten], wo wir wollten« (SG 116). In Die Ringe des Saturn, um noch ein letztes Beispiel zu geben, verfolgen die Leser das Projekt des Erzählers und Expatriats, seine neue Heimat an der Südostküste Englands zu entdecken und sich anzueignen. Der Erzähler tut dies in typisch Sebaldscher Manier, indem er die Landschaft in der Umgebung seines neuen Hauses in Suffolk zu Fuß erkundet. Man könnte sagen in der deutsch-romantischen Bestätigung dieses Projekts: er erwandert sich seine neue Heimat. Der Autor spricht, nicht weniger romantisch, von einer »englischen Wallfahrt« (so der Untertitel des Buches, der in der englischen

21 Sontag: »A Mind in Mourning«.

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Übersetzung fehlt).22 Am Ende dieser scheinbar ziellosen, improvisierten Pilgerfahrt befindet sich der Erzähler in einem Pub in Hedenham, der Mermaid, von wo aus er zu Hause anrufen wird, um sich mit dem Auto abholen zu lassen. Hier fügt der Autor wieder eine Illustration ein, es zeigt angeblich den Erzähler selbst, an einen riesigen, alten Zedernbaum gelehnt, im Park von Ditchingham. Das Foto zeigt einen jungen, hochgewachsenen Mann scheinbar selbstsicher und gelassen, mit Brille und Schnauzbart (RS 313). Das Bild des Autors, wie aus anderen Photographien bekannt, ist deutlich zu erkennen. Hier, am Ende des Buches und der Reise, finden wir den AutorErzähler am Ziel, er hat den Weg nach Hause, zu sich selbst gefunden – wie man meinen könnte. Es scheint, als ob die Erkundung der neuen Heimat auch eine Reise zum eigenen Ich darstellt. Doch dieser Befund mag voreilig sein. Der Kommentar zum Foto behauptet, dass die Aufnahme bei einer anderen Gelegenheit zehn Jahre früher entstanden ist, und dass die Bäume im Park inzwischen weitgehend verschwunden sind. Der Mann auf der Fotografie stehe dort, so das Resüme des Erzählers, »in Unkenntnis noch der unguten Dinge, die seither geschehen sind« (RS 313). Auch hier wird die Frage der Identität bewusst im Unklaren gelassen. Was das Bild verspricht, löst die Narration nicht ein. Illustration und Text sind keineswegs deckungsgleich.

IV. Austerlitz ist insofern ein Sonderfall unter den Prosabüchern Sebalds, als durch die Handlungsstruktur, die an einen konventionell plot erinnert (der Protagonist auf der Suche nach seiner verlorenen Jugend und dem Schicksal der Eltern), der Eindruck entstehen könnte, als handle es sich hier um einen traditionellen Roman. Doch die zahlreichen medialen Einschübe, hauptsächlich Photographien, belegen auch für Austerlitz unzweifelhaft den hybriden Charakter der Prosaerzählungen Sebalds, der als Autor großen Wert darauf legte, den dokumentarischen Charakter und den Anspruch des Realen in seiner Prosa zu betonen.23 Die Intermedialität in Austerlitz scheint im Vergleich zu den anderen Werken jedoch anders akzentuiert: es fehlen die selbstreferentiellen Bezüge, in denen der Autor/Erzähler sich selbst medial ins Bild setzt, und es fehlt der spielerisch-performative Aspekt in der BildText-Komposition. Es ist sicher richtig anzunehmen, dass der Ernst des

22 Vgl. dazu Judith Ryan: »›Lines of Flight‹: History and Territory in The Rings of Saturn«. In: Gerhard Fischer (Hrsg.): W.G. Sebald. Schreiben ex patria / Expatriate Writing, Amsterdam / New York 2009, S. 45–60. 23 Vgl. dazu Sebalds Gespräch mit Sigrid Löffler: »Wildes Denken. Gespräch mit W.G. Sebald«. In: Franz Loquai (Hrsg.): W.G. Sebald, Eggingen 1997. S. 135-8.

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Themas – die Aufschlüsselung eines durch den Holocaust verursachten zerstörten »falschen« Lebens – einen solchen Verzicht nahelegt. Doch es ist ebenso richtig, darauf hinzuweisen, dass die Holocaust-Geschichte, die im Zentrum des Buches steht, in vielfältiger Weise narrativ ebenso wir intermedial mit anderen thematischen Motivketten und Erzählsträngen verbunden ist. Es geht Sebald in Austerlitz sehr wohl darum, den Holocaust in seiner Singularität darzustellen, diese Einzigartigkeit aber gleichzeitig auch im Kontext einer übergreifenden Geschichtserfahrung zu betonen, wobei das Konzept einer »Naturgeschichte der Zerstörung« eine zentrale Rolle spielt. Die Illustrationen in Austerlitz lassen sich – grob gegliedert – in drei Gruppen aufteilen: die Photographien, die das englisch-walisische Leben des Protagonisten dokumentieren, die Bilder aus Prag und Paris, die von der Suche nach dem »verlorenen« Leben und der Recherche nach dem Verbleib der Eltern Zeugnis ablegen, und schließlich eine beträchtliche Anzahl von Fotos, die als Beleg gelten können für die architekturhistorischen Studien von Austerlitz, die aber auch auf die Rolle des Erzählers verweisen und darüberhinaus zusammen mit literarischen Bildbeschreibungen und anderen intertextuellen Referenzen eine eigenständige Funktion im intermedialen Handlungsgefüge der Erzählung entwickeln. Im Mittelpunkt der Bilder, die die Lebensgeschichte des fiktionalen Titelhelden dokumentieren, steht das rätselhafte Foto eines kleinen, hellblonden Jungen im schneeweißen Pagenkostüm, durch den Autor als cover seines Buches geradezu als Ikone privilegiert, das auf dem Höhepunkt der biografischen Erzählung enträtselt wird. Austerlitz erkennt sich selbst, als ihn der Blick des Knaben auf dem Foto »durchdrang« (A 269). Das Foto erklärt ohne Zweifel die Identität des Protagonisten, der sich jedoch nicht an die Umstände erinnern kann, unter denen das Bild entstanden ist. Photographien, als Medium sowie als Werkzeug der Erinnerung, erweisen sich als wenig zuverlässig oder aussagekräftig. Erinnerung und Trauma, so scheint es, sind unzertrennbar verbunden: einserseits liegt das Foto als das »aufgeschlagene Buch der Geschichte« (LL 173) vor uns, vor den Lesern ebenso wie dem Protagonisten in der Erzählung, und man würde dessen freudiges Gefühl der Entdeckung gerne teilen, andererseits aber reagiert man mit Schock und Bestürzung, zumal wenn man erfährt, dass Austerlitz selbst bei der Ansicht seines eigenen Bildes von »blinder Panik« erfasst wird: er ist »nur sprachund begriffslos und zu einer Denkbewegung imstande« (A 268). Auch die anderen Fotos der Familie, so das Porträt der Mutter, das von dem Kindermädchen Vera eindeutig identifiziert wird, helfen keineswegs weiter, Aufschluss über den Verbleib der Eltern zu erhalten, ebenso wie der in Zeitlupe studierte historische Filmstreifen, den die Nazis zu Propagandazwecken über das Lager Theresienstadt gedreht hatten. Die Ambivalenz des modernen Mediums ist offensichtlich: der »Mann mit der Kamera« als »Agent des

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Todes« und Photographien als »Relikte des fortwährend absterbenden Lebens« (LL 178), wie Sebald in Anlehnung an Barthes formuliert, lassen uns der permanenten Präsenz der Vergänglichkeit bewußt werden, doch darüberhinaus ist ihre Aussagekraft begrenzt. Da die Fotografien zu den Dingen gehören, die »uns (im Prinzip) überdauern, wissen sie mehr von uns als wir über sie« (LL 173). Im Ernstfall, wie der existentiellen Suche Austerlitz’ nach seiner Vergangenheit, dokumentiert die Fotografie letzlich nur das unaufgelöste Rätsel, das sich der Aufklärung verweigert. Die zahlreichen architektonischen Fotos, von Bahnhöfen und Festungsanlagen vor allem, sind in der Narration sowohl mit der Biographie des Architekturhistorikers Austerlitz, als auch mit der seines namenlos bleibenden Erzählers verbunden, der als in England lebender Expatriate deutscher Herkunft dem Hinweis seines Gesprächspartners folgend das Fort Breendonk aufsucht, wo er mit der Geschichte seines Heimatlandes konfrontiert wird. Die Festung, Teil der umfangreichen Verteidigungsanlage von Antwerpen, wurde von den Deutschen sowohl im 1. wie im 2. Weltkrieg eingenommen; von 1940–1943 diente sie dann den Nazis als Straflager. Die beiden Besuche des Erzählers in der KZ-Gedänkstätte Breendonk am Anfang und am Ende des Buches rahmen die Erzählung vom Leben des Jacques Austerlitz ein und erlauben gleichzeitig auch einen Blick auf die Biografie des Erzählers, der durch die Bekanntschaft mit einem Holocaust-Überlebenden dazu angeleitet wird, sich der eigenen Geschichte als Beteiligter der »zweiten Generation« zu vergewissern. In der Freundschaft mit seinem Lehrer Austerlitz liegt das lebensgeschichtliche Privileg des fiktionalen Erzählers, der sich dessen sehr wohl bewußt ist und der mit sehr viel Takt und Einfühlungsvermögen von der Lebensgeschichte des Anderen, des Opfers, Zeugnis ablegt. Für Austerlitz selbst haben das Studium der Architekturgeschichte und die Forschungsarbeiten zu den monumentalen Bauten der bürgerlichimperialen Periode eine weitere Bedeutung, die von Sebald symbolisch in der Narration ausgestaltet wird. Seine Arbeit wird für Austerlitz zur manischen Zwangsbeschäftigung, die ihn jahrelang davon abhält, den Spuren seiner Herkunft zu folgen und sich Klarheit über seine wahre Identität zu verschaffen. Das Studium des Festungsbaus und die Analyse jener »Tenzenz zur paranoiden Elaboration« (A 28), die er in den Bauten der sternförmigen Festungsanlagen über Jahrhunderte weg zu erkennen meint, erscheint als »metaphor for Austerlitz’s own fortress of repressed memory«.24 Die defensive Strategie, sich hinter Verschanzungen und Bollwerken vor dem Angriff 24 Karen Remmler: »The Shape of Memory: W.G. Sebald’s Die Ringe des Saturn and Austerlitz.« In: Paul Michael Lützeler und Stephan K. Schindler (Hrsg.): Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch, 6/2007, Tübingen 2007. S. 141163. Hier: S. 152. Vgl. auch J.J. Long: W.G. Sebald, S. 154.

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eines imaginierten Feindes zu schützen, ähnelt dem Versuch, das eigene, fragile Ich einzupanzern und vor den Gespenstern der eigenen Vergangenheit immun zu machen. Doch diese Strategie beruht auf einem fundamentalen Irrtum, denn im Fall eines Konflikts konnte keiner dieser ausufernden Schutzbauten die ihm zugedachte Funktion erfüllen, und auch die von Austerlitz betriebene »Wissensanhäufung«, die ihm als »ersatzweises, kompensatorisches Gedächtnis« (A 206) dient und mit der er den unsicheren Kern seiner Persönlichkeit abzuschotten versucht, erweist sich am Ende als nicht haltbar. Das »Quarantäne- und Immunsystem«, durch das sich Austerlitz gefeit glaubt »gegen alles, was in irgendeinem, sei es noch so entfernten Zusammenhang stand mit der Vorgeschichte [s]einer auf immer engerem Raum sich erhaltenden Person« (A 205–206), bricht in einer Nervenkrise zusammen.25 Es folgen Suizidvisionen, die Vernichtung sämtlicher schriftlicher Aufzeichnungen, und schließlich ein langsamer Genesungsprozess im Spital, der den Weg freimacht für die Begegnung mit dem erinnerten Ich, das ihm in dem kurz vor dem Abriß stehenden Ladies Waiting Room der Liverpool Street Station wie eine geisterhafte Erinnerung gegenübertritt. Charakteristisch für das intermediale Verfahren Sebalds in Austerlitz sind die erzählenden Beschreibungen der architektonischen Strukturen, die als Fotos in den Text einmontiert sind. Der Autor beginnt in der Regel mit einer sachlich-nüchternen Bestandsaufnahme, die sich jedoch unversehens in Phantastische und Imaginäre verschiebt. Ein frühes Beispiel ist der Brüsseler Justizpalast, ein riesiger Bau aus den 80er Jahren des 19. Jahrunderts, der – wie das Foto zeigt (A 46) – gleichsam wie ein Berg aus dem Häusermeer der belgischen Hauptstadt hervorragt. In diesem »mehr als siebenhundertausend Kubikmeter umfassenden Gebäude«, so wird Austerlitz zitiert, gibt es »Korridore und Treppen, die nirgendwo hinführen, und türlose Räume und Hallen, die von niemandem je zu betreten seien und deren ummauerte Leere das innerste Geheimnis sei aller sanktionierten Gewalt« (A 47). Die Beschreibung »singulären architektonischen Monstrosität« (A 47) enthält eine Reihe von intertextuellen Referenzen, denn das phantastische Raumgebilde mit seinen verwinkelten Treppenkonstruktionen erinnert sowohl an die Vexierbilder Eschers als auch an die bürokratischen Alpträume Kafkas, sowohl in Der Prozeß als auch in Das Schloß, wo die Instanz der Justiz auch immer schon mit der exekutiven Gewalt des Staates identisch erscheint. Von hier, dem Palast der Justiz, bis zum Festungsbau eines Strafgefängnisses, ist es 25 Vgl. dazu den Aufsatz von Michael Mack, der auf die Beziehung zu den Ausführungen Derridas über »Immunität« bzw. »Autoimmunität« aufmerksam macht: »Between Elias Canetti und Jacques Derrida: Satire and the Role of Fortifications in the Work of W.G. Sebald«, in: Gerhard Fischer (Hrsg.): W.G. Sebald. Schreiben ex patria / Expatriate Writing, S. 233–256.

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daher nur ein kurzer Schritt, und so ist es keine Überraschung, dass der nächste Bau, den Sebald beschreibt, nämlich die Liverpool Street Station im Londoner Stadtteil Bishopsgate, an die düsteren Visionen von Piranesis carceri d’invenzione denken lässt. Tatsächlich liest sich Sebalds Schilderung wie eine präzise Bildbeschreibung, zu der etwa die Plates VII und VIII (in der zweiten Fassung von 1760) Modell gestanden haben könnten (siehe Illustrationen).26 Abbildung 1: Piranesi: Carceri, Plate VII

26 Während einige Rezensenten die Beziehung Sebalds zu Piranesi notiert haben, ist dieser Aspekt in der Fachliteratur meines Wissens bisher nur von Rolf Renner kommentiert worden. Vgl. Rolf Renner: »Intermediale Identitätskonstruktion: Zu W.G. Sebalds Austerlit«, in: Gerhard Fischer (Hrsg.): W.G. Sebald. Schreiben ex patria / Expatriate Writing. S. 333–346.

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Bei Sebald erzählt der Protagonist Austerlitz: »Kaum einen Lidschlag lang sah ich zwischendurch riesige Räume sich auftun, sah Pfeilerreihen und Kolonnaden, die in die äußerste Ferne führten, Gewölbe und gemauerte Bögen, die Stockwerke über Stockwerke trugen, Steintreppen, Holzstiegen und Leitern, die den Blick immer weiter hinaufzogen, Stege und Zugbrücken, die die tiefsten Abgründe überquerten und auf denen winzige Figuren sich drängten, Gefangene, so dachte ich mir, sagte Austerlitz, die einen Ausweg suchten aus diesem Verlies, und je länger ich, den Kopf schmerzhaft zurückgezwungen, in die Höhe hinaufstarrte, desto mehr kam es mir vor, als dehnte sich der Innnenraum, in welchem ich mich befand, als setzte er in der unwahrscheinlichen perspektivischen Verkürzung unendlich sich fort und beugte sich zugleich, wie das nur in einem derartigen falschen Universum möglich war, in sich selber zurück.« ( A 198f)

Abbildung 2: Piranesi: Carceri, Plate VIII

Das surrealistisch verfremdete Raumerlebnis gerät Sebald zu einem Sinnbild für den Zustand der Verstörung, der die mentale Verfassung seines Protagonisten charakterisiert. Es ist ein veritables »prison of the mind«, wie Aldous Huxley die Carceri-Drucke beschrieben hat, als »variations on a single sym-

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bol, whose reference is to things existing in the physical and metaphysical depths of human souls – to acedia and confusion, to nightmare angst, to incomprehension and a panic bewilderment«.27 Doch das eingepanzerte Erinnerungsvermögen, das Austerlitz in seiner dunklen, geschichtslosen und chaotischen inneren Welt gefangen hält, liefert auch den Schlüssel zu seiner Emanzipation: die traumhafte Erfahrung der Erinnerung ist »Gefängnis- und Befreiungsvision« (A 199) in einem; sie wird zum Auslöser für eine Kette von Erinnerungsschüben, die in den »Außenbezirken des Bewußtseins« (A 199) entstehen und sich zum Zentrum hin fortsetzen, wo schließlich die klare Erinnerung an das eigene, lang verdrängte Ich im Bild des Knaben im Wartesaal, der gerade mit dem Kindertransport aus Prag in London angekommen ist, aus dem Labyrinth der verschütteten Gedächtnisfragmente auftaucht. Dieser Aspekt eines potentiell emanzipatorischen Prozesses, nämlich der Befreiung aus dem psychischen Gefängnis der Geschichts- und Erinnerungslosigkeit bis zum Wiedererkennen der eigenen Persona in der Lebensgeschichte, ist in der Forschung bisher unbeachtet geblieben.28 Allerdings verläuft dieser Prozess der psychischen Heilung nicht geradlinig, wie der Rückfall des Patienten Austerlitz in Paris und die nochmalige Rekonvaleszenz in der Salpêtrière bezeugen werden, und er ist am Ende des Buches keineswegs abgeschlossen: das offene Ende, die Abfahrt von Austerlitz in den Süden Frankreichs auf der Suche nach seinem Vater, schließt die Möglichkeit der Heilung jedoch ausdrücklich ein. Eine andere Frage ist, wieso Sebald die intermediale Referenz zu Piranesi »unmarkiert« lässt, im Gegensatz etwa zu dem Aquarell Turners, Funeral at Lausanne, das als Abbildung in den Text eingeschoben ist (A 163) und das eindeutig identfiziert und ausführlich beschrieben und kommentiert wird. Man kann darüber natürlich nur spekulieren, aber ich vermute, dass der Autor wohl davon überzeugt war, dass die intertextuelle Referenz der Textstelle allein so offensichtlich war, dass die Nennung von Namen und Titel nur redundant gewesen wäre. Auch hätte die bildliche Repräsentation der Piranesi-Kerker vielleicht einen unerwünschten Effekt gehabt, nämlich den, von der Dynamik und Dramatik in der Beschreibung der psychischen Vorgänge abzulenken.29 Der Leser könnte wohl der

27 Zitiert bei John Wilton-Ely: The Mind and Art of Giovanni Battista Piranesi, London 1988, S. 57. 28 Siehe im Vergleich dazu etwa Long, der zu folgender Schlussfolgerung kommt: »While ostensibly a psychological drama of repression and return, the novel [sic] in fact repeatedly shows that Austerlitz is devoid of stable and authentic subjective interiority« (S. 171). Der zweimalige psychologische Heilungsprozess und das offene Ende der Erzählung bleiben dabei unberücksichtigt. 29 Diese Lesart widerspräche in diesem Fall allerdings der generellen Interpretation von Deane Blackler, mit der ich im Prinzip übereinstimme, dass nämlich die be-

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Versuchung erliegen, den vertrackten Spuren der labyrinthischen Irrgänge, Treppenhäuser, Gallerien und dergleichen auf einer eigenen »optischen Reise«30 durch das phantastische Universum Piranesis zu folgen. Stattdessen wird die abwesende Illustration zum Text, der wiederum durch die ausführliche Ekphrasis die symbolische Dimension der Anagnorisis von Austerlitz als Schlüsselszene der Erzählung potenziert.

V. Wie individuell differenziert und dem jeweiligen Erzählmodus angepaßt Sebald in seinen intertextuellen und intermedialen Referenzen vorgeht, soll zum Abschluss am Beispiel eines weiteren narrativen Motivs gezeigt werden, das sich dem Prinzip der Ekphrasis bedient und das durch den ganzen Text hindurch entwickelt wird. Gleich zu Beginn der Erzählung, beim ersten Zusammentreffen von Erzähler und Titelfigur im »phantastischen Gebäude« (A 12) des Antwerpener Zentralbahnhofs, wird auf die besondere Beziehung von Narration und Geschichte hingewiesen, die der Erzählweise von Austerlitz zu Grunde liegt: »Es war für mich [den Erzähler] von Anfang an erstaunlich, wie Austerlitz seine Gedanken beim Reden verfertigte, wie er sozusagen aus der Zerstreutheit heraus die ausgewogensten Sätze entwickeln konnte, und wie für ihn die erzählerische Vermittlung seiner Sachkenntnisse die schrittweise Annäherung an eine Art Metaphysik der Geschichte gewesen ist, in der das Erinnerte noch einmal lebendig wurde.« (A 22–23)

Was hier als der Erzählmodus des fiktionalen Protagonisten beschrieben wird, ist natürlich auch ein selbstreferentieller Hinweis auf die eigene narrative Technik des Autors, vor allem wenn die Stelle gelesen wird im Kontext einer abschließenden Bemerkung, in der Austerlitz/Sebald von den »Schmerzensspuren« spricht, »die sich […] in unzähligen feinen Linien durch die Geschichte ziehen« (A 24). Das Kompositionsprinzip, das hier deutlich wird, erläutert der Ich-Erzähler in Sebalds Schwindel. Gefühle als die ihm eigene Arbeitstechnik: »Ich saß an einem Tisch […], hatte meine Papiere und Aufzeichnungen um mich her ausgebreitet und zog Verbindungslinien zwischen sondere Form der Narrativität und Intermedialität die »disobedience« des Lesers aktiviere. Deane Blackler: Reading W.G. Sebald. Adventure and Disobedience, Rochester 2007. So schreibt Blackler (S. 94), die Photographien »invite disobedience by withholding information«, was aber auf Austerlitz m.E. nicht zutrifft, da die Photographien und Bilder hier in der Regel ausführlich kommentiert bzw. beschrieben werden. 30 Vgl. Wilton-Ely: The Mind and Art of Giovanni Battista Piranesi, S. 86.

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weit auseinanderliegenden Ereignissen, die mir derselben Ordnung anzugehören schienen« (SG 107). Vor allem in Austerlitz ist diese Ordnung der Dinge, der Personen und Ereignisse in der Geschichte, eine Ordnung des Todes und der Zerstörung. Unmittelbar an das denkwürdige Wort von der »Metaphysik der Geschichte« schließt sich nämlich ein Satz an, mit dem Austerlitz seine Ausführungen über die Baugeschichte des Antwerpener Bahnhofs beendet, eine Mutmaßung über die Folgen der Herstellung der saalhohen Spiegel in der Salle de pas perdus, formuliert als rhetorische Frage: »[…] combien des ouvriers périrent, lors de la manufacture de tels miroirs, de malignes et funestes affectations à la suite de l’inhalation des vapeurs de mercure et de cyanid« (A 23). Der verfremdende Charakter der Fremdsprache, die hier überraschenderweise zum ersten Mal (von insgesamt drei Stellen) in Austerlitz benutzt wird, unterstreicht die Bedeutung, die dem Hinweis auf die Todesart der bei den Bauarbeiten im 19. Jahrhundert umgekommenen Arbeiter zukommt und die unzweifelhaft auf die späteren Nazi-Verbrechen aufmerksam macht. Es ist der erste Verweis auf den Holocaust in Austerlitz, der hier mit der Giftgasproduktion im Zeitalter des Hochkapitalismus im belgischen Kolonialimperium in eine – wie auch immer zu interpretierende – Verbindungslinie gebracht wird. Im direkten Anschluß an diese Passage geht der Blick des Erzählers Austerlitz zurück in die Vergangenheit Belgiens, und erneut greift der Autor zum Kunstgriff der intermedialen Ekphrasis, um eine historische Perspektive zu eröffnen. Austerlitz beschreibt ein Bild des flämischen Malers Lucas van Valckenborch (1530–1597), entstanden in der Periode der sogenannten »Kleinen Eiszeit« (A 23), das die zugefrorene Schelde zeigt, auf der sich die Antwerpener Bürger beim Schlittschulaufen vergnügen.31 Auch hier verzichtet Sebald darauf, das Bild selbst als intermediales Signal abzubilden, wohl weil er eine sehr präzise und detaillierte Beschreibung des Gemäldes liefert, wobei eine winzige Szene im Vordergrund des figurenreichen Werkes besonders hervorgehoben wird. Es handelt sich dabei um den Sturz einer Dame in einem auffälligen »kanariengelben Kleid«, der ein »Kavalier« in einer ebenso auffälligen roten Hose »besorgt« zu Hilfe eilt (A 24). Austerlitz beschließt seine Bildbeschreibung mit dem nachdenklich-kryptischen Satz, dass es ihm vorkomme, »als geschähe das kleine, von den meisten Betrachtern gewiß übersehene Unglück immer wieder von neuem, als höre es nie mehr auf und als sei es durch nichts und von niemandem mehr gutzumachen« (A 24).

31 Es handelt sich um das 1590 entstandene Gemälde »Ansicht von Antwerpen mit zugefrorener Schelde«, das im Frankfurter Städel hängt.

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Die metaphorischen »Schmerzenspuren […] der Geschichte«, von denen unmittelbar darauf die Rede ist, scheinen daruf hinzudeuten, dass es sich bei der Beschreibung des Vorfalls auf der Schelde um so etwas wie ein erstes Warnsignal aus der Zeit der Frühmoderne handeln könnte, das durch die symbolische Farbgebung noch verstärkt wird (rot als Warnfarbe; der gelbe Kanarienvogel als lebendes Frühwarnsystem im Bergbau). Doch wovor soll gewarnt werden? Ich denke, dass dem »kleinen Unglück«, durch das die Idylle des Eislaufvergnügens abrupt gestört wird, im Zusammenhang mit dem Hinweis auf die »kleine Eiszeit«, die ja tatsächlich das europäische Wetter am Anfang der Moderne über einige Jahrzehnte hinweg (von etwa 1670 bis 1730) mit extrem kalten Wintern bestimmte, eine besondere Bedeutung zukommt. Man könnte es als Vorahnung einer möglichen Natur- und Klimakatastrophe bezeichnen, die sich plötzlich als historische Erinnerung im Bewußtsein von Austerlitz offenbart. Die persönliche Geschichte des Holocaust-Opfers Austerlitz wird damit um eine Dimension erweitert, die im folgenden leitmotivisch weitergeführt und ausdifferenziert wird. Die nächste Erwähnung des Motivs der »kleinen Eiszeit« erfolgt im Kontext der schon erwähnten Anagnorisis-Szene im Ladies Waiting Room der Liverpool Street Station. Die Ausgrabungsarbeiten, die im Zuge der Renovierung des Londoner Bahnhofs in den 80er Jahren unternommen wurden, förderten hunderte von Skeletten zutage: für Austerlitz ein Anlaß, die Geschichte dieses Monumentalbaus, »einem der finstersten und unheimlichsten Orte von London, eine Art Eingang zur Unterwelt« (A 188), zu erforschen. Die Geschichte des Bahnhofs, wie sie Sebald Austerlitz erzählen läßt, beginnt mit der Selbstdiagnose des Erzählers, der »eine Art Herzweh« verspürt, verursacht »vom Sog der vergangenen Zeit« (A 190): »Ich wußte, daß auf dem Gelände, über welchem der Bahnhof sich erhob, dereinst bis an die Mauern der Stadt Sumpfwiesen sich ausgedehnt hatten, die während der kalten Winter der sogenannten kleinen Eiszeit monatelang gefroren waren und auf denen die Londoner, beinere Kufen unter die Füße geschnallt, Schlittschuh liefen, wie die Antwerpener auf der Schelde […]. Später wurden in den Sumpfwiesen nach und nach Drainagen gezogen, Ulmenbäume gepflanzt, Krautgärten, Fischweiher und weiße Sandwege angelegt, auf denen die Bürger am Feierabend spazierengehen konnten, und bald wurden auch Pavillons und Landhäuser gebaut, bis nach Forest Park und Arden hinaus.« (A 190)

Auf diesem Gebiet im Stadtteil Bishopsgate, auf dem auch ein Kloster und die unter dem Namen Bedlam berühmt gewordene Anstalt für Schwachsinnige angesiedelt waren, breiteten sich im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts die Elendsviertel der immer rapider anwachsenden Industriemetropole London aus. Diese Slums wurden dann im Zuge der Konstruktion des Bahn-

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hofs zwischen 1860 und 1870 saniert, d.h gewaltsam geräumt und dem Erdboden gleichgemacht, wobei »ungeheure Erdmassen, samt der in ihnen Begrabenen, aufgewühlt und verschoben wurden«, um Platz zu schaffen für den Bahnhof und die gewaltigen Trassen der Eisenbahnlinien, die jetzt »bis an den Rand der City […] herangeführt werden konnten« (A 194). Die Zerstörung der historisch gewachsenen Stadtviertel, in denen die Ärmsten der Armen zu Hause waren, geschieht im Namen des industriellen und technologischen Fortschritts. Damit einher geht, und darauf macht Sebald ausdrücklich aufmerksam, auch die Zerstörung der Umwelt, eine ökologische Katastrophe: »Bald war das Vorfeld von Bishopsgate bloß noch ein einziger graubrauner Morast, ein Niemandsland, in dem sich keine Seele mehr regt. Der Wellbrookbach, die Wassergräben und Teiche, die Sumpfhühner, Schnepfen und Fischreiher, die Ulmen und Maulbeerbäume, der Hirschgarten Paul Pindars, die Kopfkranken von Bedlam und die Hungerleider von Angel Alley, aus der Peter Street, aus dem Sweet Apple Court und dem Swan Yard waren verschwunden.« (A 194)

An genau dieser Stelle benutzt Sebald wieder eine intermediale Referenz, die aus der Erzählung signalhaft hervortritt. Auf die ganzseitige Abbildung eines Ausschnitts aus einer Ausgrabungsgrube mit vier freigelegten Totenschädeln und dem Teiltorso eines Skletts auf der rechten (ungerade paginierten) Buchseite folgt auf der übernächsten Seite die Abbildung eines Stadtplans von Bishopsgate, wobei der riesige Bahnhof die umliegenden kleinen Straßen und Gassen an den Bildrand zu drücken scheint. Karen Remmler sieht die symbolische Bedeutung dieser Abbildungssequenz in der Analogie der Formen, durch die der umrißartige Industrieplan des Bahnhofs (»resemblance of the railway diagram to the sinewy muscle of a human arm«) mit den »abwesenden« Formen der menschlichen Körper verbunden wird.32 Das wäre eine einleuchtende Erklärung, die aber kaum visuell nachzuvollziehen ist. Ich denke vielmehr, dass der Sinn der eingeschobenen Bilder medialspezifisch zu verstehen ist, konkret hier in Bezug auf die Buchlektüre. Beim Umblättern der Seiten fällt nämlich der Blick des Lesers unwillkürlich auf den Stadtplan und verdrängt, überlagert das Bild der Toten. Die medial verstandene Sequenz macht auf die Dynamik des Vorgangs (wie in einem »Daumenkino«) aufmerksam, und damit historisch auf den Prozess der Stadtentwicklung, der auf Kosten der Lebenden und – buchstäblich – auf den Gebeinen der Toten vonstatten geht. Auch hier steht die kritische Darstellung der industriellen Modernisierung auf Kosten einer humaneren Gesellschaftsentwicklung im

