Praktische Psychologie der Unfälle und Betriebsschäden
 9783486752502, 9783486752496

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
§ 1. Über Unglück, Unglücksfall und Unfall
§ 2. Der Anteil des Menschen an den Unglücken und Unfällen
§ 3. Über Umwelt, Unfall und Gefahrenklassen
§ 4. Die Persönlichkeit und die Unfallneigung
§ 5. Über Unfallneigung und Persönlichkeitsgefahrenklassen
§ 6. Berufsgefahrenklassen und Persönlichkeitsgefahrenklassen
§ 7. Über die praktische Bedeutung der Persönlichkeitsgefahrenklassen
§ 8. Unfallversuche mit Schulkindern
§ 9. Unfallneigung und Lebensalter
§ 10. Psychologie der Unfallneigung
§ 11. Gleichgültigkeit, Unfallbereitschaft, Erwartung, Ahnung, Wille zur Unfallvermeidung und anderes
§ 12. Die psychologische Unfallverhütung
§ 13. Unfall und Betriebsschaden
§ 14. Psychische Gleichförmigkeit, Unfälle und Betriebsschäden
§ 15. Die Wiederholungsregel und ihre praktische Bedeutung
§ 16. Über Fahrlässigkeit bei der Herbeiführung von Schäden
§17. Untersuchungen bei der Eisenbahndirektion Würzburg im Auftrag des Psychotechnischen Ausschusses der Reichsbahn
§ 18 . Die Untersuchungen des Herrn Eisenbahnamtmanns Euchar Schmitt in München-Laim
§ 19. Untersuchungen bei der Reichsbahndirektion Dresden
§ 20. Über die Folgen der Unfälle, Unglücke und Schaden- Stiftungen
§ 21. Über psychologische Gesichtspunkte hei der Verhütung von Betriebsschäden
§ 22. Praktische Vorschläge

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PRAKTISCHE PSYCHOLOGIE DER UNFÄLLE UND BETRIEBSSCHÄDEN VON

DR. K A R L M A R B E o. ö. Professor der Psychologie und Vorstand des Psychologischen Instituts der Universität Würzburg

MÜNCHEN UND BERLIN 1926 DRUCK UND VERLAG VON R.OLDENBOURG

Alle Rechte, einschließlich des Übersetzungsrechtes, vorbehalten. Copyright 1926 by R. Oldenbourg, München und Berlin

HERRN REICHSBAHNDIREKTIONSPRÄSIDENTEN

VALENTIN KOCH (WÜRZBURG) IN VEREHRUNG UND FREUNDSCHAFT GEWIDMET

Vorwort. Diese Schrift will eine allgemein verständliche Einführung in die Psychologie der Unfälle und Betriebsschäden geben. Sie ist aber keineswegs ein bloß theoretisches B u c h und sie wendet sich keineswegs nur an Psychologen. Sie t r i t t vielmehr mit ganz konkreten Anregungen an das Versicherungswesen, die Industrie und die Verkehrsanstalten heran. Insbesondere m a c h t sie Vorschläge, auf Grund gewisser leicht zu gewinnender statistischer Erfahrungen die Betriebssicherheit zu erhöhen, die Produktionskosten zu vermindern und die richtigen Arbeiter an die richtigen Plätze zu setzen. Soweit die tatsächlichen Mitteilungen in der Schrift nicht auf der wissenschaftlichen L i t e r a t u r und auf Experimenten von mir selbst und meinen Schülern beruhen, sind sie aus statistischen Untersuchungen an der Hand des Materials einer großen deutschen Versicherungsgesellschaft und aus neuen statistischen Erhebungen in Schulen und bei der Deutschen Reichsbahn hervorgegangen. Den Hauptwert aber lege ich zurzeit auf die Gedanken, die mich zur Abfassung der Schrift veranlaßten und die ich hiermit der öffentlichen Diskussion unterbreite. F ü r jede K r i t i k meiner Schrift sage ich daher im voraus meinen besten Dank. Ich werde alle mir zugehenden B e merkungen mit Interesse prüfen und hoffe insbesondere, daß mir die Äußerungen der P r a k t i k e r mancherlei neue Gesichtspunkte eröffnen werden. Endlich danke ich an dieser Stelle allen denjenigen, die mich bei der Ausarbeitung dieser Schrift unterstützt haben, voran meiner bewährten Assistentin F r l . Dr. Maria Schorn. Den D a n k an die Herren, die meine statistischen Untersuchungen und Mitteilungen ermöglichten, habe ich im T e x t selbst dargebracht. W ü r z b ü r g , den 1. August 1925.

Karl Marbe.

Inhalt. § § § § § § §

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

§ 8. § 9. §10. § 11. § 12. §13. § 14. § 15. § 16. §17. § 18. §19. § 20. §21. § 22.

Über Unglück, Unglücksfall und Unfall Der Anteil des Menschen an den Unglücken und Unfällen Über Umwelt, Unfall und Gefahrenklassen Die Persönlichkeit und die Unfallneigung Über Unfallneigung und Persönlichkeitsgefahrenklassen Berufsgefahrenklassen und Persönlichkeitsgefahrenklassen Über die praktische Bedeutung der Persönlichkeitsgefahrenklassen Unfallversuche mit Schulkindern Unfallneigung und Lebensalter Psychologie der Unfallneigung Gleichgültigkeit, Unfallbereitschaft, Erwartung, Ahnung, Wille zur Unfallvermeidung und anderes . Die psychologische Unfallverhütung Unfall und Betriebsschaden Psychische Gleichförmigkeit, Unfälle und Betriebsschäden Die Wiederholungsregel und ihre praktische Bedeutung Über Fahrlässigkeit bei der Herbeiführung von Schäden Untersuchungen bei der Eisenbahndirektion Würzburg im Auftrag des Psychotechnischen Ausschusses der Reichsbahn Die Untersuchungen des Herrn Eisenbahnamtmanns Euchar Schmitt in München-Laim Untersuchungen bei der Reichsbahndirektion Dresden. . Über die Folgen der Unfälle, Unglücke und Schadenstiftungen Über psychologische Gesichtspunkte bei der Verhütung von Betriebsschäden Praktische Vorschläge

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§ 1.

Über Unglück, Unglücksfall und Unfall.

Unter einem Unglück versteht man einen Vorgang (ein Ereignis) oder einen Zustand, kurz eine Tatsache, durch welche ein Nachteil für einen Menschen oder eine Mehrheit oder eine Vielheit von Menschen herbeigeführt wird. So nennen wir eine Zugentgleisung ein Unglück, wenn sie zu Todesfällen, Verletzungen oder Materialschäden führt. Auch bezeichnen wir den Zustand der sommerlichen Trockenheit als ein Unglück, wenn er die Vernichtung der Feldfrüchte verursacht. Statt des Wortes Unglück gebrauchen wir auch das Wort Unglücksfall, wenn der Nachteil durch einen Vorgang oder ein Ereignis herbeigeführt wird. So kann eine Zugentgleisung auch ein Unglücksfall genannt werden. Z u s t ä n d e jedoch, wie z. B. die der Ernte abträgliche Dürre, können wir ohne sprachliche Härte nicht als Unglücksfälle, sondern immer nur als Unglücke bezeichnen. Aber nicht nur die Tatsache, die zu einem Nachteil führt, sondern auch dieser selbst wird als Unglück bezeichnet. So wird nicht nur die Zugentgleisung, sondern auch der durch sie verursachte Schaden und nicht nur die sommerliche Dürre, sondern auch der durch sie verursachte Mißwachs als Unglück aufgefaßt. Entsprechend kann auch sowohl die Ursache einer Krankheit als auch die Krankheit selbst als Unglück gelten. Ob man nun aber den Nachteil oder seine Ursache oder beides als Unglück bezeichnen mag, immer setzt man dabei voraus, daß der Nachteil nicht allzu unerheblich sei. Wer etwa unvorsichtigerweise ein Tintenfaß ausgießt und dadurch einen Bogen Papier beschmutzt, wird dies zwar einen Schaden, aber kaum ein Unglück nennen können, ohne Psych. d. Unfälle.

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dadurch komisch zu wirken. Auch der rauchige Zustand der L u f t einer Industriestadt, der uns öfter nötigt, den Kragen zu wechseln, kann nur im Scherz unter die Unglücke eingereiht werden. Auch redet m a n dann nicht von einem Unglück, wenn die den Nachteil herbeiführende Tatsache beabsichtigt war. Wenn etwa jemand zur Zeit der allgemeinen Wehrpflicht, um sich der Militärpflicht zu entziehen, -sich selbst verstümmelte, hatte er kein Unglück erlitten. Auch nachteilige Tatsachen, deren Eintritt wir als naturnotwendig oder als allgemein ansehen, pflegen wir nicht als Unglücke zu bezeichnen. So gilt uns der in hohem Alter eintretende Tod eines unserer Mitmenschen an sich nicht als Unglück. Wenn wir von einem Unglück sprechen, schwebt uns vielmehr immer die Möglichkeit vor, daß dasselbe unter gewissen Bedingungen nicht eingetreten wäre. „Der Zug wäre nicht entgleist, wenn der Lokomotivführer das Langsamfahrsignal richtig beobachtet hätte oder wenn das Gleis intakt gewesen wäre." „Die Krankheit wäre nicht eingetreten, wenn sich der Patient geschont h ä t t e oder nicht von diesem oder jenem angesteckt worden wäre." Immer sind also Unglücke nur solche Nachteile oder zu Nachteilen führende Tatsachen, die infolge irgendeines widrigen Geschickes entstanden zu sein scheinen, und die ausgeblieben wären, wenn die Bedingungen, unter denen die Tatsachen entstanden sind, anders gelagert gewesen wären. Ein Unglück, so können wir daher auch sagen, ist immer ein Nachteil oder eine einen Nachteil bewirkende Tatsache, deren Entstehung mehr oder weniger zufällig gedacht wird. Der durch ein Unglück Benachteiligte soll als der Geschädigte bezeichnet werden. Eine besondere Art von Unglücken oder doch mindestens immer von Schäden oder Ursachen von Schäden bilden die Unfälle. Während wir bei der Abgrenzung der Begriffe des Unglücks dem Sprachgebrauch des Lebens gerecht zu werden versuchten, soll der Unfallbegriff hier nur im Sinne der Versicherungswissenschaft behandelt werden.



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Nach den anfangs 1924 geltenden Bedingungen der dem Deutschen Unfallversicherungsverband angehörigen Versicherungsgesellschaften liegt ein Unfall dann vor, wenn jemand durch ein plötzlich von außen auf seinen Körper wirkendes Ereignis unfreiwillig eine (körperliche oder geistige) Gesundheitsschädigung erleidet. Hierbei wird im gesamten privaten Versicherungswesen 1 ) als Unfall nicht die Ursache des Nachteils, sondern dieser selbst angesehen, während freilich, wie sich gleich zeigen wird, bei den Betriebsunfällen der sozialen Unfallversicherung eine andere Auffassung maßgebend ist. Die erwähnte Definition der Versicherungsgesellschaften erweist sich jedoch schon für diese selbst nicht als ausreichend. Denn als Unfälle gelten ihnen auch durch plötzliche Kraftanstrengung hervorgerufene Verrenkungen, Zerrungen und Zerreißungen sowie Wundinfektionen, bei denen der Ansteckungsstoff durch eine Unfallverletzung in den Körper gelangt ist. Hingegen gelten hier nicht als Unfälle: Vergiftungen, Infektionskrankheiten, Gewerbekrankheiten und vieles andere. Außerdem sind hier mancherlei Unfälle von der Versicherung ausgeschlossen. Hierher gehören Unfälle durch Kriegsereignisse, Unfälle, die der Versicherte erleidet bei der Ausführung von Vergehen und Verbrechen und anderes. Die dem Deutschen Unfallversicherungsverband angehörigen Gesellschaften betreiben die Privatversicherung, bei der die Versicherten (Versicherungsnehmer) gegen Unfälle beruflicher und nicht beruflicher Art versichert sind. Bei der deutschen sozialen Unfallversicherung sind dagegen die Versicherten nur gegen Betriebsunfälle versichert. Ein Betriebsunfall 2 ) ist ein plötzliches, d. h. in einen verhältnis') Vgl. die Erläuterungen zu den Unfallversicherungsbedingungen. Teil 1. Herausgegeben vom Allg. Deutschen Versicherungsverein in Stuttgart. Bearbeitet von Bühring und Mertins. Selbstverlag des Allg. Deutschen Versicherungsvereins in Stuttgart. S. 37. (Nicht im Buchhandel.) 2 ) Vgl. Wörner im Artikel Betriebsunfall in Alfred Manes' Versicherungslexikon. 2. Aufl., Berlin 1924. 1*

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mäßig kurzen Zeitraum eingeschlossenes Ereignis, das in ursächlichem Zusammenhang mit dem versicherungspflichtigen Betrieb oder der versicherungspnichtigen Tätigkeit eintritt und eine körperliche oder geistige Beschädigung des Versicherten auswirkt — wobei der Begriff der Plötzlichkeit durch die Rechtsprechung freilich öfters sehr gedehnt wird. Bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt in Luzern, die noch später zu erwähnen sein wird, ist die Versicherung der Betriebs- u n d N i c h t b e t r i e b s U n f ä l l e für alle Angestellten und Arbeiter obligatorisch 1 ). Natürlich ist von jedem Unfall die Unfallfolge streng zu scheiden. Jede Unfallversicherung ist eigentlich eine Versicherung gegen die Folgen des Unfalls. Diese Unfallfolgen können, sofern es sich nicht um tödliche Unfälle handelt, in körperlichen oder geistigen Schädigungen und Erkrankungen und daher in größerer oder geringerer Arbeitsbeschränkung bestehen. Es sei noch erwähnt, daß man bei dem Wort Unfall nicht immer nur an die Unfälle denkt, die jemand persönlich erleidet, sondern auch an die Schäden und speziell auch an die Betriebsschäden, die er unabsichtlich hervorruft. Diese Terminologie ist vielfach in der Technik und auch bei der Deutschen Reichsbahn üblich 2 ). Man sagt hier oft geradezu z. B. von einem Rangierer, der infolge dienstwidrigen Verhaltens einen Eisenbahnwagen zu Fall kommen ließ: Er hat einen Unfall gehabt. Wir verstehen unsererseits unter Unfällen immer nur persönliche Unfälle, die man erleidet, und wir stellen ihnen die Schäden und Betriebsschäden, die man hervorruft und die in schwereren Fällen Unglücke (Katastrophen) bzw. Betriebsunglücke heißen, gegenüber. Über Ausnahmen von dieser Hegel vgl. Schweizer Unfallversicherungsanstalt. Führer durch die obligatorische Versicherung zum Gebrauch der Betriebsinhaber und der Versicherten. 3. Aufl., August 1920, S. 20 ff. (Nicht im Buchhandel). 2 ) Vgl. z. B. K. Günther, Eisenbahnunfälle. Glasers Annalen. 1925, Bd. 96, Heft 1, S . 3 f f . ; Heft 2, S. 21ff.; Heft 3, S.49ff. (Laufende Nummern der Hefte 1141 bis 1143).

§ 2. Der Anteil des Menschen an den Unglücken und Unfällen. Aus unseren Definitionen ergibt sich, daß von einem Unglück immer nur unter der Voraussetzung von Menschen gesprochen werden kann, welche das Unglück erleiden. Diese Menschen haben wir als die Geschädigten bezeichnet. Es erhebt sich nun die Frage, inwieweit der geschädigte Mensch zu seinem Unglück mitgewirkt hat. In manchen Fällen erleiden wir zweifellos ein Unglück, ohne selbst an seinem Zustandekommen beteiligt zu sein. Wenn etwa ein Kind die heißgeliebten Eltern dadurch plötzlich verliert, daß sie auf einer Seereise- Schiffbruch leiden, so wird es von einem Unglück betroffen, dessen Ursache es völlig fernstehen kann. Auch haben Millionen von Menschen, für die der Weltkrieg ein schweres Unglück bedeutete, an dem Zustandekommen dieses Krieges in keiner Weise mitgewirkt. Doch ist es vielleicht schwerer, Beispiele zu finden für den Fall, wo wir an der Genese eines uns treffenden Unglücks unbeteiligt sind als für den entgegengesetzten Fall. Wenn etwa eine Seuche einzelne von uns dahinrafft, andere verschont, so sind die Gestorbenen Leute, deren körperliche Konstitution der Seuche günstig war. Auch die meisten Unfälle dürften wenigstens teilweise auf denjenigen zurückzuführen sein, der sie erleidet. Der Schwerfällige kommt bei Glatteis leichter zu Fall als der Gewandte, und der Leichtsinnige ist Unfällen verschiedenster Art mehr ausgesetzt als der Sorgfältige. Jeder ist seines Glückes Schmied, sagt das Sprichwort. Dies ist insofern richtig, als unter den Faktoren, welche das Glück eines Menschen bedingen, seine Persönlichkeit eine sehr große Rolle spielt. Ebenso ist auch die Persönlichkeit



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eines Menschen äußerst häufig von wesentlichem Einfluß bei dem Zustandekommen seiner Unglücke und Unfälle. Persönlichkeit und Umwelt sind die einzigen Bedingungen möglicher Unglücke und Unfälle. B a l d ist mehr die Eigenart der Persönlichkeit, bald mehr die Umwelt entscheidend. Dies gilt natürlich folgerichtig auch für die Unglücke Dritter, die von einem Menschen unabsichtlich hervorgerufen werden und auch für alle von ihm unabsichtlich verursachten Schäden an Personen und Sachen. Zunächst soll nun die Bedeutung der Umwelt für die Unfälle kurz ins Auge gefaßt werden.

§ 3.

Über Umwelt, Unfall und Gefahrenklassen.

Unter der Umwelt eines Menschen verstehen wir die gesamte ihn, d. h. seinen Körper, umgebende Welt. Diese Umwelt wird für den Menschen hinsichtlich seiner Unfälle bedeutsam durch die Beziehungen, die zwischen ihm und dieser Umwelt obwalten. Von diesen Beziehungen kommen für die Genese der Unfälle am meisten die durch den Beruf gegebenen in Frage. Aber auch andere als berufliche Betätigungen können als Bedingungen von Unfällen in Betracht kommen. Spiel und Sport, Jagen und Reiten, Hochtouren und Skifahren und viele andere außerberufliche Beschäftigungen können zu einem Unfall desjenigen führen, der diesen Beschäftigungen obliegt. Auch die Betätigungen des gewöhnlichen Lebens, der gesellige Umgang und die ganze Lebensweise kommen als mögliche Bedingungen von Unfällen in Betracht. Je nach'der für einen Menschen in Frage kommenden Umwelt und je nach seinem Verhältnis zu dieser Umwelt ist er mehr oder weniger gefährdet. Angesichts dieser Tatsachen ist es begreiflich, daß man in der privaten Unfallversicherung die Prämien nach der Gefährlichkeit der Berufe abstuft und daß man zugleich Zusatzprämien verlangt, wenn besonders gefährliche Nebenbeschäftigungen vorliegen. Man unterscheidet in der Privatversicherung gewöhnlich zwölf Gefahrenklassen 1 ). Aber auch in der sozialen Unfallversicherung werden solche Gefahrenklassen statuiert. Der auf die Gewerbe-Unfallversicherung bezügliche § 706 der Reichsversicherungsordnung (RVO.) heißt: „Die Genossenschaftsversammlung hat für die der Genossenschaft zugehörigen Betriebe durch einen Gefahrtarif *) Vgl. A.Manes, Versicherungswesen. 3. Aufl., Leipzig und Berlin 1922, Bd. 2, S. 86(f., insbesondere S. 96 und 103.

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Gefahrklassen nach dem Grade der Unfallgefahr zu bilden und darnach die Höhe der Beiträge abzustufen." Auch für die landwirtschaftliche Unfallversicherung und die Seeunfallversicherung sind Gefahrenklassen vorgesehen, wenn auch nicht unbedingt obligatorisch (RVO. §979 und § 1149). Die Unterscheidung von Gefahrenklassen muß auf die statistische Erfahrung gegründet werden, kann aber infolge der Veränderung der beruflichen Anforderungen immer wieder schwanken. Zunächst und mangels besserer Grundlage kann die Aufstellung von Gefahrenklassen auch auf Grund der bloßen Erfahrung des gewöhnlichen Lebens bzw. der Fachleute unternommen werden. Die RVO. bestimmt im §708 Absatz I: „Der Gefahrtarif ist zuerst längstens nach zwei Geschäftsjahren und dann mindestens von fünf zu fünf Jahren mit Rücksicht auf die vorgekommenen Unfälle nachzuprüfen."

§ 4.

Die Persönlichkeit und die Unfallneigung.