32 Remmler: »The Shape of Memory: W.G. Sebald’s Die Ringe des Saturn and Austerlitz.«, S. 154.

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Mittelpunkt der Betrachtung, an die sich dann die Beschreibung des Bahnhofs als Gefängnis- und Folterstätte anschließt, von der aus Austerlitz die Nachforschungen zur eigenen verschütteten Vergangenheit und zu den im Holocaust verlorengegangenen Eltern aufnimmt. Am Ende der Erzählung wird das narrativ-intermediale motivische Geflecht, das die Aspekte Eiszeit, Natur- und Geschichtskatastrophe unter dem alles überschattenden Komplex des Holocaust bündelt, noch einmal exemplarisch zusammengefaßt. Das letzte Treffen zwischen Austerlitz und dem Erzähler lässt der Autor in Paris stattfinden, in einer Bistrobar unweit der Metrostation, die den sprechenden Namen La Glacière trägt. Doch die Klimakatastrophe, die sich hier ankündigt, ist keine Eiszeit: auf dem Bildschirm in der Bar sind »Bilder der Rauchwolken« zu sehen, die seit vielen Wochen nach einem Vulkanausbruch »in Indonesien die Dörfer und Städte erstickten und eine grauweiße Asche auf die Häupter derer streuten, die sich, aus was für Gründen auch immer, außer Haus wagten mit einer Schutzmaske vor dem Gesicht« (A 393). Gleichzeitig herrschen draußen, in den Straßen von Paris, im Oktober »hochsommerliche Temperaturen«, Teil einer monatelangen Trockenheitsperiode, die »weite Landesteile« ausgedörrt hat: die Stadt, so der Erzähler, »ächzte […] förmlich unter der Last der riesigen Glocke aus Benzin und Bleidünsten, die über der gesamten Ile de France hing« (A 362). »Die blaugraue, einem den Atem nehmende Luft war unbeweglich. Der Straßenverkehr schob sich zollweise über die Boulevards, die hohen Steinfassaden zitterten wie Spiegelbilder in dem gleißenden Licht, die Blätter der Bäume in den Tuilerien und im Luxemburggarten waren verbrannt, die Menschen in den Métrozügen und in den endlos unterirdischen Gängen, durch die ein warmer Wüstenwind strich, zu Tode erschöpft.« (A 362–363)

Die bedrohliche Wetterlage findet ihre Entsprechung in der Erzählung von Austerlitz, die zunächst in dem Bericht über dessen erneuten Nervenzusammenbruch mündet. Wiederum befindet sich Austerlitz in einem Monumentalbau wieder, der Tortur verspricht, gleichzeitig aber auch wieder Heilung verheißt. Diesmal ist es die Salpêtrière, ein sein »eigenes Universum bildend[er] Gebäudekomplex, in welchem die Grenzen zwischen Heil- und Strafanstalt von jeher unsicher gewesen sind«, und dessen Architektur (»Labyrinth aus meilenlangen Gängen, Gewölben, Gallerien und Grotten«; A 382) wiederum an die imaginären Kerker Piranesis erinnern. Sebald verzichtet darauf, die düstere Geschichte des heute für seine Forschungen auf dem Gebiet der Neurologie und Psychiatrie weltweit geachteten Instituts vorzuführen; der narrative Akzent liegt stattdessen auf dem Heilungsprozess, eingeleitet von einem einfühlsamen Pfleger, der anhand eines kryptischen Eintrags im Notizbuch von Austerlitz dessen Freundin, Mme. de Verneuil,

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ausfindig macht, die dann viele Stunden am Bett des Patienten verbringt und ihn auf seinem langsamen Weg aus der Verstörung hinaus in die »Normalität« der Alltagswelt begleitet. Unmittelbar anschließend an den Komplex der Salpêtrière am Quai d’Austerlitz liegen der gleichnamige Pariser Bahnhof sowie die neue, auf Geheiß des Präsidenten Mitterand erbaute französische Nationalbibliothek, die beide im Zentrum des folgenden Erzählung stehen, die sich an die Salpêtrière-Episode anschließt. Beide Gebäude spielen am Ende der Erzählung eine prominente Rolle, die Gare d’Austerlitz – auch dies ein düsterer Monumentalbau – vor allem in Bezug auf die unvollendete Geschichte der Nachforschungen, die Austerlitz unternimmt, um das Schicksal seiner Eltern aufzuklären. In Paris erfährt er, dass sein Vater – der einen der für Sebald typischen, »legendären« deutsch-jüdischen Namen trägt: Maximilian Aychenwald – 1943 im südfranzösischen Internierungslager Gurs inhaftiert gewesen ist und wahrscheinlich vom Gare d’Austerlitz aus die Reise in die Provence angetreten hat. Der Sohn wird ihm darin folgen. Auch hier, wie im Bahnhof Liverpool Street Station, zeigt sich das Doppelgesicht der Moderne: der Bahnhof steht einerseits stellvertretend als Bild einer bösen, verdrängten Vergangenheit, andererseits wird er zum Ausgangspunkt einer Reise, die durchaus noch offen ist, um eben diese Vergangenheit wiederzugewinnen und sich von ihr zu emanzipieren. Als der Erzähler und Austerlitz vor der Metrostation La Glacière sich zum letzten Mal voneinander verabschieden, bemerkt Austerlitz beiläufig, dass früher »hier heraußen große Sümpfe gewesen [sind], auf denen die Leute Schlittschuh gelaufen sind im Winter, genau wie vor dem Bishop’s Gate in London« (A 414), und genau, so könnte man die Spuren dieser »Metaphysik der Geschichte« weiterführen, wie auf der zugefrorenen Schelde vor Antwerpen während der »kleinen Eiszeit« um 1600. Auch die neue Nationalbibliothek, die von Sebald prominent herausgestellt wird, ist mit dieser Motivkette verbunden. Der Bezug zur Liverpool Street Station ergibt sich aus der Baugeschichte der Bibliothek, nämlich in Hinsicht auf die »verschiedenen Schichten, die dort drunten [d.h. auf dem Gelände der Bibliothek] auf dem Grund der Stadt übereinander gewachsen sind«, wie der mit Austerlitz befreundete Bibliothekar, Lemoine, berichtet, der im Übrigen – genau wie Austerlitz in Antwerpen – bei der kritischen Reflektion über die Geschichte »die Strömung der Zeit um seine Schläfen und seine Stirn« spürt (A 406). Auch die neue Nationalbibliothek ist, ebenso wie der Bahnhof in Bishopsgate, im Rahmen einer gewaltsamen Stadtsanierung entstanden, wobei die Spuren der Geschichte dieses Bezirks und seiner Bewohner radikal ausgemerzt worden sind.

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»Auf dem Ödland zwischen dem Rangiergelände der Gare d’Austerlitz und dem Pont Tolbiac, auf dem heute diese Bibliothek sich erhebt, war beispielsweise bis zum Kriegsende ein großes Lager, in dem die Deutschen das gesamte von ihnen aus den Wohnungen der Pariser Juden geholte Beutegut zusammenbrachten.« (A 407)

Die Insassen dieses Lagers waren jüdische Häftlinge, die damit beschäftigt waren, die von den Nazi-Besatzern gestohlenen Besitztümer der verhafteten oder geflohenen Pariser Juden zu ordnen, zu inventarisieren und schließlich transportsicher für die Überführung »ins Reich« zu verpacken: »Wo sie hingekommen sind, das will heute niemand mehr wissen, wie ja überhaupt die ganze Geschichte im wahrsten Wortsinn begraben ist unter den Fundamenten der Grande Bibliothèque unseres pharaonischen Präsidenten, sagte Lemoine« (A 409). Es ist ein Verdienst des Historikers Sebald, der über diese tatsächlich nahezu in Vergessenheit geratene Episode aus der Zeit der l’Occupation ausführlich referiert, das Gedenken an das Schicksal der jüdischen Bevölkerung in Frankreich seinen Lesern nahegebracht zu haben.33 Die Abbildungen, die Sebald auf den letzten Seiten des Buches einfügt, sind wiederum rahmenlose Fotografien, die der dokumentarischen Absicherung des Erzählten dienen. Ein Foto des Lesesaals der alten Nationalbibliothek – mit den runden, quasi organischen Formen der Stühle und Leselampen im Art Déco-Stil – wird kontrastiert mit der Außenaufnahme der neuen Bibliothek, die den »cartesischen Gesamtplan« (A 398) des Gebäudes mit seiner streng geometrischen Symmetrie und den monumentalen Ausmaßen gut erkennen läßt. Der Text nimmt dabei Einzelheiten der bildlichen Darstellung auf und führt diese diskursiv-interpretierend weiter, etwa wenn der bemerkenswert leser- bzw. benutzerfeindliche Aspekt der Bücherfestung kritisiert wird, deren Brauchbarkeit aufgrund des hohen Grades an »Komplexität der ihm eingeschriebenen Informations- und Steuersysteme« unter einer »chronischen Dysfunktion« und »konstitutioneller Labilität« leidet (A 399). Auf das Foto der neuen Bibliothèque Nationale folgt wenige Seiten später eine doppelseitige Abbildung, die das Archiv des Lagers Terezín darstellt. Das Bild, nach Angabe von Austerlitz (so der Erzähler) einer amerikanischen Architekturzeitschrift entnommen, bestätigt nachdrücklich den Eindruck einer »cartesischen« Planung: es zeigt einen kahlen, rechteckigen Raum, spärlich möbliert mit zwei Schreibpulten und Stühlen, dessen Wände mit offenen, bis unter die Decke reichenden Regalkästen bedeckt sind, und einer Wanduhr, die das bürokratische Ambiente zu überwachen scheint. In den Kästen stecken tausende von Akten, die für die unzähligen Einzelschicksale

33 Vgl. dazu James L. Cowan: »Sebald’s Austerlitz and the Great Library. A Documentary Study«. In: Gerhard Fischer (Hrsg.), W.G. Sebald. Schreiben ex patria / Expatriate Writing, S. 193–212.

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stehen, die – anders als die eben erzählte Lebensgeschichte von Jacques Austerlitz – alle noch darauf warten, erzählt zu werden. Sebald versagt sich jedoch Kommentare dieser Art: er lässt das Bild bzw. die Bildfolge (alte Nationalbibliothek; neue Nationalbibliothek; Archiv in Theresienstadt) für sich sprechen. Mit dem Foto der »Registraturkammer« (A 401) in Terezín kommt Sebald der Darstellung des Holocaust in Austerlitz (und auch in seinen anderen Werken) am nächsten. Auch hier dient der mediale Einschub der Verfremdung der Narration: die Namen der Opfer, die hier aufbewahrt sind, bleiben anonym. Das Zentrum des Holocaust, die Vernichtung des Menschen, bleibt unabbbildbar, und so bleibt dieses Zentrum im Austerlitz-»Roman« ausgespart. Was die Abbildungen und die Erzählung jedoch leisten, ist die Vernetzung dieses abwesenden Kerns mit einer Vielfalt an »Schmerzensspuren«, die »sich in unzähligen feinen Linen duch die Geschichte ziehen«: eine Geschichte, die immer auch als eine »Naturgeschichte« allgemeiner Zerstörung erscheint, wobei die Möglichkeit des individuellen menschlichen Heilens aber keineswegs ausgeschlossen ist.

Wim Wenders C LAUDE W INKLER -B ESSONE (P ARIS )

Wim Wenders kinematografisches Werk, das sich als Kino der Irrfahrt – und zweifelsohne als eines der Musterbeispiele des road movie – etabliert hat, zeichnet sich durch die fast durchgängige thematische Präsenz der Kindheit aus. In einigen seiner Filmen erhält die Kindheit eine herausragende Bedeutung und wird von großen Kinderrollen oder durch den besonderen Bezug der Hauptfiguren zur Kindheit repräsentiert. Bereits in seinen ersten Werken setzt der deutsche Filmemacher Kinder als Figuren in Szene, die mancherorts die Hauptrolle spielen, und deren Name sogar – wie in Alice in den Städten (1974) – dem Film zum Titel verhilft. Die beiden Helden von Im Lauf der Zeit (1976) hingegen verkörpern die Figur des Kindes, indem sie als Erwachsene an den Ort ihrer Kindheit zurückkehren: Robert zur Druckerei seines Vaters, Bruno in das Haus seiner Familie auf der Insel, das zudem auf eine mütterliche Symbolik verweist. Während die zahlreichen Kinderfiguren aus Der Himmel über Berlin (1987) nur in Nebenrollen zu sehen sind, zeichnen sich die Hauptfiguren – Engel – durch einen Geisteszustand aus, der dem kindlichen nahekommt; zudem wird der gesamte Film durch den von dem Engel Damiel vorgetragenen Kinderreim »Als das Kind Kind war…« rhythmisch durchzogen. Noch in Wenders’ jüngsten Filmen ist der Bezug auf die Abstammung, nun im Hinblick auf erwachsene Figuren, von großer Bedeutung oder wird gar zur Grundlage der Handlung. So macht sich in Don’t come knocking (2005) der Held, als er entdeckt, dass er ein Kind hat, auf die Suche nach seiner eigenen Vergangenheit. Diese Figuren von Kindern bzw. von Erwachsenen, die sich wieder an ihre Kindheit erinnern, stehen dem Mythos näher als der Wirklichkeit und erscheinen eher als Archetypen der Erinnerung, welche die Vorstellung von der Vergangenheit nähren, wie es insbesondere aus der Behandlung der Engelsmetapher in Der Himmel über Berlin deutlich wird. Die enge Beziehung zwischen Kindern und Engeln entsteht in diesem Film nicht nur dadurch, dass niemand außer den Kindern die Engel sehen kann, sondern durch

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die ihnen gemeinsame Wahrnehmung ihrer selbst und dadurch auch der Welt, die den ganzen Film hindurch von der Stimme des Engels heraufbeschworen wird: »Als das Kind Kind war, war das die Zeit der folgenden Fragen: Warum bin ich Ich und warum nicht Du? Warum bin ich hier und warum nicht dort? Wann begann die Zeit und wo endet der Raum?«1

Der kindlichen Wahrnehmung der Welt, die unter dem Zeichen der Zeitlosigkeit und der Utopie steht, entspricht im Film das Universum der Engel, die auf ewig außerhalb der Welt schweben – eben im Himmel über Berlin, wie es im Titel des Filmes heißt. Das Fehlen einer kindlichen Identität, das der Ich-Bildung in der psychischen Entwicklung vorausgeht, findet offensichtlich eine Entsprechung im Zustand der Nicht-Differenzierung, der Wenders’ Engel charakterisiert. Diese können zwar durchaus die Züge von Schutzengeln annehmen, dürfen aber nicht auf eine spirituelle Metapher reduziert werden, wovon insbesondere ihr Wunsch nach Menschwerdung zeugt, der eine Umkehrung des traditionellen Werdegangs der Engel in den Emanationstheorien darstellt. Diese Engel im Trenchcoat und mit Pferdeschwanz scheinen sich hier, obwohl sie die Rastlosigkeit der übrigen Wenders’schen Figuren aufgreifen, für eine psychoanalytische Interpretation anzubieten. Wenn die symbolische Dimension dieser Kinder-Engel bereits in der Diskrepanz zwischen der sichtbaren Inszenierung der Engel, ihren Erzählungen und dem Inhalt des im Präteritum gehaltenen Kinderreims offensichtlich wird, so scheint ihre geistige Verfassung in der Tat der Projektion eines nicht-differenzierten psychischen Zustands zu entsprechen, wie er für die frühe Kindheit charakteristisch ist: »Als das Kind Kind war Alles war ihm beseelt, und alle Seelen waren eins.«2

Dieser fusionelle Zustand, der mit einem regressus ad uterum gleichzusetzen ist, stellt eine ideale oder vielmehr idealisierte Phase dar, da es sich in der Tat um einen fetalen Zustand handelt, wie er vom Erwachsenen fantasiert wird. Wenders’ Engel, die die Welt und die Menschen von außerhalb betrachten, obwohl sie in den Gedanken der Menschen zu lesen vermögen, 1 2

Wim Wenders/Peter Handke: Der Himmel über Berlin, Frankfurt a.M. 1987, S. 14f. Ebd., S. 4.

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könnten von einer psychoanalytischen Warte aus auf eine sehr frühe Phase der Ich-Entwicklung verweisen, was insbesondere eine Anwendung von Melanie Kleins Theorien zu einem der ödipalen Phase vorausgehenden Zustand erlaubt.3 Diese Phase der Prä-Identifikation ist dadurch gekennzeichnet, dass sich das Kind weder seiner selbst bewusst ist – »nicht weiß, dass es Kind ist« –, noch ein Bewusstsein von der einheitlichen, fusionellen Welt hat, in der »alle Seelen eins« sind, einer Welt, die zugleich auch dem Prinzip des Verlangens – im Gegensatz zum Prinzip der Realität – unterworfen ist: »Als das Kind Kind war, ging es mit hängenden Armen, wollte, der Bach sei ein Fluss, der Fluss sei ein Strom und diese Pfütze das Meer.«4

In dieser frühen Phase, die der Bewusstwerdung des Selbst in Beziehung zum Anderen vorausgeht, gibt es noch keine Unterscheidung von Ego und Alter Ego; das Kind identifiziert sich im Prinzip vollständig mit seiner Objektwahl, am häufigsten in einer Art vitalem Kontinuum mit der Mutter, das die Psychoanalyse als »primäre Identifikation« oder mit Françoise Dolto als »primären Narzissmus« bezeichnet.5 Wenn diese »primäre Identifikation« laut Psychoanalyse auch kein vollständig nicht-differenzierter Zustand sein kann, so entspricht sie doch einem Verlangen nach völliger Verschmelzung, das in der regressiven Tendenz des regresus ad uterum Gestalt annimmt, wie sie insbesondere in jenem Filmausschnitt im Krankenwagen zutage tritt, als der Engel seine Hand auf den Bauch der schwangeren Frau legt. Der Wunsch nach absoluter Rückkehr zum Ursprung wird verdeutlicht durch eine Kamerafahrt, die der Großaufnahme des Bauches vorangeht, sowie durch den folgenden Einschub der Hand des Engels. Die Abwesenheit der Mutter, die eine zuweilen obsessive Suche auszulösen vermag, verstärkt das regressive Verlangen und ist zugleich wesentlicher Bestandteil der Sehnsucht nach der Kindheit, so in Alice in den Städten, wo die Suche nach der Mutter bald mit der Suche nach der Großmutter verbunden ist. Letztere verschmilzt schließlich in Paris, Texas (1984) mit der Mutter selbst, da der Vater Travis über die Suche nach der Mutter seines Sohnes Hunter auch seine eigene Mutter sucht. Der symbolische Charakter dieser 3

4 5

Melanie Klein: »Frühstadien des Ödipuskonflikts« (1928), in: dies.: Gesammelte Schriften, hrsg. von Ruth Lycon unter Mitarbeit von Hermann Erb, Bd. 1. Schriften 1920–1945, Teil 1, Stuttgart 1995, S. 287-305; dies.: »Der Ödipuskomplex im Lichte früher Ängste« (1945), in: ebd., Teil 2, Stuttgart 1996, S. 361-431. Wenders/Handke: Der Himmel über Berlin, S. 4. Françoise Dolto: Das unbewußte Bild des Körpers, Weinheim/Berlin 1987, S. 139.

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Mutter ergibt sich vor allem aus ihrer Verbindung mit dem mythischen Ursprungsort, dem Grundstück in Paris, Texas, das Travis als mutmaßlichen Ort seiner Zeugung gekauft hat: »TRAVIS Mama hat mir mal erzählt, dass Vater und sie sich da zum ersten mal ... geliebt haben. WALT In Paris, Texas? [...] TRAVIS Ja. Und so hab ich mir vorgestellt, dass ich da begonnen habe. Ich, Travis Clay Henderson. So haben sie mich genannt. Da hab ich angefangen.«6

Diese hartnäckige Suche nach dem Ursprungsort bewirkt bei Travis schließlich den Beginn einer Identifikation, eines »Anfangs« und reißt ihn aus dem katatonischen Zustand heraus, in den er zu Beginn des Films verfallen war, und der einem Zustand der Nicht-Differenzierung ähnlich ist. Indem der Held das Grundstück in Paris, Texas, erwirbt, findet er auch die Zeit und den Raum der »Urszene« wieder, Phantasma des imaginären Koitus von Vater und Mutter, den das Kind für seinen eigenen Ursprung hält, und wird symbolisch Herr über seine Zeugung. Travis kauft den Ort, an dem sich seine Eltern »zum ersten Mal geliebt« und ihn seiner Meinung nach gezeugt haben. Dadurch bestätigt er seine Allmacht über die Vereinigung seiner Eltern und vollzieht zugleich eine Rückkehr zur fusionellen Mutter-Kind-Einheit. Nach Melanie Klein projiziert sich das mit einer so genannten »depressiven« Angst ringende Kind, als sei es während der »Urszene«, die es als für seine Mutter und sich selbst lebensgefährlich imaginiert, in einer Kollusion gefangen und zerstört worden. Um sich selbst und seine Eltern zu schützen, bilde das Kind eine manische Wiedergutmachung,7 welche dann die Gestalt einer Beherrschung der vereinigten-Eltern-Imago annehme, um den zerstörerischen Koitus zu verhindern und seine eigene Einheit mit der Mutter zu schützen, so dass nichts mehr sein Streben nach einer totalen Verschmelzung mit dieser behindere. Wenn Travis das Grundstück in Paris, Texas, kaufen wollte, dann zunächst jedoch, wie er seinem Sohn Hunter erklärt, um dort mit ihm und seiner Frau Jane zu leben. Dieser Plan aber habe sich nicht in die Tat umsetzen 6 7

Wim Wenders/Sam Shepard: Paris, Texas, Berlin/Nördlingen 1984, S. 30. Vgl.: »Indem sich der Maniker seine Objekte unterwirft, kann er sie nicht nur daran hindern, ihn selbst zu verletzen, sondern auch dafür Sorge tragen, daß sie sich nicht gegenseitig gefährden. Die Herrschaft über seine Objekte soll es ihm insbesondere ermöglichen, den gefährlichen Koitus der internalisierten Eltern und ihren Tod in seinem eigenen Innern zu verhindern.«; in: Melanie Klein: »Beitrag zur Psychogenese der manisch-depressiven Zustände« (1935), in: dies.: Gesammelte Schriften, Bd. 1, Schriften 1920–1945, Teil 2, Stuttgart 1996, S. 29-75, hier S. 59.

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lassen, weil Jane »eine tolle Frau« sei, im Gegensatz zu der vom Sohn Travis idealisierten Mutter: »TRAVIS Nicht gerade ein Ort, wo man eine tolle Frau mit hinbringen würde [...] Meine Mutter, nicht deine Mutter, sondern meine Mutter, ist keine tolle Frau gewesen. Sie war… sie hat niemals versucht, eine tolle Frau zu sein, es wäre ihr auch nie in den Sinn gekommen, so was sein zu wollen. HUNTER Was war sie dann? TRAVIS Sie war ganz ... einfach. Nur einfach, und gut. Sie war eine gute Frau.«8

Da für Travis die unbewusst ersehnte Wiederholung der »Urszene« nur mit seiner Mutter und Travis-Vater und/oder ihm selbst, also Travis-Sohn (Vater und Sohn tragen denselben Namen), möglich ist, läuft der Kauf des Grundstücks tatsächlich auf den Wunsch, seine »vereinten Eltern-Imago« zu kontrollieren, hinaus. Überdies verweisen seine Worte ausdrücklich auf die Klein’sche Terminologie, in der die »gute« Mutter als Ergebnis der durch das Kind vollzogenen Idealisierung betrachtet wird. Zugleich erscheint einer der tiefer liegenden Gründe für die regressive Tendenz und das Streben nach einem Zustand der Verschmelzung mit der Mutter: der Wunsch nach Unschuld. Zur Sehnsucht nach einer nicht-differenzierten Welt, gleichbedeutend mit der fusionellen Einheit, kommt in der Tat mit der latenten Kritik an der Mutter Jane die Sehnsucht nach einem Universum der Unschuld gemäß dem Bild der »guten«, vollkommen schuldfreien Großmutter. In Alice in den Städten und ebenso in Paris, Texas hat sich die Großmutter nie schuldig gemacht, jemanden verlassen zu haben, im Gegensatz zu Lisa, die ihre Tochter Alice verlässt, oder Jane, die ihren Sohn Hunter verlässt und sich nun in einer Peepshow prostituiert. Diese erschwerte Schuld wird natürlich durch das Geld gerechtfertigt, das sie ihrem Sohn schickt, außerdem hat die Zwangsneurose ihres Mannes Travis (der sie in ihrem Wohnmobil gefangen hielt) sie veranlasst fortzugehen, ohne ihren Sohn Hunter mitzunehmen, worin die Ambivalenz der Mutterimago zum Ausdruck kommt. Travis’ Bestreben, den mythischen Ort Paris, Texas, wiederzufinden, kommt dem Wunsch gleich, eine Beziehung mit der idealisierten Mutter, die symbolisch nur die Züge der Großmutter annehmen kann, zu wiederholen, und verweist damit auf eine präödipale Phase. Die Konfrontation mit dem trennenden, ja zerstörerischen Vater, die während der Ausbildung des Ödipuskomplexes eintritt, hat noch nicht stattgefunden, und das Kind kann folglich noch nicht als des Inzests schuldig in Erscheinung treten, da das Inzestverbot erst mit der Bewusstwerdung des Vaters als Rivalen entsteht. In diesem Stadium der Nicht-Differenzierung kann sich das Kind noch nicht am Vatermord schuldig

8

Wenders/Shepard: Paris, Texas, S. 84f.

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fühlen, da sein Bewusstsein diesen noch nicht als trennend wahrnimmt. Als es Travis am Ende des Films gelingt, Jane und Hunter zusammenzuführen, bleibt ihm nichts anderes übrig, als selbst zu gehen, um die wiedergefundene fusionelle Mutter-Kind-Beziehung zu bewahren, die durch das filmische Bild noch verstärkt wird: Jane nimmt Hunter in ihre Arme und dreht sich im Zimmer des Meridian Hotel um sich selbst, so als trüge sie erneut ein Kind in ihrem Bauch. Diese Idealisierung der Mutter als unmittelbare Folge des regressiven Strebens nach Fusion ist eine sogenannte »manische« Abwehr, die – immer noch im Sinne der Klein’schen Theorien – einer Überwindung der Spaltung des Objekts in »gutes« und »böses« Objekt und der Mutter in »gute« und »böse« Mutter entspricht.9 Die Idealisierung des »guten« Objekts, die wieder zu einem schönen und vollkommenen ganzen Objekt10 führen muss, wird in der Regel von einer Reaktion der »Verweigerung« des »bösen« Objekts begleitet, was meistens durch eine Sublimierung der Mutter und eine Verdrängung des Vaters zum Ausdruck kommt. Nicht nur stellt sich heraus, dass dieser oft abwesend ist – tot wie Travis’ Vater oder fortgegangen wie Travis selbst –, Wenders’ Filme führen auch das Scheitern des Vaterersatzes vor Augen. Auch wenn Philipp in Alice in den Städten sich nach und nach für Alice zum Vaterersatz entwickelt, wird er sich von dem kleinen Mädchen doch in der Schlussszene trennen, als der Polizist auftaucht, der von Alice gehasst wird und symbolisch den »bösen« Vater – im Gegensatz zum guten Vater, der eine Weile von Philipp verkörpert wird – repräsentieren kann. Die filmische Darstellung trägt ebenfalls dazu bei, die Ausweglosigkeit dieser provisorischen Vaterbeziehung sichtbar zu machen, wie auf dem Foto, das Alice an der Bushaltestelle gemacht hat. Die Spiegelung auf dem Bild zeigt nur Alice’ Gesicht, die, indem sie Philipps Foto ansieht, in Wirklichkeit nur sich selbst betrachtet, wie Jane, die in Paris, Texas vergeblich versucht, Travis durch den Einwegspiegel der Peepshow zu betrachten.

9

Jean-Michel Petot: Mélanie Klein: le moi et le bon objet, Paris 1982: »les mécanismes de réparation et la position maniaque«, S. 18-34. 10 Klein: »Beitrag zur Psychogenese« S. 319; »Ich erwähne in diesem Zusammenhang nur die besondere Bedeutung, die den Fragmenten, auf die das Liebesobjekt reduziert wurde, und dem Versuch, sie wieder zusammenzusetzen, für die Sublimierung zukommt. Das Objekt, das zerstückelt wurde, war ein ›vollkommenes‹ Objekt; infolgedessen bedeutet der Versuch, den Desintegrationszustand, auf den es reduziert wurde, ungeschehen zu machen, daß es in Schönheit und ›Vollkommenheit‹ wiederhergestellt werden muss. Diese Perfektionsvorstellung ist auch deshalb so zwingend, weil sie den Gedanken an die Desintegration widerlegt.« (Ebd., S. 47f.)

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Doch das Kind bemerkt auch die »wiedergutmachende Synthese« all dieser antagonistischen Beziehungen, die sich im zugleich »guten« und »bösen« Charakter aller Väter bzw. aller ambivalenten Mütter in Wenders’ Filmen äußert. Entsprechend der Klein’schen Theorien rührt die mit dieser Entwicklung verbundene sogenannte »depressive« Angst von der Gefahr her, das Liebesobjekt zu verlieren oder zu zerstören: die Mutter, die gleichzeitig die libidinalen und die Zerstörungstriebe des Kindes erträgt. Diese ambivalente Situation erweist sich als ausgesprochen schmerzlich und kann wie in der »Urszene« durch die symbolische Einbeziehung des männlichen Prinzips verschlimmert werden. Der Vater erscheint dann ganz allgemein als feindlich, was, aus psychohistorischer Perspektive gesehen, in manchen Filmen eine Projektion auf die schuldbeladene Vergangenheit Deutschlands erlaubt. Was den idealen Charakter der Großmutter betrifft, der der Ambivalenz der Mutter und sogar des Vaters entgegengesetzt ist, so kann er wohl in Bezug zum amerikanischen Mythos gesetzt werden – selbst dort, wo dieser enttäuscht wird –, der in der Mehrzahl der Wenders’schen Filme zutage tritt und der deutschen Wirklichkeit, die bald als schuldhaft, bald als Opfer erscheint, entgegengesetzt wird. Der Mythos des Westen artikuliert dann die Suche nach einer idealisierten neuen Heimat, die im Verhältnis zum geschundenen »guten« und »bösen« deutschen Mutter-Land (»mère-patrie«) vollkommen »gut« ist. In Der Himmel über Berlin beginnt die Beschwörung der Genesis durch die Engel mit dem Bild des »stehenden« Wassers, das zugleich Symbol für die Mutter und für den Tod ist, gefolgt von der Beschreibung einer Entwicklung, die in die »Geschichte der Kriege« mündet und schließlich mit der mise en abyme einer historischen Nachstellung des Dritten Reiches auf die schuldbeladene deutsche Geschichte übertragen wird. »Die Geschichte hatte noch nicht angefangen. Wir liessen es Morgen und Abend werden und warteten ab, was kommen würde. Es brauchte lange, bis der Fluss sein Bett fand, bis das stehende Wasser … überhaupt zu fliessen begann. Urstromtal! […] Erinnerst du dich, wie eines Morgens … Aus der Savanna, die Stirn verklebt mit dem Gras, der Zweibeiner, unser lang erwartetes Ebenbild, trat […] Aber dann, anders plötzlich, rannte er im Zickzack und die Steine flogen. Mit seiner Flucht begann eine andere Geschichte, die Geschichte der Kriege.«11

Die im großen Bunker von Berlin in Szene gesetzte historische Nachstellung, gedreht von Peter Falk, der in Der Himmel über Berlin einen amerikanischen 11 Wenders/Handke: Der Himmel über Berlin, S. 82-84.

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Regisseur deutscher Abstammung verkörpert, stellt die deutsche Geschichte dem abseits jeder Schuld liegenden Universum der Engel gegenüber. In einer der aus der Vogelperspektive gefilmten Bunkerszenen stellt die Kamera ostentativ die Nazivergangenheit – mit dem im Untergeschoss sichtbaren Hakenkreuz – der Welt der hinunterschauenden Engel gegenüber, wie dem Engel Damiel, der zu Beginn des Filmes symbolhaft hoch oben auf der Spitze der Berliner Gedächtniskirche steht. Für den deutschen Nachkriegsregisseur Wenders scheint die Ausarbeitung dieser realen Welt dem Wunsch zu entspringen, die Schuld der Väter und die Befleckung des Mutterlandes zu tilgen. Wenders selbst erklärt dies in Bezug auf Der Himmel über Berlin: »Das wichtige Verbindungsglied der Engel mit der Kindheit ist die Unschuld.«12 Aus psychohistorischer Sicht liegt der tiefere Grund für das regressive Streben nach einem fusionellen Zustand mit der Mutter also im Wunsch nach einem sublimierten Mutterland Deutschland begründet, welches dem befleckten Mutterland gegenübergestellt wird, das bald schuldhaft, bald Opfer ist. Die deutsche Sprache unterstreicht die Ambivalenz des Begriffes »Mutterland« noch zusätzlich mit den beiden Ausdrücken »Mutter Erde« und »Vaterland«.13 Das Streben nach einer ursprünglichen Unschuld würde es demnach ermöglichen, die schmerzhafte Polarität von Schuld und Unschuld zu überwinden. Nach Melanie Klein ist jede Verwandtschaft geeignet, gleichbedeutend mit dem schuldigen Nazi-Vorfahr zu werden. Der Vater wird dabei Hitler gleichgestellt, während die Mutter die symbolische Gestalt der »bleichen Mutter Deutschland« annimmt, nach der Formulierung von Bertolt Brecht, die im Titel von Helma Sanders-Brahms’ Film Deutschland, bleiche Mutter (1980) aufgegriffen wird. Darin wird eine deutsche Mutter von dem schuldigen Vater, der in den Krieg zieht, verlassen, daraufhin von amerikanischen Soldaten vergewaltigt und schließlich von einer Gesichtslähmung entstellt. Ähnlich wie in den meisten Wenders’schen Filmen erscheint die Mutter auch hier eher als Opfer. In ihrer Fallanalyse von »Richard« ist Melanie Klein jedoch der Auffassung, die Mutter erscheine auch meistens »böse«, wenn sie den Vater im Phantasma der »Urszene« in sich

12 Übersetzung Katja Meintel. Im französischen Original: »Le lien important des anges avec l’enfance, c’est l’innocence«. Interview mit Wim Wenders, durchgeführt von Michel Ciment und Hubert Niogret, Positif 319, September 1987, http://www.cine-studies.net/r10a01.html, Zugriff: 1.2.2010. 13 Diese Unterscheidung von Albrecht Dieterich rückt das Konzept von »Mutter Erde« in die Nähe einer mystischen Verbundenheit mit dem Geburtsland («solidarité mystique avec la terre natale«), während das Konzept des »Vaterlands« eher die patriotische Tendenz und das nationale Zugehörigkeitsgefühl wachruft (Albrecht Dieterich: Mutter Erde, ein Versuch über Volksreligion, Leipzig 1925).

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aufnimmt, wobei der Kriegskontext dann die Projektion der kindlichen Aggressivität auf den Vater Hitler auslöst, der als »böser« Vater angesehen wird, der die »gute« Mutter angreift.14 Ob nun der Kontext historisch ist oder nicht, die für die Ich-Bildung unerlässliche Identifikation mit beiden Elternteilen erweist sich für das deutsche Kind in den meisten Fällen als schwierig, wie Peter Buchka in seinem Essay über Wim Wenders betont.15 Die Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit einer Identifikation mit den schuldhaften Ursprüngen scheint eine psychohistorische Interpretation bestimmter Filme von Wim Wenders zu begründen, die damit als Umsetzung einer ödipalen Problematik in einer historischen Situation betrachtet werden können. Wie das Kind, dem es nicht gelingt, die »sekundären« Identifikationen – im Gegensatz zur »primären« Identifikation (das Subjekt differenziert sich nicht von seiner Objektwahl) – mit beiden Elternteilen herzustellen, bleiben die Wenders’schen Figuren in einer unüberwindlichen ödipalen Krise gefangen, die dazu beiträgt, die Identitätskrise und den Verlust der Kommunikation mit der Welt und den anderen zu erzeugen. Die Projektion auf die deutsche Geschichte scheint in bestimmten Filmen von Wim Wenders offenkundig, beispielsweise in den Anspielungen auf die Nazivergangenheit und ihre Vertuschung nach dem Krieg in Falsche Bewegung (1975), wenn Laertes, der der »Erinnerung« wegen aus der Nase blutet, Wilhelm gesteht, im Krieg einen Juden ermordet zu haben. Wilhelm versucht in der Szene auf der Fähre, Laertes zu ertränken, lässt ihn aber schließlich fliehen, bevor er selbst in

14 »Zeichnung I brachte seine Ängste um den Körper seiner Mutter zum Ausdruck, der von dem bösen Hitler-Vater (Bomben, Gewitter, giftige Pilze) angegriffen wird. […] Die frühe Aufspaltung in eine gute und eine böse ›Brustmutter‹ als Möglichkeit, Ambivalenz zu bewältigen, war bei Richard sehr ausgeprägt gewesen und wurde zu einer Aufteilung zwischen der ›Brustmutter‹, die ›gut‹ war, und der ›genitalen Mutter‹, die ›böse‹ war, weiterentwickelt. In dieser Analysephase stand seine reale Mutter für die ›gute Brustmutter‹, während ich mich in die ›böse genitale Mutter‹ verwandelt hatte und infolgedessen die Aggression und Ängste in ihm weckte, die mit jener Gestalt verbunden waren. Ich war nun die Mutter, die im Geschlechtsverkehr durch den Vater verletzt wird oder sich mit dem ›bösen‹ Hitler-Vater vereinigt hat.« Melanie Klein: »Der Ödipuskomplex«, S. 372-374. 15 Peter Buchka: Wim Wenders und seine Filme. Augen kann man nicht kaufen, Frankfurt a.M. 1985, S. 36: »Sie sind – und das wird ihnen schon als Halbwüchsigen klar – infiziert von der Barbarei ihrer Väter. Die Geschichte lastet auf ihnen und befleckt im Nachhinein die Erinnerung an die Kindheit. Sie sind in ihrem Ursprung doppelt entfremdet: geographisch und kulturell. Aus diesem Grund haben sie es schwer mit ihrer Identität. Die Selbstverständlichkeit, mit der man zu anderen Zeiten oder in anderen Ländern in eine bestimmte Kultur und in einen gewissen Lebensraum hineinwächst, blieb ihnen versagt.«

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seine eigene Einsamkeit auf den verschneiten Gipfel der Zugspitze zurückkehrt, ein weiteres Paradigma der Welt außerhalb der Welt. Durch seine Rückkehr in die Welt würde der Engel aus Der Himmel über Berlin mit seinem Wunsch, in Berlin, dem Symbol der deutschen Geschichte, Mensch zu werden, die Voraussetzungen für ein Akzeptieren der schuldigen Vergangenheit verkörpern. Die Konfrontation mit der Vergangenheit bleibt aber dennoch indirekter als in Filmen wie Hitler, ein Film aus Deutschland (1977) von Hans-Jürgen Syderberg, der die Marionette Hitler auftreten lässt, was nach den Worten des Regisseurs eine für alle Deutschen notwendige »Trauerarbeit« ermögliche.16 In den meisten Wenders’schen Filmen – einmal abgesehen von der möglichen Reaktivierung der deutschen Schuld in bestimmten neueren Filmen, in denen die Gewalt in den Vereinigten Staaten thematisiert wird – bleiben die Anspielungen auf die deutsche Geschichte indiziell, mehr suggestiv als konfrontativ. Die Engel, die in die »Geschichte der Welt« eintreten wollen, können überdies auf einen anderen Grund der Schuld verweisen. Diese von nun an akzeptierte Schuld, die dem Wunsch nach Unschuld entgegengesetzt ist, würde dann auf die allererste Form der Schuld deuten, welche in der Todesobsession liegt, wie sie bereits Freud in Das Unbehagen in der Kultur und Die Zukunft einer Illusion darlegt, und die auch Guy Rosolato in seinem Essay über die Perspektive des Todes in der Tragödie beschreibt: »Le malaise de notre civilisation a été analysé par Freud en fonction d’une culpabilité collective en continuelle progression. Il n’est pas impossible que parmi les facteurs qui la déterminent, entre en jeu un processus qui n’est pas toujours mis en évidence. En effet, contre cet impact de la finitude, la culpabilité offre l’avantage de se sentir responsable même de ce qui échappe à tout contrôle humain.«17

Die Analyse der Schuld als Rechtfertigung des Todes würde es ermöglichen, die historische Interpretation zu überwinden, indem das Gegensatzpaar von Schuld und Unschuld im Hinblick auf eine universelle Angst, die Todesangst, betrachtet wird. Sieht man die Abbildung des Blutes in Wim Wenders’ Filmen als Symbol der Schuld an, dann verweist Laertes’ blutende Nase in 16 Hans-Jürgen Syberberg: Hitler, ein Film aus Deutschland, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 9f.: »So frage ich, wird man je wieder freiwerden vom bedrückenden Fluch der Schuld, wenn man nicht ins Zentrum der bohrenden Krankheit kommt. Ja, nur hier, in einem Film der Kunst unserer Zeit, über gerade diesen Hitler in uns, aus Deutschland, wird Hoffnung kommen dürfen. Für unsere Zukunft müssen wir ihn und damit uns überwinden, besiegen, und nur hier kann eine neue Identität durch Anerkennung und Trennung, Sublimierung und Arbeit an unserer tragischen Vergangenheit gefunden werden.« 17 Guy Rosolato: Essais sur le symbolique, Paris 1969, S. 185.

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Falsche Bewegung ausdrücklich auf die historische Schuld. In Der amerikanische Freund (1977) erscheint das Blut nacheinander als Symbol der Schuld, die erst mit dem Ehebruch, dann mit dem Verbrechen verbunden ist. Als Jonathan den Mann, den er ermorden soll, verfolgt, verletzt er sich an der Stirn wie Damiel in Der Himmel über Berlin, der ebenfalls von dem Schauspieler Bruno Ganz gespielt wird. Dieses Mal aber erhält das Blut durch die Freude des Engels, der endlich sein eigenes Blut schmecken kann, eine andere Bedeutung. Das Blut verweist nun auf die irdischen Freuden im Gegensatz zur Abwesenheit von Empfindungen im Jenseits, die von dem Engel, der Mensch werden möchte, ebenso zurückgewiesen wird wie die Ewigkeit: »Es ist herrlich, nur geistig zu leben und Tag für Tag für die Ewigkeit von den Leuten rein, was geistig ist, zu bezeugen – aber manchmal wird mir meine ewige Geistesexistenz zuviel. Ich möchte dann nicht mehr so ewig drüberschweben, ich möchte ein Gewicht an mir spüren, das die Grenzenlosigkeit an mir aufhebt und mich erdfest macht. […] Fieber haben, schwarze Finger vom Zeitungslesen, sich nicht immer nur am Geist begeistern, sondern endlich an einer Mahlzeit, einer Nackenlinie, einem Ohr.«18

Im Film verweist das Blut zwar auf den vom Himmel zur Erde erfolgenden Übertritt eines Engels, der sich in eine irdische Frau verliebt hat, doch die Verliebtheit als Grund seiner Entscheidung schließt das gleichzeitige Ja zu Endlichkeit und Tod nicht aus. Diese Interpretation bleibt gleichwohl eng mit der psychohistorischen Interpretation verbunden, wie auch aus Damiels Menschwerdung »in die Furt der Zeit, die Furt des Todes« hervorgeht, da Wenders hier in Szene setzt, wie die Engel durch die Berliner Mauer hindurchgehen, wobei das Durchqueren des Niemandslandes zugleich einen Initiationsritus des Todes darstellt. Dieser symbolische Tod geht einer »Neugeburt«, welche dem Überschreiten der Grenze eines vom Krieg verwundeten Landes entspricht, voraus, ebenso wie er der Selbstentfremdung, die mit der Ablehnung der Vergangenheit und dem Verlust der Ursprünge verbunden ist, ein Ende zu bereiten scheint. Das Akzeptieren der Welt, das die Konfrontation mit der Vergangenheit einschließt, scheint am Ende von Der Himmel über Berlin eine neue Geschichte möglich zu machen, die vom Engel Damiel und der Trapezkünstlerin Marion eingeleitet wird und eine Geschichte neuer Vorfahren beschwört. Diese Wiedergeburt, die Merkmale eines Initiationsweges trägt, ist zwar Ausdruck einer zugleich individuellen und historischen Erneuerung, steht aber dennoch weiterhin im Zeichen der Kunst, da die Frucht aus der Vereinigung von Engel und Frau kein »sterbliches Kind«, sondern ein »unsterbli-

18 Wenders/Handke: Der Himmel über Berlin, S. 19-21.

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ches gemeinsames Bild« ist.19 Wenn der Epilog zu Der Himmel über Berlin offensichtlich den Wunsch nach einer initiationsartigen renovatio wachruft, der nach Mircea Eliade die »ewige Sehnsucht des Menschen, einen positiven Sinn für den Tod zu finden«20 ausdrückt, scheint die von Wenders in Szene gesetzte »neue Geburt« vor allem in den kinematografischen Bereich zu fallen, selbst wenn sie fortan dahin tendiert, sich am Maß einer akzeptierten Geschichte zu messen.21 (Aus dem Französischen von Katja Meintel)

19 Ebd., S. 167. 20 Mircea Eliade: Das Mysterium der Wiedergeburt. Versuch über einige Initiationsriten, Frankfurt a.M. 1988, S. 243. 21 Vgl. Claude Winkler-Bessone: Les films de Wim Wenders. La nouvelle naissance des images, Bern 1992, S. 255.

Frédéric Beigbeder K ATHRIN K LOHS (F REIBURG )

C’est très important d’être capable de contester le système actuel de l’intérieur.1

Frédéric Beigbeder, studierter Politikwissenschaftler, einstmaliger Werbefachmann und shooting star der französischen Literaturszene, reiht sich ein in die Tradition eines resignativen, konsumkritischen, letztlich an Bret Easton Ellis orientierten Schreibens. Gern in einem Atemzug genannt mit Michel Houellebecq, Virginie Despentes und Pascal Bruckner, brandmarkt er vom Standpunkt des vermeintlichen Systemgewinners aus gesellschaftliche und psychische Folgen von Kapitalismus und Liberalismus. Seine Texte oszillieren dabei zwischen Selbstfeier und Zynismus, er selbst bleibt unentschieden zwischen den Rollen des »Systemverächters« und des »Nestbeschmutzers«.2 Der Medienprofi, der jahrelang bei der Agentur Young & Rubicam u.a. für Kenzo, Wonderbra und Barilla textete, wurde im Jahr 2000 mit seinem geschickt lancierten, provokativen Schlüsselroman 99 Francs (2001 deutsch u.d.T. 39,30)3 schlagartig international bekannt.4 2007 startete

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So der Autor über seinen Roman 99 francs, in: Frédéric Beigbeder, Paris 2007, S. 36. Diese beiden Begriffe prägt Doris Betzl: »Gelernt ist gelernt. Frédéric Beigbeder betreibt mit seinem Roman ›39,90‹ Eigenwerbung«, in: literaturkritik.de, Nr. 10, Oktober 2001: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=4158&ausgabe=200110, Zugriff 25.9.2009. Aufgrund der deutsch-französischen Konzeption dieses Bandes wurden folgende Regelungen getroffen: Buch und Film zitiere ich in der deutschen Übersetzung und im Original. Auch wurde das deutschsprachige Feuilleton mit berücksichtigt. Zitate aus französischsprachigen Kritiken und Interviews sowie die überwiegend französischsprachige Forschungsliteratur belasse ich hingegen im Original. Frédéric Beigbeder: 99 francs, Paris 2000. Dt.: Frédéric Beigbeder: Neununddreißigneunzig: 39,90, Reinbek 2001. Im Folgenden im Text fortlaufend zitiert mit

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der gleichnamige, in enger Zusammenarbeit mit Beigbeder entstandene Film unter der Regie von Jan Kounen in den Kinos.5 99 francs kommt somit eine Schlüsselstellung im Schreiben Beigbeders zu; auch knüpft der Text mit der Figur Marc Marronniers an frühere Romane an (Mémoire d'un jeune homme dérangé, 1990; Vacances dans le coma, 1994; L'amour dure trois ans, 1997)6 und wird u.a. in Au Secours Pardon (2007) fortgeführt. Da Beigbeder seinen Bestseller mit erheblichem medialen Aufwand auf dem Markt positionierte, sind im vorliegenden Fall zwei Transformationsund Selektionsprozesse intermedial bedeutsam: zunächst das Spiel zwischen realer Autorbiographie und fiktionalem Text, in dessen Grau-zone die reale, im Buch jedoch vorausgenommene Werbekampagne liegt;7 außerdem die Umarbeitung der literarischen Vorlage in die filmische Adaption. Von einem Gesamtkonzept, wenn nicht von einem Medienverbund, kann im Fall von 99 francs gesprochen werden, da Beigbeder sowohl am Drehbuch als auch an der Marketingstrategie für den Film maßgeblich beteiligt war.8 Darüber hinaus taucht er im Film leitmotivisch auf; mehrmals begegnet Protagonist Octave unter Drogeneinfluss seinem alter ego aus der wirklichen Welt. Die kokaininduzierten Zwischenzustände lassen seinen Status als Figur aufscheinen, hinter welcher die Referenz Frédéric Beigbeder für einen kurzen Moment sichtbar wird (KB 0:05, 0:49, humoristisch dann 1:21). Diese Art der Bezugnahme geht über den esoterischen Hinweis für den Filmkenner

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der Sigle BF (= Beigbeder, 99 francs, französischsprachige Ausgabe) bzw. BD (= Beigbeder, 39,90, deutschsprachige Ausgabe). Vgl. www.beigbeder.net (= Le S.N.O.B.: Le Site Non Officiel de Frédéric Beigbeder). Jan Kounen: 99 francs, Frankreich 2007. Im Folgenden im Text fortlaufend zitiert im Format h:mm mit der Sigle KB (= Kounen, Verfilmung Beigbeder). Vgl. www.99francs-lefilm.com. Alle drei Romane erschienen in deutscher Sprache in: Frédéric Beigbeder: Die wilden Jahre, die Marc-Marronier-Trilogie. Memoiren eines Sohnes aus schlechtem Haus, Ferien im Koma, Die Liebe währt drei Jahre, Reinbek 2004. Aufgrund dieser doppelten Bewegung gilt es auch die – an sich medientheoretisch nicht weiter bedeutsame – Transformation von »Welt« in »Literatur« in den Blick zu nehmen. Ebenfalls erschien die Zusammenarbeit Beigbeders und Kounens mit Simon Allix und Jean-Luc Planche: ein »Buch zum Film zum Buch«, das seinerseits ein weiteres Format zitiert: das Handbuch, wie es für Computerprogramme vertrieben wird. Nicht umsonst kündigt ja das Ende des Romans an, Octaves Welt werde bald als Software zum Nachleben erhältlich sein. Vgl. Frédéric Beigbeder et al.: 99 F. Le manuel d'utilisation de la société d'hyperconsommation, Paris 2007.

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hinaus, durchbricht die Illusion der fiktionalen Filmhandlung und bindet das Geschehen zurück an eine reale Person.9 Im Folgenden wird zunächst ein Blick auf die beiden vorliegenden Gestaltungsformen des Stoffes geworfen (I.): Welche intermedialen Verflechtungen finden sich in einem Roman und einem Film über Werbung, die verschiedenste mediale Formate der Werbung zitieren und zugleich unablässig für sich selbst werben? Im Anschluss ist eine Entscheidung zu treffen: Verkauft der Marktstratege Beigbeder auf diese Weise lediglich ein multimedial aufbereitetes Produkt maximaler Gewinnspanne – oder nutzt er die zitierten medialen Strategien der Werbung10 für eine Analyse gegenwärtiger gesellschaftlicher Entwick-lungen (II.)? Ziel ist es, am Beispiel von 99 francs diejenige Abstraktionsebene aufzuzeigen, welche in Beigbeders Schreiben die Werbung als Leitmedium der Jahrtausendwende kenntlich machen könnte (III.): Hat also die Werbewelt eine Welt der Werbung erzeugt?

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Dies ist nicht zu verwechseln mit sporadischen Auftritten des Regisseurs im eigenen Film; sie finden sich prominent z.B. bei Alfred Hitchcock. Auch Jan Kounen erscheint kurz als weiterer Insasse der Entzugsklinik (KB 0:56). – Im Roman finden ähnliche Bezugnahmen auf die Wirklichkeit statt, da Ich-Erzähler Octave, ebenso wie Autor Beigbeder, einen Schlüsselroman über die Werbewelt verfasst und mitteilt: »Ich wüsste keinen anderen Grund, Bücher zu schreiben, als zu petzen. Ich war zufällig Zeuge einer Reihe von Ereignissen und kenne außerdem einen Verleger, der durchgeknallt genug ist, das zu veröffentlichen.« (BD 26) (»Je ne vois pas l’intérêt d’écrire des livres si ce n’est pas pour cracher dans la soupe. Il se trouve que j’ai été le témoin d’un certain nombre d’événements, et que par ailleurs, je connais un éditeur assez fou pour m’autoriser à les raconter.« BF 29f.). – Vgl. dazu: »En dix ans, j’ai donc accumulé tellement d’humiliations et de haines que j’ai fini par me venger en écrivant ce livre. Je ne vois d’ailleurs pas d’autres raisons d’écrire que de vouloir se débarrasser de quelqu’un ou de quelque chose«, so Beigbeder: »Comment j’ai été licencié« [Frédéric Beigbeder im Interview mit Jérôme Garcin], in: Le Nouvel Observateur v. 31.8.2000. 10 Man könnte nun einwenden, Werbung sei gar kein Medium. Vielmehr bediene sie sich lediglich unterschiedlicher Medien wie Fernsehen, Radio etc. Da sich jedoch die Kommunikationsabsicht von Werbung fundamental von den anderen Möglichkeiten, diese Medien zu nutzen, unterscheidet, fasse ich im Folgenden die Übermittlung von Verkaufsbotschaften auf diese Weise zusammen.

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I. 99 FRANCS: WERBUNG ALS INTERMEDIALES SPIEL Gemeinsamer Nenner von Roman und Film11 ist das Scheitern des literarischen alter ego Beigbeders: Octave Parango, Anfang 30, erfolgreicher Werbetexter in Paris und Insasse eines goldenen Käfigs aus Spaß- und Konsumkultur, findet und verlässt seine große Liebe Sophie, die von ihm schwanger ist. Seit langem angewidert von der Werbebranche, verliert Octave daraufhin zunehmend den Halt, beginnt sich aufzulehnen und provoziert seine Entlassung – er erntet jedoch nur Lob, Preise und Beförderungen, bis sich sein Weltekel in einer Gewalttat entlädt und schließlich in der Selbstaufgabe endet. a. FRÉDÉRIC BEIGBEDERS ROMANVORLAGE Beigbeders Roman fokussiert weit stärker als der Film auf die gesellschaftliche Bedeutung der omnipräsenten Werbebilder. Angeregt durch Michel Houellebecq, stellt Beigbeder das Herrschaftswissen seines Protagonisten in den Vordergrund: Octave kennt sich aus im Zentrum der Macht, er ist selbst Werber und entlarvt die Strategien, mit denen die Werbung uns manipuliert. In sich und seinem Erzählen vereint er gegenüber dem globalisierten Kapitalismus die Wut eines Revolutionärs, gegenüber dem eigenen Gewissen die Selbstverachtung eines Mitläufers und gegenüber dem Leser den Zynismus eines Provokateurs. Leitmotivisch zieht der Erzähler den direkten Vergleich zwischen Werbung einerseits und Imperialismus, Totalitarismus, Manipulation und Herrschaft andererseits. Parallelen zu Hitlers Propagandabegriff sieht Octave so in den Wünschen seiner Auftraggeber, die jedes künstlerische Risiko zugunsten einfachster Suggestion ablehnen (BF 37/BD 33); die Branche erreichte ihm zufolge ihren höchsten Wirkungsgrad »in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts […], als sie von einem gewissen Joseph Goebbels, der das deutsche Volk überzeugen wollte, alle Juden zu vernichten, zur Vollendung geführt wurde.« (BD 28);12 das herrschende Schönheitsideal, das westlich aussehende Fotomodelle auf der ganzen Welt etabliert, ist belastet: »Schließlich und endlich haben die Nazis gewonnen: Selbst die Blacks blondieren sich die

11 Es geht hier nicht darum, Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Buch und Film aufzuzeigen; ebenso wenig wird erörtert, ob die Verfilmung als gelungen zu bewerten ist oder nicht. 12 »Par un certain Joseph Goebbels dans les années 1930, dans le but de convaincre le peuple allemand de brûler tous le juifs« (BF 32).

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Haare.« (BD 167)13 Das Erzählen erscheint in kultur- und kapitalismuskritischer Tradition, das Erzählte in geschichtsphilosophischer Perspektive: »Zum ersten Mal in der Geschichte des Planeten Erde hatten die Menschen aller Länder dasselbe Ziel: genug Geld zu verdienen, um wie die Werbung zu werden. […] Die Marken haben den World War III gegen die Menschen gewonnen. Das Besondere am Dritten Weltkrieg ist, dass ihn alle Länder gleichzeitig verloren haben.« (BD 27, 29f.)14

Die Forschungsliteratur attestiert Beigbeders – wie auch Houellebecqs – Schreiben folgerichtig eine dem ausgehenden 20. Jahrhundert angepasste fin de siècle-Haltung: »Houellebecq et Beigbeder partagent donc avec leurs confrères du XIXe siècle un profond nihilisme. […] La détresse individuelle de leurs protagonistes et la crise collective placent leurs œuvres dans la logique d’une fin de siècle. […] Mais s’y ajoute une virulente critique des prétendus acquis du XXe siècle […]. Tout comme les auteurs de la fin du XIXe siècle, ils nous offrent un spectacle de fin de monde.«15

Da Beigbeder den Kapitalismus des 21. Jahrhunderts als dezentralisierte, unkontrollierte und akzelerierende Macht ansieht, die keine Angriffsfläche mehr für verantwortliches Handeln bietet, bleibt Octave jedoch lediglich das Lachen über die Werbewelt: »99 francs est un drôle exercice de sociologie participative dont les conclusions sont négatives et alarmantes«.16 »C’est amusant d’imaginer que la planète est un avion sans pilote. C’est un livre très nihiliste«, gesteht auch der Autor.17 Auf mehreren Ebenen bedient sich die Romanvorlage medialer Formate, die der Werbung entlehnt sind, und transformiert sie in literarische Darstel13 »Finalement les nazis ont gagné: même les blacks se teignent les cheveux en blond.« (BF 173). 14 »Pour la première fois dans l’histoire de la planète Terre, les humains de tous les pays avaient le même but: gagner suffisamment d’argent pour pouvoir ressembler à une publicité. […] Les marques ont gagné la World War III contre les humains. La particularité de la Troisième Guerre mondiale, c’est que tous les pays l’ont perdue en même temps.« (BF 31, 34) 15 Sabine van Wesemael: »L'Esprit fin de siècle dans l'œuvre de Michel Houellebecq et de Frédéric Beigbeder«, in: Sjef Houppermans, Christine Bosman Delzons u. Danièle De Ruyter-Tognotti (Hrsg.): Territoires et terres d'histoires: Perspectives, horizons, jardins secrets dans la littérature française d'aujourd'hui, Amsterdam 2005, S. 13-38, hier S. 17f., 20. 16 Jean-Baptiste Scieux: »Notes de lecture«, in: Frédéric Beigbeder, S. 133-137, hier S. 135. 17 So Beigbeder über seinen Roman, in: ebd., S. 38.

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lungsweisen. Da Konzeption und Produktion eines Werbespots für Joghurt einen wichtigen Handlungsstrang ausmachen, ist der Text zunächst durchsetzt mit Zeugnissen aus verschiedenen Planungs- und Produktionsphasen des Films, so Folienpräsentationen aus Meetings, Ausschnitte aus dem Drehbuch oder Tabellen mit Werbeetats (z.B. BF 26, 218ff., 222/BD 23, 210, 212). Dienen solche intermedialen Bezüge vornehmlich dem Zweck, die Debatte der Figuren über das »Wie« des Werbespots abzubilden (d.h. über seine optimale Zielsetzung und Umsetzung), so stellt der Erzähler mittels weiterer Formzitate implizit das »Was« in Frage und reflektiert somit die gesellschaftliche Bedeutung des Films, seine Folgen und die eigene Mitverantwortung. U.a. werden die Kapitel durch zwischengeschaltete Werbepausen, genauer: Drehbuchentwürfe für kurze Spots, getrennt, die in bestem Sinn Werbeparodien darstellen. Durchdringt nämlich der Leser die beispiellos euphemistische und auf Anhieb überzeugende sprachliche Darstellung, so sieht er sich mit Parolen für Drogenkonsum, Gewalt oder Suizid konfrontiert – ohne sich jedoch der sprachlichen Suggestion nachträglich noch entziehen zu können. Der formale Gestus der Werbeinszenierung wird beibehalten und einem negativ konnotierten Gegenstand übergestülpt; wie durch ein Vergrößerungsglas erscheinen ineins die Natur der beworbenen Produkte und die Gefahr medialer Manipulation. »IHRE FRAU HAT SIE VERLASSEN? SIE HABEN KEINEN EURO MEHR? SIE SIND BLÖD UND HÄSSLICH? DEM LÄSST SICH IM HANDUMDREHEN ABHELFEN. […] STERBEN HEISST FREI SEIN WIE VOR DER GEBURT. […] PER DU MIT DEM TOD: BRING DICH UM! FREITOD FÜR LEBENSABBRUCH UND SORGENSTOPP. […] Gefolgt von dem gesetzlichen Hinweis: ›DAS WAR EINE BOTSCHAFT DER FRANZÖSISCHEN FÖDERATION FÜR EINEN FRIEDLICHEN FREITOD (FFFFF).‹« (BD 243f.)18

Wo aller Wert und Unwert nur noch in griffigen Slogans repräsentiert und aus Gründen sprachlicher Raffinesse geschätzt wird, erscheint auch Christus lediglich als Werber, der seine Botschaft am Markt der Ideen durchzusetzen versucht: »Christus: ein herausragender Texter/Konzeptioner und Verfasser

18 »VOTRE FEMME VOUS A QUITTÉ? VOUS N’AVEZ PLUS UN EURO? VOUS ÊTES MOCHE ET CON? TOUT PEUT S’ARRANGER EN UN RIEN DE TEMPS. […] MOURIR, C’EST ÊTRE LIBRE, COMME AVANT D’ ÊTRE NÉ. […] TUTOIE LA MORT: TUE-TOI! LE SUICIDE PERMET D’INTERROMPRE LA VIE ET SES NOMBREUX SOUCIS! […] suivie de la mention légale: ›CE MESSEAGE VOUS ÉTAIT OFFERT PAR LA FÉDÉRATION FRANÇAISE POUR UN SUICIDE PAISIBLE (FFSP).‹« (BF 252f.)