Neben der Umwelt ist, wie wir sahen, die Persönlichkeit des Menschen von fundamentaler Bedeutung für die Genese seiner Unglücke und daher auch seiner Unfälle. Dies veranlaßt uns, zunächst den Begriff der Persönlichkeit zu klären und den Zusammenhang von Unfall und Persönlichkeit vorläufig zu erläutern. Zunächst sei der geistigen Persönlichkeit des Menschen gedacht. Sie u m f a ß t vor allem die Gesamtheit der angeborenen geistigen Anlagen und Neigungen, die unserem Intelligenz-, Trieb-, Gefühls- und Willensleben angehören. Diese angeborenen Dispositionen werden aber durch die Erziehung und andere Erfahrungen beeinflußt. Insoweit die geistige Persönlichkeit nicht aus angeborenem Besitz, sondern aus solchen Einflüssen der E r f a h r u n g resultiert, heißt sie erworbene geistige Persönlichkeit. Natürlich sind aber die Begriffe der angeborenen und erworbenen geistigen Persönlichkeit insofern nur Abstraktionen, als sie nur zwei Seiten der wirklichen geistigen Persönlichkeit darstellen, für deren Gestaltung einerseits die ursprünglichen Anlagen und Neigungen, anderseits gewisse Erfahrungen des Lebens maßgebend sind. Diejenigen Erfahrungen, welche einen Einfluß auf die angeborene geistige Persönlichkeit ausüben, bezeichne ich als kritische. Ältere kritische Erfahrungen werden im Lauf der Zeit mehr oder weniger unwirksam, um dem Einfluß neuerer Erfahrungen platzzumachen. Abgesehen von den angeborenen Dispositionen und den kritischen Erfahrungen wird die geistige Persönlichkeit auch durch rein körperliche Zustände und Vorgänge bestimmt. Der Mensch ist psychisch ein anderer, je nachdem er körperlich gesund oder krank, älter oder jünger ist usw. Infolge solcher



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somatischer Einflüsse (zu denen auch die körperlichen Grundlagen der Ermüdung, der jeweilige Zustand der Geschlechtsdrüsen, sowie Gehirnstörungen verschiedenster Art gehören) und infolge der (einesteils immer wieder neu hinzukommenden, andernteils immer wieder unwirksam werdenden) kritischen Erfahrungen ist die wirkliche geistige Persönlichkeit nicht nur in pathologischen Fällen, wie bei Epileptikern und Hysterikern, sondern auch schon im gewöhnlichen Leben einem häufigen Wechsel unterworfen. Sie erleidet in jedem Moment unter dem Einfluß kritischer Erfahrungen und körperlicher Faktoren eine bestimmte Einstellung, so daß man auch geradezu von momentaner geistiger Persönlichkeit sprechen kann. Natürlich brauchen aber die neuen Einstellungen dieser Persönlichkeit nicht immer ihr ganzes Wesen zu betreffen. Sie werden sich vielmehr oft nur auf einzelne Seiten derselben beziehen. Auch können sie, wie beim leichten Affekt, ganz vorübergehender, sozusagen flüchtiger Natur sein oder prinzipielle Bedeutung haben und die geistige Persönlichkeit auf längere Zeit ganz oder in einzelnen Teilen umgestalten oder umstellen. Diese nachhaltigen Einstellungen der geistigen Persönlichkeit sollen als habituelle bezeichnet werden. Habituelle Einstellungen dieser Persönlichkeit zu vollziehen, ist ein Hauptziel der Erziehung. Die jeweilige Einstellung der geistigen Persönlichkeit äußert sich in unserem Wahrnehmen, Denken, Fühlen, Wünschen, Wollen und Handeln. Vorübergehende Einstellung der Persönlichkeit schaffen wir unter anderem durch die sog. künstliche Geisteskrankheit im Sinne der Kraepelin'schen Schule, also z. B. durch den Alkoholgenuß; sie zeigt sich auch, jedoch viel einseitiger, wenn wir z. B. unter dem Wort „ B l a t t " etwas anderes verstehen, je nachdem wir uns im Wald, in einer Kunsthandlung oder beim Kartenspiel befinden. Um vorübergehende Einstellungen handelt es sich auch bei der Aufmerksamkeit 1 ). J ) Weitere Bemerkungen über Einstellung der Persönlichkeit sowie über Umstellung und über die B e d e u t u n g des Einstellungs-



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Bei dem Wort Persönlichkeit denken wir aber keineswegs immer nur an die geistige Persönlichkeit, sondern vielfach auch an den Körper des Menschen. Wenn wir z. B . von einer stattlichen oder einer unscheinbaren Persönlichkeit sprechen, so beziehen wir diese Ausdrücke zweifellos auch auf das rein körperliche Auftreten und auf das Aussehen. Und das sog. Persönlichkeitsrecht (Individualrecht) gestattet uns, von jedermann auch die Respektierung unseres Körpers und seiner Gesundheit zu verlangen. W i r müssen also der geistigen Persönlichkeit eine körperliche gegenüberstellen. Zu ihr gehört der Körper. In Analogie zu nnseren Ausführungen über die geistige Persönlichkeit werden wir aber zur körperlichen Persönlichkeit eines Menschen auch seine körperlichen Dispositionen aller Art rechnen. Unsere körperliche Persönlichkeit umfaßt daher auch das, was man in der Medizin die Konstitution zu nennen pflegt, also die größere oder geringere Disposition des an sich gesunden Körpers, auf äußere Schädlichkeiten hin zu erkranken 1 ). Die natürlich immer anatomisch-physiologisch begründete Konstitution erschöpft aber die Anlagen durchaus nicht, die wir zur körperlichen Persönlichkeit rechnen müssen. Die Anlage zum Turnen, Fechten und Schwimmen und andere ähnliche Fähigkeiten gehören, soweit sie rein somatischer Natur sind, gleichfalls zur körperlichen Persönlichkeit. W i r können daher zusammenfassend sagen: die geistige Persönlichkeit eines Menschen umfaßt seine geistigen Dispositionen, die körperliche seinen Körper und seine somatischen Dispositionen. —• Unter Charakter wird in der Regel die begriffs für die Theorie der Suggestion und Hypnose bei K. Marbe, Ü b e r Persönlichkeit, Einstellung, Suggestion und Hypnose. Zeitschrift für die g e s a m t e Neurologie und P s y c h i a t r i e , Bd. 94, Heft 2 / 3 , 1924, S. 3 5 9 f f . , sowie auch in meinem K o n g r e ß v o r t r a g (München 1 9 2 5 ) , (Ter in der Zeitschrift für angewandte Psychologie 1 9 2 5 , B d . 2 6 , S. 43 ff. erschien. Vgl. a u c h § 10 der vorliegenden Schrift sowie H. Kleint, Über den Einfluß der Einstellung auf die W a h r n e h m u n g . Archiv für die g e s a m t e Psychologie, Bd. 51 ( 1 9 2 5 ) , S. 3 3 7 f f . Vgl. M. B. S c h m i d t , Die B e d e u t u n g der Konstitution für die E n t s t e h u n g von Krankheiten. (Rektoratsrede.) W ü r z b u r g 1 9 1 7 .

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geistige Persönlichkeit des Menschen verstanden, soweit sie für sein Wollen und Handeln maßgebend ist. Bei unserem Begriff der körperlichen Persönlichkeit ist es leicht, alle Betrachtungen, die wir auf die geistige Persönlichkeit bezogen haben, cum grano salis auch auf die körperliche zu übertragen. Auch bei der körperlichen Persönlichkeit können wir eine angeborene und eine, wenn auch nicht durch kritische Erfahrungen, so doch durch kritische äußere Einflüsse erworbene Seite statuieren. Auch hier können wir von einer momentanen Persönlichkeit oder einer in jedem Moment vorhandenen, aber in verschiedenen Momenten verschiedenen Einstellung der körperlichen Persönlichkeit reden. Diese momentane Einstellung macht sich z. B. insofern geltend, als der Ausbruch vieler Krankheiten nicht nur von der Konstitution und von äußeren Einflüssen, sondern auch von dem jeweiligen Zustand des Organismus abhängig ist. Auch können wir schließlich als momentane Einstellung des Körpers und somit der körperlichen Persönlichkeit jede Stellung und jede Lage ansehen, die wir dem Körper willkürlich oder unwillkürlich in einem bestimmten Moment geben. So wertvoll es indessen sein mag, zwischen körperlicher und geistiger Persönlichkeit begrifflich zu unterscheiden, so kann doch die Zusammengehörigkeit von beiden nicht scharf genug betont werden. Einmal beruhen nach der den Psychologen geläufigen Arbeitshypothese des psychophysischen Parallelismus auch die geistigen Dispositionen auf körperlichen. Dann wirken rein körperliche Zustände (wie Sättigung, körperliche Krankheit, Zustand der Geschlechtsdrüsen und anderes), auch auf die geistige Persönlichkeit ein, wie ja auch Betätigungen der geistigen Persönlichkeit sich in körperlichen Ausdrucksbewegungen manifestieren; zu diesen Ausdrucksbewegungen gehören z. B. die Sprechbewegungen, das Mienenspiel beim Nachdenken, die Körperbewegungen beim Zorn, das Rotwerden aus Scham, das Blaßwerden aus Furcht. Vor allem aber ist zu bedenken, daß viele Betätigungen der Menschen gleichzeitig als Ausfluß der körper-



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lichen und der geistigen Persönlichkeit zu deuten sind. Die verschiedenen Temperamente zeigen sich sowohl im Denken als auch im äußeren Handeln. Geschicklichkeit und Ungeschicklichkeit und mancherlei andere Fähigkeiten sind sowohl körperlich als geistig fundiert und auch die reine Handgeschicklichkeit ist niemals nur körperlich begründet. Bei diesem engen Zusammenhang von geistiger und körperlicher Persönlichkeit soll künftig unter Persönlichkeit immer die Gesamtpersönlichkeit oder psychophysische Persönlichkeit verstanden und nur in besonderen Fällen auf ihre seelische oder körperliche Seite hingewiesen werden. Es ist nun ganz klar, daß für die Frage des Erleidens eines bestimmten Unfalles immer die momentane Persönlichkeit des Menschen in Betracht kommt. Soeben wurde erwähnt, daß der Ausbruch vieler Krankheiten nicht nur von der Konstitution und äußeren Einflüssen, sondern auch von dem jeweiligen Zustand des Körpers abhängig ist. Aber auch abgesehen hiervon sind wir zu verschiedenen Zeiten in ganz verschiedenem Maße zum Erleiden von Unfällen disponiert. Wer gerade durch einen Gichtanfall am normalen Gebrauch seiner Beine gehindert ist, kommt beim Einsteigen in die Straßenbahn leichter zu Fall, als wenn der Gichtanfall vorüber ist. Momentane geistige oder körperliche Überanstrengung, momentane Ablenkung der Aufmerksamkeit ist für das Eintreten eines Unfalls, soweit bei demselben überhaupt die Persönlichkeit eine Rolle spielt, zweifellos günstiger als normales Befinden und momentane Einstellung auf äußerste Sorgfalt. Jeder momentanen Einstellung der Persönlichkeit entspricht also eine bestimmte, momentane Unfallneigung. Von besonderer Wichtigkeit für die Vermeidung oder das Erleiden von Unfällen ist aber offenbar der Einfluß, den die angeborene Persönlichkeit auf die momentane wirkliche Persönlichkeit ausübt. Außer der angeborenen Seite der Persönlichkeit können aber auch ihre (besonders durch die Erziehung verursachten) habituell gewordenen Einstellungen für die Disposition zu



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U n f ä l l e n wichtig werden. A u c h diese h a b i t u e l l e n E i n stellungen w i r k e n ebenso wie die angeborene Persönlichkeit m i t b e s t i m m e n d auf die G e s t a l t u n g der m o m e n t a n e n P e r sönlichkeit u n d ihre Anlage z u m Erleiden v o n Unfällen. So k a n n die E r z i e h u n g zur Sorgfalt u n d körperlichen Beweglichkeit der G e f ä h r d u n g d u r c h Unfälle e n t g e g e n t r e t e n . U n t e r Persönlichkeit soll n u n i m folgenden regelmäßig die Persönlichkeit v e r s t a n d e n werden, soweit sie d u r c h die angeborene Persönlichkeit u n d ihre h a b i t u e l l gewordenen Einstellungen b e s t i m m t wird. Dieser Begriff ist wohl a u c h ungefähr der Persönlichkeitsbegriff des gewöhnlichen Lebens, das den von uns g e p r ä g t e n Begriff der m o m e n t a n e n Persönlichkeit nicht k e n n t . Das was also nun regelmäßig mit Persönlichkeit bezeichnet w e r d e n soll, besteht o f f e n b a r aus einem absolut k o n s t a n t e n F a k t o r , nämlich der a n g e b o r e n e n Persönlichkeit, u n d einem r e l a t i v k o n s t a n t e n F a k t o r , n ä m lich ihren habituell gewordenen Einstellungen. Diese Persönlichkeit wird als solche eine größere oder geringere Disposition zu U n f ä l l e n oder eine größere oder geringere Unfallneigung aufweisen. Jeder Mensch wird daher, abgesehen von der s c h w a n k e n d e n m o m e n t a n e n Unfallneigung, eine b e s t i m m t e , nur i n n e r h a l b der G r e n z e n der S c h w a n k u n g e n der habituellen Einstellungen variable, aber i m m e r h i n relativ k o n s t a n t e , individuelle, persönliche Unfalldisposition oder U n f a l l n e i g u n g aufweisen.

§ 5.

Über Unfallneigung und Persönliehkeitsgefahrenklassen.

Die Lehre von der individuell verschiedenen, in der Persönlichkeit b e g r ü n d e t e n Unfallneigung führt zu dem im Sinne der früher herrschenden Ansichten paradoxen Satz, daß die Wahrscheinlichkeit für einen Menschen, einen Unfall zu erleiden, nach der Anzahl seiner »früheren Unfälle zu bemessen sei. Denn die Anzahl der Unfälle, die ein Mensch erlitten h a t , gibt uns offenbar ein gewisses Maß für seine Unfallneigung, also auch für die Anzahl seiner künftigen Unfälle. Personen, welche z. B. innerhalb fünf Jahren mehrere Unfälle gehabt haben, werden hiernach in den unmittelbar folgenden fünf J a h r e n durchschnittlich mehr Unfälle erleiden als solche Personen, die in den ersten fünf J a h r e n nur einen Unfall erlitten haben. Auch werden die letzteren in den zweiten fünf J a h r e n im allgemeinen gefährdeter sein als solche, die in den ersten fünf J a h r e n gar keinen Unfall h a t t e n . Die Richtigkeit dieser Ansichten läßt sich statistisch erweisen. Es gibt irgendwo in der Welt eine Versicherungsgesellschaft, welche in einer militärischen Abteilung die Versicher u n g aktiver Offiziere und Unteroffiziere der deutschen Armee gegen Unfälle aller Art betreibt und in welcher eine K ü n d i g u n g gegenüber den Personen, die mehrfach Unfälle hatten, nicht s t a t t z u f i n d e n pflegt. Einer meiner Schüler, Herr Dr. Greiveldinger, h a t n u n die Verhältnisse bei dieser Militärversicherung näher studiert und aufs Geratewohl 3000 Personen herausgegriffen, die zehn volle Kalenderjahre oder nach der Zeit v o m E i n t r i t t bis zum E n d e des Eintrittsjahres noch neun volle Kalenderjahre versichert waren. Er stellte d a n n für jede dieser 3000 Personen Anzahl und J a h r e



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der Unfälle fest, wobei als erstes „ J a h r " bei den weniger als zehn volle Kalenderjahre versicherten Personen die Zeit vom Eintritt bis zum Schluß des fraglichen Kalenderjahres angesehen wurde. Ich habe dann dieses Material zur Prüfung der erwähnten These benutzt. Diejenigen Personen, die in den ersten fünf Jahren keinen Unfall erlitten, nenne ich Nuller; diejenigen, die in dieser Zeit nur einen Unfall hatten, nenne ich Einser; diejenigen, die in diesen ersten fünf Jahren mehr als einen Unfall hatten, sollen Mehrer heißen. Wir bestimmten nun die Anzahl der Nuller, Einser und Mehrer und zählten die Anzahl der Unfälle dieser drei Kategorien von Personen in den zweiten fünf Jahren ab. Es fanden sich in den ersten fünf Jahren 1478 Nuller, 893 Einser und 629 Mehrer. Die Nuller hatten in den zweiten fünf Jahren insgesamt 763, die Einser 817 und die Mehrer 840 Unfälle. Hieraus ergab sich für jede der drei Gruppen von Personen die durchschnittliche oder mittlere Unfallzahl pro Person in den zweiten fünf Jahren. Folgende drei Zahlen bedeuten die mittleren Unfallzahlen der Nuller, Einser und Mehrer: 0,52

0,91

1,34.

Man sieht: Die Nuller haben in den zweiten fünf Jahren durchschnittlich weniger Unfälle als die Einser und diese weniger als die Mehrer. Letztere zeigen im Mittel reichlich 2 ' 2 m a l so viel Unfälle als die Nuller. Daß es sich aber hier nicht um ein Zufallsresultat handelt, sondern daß unsere Theorie durch unser statistisches Material wirklich bewiesen wird, ergibt sich daraus, daß der Verlauf der mittleren Unfallzahlen für die Nuller, Einser und Mehrer im gleichen Sinne wiederkehrt, wenn wir, statt die 3000 Fälle zusammenfassend zu betrachten, das Material in drei Fraktionen zu 1000 oder in sechs Fraktionen zu 500 einteilen. Man vergleiche die Tabellen 1 und 2. J a selbst wenn wir zehn Fraktionen zu 300 bilden, zeigen die Mehrer in den zweiten fünf Jahren immer eine größere mittlere Unfallzahl als die Nuller. Nur die mittlere



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Unfallzahl der Einser fällt bei der Fraktionierung in zehn Gruppen zu 300 zweimal aus der Ordnung heraus. Man •vergleiche die Tabelle 3. Tabelle

1.

3 Fraktionen zu 1000 Laufende Nr. der Fraktion

Personen.

Mittlere Unfallzahl in den zweiten fünf Jahren f ü r die Nuller

|

Einser

:

Hehrer

1

0,35

0,06

1,23

2

0,51

0,89

1,35

3

0,71

0,90

1,43

Tabelle

2.

6 F r a k t i o n e n zu 5 0 0 Laufende Nr. der Fraktion

Personen.

Mittlere Unfallzahl In den zweiten fünf J a h r e n für die Nuller

Einser

Mehrer

1

0,38

0,80

1,06

2

0,30

1,09

1,37

3

0,39

0,95

1,39

4

0,6 t

0,82

1,31

. 5

0,65

1,03

1,39

6

0,77

0,79

1,47

Tabelle

3.

1 0 F r a k t i o n e n zu 3 0 0 P e r s o n e n . Laufende Nr. der Fraktion

Mittlere Unfallzahl in den zweiten fünf Jahren f ü r die Nuller

Einser

Mehrer

1

0,32

0,78

0,72

2

0,43

0,93

3 4

0,28

1,15

1,41 1,43

0,34

0,75

1,33

5

0,43

1,43

6

0,69

1,11 0,83

7

0,65

0,84

8

0,55

1,06

1,21 1,48

9

0,82

0,82

1,42

10

0,71

0,84

1,52

Psych, d. Unfälle.

1,34

2



18



Wir haben nun auch die Unfälle in den beiden ersten und in den beiden letzten der zehn behandelten Jahre untersucht. Hier nannte ich Nuller diejenigen Personen, die in den ersten zwei Jahren keinen und Unfäller diejenigen, die in den ersten zwei Jahren einen oder mehrere Unfälle gehabt haben. Wir bestimmten demgemäß die mittleren Unfallzahlen für die Nuller und Unfäller in den letzten zwei Jahren. Auch diese Zahlen, die ich anbei mitteile, waren, wie man sieht, im Sinne meiner Theorie deutlich verschieden: 0,24

0,42.

Die Unfäller haben hiernach in den letzten zwei Jahren durchschnittlich mehr, und zwar 1,75 mal so viel Unglücksfälle als die Nuller. Zu dem prinzipiell gleichen Resultat, daß die Unfäller mehr Unfälle zeigten als die Nuller, gelangten wir in allen Fraktionen, wenn wir drei Fraktionen zu 1000 oder sechs zu 500 oder zehn zu 300 bildeten, wie die Tabellen 4 bis 6 zeigen. T a b e l l e 4. 3 Fraktionen zu 1000 Personen. Laufende Nr. der Fraktion

Mittlere Unfallzahl in den letzten zwei Jahren für die Nuller

Unfäller

1

0,17

0,39

2

0,23

0,47

3

0,33

0,40

T a b e l l e 5. 6 Fraktionen zu 500 Personen. Laufende Nr. der Fraktion

Mittlere Unfallzahl in den letzten zwei Jahren f ü r die Nuller

Unfäller

1

0,14

0,32

2

0,20

0,44

3

0,52

4

0,23 0,24

5

0,33

0,44

6

0,33

0,36

0,44

— 19 — T a b e l l e 6. 10 Fraktionen zu 300 Personen. Laufende Nr. der Fraktion

o

Mittlere Unfallzahl in den letzten zwei Jahren für die Nuller

Unfaller

0,13

0,24 0,43 0,46 0,48 0,50 0,46 0,33 0,43 0,46 0,38

0,20 0,18 0,18 0,27 0,23 0,29 0,34 0,30 0,34

Die B e t r a c h t u n g der ersten und letzten zwei Jahre bildet also gleichfalls eine Stütze für meine Theorie. Das letzte Resultat ist aber auch insofern interessant als es lehrt, d a ß m a n aus früheren Unfällen sogar n o c h n a c h e i n e m Z w i s c h e n r a u m v o n s e c h s J a h r e n gewisse Schlüsse auf spätere Unfälle ziehen kann. Diese Untersuchungen beweisen, daß das Erleiden von Unfällen im engsten Zusammenhang steht mit der Persönlichkeit. Zunächst läßt sich allerdings gegen diese Auffassung ein E i n w a n d erheben. Wir haben im § 3 gesehen, daß m a n bei der Unfallversicherung je nach dem Maße der Gefährdung der Versicherten verschiedene Gefahrenklassen unterscheidet. Man kann n u n so argumentieren: H a t m a n festgestellt, d a ß innerhalb einer Zeit t von N Personen gewisse Personen keinen, andere einen und andere mehr als einen Unfall erlitten haben, so wird m a n annehmen dürfen, daß die Personen mit mehr als einem Unfall im Mittel einer höheren Gefahrenklasse angehören als die mit einem oder gar als die mit keinem Unfall. Es ist demnach zu erwarten, daß die Personen m i t mehr als einem Unfall auch in einer auf die Zeit t folgenden Zeit mehr Unfälle haben werden als die mit einem oder g a r