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zahlreicher noch heute berühmter Claims: ›LIEBE DEINEN NÄCHSTEN‹, ›NEHMET UND ESSET, DENN DIES IST MEIN LEIB‹ […]« (BD 88).19 Auch vor paratextuellen Elementen macht diese Ebene der Medienreflexion schließlich nicht Halt. Denn bei Beigbeder bezeichnet der Titel nicht etwa den Inhalt, sondern vielmehr den Preis: Das französische Original erschien nach der Währungsumstellung in neuer Auflage unter dem Titel 14.99 euros, und das deutsche Taschenbuch zieren eine graue »3« und ein leuchtend rotes »9,90«, was dem günstigeren Preis für das Paperback auch entspricht.20 b. JAN KOUNENS FILMISCHE ADAPTION Den genannten moralischen Unterton visualisieren im Film Sequenzen, welche die Kehrseite von westlicher Konsumbegeisterung, internationalem Lohndumping und Industrialisierung respektive Globalisierung der Landwirtschaft darstellen. Hinter Octaves gut bestücktem Kleiderschrank scheinen die Produktionsbedingungen in Textilfabriken der Dritte-Welt-Länder auf (KN 0:07); ebenso sehen wir die Kaufentscheidung im Supermarkt, die geschönten Werbebilder des Joghurt-Spots und Ekel erregende Aufnahmen aus Lebensmittelerzeugung und Hungergebieten in Parallelmontage (KB 1:03, 1:26). Eine weitere, recht einfache Konsum- und Werbekritik, zugleich Zitatenspiel innerhalb des Mediums Film, findet sich im durchgängig betriebenen Product Placement. Octaves überaus geschmackvolles Pariser neun-ZimmerAppartement, seine teuren Kleider und exklusiven Accessoires und sein schnelles Auto sind »stylish« und »trendy« und besitzen für den Kenner der Kunst-, Design- und Modewelt ebenso einen Wiedererkennungswert wie die leitmotivisch auftauchenden USM-Systeme und iMacs in der Agentur. Auch überblendet der Film bei der Vorstellung seines Protagonisten das Bild mit Informationen zu Verarbeitung, Herkunft und Preis der gezeigten Kleidung (KB 0:07) – ein Verfahren, das etwa auch David Fincher in Fight Club anwendet, um das warenförmige, kritiklos aus dem IKEA-Katalog bestellte Zuhause seines Helden zu entlarven. Ein drittes, häufig als wirklichkeitskritisch eingestuftes Verfahren des Mediums Film liegt in der Stilisierung und damit zugleich Ästhetisierung

19 »Jésus-Christ: excellent concepteur-rédacteur, auteur de nombreux titres restés célèbres: ›AIMEZ-VOUS LES UNS LES AUTRES‹ – ›PRENEZ ET MANGEZEN TOUS CAR CECI EST MON CORPS‹ […]« (BF 94). 20 Der Schriftzug »99F« wird im Film erst nach sechs Minuten gezeigt: Octave snifft dieses Muster bezeichnenderweise in einen Haufen Kokain auf seinem DesignerGlastisch.

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von Gewalt in comic-ähnlichen Sequenzen, zumal unterstützt durch die Filmmusik. In 99 francs kommen infolge einer Autofahrt unter Drogeneinfluss mehrere Passanten und Polizisten zu Tode. Der Zuschauer verfolgt das Geschehen abwechselnd in ungeschönter und in stilisierter Perspektive; in Parallelmontage wechseln sich Filmbilder und Comicbilder ab.21 Setzt die Droge zuerst die Gesetze des Raumes außer Kraft und weicht die Umgebung psychedelischen Bildern und poppigen Lichteffekten, so erscheinen schon bald die Figuren mitsamt ihrer Umgebung kaleidoskopisch vervielfältigt als Cartoons ihrer selbst im Bild (KB 1:13). Die Fahrt durch das nächtliche Miami erscheint nun, unter erneuter medialer Bezugnahme, wie ein Computerspiel; statt dortiger Hindernisse oder Spielgegner werden jedoch Passanten und Polizeibeamte umfahren, umgefahren oder absichtlich gerammt. Die Zerstückelung ihrer Körper wird ausführlich ins Bild gesetzt, durch Stilisierung jedoch verfremdet. Eine solche Ästhetisierung von Gewalt weist z.B. zurück auf Quentin Tarantino (Kill Bill), der wiederum im asiatischen Kino Vorbilder findet; die zum Filmbild kontrapunktische Verwendung des Strauß-Walzers An der schönen blauen Donau zitiert einen weiteren Meister der Ästhetisierung von Gewalt: Stanley Kubrick (Clockwork Orange).22 Kounen gelingt hier eine treffende visuelle und akustische Umsetzung der Figurenperspektive (sie befinden sich in einer überaus gefährlichen Lage, nehmen diese aber spielerisch wahr); zugleich unterstreicht er ihre Amoral, der ein Mord nicht mehr bedeutet als die unerwünschte Nebenfolge eines Spaßtrips. Insgesamt konzentriert sich die filmische Adaption jedoch weniger auf die Reflexion als vielmehr das ironische Zitat. Entsprechend ihren medialen Möglichkeiten nimmt sie den Werbefilm direkt in den Dienst, und dies auf mehreren Ebenen. Auch das deutsche Feuilleton war sich zum Filmstart darüber einig: »Kounen verfilmt das Werbeleben, wer wollte etwas anderes erwarten, auch im Werbelook«.23 »Was […] mit der Werbebranche und ihren Verführungskünsten zu tun hat, sind der Look und der Sound des Films. Jan Kounen hat selber Werbefilme […] gedreht, und so nimmt es nicht wunder, dass ›39,90 – Neununddreißigneunzig‹ unentwegt das in 21 Der Kunstgriff liegt darin, dass das Geschehen zwar im Bewusstseinsmodus der im Wagen befindlichen Figuren, jedoch aus der Perspektive der im Außen positionierten Filmkamera zu sehen ist. Die Einfühlung des Zuschauers in die Figur wird also gerade nicht auf dem Weg über eine subjektive Kamera erreicht. 22 In Clockwork Orange provozieren vor allem die Beethoven-Reminiszenzen einen Gegensatz zur dargestellten Gewalt; An der schönen blauen Donau wird hingegen von Kubrick in 2001: A Space Odyssey eingesetzt. 23 Daniel Kothenschulte: »13 Sekunden fürs Abendmahl« [Filmkritik zu 99 francs], in: Frankfurter Rundschau v.31.07.2008.

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Szene setzt, wogegen er sich zu stemmen behauptet. Der Film ist eine 104 Minuten währende Abfolge von Clips.«24

Die FAZ bezeichnete den gesamten Film als »bonbonfarbenen Clip, beißend witzig, mit einer Kamera- und Farbästhetik, als ironisiere der Film das hoch budgetierte PR-Filmchen eines entfesselt-zugedröhnten Werbers«,25 und die Süddeutsche Zeitung folgerte: »Der Film sieht großartig aus, eine virtuose Bilderflut, halluzinogen, rauschhaft wie das Dasein seines Helden, voller Hochglanz-Spezialeffekte, ein pompöser Albtraum«.26 Die Bezugnahmen erfolgen jedoch nicht nur implizit; interessanter noch sind die expliziten Selbstthematisierungen. Der Film wird von fingierten Werbespots und Verkaufssendungen unterbrochen, deren billige Optik den ironischen Gestus genauso wie den Widerwillen gegen das Erzählte verrät. Diese »auf hässlich getrimmte Antiwerbung«27 wirkt zweitklassig im Gegensatz zu den überästhetisierten Filmbildern. Der Zuschauer wird etwa über ein Werbebanner aufgefordert, das Headset einer der Figuren zu bestellen (KB 0:16); ein anderes Mal wird ein Promotion-Clip für die fiktive Werbeagentur Rossery & Withcraft eingeschoben, die den Zuschauer als einen potentiellen Kunden anspricht und sich als kompetenten Partner vorstellt (KB 0:52). Schließlich wird bereits am Ende des Films ein Werbespot für den Film eingeblendet, der dem Zuschauer zudem eine Reihe von MerchandisingArtikeln (z.B. eine Octave-Puppe) anpreist (KB 1:35).28 Schließlich scheint sogar der Inhalt des Films dem Publikumsgeschmack zu unterliegen – zunächst. Als Octave, zum Mörder geworden und aller privaten Hoffnungen beraubt, vom Dach der Werbeagentur springt, wähnen

24 Cristina Nord: »Joghurtwerbung und Softporno« [Rezension zur 99 francsVerfilmung], in: taz v. 31.07.2008. 25 N.N.: »Schluss mit Koks« [Rezension zur 99 francs-Verfilmung], in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 02.08.2008. 26 Susan Vahabzadeh: »Der Gucci-Revolutionär« [Rezension zur 99 francsVerfilmung], in: Süddeutsche Zeitung v. 30.7.2008. 27 In: Nord: »Joghurtwerbung und Softporno«. 28 Dieselbe Art der Selbstthematisierung bestimmt auf der im Handel erhältlichen DVD das Making-Of des Films, das ja ebenfalls eine Art Werbung für den Film darstellt. Durchgehend reflektiert eine Off-Stimme die herkömmlichen Merkmale dieses Formats und verweigert sie: Das Making-Of karikiert seine Zielvorgaben, indem es sie übererfüllt, schonungslos offenlegt oder durch ästhetische Entgleisungen ironisiert; es erscheinen Textinserts mit der Warnung »attention promo«, Schaubilder zur Aufmerksamkeitsspanne des intendierten Zuschauers etc. Zum Zweiten werden bewusst keine Informationen über den Film preisgegeben; das Material reicht über zum Schnitt verurteilte Szenen wie Sprechtests, das Anbringen der Mikrofone oder das Entfernen weiterer Kameras im Bild nicht hinaus.

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wir uns am Ende des Films (KB 1:20). Der Abspann wird jedoch durch ein Insert unterbrochen, das zur Bewertung eines zweiten, alternativen Endes auffordert. Dem Zuschauer wird suggeriert, er könne den Ausgang der Geschichte beeinflussen, ja dieser hänge nur von seinem Kaufverhalten ab. Die eigene Rezeptionssituation wird nachträglich als Test erfahrbar, und Erleichterung kommt auf. Denn der Mord, so scheint es, wurde doch nie begangen; Octave rächt sich an der Werbewelt und entkommt ihren Mechanismen; er lebt als Aussteiger auf einer einsamen Insel und versöhnt sich dort mit Frau und Tochter. Letztlich sind jedoch beide Enden gleich; die Versöhnungsszene schlägt den Bogen zurück zur Anfangseinstellung des Films. Denn kaum ist das Happy End ins Bild gesetzt, werden alle Bildelemente nacheinander digital entfernt und neu zusammengefügt; ein Techniker mit Farbfilter durchquert das Bild; verschiedene Logos und Schriftarten werden ausprobiert und Baselines unter das Motiv gelegt (KB 1:35). Die Illusion vollkommenen Familienglücks vor der Kulisse eines karibischen Traumstrandes erweist sich lediglich als Werbeplakat, auf dem ein Reiseveranstalter sein Urlaubsangebot anpreist. Zu Beginn des Films hatte sich Octave mit Blick auf eben jenes Plakat in die Tiefe gestürzt; schon die Anfangseinstellung war gebrochen worden, als eine Rückwärtsfahrt der Kamera besagte Baseline sichtbar werden ließ: »Bienvenue dans le meilleur des mondes«, hatte sie in bester philosophischer Tradition die Lesart des Films programmatisch vorweggenommen. Denn die wirkliche Welt liegt außerhalb dieser Werbeaufnahme – und definiert sich wesentlich durch dieses Außen. Das wirkliche Leben, so Kounens Film, erschöpft sich im sehnsuchtsvollen Blick auf ein beworbenes Produkt, den die Figuren – ebenso wie die Zuschauer – durch das Objektiv einer Kamera vollziehen: im Begehren nach Überein-stimmung mit der Werbeinszenierung, in der Einsicht der vergleichsweisen Unzulänglichkeit eigener Erfahrungen.

II. 99 FRANCS: WERBUNG ALS SIGNATUR DER JAHRTAUSENDWENDE Die Gesellschaft, die Beigbeder auf diese Weise in Buch und Film beschreibt, orientiert sich nicht mehr an unmittelbaren Lebenserfahrungen, sondern an medial vermittelten Bildern. Nicht mehr die Literatur, nicht mehr das Kino, nicht mehr das Fernsehen und noch nicht das Internet prägen jedoch seine Figuren. Soziale Ordnungen ebenso wie private Sinnstiftungen und Begehrlichkeiten werden vielmehr durch die Werbung geweckt. Wahrnehmung von Gegenwart, so Beigbeders Schreiben, ist in bislang ungekann-

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tem Maß Wahrnehmung von Werbung. Wahrnehmung der Gegenwart ist, mehr noch, Wahrnehmung der Nachahmung von Werbung. Protagonist Octave wird schuldig als »wichtiges Instrument bei dem Projekt, die Wirklichkeit durch Werbung zu ersetzen«;29 in der Welt, die ihn umgibt, gilt: »[Es] kopiert die Werbung nicht mehr das Leben, sondern das Leben kopiert die Werbung.« (BD 166).30 Die Strategien dieser Branche zu durchschauen heißt demnach, das Funktionieren der Gesellschaft offen zu legen, erzeugt doch eine Abstufung von Menschen gemäß ihrer Kaufkraft durchaus eine mögliche (sogar die aktuell realisierte) soziale Ordnung: »Beigbeder, dans 99F, voit plutôt la société de consommation comme l’une des hiérarchies sociales possibles. Plus la consommation est grande, plus l’individu s’élève dans les rangs de la hiérarchie«.31 Zudem beschreibt 99 francs die Werbung nicht etwa als Kunst oder Unterhaltung, sondern als Propaganda und Macht, als gezielte Manipulation und subtile Kontrolle aus Herrschaftsinteressen heraus. Nicht über äußerliche Zwänge, sondern scheinbar freiwillig unterwerfen sich die Figuren dem Willen der Konzerne; dies ist ebenso der Sachverhalt, den Octave dem Leser respektive Zuschauer ins Bewusstsein rufen soll. »De cette traversée d’un microcosme totalitaire qui régit l’univers, Frédéric Beigbeder, plus houellebecquien que jamais, retient que »le marketing est une perversion de la démocratie«. Et il brocarde les publicitaires qui règnent […] avec leurs propres armes: des slogans, des jeux de mots, des concepts, du mépris et du sarcasme.«32

Entsprechend bleibt 99 francs bei einer gesellschaftlichen Analyse der Werbung nicht stehen. Die Darstellung künstlich erzeugter Bedürfnisse erstreckt sich vielmehr auch auf die Wahrnehmung und – damit verbunden – auf die Psyche des Menschen. »Die Leute wissen nicht, was sie wollen, bis man es

29 Daniel-Dylan Böhmer: »Von Gier und Krieg« [Rezension zu 99 francs]. http://www.spiegel-.de/kultur/literatur/0,1518,132923,00.html, Zugriff 25.9.2009 30 »Ce n’est plus la publicité qui copie la vie, c’est la vie qui copie la publicité« (BF 172) 31 Nathalie Dumas: »Lutte à 99F: La Vie sexuelle selon Michel H. et son extension à Frédéric B.«, in: Murielle Lucie Clément u. Sabine van Wesemael (Hrsg.): Michel Houellebecq sous la loupe, Amsterdam 2007, S. 215-225, hier S. 217. – Ebenso verfährt eine Abstufung gemäß körperlicher Schönheit, sofern diese in einen »Marktwert« des Individuums umgerechnet und somit erneut seiner Kaufkraft zugerechnet wird. Vgl. ebd., S. 219. 32 Jérôme Garcin: »Le nouvel imprécateur. Frédéric Beigbeder casse la pub«, in: Le Nouvel Observateur v. 31.8.2000.

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ihnen anbietet.« (BD 207),33 zitiert Octave Sir Terence Conran. Unter Rückgriff auf McLuhans Konzept der Medien als extensions of man wird nicht mehr nur das körperlich begrenzte Mängelwesen Mensch in seinem Weltzugriff unterstützt: Die Kompensation wird vielmehr in sein Inneres hinein verlängert. Immer wieder nehmen die Figuren ihr reales Leben im Modus ihres Medienkonsums wahr; vor allem angesichts von Grenzerfahrungen bietet die vielfältige Verschachtelung von Wirklichkeitsebenen in den Medien eine willkommene Alternative zum Leben, das unabwendbar nur eine – und oft unerbittliche – Wirklichkeit besitzt. Medien werden so nicht mehr als kulturell codierte Kommunikationssysteme erkannt, sondern mit der Wirklichkeit schlichtweg verwechselt.34 Octave etwa kommentiert seine realen Erlebnisse mit Baselines (BF 235/BD 225), und noch die Gitterstäbe seines Gefängnisses erinnern ihn an den Barcode auf der Ware (BF 271/BD 260). Von Anfang an war sein Leben bestimmt gewesen durch Medieninput, denn Identität hatte er aus Kaufentscheidungen bezogen, die der Werbung gefolgt waren; seine Berufswahl hatte sich im Kino entschieden; und noch der Absturz aus dem unerfüllten Alltag wurde ausgelöst durch ein weiteres Medium: die Ultraschallaufnahmen seiner ungeborenen Tochter. Diese Bilder nehmen im Roman wie auch im Film eine zentrale Stellung ein, verweisen sie doch auf die existenziellen Erfahrungen von Liebe und Tod, welchen der von Werbung und Spaßkultur geprägte Protagonist nicht mehr gewachsen ist.35 Sophie trifft Octaves wunden Punkt genau, wenn sie den Vater ihres Kindes, der zu der Schwangerschaft nicht steht, mit den Aufnahmen konfrontiert (KB 0:48). Selbst Ergebnis eines bildgebenden Verfahrens, bewegen erst sie Octave zur Einsicht, sie wecken ein Bewusstsein seines Fehlers, verwandeln seinen Lebensüberdruss endgültig in Selbstzerstörung und entscheiden fortan buchstäblich über Leben und Tod: Kounens Verfilmung visualisiert folgerichtig Octaves Überlebenskampf nach 33 »Les gens ne savent pas ce qu’ils veulent jusqu’à ce qu’on le leur propose« (BF 215). 34 Nicht umsonst vergleicht der Erzähler das Fernsehen mit Platons Höhlengleichnis (BF 61/BD 55). 35 Zur Unmöglichkeit der Liebe passt, dass Octave noch eine andere ihm nahe stehende Frau, die Prostituierte Tamara, nur durch die Brille des castingerfahrenen und photoshopkundigen Werbers betrachten kann. Selbst kleinste Fehler entgehen seinem geübten Auge nicht, und vor das lebende Original schiebt sich automatisch die optimierte, computergenerierte Fälschung: »Ich glaube, Tamara, ich liebe dich. Du hast große Füße, aber ich liebe dich. Computerretuschiert siehst du viel besser aus als in echt, aber ich liebe dich.« (BD 177). (»Je crois que je t’aime, Tamara. Tu as des grands pieds mais je t’aime. Tu es mieux avec des retouches informatiques qu’en vrai mais je t’aime.« BF 184).

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einer Überdosis im Rückgriff auf die Ultraschallbilder; die Tochter erscheint zu diesem Zeitpunkt noch als unbewusster Grund, ins Leben zurück- und auch im übertragenen Sinn umzukehren (KB 0:53). Als dieser Versuch jedoch scheitert und als Octave von Sophies Selbstmord unterrichtet wird, tauchen die Bilder erneut auf, und er folgt den beiden nach. Im Roman verspricht funktionsäquivalent ein weiterer intermedialer Bezug, nämlich derjenige zur Malerei, vorübergehend einen Ausweg: Paul Gauguins La pirogue (Te vaa, 1896) hängt an der Wand von Octaves Gefängniszelle (BF 269/BD 258) und symbolisiert für ihn das unberührte Paradies, in das sich die schwangere Sophie, ihren Tod nur vortäuschend, gerettet haben könnte. Doch auch an diesem Ort, an den Octave sich gedanklich zu ihr flüchtet, bleibt kein Ausweg. Angekommen in einer Welt, die der Werbung endlich gleicht, greifen erneut dieselben Mechanismen, und allenfalls im Selbstmord aus Überdruss kann das pleonektische Wesen Mensch am Ende des Begehrens ankommen (BF 277f./BD 265f.).

III. 99 FRANCS: WERBUNG ALS POPULARISIERUNG VON KONSUMKRITIK »Eines vorweg: Was sich zwischen diesen Buchdeckeln befindet, ist keine Literatur. […] Wer dieses Buch kauft, nimmt Teil an einem Medienereignis.«36 99 francs ist von der Kritik bekanntlich eher als Medienereignis denn als Fiktion aufgenommen und vom Autor entsprechend inszeniert und positioniert worden. »Ähnlich wie Michel Houellebecq, der […] zum Popstar avancierte, hat Beigbeder mit seiner Marketingstrategie für das Produkt Beigbeder als ebenso genialer wie verdorbener poète maudit einen Treffer gelandet«, schrieb stellvertretend die ZEIT.37 Auch Beigbeder nannte seinen Roman einen »Abschiedsbrief«38 aus der Werbebranche und zugleich eine »Kriegserklärung«39 an diese: »Ich bekämpfe die Werbung mit ihren eigenen Mitteln. […] Der Erfolg des Buches zeigt, wie gefährlich die Waffe Wer-

36 Burckhard Christians: »Was Werber sich spät Nachts erzählen.« [Rezension zu 99 francs]. http://www.u-lit.de/rezension/frederic-beigbeder.html, Zugriff 24.9.2009. 37 Katharina Döbler: »Ich entscheide heute, was Sie morgen wollen. Frédéric Beigbeder schreibt einen Werbetext für sich selbst, nennt ihn Roman und hat Erfolg«, in: DIE ZEIT 25/2001. 38 »›Ein Teufelskreis‹. Frédéric Beigbeder im Gespräch mit Michael Kläsgen«, in: DIE ZEIT 43/2000. 39 »Im Teufelskreis des Konsums. Frédéric Beigbeder im Interview mit Harry Nutt«, in: Frankfurter Rundschau v. 29.07.2008.

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bung ist. Wichtiger noch als der Roman ist der ganze Rummel, die Fernsehauftritte, dieses Interview, die Lesungen.«40 Der Werbetexter, mit den Gesetzen massenmedialer Inszenierung von Berufs wegen vertraut, vermarktete zugleich den Inhalt seines Romans als Skandal, die Provokation seines autobiographischen Enthüllungstextes als spannende Wette (er vermutete, nach der Veröffentlichung bei Young & Rubicam gekündigt zu werden) und sich selbst als stilbewussten, aber degoutanten Popstar. War die Medienmaschinerie erst einmal in Gang gesetzt, folgten bald nicht nur Verfilmung (2007), sondern auch Hörspielversion (2002) und Bühnenadaption (2006) des Bestsellers. Auch Beigbeders medialer Präsenz als Literaturkritiker und Moderator tat der Skandal keinen Abbruch: im Gegenteil. Erschöpft sich also das Phänomen 99 francs in einer wohlüberlegten Marktstrategie und einer larmoyanten Selbstfeier des Pariser Kreativen? Ein solches Urteil griffe zu kurz – kritisiert doch das beworbene Produkt sich selbst, und eine solche Reflexion kann niemals eine Ware, wohl aber ein Kunstwerk leisten. Beigbeder verurteilt in Buch und Film die Weltmacht Werbung und zitiert zu diesem Zweck deren mediale Strategien – teils, um auf das manipulative Potential von Werbebild und Werbefilm hinzuweisen, teils, um sich der Sympathie der Zuschauer zu versichern. Schließlich vermarktet er das Ergebnis nach den Regeln des kritisierten Systems und wendet dieses gegen sich selbst, um den formulierten Selbstwiderspruch flächendeckend zu verkaufen, sprich: zu popularisieren. Paradoxerweise wird Werbung so zu einem Motor der Konsumkritik. In Übereinstimmung entwirft der Autor auch in poetologischen Aussagen eine eminent politische Aufgabe der Kunst: »[J]e m’inscris dans une guerre entre les écrivains et, disons, l’industrie, les multinationales, les entrepreneurs. Cela tient, je crois, au fait que le monde politique a démissionné et abandonné son pouvoir à la seule économie, laquelle triomphe sans rencontrer aucune résistance.«41

Unter Berufung auf Philippe Sollers’ Formel vom Krieg des Geschmacks (La Guerre du goût, 1994) prophezeiht er: »Jetzt bleiben nur noch die Künstler, die mit Humor und Selbstkritik dagegen angehen«.42 Und das tut er. 40 In: »Ein Teufelskreis«. 41 In: »Comment j’ai été licencié«. 42 In: »Ein Teufelskreis«. – Im Film tritt diese Feindschaft zwischen Industrie und Kunst leitmotivisch zu Tage; sie wird bevorzugt mit den Mitteln des close-up dargestellt und auf die Gegner Octave und Duler, den Marketingchef des Joghurtkonzerns, verteilt. Ihrer beider Interessen sind unvereinbar, was sich in den zwei Versionen des Joghurt-Spots manifestiert: Das offiziell in Auftrag gegebene Kon-

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IV. 99 FRANCS: FAZIT Der Medienverbund 99 francs – in seinem Zusammenspiel von Buch, Film und Werbekampagne ein Beispiel praktizierter Intermedialität – lässt sich demnach als Analyse der Wahrnehmung im Frankreich der Jahrtausendwende verstehen. Mit dem kritischen Gestus des Politikwissenschaftlers und dem Insiderwissen des Agenturtexters zitiert Beigbeder die gegenwärtig prominenten medialen Formate der Werbung und appliziert sie auf seine Zielmedien Buch und Film. Seine Darstellung der Werbewelt erschöpft sich dabei keineswegs im »détachement esthétique«43 und ist keine bloße Milieustudie der Pariser Szenegänger. Beigbeders Medienspektakel ist vielmehr funktional motiviert und für seine Gesellschaftsanalyse unabdingbar. Die poetologische Annahme eines Kampfes zwischen Kunst und Kommerz44 erscheint dabei als Reaktion auf seinen epistemischen Befund, dem zufolge die Werbung längst Gesellschaftsordnung, Wahrnehmung und Begehren steuert. »Michel Houellebecq m’a dit: ›[…] écris sur ce qui est le centre du pouvoir aujourd’hui, sans quoi il n’y a ni nouvelle économie, ni presse, ni politique: la pub‹«.45 Tragisch erscheint allenfalls, dass ausgerechnet die Werbung einen alten Traum der Intellektuellen hat wahr werden lassen: »Auch wenn ich hasse, was aus mir geworden ist, muss ich einräumen, dass man sich nirgends sonst drei Wochen lang wegen eines Adverbs anschreien kann. ›Ich träume

zept entspricht den Wünschen des Kunden und garantiert optimalen Verkaufserfolg, unterbindet aber alle kreativen Ideen; der heimlich gedrehte zweite Spot überzeugt eine interne Jury und gewinnt einen Werbepreis, aber macht aus seiner Verachtung für das Produkt keinen Hehl. – Duler ist Antagonist des Films und geht am Ende als Sieger hervor, folgerichtig prallt Octave nach dem Sprung vom Dach der Agentur auf das Dach seines Wagens. 43 Van Wesemael: »L'Esprit fin de siècle«, S. 20. 44 Im Roman wird dies umso deutlicher, als sogar die Orientierung in Raum und Zeit durch Werbung strukturiert wird und sich Konzerne Farben und selbst Gefühle patentieren lassen wollen (BF 137f./BD 131f.). Die Kommerzialisierung greift somit auf Grundbausteine menschlicher Erfahrung aus, die sich auf Konsum nicht reduzieren lassen. Dahinter steckt ein fundamentaler logischer Fehler: Anstatt ihr Produkt mit einem als Selbstzweck erstrebten Gefühl zu verbinden und von diesem zu profitieren, sucht sich die Werbung ein Monopol auf dieses Gefühl zu erkaufen. Konkret gesprochen, liegt die versuchte Täuschung darin, z.B. Jugend, Schönheit und Liebesglück ausschließlich mit einem bestimmten Produkt zu verbinden, anstatt umgekehrt dieses Produkt mit Jugend, Schönheit und Liebesglück zu konnotieren. 45 In: »Comment j’ai été licencié«.

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von einer Welt, in der man für ein Komma stirbt‹, schrieb Cioran; ob er wohl ahnte, dass er von der Welt der Texter und Konzeptioner sprach?« (BD 43)46

46 J’ai beau haïr ce que je suis devenu, il faut admettre qu’il n’existe pas d’autre métier où l’on puisse s’engueuler pendant trois semaines à propos d’un adverbe. Quand Cioran écrivit »Je rève d’un monde où l’on mourrait pour une virgule«, se doutait-il qu’il parlait du monde des concepteurs-rédacteurs? (BF 48).

Dietmar Dath F RANZISKA B OMSKI (F REIBURG )

»Wenn du es nämlich nicht downloaden kannst, dann hat es keine Zukunft« (S 117),1 äußert Doktor Schorr, seines Zeichens Ministerialrat, in Dietmar Daths Roman Sie schläft und verweist damit auf die zunehmende Bedeutung des Mediums Internet in allen Bereichen – Kunst und Literatur eingeschlossen. Wird Schorrs Position im Roman zwar als »absurde[r] Enthusiasmus« (S 118) gewertet, so zeichnet sich sein Schöpfer doch selbst für einige Websites verantwortlich, die sich dem Genre der digitalen Literatur zuordnen lassen. Wie also steht es um das Verhältnis von Literatur und Netz bei Dietmar Dath? Dieser Frage möchte ich im Folgenden in drei Schritten nachgehen. Erstens werde ich, ausgehend von Daths eigener Darstellung seines bisherigen Werdegangs, sein Selbstverständnis als Autor und seine Charaktersierung des literarischen Schreibens nachzeichnen. Die exemplarische Analyse der Website www.johannarauch.de soll zweitens zeigen, wie Dath seine poetologischen Ansätze unter den spezifischen Bedingungen des digitalen Mediums Internet realisiert. Der dritte Abschnitt widmet sich dem literarischen Reflex des Verhältnisses von Kunst und Netz im bereits erwähnten Roman Sie schläft und setzt diesen in Bezug zu einer immanenten Poetologie des Textes im wörtlichen Sinne, die sich schließlich, so möchte ich zeigen, als Dath’sche Antwort auf die allgemeine Digitalisierung des Autors lesen lässt.

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Folgende Werke Dietmar Daths werden im Fließext mit Sigle und Seitenzahl bzw. bei den Websites mit der Abschnittsnummer nachgewiesen: K: »Heute keine Konferenz. Ein Bildungsromänchen«, in: ders., Heute keine Konferenz. Texte für die Zeitung, Frankfurt a.M. 2007, S. 13-29; W: Waffenwetter, Frankfurt a.M. 2007; S: Sie schläft. Filmroman, Bellheim 2009; JR: »Interview« http:// www.johannarauch.de/interview.html, Zugriff 29.11.2009; CS: http://www. claudiastarik.de/(29.11.2009); CG: http://www.cyrusgolden.de/index_js.html, Zugriff 29.11.2009.