20



als die mit keinem Unfall. Denn mit der höheren Gefahrenklasse wächst natürlich auch die Wahrscheinlichkeit, in Zukunft Unfälle zu erleiden. Der Satz, daß die Wahrscheinlichkeit späterer Unfälle nach früheren Unfällen zu bemessen sei, würde demnach einfach darauf beruhen, daß die verschiedenen Berufen angehörigen Personen in verschiedenem Maße gefährdet sind und daß die verschiedene Gefährdung durch die verschiedenen Berufe in der Vergangenheit auch in der Zukunft fortbesteht. Im Sinne dieser B e t r a c h t u n g habe ich auch schon in meiner Gleichförmigkeit in der W e l t 1 ) die Ansicht, daß die "Wahrscheinlichkeit für eine Person, einen Unfall zu erleiden, von ihren früheren Unfällen abhängt, auf den Einfluß der verschiedenen Berufe zurückgeführt. Ich habe aber dort als Stütze für meine Theorie auch den Einfluß der Persönlichkeit herangezogen. Daß auch ein Einfluß der Persönlichkeit auf die Unfälle wirklich stattfindet und auch in unseren bisherigen Untersuchungen mindestens teilweise zum Ausdruck k o m m t , beweisen weitere Untersuchungen. Ich ließ feststellen, welchen Berufen die verarbeiteten 3 0 0 0 Personen angehörten. Da das Material für zwölf Personen aus versicherungstechnischen Gründen gerade nicht zur Stelle war, so konnten nur 2 9 8 8 Feststellungen gemacht werden. Nach den Berufen wurde dann konstatiert, in welche Gefahrenklasse jeder der 2 9 8 8 Fälle gehörte. Hierbei wurden die drei bei unserer Militärversicherung maßgebenden Gefahrenklassen in B e t r a c h t gezogen. Sie unterschied, als ich diese Untersuchungen anstellte, drei Gefahrenklassen, die alle versicherten Personen umfassen: erstens die Klasse der Bureaubeamten und ständigen Schreiber, sofern sie nicht außerhalb des Bureau- oder Verwaltungsdienstes verwendet werden, zweitens die Klasse der im äußeren Dienst tätigen Militärpersonen mit Aus!) K . Marbe, Die Gleichförmigkeit in der Welt. 1916, S. 384 f.

Bd. 1, München



21

nähme der Personen in besonders gefährdeten Formationen, welche der dritten und höchsten Gefahrenklasse angehören. Früher wurden viel mehr Klassen statuiert. Doch hat sich diese detaillierte Spezifikation nicht bewährt. Die 2988 Fälle zerfielen in 353 Fälle der ersten, in 1674 der zweiten und in 961 Fälle der dritten Gefahrenklasse. Wir bestimmten nun wieder für die Personen der ersten Gefahrenklasse die Nuller, Einser und Mehrer in den ersten fünf Jahren, und wir berechneten dann die mittlere Unfallzahl der Nuller, Einser und Mehrer in den zweiten fünf Jahren. Dasselbe wurde für die Personen der zweiten und dritten Gefahrenklasse durchgeführt. Auch wurden die Materialien der einzelnen Gefahrenklassen in Fraktionen zu 300 eingeteilt, soweit sie durch 300 ohne Rest teilbar waren. Die nicht mehr durch 300 teilbaren Reste der drei Materialien blieben unberücksichtigt. Die einzelnen Gefahrenklassen wurden auch in ganz analoger Weise auf ihr Verhalten in den beiden ersten und in den beiden letzten Jahren untersucht, wobei jedoch ebenso wie früher nur Nuller und Unfäller statuiert wurden. Auch hier wurde wieder in Gruppen zu 300 fraktioniert. Die Untersuchung der einzelnen Gefahrenklassen führte nun prinzipiell zu den gleichen Resultaten wie die Prüfung unseres Gesamtmaterials. Auch hier zeigte sich bei der Gegenüberstellung der ersten und zweiten fünf Jahre, daß in den zweiten fünf Jahren die Nuller weniger Unfälle haben als die Einser und daß diese weniger Schäden erleiden als die Mehrer. (S. die Tabellen 7, 8 u. 9.) Der Vergleich der ersten und letzten zwei JahYe lehrte, daß die Unfäller in den letzten zwei Jahren gefährdeter sind als die Nuller (Tabellen 10, 11, 12). Auch die Fraktionierung in Gruppen zu 300 bestätigte diese Gesetzmäßigkeiten (S. die Tabellen 13 bis 18). Nur in einer einzigen Fraktion (Tabelle 17^ ist die mittlere Unfallzahl der Nuller um ein Hundertstel größer als die der Unfäller.



22



T a b e l l e 7. Gefahrenklasse 1. 353 Personen. NuUer

Anzahl der Personen Unfallzahl in den zweiten 5 Jahren . Mittlere Unfallzahl pro Person in den zweiten 5 Jahren

Einser

Mehrer

218

91

44

88

71

52

0,40

0,78

1,18

Einser

Mehrer

T a b e l l e 8. Gefahrenklasse 2. 1674 Personen. Nuller

Anzahl der Personen Unfallzahl in den zweiten 5 Jahren Mittlere Unfallzahl pro Person in den zweiten 5 Jahren

833 423 0,51

501 498

340 438

0,99

1,29

Einser

Mehrer

295 243

243 350

T a b e l l e 9. Gefahrenklasse 3. 961 Personen. Nuller

Anzahl der Personen Unfallzahl in den zweiten 5 Jahren Mittlere Unfallzahl pro Person in den zweiten 5 Jahren

423 252 0,60

0,82

1,44

T a b e l l e 10. ^ Gefahrenklasse 1. 353 Personen. Nuller

Anzahl der Personen Unfallzahl in den letzten 2 Jahren Mittlere Unfallzahl pro Person in den letzten 2 Jahren

285 61 0,21

Unfäller

68 24 0,35

— 23 — T a b e l l e 11. Gefahrenklasse 2. 1674 Personen. Nuller

Anzahl der Personen Unfallzahl in den letzten 2 Jahren Mittlere Unfallzahl pro Person in den letzten 2 Jahren

Unfailer

1239

435

301

180

0,24

0,41

T a b e l l e 12. Gefahrenklasse 3. 961 Personen. Nuller

Anzahl der Personen Unfallzahl in den letzten 2 Jahren Mittlere Unfallzahl pro Person in den letzten 2 Jahren

693

268

180

121

0,26

T a b e l l e 13. Gefahrenklasse 1. 1 Fraktion zu 300. Mittlere Unfallzahl in den zweiten fünf Jahren für die Nuller

Einser

Mehrer

0,41

0.78

1.14

T a b e l l e 14. Gefahrenklasse 2. 5 Fraktionen zu 300. Laufende Nr. der Fraktion

Unfaller

Mittlere Unrallzahl In den z w e i t e n fünf Jahren für die Nuller

Einser

Mehrer

1

0,42

0,86

1,07

2

0,30

1,17

1,42

3

0,40

1,06

1,27

4

0,66

0,89

1,04

5

0,60

1,07

1,32

0,45



24



Tabelle

15.

G e f a h r e n k l a s s e 3. Laufende Nr. der Fraktion

3 Fraktionen zu 300.

Mittlere Unfallzahl In den zweiten fünf J a h r e n f ü r die Nuller

Einser

Mehrer

1

0,30

0,81

1,23

2

0,62

0,79

1,64

3

0,84

0,90

1,48

Tabelle G e f a h r e n k l a s s e 1.

16.

1 Fraktion zu 300.

Mittlere Unfallzahl In den letzten zwei Jahren f ü r die Nuller

Unfäller

0,21

0,34

Tabelle G e f a h r e n k l a s s e 2. Laufende Nr. der Fraktion

17.

5 F r a k t i o n e n zu

Mittlere Unfallzahl in den letzten zwei Jahren f ü r die Nuller

Unfäller

1

0,14

0,34

2

0,19

0,45

3

0,24

0,68

4

0,29

0,28

5

0,31

0,44

Tabelle G e f a h r e n k l a s s e 3. Laufende Nr. der Fraktion

300.

18.

3 Fraktionen zu 300.

Mittlere Unfallzahl In den letzten zwei J a h r e n f ü r die Nuller

Unfäller 0,40

1

0,18

2

0,26

0,49

3

0,33

0,51



25



Wir sehen hiermit die Ansicht, daß die Wahrscheinlichkeit späterer Unfälle nach früheren zu bemessen ist, auch innerhalb ein und derselben Gefahrenklasse bestätigt. Besonderen Wert lege ich darauf, daß sie auch für die erste Gefahrenklasse, in welcher nur im Bureau beschäftigte Personen vertreten sind, gilt. Wir dürfen hieraus schließen, daß die Lehre, die wir auch kurz als die der Abhängigkeit späterer Unfälle von früheren bezeichnen können, in der T a t nicht nur auf die verschiedenen Berufe, sondern auch auf die verschiedenen Persönlichkeiten der Unfälle erleidenden Individuen zu stützen ist. Allerdings ließe sich gegen diese Ansicht, noch einwenden, die verschiedenen Unfällzahlen der Nuller, Einser und Mehrer bzw. der Nuller und Unfäller könnten daher rühren, daß diese Gruppen von.Personen sich in verschiedenem Maße außerdienstlichen sportlichen Nebenbeschäftigungen hingäben. Die verschiedenen Unfallzahlen wären hiernach nicht auf die Unterschiede der Persönlichkeiten, sondern einfach darauf zurückzuführen, daß in den ersten fünf bzw. zwei J a h r e n Nebenbeschäftigungen ausgeführt wurden, die zur Einteilung in Nuller, Einser usw. führten und die, weil auch noch in den letzten fünf bzw. zwei J a h r e n ausgeübt, die verschiedenen mittleren Unfallzahlen innerhalb dieser Zeiträume verschuldet hätten. U m diesen Einwand zu prüfen, griff ich aus unserem Material die im äußeren Dienst stehenden Unteroffiziere heraus, bei denen von sportlichen Betätigungen in der Vorkriegszeit bekanntlich k a u m die Rede sein konnte. Ich gelangte so zu einem Material von 435 Personen, und ich fand den für das Gesamtmaterial und für die einzelnen Berufsgefahrenklassen festgestellten Verlauf der Zahlen auch für dieses Material (Tabellen 19, 20), und zwar auch, wenn nur die 300 ersten Fälle in Betracht gezogen wurden (Tabellen 21, 22), bestätigt. Hierdurch dürfte auch der Einwand, daß unsere Resultate nicht auf den verschiedenen Persönlichkeiten, sondern auf den verschiedenen Nebenbeschäftigungen der untersuchten Personen beruhen, widerlegt sein.



26

T a b e l l e 19. 435 Personen. Im äußeren Dienst befindliche Unteroffiziere. Mehrer

Nuller

Einser

Anzahl der Personen

234

131

70

Unfallzahl in den' zweiten 5 Jahren

154

136

115

Mittlere Unfallzahl pro Person in den zweiten 5 Jahren

1,04

0,66

1,64

T a b e l l e 20. 435 Personen. Im äußeren Dienst befindliche Unteroffiziere. Nuller

Unr&ller

Anzahl der Personen

357

78

Unfallzahl in den letzten 2 Jahren

117

31

Mittlere Unfallzahl pro Person in den letzten 2 Jahren

0,33

0,40

T a b e l l e n 21 u n d 22. 1 Fraktion zu 300 Personen. Im äußeren Dienst befindliche Unteroffiziere. Mittlere Unfallzahl in den zweiten fünf Jahren fOrdie

Mittlere Unfallzahl in den letzten zwei Jahren für die

Nuller

Einser

Mehrer

Nuller

Unfäller

0,54

1,11

1,49

0,26

0,48

Schließlich soll noch die vorhin gebrauchte

Wendung

von der A b h ä n g i g k e i t späterer U n f ä l l e von früheren näher erklärt werden.

Natürlich meine ich nicht, daß die späteren

Unfälle einer Person regelmäßig v o n ihren früheren Unfällen kausal abhängig sind.

Dies w i r d nur ausnahmsweise der Fall

sein, z. B . dann, w e n n der erste U n f a l l einer Person in einem Beinbruch bestand und wenn sie später infolge der

Nach-

wirkungen dieses Schadens zu Fall kommt und v o n neuem ein

Glied

bricht.

Die

Abhängigkeit

späterer

Unfälle

von



27



früheren wird in der Regel eine bloß logische sein, d. h. sie wird etwa derart sein, wie die Abhängigkeit des Kreisumfangs vom Radius. Wie sich mit dem Radius auch der Umfang ändert, so ändert sich unseren Ergebnissen zufolge mit der mittleren Anzahl der früheren Unfälle einer großen Anzahl von Personen auch die mittlere Anzahl ihrer späteren Unfälle. Und wie wir aus dem Radius eines Kreises auf seinen Umfang schließen können, so können wir aus den früheren Unfällen einer großen Anzahl von Personen auf die späteren Unfälle dieser Personen einen Schluß ziehen. Die Stringenz beider Schlußweisen ist freilich eine verschiedene. In dem geometrischen Beispiel ist sie eine absolute, in unserem F a l l liegen nur nicht unbedingt stringente statistische Schlüsse vor 1 ). Die Schlüsse von früheren Unfällen auf spätere finden ihre Begründung darin, daß Bedingungen der früheren Unfälle (speziell B e r u f und persönlicher F a k t o r ) in die Bedingungen der späteren Unfälle eingehen. Wir dürfen demnach neben den Gefahrenklassen im bisherigen Sinne, die wir nun als Berufsgefahrenklassen bezeichnen wollen, auch Persönlichkeitsgefahrenklassen unterscheiden. Wie die verschiedensten Berufe, wenn sie den Versicherten ungefähr in gleichem Maße gefährden, in ein und dieselbe Berufsgefahrenklasse eingereiht werden, so dürfen offenbar auch die verschiedensten Personen bzw. Persönlichkeiten, wenn sie ungefähr gleiche Unfallneigung zeigen, unter ein und dieselbe Persönlichkeitsgefahrenklasse subsumiert werden. Untersuchungen nach Art der unserigen sind offenbar geeignet; eine große Anzahl versicherter Personen schon nach zweijähriger B e o b a c h t u n g unter Persönlichkeitsklassen zu subsumieren, die nach einem Zwischenr a u m von sechs J a h r e n noch bedeutsam sein können 2 ). x ) Über statistische Schlüsse habe ich in meiner Gleichförmigkeit in der Welt (Bd. 1, S. 232ff.) ausführlicher gehandelt. 2 ) Die wichtigsten Ergebnisse dieses § 5 habe ich früher schon in der Zeitschrift „Praktische Psychologie" (4. Jahrgang, Heft 9, 1923, S. 257 ff.) mitgeteilt. Dort wurde auch schon das Problem der systematischen Prüfung der Unfallneigung diskutiert.

§ (¡.

Berufsgefahrenklassen und Persönlichkeitsgefahrenklassen.

Wenn, wie wir schon sahen, sowohl der Beruf als der persönliche Faktor von Bedeutung für das Entstehen von Unfällen ist, so kann die Frage gestellt werden, ob für eine bestimmte Gruppe von Personen die Zugehörigkeit zu verschiedenen Berufsgefahrenklassen oder die Zugehörigkeit zu verschiedenen Persönlichkeitsgefahrenklassen im allgemeinen zu größeren Unterschieden betreffs der Häufigkeit ihrer Unfälle führt. Diese Frage habe ich für unser Material von 3000 Personen zu beantworten versucht. Ich berechnete die mittleren Unfallzahlen für die Mitglieder der einzelnen Gefahrenklassen in den letzten fünf bzw. zwei Jahren, wobei sich die Werte der Tabelle 23 ergaben. T a b e l l e 23. Gefahrenklasse

1 2 3

Mittlere Unfallzahlen in den letzten fünf Jahren

zwei J a h r e n

0,60 0,81 0,88

0,24 0,29 0,31

Wir sehen aus dieser Tabelle, daß die von der Gesellschaft statuierten Gefahrenklassen auf viel geringere absolute und relative Unterschiede der mittleren Unfallzahlen führen als die von uns statuierten Persönlichkeitsgefahrenklassen. Denn die letzten Zahlen schwanken nur zwischen 0,60 und 0,88 bzw. zwischen 0,24 und 0,31, während die oben mitgeteilten Zahlen des Gesamtmaterials für die Nuller, Einser und Mehrer bzw. die Nuller und Unfäller (also die Zahlen 0,52 und 0,91 und 1,34 bzw. die Zahlen 0,24 und 0,42) absolut



29



und relativ ganz erheblich viel mehr voneinander abweichen. Hieraus folgt, daß sich innerhalb unseres Materials die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Berufsgefahrenklasse für das Erleiden von Unfällen in den letzten fünf bzw. zwei Jahren viel irrelevanter erweist als die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Persönlichkeitsgefahrenklasse. Es kann also kein Zweifel darüber bestehen, daß bei unserem Material die Zugehörigkeit zu verschiedenen Persönlichkeitsgefahrenklassen für die Unfallfrage viel gewichtiger ist als die Zugehörigkeit zu verschiedenen Berufsgefahrenklassen. Da müßten nun neue Studien einsetzen. Analoge Untersuchungen wie die unsrigen sollten von den Versicherungsgesellschaften in Angriff genommen werden, wobei die übliche Statuierung von 12 Gefahrenklassen zu berücksichtigen wäre. Auch im Rahmen der sozialen Unfallversicherung ließen sich solche Untersuchungen ausführen. Überall wäre festzustellen, ob und inwieweit die Zugehörigkeit zu verschiedenen Berufsgefahrenklassen .oder zu verschiedenen Persönlichkeitsgefahrenklassen eine größere Verschiedenheit der Gefährdung der Versicherungsnehmer nach sich zieht. Natürlich könnte von den privaten Unfallversicherungsgesellschaften die Untersuchung nur insoweit durchgeführt werden, als sie die Geschädigten nicht schon nach dem ersten schwereren Unfall sogleich entlassen. Nötigenfalls wäre daher die Untersuchung erst mit einem jetzt fällig werdenden Material zu beginnen und von der Entlassung abzusehen. Nach unseren obigen Erfahrungen mit unserem ganz kleinen Material muß erwartet werden, daß sich, wenn mit den großen Materialien der privaten Versicherungsgesellschaften und der sozialen Unfallversicherung gearbeitet wird, schon in wenigen Jahren wertvolle, freilich immer wieder nachzuprüfende Resultate ergeben. Diese Resultate könnten praktische Verwendung finden.

§ 7. Über die praktische Bedeutung der Persönlichkeitsgefahrenklassen. Sollte sich irgendwo herausstellen, daß wie in unserem Material die Unterschiede der Persönlichkeitsgefahrenklassen viel gewichtiger sind als die der Berufsgefahrenklassen, so wäre vielleicht so zu verfahren, daß man zwar bei der Aufnahme in die Versicherung die Prämien nach Berufsgefahrenklassen abstuft, daß man aber dann nach einigen Jahren die Prämien nach der nun offensichtlichen Zugehörigkeit zu den Persönlichkeitsgefahrenklassen richtet. Sollte sich aber, was nicht zu bezweifeln ist, auch nur eine g e w i s s e Bedeutung der in Frage kommenden Persönlichkeiten für das Erleiden von Unfällen statistisch erhärten lassen, so wäre immerhin zu erwägen, ob nicht unter Aufrechterhaltung der Berufsgefahrenklassen — je nach den gewonnenen Erfahrungen betreffs der persönlichen Unfallneigungen — ^ Prämienzuschläge oder -abschläge einzuführen wären. Analog wie die Prämien für die Berufsgefahrenklassen wären natürlich die Zusatzprämien für die Nebenbeschäftigungen, von denen im § 3 die Rede war, zu behandeln. Die Höhe der Prämien muß sich nach dem Risiko des Versicherers richten. Diesem Gebot kann natürlich um so mehr entsprochen werden, je mehr die verschiedenen Gefährdungen der einzelnen Versicherten bekannt sind. Zweifellos orientieren wir uns aber den obigen Ergebnissen zufolge über diese Gefährdungen viel besser als bisher, wenn wir außer den Berufen und Beschäftigungen auch ihre Persönlichkeiten, soweit sie durch frühere Unfälle gekennzeichnet werden, heranziehen. Eine Abstufung der Prämien unter Berücksichtigung der erlittenen Unfälle würde den Forderungen der Gerechtig-