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I. POETOLOGIE STATT POETIK: »OHNE TEXTICH GEHT ES NICHT« Schon innerhalb der Print-Medien ist Dietmar Dath ein Grenzgänger: Bekannt geworden ist er zunächst durch seine journalistische Tätigkeit, zum einen als Chefredakteur des Magazins für Popkultur, Spex (1998-2000), wie vor ihm auch Diedrich Diedrichsen, der als »der beste deutschschreibende Popmusikkritiker«2 wohl ein wichtiges Vorbild für Dath ist – beide werden inzwischen in einem Atemzug genannt als »öffentlichkeitswirksame Intellektuelle, die außerhalb der Universität, aber mit allen theoriediskursiven Wassern gewaschen, um einen adäquaten Zugang zu Phänomenen der Popkultur bemüht sind.«3 Zum anderen schrieb Dath sechs Jahre für das Feuilleton der FAZ (2001–2007), bis er schließlich dem »Apparat« (K 13) den Rücken kehrte, um sich hauptberuflich der Literatur zu widmen. Aus den Feuilletons verschwunden ist Dath damit jedoch nicht, in kleineren Texten und zahlreichen Interviews äußert er sich in den unterschiedlichsten Zeitungen zu einer Vielfalt von Themen, vom eigenen Schreiben über Politik und Wissenschaft bis hin zur Finanzkrise.4 Literarisch tätig war Dath bereits vor und während seiner journalistischen Arbeit,5 größere Beachtung als Autor fand er jedoch erstmals mit dem Briefroman Die salzweißen Augen, dem Auftakt zur Johanna-Trilogie.6

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Dietmar Dath: »Diederichsen’s Child«, in: ders., Heute keine Konferenz S. 114119, S. 114. Moritz Baßler: »Rezension zu Diedrich Diederichsen: Musikzimmer. Avantgarde und Alltag und Dietmar Dath: Die salzweißen Augen. Vierzehn Briefe über Drastik und Deutlichkeit«, in: Arbitrium 24 (2006), S. 418-422, S. 418. Vgl. z.B. Dietmar Dath: »Ich habe das Arbeiten aufgegeben«, in: Die Zeit (30.04.2009); »Dietmar Dath: ›Fünf Minuten, bevor es passiert, glaubt oft keiner, dass es möglich ist.‹ Interview von Patrick Grossmann«, in: Galore 49 (06.07. 2009), S. 28-34; »Was sucht Hamlet am Hindukush?«, in: Die Zeit (08.10.2009). Insbesondere in den letzten beiden Interviews wird Daths politisch links angesiedelte Position exemplarisch deutlich. Vgl. dazu auch ders., Maschinenwinter. Wissen, Technik, Sozialismus. Eine Streitschrift, Frankfurt a.M. 2008. Vgl. z.B. Dietmar Dath: Cordula killt Dich! oder Wir sind doch nicht Nemesis von jedem Pfeifenheini. Roman der Auferstehung, Berlin 1995; ders., Für immer in Honig, Berlin 2005 bzw. 2008. Dietmar Dath: Die salzweißen Augen. Vierzehn Briefe über Drastik und Deutlichkeit, Frankfurt a.M. 2005. Die Trilogie besteht weiter aus Dirac, Frankfurt a.M. 2006 und Waffenwetter. Handlung und ein großer Teil des Personals werden im Roman Sämmtliche Gedichte, Frankfurt a.M. 2009, fortgeführt, den Dath selbst aber nicht mehr zur Trilogie zählt: »wenn man will, darf man also von der Johanna-Trilogie reden (allerdings wird es später einmal […] noch ein weiteres Buch

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Eine Auswahl von Daths Texte[n] für die Zeitung versammelt der Band Heute keine Konferenz. Im Vorwort äußert sich Dath zu seinem Verständnis von Literatur und seinem Selbstverständnis als Autor, sodass es nahe liegt, diesen Text auf Ansätze zu einer Dath’schen Poetik zu befragen. Auffällig ist, dass Dath die Ausführungen zu seinem Schreiben mit einer Darstellung seines beruflichen Werdegangs verknüpft. So stellt er klar: »Manchmal muß man über den Verfasser lesen, er sei ein Journalist, der Schriftsteller geworden ist. Das stimmt nicht: Bevor ich der Verfasser wurde, war ich längst Erzähler.« (K 15f.) Dath setzt hier den Beruf des Schriftstellers von dem des Journalisten ab, parallel dazu unterscheidet er den Verfasser vom Erzähler. Beginnen wir zunächst mit der letzteren Unterscheidung, die zum einen durch die Zuordnung unterschiedlicher Schreibstrategien konkretisiert wird, nämlich durch die »Gegenüberstellung von Argumentieren, Berichten und Darstellen einerseits und Erzählen andererseits« (K 28). Zum anderen aber relativiert Dath sie, wenn er einräumt, dass die Unterscheidung zwischen Verfasser und Erzähler, den er auch einen »Geschichtenerfinder« nennt, »vielleicht« »scheinhaft, dynamisch, historisch« (K 28) sei. Er vergleicht das Verhältnis der beiden Schreibpositionen mit der alten Frage »Henne, Ei?« (K 14): »Das erste Huhn ist aus einem Ei geschlüpft, welches ein Noch-nicht-so-ganz Huhn gelegt hatte. Beim Verfasser lief’s ganz ähnlich: Der Noch-Nicht-so-ganz-Verfasser, ein Geschichtenerfinder, hat ihn hervorgebracht, damit es etwas Neues gebe.« (K 14)

geben, in dem sie vorkommt, das aber nicht zur Trilogie gehört)« Vgl. Ralf Schneider: »Von Schlitzern und Spritzern. Der seltsame Kosmos des Dietmar Dath«, http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=8841, Zugriff 23.11.2009: »Daths Romane wurden in den deutschsprachigen Feuilletons bislang nicht besprochen, allenfalls in der taz. Die salzweißen Augen hingegen fanden fast überall Beachtung.« Gegenstand literaturwissenschaftlicher Studien ist Dath bisher kaum, obgleich seine Texte, wie die wenigen vorhandenen Studien (bzw. von LiteraturwissenschaftlerInnen verfassten Rezensionen) zeigen, vielfältige Ansatzpunkte bieten. Vgl. z.B. Baßler: »Rezension zu Die salzweißen Augen«, der, wie oben erwähnt, Bezüge zur Popliteratur herstellt; Friedmar Apel: »Von der Rettung der Welt durch die Poesie. Rezension zu Dietmar Dath: Sämmtliche Gedichte«, http://www.faz.net/s/Rub79A33397BE834406A5D2B-FA87FD13913/Doc~E9E5 EC55EA684416D810C1D790B7D3A8F~ATpl~Ecommon~-Scontent.html, Zugriff 30.11.2009, der auf romantische Motive verweist, und Andrea Albrecht: »›Spuren menschlicher Herkunft.‹ Mathematik und Mathematikgeschichte in der deutschen Gegenwartsliteratur (Daniel Kehlmann, Michael Köhlmeier, Dietmar Dath)«, in: dies. u.a. (Hrsg.): Zahlen, Zeichen und Figuren. Mathematische Inspirationen in Kunst und Literatur (im Erscheinen).

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»Die Henne, die aus einem Ei kam, legt schließlich neue Eier, das ist der Lauf der Welt.« (K 29)

Dieses Wechselverhältnis wird im Vorwort zu Heute keine Konferenz nicht nur behauptet, sondern auch vorgeführt. Dath spricht hier von sich meist als dem »Verfasser« und suggeriert damit einen sachlich-berichtenden Charakter seiner Darstellung. Andererseits stellt er die ausgewählten Texte des Bandes vor als Vorstufen seiner gegenwärtigen »Sprechposition, die hinter sich hat, was man im Tagesgeschäft mitkriegen kann« (K 28), und bezeichnet sich als »schon-nicht mehr-so-ganz-Verfasser dieser Artikel« (K 28). Dieser wäre aber, folgt man dem Vergleich mit Ei und Henne, bereits wieder ein Geschichtenerfinder. Die Geschichte, die erzählt wird, handelt von der Geburt ihres Schöpfers. Die Darstellung seiner beruflichen Laufbahn ist nicht (nur) objektive Aneinanderreihung von Fakten. Dath erfindet sich hier vor allem selbst als Autor, indem er seine Arbeit bei der FAZ zum »Bildungromänchen« (K 13) stilisiert: »›Wie einer bei der Zeitung in die Lehre ging und was dabei herauskam‹« (K 28). Diese Selbststiliserung wird aber im gleichen Atemzug wieder gebrochen. Durch den salopp-ironischen Verweis auf die literarische Tradition distanziert sich Dath von seiner eigenen Erzählung und ist damit wiederum Verfasser. Im Hinblick auf die Frage nach einer Dath’schen Poetik fällt vor allem eines ins Auge: Dath fokussiert bei der Beschreibung und Vorführung dieses Wechselspiels weniger auf unterschiedliche Schreibstrategien als vielmehr auf die Schreibinstanzen – den Verfasser und den Erzähler – selbst. Es ließe sich somit im Falle Dietmar Daths weniger von einer Poetik denn von einer Poetologie im von Barner geforderten, philologisch korrekten Sinne sprechen, die eben nicht die Lehre von der Dichtung, sondern vielmehr »die Lehre oder Theorie vom Dichter betreffe«.7 Die so verstandene Poetologie ist nach Barner »ein altehrwürdiges« und zugleich »wieder aktuelles Thema«, insofern es im Zusammenhang steht mit der »Wiederkehr des Autors« in der jüngeren Literaturtheorie (oder in Barners konsequenter Terminologie: der jüngeren Poetologie).8 In diese Tendenz lässt sich auch Daths Verständnis des Autors einordnen. In einem Interview angesprochen auf die These »Der Autor ist tot, hieß es in den Neunzigern, zu der späten Blütezeit des Post-

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Wilfried Barner: »Poetologie? Ein Zwischenruf«, in: Scientia Poetica 9 (2005), S. 389-399, S. 398. Ebd. Vgl. dazu exemplarisch den einschlägigen Sammelband von Fotis Jannidis u.a. (Hrsg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen 1999.

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strukturalismus immer…«, antwortet er: »Hab ich nie gedacht!«9 In literarischer Form karikiert er die postmoderne Idee vom Tod des Autors in der Science Fiction-Erzählung Nullstellen: Als es einer Mathematikerin und einem Literaturwissenschaftler gelingt, tatsächlich einen autorfreien Text zu schreiben, werden sie gemäß den Gesetzen von »Informatik. Logik« durch eine »ontische Rückkoppelung« »aus den Informationsverteilungsmatrizen der Wirklichkeit gelöscht«.10 Vor diesem Hintergrund muss die Frage nach der Poetik Daths reformuliert werden zur (im Sinne Barners: poetologischen) Frage: In welcher Form ist der Autor im Text präsent und welche Aufgabe kommt ihm nach Dath zu? Die pointierte Antwort lautet: »Für Kunst gilt […] ›die gegen alles resistente Evidenz: ohne Textich geht es nicht‹ (Rainald Goetz).« (K 14). Die beiden zentralen Aspekte dieser Antwort, erstens die Präsenz des Autors als »Textich«, das jene oben skizzierte Synthese aus Verfasser und Erzähler bezeichnet, zweitens seine konstitutive Bedeutung für den literarischen Text, sollen im Folgenden genauer erläutert werden. Dath stellt erstens heraus, dass die Figuren seiner Texte, deren Namen oft wie der ihres Schöpfers eine Alliteration bilden, Variationen seiner selbst seien: »In Dietmar Daths Romanen und Erzählungen kommt er als ›Martin Mahr‹, ›Robert Rolf‹, ›David Dalek‹ vor, als ein Brennglas, eine Linse für das Mitzuteilende, unterschiedlich geschliffen […]. Gesagt wird da, wenn auch oft indirekt und meistens ziemlich unwahr, immer dasselbe: ›ich‹.« (K 13f.)

Wichtig bleibt dabei, dass die literarischen Figuren nicht einfach das Sprachrohr des Autors als Privatperson sind und dessen subjektive Meinung direkt oder indirekt zum Ausdruck bringen. Sie werden von der Metapher der geschliffenen Linse als eine mögliche, ästhetisch ausgearbeitete Perspektive auf die Thematik des jeweiligen Textes ausgewiesen. Problematisch ist daher die aus der eingestandenen Beziehung der literarischen Figuren zum Ich des Autors resultierende, »bei solchen Texten immer naheliegende Mißdeutungsmöglichkeit, hier stelle jemand auf Unmittelbarkeit ab, wolle auf kruden Subjektivismus hinaus, Individualromantik. Das Spontane und nicht Vermittelte als das Beliebige: Bitte nicht.« (K 15)

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»›Marxist Dietmar Dath will die Aldi-Brüder entmachten‹. Interview von Thomas Lindemann«, http://www.welt.de/kultur/article4672252/Dietmar-Dath-will-dieAldi-Brueder-ent-machten.html, Zugriff 23.11.2009. 10 Dietmar Dath: »Nullstellen«, in: ders., Heute keine Konferenz, S. 181-194, S. 193.

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Um der Gefahr des »kruden Subjektivismus« entgegenzuwirken, sei es wichtig, die »erzählerische Privatsprache« (K 15) mit einem »Wirklichkeitssog« (K 16) auszustatten, so dass, wie es an anderer Stelle heißt, etwas entstehe, »das an ausgewählten Einzelgeschichten letztlich suggeriert, es stelle eine ganze Welt dar, weil es eigentlich darum geht, eine Haltung zur vorhandenen Welt mitzuteilen«.11 Dies bedeutet jedoch nicht, dass Daths Romane eine eindeutige, politische oder ethische Botschaft enthielten, die durch die fiktiven Figuren nur exemplifiziert würde.12 Die Absage an das unvermittelt Subjektive als »›das schlechte Besondere‹« (K 15) schließt »das Lustige und Lebendige« gerade nicht aus, sie fordert vielmehr »Reibungsgelegenheiten, an denen sich die Textpersonae zu verführerisch tanzenden Lichtlein am Geisteshimmel des Weltganzen entzünden können, wenn Gottes Segen drauffliegt.« (K 24). Voraussetzung dafür ist, so lässt sich Daths Argument nachzeichnen, die eigene Subjektivität in »Strenge und Ernst« (K 24) der ästhetischen Komposition, und damit das Ich des Autors ins Textich zu überführen. Dem Einüben dieser Schreibstrategie habe seine journalistische Tätigkeit gedient, insofern diese den objektiven Gegenpol zum »›Ich‹ sagen« (K 14) in der Kunst darstelle. Denn es gehe im feuilletonistischen Verfassen von Texten gerade darum, das Textich soweit wie möglich zurückzunehmen. Wichtig sei es hier, den Behauptungen den Anschein objektiver Wahrheit zu verleihen und gleichzeitig in kritischer Distanz zu ihnen zu verharren. Entsprechend habe er bei der Zeitung gelernt, »wie allgemeingültig man Selbstgemachtes und Erdachtes aussehen lassen kann« (K 17). Dennoch aber gebe es einen »wesentlich[en]« Unterschied zwischen der »spezifische[n] apparatkonforme[n] Abstraktionsleistung, die den jeweiligen Schreibgegenstand ins Allgemeine einbindet« und derjenigen, »auf die das Erzählen gegründet ist« (K 19). Dieser Unterschied zielt auf den zweiten Punkt, die konkrete konstitutive Funktion des Autors für den literarischen Text. Wie gelingt es einem Autor, einen literarischen Text zu schreiben anstelle zum Beispiel einer journalistischen Reportage? Die Antwort führt Dath im Vorwort zu Heute keine Konferenz nicht aus, deutlicher wird sie in den metafikionalen Kommentaren auf der Website zum Roman Waffenwetter, dessen Handlung sich folgendermaßen skizzieren lässt: Die Abiturientin Claudia Starik und ihr Großvater Konstantin Starik machen sich auf den Weg nach Alaska, um dort das »high frequency active auroral research project, abgekürzt haarp« (W 32) zu sabotieren, da dieses, so vermutet Konstantin Starik – im Roman wenigstens zu Recht – nicht wie offiziell angegeben, der »erfor11 »Marxist Dietmar Dath«. 12 Beispielsweise sind Daths Romane, auch wenn er selbst öffentlich dezidiert für eine marxistisch-linke Politik eintritt, keine engagierte Literatur.

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schung der aurora borealis« (W 226), sondern der »wetterbeeinflußung, gedankenkontrolle« (W 229) diene. Haarp gibt es wirklich, um das Projekt ranken sich diverse Theorien von »Verschwörungsspinner[n]« (CS 8); Roman und Website liefern Quellenangaben sowohl der offiziellen Verlautbarungen zum Projekt als auch der kritischen bis obskuren Theorien dazu. Insbesondere berichtet der virtuelle Dath auf der Website, er sei »selbst bei der Anlage in Alaska« gewesen und habe »dort, anders als seine Pflicht gewesen wäre, überhaupt nichts herausgefunden« (CS 8). Leserin und Leser werden so darauf hingewiesen, dass die Beschreibung der Anlage von innen im Roman nicht auf konkrete Recherchen zurückgeht, sondern dass »[a]lle journalistischen Tugenden […] in diesem Buch absichtlich mit Füßen getreten.« (CS 8) werden. Dieses nicht-journalistische Schreiben folge dem »Maßstab, wonach als Kunst nur eine Darstellung der Welt taugt, die eine Auswahl trifft nicht entlang dem, was allgemein geglaubt wird, sondern nur entlang dem, was für die Zwecke des Künstlers taugt.« (CS 8) Demgemäß konstruiert Dath das Science Fiction-Finale des Romans aus Positionen der »Verschwörungsspinner«, also aus »Erfahrungs- und Nachrichtenquellen […], die zum Teil überhaupt nichts Triftiges mitzuteilen haben.« (CS 8) Die Aufgabe des Künstlers besteht also, so ließe sich Daths Poetologie zusammenfassen, in der nonkonformen Selektion von heterogenen Wirklichkeitssegmenten, die er dann mit »Strenge und Ernst« zu lebendigen und lustigen Erzählwelten arrangiert. Die fiktiven Wirklichkeiten werden so zum verspielt-absurden Kaleidoskop der Gegenwarts-Kultur und suggerieren Zusammenhänge, über die Leserin und Leser sowohl den Kopf schütteln, lachen als auch nachdenken können: Nebeinander gestellt werden Aufklärung und Splatter-Film (Die salzweißen Augen), berühmte Physiker und verrückte junge Frauen (Dirac), ein Held kann den Namen eines Pornodarstellers tragen und für die Ideen der Romantik mit Hilfe seiner militärischen Ausbildung im wahrsten Sinne des Wortes kämpfen (Sämmtliche Gedichte), eine hochbegabte Abiturientin entpuppt sich jenseits ihres Pubertätsalltages als einer von 12 Klonen eines genetisch-psychotronischen Experiments (Waffenwetter), um an anderer Stelle als Weltraum-Sheriff wieder aufzutauchen (Das versteckte Sternbild). Wie aber, so lässt sich nun fragen, verwirklicht Dath diese zunächst auf die Literatur in Buchform bezogenen poetologischen Ansätze als digitaler Autor, der seine Texte nicht einfach ins Netz stellt, sondern sich tatsächlich der spezifischen Gestaltungsmöglichkeiten des Mediums Internet bedient?

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II. D ER T EXT IM N ETZ : »D IE G RENZEN ZWISCHEN AUTOBIOGRAPHISCHEM UND P HANTASTISCHEM FLIRREN TEILWEISE ZIEMLICH LIBELLENMÄßIG « Dietmar Dath selbst hat – wenigstens zum Zeitpunkt der vorliegenden Studie – keine eigene Homepage. Zwar findet sich in den Internet-Auftritten der diversen Verlage, in denen Dath seine Bücher veröffentlicht, jeweils ein kurzes Autorenportrait mit den wichtigsten bio- und bibliographischen Angaben; zwar finden sich darüber hinaus im Netz zahlreiche Text- und FilmInterviews ebenso wie Ausschnitte aus Lesungen – eine persönliche Seite, die sich der eigenen Person ausführlich widmet und eine Werkzusammenschau bietet, gibt es jedoch nicht. Dafür aber gibt es Websites zu einzelnen Romanen, die allerdings nicht unter dem jeweiligen Titel zu finden sind, sondern unter dem Namen einer zentralen Figur. »Wer über das, was der Roman erzählt, mehr wissen möchte, findet es [für Dirac] unter www. johannarauch.de«,13 für Waffenwetter unter www.claudiastarik.de, für Die Abschaffung der Arten unter www.cyrus-golden.de. Diese Internet-Präsenz ist insofern konsequent, als sie den literarischen Figuren als Produkten des Textich den Vorrang vor der Subjektivität des Autors einräumt. Auch die inhaltliche und formale Gestaltung der Seiten folgt der Dath’schen Dialektik von dominanter Autorschaft und verspielter Ästhetik: Im Zentrum aller drei Seiten stehen Aussagen über die Schreibintention, Leseanweisungen und Hintergrundinformationen zum jeweiligen Roman sowohl in textueller als auch in visueller Form. Der Wahrheitswert dieser Aussagen bleibt allerdings durch die Form der Repräsentation permanent in der Schwebe, wie ich exemplarisch an der ästhetisch komplexesten Seite www.johannarauch.de zeigen möchte; analoge Beobachtungen zu den anderen beiden Seiten werden in den Anmerkungen ergänzt. Zunächst ist festzuhalten, dass es sich bei der Website www.johanna rauch.de nicht einfach um Text handelt, der ins Internet gestellt statt gedruckt ist. Mit Roberto Simanowski gesprochen, liegt keine digitalisierte, sondern eine digitale Repräsentation vor, »eine künstlerische Ausgangsform, die der digitalen Medien als Existenzgrundlage bedarf, weil sie sich durch mindestens eines der spezifischen Merkmale digitaler Medien auszeichnet: Interaktivität, Intermedialität, Inszenierung«.14 www.johanna-rauch.de weist die letzten beiden Merkmale auf, wohingegen ihr das erste, die Interaktivität, fehlt. Dieser Befund soll im Folgenden ausgeführt und für die Deutung der

13 Dath: Dirac, S. 383. 14 Roberto Simanowski: »Autorschaft in digitalen Medien Eine Einleitung«, in: Text + Kritik 10 (2001), H. 152: Digitale Literatur, S. 3-21, S. 4.

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Website fruchtbar gemacht werden. Als Ausgangspunkt der Analyse dienen die Hyperlinks der Website, da sie im digitalen Medium ein, wenn nicht das zentrale Mittel der formalen Gestaltung darstellen. Sie lassen sich auf der Website von Johanna Rauch in drei Gruppen unterteilen. Erstens gibt es eine Art Inhaltsverzeichnis in Anlehnung an das Menü einer DVD, das stets am rechten Bildschirmrand zu sehen ist. Der Effekt dieser Links als intermediale Bezüge15 wird weiter unten analysiert. Einer dieser Links führt auf das »Interview«, das hier im Zentrum des Interesses stehen soll. Innerhalb dieses virtuellen Gesprächs gibt es zweitens diejenigen Links, welche die einzelnen, nummerierten Teile des Interviews miteinander verbinden. Ihre Reihenfolge ist festgelegt, der Rezipient findet am Ende eines Abschnitts stets lediglich den Link zum darauffolgenden. Diese Links lassen sich mit dem Umblättern in einem Buch vergleichen und sichern das, was gemeinhin als »lineare« Groß-Struktur des Textes bezeichnet wird.16 Deutlich wird hier bereits, dass Dath an der Gestaltungshoheit über seine Texte auch im digitalen Medium festhält, indem er auf eine interaktive Gestaltung, bei der die Rezipienten stets zwischen mehreren Anschlusslinks wählen und so die Abfolge der Texte selbst herstellen, verzichtet. Drittens gibt es innerhalb der Interviewpassagen diverse externe Links, die den User ins Netz hinaus führen. Verlinkt sind zum Beispiel WikipediaArtikel, Interviews mit oder Homepages von genannten Personen, eigene Texte Daths zum jeweils angesprochenen Themenkreis, aber auch die Websites von Verlagen bzw. die jeweilige Seite des wohl bekanntesten OnlineShops Amazon, auf denen die Rezipienten die erwähnten Bücher – und das sind natürlich nicht zuletzt Daths eigene – erwerben können. Diese Hyper15 Zu Möglichkeit und Begriff einer digitalen Intermedialität vgl. den Sammelband von Joachim Paech, Jens Schroeter (Hrsg.): Intermedialität analog/digital. Theorien – Methoden – Analysen, München 2008, darin besonders: dies.: »Intermedialität analog/digital – ein Vorwort«, S. 9-12; Peter Gendolla: »Konditor! Konditor! – Konditor! Zur Auflösung intermedialer Differenzen im Simulationsraum«, S. 509-520. 16 Die Bezeichnung »linear«, die z.B. Roberto Simanowski (»Autorschaft in digitalen Medien«, S. 6) und Uwe Wirth (»Literatur im Internet. Oder: Wen kümmert’s, wer liest?«, in: Stefan Münker, Alexander Roesler (Hrsg.): Mythos Internet, Frankfurt a.M. 2001, S. 319-337, S. 323), verwenden, um die Leserichtung eines Textes im herkömmlichen Sinne von der eines mit diversen Hypertexten verlinkten Textes abzusetzen, ist zwar griffig, scheint mir jedoch die wesentliche Differenz nicht exakt zu bezeichnen, da jeder Leseakt doch letztlich ein linearer bleibt. Genauer ließ sich von einem eindeutig gelenkten Lesen ohne Abweichmöglichkeiten von einer durch den Autor vorgegebenen Reihenfolge des Erzählten sprechen.

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texte unterlaufen die eindeutige Reihenfolge der Textpassagen und begünstigen stattdessen, mit Uwe Wirth gesprochen, ein »zentrifugale[s]« Lesen,17 insofern sie aus dem Interview hinaus auf andere Websites mit neuen Links führen, so dass sich der Leser eventuell »zunehmend vom Ausgangstext entfernt und diesen unter Umständen nicht wieder aufsucht«.18 Diese Links lassen sich unter das »Merkmal Inszenierung« einordnen, das unter anderem für die »Programmierung einer […] rezeptionsanhängigen Performance« steht: »Dem digitalen Werk können auf seinen unsichtbaren Textebenen […] Aspekte der Aufführung eingeschrieben werden, so dass die Worte und Bilder ihren ›Auftritt‹ haben, dessen Stichwort […] vom Rezipienten ausgeht.«19 Gerade vor dem Hintergrund von Daths strengem Autorbegriff fällt auf, dass Johanna Rauchs Website den »Auftritt« der externen Hypertexte in die Hände der Rezipienten legt, die so innerhalb der für digitale Verhältnisse relativ streng vorgegebenen Reihenfolge der einzelnen Abschnittes des Interviews die Möglichkeit zur Digression haben.20 Aber das bedeutet nicht, dass Dath die Herrschaft über sein ästhetisches Universum ein Stück weit abgäbe. Denn Hypertexte, so argumentiert Katrin Wenz in Anlehnung an empirische Studien, vergrößern entgegen gängigen Theorien die Macht des Lesers nicht. Sie erzeugen vielmehr eine »kontrollierte Textumgebung«, die den Leser vor eine begrenzte Auswahl von Wahlmöglichkeiten, die Links, stellt. »Die Programmierung von Links ist genauso Bestandteil der künstlerischen Aktivität der Autoren wie die inhaltliche Gestaltung der Texte« und dient gerade nicht der Befreiung des Lesers von der Hoheit des Autors, son-

17 Wirth: »Literatur im Internet«, S. 319. 18 Simanowski: »Autorschaft in digitalen Medien«, S. 6. Ginge man davon aus, dass die eindeutig vorgegebene Groß-Struktur dominant ist, so lieferten die Hypertexte, sehr allgemein gesprochen, lediglich Hintergrundinformationen verschiedenster Art, wären aber gegenüber dem Hypotext auf einer Subebene angesiedelt und ließen sich mit Norbert Bolz: Am Ende der Gutenberg-Galaxis. Die neuen Kommunikationsverhältnisse, München 32008, S. 222, auch als »generalisierte Fußnote[n]« beschreiben. Zur Kritik dieser Definition vgl. Simanowski, »Autorschaft in digitalen Medien«, S. 6f. 19 Simanowski: »Autorschaft in digitalen Medien«, S. 5. 20 Das Ineinander von strenger Vorgabe einer Reihenfolge der Textsegmente und der Möglichkeit zur Digression findet sich auch auf www.claudistarik.de (CS): Die Website beinhaltet zehn nummerierte Thesen, die jeweils mit diversen externen Links versehen sind. Auf der Seite www. cyrusgolden.de (CG), die ebenfalls ein fiktives Interview beinhaltet, fehlt zwar die Nummeriung der einzelnen Abschnitte, diese sind aber, der (westlichen) Leserichtung entsprechend von links nach rechts auf der Seite angeordnet, wodurch ebenfalls eine eindeutige Abfolge suggeriert wird. Auch hier finden sich innerhalb der Abschnitte externe Links.

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dern vielmehr »einer starken Leserlenkung«.21 Letztere erhält allerdings auf www.johannarauch.de ein Gegengewicht, insofern es sich um externe Links handelt, die nicht einheitlich zu zusammengehörigen Textpassagen eines singulären Autors führen, sondern ins Internet hinaus. Während Hyperfiction die »Idee des […] nicht abgeschlossenen, aber geschlossenen Werks«22 bewahrt, verhält es sich hier genau umgekehrt. Der eigentliche Text, das fiktive Interview, ist als ästhetisches Produkt abgeschlossen, hier lässt sich Dath nicht auf die geringste Interaktion mit den Rezipienten ein. Wohl aber kann auf den digitalen Text übertragen werden, was Dath für Waffenwetter explizit formuliert: »Das Publikum ist eingeladen, Waffenwetter als Karte zu verstehen und die Durchgänge zu benutzen« (CS 4). Auf der Website von Johanna Rauch markieren die externen Links »Durchgänge« ins World Wide Web und ließen sich als Inszenierung des »Wirklichkeitssogs« interpretieren, der die Kunst nach Dath auszeichnen müsse. Diese Deutung beruht auf einer Analogie des Verhältnisses von Website und virtueller Realität auf der einen, Kunst und Wirklichkeit auf der anderen Seite. Dabei würden, denkt man die Analogie entlang ihrer Glieder, Homepage und Kunst ebenso miteinander gleichgesetzt wie Wirklichkeit und virtuelle Realität – zwei Verbindungen, die, so möchte ich argumentieren, von der Website selbst impliziert werden. Die Seite www.johannarauch.de ist eine Form von digitaler Kunst, die aus der »Vortäuschung von Nicht-Kunst«23 entsteht, denn die URL suggeriert, es handele sich um eine persönliche Homepage.24 Solche Seiten zeichnen sich von vornherein durch einen stark konstruktiven Charakter aus. Auf ihnen wird, so argumentiert Mike Sandbothe, »[d]ie plurale Verfasstheit unserer Identität […] offensichtlich«, denn »[m]eine Webpage ist eine Doublette meiner selbst, in manchen Fällen sogar die kreative Erfindung eines

21 Karin Wenz: »Eine Lese(r)reise: Moving text into e-space«, in: Text+Kritik 10 (2001), H. 152: Digitale Literatur, S. 43-53. S. 44. 22 Simanowski: »Autorschaft in digitalen Medien«, S. 5. Zum Begriff der Hyperfiction vgl. das »Glossar« in: Text+Kritik 10 (2001), H. 152: Digitale Literatur, S. 129-134, S. 130. 23 Roberto Simanowski: Digitale Medien in der Erlebnisgesellschaft. Kunst – Kultur – Utopien, Reinbek bei Hamburg 2008, S. 133. 24 Dies gilt auch für die Websites www.claudiastarik.de und www.cyrusgolden.de, beschränkt sich dort aber auf die URL. Anders als auf www.johannarauch.de melden sich weder Claudia Starik noch Cyrus Golden direkt zu Wort. Dieses bleibt auf der Seite zu Waffenwetter vollständig einem virtuellen Alter Ego Daths überlassen, auf der Seite zur Abschaffung der Arten gibt es zwar einen Interviewpartner, der allerdings nicht namentlich benannt ist und lediglich die Fragen stellt, so dass auch hier eine monologische Struktur dominiert.