— 31 — keit entsprechen, aber auch der Unfallbereitschaft und daher auch den Unfällen entgegenwirken (vgl. § 11), die privaten Unfallversicherungsgesellschaften und die soziale Unfallversicherung finanziell kräftigen und dem wahren Wohl der Versicherten dienen. Allerdings müßten auch die Arbeiter selbst zur Prämienzahlung herangezogen werden (s. gleichfalls §11). Es ist mir übrigens klar, daß man weder in der Wissenschaft noch in der Technik, noch auch im Versicherungswesen mit bloßen Ideen weiterkommt. Die Ideen erfordern eine exakte wissenschaftliche und praktische Prüfung ihres Gehalts und sie müssen zu empirischen Untersuchungen anleiten. Deshalb sind zunächst, wie oben bemerkt, umfängliche Untersuchungen über den Zusammenhang von Persönlichkeits- und Berufsgefahrenklassen anzustellen. Aber auch der Einfluß etwaiger Prämienabstufung nach Persönlichkeitsklassen auf die Unfallhäufigkeit müßte zunächst bei besonders geeigneten Personengruppen untersucht werden. Soweit diese Gedanken, sowie die Idee zu der vorliegenden Schrift schon im ersten Band meiner Gleichförmigkeit in der Welt entwickelt wurden 1 ), haben sie durch Emanuel Gzuber eine Kritik erfahren. Czuber, der mit meiner Ansicht von der Abhängigkeit späterer Unfälle von früheren übereinstimmt, meint 2 ), die Versicherung könne dieser Ansicht nicht Rechnung tragen. „Bei der gesetzlichen Versicherung der Arbeiter ist es ausgeschlossen; denn diese hat es nicht mit den Unfällen einzelner Personen, sondern mit den Unfällen als unvermeidlichen Begleiterscheinungen der industriellen, gewerblichen, landwirtschaftlichen Arbeit zu tun, eine Individualisierung verbietet auch der soziale Charakter der Versicherung. Bei der freien Unfallversicherung stünden vorerst der Gewinnung K. Marbe, Die Gleichförmigkeit in der Welt. B d . 1, 1916, S. 384 ff. 2 ) E. Czuber, Die philosophischen Grundlagen der Wahrschein lichkeitsrechnung (Wissenschaft und Hypothese). Bd. 24. Leipzig und Berlin 1923, S. 319ff.



32



eines diesen Sachverhalt berücksichtigenden genügend großen statistischen Materials außerordentliche Schwierigkeiten entgegen.'" Meine gegenwärtigen Mitteilungen zeigen, daß sich ein statistisches Material zum Studium der fraglichen Probleme bei der freien oder privaten Unfallversicherung wohl gewinnen läßt. Auch dürfte eine individuelle Behandlung der Mitglieder der sozialen Versicherung wohl am Platze sein, da sie ja zur Verminderung der Anzahl der Unfälle führen und gerade deshalb dem sozialen Charakter der Versicherung dienlich sein müßte. Bei der privaten Unfallversicherung wäre die Individualisierung auch deshalb zu empfehlen, weil sie zu einer gerechteren Abstufung der Prämien führen würde. Der Sinn der privaten Unfallversicherung ist Schutz gegen zufällige Schäden; es scheint mir daher nicht gerecht, daß hier die besonders zu Unfällen neigenden Personen teilweise durch andere Personen entlastet werden. Jnwieweit der Sinn der sozialen Unfallversicherung mit diesem Prinzip der Gerechtigkeit im Widerspruch steht oder nicht, kann natürlich nicht kurzer Hand entschieden werden. Jedenfalls aber ist die Abstufung der Prämien nach Persönlichkeitsgefahrenklassen nicht bedenklicher als die Entlohnung nach Maßgabe der persönlichen Leistungen. Ich kann somit Czubers Einwänden nicht beitreten. Auf die umfangreichen Ausführungen des berühmten Mathematikers 1 ) über früher von mir geäußerte Ansichten aus dem Gebiet der Theorie der Wahrscheinlichkeitsrechnung und der Philosophie darf in der vorliegenden Schrift natürlich nicht eingegangen werden. x

) E. Czuber, a. a. O. an den aus cfem Inhaltsverzeichnis ersichtlichen Stellen.

§ 8.

Uniallversuche mit Schulkindern.

Ähnliche Untersuchungen, wie wir sie für Teilnehmer an unserer Militärversicherung ausführten, habe ich auch mit Schulkindern anstellen lassen. Hierbei ergab sich das interessante Resultat, daß sich schon innerhalb kürzester Zeit, nämlich innerhalb weniger als zwei Monaten und mit nur 124 Versuchspersonen die Abhängigkeit späterer körperlicher Schäden von früheren deutlich erweisen ließ. Ich bat drei Landlehrer, die in meinem Institut arbeiteten, jeweils vor dem Unterricht einen Rundgang durch die Klasse zu machen und die körperlichen Verletzungen der Kinder, wie Hautschürfungen, Schnitte, Beulen, Wunden usw., soweit sie an den unbekleideten Körperteilen sichtbar warän, festzustellen. Jede neue Verletzung wurde ebenso wie ihre vom Schulkind namhaft zu machende Ursache genau protokolliert. Die innerhalb zehn aufeinander folgenden Tagen eingetretenen Verletzungen wurden jeweils in eine Dekade zusammengefaßt. Die Beobachtungen umfaßten fünf aufeinander folgende Dekaden und die Zeit vom 2. Januar bis zum 20. Februar 1925. Sie wurden in dem Dorfe Gochsheim bei Schweinfurt und in den näher bei Würzburg gelegenen Dörfern Güntersleben und Eibelstadt ausgeführt. Der Gochsheimer Lehrer (Herr Margraf) hatte einen zweiten, der Günterslebener (Herr Braun) einen vierten Jahrgang zu unterrichten, wobei der Unterricht für Knaben und Mädchen gesondert stattfand. Der Eibelstadter Lehrer (Herr Breu) unterrichtete drei Jahrgänge, in denen jeweils Knaben und Mädchen vereinigt waren. Die Kinder in Gochsheim waren ungefähr 8, die in Güntersleben ungefähr 10 und die in Eibelstadt ca. 7 bis Psych, d. Unfälle.

3

— 34 — 10 Jahre alt. Im ganzen wurden 124 Kinder untersucht. Die Anzahl der Kinder der einzelnen in Frage kommenden Kategorien ergibt sich aus der letzten Zeile der Tabelle 24. T a b e l l e 24. Anzahl der Nuller, Einser, Zweier usw. gemäß der ersten zwei Dekaden. Gochsheim

GQntersleben

2. Jahrgang 4. Jahrgang Knaben Mädchen Knaben Midchen Nuller . . Einser. . Zweier . Dreier . . Vierer . . Fünfer . Sechser . Siebener Elfer. . . Summe:

2 3 2 4 4 1 1

5 2 2 2 3 1

Eibelstadt 3 nach Geschlechtem gemischte Jahrgänge Jahrgang 1 2 3

8 6 3 1 1 1

13 3 2 1 1

1 6 2 1

8 9 3 1

2 9 7 1 1

19

20

10

21

20

1 1 18

16

aP e

£

39 37 21 11 10 3 1 1 1 124

Unter Nullern verstehe ich in dieser Tabelle diejenigen Kinder, die in den b e i d e n e r s t e n D e k a d e n keine Verletzungen hatten, unter Einsern diejenigen, die in dieser Zeit einen körperlichen Schaden aufwiesen, unter Zweiern diejenigen, die in dieser Zeit zwei Schäden zeigten usw. In der Tabelle 24 habe ich die Anzahl der Nuller, Einser usw. mitgeteilt. In Tabelle 25 habe ich für die nach den ersten zwei Dekaden festgestellten Nuller, Einser, Zweier usw. die Anzahl der Verletzungen in den d r e i l e t z t e n D e k a d e n angegeben. Die 124 Kinder hatten in den drei letzten Dekaden, wie man aus Tabelle 25 sieht, im ganzen 710 Schäden. In den beiden ersten Dekaden wiesen sie alle miteinander nur 191 Verletzungen auf, woraus zu schließen sein dürfte, daß sich die Beobachtungen der Lehrer im Laufe der Zeit wesentlich verbesserten.

— 35 — T a b e l l e 25. Anzahl der Schäden in den letzten drei Dekaden. Gochsheim

Güntersleben

2. Jahrgang 4. Jahrgang Knaben Mädchen Knaben Mädchen Nuller . . Einser. . Zweier . Dreier . . Vierer . . Fünfer . Sechser . Siebener Elfer. . . Summe:

16 9 6 41 44 5 2

5 2 4 8 30 5

46 37 44 4 18 18

46 22 13 5 11

Eibelstadt 3 nach Geschlechtern gemischte Jahrgänge Jahrgang 1 2 j 3 24 ! 9 42 63 19 j 40 12 3 i1 1 10

3 22 5 .4

1 7

7 130

61

166

97

88

34

134

ec e 3 m 148 197 131 77 113 28 2 7 7 710

In Tabelle 26 habe ich aus den letzten Kolumnen der zwei vorhergehenden Tabellen die mittlere Anzahl der Verletzungen oder körperlichen Schäden, kurz die mittlere Schadenzahl abgeleitet, wobei die Werte für die Vierer bis Elfer zusammengefaßt wurden. T a b e l l e 26. Mittlere Schadenzahl der Nuller, Einser usw. für die letzten drei Dekaden.

a

6

Mittlere Sehadenzahl 6 a

39 37 21 11 16

148 197 131 77 157

3,79 6,32 6,24 7,00 9,81

Zugehörige Schadenzahl

Anzahl der Nuller „ Einser „ „ Zweier „ Dreier Anzahl der Vierer bis Elfer

Wir sehen aus Tabelle 26, daß trotz unseres kleinen Materials auch hier ganz analoge Tatsachen zutreffen wie bei unserer militärischen Unfallversicherung. Wie sich dort die Personen, die in einer bestimmten Anzahl von Jahren 3*



36



null bzw. einen bzw. mehr Unfälle erlitten, auch noch in späteren Jahren hinsichtlich ihrer Unfallzahl durchschnittlich deutlich voneinander unterschieden, so zeigt sich auch hier bei unseren Kindern eine offensichtliche logische Abhängigkeit späterer Körperschäden von früheren, hur daß diese nicht erst innerhalb von Jahren, sondern sogar schon innerhalb von Wochen in die Erscheinung tritt. Die Nuller aus den zwei ersten Dekaden haben in den drei letzten Dekaden durchschnittlich weniger Schäden als die Einser, diese wieder weniger als die Zweier usw. Gewiß darf man Tabelle 26 in statistischer Hinsicht nicht überschätzen. Es ist aber bemerkenswert, daß in (> unter 7 Fällen sich die Abhängigkeit späterer Verletzungen von früheren sogar schon ergibt, wenn man die einzelnen Jahrgänge bzw. Knaben- oder Mädchenklassen betrachtet. Ich habe für die einzelnen Kolumnen der Tabelle 24 bzw. 25 zunächst die erste Hälfte der Werte in eine erste Abteilung und dann die zweite Hälfte in eine zweite Abteilung zusammengefaßt. Enthielt jedoch eine Kolumne eine ungerade Anzahl von Werten, so wurde der zweiten Abteilung ein Posten mehr zugeteilt als der ersten. Dann wurde die mittlere Schadenzahl für die einzelnen Abteilungen berechnet. Hieraus ergab sich Tabelle 27. T a b e l l e 27. Mittlere .Schadenzahl in der

1. Abteilung 2. Abteilung

Gochsheim

Güntersiebe ii

2. Jahrgang

4. Jahrgang

Knaben Mädchen

Knaben ¡Mädchen

t

i

6,55 8,29

! 1,22 ; 7,14

7,88 ! 4,25 13,33 | 7,25

Eibelstadt 3 nach Geschlechtern gemischte Jahrgänge Jahrgang 1

2

3

3,57 ' 3,88 6,55 3,00 5,50 : 6,89

Die unter dem Begriff der Nuller zusammengefaßten Personen bilden mit Rücksicht auf ihre Gefährdung durch Unfälle eine Gefahreneinheit 1 ). Die Einser bilden eine Der übliche Begriff der Gefahreneinheit in der Versicherungswissenschaft ist ein etwas anderer. Vgl. Alfred Manes, Versicherungswesen. 3. Aufl., Bd. 1. Leipzig und Berlin 1922, S. 121.