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neuen Selbst, einer neuen Identität«.25 Die Seite von Johanna Rauch macht dieses bei jeder »echten« Homepage implizit gegebene Rollenspiel explizit und treibt es ins Extrem.26 Denn die »neue Identität«, die hier ästhetisch dramatisiert wird, ist von vornherein eine ausdrücklich fiktive Figur, die sich durch die Homepage über die Romane hinaus zu verselbstständigen scheint. Der Leser wird durch die diversen Existenzen der Figur, die nicht nur Text-, sondern nun auch Mediengrenzen überschreiten, gründlich irritiert und muss sich stets aufs Neue fragen, inwieweit das, was ihm da als ästhetische Wirklichkeit präsentiert wird, tatsächlich ernst zu nehmen ist bzw. auf eine extravirtuelle Wirklichkeit referiert. Denn derjenige, der hier verlässlich Auskunft geben könnte, ist in dieses Verwirrspiel ebenso integriert wie seine Figuren. Dath verwischt die Grenzen zwischen seiner eigenen und den von ihm erfundenen Personen. So führt Johanna Rauch, die namensgebende Figur der Johanna-Trilogie, auf ihrer Seite ein Interview mit ihrem Schöpfer, der hier als »DD« auftritt. Sie erweist sich dabei einerseits, ganz nach dem Pygmalion-Schema, als ideale Gesprächspartnerin, die den Roman im Sinne seines (und ihres) Autors verstanden hat und so nicht nur gezielt die »richtigen« Fragen stellen kann, sondern mitunter auch Sätze und Überlegungen ihres Interviewpartners zu Ende führt und selbst Teile der Auslegung übernimmt.27 Andererseits streut Johanna mitunter auch ironische Kommentare ein, welche die im Interview dem virtuellen »DD« zugeschriebenen Äußerungen in ein kritisches Licht rücken und die Selbststilisierung ihres Urhebers als Schöpfer eines literarischen Universums unterminieren.28 So spricht Johanna beispielsweise die durchlässigen »Grenzen zwischen Autobiographischem und Phantastischem« im Roman Dirac an. Daths Antwort auf ihre InterviewFrage, was er »denn nun wirklich erlebt« habe, von dem »was da erzählt ist« – »Na, alles natürlich. Zumindest am Schreibtisch, beim Dichten« – entlarvt sie mit einem lakonischen »Sehr originell« als Klischee von der Wirklichkeit geistiger Welten (JR 2). Johannas Ironie wird dabei durch ihre virtuelle Existenz wiederum selbst ironisch kommentiert. Diese Strategie der ironischen

25 Mike Sandbothe: »Interaktivität – Hypertextualität – Transversalität. Eine medienphilosophische Analyse des Internet«, in: Münker, Roesler (Hrsg.): Mythos Internet, S. 56-82, S. 67. 26 Vgl. zur »Kunst des Betrugs«: Simanowski: Digitale Medien, S. 133-137. 27 Vgl. z.B.: »DD: […] das geht es um die Frage der Irreduzibilität. Auf deutsch: Wie einfach darf man schwierige Sachen betrachten? […] wenn alles nur immer superkompliziert ist, […] dann gibt es keine Politik, keine Geschichte… JR: Keine Liebe.« (JR 4); »DD: […] Das ist nicht nur ein ethisches Prinzip, das ist auch ein… JR: Ästhetisches, klar.« (JR 5) 28 Ebenso berichtet ein virtueller Dath auf Claudia Stariks Seite, dass diese »ihn immer wieder mit Ideen trietzte, auf die er nie gekommen wäre.« (CS 2)

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Potenzierung ist nicht neu, schon die Romantik bediente sich ihrer. Neu ist jedoch, dass dieses romantische Verfahren das Internet erobert und mit den Mitteln des digitalen Mediums realisiert wird. Dadurch ergibt sich ein anderer Bezug zur Realität, der sich durch eine Gegenüberstellung der Autorfiktion im literarischen und im digitalen Text herausarbeiten lässt. Denn Dietmar Dath begegnet seinen Figuren nicht nur im Internet. Auch in den Romanen Sämmtliche Gedichte und Sie schläft tritt er selbst auf als die rechte Hand von Colin Kreuzer, einem dubiosen, aber betuchten Sammler von Kunst und Kultur, dessen mit finanzieller Unterstützung verbundenes Interesse an den Projekten der jeweiligen Protagonisten maßgeblich für den Fortgang bzw. das Ende der jeweiligen Romanhandlung ist. Die Romanfigur Dath lässt sich als Karikatur des Autors Dath lesen, insofern sie in beiden Romanen als kühl berechnender Arrangeur auftritt, der die übrigen Figuren für Kreuzers, und das heißt nicht zuletzt: finanzielle, Zwecke manipuliert, was ihm von Johanna Rauch denn auch explizit vorgehalten wird: »Für dich sind wir alle nur Gestalten in irgend so einem ausgedachten Krampf. […] Menschen, du Arsch! Wir sind Menschen, und du verschiebst sie hin und her.«29 Was unterscheidet dieses Gespräch zwischen Dath und Johanna von dem auf ihrer Website? Leserin und Leser haben bereits in der Schule gelernt, dass Romanfiguren, selbst wenn sie den Namen ihres Autors tragen, nicht mit diesem gleichzusetzen sind, da literarische Fiktion und Wirklichkeit relativ klar voneinander unterschiedene Bereiche sind. Im Netz hingegen wird die Grenze zwischen Text und Autor nivelliert, denn »[d]ie Nutzer computermedialisierter Netzwerke interagieren nicht mit Personen, sondern mit Texten bzw. digitalisierbaren Symbolkonfigurationen. Und sie agieren nicht als Personen, sondern als Symbolketten im Sinne freigewählter Namen«,30 einfacher gesagt: »Sie sind, was Sie schreiben.«31 Hinzu kommt, dass auch die Unterscheidung zwischen der Virtual Reality und dem Real Live an Eindeutigkeit verliert. Wenngleich wir (noch) nicht in Tad Williams

29 Dath: Sämmtliche Gedichte, S. 275. Die Romanfigur Dath wird in Sämmtliche Gedichte dafür auch angemessen bestraft und von ihren Figuren umgebracht. Dass der Autor aber auch auf diese Weise nicht totzubekommen ist, zeigt das Auftreten eines fiktiven Dath im danach erschienenen Filmroman Sie schläft in der gleichen Rolle. 30 Sibylle Krämer: »Vom Mythos ›Künstliche Intelligenz‹ zum Mythos ›Künstliche Kommunikation‹ oder: Ist eine nicht-anthropomorphe Beschreibung von InternetInteraktionen möglich?«, in: Münker, Roesler (Hrsg.): Mythos Internet, S. 83-107, S. 97. 31 William J. Mitchell: »Die neue Ökonomie der Präsenz«, in: Münker, Roesler (Hrsg.): Mythos Internet, S. 15-33, S. 28.

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Otherland angekommen sind,32 so lässt sich mit Wolfgang Welsch doch eine »Verschleifung von Realität und Virtualität« beobachten, die eine »Virtualisierung oder Derealisierung des Wirklichen bzw. unseres Verständnisse von Wirklichkeit« bewirkt.33 Pointiert ließe sich also zusammenfassen: Die Begegnungen von Johanna Rauch und Dath im gleichen Medium bewirken, dass Leserin und Leser beide auf der gleichen Ebene ansiedeln. Begegnen Johanna Rauch und Dath einander als Romanfiguren, so werden sie eher als fiktive, virtuelle Charaktere wahrgenommen, wohingegen die virtuellen Identitäten der Website umgekehrt eher einen Wirklichkeitseffekt haben. Erzielt wird dieser Wirklichkeitseffekt zum Beispiel durch die Paratexte der Homepage. Das Portal besteht in einer Art Inhaltsverzeichnis mit den Links »Making of«, »Interview«, »Deleted Scenes«, das die gesamte Seite in Analogie zum Bonusmaterial einer DVD setzt. Das Bonusmaterial einer DVD stellt den jeweiligen Film explizit als Kunstprodukt aus, indem es zum Beispiel im Making of zeigt, wie einzelne Szenen gefilmt und digital nachbearbeitet wurden oder aber Interviews mit den Schauspielern enthält, die über ihre Rolle berichten und somit aus dieser heraustreten. Es wirkt damit illusionsdurchbrechend, indem es die Wirklichkeit hinter dem Film zeigt. Analog wird bei den Rezpienten die Erwartung geweckt, dass die Website die Wirklichkeit hinter dem Roman zeige, dass zum Beispiel im »Interview«Teil der Seite ein Gespräch zwischen realen Personen transkribiert ist, etwa dem Autor und einer Person, die als Vorlage für eine Romanfigur gedient hat. Diese Erwartung überträgt sich auf die Figuren Johanna Rauch und DD, die auf der Seite auftreten, so dass die illusionsdurchbrechende Wirkung des Referenzmediums in ihr Gegenteil verkehrt wird und die virtuelle Welt eine Art »Wirklichkeitssog« ausübt. Verstärkt wird dieser Effekt durch die unterschiedlichen Bilder auf der Seite: Es gibt Fotos vom echten Dath an den Schauplätzen des Romans, von Stalin und Paul Dirac ebenso wie comicartige Zeichnungen von Romanfiguren, Diagramme und eine virtuelle Version der

32 Tad Williams’ Cyberpunk-Tetralogie Otherland (1996-2001) spielt zu gleichen Teilen in einer technisch perfektionierten virtuellen Welt wie in der Wirklichkeit und verdeutlicht durchaus medienkritisch sowohl Chancen als auch Gefahren des Cyberspace. 33 Wolfgang Welsch: »Eine Doppelfigur der Gegenwart: Virtualisierung und Revalidierung«, in: Gianni Vattimo, ders. (Hrsg.): Medien-Welten Wirklichkeiten, München 1998, S. 229-248, S. 238f. Welsch stellt dieser Wirkung der »Dominanz der elektronischen Welten« eine »komplementäre Neuschätzung […] nichtelektronischer Erfahrungsformen« (S. 242) und ein »erstaunlich hohes Bewußtsein für die Unterschiedlichkeit von Erfahrungsformen« (S. 247) v.a. bei elektronisch sozialisierten Generationen an die Seite.

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Ausstellung »give a little bit«, in der Johanna im Roman ihre Bilder zeigt.34 Es liegt nahe, den virtuellen DD in Beziehung zum realen Dietmar Dath zu setzen und diese Existenz über die Website hinaus auch auf Johanna Rauch zu übertragen, zumal diese sowieso schon so viele textuelle und mediale Grenzen überschritten hat, dass die zwischen Netz und echtem Leben nur eine weitere zu sein scheint – ein kalkulierter Effekt, der die Rezipienten unmerklich selbst in das Dath’sche Rollenspiel verwickelt, das keinen Unterschied zwischen Virtualität und Wirklichkeit mehr zu kennen scheint.

III. D AS N ETZ IM T EXT : »U ND WENN SIE UNS ZUM B LOGGEN ZWINGEN ? M ÜSSEN WIR DANN STERBEN ?« Ebenso wie die im vorangegangenen Abschnitt exemplarisch vorgestellten Websites die jeweiligen Romane kommentieren, so wird umgekehrt die Frage nach der Möglichkeit von Kunst im Netz bei Dath literarisch reflektiert und zwar im Roman Sie schläft. Ramji Iwein, der Protagonist ist beim (fiktiven) Museum für filmische Avantgarde, kurz MufA, angestellt und arbeitet dort mit am »Wahnsinnsprojekt, eine deutsche Variante der Online-Cinethek der Criterion Collection aufzubauen, als erweiterte Website des Museums« (S 16).35 Als Online-Redakteur arrangiert und präsentiert er die Filme auf der Website und übernimmt damit Aufgaben, die, so habe ich im ersten Abschnitt zu zeigen versucht, Dath dem Künstler zuschreibt. Denn insbesondere folgt die Auswahl der Filme keinen rein systematischen Kriterien, sondern »überdeterminiert bis zur Inkaufnahme der Lächerlichkeit, stets sowohl einem subjektiven und einem objektiven Grund«, nämlich den persönlichen »recht verschiedene[n] Geschmäcker[n]« der Redaktionsmitglieder, in denen sich aber »eine Menge Lerngeschichte verfangen« (S 206) hat, so dass sie gewissermaßen ein kollektives Textich bilden. Hier greifen also nicht nur zwei Schreibinstanzen ineinander, hier arbeiten tatsächlich verschiedenene Menschen zusammen. Die Darstellung des Internet-Projekts im Romans lässt sich damit als Fortschreibung der Dath’schen Poetologie in literarischer Form lesen. Sie kreist einerseits um die Frage der Verwandtschaft von

34 Ähnlich bunt gemischt sind die Bilder auf www.claudiastarik.de, wohingegen www.cyrusgolden.de grafisch sehr viel einheitlicher gestaltet ist und als Bilder lediglich Auschnitte aus Tierfotografien und die Tiervignetten, die sich auch im Roman finden, beinhaltet. 35 Die Website der Criterion Collection gibt es, wie die meisten der im Roman erwähnten Websites, wirklich: http://www.criterion.com/, Zugriff 29.11.2009.

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Künstler und dem Vermittler von Kunst, andererseits um die Frage, inwieweit sich Autorschaft teilen lässt.36 Belegt sei diese Hypothese zunächst durch die Analyse des Treffens der filmbegeisterten MufA-Redaktion mit den Vertretern des »Bureau Saint Fun«, die die technische und grafische Gestaltung der Website übernehmen sollen. Gegen diese durch die Geldgeber zwangsverordnete Zusammenarbeit protestiert Ramji bereits im Vorfeld des Treffens mit den »Webdesignern und Programmierern«: »Ich will die nicht! […] Die sind kreativ und pfiffig! Ich liebe Filme, ihr Schweine! Ich will mit kreativ und pfiffig nichts zu tun haben« (S 65). Für Ramji sind die Eigenschaften »kreativ und pfiffig«, mit denen die Agentur für sich wirbt, Signale einer effekthaschenden Oberflächlichkeit, die mit dem Medium Film als Kunst nicht vereinbar ist. Allerdings unterminiert Ramji diese Absetzung, indem er seine Kunstbeflissenheit ausgerechnet in Anlehnung an den Werbeslogan einer Fernsehzeitung formuliert (»Sie lieben Filme? Wir auch« – TV Spielfilm).37 Damit wird deutlich, dass nicht allein die Kunst, hier vertreten durch das Medium Film, sondern auch »kreative und pfiffige« Werbe-Ideen eine bewusstseinsprägende Wirkung haben; Dath entgeht damit der Gefahr, in eine klischeehaft-platte Absetzung von kommerziellem Design und tiefgründiger, auratischer Kunst abzugleiten. Zwar formuliert Ramji diese Position explizit, um einmal mehr seinen Unwillen gegen das »Bureau Saint Fun« zum Ausdruck zu bringen: »Film ist Magie, nicht Technik. Die müssen weg, die passen nicht.« (S 66). Jedoch räumt er selbst ein: »Es war alles Wind, was ich redete, aber als militante Schutzbehauptung gedacht.« (S 66) Wovor aber möchte Ramji das MufA-InternetProjekt beschützen?

36 Zur Problematik und Tradition der kollektiven Autorschaft, die keinesfalls an das Medium Internet gebunden ist, sondern als Konzept bereits der romantischen Sympoesie zugrundeliegt, vgl. Michael Gamper: »Kollektive Autorschaft/ Kollektive Intelligenz: 1800-2000«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 45 (2001), S. 380-403. Zur kollektiven oder kollaborativen Autorschaft insbesondere im Internet vgl. Florian Hartling: Der digitale Autor. Autorschaft im Zeitalter des Internets, Bielfeld 2009, S. 266-280, der auch einen umfassenden Überblick über die bisherige Forschung liefert. Gamper und Hartling kommen darin überein, dass literarische Qualität im traditionellen Sinne weniger die Mitschreibeprojekte auszeichnet, sondern eher aus der Zusammenarbeit einiger weniger Autoren entstehen kann – eine Einsicht, die auch der Roman teilt. 37 Die Werbekampagne lief 2008 in Kino und Fernsehen, vgl. die Online-Datenbank der Werbung: http://www.slogans.de/slogans.php?BSelect[]=579&PerSite=200, Zugriff 30.11.2009.

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»Nein ehrlich! […] Filme sind ja super, die kauen mir alles vor, zeigen mir, was ich sehen soll, das ist das Beste, das entmündigt mich, da ist nichts Kreatives, nichts Pfiffiges dran! Aber diese Leute da? Sind kreativ, sind pfiffig, mit unseren Filmen, unserem Content! Das darf niemals sein.« (S 66)

Für Ramji zeichnet sich der Film, stellvertretend für die Kunst, durch ein autoritatives Verhältnis zum Zuschauer aus, da dieser nicht entscheiden kann, was er sieht und auch nicht daran mitwirken kann. Die materielle Verfasstheit des Films obliegt allein dem Autor, der Film wirkt auf den Zuschauer ein, aber nicht umgekehrt. Diese Hoheit des Autors über sein Werk beansprucht auch Ramji für die Website und sieht sie durch »diese Leute da« gefährdet. Sie schaffen seiner Meinung nach eben nicht »nur« einen werbewirksamen Rahmen für die Präsentation der Filme im Netz, da dieser Rahmen auf den »Content« der Website – einmal mehr spricht Ramji hier selbst im Jargon der Werbebranche – einwirke, und zwar in eine vollkommen andere Richtung, als es die Wertschätzung des Kunstwerks Film erfordere. Ramji erkennt damit die zentrale Rolle, die nach Uwe Wirth dem editorialen Framing zukommt. Wirths Theorie bezieht sich auf Literatur und Internet, lässt sich aber auf Film bzw. Kunst allgemein und Internet übertragen. Wirth argumentiert, dass der Autor im Internet verstärkt zum »Arrangeur« werde, der seine künstlerische Hoheit vor allem über die Auswahl der Inhalte und ihre formal-technische Präsentation ausübe: »Das editoriale Framing ist mehr als ein paratextuelles Spiel. Es ist ein Verfahren, den Rand – und mit ihm die diskursiven und die technischen Rahmenbedingungen – zu thematisieren. […] Unter medientheoretischen Vorzeichen zielt die Frage nach dem Herausgeber sowohl auf die technischen Rahmenbedingungen als auch auf die Inszenierungsmöglichkeiten der Funktion Autor.«38 In diesem Sinne versteht sich Ramji selbst zu Recht als Autor, der seine Autonomie an eine Internet-Werbeagentur abtreten und auf diese Weise seinen eigenen künstlerischen Anspruch aufgeben soll. Denn die Vertreter des »Bureau Saint Fun« – »das weiße Hemd«, »der Lippenstift« und »die langen Haare«, wie Ramji sie voller Verachtung verdinglichend nennt – gefährden die Gestaltungshoheit sowohl der Regisseure über ihre Filme als auch der MufAEditeure über den Inhalt ihrer Website, indem sie die Einflussnahme von Rezipienten bzw. Zuschauern anstelle der autoritativen künstlerischen Abgeschlossenheit der Filme bzw. der Website in den Vordergrund rücken:

38 Uwe Wirth: »Der Tod des Autors als Geburt des Editors«, in: Text+Kritik 10 (2001), H. 152: Digitale Literatur Text+Kritik, S. 54-64, S. 58.

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»Die User, erläuterten die langen Haare (waren die eigentlich naß? Fettig? Gesprüht, gespritzt?) sollten »jedenfalls unbedingt« aktiv in die Gestaltung des contents miteinbezogen werden, daraus müsse folgen: Neben Uploadmöglichkeiten sollten Bewertungsfunktionalitäten und Empfehlungstools sowie Interaktionsmöglichkeiten mit den Filmschaffenden bereitgestellt werden.« (S 68)

Ramjis Entsetzen über die seinen diametral entgegengesetzten Vorstellungen des Kreativteams entlädt sich schließlich in der verzweifelt-komischen Frage: »und wenn sie uns zum Bloggen zwingen? Müssen wir dann sterben?« (S 68) Hinter der Komik des offensichtlich übertriebenen (mentalen) Ausrufs verbirgt sich ein metafiktionaler Kommentar, der sich mit den im ersten Teil vorgestellten Überlegungen Daths zur Bedeutung des Subjektiven in der Kunst in Zusammenhang bringen lässt. »Der Blogschmarren«, so heißt es im Vorwort zu Heute keine Konferenz, »beleidigt die Intelligenz des Publikums im leider üblichen Durchschnittsfall« und ist damit ein Beispiel für »genau das schlechte Besondere«, das keine Kunst ist (K 24). Eine ähnliche Einschätzung lässt sich aus Ramjis Ausruf ablesen: Der Umfang, in dem das »Bureau Saint Fun« die User in die Gestaltung der Website einbeziehen will, bedeutet für Ramji den Einzug jener ungefilterten »kruden Subjektivität« in das Projekt, die er auch dem Bloggen zuschreibt und die dem Selbstverständnis der MufA-Redaktion als kollektives Textich widerspricht. Darüber hinaus zeichnet sich das Bloggen aber durch einen anderen, negativen Aspekt aus, den Ramji im Gespräch mit der Filmstudentin Sinja thematisiert. Ramji will von Sinja wissen: »Wie wichtig ist Dir das, einzeln allein vor dich hin…[…], seit wir die Computer haben, gibt’s ja diese Tendenz, daß man Leute mit immer weniger schlechtem Gewissen alleine vor sich hin träumen und wursteln läßt, so. Während du dir früher irgendeine Zeitung suchen mußtest […] kannste jetzt halt bloggen.« (S 92f.)

Das Tagebuchschreiben im Internet wird hier vor allem als einsame Tätigkeit gekennzeichnet, die man »alleine vor sich hin« betreibt und über die man entsprechend die größtmögliche Kontrolle hat. Diese Autorität aber, so führt der Text weiter vor, ist nicht identisch mit der von Ramji konstatierten Entmündigung der Zuschauer durch den Film. Letztere, so betont Sinja, resultiert aus dem Festhalten an einer ästhetischen Absicht, die durchaus in Kooperation mit anderen Künstlern entstehen kann: »Ich glaube, das kann man rauskriegen: Welche Sachen man alleine machen muß, damit sie so bleiben, wie sie gemeint sind, und welche Sachen man mit anderen Leuten machen muß, damit sie werden, was sie werden sollen.« (S 95f.) Anders als beim Bloggen ist also die alleinige Autorschaft keine Vorbedingung von Kunst, sondern eine mögliche, bzw. im Einzefall eben auch: notwendige, Folgerung

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aus der ästhetischen Intention des Autors bzw. der Autoren, deren Verwirklichung an erster Stelle steht, wie Sinja auf Ramjis Frage »Spielt Kontrolle überhaupt ’ne Rolle?« erläutert: »Ja. Schon. Aber eher die Kontrolle darüber, daß das, was ich mache, so gut ist, wie ich es machen kann. Wie ich es will.« (S 97) Als Zwischenergebnis lässt sich festhalten, dass der Roman Ramjis Arbeit als Editeur von Kunst in die Nähe des Künstlers selbst rückt. Dabei muss sich Kunst ebenso wie ihre gelungene Vermittlung an einem ästhetischen Sinn orientieren, der dem Künstler bzw. dem Vermittler von Kunst die Umsetzung vorgibt, die unter Umständen in der Kooperation mit anderen besteht, insofern diese die übergeordnete ästhetische Absicht teilen. Zentral ist dabei, dass der (oder die) Künstler sich der ästhetischen Absicht unterwirft (unterwerfen) und damit letztlich immer eine vermittelnde Funktion innehat (innehaben). Diese Auffassung ließe sich in die (antike) Tradition des poeta vates stellen, in welcher der »Autor als unbewußtes Medium« erscheint, »das den Text zwar in einem materiellen Sinne hervorbringt. Ursprung und Geltungsanspruch des Textes liegen aber nicht in ihm, sondern in einer göttlichen Instanz«,39 für welche der Dichter als Mittler dient. Die narrative Konstruktion des Romans, so möchte ich abschließend zeigen, unterstützt diese Deutung. Die bisher beschriebene, verhältnismäßig realistische Handlungsbene ist im Roman eingebettet in eine phantastische Wirklichkeitsebene, die direkt zu Beginn des Romans vorgestellt wird: »Die, der wir alles verdanken, schläft. Wenn sie aufwacht, sind wir tot.« (S 9) Eingeführt wird hier eine geheimnisvolle Schlafende, die Romangeschehen und -Personal erschafft, indem sie sie träumt. Das übliche Verhältnis von Traum und Realität wird damit verkehrt.40 Das Erwachen der Schlafenden, das zum Glück ausbleibt, bedeutete hier gerade nicht das Wiedereinsetzen der (fiktiven) Wirklichkeit, sondern überführte sie in »Nichtsubjekt«, »Nichtsein« und »Nichtattribute« (S 9).41 39 Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez, Simone Winko: »Rede über den Autor an die Gebildeten unter seinen Verächtern. Historische Modelle und systematische Perspektiven«, in: dies. (Hrsg.): Rückkehr des Autors, S. 3-35, S. 4. 40 Dieses Motiv ist keine Erfindung Daths, sondern findet sich auch bei anderen Autoren, vgl. z.B. Jorge Louis Borges: Die kreisförmigen Ruinen, in: ders., Gesammelte Werke, hrsg. von Gisbert Haefs, Fritz Arnold, Der Erzählungen erster Teil: Universalgeschichte der Niedertracht. Fiktionen. Das Aleph, München, Wien 2000, S. 130-136, und in jüngerer Zeit die Erzählung Oblivion von David Foster Wallace (in: ders., Oblivion. Stories, London 2004, S. 190-237), der im Roman auch explizit erwähnt wird (allerdings hier als Autor von Infinite Jest, S. 57). 41 Das schließt übrigens die Schlafende keinesfalls aus, wie Ramjis Freund und Kollege Georg Langowski erläutert: »Sie muß in ihrem Traum vorkommen, als

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Ramji ist der homodiegetische Erzähler, der die Traumbilder in Worte zu fassen sucht und damit den Text der Erzählung stiftet. Sein Erzählen ist damit sowohl in perspektivischer als auch in medialer Hinsicht problematisch. Zum einen ist er selbst Teil des Traumes und kann nur aus seinem Blickwinkel berichten, wohingegen die Schlafende als Schöpferin ihres Traumes und damit der fiktiven Wirklichkeit eine überschauende Perspektive einnimmt und ihm an Wissen überlegen ist. Zum anderen muss Ramji Traum-Bilder in Worte fassen. Sein leitmotivisch wiederkehrender, metafiktionaler Kommentar zu dieser doppelten Mittelbarkeit lautet: »Die Sätze für Bilder; die Bilder kein Film, man wird sich das selbst zusammensetzen müssen. Ich bin bloß die Kamera, Ramji Iwein. Drehbuch und Regie: ein Geheimnis. Phanopoeia.« (S 9 u.ö.)

Um die Besonderheiten seines Erzählens herauszustellen, setzt Ramji es in Beziehung zu einem anderen Medium, nämlich dem Film – ein intermedialer Bezug, der auch im Untertitel Filmroman verankert ist.42 Ramjis Vergleich seines Erzählen mit der Arbeit eines Kameramannes, dem Drehbuch und Regie verborgen bleiben, hebt erstens auf seinen Wissensrückstand gegenüber der Schlafenden ab und stellt so gleichzeitig heraus, dass dem präsentierten Material eine Auswahl und ein Konzept zugrundeliegen. Denn dass Regie und Drehbuch ein »Geheimnis« sind, heißt ja keineswegs, dass sie nicht existierten: Der Bildverlauf ist nur »[s]cheinbar konfus, in Wirklichkeit hochorganisiert« (S 9). Ein Kameramann, der nur die Ausschnitte der Wirklichkeit filmt, die ihm vorgegeben werden, ohne von vornherein Handlung und einen wie auch immer gearteten Sinn des Ganzen zu kennen, ist vom Film-Zuschauer schließlich gar nicht mehr so weit entfernt. Zurückübertragen auf den Text nähern sich damit der Erzähler Ramji und die Leser einander an: Beide sind einerseits Rezipienten, die sich anderseits aber die präsentierten Bruchstücke »selbst zusammensetzen müssen«, damit sie zu dem von »Drehbuch und Regie« vorgesehenen ästhetischen Produkt, dem »Film« oder Filmroman, werden. Ramji selbst weist daraufhin, dass in seinem Erzählen die Grenze zwischen Produktion und Reproduktion fließend sind, wenn er Träumende, denn nur dann träumt sie wirklich die ganze Welt. Wäre sie nicht drin, fiele alles zusammen, das ist eine Art Schleife, Schlaufe, eine Kleinsche Flasche.« (S 185). Die Klein’sche Flasche als gekrümmte Fläche, die sich derart in sich selbst zurückbiegt, dass man auf ihr, anschaulich gesprochen, übergangslos von innen nach außen gelangt, versinnbildlicht die unlösbare Verschränkung von realistischer und phantastischer Wirklichkeitsebene im Roman. 42 In der Terminologie Rajewskys handelt es sich damit um eine explizite, discoursspezifische intermediale Erwähnung des Systems Film, vgl. Irina O. Rajewski: Intermedialität, Tübingen, Basel 2002, S. 80-83.

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anmerkt: »Ich rede wie ein Buch, das ich in einem anderen Leben gelesen oder geschrieben habe.« (S 9, Herv. F.B). Auf ähnliche Weise spiegeln sich auch die narrativen Funktionen von Figuren, die der Text selbst zu trennen vorgibt: Die Schlafende, so zeigt Ramji sein Freund Georg, träumt in einem geheimnisvollen Raum des MufAGebäudes, das im wörtlichen Sinne »a little queer« (S 37) ist. Hier sieht sie sich, da sie in der Konstruktion des Romans Ramji und Georg träumt, vermittelt durch deren Augen. Darüber hinaus träumt sie auch direkt von sich selbst und tritt außerhalb ihres Schlaf-Raumes als äußerst wache und wortgewandte Irene Fellchen auf, in die Ramji sich prompt verliebt und die er als Redakteurin für sein Projekt gewinnen möchte: Sie soll dort den vermittelnden Text zu den Filmen verfassen und somit eine analoge Funktion für das fiktive Projekt übernehmen wie Ramji, der ihre Traumbilder mit dem Roman verbalisierend vermitteln soll. »Solche Spiegelungen«, so lässt sich mit Borges sagen, »legen die Vermutung nahe, daß, sofern die Charaktere einer Fiktion auch Leser oder Zuschauer sein können, wir, ihre Leser oder Zuschauer, fiktiv sein können«43 – ein Verwirrspiel, dass den Roman mit der digitalen Kunst Daths verbindet. Zweitens hebt das Leitmotiv von Ramjis Erzählen auf den oben erwähnten medialen Transfer ab, den es leisten soll, auf das Verhältnis von Wort und Bild. »phanopoeia«, so gibt die Website www.cyrusgolden.de Auskunft, bezeichnet in Anlehnung an Ezra Pound den »Anteil am Dichten der sich damit befaßt, Bilder zu machen« (CG) und wäre damit die adäquate »Übersetzung« der Traumbilder in Sprache. Jedoch stellt Ramji heraus, dass diese Kunstform ein Ideal ist, dessen Realisierung an den Mediengrenzen scheitert: »Bilder können täuschen, aber wie notwendig täuscht dann erst Sprache, die so tut, als könne sie wie Bilder funktionieren?« (S 27) Wozu, so könnte man fragen, soll Sprache überhaupt Bilder erzeugen, warum kann sie nicht Kunst mit den ihr eigenen Mitteln sein? Weil vollendendete Kunst dem Traum gleicht, so ließe sich die Antwort des Romans auf diese Frage zusammenfassen, und der Traum nun einmal visuell ist. Daraus ergibt sich, dass Kunstformen, die mit Bildern arbeiten, wie zum Beispiel der Film, dem ästhetischen Ideal am nächsten kommen. Es dürfte bereits deutlich geworden sein, dass der narrativen Konstruktion des Romans diese Idee vom Traum als idealer Kunst zugrundeliegt; inhaltlich wird sie durch Ramjis cineastische Faszination und seine Ansätze einer Art psychoanalytischer Filmtheorie zum Ausdruck gebracht. In pointierter Form ist sie dem Roman als Zitat Heiner Müllers vorangestellt: 43 Jorge Louis Borges: »Magische Einschübe im Quijote«, in: ders., Gesammelte Werke, Der Essays dritter Teil: Inquisitionen. Vorworte, München, Wien 2003, S. 52-55, S. 55.

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»Angst wird abgearbeitet, indem man sie träumt. Das Problem des Schriftstellers, überhaupt des Künstlers, ist doch, daß er sein ganzes werktätiges Leben versucht, auf das poetische Niveau seiner Träume zu kommen.«44

Entsprechend bemüht sich Ramji darum, einen nicht-diskursiven, bildhaften Stil45 zu finden, durch den das »Traumgleichgewicht nicht gestört wird« (S 9) und die Schlafende nicht erwacht, denn »[k]lar erzählt, deutlich ausbuchstabiert, offen angezeigt müßte das, was hier steht, sie wecken« (S 9). Offensichtlich gelingt Ramji eine solche Erzählung – der Roman klopft sich hier gewissermaßen selbst auf die Schulter. Denn endet auch der realistische Handlungsstrang in einem Desaster (das Online-Projekt scheitert an bürokratischen und fianziellen Hürden), so gibt es auf der übergeordneten phantastischen Ebene ein glückliches Ende: Ramji findet den Raum der geheimnisvollen Schlafenden und erfüllt ihren Wunsch: »Sie will, daß ich zu ihr komme. Sie will, daß ich mit ihr schlafe.« (S 253) Ramji hat so die höchste Aufgabe des Künstlers, wie sie sich als Quintessenz der Dath’schen Poetologie formulieren ließe, erfüllt: Er ist seiner ästhetischen Absicht nahe gekommen. Dath reagiert damit, so ließe sich die Eingangsfrage schließlich beantworten, auf die allgemeine Digitalisierung von Kunst und Autor wiederum mit einer Analogisierung: Letztlich erscheint jede Art von Kunst – inklusive der digitalen – als ein vom Künstler geschaffenes Abbild einer ästhetischen Idee – und zwar als Abbild, das, so sehr diese Idee auch durch die mediale Verfasstheit virtualisiert erscheint, sich doch durch die Ähnlichkeitsbeziehung zu ihr konstituiert.

44 Auf den ersten Satz des Mottos gehe ich hier aus Platzgründen nicht ein; dies wäre natürlich für eine umfassende Interpretation des Romans unbedingt nachzutragen. Das Motiv der Aufarbeitung von Ängsten und Abneigungen durch Kunst steht im Zusammenhang mit den bereits erwähnten Ideen Ramjis zu einer psychoanalytischen Filmttheorie und liegt auch seinem Erzählen zugrunde: »Ich haßte Sprache und wurde zur Strafe dafür dazu verurteilt, mich selbst zu etwas umzurüsten, das nur aus Sprache war. Ich zog meine Bilder aus und blieb als Wortrest zurück.« (S 27) 45 Genauer lässt sich die Erzählweise des Romans über weite Strecken als filmisches Erzählen beschreiben; eine ausführliche Anlayse wäre eine eigene Studie wert. Vgl. dazu schon allgemein: Philipp Löser: Mediensimulation als Schreibstrategie. Film, Mündlichkeit und Hypertext in postmoderner Literatur, Göttingen 1999.

Benjamin von Stuckrad-Barre C HRISTA K ARPENSTEIN -E SSBACH /W OLFGANG E SSBACH (M ANNHEIM /F REIBURG )

Wer sich via Internet über den Schriftsteller und Medienarbeiter Benjamin von Stuckrad-Barre informiert, findet auf youtube u.a. einen kleinen zehnminütigen Film Stuckrad im Aargau, der aus der neunteiligen Doku-Serie von 2005 Stuckrad bei den Schweizern des Schweizer Senders SF2/DRS stammt. Man sieht von Stuckrad-Barre in einem kleinen Schweizer Dorf auf eine LKW-Fahrerin warten, die er mit ihrem Wagen gemietet hat, um mit ihr ein Stück durch die Schweiz zu fahren. Eine Handkamera zeichnet das Gespräch zwischen den beiden auf – eher ein Geplänkel, das aus einer Mischung von Nichtigkeiten, Stereotypen, Versatzstücken eines Anbahnungsdiskurses, fast existentiellen Fragen nach Freundschaft und Liebe, Zuwendung und Distanz, Witz und Ernst besteht. Gefragt zum Beispiel nach den wünschenswerten Eigenschaften der Frau nennt von Stuckrad-Barre: »lange Haare« und »Autofahren«, woran sich der Dialog anschließt: »Stuckrad-Barre: Ja, der Charakter natürlich, der muss auch da sein. LKW-Fahrerin: Ja, welcher Charakter? Stuckrad-Barre: Is’ egal. LKW-Fahrerin: Ihr Männer seid ja schon oberflächlich. Stuckrad-Barre: Ja, klar. LKW-Fahrerin: Bei uns Frauen ist das aber … Stuckrad-Barre: Ja, aber das ist doch nichts Neues.«

Und nach einem längeren Austausch über Charakterfragen endet dieser Dialog: »LKW-Fahrerin: Kennst Deinen eigenen gar nicht? Stuckrad-Barre: Überhaupt nicht.«

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Es gibt, dem völlig undramatischen Charakter der Dokumentation von Alltagssituationen, Gewohnheiten und Klischees entsprechend, kein Drehbuch, aber der Film ist dennoch bearbeitet. Sein Ablauf wird von sehr kurz eingeblendeten Photos unterbrochen, die schöne und hässliche, junge und alte, posierende oder nachlässige Frauen und Männer zeigen und als Kommentar zum Gespräch fungieren. Der Dichter, der hier für eine Fernsehsendung agiert, hat nichts ästhetisch Anspruchsvolles oder Tiefsinniges zu vermelden, vielmehr wird nahezu alles zum Anlass eines mit Naivität versetzten Staunens und Verwunderns, dem nichts selbstverständlich bleibt und dem alles komisch und grotesk wird – so etwa, wenn die LKW-Fahrerin sich über die Funkverbindung mit »CQ« meldet und von Stuckrad-Barre daraufhin fragt: »Du bist die C-Kuh? Bitteschön, ’ne richtige A-Kuh eigentlich«. Ohne jede künstlerische Ambitioniertheit realisiert der Film insgesamt eine Situationskomik, die seinen dokumentarischen Charakter in leichte Unterhaltung verwandelt, weshalb das Schweizer Fernsehen ihn auch mit der Formatbezeichnung einer Doku-Soap ausstrahlte und er bei youtube zum Vergnügen ins Netz gestellt wird. Wie dieser kleine Film die Grenzen von Einzelmedien mit ihren Formatvorlagen unterläuft, so von Stuckrad-Barre selbst die zwischen Literatur und Medien. Neben dem literarischen Werk stehen journalistische Arbeiten, CD-, Film- und Fernsehproduktionen, Talkshowauftritte, häufiger mit kleinen Skandalen verbunden, und als Großereignis inszenierte Lesereisen. Von Stuckrad-Barres Werk – wenn man dieses Spektrum an gestaltenden Aktivitäten mit dem für den Bereich der Künste reservierten Begriff bezeichnen will – reagiert auf die Konkurrenzlage zwischen Medien und Künsten mit thematischen wie ästhetischen Fusionen und Kombinationen, die die Trennung zwischen beiden geradezu dreist in Frage stellen.1 Spätestens seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts dynamisieren Medienkonkurrenzen den Gestaltwandel der Künste, wie umgekehrt Leistungen, die die Künste traditionell erbracht haben, in ästhetische Praxen technischer Medien Eingang finden, was sich etwa in so genannten »filmischen« Schreibweisen des Romans, in der Verhässlichung des Ästhetischen durch Schock oder Provokation im Theater ebenso zeigt wie in den bei Pädagogen noch immer beliebten Literaturverfilmungen als Nobilitierung des ansonsten künstlerisch unterbemittel-

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Christa Karpenstein-Eßbach: »Medienkonzepte in deutscher Gegenwartsliteratur. Vorläufige Skizzen zu einem Forschungsprojekt«, in: Fragmente 27/28, Kassel 1988, S. 207-215; Dies., »Inszenierungen der Schrift. Literatur und Medienkonkurrenz«, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 28. Jahrgang, Heft 112 (1998), S. 25-31.

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ten Mediums Film oder in den medialen Adaptionen einer Wirkungsästhetik des Mitleids. Auf diese Konkurrenzen und Interferenzen können Schriftsteller mit der radikalen kulturpessimistischen Medienkritik eines Botho Strauß, mit der beschaulichen, an anderen Künsten wie der Malerei anteilnehmenden Ästhetisierung des eigenen Schreibens eines Peter Handke oder mit der jovialen Selbstinterpretation des eigenen Bücher- und Bilderwerks in gehobenen Fernsehsendungen wie bei Günter Grass reagieren. Die Beispiele für Strategien der literarischen Arbeit an, auf und mit der Grenze beziehungsweise Durchlässigkeit zwischen Künsten und Medien ließen sich vermehren, sodass damit ein ganzer Katalog literarischer Praxen im ästhetischen Feld des 20. Jahrhunderts und weiter erstellt werden könnte. Der Eintrag von von Stuckrad-Barres Werk in dieses Feld erfordert dennoch beachtliche Modifikationen, die nicht zuletzt auch die Literaturkritik offensichtlich höchst irritiert haben. Während im Fall von Handke oder Grass die Bezüge auf nicht-literarische ästhetische Praxen im Bereich der Künste – in diesem Fall der Bildenden Künste – angesiedelt sind und hier von »Intermedialität« gesprochen werden könnte, wenn »Künste« kurzerhand – aber zu kurz gedacht – als »Medien« begriffen werden, praktiziert von StuckradBarre eine geradezu hemmungslose Öffnung gegenüber den neuen Medien der Massenkultur insgesamt. Hier ist Intermedialität im strengen Sinne der literarischen Referenz auf Praxen technischer Medien zu finden. Hinzu kommt, was im ebenfalls strengen Sinne als Multimedialität zu bezeichnen ist: nämlich die Nutzung verschiedener Medien für artifizielle Gestaltungsweisen und für die Inszenierung von Literatur. Ute Paulokat hat in ihrer Arbeit zu Benjamin von Stuckrad-Barre diese zweifache Transgressionsbewegung zwischen Literatur und Medien eingehend untersucht und expliziert sie als Strategien, mit denen »sogar eine Statussicherung und ein Prestigegewinn der Literatur erreicht werden« kann.2 Insofern wird man in den interund multimedialen Schreib- und Inszenierungspraxen des Medienarbeiters und Schriftstellers von Stuckrad-Barre eine Reaktion auf die Verkündigung vom Ende der Gutenberg-Galaxis sehen dürfen, die sich clownesque, verwundert und traurig der Mittel bedient, die ihr die Wunde schlugen, verbucht unter dem Namen Popliteratur, der eine Gruppe von Schriftstellern seit den

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Ute Paulokat, Benjamin von Stuckrad-Barre. Literatur und Medien in der Popmoderne, Frankfurt a.M. 2006, S. 230. Über die grundständige Untersuchung von Stuckrad-Barres Werk hinausgehend werden literaturhistorische, medienhistorische und literaturkritische Kontexte breit entfaltet. Dort findet sich ebenfalls eine umfängliche biographische Erschließung von Stuckrad-Barres Werk.

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90’er Jahren zugeordnet wird. Der 1975 als jüngstes von vier Geschwistern einer Pastorenfamilie bei Bremen geborene von Stuckrad-Barre ist zugleich das jüngste Mitglied im sogenannten »Popkulturellen Quintett« mit Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel und Alexander von Schönburg.3 Drei Aspekte interessieren hier besonders: die Tradition des Populären mit ihren Verbindungen zu Politik und zum Vergnügen, die Relationen von intermedialer Vertextung und multimedialer Inszenierung und die Flüchtigkeit des Performativen.

POPULARITÄT Die Frage, wie Schriftsteller inter- und multimedial arbeiten, ist eng verflochten mit der anderen Frage, auf die von Stuckrad-Barre und andere Popliteraten eine Antwort geben mussten: Welcher Wert soll ihren Produktionen im Hinblick auf überlieferte oder neu zu entwerfende künstlerische Ideale zukommen? Wertbestimmungen entstehen in der Regel durch Abgrenzungen. So hat die erwachende bürgerliche Literatur im 18. Jahrhundert ihre Ideale gegen den Stil höfisch-aristokratischer und geistlich-konfessioneller Literaturproduktion abgesetzt. Das Verhältnis zur Kultur der Unterschichten, das die bürgerlichen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts entwickelten, war dagegen ambivalent. Märchen und Volkslieder der bäuerlichen Schichten faszinierten, auch Puppentheater, Jahrmarkt und fahrendes Volk inspirierten zu literarischen Produktionen, aber je mehr sich im Zuge des Urbanisierungsprozesses in den großen Städten eine Pennypress und eine massenkulturelle Trivialliteratur ausbreitete, um so mehr profilierten sich ästhetische Wertbestimmungen in Abgrenzung von der populären Literatur, deren Leserkreis sich mit der Alphabetisierung der Bevölkerung ständig erweiterte. Die Abgrenzung vom Trivialen der bloßen Unterhaltung konnte dabei kunstreligiös befestigt werden und sich in der Dichotomie von E- und U-Literatur nach je dominierendem Konsumverhalten in den sozialen Schichten auch empirisch verifizieren lassen.4 Diese Abgrenzung nach unten, verbunden mit einer bürgerlichen Selbstaristokratisierung, ist seit 1900 periodisch wiederkehrenden Angriffen avantgardistischer Gruppen ausgesetzt, die einen Bezug zur alltäglichen Erfahrungswelt der urbanisierten Unterschichten herstellen. Im Arsenal der

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Joachim Bessing und Christian Kracht: Tristesse Royale. Das Popkulturelle Quintett mit Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander von Schönburg und Benjamin von Stuckrad-Barre (1999), München 2002, S. 93f. Kaspar Maase: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 18501970, Frankfurt a.M. ³2001.

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Avantgarde befanden sich verschiedene Techniken und Präferenzen: Die Dinge des Alltags, zum Beispiel Zeitungsausrisse, Reklameschilder und andere Banalitäten, wurden in Montagen und Collagen geadelt, das Revolutionäre des Volkes oder der Arbeiterklasse lieferten dazu einen ästhetischen Mehrwert. Schließlich waren Avantgardisten immer auch die ersten, die mit neuen Techniken zwischen Medien experimentierten, und überhaupt sollten die Grenzen der Kunst verschwinden und die Kunst aus ihrem bürgerlichen Gefängnis ins Leben entlassen werden. In dieser Konstellation bewegte sich auch die Popliteratur, die in den USA der 50er-Jahre entstand, Mitte der 60er-Jahre in Deutschland rezipiert wurde und deren Verbreitung mit der studentischen Protestbewegung zeitlich zusammenfiel.5 Diedrich Diedrichsen hat diese Popliteratur, zu der Rolf Dieter Brinkmann und andere gehörten, als »Pop I« abgekürzt und entschieden von »Pop II« abgegrenzt, der Literatur derer, die im Hotel Adlon in Berlin als »Popliterarisches Quintett« ihre Gespräche führten: »Während Pop-Kultur I unabhängig von ihren konkreten Inhalten immer einer oppositionellen Struktur folgte, als Komplement und Konkurrenz zur defizitären Repräsentationspolitik des Parlamentarismus und alter Herrschaftskulturen, bietet Pop II Matrizen für alles, innerhalb und außerhalb des normalen Spektrums.«6

Um diese Bewertung einzuschätzen, muss man den Blick zurückwenden. Wenige Wochen nach dem Pariser Maiaufstand hielt Leslie A. Fiedler im Juni 1968 im alten Theatersaal der Universität Freiburg seinen berühmten Stehgreifvortrag Cross the Border, Close the Gap. The Case for Postmodernism, ein Beitrag, der den Streit sowohl um die Postmoderne als auch die

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Lutz Hieber; Stephan Moebius (Hrsg.): Avantgarden und Politik. Künstlerischer Aktivismus von Dada bis zur Postmoderne, Bielefeld 2009. Dirck Linck; Gerd Mattenklott (Hrsg.): Abfälle. Stoff- und Materialpräsentation in der deutschen Pop-Literatur der 60er Jahre, Laatzen 2006. Diedrich Diedrichsen: »Ist was Pop?« (1997), in: ders., Der lange Weg nach Mitte. Der Sound und die Stadt, Köln 1999, S. 272-286, hier S. 284. Einen Verlust an kritischer Substanz bemängeln auch Johannes Ullmaier: Von Acid nach Adlon. Eine Reise durch die deutschsprachige Popliteratur, Mainz 2001 und Sascha Seiler: »Das einfache wahre Abschreiben der Welt«. Popdiskurse in der deutschen Literatur nach 1960, Göttingen 2006. Differenzierter urteilen Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten, München 2002; Heinrich Kaulen: »Jugendliche Lebenswelten im Spiegel der deutschsprachigen Popliteratur seit den 1990er Jahren«, in: Literatur im 21. Jahrhundert. Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, 55. Jahrgang, Heft 2/2008, S. 120-142; Frank Degler, Ute Paulokat: Neue Deutsche Popliteratur, Paderborn 2008; jüngst erschienen Thomas Hecken: Pop. Geschichte eines Konzepts 1955-2009, Bielefeld 2009.

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Popliteratur eröffnete.7 Fiedler proklamierte den »Tod der Moderne« und bezog sich dabei sowohl auf die industrielle Klassengesellschaft als auch auf die Klassiker der Moderne: Proust, Joyce, Eliot, Valéry. Die Literatur der Postmodernität, wozu Fiedler junge amerikanische Autoren wie Jack Kerouac rechnete, schließe den Graben zwischen seriöser und trivialer Literatur, sie sei antihierarchisch und ziele auf eine Gesellschaft der Selbstorganisation, »der tiefen Sehnsucht nach dem Stamm: nach einer Gesellschaftsform, die den Autoren wünschenswerter erscheint als den beengenden bürgerlichen Familien, denen sie entstammen, und der seelenlose, unmenschliche, durch und durch bürokratisierte Staat, der sie zur Schule und zur Universität schickt und ihnen dann ihren Platz in der Gesellschaft anweist.«8

Die neue Literatur kommuniziere mit den Träumen und Mythen breiter Bevölkerungsschichten, wie sie in den trivialen Genres des Western, des Science-Fiction und der Pornographie aufgegriffen würden. Die Reaktionen, die Fiedlers Vortrag in der BRD auslöste, indizieren ein Strukturmuster, das für die intellektuellen Positionskämpfe sowohl nach »1968« als auch nach »1989« bestimmend wurde. Es handelt sich um eine Gemengelage, in der zunächst einmal Anschlüsse an Mythen und erhabene Leidenschaft als prinzipiell faschismusverdächtig inkriminiert wurden. Gegen das Irrationale sollte dann reflexhaft die Rationalität der Moderne verteidigt werden. Literatur für die Massen habe aufklärend und bildend zu wirken. Dies Programm einer Art deutscher demokratischer Erziehungsliteratur war entschieden abzugrenzen gegen banale Unterhaltung, billigen Witz und reine Spaßliteratur, die allein kommerziellen Zwecken diene, wie dies in den USA der Fall sei. Zu Fiedlers Kontrahenten gehörte auch Martin Walser, der damals dabei war, sich an der DKP-Fraktion der Außerparlamentarischen Opposition zu orientieren. Seine Antwort an Fiedler in der sich anschließenden Debatte in Christ und Welt schickt er an Wolfgang Ignée mit der Bemerkung, er habe zunächst nicht widersprechen wollen: »aber, weil der SDS in Ferien war und ich daran dachte, dass Amerika seit Jahren dabei ist, die

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Leslie A. Fiedler: »Überquert die Grenze, schließt den Graben! Über die Postmoderne«, in: Wolfgang Welsch (Hrsg.): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim 1988, S. 57-74. Der Beitrag erschien am 13. und 20. September 1968 in Christ und Welt, der Kulturbeilage des Rheinischen Merkur, sowie ein Jahr später im Magazin Playboy. Vgl. dazu auch Protest! Literatur um 1968. Eine Ausstellung des deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar, Marbacher Kataloge 51, 9. Mai – 30. November 1998, S. 366f. Leslie Fiedler, zitiert nach: Protest! Literatur um 1968, S. 371.

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westliche Lebensart und -chance zu verderben, widersprach ich dem Schamanen-Gesang aus Neu-Wild-West.« Walser plädierte stattdessen für »die demokratische Literatur. Die angemessene Ausdruckspraxis. Die nicht kanonisierte Schreibe. Die demokratische, mythenzerstörende, mutmachende Schreibe, in der sich der demokratische Befreiungsprozeß manifestiert.«9

Diese nachhaltige Mischung aus antifaschistischen, antiamerikanischen und altlinken bildungsbürgerlichen Motiven, bei der auch die Bindungen an die kulturellen Eliten der DDR nicht aufgegeben werden sollten, bot den Popliteraten der 68er-Generation ebenso wie denen, die um 2000 ihre Stimme erhoben, eine dankbare Angriffsfläche. Und umgekehrt gerieten Popliteraten ins Sperrfeuer einer Literaturkritik, die ästhetische Innovationen nur dort erkennen konnte, wo kreative Abweichungen vom Kanon der klassischen Moderne und ihrer Renaissance in den etablierten literarischen Bahnen der 50erJahre erfolgten. Trotz aller Unterschiede zwischen der Popliteratur der Sixties und den Popliteraten, die 1999 im Hotel Adlon ihre traurigen Gespräche führten, existiert eine sich hierzulande fortlaufend regenerierende Demarkationslinie zwischen der Orientierung an der Vitalität und Treffsicherheit der amerikanischen Populärkultur und einer stilleren und langsameren, große Werke erwartenden Kulturgemeinschaft, zwischen einer universalistischen, libertär-anarchistischen Westbindung und einer auf Verantwortung insistierenden politischen Kulturstaatlichkeit, zwischen einer Freude am subversiven Witz der Inkorrektheit und des Vulgären und einer Sorge um die Intaktheit der moralischen Architektur der Demokraten. Diese Demarkationslinie wird erkennbar, wenn man sich die Frage vorlegt, welcher Art die Anschlüsse sind, die Benjamin von Stuckrad-Barre und das »Popkulturelle Quintett« mit der Popliteratur der Sixties verbindet. Im umfänglichen Register von Tristesse Royale sucht man zwischen »Brillant Komfort 300« und »Brioni« vergeblich nach dem Eintrag Rolf Dieter Brinkmann. Auch zwischen »Fatma-Bluegrass« und »FDP« fehlt der Eintrag Jörg Fauser, ebenso wie zwischen »Handbag« und »Hanes T-Shirt« der Eintrag Handke, obwohl zwischen den Markennamen auch immer wieder Schriftsteller auftauchen, auf die im Gespräch Bezug genommen wird: Eugène Ionesco, Hans Henny Jahnn, Walter Kempowski, Thomas Mann, Thomas Pynchon, Wolf Wondratscheck. Doch diese Abwesenheit der Autoren der Sixties im Manifest der Neuerfindung der Popliteratur im Hotel Adlon täuscht.

9

Martin Walser an Wolfgang Ignée, zitiert nach Protest! Literatur um 1968, S. 385f.

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Von Stuckrad-Barre berichtet, dass er aus Begeisterung für Jörg Fauser heraus mit dem Schreiben begonnen habe.10 Anlässlich des zehnten Todestages von Fauser verfasst er einen liebevollen Nachruf.11 Ein Fauser-Motto eröffnet den Roman Soloalbum, und von Stuckrad-Barres Held liest darin in den Nordsee-Dünen onanierend Fausers Gesamtwerk und faxt seiner Exfreundin ein Liebesgedicht Fausers.12 Für die Neuauflage der Jörg-FauserEdition schrieb von Stuckrad-Barre das Nachwort für Fausers Roman Rohstoff, aus dem er auch für ein gleichnamiges Hörbuch las.13 Jörg Fauser hatte Ende der 60er Jahre, drogenabhängig aus dem Istanbuler Drogenviertel Tophane zurückgekehrt, in Göttingen damit begonnen, seinen ersten Roman zu schreiben.14 Jack Kerouac und Gottfried Benn waren seine Leitsterne. Zugleich schrieb er unter anderem für die Untergrundzeitschrift Ulcus Molle Info, bereiste Marokko und sein Traumland, die USA. Reiseberichte erschienen in der Basler Nationalzeitung, er publizierte Gedichtbände und textete für Rockmusiker. Es folgten im Medium des Kriminalromans dichte Beschreibungen der Verlogenheit, Absurdität und Tristesse der bundesdeutschen Gesellschaft. Nachdem Jörg Fauser 1984 beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt seine Prosa vorgelesen hatte, erklärte Marcel Reich-Ranicki, das Werk könne von dieser Jury gar nicht beurteilt werden, da es sich um Unterhaltungsliteratur handle. In der heute recht skurril wirkenden Debatte, die auf youtube online gestellt ist, kreidet man Fauser die Aneinanderreihung von modischen Klischees und die Situierung seiner Lebensgeschichte an einem mediterranen Urlaubsort an. Fausers Art der genauen Beobachtung eines touristischen Alltags fiel in dieser Runde einer Literaturkritik zum Opfer, deren Naivität nur durch ihre Aggressivität überboten wurde. Der Schriftsteller Michael Köhlmeier und der Lektor Rainer Weiss erinnern sich: »Er [Fauser, d.V.] hat gelitten wie ein Hund, weil sein Text so zerfetzt worden war. Die Jury hatte auf seinen Text mit einem Haß reagiert, der beispiellos war. Das hatte nichts mehr mit Literatur und der Kritik daran zu tun gehabt. Das hat jeder im Saal gemerkt, das war gegen die Person gerichtet (Köhlmeier). Man hat ihm ja auch übel genommen, daß er nicht in den angesagten Literaturzeitschriften veröffentlicht hat,

10 11 12 13

Vgl. Paulokat, Benjamin von Stuckrad-Barre, S. 121. Benjamin von Stuckrad-Barre: Remix, Köln 1999, S. 199-203. Benjamin von Stuckrad Barre: Soloalbum. Roman, Köln 62008, S. 128-131. Benjamin von Stuckrad-Barre: »Durst war ja auch ein Synonym für Leben. Harry Gelb in Rohstoff« (2004), in: Jörg Fauser: Rohstoff. Roman, Jörg Fauser Werkausgabe, hrsg. von Alexander Wewerka, Bd. 2, Zürich 2009, S. 291-295. 14 Matthias Penzel, Ambros Waibel: Rebell im Cola-Hinterland: Jörg Fauser, Berlin 2004.

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sondern im Playboy oder im Lui, wo’s gute Honorare gab (Weiss). Oder in englischen Anarchistengazetten (Köhlmeier).«15

Die Klagenfurt-Jury waltete als Amtsinhaber kritischen Geistes so selbstherrlich wie die nach dem »Deutschen Herbst« rasch anwachsende Zahl derjenigen, die die Romantisierung und Vergemütlichung von »1968« betrieben und nun scharenweise entdeckten, dass sie damals eigentlich auch dabeigewesen waren.16 Während die Klagenfurt-Jury auf der Demarkationslinie zwischen Popularkultur und dem fortzuschreibenden Horizont der Gruppe 47 insistierte, überzogen die postterroristischen Vergemütlicher von »68« die nachwachsende Generation mit nicht enden wollenden Ermahnungen, die bekannten Formate von Protest und Demonstration doch bitte wieder mit Leben zu füllen. Dass dies nicht gelingen konnte, zeigt sich beispielhaft in den Produktionen der Popliteratur um 2000. Nach der Schilderung einer Demonstration »gegen Joschka Fischers Kriegspolitik«, an der das Popliterarische Quintett teilgenommen hatte, fragt Benjamin von Stuckrad-Barre: »Was haben wir eigentlich gerade auf dieser Demonstration erlebt: War es ein politisches Ereignis oder ein gesellschaftliches?« Und er stellt fest: »Es gab keine Sprechchöre, sondern nur einzelne Rufer. Die schrieen auch nicht wirklich, sagten ihre Sätze nur so vor sich hin. Es war ein vollkommen gemäßigter Spaziergang am Ende der 90er Jahre, verbunden mit dem Hochhalten einiger Transparente. Keine Freude, keine Überzeugungskraft. Eine pessimistische Prozession.«17

Und Alexander von Schönburg bemerkt daran anschließend: »Mit dem kollektiven Erlebnis einer Loveparade konnte diese Demonstration es nicht aufnehmen.«18 Solche und ähnliche, die altradikalen Seelen verletzenden Äußerungen gaben Anlass, um 2000 eine pragmatische und konservative Wende in der Jugendkultur zu diagnostizieren.19 Wer jedoch genauer liest, entdeckt ein anders gelagertes Problem, vor dem die Autoren stehen. Sie

15 Michael Köhlmeier, Rainer Weiss: »Erinnerungen an Jörg Fauser«, Frankfurter Rundschau, 16. Juli 2007. 16 Vgl. Wolfgang Eßbach: »1968 – Aufstand der Werte?«, Beitrag zur Tagung Vergesellschaftung der Werte: Wertedebatten in Deutschland seit 1945. Systematische und historische Aspekte (Veranstaltet vom Mitteleuropa Zentrum TU Dresden 4.–7. Mai 2006). http://www.soziologie.uni-freiburg.de/Personen/essbach/ online_publikationen/Essbach_Werte68.pdf. 17 Tristesse Royale, S. 93f. 18 Ebd. 19 Vgl. exemplarisch den Spiegel-Titel »Die jungen Milden«, in: Der Spiegel 28/ 1999.

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sehen sich in einer Situation, von der Alexander von Schönburg sagt: »Es ist ein allgemein akzeptierter Zustand, daß es keinen Spaß mehr macht, zu rebellieren, weil die Rebellion schon Teil des Systems ist.«20 Diese Erfahrung der Integration von Protest begleitet politische und kulturelle Oppositionsbewegungen seit dem 19. Jahrhundert, sei es als »Verbürgerlichung« der Arbeiterklasse, sei es als »Musealisierung« von Avantgarde, sei es als »Kommerzialisierung« jugendlicher Subkultur. Wie andere vor ihnen machen sich auch die neuen Popliteraten auf die Suche nach einem uneinnehmbaren Ort der Kritik. Dabei sondieren sie die bekannten Radikalisierungen, den Terrorismus und die Spiritualität: »Anzüge in Armani-Boutiquen hängen, die innen mit Kontaktgift bestrichen sind, so daß der Käufer sofort stirbt.« Oder: »Ich glaube, daß der Mensch sich letztendlich vom Tier dadurch unterscheidet, daß er einen göttlichen Funken in sich trägt. Und daß man aus der Spiritualität eine unglaubliche Kraft schöpfen kann, die, wie Heroin, alles zweitrangig macht.«21

Beides überzeugt nicht. Joachim Bessing glaubt, dass »Spiritualität oder Bombenwerfen nichts anderes sind, als Versuche, eine weiße Leinwand herzustellen, auf der wir noch einmal anfangen könnten.«22 Eine zweite Möglichkeit könnte in einer Provokation und Rebellion bestehen, die die Seiten wechselt. Nachdem von Stuckrad-Barre seine imaginäre Brille zerbrochen hat, merkt er: »Dann eben restaurativ, also alte Regeln und damit auch alte Tabus wiederherstellend.«23 Solche Richtungswechsel und ihre wiederkehrenden Korrekturen hat von Stuckrad-Barre auf den Rücklehnen der vorletzten Bank in Schulbussen gefunden: »Am interessantesten sind immer Hakenkreuze und was aus ihnen wird. Irgendwer schmiert ein Hakenkreuz. Dann streicht es jemand durch. Noch einer beläßt es nicht beim durchstreichen, sondern schabt die Oberfläche ab, wahrscheinlich mit einem scharfen, lebensgefährlichen Klappmesser, Aufrüstung im Kinderzimmer, schon klar. Der nächste nun ist wieder ein Böser und erneuert das Hakenkreuz. Vielleicht wird die Debatte auch verwässert durch unpolitische Beiträge von glühenden Popmusikpropagandisten, die Bandlogos applizieren. Wieder andere beschränken ihre Kritzeltätigkeit auf puristische Skizzen menschlicher Geschlechtsteile. Dann schreibt jemand Türken

20 Tristesse Royale, S. 119. 21 Joachim Bessing und Alexander von Schönburg, in: Tristesse Royale, S. 156 und 161. 22 Ebd., S. 157. 23 Ebd.

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raus, und ein vernünftiger streicht Türken durch und schreibt Nazis drüber, also Nazis raus. Die Regulative einer Demokratie am Beispiel einer Schulbussitzlehne.«24

Radikalisierung, Spiritualisierung, Richtungswechsel werden in der Popliteratur durchgespielt und ihre Ausweglosigkeit wird aufgezeigt. So ist nicht nur Tristesse Royale, sondern auch von Stuckrad-Barres Werk von Traurigkeit tangiert. Der Held in Soloalbum ist nicht nur unglücklich vor dem Spiegel, weil sein Bauch zu dick ist, weil er traurige Musik hört, die »immer trauriger wird«, sondern auch vor dem Fernseher, wenn Günther Jauch auf RTL ein operiertes Kind »aus dem Sudan oder so« fragt, wie ihm seine neue Nase gefällt: »Günther Jauch ist eine unmoralische Sau, glaubt aber, sehr einfühlsam zu sein, und spricht dabei wie mit einem Bekloppten oder einer alten Oma. Das Kind ist aufgeregt und sieht aus wie ein Baukastenfehlschuß, da paßt nichts zusammen, aber die Nase, die findet es selbst auch gut. Das Publikum klatscht, hat wohl auch gespendet, keine Ahnung. Selten wurde ich unsanfter geweckt. Jetzt kann ich nicht schlafen und finde doch nur wieder mal die Welt und alles verkommen.«25

Der Held ergeht sich in bittersüßer Traurigkeit: »Mein Leben wird immer leiser, immer weniger, immer dunkler; mir gefällt das aber, es wird nicht in einem kitschigen Selbstmordversuch enden oder so, das ist nicht nötig, es ist nur einfach alles nicht so, wie ich mir einmal das Leben, die Liebe vorgestellt hatte, aber das macht ja weiter nichts.«26

Daraus erwächst dann bisweilen ein misanthropischer Ekel vor den »Mirgeht’sgut-Fressen« oder den Partybesuchern, von denen es heißt: »All die bekifften Sweatshirt-Doofis hier, die haben alle ziemlich viel Sex, also die meisten, dabei sind sie so dumm und so wenig um Ästhetik bemüht, so eklig flexibel in ihrer Lebensführung, so ungenau in ihrem Urteil. Ihnen ist alles egal, vielleicht ist das das Rezept.«27

Wie seinerzeit Kommentatoren dies als Affirmation der Spaßkultur der 90erJahre haben lesen können, ist unverständlich. Es bleiben zunächst nur zwei Auswege, die sich für von Stuckrad-Barre auftun, zwei Auswege, die sich auch bei anderen Popliteraten auffinden lassen. Zum einen geht es, wie Moritz Baßler treffend herausgearbeitet hat, 24 25 26 27

Benjamin von Stuckrad-Barre: Livealbum, Köln 1999, S. 87. Stuckrad-Barre, Soloalbum, S. 81, 107, 88f. Ebd., S. 151. Ebd., S. 218.

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um eine Katalogisierung und Archivierung von Objekten des Konsums: Kleidung, Gebrauchsgüter, Nahrungsmittel, Möbel, CDs samt ihrer genauen Markennamen etc. Es handelt sich in dieser Perspektive bei der Popliteratur keineswegs um entpolitisierten Konsumkonformismus, sondern um eine Literatur, in der »in geradezu positivistischer Weise Gegenwartskultur mit einer Intensität, einer Sammelwut, wie sie im Medium Literatur in den Jahrzehnten zuvor unbekannt war«, archiviert wird.28 Das Verdienst von Baßler besteht darin, einen Weg gefunden zu haben, diese Popliteratur zusammen mit einer Theorie des kulturellen Archivs für die allgemeine Literaturwissenschaft überhaupt zugänglich gemacht zu haben.29 Aber es ist dies nur eine, der herkömmlichen Literaturwissenschaft bekömmliche Seite. Der zweite Ausweg, den insbesondere von Stuckrad-Barre aus der operativen Geschlossenheit und der unheimlichen Kompetenz moderner Systeme, Kritik und Protest zu absorbieren, entwirft, ist der Sprung in die Inter- und Multimedialität und der Entwicklung von flüchtigen Stilen der Performanz. Es geht hier um ein plötzliches Mittendrinsein, wie es Eckhart Nickel in kalkulierter Überblendung von Demonstration und Fernsehsendung schildert: »Als wir auf der Straße gingen, inmitten des Menschstroms, war es wie der Sprung des Fernsehzuschauers hinein ins Fernsehbild selbst. Er geschah in dem Moment, in dem wir auf die Polizeibarrikade vor dem Hotel stießen und die Polizisten uns zuerst wegen unserer Anzüge nicht durchlassen wollten, wir uns dann durchzwängen mußten und auf einmal mittendrin waren.«30

Dieser Ausweg steht gewiss im Horizont älterer avantgardistischer Fragen nach der Verbindung von Kunst und Leben, politischer Praxis und ästhetischer Produktion unter technisch-medialen Bedingungen, ohne sich allerdings des alten Avantgardismus mit seiner räumlich und zeitlich zugeschriebenen Vorreiterrolle noch sicher sein zu können, um an ihre Stelle den gnadenlosen Bezug auf den Momentanismus von Medialitäten zu setzen.

INTER- UND MULTIMEDIALITÄT Dass Literatur technische Medien thematisiert, gilt nicht nur für von Stuckrad-Barre, sondern schon für Thomas Mann. Medien im Zauberberg sind bekanntlich ein beliebter Gegenstand der Literaturwissenschaft und ihrer Studenten. In von Stuckrad-Barres Fall geschieht dies so exzessiv wie inten28 Moritz Baßler, Der deutsche Pop-Roman, S. 184. 29 Vgl. Moritz Baßler, Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie, Tübingen 2005. 30 Ebd., S. 93.

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siv und betrifft alle verfügbaren Kommunikations- und Unterhaltungsmedien: Telefon, Fernsehen, Radio, Film, Kassetten, Zeitschriften, CompactDiscs, Anrufbeantworter, Briefe, Bücher, Faxgeräte, e-Mails, Computer, einzelne Medienformate oder ISDN-Anschlüsse. In diesen Thematisierungen erweisen sich Medien als heutiger Urgrund der Ermöglichung von Selbstund Weltverhältnissen wie von Beziehungen, und man könnte sie mit Bezug auf Friedrich Kittler geradezu als technisches Apriori bezeichnen, wenn man bei dieser Übertragung nicht die Kittlersche harte technologische Fundierung von Medien in Rüstung und Krieg unterschlagen würde.31 Da geht es etwa in Remix, einer überarbeiteten Zweitverwertung von journalistischen Arbeiten, um »Kassettenmädchenkassetten« und »doofe Kassettenjungen«, die den Kassettenmädchen als »Mittel der Flirtunterstützung« Kassetten mit wenig stilvollen Namen wie »Emotional Music« oder »Heart-Attack« schenken.32 In der Erzählung Livealbum geht es um die Musikaufnahmen auf selbst zusammengestellten Kassetten, die Auskunft über Milieus, kulturelle Vorlieben und Distinktionen geben. Die Erzählung »Herunterfahren« aus BlackBox berichtet von geschriebenen, aber nicht abgeschickten Postkarten, deren erneute Lektüre den jeweiligen Illusionismus des schönen Urlaubs enthüllt, Soloalbum von dem beziehungsrelevanten Einsatz von kommunikativen Zeitverzögerungen per Anrufbeantworter, Brief, Fax oder Rückruf nach Displaynummernanzeige bei ISDN-Anschlüssen. In diesem Zusammenhang heißt es dort: »Seit 1405 Uhr wird zurückgerufen!«33 Diese thematische Intermedialität ist zum einen auf die funktionalen Leistungen von Medien für Kommunikationen und Aufzeichnungen bezogen, aber geht darüber hinaus, indem sie deren Nutzung einem humoresken Blick unterwirft, um sie als Formationsmittel und Muster für Beziehungen, soziokulturelle Distinktionen und unterschiedliche Lebensentwürfe zur Schau zu stellen. Wenn gilt: An ihren Medien werdet ihr sie erkennen, so wird gerade die Literatur zu einem Hypermedium der Beobachtung von Medien und Mediennutzungen. Eine andere Spielart von Intermedialität findet sich auf der Ebene der Form. Der Erzählband BlackBox. Unerwartete Systemfehler enthält acht Texte – »Tragödien unterschiedlichster Art«, so der Klappentext –, die im Inhaltsverzeichnis nach dem Modell eines Computermenüs aufgeführt werden und jeweils mit Icons und Klickanforderungen die folgenden Überschriften tragen: »herunterfahren«, »vom netz«, »speichern unter: krankenakte dankeanke«, »strg s«, »soundfiles«, »standarddokument«, »dialogfelder«, »neustart«. Der Computer, der das Modell für die literarische Komposition abgibt, kann als Universalmedium auch die unterschiedlichsten Schreibpro31 Friedrich Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986. 32 Stuckrad-Barre, Remix, S. 286f. 33 Stuckrad-Barre, Soloalbum, S. 92.

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gramme und Textsorten ermöglichen und speichern: Protokolle, Songtexte, Dialoge, ein Dramolett, ein Märchen, Gedichte. Einige Texte sind mit Navigationszeichen versehen, andere haben Überschriften in Form von Computerbefehlen wie »Inhalte einfügen (diese Einstellungen gelten)« und »bookmarks«, oder sie werden, wie im Kapitel »Direkthilfe«, zweispaltig als textuelles Dialogfeld gesetzt. Blättert man das Buch schnell von hinten nach vorn durch, so bemerkt man ein Daumenkino, das den Absturz eines Flugzeugs darstellt, womit der Computerbefehl »neustart«, unter dem die letzte Erzählung steht, von einem anderen Medium dementiert wird. Formale Übernahmen von Elementen anderer Medien in die literarische Darstellung zersetzen die gewohnten Kohärenzen von Einzelmedien (auch des Buches) und semantisieren in ihren Deformationen den Prozess von diversifizierten Aufzeichnungen medienvermittelten Lebens. Diese intermediale Kombinatorik unterscheidet sich beachtlich von literarischen Experimenten, wie sie Rainald Goetz mit seinem Internettagebuch Abfall für alle unternommen hat, bei dem es sich nicht um Intermedialität im strengen Sinne, sondern um einen Medienwechsel handelt, der dann später auch zurück zum Buch vollzogen wurde.34 Zur intermedialen Vertextung kommt bei von Stuckrad-Barre die multimediale Inszenierung von Literatur hinzu. Lesereisen werden zu Events, die in Kinosälen, Konzerthallen oder Clubs stattfinden, Popkonzerten, Performances und dem Kabarett weitaus ähnlicher sind als Autorenlesungen in Buchhandlungen und die vor allem Unterhaltungswert haben sollen. Auftritte bei diesen Reisen werden wiederum auf CDs zusammengestellt, so in Live Recordings (1999) oder Bootleg (2000), sie werden in Erzählungen verarbeitet wie in Livealbum (1999) oder als audiovisueller Mitschnitt im Fernsehen bei MTV gesendet, so BlackBox – Director’s cut (2001). Geradezu konventionell scheint demgegenüber die Veröffentlichung des Textes Deutsches Theater, eine Zusammenstellung von Zeitschriftenkolumnen als Hörbuch, aus dem ein Ausschnitt in der Harald-Schmidt-Show Premiere hatte.35 Weitaus ungewöhnlicher ist von Stuckrad-Barres Moderation eines Lesezirkels bei dem Musiksender MTV, mit dem er auf ein »TV-Total für die Printmedien« zielte.36 Die multimediale Praxis etabliert ein vielfältiges Beziehungsgefüge zwischen Literatur und Medien, das von der Zweit- oder Mehrfachverwertung von Texten, die von Zeitschriften in Bücher, von dort auf CDs oder in ganze 34 Rainald Goetz: Abfall für alle. Roman eines Jahres, Frankfurt a.M. 1999. 35 Paulokat, Benjamin von Stuckrad-Barre, S. 173. Hier auch die genauen Angaben zu den einzelnen Produktionen. 36 Benjamin von Stuckrad-Barre in einem Interview mit Christopher Keil, »Bloß keine Stille«, in: Süddeutsche Zeitung, 25.10.2001, S. 23.

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Filme wandern, über Live-Aufführungen von Literatur bis zur Selbstinszenierung des Autors in allen verfügbaren Medien und der Reliterarisierung anderer Medienereignisse oder Affären reicht. Verletzt werden alle Spielund Stilregeln, die die Grenze zwischen Literatur und der Pluralität der Medien im institutionalisierten Literaturbetrieb abstecken und die Orte bestimmen, an denen Literatur möglich beziehungsweise unmöglich ist. Inter- und Multimedialität stellen die Ordnungen literarischen Aussagens, die das Was und Wo regulieren, radikal in Frage und tangieren damit auch den Literaturbegriff – was die Literaturkritik verständlicherweise lange nachhaltig so irritierte, wie dies bei literarischen Normbrüchen immer wieder der Fall ist. Intermedial werden neue Themen und Formen etabliert, multimedial wird das Feld des Literarischen selbst erweitert.

PERFORMATIVITÄT Seit den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts lässt sich ein neues, kulturwissenschaftliches Forschungsinteresse feststellen, das – den Wendetheoretikern folgend – als performative turn bezeichnet wird.37 Es mag Zufall sein, dass die Konjunkturen des Performanzdiskurses und die der Popliteratur zusammenfallen. Dass aufgeführt, gespielt oder vorgeführt wird, ist weder in den Künsten, in den Medien, noch in politisch-kulturellen Aktionen oder rituellen Praktiken ein neues Phänomen. Trotzdem ist als verbreitetes diskursives Ereignis festzuhalten, dass Verschmelzungen von Gesagt und Getan, dass Formen der körperlichen Expressivität, geteilte Erfahrung im Augenblick, die Perforierung der Realitäts-Fiktions-Grenze, die Privilegierung von Präsenz gegenüber Repräsentation und Inszenierungen von (Selbst-)Darstell ungen ein besonderes Gewicht erhalten. Keine Gesellschaft, so Karl Ludwig Pfeiffer aus medienanthropologischer Sicht, kommt an der Notwendigkeit vorbei, spezielle Bereiche für psycho-physische Prozesse ausgeprägter Faszination und Erregung bereitzustellen.38 Eben dieses geschieht heute unter anderen Bedingungen als zur Zeit der griechischen Tragödie. Zum einen ist das Buch selbst ein ausgesprochen wenig performatives, sondern kontemplatives Medium, insbesondere in der Einsamkeit der Lektüre. Technische Medien hingegen erlauben zwar einen höheren Performativitätsgrad, doch dies, indem Performativität – etwa als filmische Aktion oder Talkshow – zur Schau gestellt wird, sodass wir es mit vermittelter Performativität zu tun

37 Erika Fischer-Lichte: »Vom ›Text‹ zur ›Performance‹. Der performative turn in den Kulturwissenschaften«, in: Kunstforum, Bd. 152, Oktober-Dezember 2000, S. 61f. 38 Karl Ludwig Pfeiffer: Das Mediale und das Imaginäre, Frankfurt a.M. 1999.

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haben. Wenn Performanz theoretisch problematisiert und praktisch eingeführt wird, so darf man diese doppelte Konjunktur als Ausdruck des Problems sehen, das die gegenwärtige Gesellschaft mit ihr hat. Der Medienarbeiter und Schriftsteller von Stuckrad-Barre fügt sich in diese Lage ein. Er schreibt aber nicht für den traditionellen Ort literarischer Performativität, das Theater, sondern er betreibt die Aufführung des Buches als Eventisierung von Literatur für ein Massenpublikum. Statt fiktiver Gestalten auf einer vom Wirklichen abgesperrten Bühne, agiert der Autor selbst im performativen Vollzug seines Textes. Nicht Kein Ort. Nirgends für die Literatur wie bei Christa Wolf. Im Gegenteil: Ausdehnung ihrer möglichst unmittelbaren Erfahrung mit allen Mitteln der Präsenzerzeugung, so lautet das Programm. In der multimedialen Performanz von Literatur fallen Produktion und Rezeption tendenziell zusammen; vermittelt über die Realpräsenz des Autors bei seinen Live-Auftritten entsteht etwas Neues, das – der Logik von Performances entsprechend – seine Faszinationskraft dadurch gewinnt, dass es jetzt nicht technisch reproduzierbar ist. Man darf darin wohl eine Antwort auf die Mediatisierung von Wirklichkeitsverhältnissen, das heißt auf einen Wirklichkeitsentzug durch Medien sehen, die einen trotz aller Medien ungestillten Erlebnisbedarf des Publikums ausgerechnet Mithilfe der Inszenierung von Literatur zu befriedigen sucht. Eine solche Lust an unmittelbaren Vollzügen findet sich bei von Stuckrad-Barre nicht allein dort, wo Literatur live oder qua Massenmedien eventisiert wird, sondern in den Texten selbst. Stilbestimmend ist eine Darstellungsweise, die auf den Momentanismus des Jetzt bezogen ist. Protokollartig wird notiert, was gerade geschieht. In der Geschichte neustart, in der der Protagonist Randy ein Wohngemeinschaftsleben mit Karen beginnt, heißt es beispielsweise: »Später steht Karen barfuß und im Nachthemd in der Küche, isst den kalten Nudelauflauf direkt aus der Glasform und telefoniert. Randy räumt einige Kartons aus und geht dann in die Küche, um sich einen Johanniskrauttee zu kochen, damit er einschlafen kann, denn den Tee hat er schon gefunden, die deutlich wirksameren Schlaftabletten sind noch in irgendeinem Karton, und er hat vergessen, das einzukaufen, was ja am besten beim Einschlafen hilft: ein Bier. Karen sitzt inzwischen am Küchentisch, telefoniert immer noch, hat den rechten Fuß auf einen Hocker gestellt und lackiert sich die Zehennägel. Hellblau.«39

Einen Bedeutungsmehrwert aus diesem aus Details zusammengesetzten Augenblicken zu gewinnen, fällt schwer. Was zählt ist, dass etwas geschieht.

39 Benjamin von Stuckrad-Barre: BlackBox. Unerwartete Systemfehler, Köln 2000, S. 299f.

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Das sind Gewohnheiten, Handlungsmuster oder Rituale und Routinen, die im Alltag vollzogen werden und – so die Ritualforschung – »unabhängig von ihrer Bedeutung wirken: ex opere operato.«40 Der Vollzug von Handlungen ist jedoch ständig vom Misslingen bedroht. In der zitierten Passage heißt es, nachdem Randy ein von Karen angebotenes Bier nicht annimmt, weiter: »Endlich pfeift der Kessel, Randy verbrennt sich die Finger beim Runterstupsen der Düse, so wie es ihm immer passiert, und gießt dann das Wasser in einen von Karens Bechern (weil er seinen noch nicht ausgepackt hat). Er nimmt extra einen, von dem er annimmt, es sei ziemlich sicher nicht ihr Lieblingsbecher: Der Henkel ist abgebrochen, der Rand splittrig zerklüftet, und beschriftet ist das traurige Behältnis mit dem bleichgespülten Emblem der ›Sportfreunde Unterföhringen‹; Randy hängt einen Teebeutel hinein und beeilt sich, Karen in Ruhe zu lassen. […] Still verflucht Randy sein devotes Nichtstör-Keineumstände-mach-Getue – der Becher ist natürlich unglaublich heiß und muß, da henkellos, oben am Rand angefaßt werden, so daß Randy beim Gehen das heiße, gerade Tee werdende Wasser gegen die Finger schwappt und er den Becher beinahe fallen läßt.«41

Hier wäre noch weiter zu zitieren. Was die Passage in aller gebotenen Kürze deutlich macht, ist das Scheitern von performativen Vollzügen und der Kollaps der sensomotorischen Aktion, weil sie jede Selbstverständlichkeit verlieren. Das ließe sich an weiteren Beispielen wie etwa den richtigen beziehungsweise je nach Situation richtigen Manieren bei der Benutzung von Fußmatten erläutern.42 Die Texte setzen Situationen in Szene, die – wie bei der Komödie oder dem Slapstick – jederzeit kippen können. Sie referieren auf die ganze Welt stereotypen Verhaltens wie konventioneller Floskeln und zeigen durch die Situationskomik des Moments, dass hier gar nichts mehr funktioniert. Darin liegt der Grund für ein weiteres, häufig anzutreffendes Stilelement der Texte: Sie restituieren die Formen des Gesprächs. Nimmt man das Gespräch ganz hermeneutisch als Modell zur Herstellung gemeinsamen Sinnes unter Anwesenden, so dokumentieren von Stuckrad-Barres literarische, aber auch seine filmischen Arbeiten einen erhöhten Gesprächsbedarf angesichts des Entgleitens der Sinnhaftigkeit performativer Vollzüge, der dem endlosen Gespräch der Romantiker zur Romantisierung, aber auch Ironisierung der Welt durchaus ähnlich ist. Der Unterschied liegt darin, dass sich von Stu40 Axel Michaels, »›Le rituel pour le rituel‹ oder wie sinnlos sind Rituale?«, in: Corinna Caduff / Joanna Pfaff-Czarnecka (Hrsg.): Rituale heute. Theorien – Kontroversen – Entwürfe, Berlin 2001, S. 35. 41 Stuckrad-Barre, BlackBox, S. 300f. 42 Siehe ebd., S. 281f.

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ckrad-Barre hemmungslos der Alltagssprache, vulgärer Ausdrücke und der kunstlosen Mündlichkeit des Sprechens bedient. Sie ermöglichen die Ausstellung von Trivialitäten, brüchigen, scheiternden, gerade dort problematischen Kommunikationen, wo sie medientechnisch gestützt werden, ebenso wie endlose Unterhaltungen über Medien und markenvermittelte Lebensformen im Alltag. Die ausgeprägte Affinität vieler Texte zur Form des Gesprächs verdoppelt noch einmal die literarische Strategie, Handlungsmodi im Moment festzuhalten, indem sie hier auf der Ebene von Diskursen dargestellt werden. Im Unterschied zu den Performanz-Strategien, die auf die Inszenierung von Literatur in der Aufführung des Buches zielen, ist aber die Performativität, von denen im Innen der Bücher erzählt wird, problematisch geworden. Insofern darf man eine Spaltung von Performativität in gelingende und abflauende oder missratene diagnostizieren, was auch mit dem Begriff des »performativen Selbstwiderspruchs« zu bezeichnen wäre, sofern man in diesem Fall darunter eine ästhetische Strategie versteht: Der Autor ist massenmedial performativ, während seine Figuren in den Netzen des Alltags performativ scheitern. »Ich war hier« ist der Titel eines dreißigminütigen Dokumentarfilms von von Stuckrad-Barre, in dem gezeigt wird, welche Signaturen Personen, aber auch Tiere an Wänden, in Gästebüchern oder Toiletten als Zeichen ihrer Aufenthalte hinterlassen.43 Es ist offensichtlich die Inschrift, die die Hoffnung auf ein andauerndes Erinnern am ehesten zu erfüllen vermag. Sein »Ich war hier« hat von Stuckrad-Barre in vielen Medienprodukten der unterschiedlichsten Formate hinterlassen. Eine so medial offensive Produktion wie sie die Popliteraten praktizierten – war sie als ein neuer Stil durchzuhalten? Und auch die andere Frage war rasch da: Waren dies nur nebensächliche Zusätze zur Schriftstellerei, oder ging es darum, das Fiedlersche Cross the Border, Close the Gap auf Dauer zu stellen? Das Ende der neuen deutschen Popliteratur wurde rasch verkündet.44 Teils wurde »9/11« ins Feld geführt, das nun der Spaßgesellschaft ein Ende bereitet habe. Der Literaturkritiker Hubert Winkels bemerkte 2005, die Autoren der Popliteratur hätten

43 Der Film entstand 2002/3 für den NDR und wurde am 7. Juni 2004 um 0 Uhr ausgestrahlt; Wiederholung am 13. Juni 2004, 18:30 Uhr auf 3sat. Vgl. dazu Paulokat, Benjamin von Stuckrad-Barre, S. 127f. 44 Der wachhabende Redakteur der Zeit Thomas Assheuer hörte bereits 2001 die Vermehrung der Stimmen, »die gegen die flächendeckende Anwendung der Popästhetik protestieren«. Thomas Assheuer: »Im Reich des Scheins. Zehn Thesen zur Krise des Pop«, in: Die Zeit, 16/2001. Wer weiter blickt weiß: Pop ist wie Flashmob, fix wieder da, wenn es die ernste Klasse zu arg treibt.

B ENJAMIN VON S TUCKRAD -B ARRE | 359

»der Literatur neue Formen geschenkt. Von Stuckrad-Barres Soloalbum ist ein gutes Beispiel dafür, und es ist auch ein gutes Beispiel dafür, daß es so eben nicht mehr weitergeht. Denn nun bräuchte es ganz andere Reflexionsgrade des Textes, um die Popliteratur auf ein neues Niveau zu bringen.«45

Es ist möglich, dass von Stuckrad-Barre und die anderen Popliteraten der niemals zu befriedigenden deutschen Sehnsucht nach dem großen Werk erliegen und ihre kleinen inter- und multimedialen performativen Kunststücke einstellen. Was die literarischen und künstlerischen Herausforderungen der Mediengesellschaft angeht, so werden sie im Unterschied zu denen, die nie dort angekommen sind, sagen können, »Ich war hier«.

45 Hubert Winkels, »Die Popliteratur hat ihre Vorschüsse verbraucht« (Interview), in: Netzeitung.de, 6. Juni 2005.

Abbildungsverzeichnis

W ELLER : ADOLF W ÖLFLI Abb. 1 »Else Blankenhorn: 100000 Milliarden (Geldschein), nicht datiert«, in: Sammlung Prinzhorn. Wunderhülsen & Willenskurven. Bücher, Hefte und Kalendarien, hrsg. von Bettina Brand-Claussen und Erik Stephan [Ausstellungskatalog], Jena 2002, S. 33. Abb. 2 »Adolf Wölfli: Die Kreuzigung Jesus Christi, 1917«, auf: www.adolf woelfli.ch (zuletzt gesehen am 09.03.2010) Abb. 3 »Barbara Suckfüll: ohne Titel, 1910«, in: Sammlung Prinzhorn. Wunderhülsen & Willenskurven. Bücher, Hefte und Kalendarien, hrsg. von Bettina Brand-Claussen und Erik Stephan [Ausstellungskatalog], Jena 2002, S. 127.

M EHIGAN : R OBERT M USIL Abb. 1 »Hensoldt-Prismendoppelfernrohr, 6 x 26 Wetzlar 1900.« Mit freundlicher Erlaubnis von Herrn Ted Brink abgedruckt.

N EUMEYER : J EAN C OCTEAU : Abb.1»Kostüm des französischen und Kostüm des amerikanischen Mana gers«, in: Jean Cocteau. Gemälde. Zeichnungen. Keramik. Tapisserien. Literatur. Theater. Film. Ballett, hrsg. von Jochen Poetter, Köln 1989, S. 181.

362 | P RAKTIZIERTE I NTERMEDIALITÄT

Abb.2 »Zeichnung von 1928 aufgenommen in der französischen Erstausgabe von Opium. Journal d’une désintoxication«, in: Jean Cocteau: Werk ausgabe in zwölf Bänden, hrsg. von Reinhard Schmidt, Frankfurt a.M. 1988, Bd. 10: Kritische Poesie II, S. 82. Abb.3 »Szene aus dem Film Le Sang d’un poète«, in: Jean Cocteau: Werk ausgabe in zwölf Bänden, hrsg. von Reinhard Schmidt, Frankfurt a.M. 1988, Bd. 8: Filme, S. 37. Abb.4 »Szene aus dem Film La Belle et la Bête«, in: Jean Cocteau: Werk ausgabe in zwölf Bänden, hrsg. von Reinhard Schmidt, Frankfurt a.M. 1988, Bd. 8: Filme, S. 173. Abb.5 »Le Mystére de Jean L’Oiseleur, Blatt 23«, in: Jean Cocteau: Gemäl de. Zeichnungen. Keramik. Tapisserien. Literatur. Theater. Film. Balett, hrsg von. Jochen Poetter, Köln 1989, S. 293.

K LINKERT : C LAUDE S IMON Abb. 1 »Paul Delvaux: femme au miroir, 1936«. (Spanien, Madrid. Museo Thyssen-Bornemisza. Öl auf Leinwand. 71 x 91,5 cm), auf: http://prometheus.uni-koeln.de (zuletzt gesehen am 02.03.2010). Abb. 2 »Jean Dubuffet: Les riches fruits de l´erreur, 1963«, in: Max Loreau: Jean Dubuffet. Délits, deportements, lieux de haut jeu, Lausanne 1971. S. 429. Abb. 3 »Francis Bacon: Three Studies for a Crucifixion, links; 1962« (New York, Solomon R. Guggenheim Museum, Öl auf Leinwand, 198 x 145 cm), in: Ausstellungskatalog F. Bacon, Stuttgart, Berlin 1985/86, Abb. 39.

H ÖRNER : G OSCINNY /U DERZO Abb. 1-5 »Astérix Légionnaire, S. 43«, in: René Goscinny, Albert Uderzo: Astérix Légionnaire (= Bd. 10), Paris 1967. Abb. 6 »Théodore Géricault: Le radeau de la Méduse« (1819, Öl auf Lein wand, 7,16 × 4,91 Meter, Louvre/Paris), auf: http://prometheus.unikoeln.de (zuletzt gesehen am 02.03.2010). Abb. 7 »Astérix Légionnaire, S. 48«, in: René Goscinny, Albert Uderzo: Astérix Légionnaire (= Bd. 10), Paris 1967, S. 48.

A BBILDUNGSVERZEICHNIS | 363

RENNER-HENKE: RÜHM Abb. 1 »Gerhard Rühm, jetzt jetzt ... Einladungskarte zur Ausstellung »Wortgestaltung Lautgestaltung« in der Galerie Würthle, Wien 1958.«, in: Gerhard Rühm: gesammelte werke, Bd. 2.1 visuelle poesie, hrsg. von Monika Lichtenfeld, Berlin 2006, S. 63. Abb. 2 »Gerhard Rühm, automatische zeichnung, 1972«, in: Gerhard Rühm: automatische Zeichnungen I, Wien 1979, S. 23. Abb. 3a-c» Seiten aus rhythmus r«, in: Gerhard Rühm: rhythmus r, Berlin 1968.

S TIEGLER : R OLF D IETER B RINKMANN Abb.1 »Rom, Blicke«, in: Rolf Dieter Brinkmann: Rom, Blicke, Reinbek 1979, S. 440. Abb.2 »Schnitte«, in: Rolf Dieter Brinkmann: Schnitte, Reinbek 1988, S. 6.

F ISCHER : W.G. S EBALD Abb.1 »Piranesi: VII. The Drawbridge«, in: John Wilton-Ely (Hrsg.): Gio vanni Battista Piranesi. The Complete Etchings, Volume 1, San Fran cisco 1994, S. 60. Abb.2 »Piranesi: VIII. Ther Staircase with Trophies«, in: John Wilton-Ely (Hrsg.): Giovanni Battista Piranesi. The Complete Etchings, Volume 1, San Francisco 1994, S. 62.

Tabula gratulatoria

Achim Aurnhammer Freiburg

Geneviève Girard Märkt

Sigrid Plöger Straßburg

Uwe Blaurock Freiburg

Sibylle Graf Hamburg

Dietrich Rall Mexiko-Stadt

Heinrich Bosse Freiburg

Albert Hamm Straßburg

Kaspar und Moritz Renner Berlin

Martin Bullinger Freiburg

Marie-Louise Jurt Basel

Anne-Marie Saint-Gille Lyon

Manfred Dierks Riegel

Áron Kibédi Varga Freiburg

Günter Saße Freiburg

Christoph Dipper Darmstadt

Friedrich A. Kittler Berlin

Marisa Siguan Barcelona

Michael Einfalt Freiburg

Agnes Laba Freiburg

Barbara Schmitz Freiburg

Gerhard Fischer Sydney

Jörn Leonhard Freiburg

Claus Schneggenburger Freiburg

Svenja Frank Freiburg

Fred Lönker Freiburg

Franz Schober Freiburg

Die équipe des FrankreichZentrums

Dominique Maillard Paris

Jörg Stadelbauer Freiburg

Hans-Peter Frick Freiburg

Dieter Martin Freiburg

Ulrich Theiss Paris

Werner Frick Freiburg

Christa und Wolfram Menn Gundelfingen

Georg Christoph Tholen Basel

Barbara Gaydoul Schallstadt Andreas Gelz Freiburg

Bernd und Burgis Möwes Berlin Wolfgang Orlich Freiburg

Jean-Marie Winkler Paris Thomas Würtenberger Freiburg

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Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture Oktober 2010, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2

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Barbara Gronau, Alice Lagaay (Hg.) Ökonomien der Zurückhaltung Kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion Juli 2010, 386 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1260-8

Claudia Mareis, Gesche Joost, Kora Kimpel (Hg.) Entwerfen – Wissen – Produzieren Designforschung im Anwendungskontext Oktober 2010, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1463-3

Peter Mörtenböck, Helge Mooshammer Netzwerk Kultur Die Kunst der Verbindung in einer globalisierten Welt April 2010, 158 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 17,80 €, ISBN 978-3-8376-1356-8

Theo Röhle Der Google-Komplex Über Macht im Zeitalter des Internets Juli 2010, 264 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1478-7

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