37



höhere, die Zweier eine noch höhere Gefahreneinheit. Wir können daher sagen, daß die erste Abteilung in unserer Tabelle 27 die (nach den Erfahrungen der ersten beiden Dekaden gewonnenen) niedereren, die zweite die (nach den Erfahrungen der ersten beiden Dekaden gewonnenen) höheren Gefahreneinheiten umfaßt. Unsere Tabelle 27, welche die mittleren Schadenzahlen in den drei letzten Dekaden angibt, zeigt daher, daß diese für die niedereren Gefahreneinheiten der beiden ersten Dekaden in allen 7 Klassen bzw. Jahrgängen niederer sind als für die höheren Gefahreneinheiten der beiden ersten Dekaden, mit Ausnahme der Werte für den ersten Jahrgang in Eibelstadt. Daß die Gesetzmäßigkeit gerade hier nicht zutrifft, ist begreiflich, wenn man bedenkt, daß dieser Jahrgang die geringste Kinderzahl, nämlich nur zehn Kinder umfaßt. Hiernach dürfte kein Zweifel darüber sein, daß analoge Tatsachen, wie die von uns bei der Militärversicherung festgestellten, in der Tat auch bei unseren Schulkindern zutreffen. Wenn wir eine große Anzahl von Personen nach ihren Berufen in Gruppen einteilen und wenn diese Berufe verschiedene Gefährlichkeit aufweisen, so werden die Personen auch zu verschiedenen Zeiten gruppenweise verschieden gefährdet sein. Schon dieser Umstand führt auf die Lehre der logischen Abhängigkeit späterer Unfälle von früheren. Dies wurde schon im § 5 angedeutet. Dort wurde aber auch gezeigt, daß auch die relative Konstanz der verschiedenen P e r s ö n l i c h k e i t e n dazu führt, daß Personen, die während einer gewissen Zeit weniger (mehr) Unfälle hatten, auch in einer späteren Zeit durchschnittlich weniger (mehr) Unfälle zeigen. Unsere Untersuchungen mit Schulkindern können nun selbstverständlich nicht unter dem Gesichtspunkt des Berufes, sondern nur dem der außerschulischen Beschäftigungen betrachtet werden. Diese Beschäftigungen (zu denen natürlich auch die Spiele zu rechnen sind) sind aber je nach dem Milieu der Kinder und den sehr verschiedenen häuslichen Verhält-

— 38 — a •a 6c c V»4



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39



nissen und zumal in den drei verschiedenen Dörfern so verschieden, daß sich ihr Einfluß auf die Verletzungen einer statistischen Untersuchung entzieht. Unsere Schuluntersuchungen gest atten daher auch nicht, den Einfluß der Persönlichkeit in der Weise herauszuheben, wie dies bei den Militäruntersuchungen möglich war. Sie beziehen sich aber auch gar nicht oder doch nur zum allergeringsten Teil auf eigentliche Unfälle. Denn die Verletzungen oder Körperschäden sind meist so unerheblicher Art, daß sie nicht als Unfälle angesehen werden können. Dies ergibt sich aus der Tabelle 28, in welcher ich alle Schäden desjenigen Kindes anführe, das innerhalb unserer fünf Dekaden am meisten Verletzungen hatte. Diese Tabelle hat vielleicht auch insofern einiges Interesse, als sie wenigstens einen gewissen Einblick in die Verletzungen unserer Schulkinder gewährt. Ich habe in ihr auch, die Ursachen der Verletzungen erwähnt. Unsere Sch^luntersuchungen zeigen hiernach, innerhalb wie kurzer Zeit man unter Umständen ein Urteil über die durchschnittliche Gefährdung von Menschen gewinnen kann, das auch für die Zukunft eine gewisse Bedeutung besitzt. Und wenn sie sich auch nicht auf eigentliche Unfälle beziehen, so dürfen sie doch als Untersuchungen über die Gefährdung durch Unfälle aufgefaßt werden. Denn zweifellos sind die Kinder, die während einer Reihe von Dekaden mehr Verletzungen zeigten als andere, auch (wenn die Umweltsund Persönlichkeitsverhältnisse ungefähr die gleichen bleiben) in der Zukunft eigentlichen Unfällen mehr ausgesetzt als andere. Deshalb wurden diese Untersuchungen auch im Titel des vorliegenden Paragraphen als Unfalluntersuchungen bezeichnet. Natürlich haben solche Untersuchungen aiich eine gewisse pädagogische Bedeutung, auf die jedoch hier nicht eingegangen werden kann. Den Herren Lehrern Margraf, Braun und Breu spreche ich für ihre Bemühungen meinen besten Dank aus.

§ 9.

Unfallneigimg und Lebensalter.

Die Persönlichkeit des Menschen ändert sich auch mit dem Lebensalter. Es muß also die Frage aufgeworfen werden, inwieweit auch die Unfallneigung mit dem Lebensalter zusammenhängt. Ich habe daher die 3000 Personen meiner Militärversieherung in den zehn Beobachtungsjahren auf ihr Alter geprüft und sie so in drei Fraktionen eingeteilt, daß die jüngsten Personen in die erste, die älteren in die zweite und die ältesten in die dritte Fraktion fielen. Hierbei war ich zugleich darauf bedacht, Fraktionen von ungefähr gleicher Größe zu erhalten. So ergab sich eine Fraktion von 998 Personen, die im ersten Beobachtungsjahr 16 bis 21, eine Fraktion von 990 Personen, die im ersten Beobachtungsjahr 22 bis 26, und eine Fraktion von 1012 Personen, die im ersten Beobachtungsjahr 27 bis 58 Jahre alt waren. Für jede dieser Fraktionen wurde dann die Gesamtzahl der Unfälle während der beobachteten zehn Jahre gezählt und die entsprechende mittlere Unfallzahl pro Person berechnet. Dies führte zu Tabelle 29, .welche zeigt, daß für die Personen unserer Militärverwaltung die mittleren Unfallzahlen mit wachsendem Alter abnehmen. T a b e l l e 29. a

b

c

d

Alter Im ersten Beobachtungsjahr

Gesamtzahl der Unfälle in den zehn Beobachtungsjahren

Mittlere Unfallzahl pro Person

998

16—21

1941

1,94

990

22—26

1667

1,68

1012

27—58

1298

1,28

Anzahl der Personen

(i)



41



Hieraus darf man aber nicht ohne weiteres schließen, daß auch die Unfallneigung mit zunehmendem Alter geringer wird. Denn der Verlauf der Zahlen in unserer Tabelle 29 kann auch damit zusammenhängen, daß die älteren Militärpersonen deshalb beruflich weniger gefährdet sind als die jüngeren, weil ihnen dienstlich minder gefährliche Betätigungen zugemutet werden als diesen. Jedenfalls aber legen die Zahlen die Ansicht nahe, daß ein Steigen der Unfallneigung mit zunehmendem Alter nicht stattfindet. Betrachtet man das Material getrennt nach gefahrenklassen, so ergibt sich Tabelle 30.

Berufs-

T a b e l l e 30. b

c

d

Anzahl der Personen

Alter im ersten Beobachtungsjahr

Gesamtzahl der Unfälle In den zehn Beobachtungsjahren

Mittlere Unfallzahl pro Person

182 172

16—28 29—56

208 190

1,14 1,11

878 802

16—23 24-58

1638 1099

1,87 1,37

494 472

17—23 24—52

992 779

2,01 1,65

a Berufsgefahrenklasse

o

G)

Die Tabelle zeigt, daß innerhalb der Berufsgefahrenklasse 1, welche die Bureaubeamten und ständigen Schreiber, sofern sie nicht außerhalb des Bureau- und Verwaltungsdienstes beschäftigt werden, umfaßt, nur eine relativ geringe Abnahme der mittleren Unfallzahl mit dem Alter stattfindet. Denn in Klasse 1 unterscheidet sich die mittlere Unfallzahl für die Personen von 16 bis 28 Jahren von derjenigen für die Personen von 29 bis 56 Jahren nur um 0,03 Einheiten, während die Differenz der mittleren Unfallzahl für die jüngeren und der mittleren Unfallzahl für die älteren Personen in den Berufsgefahrenklassen 2 und 3 ganz erheblich mehr, nämlich 0,50 bzw. 0,36 beträgt. Da die Klassen 2 und 3 nur im äußeren Dienst

— 42 — beschäftigte Militärpersonen enthalten, die Klasse 1 aber nur reine Bureaubeamte und Schreiber, und da, wie wir sahen, nur in den Klassen 2 und 3 die mittlere Unfallzahl mit dem Alter deutlich abnimmt, so wird man annehmen müssen, daß in der Tat diese Abnahme möglicherweise damit zusammenhängt, daß die Gefährdung im äußeren Dienst mit zunehmendem Lebensalter nachläßt. Immerhin leistet aber auch Tabelle 30 der Ansicht, daß die Unfallneigung mit wachsendem Alter steige, keinerlei Vorschub. Die Tabellen 29 und 30 habe ich schon in einem Aufsatz über „Untersuchungen zur Unfallstatistik" in der Zeitschrift für die gesamte Yersicherungswissenschaft mitgeteilt 1 ). Zu verwandten Ergebnissen kam die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt. Auf Grund von sehr umfangreichen Untersuchungen, die übrigens zahlenmäßig im einzelnen nicht wiedergegeben sind, schreibt sie: „Einmal ließ sich eine Steigerung der Unfallhäufigkeit 2 ) mit zunehmendem Alter nicht nachweisen, und zwar weder für Betriebs- noch für Nichtbetriebsunfälle; es fand sich im Gegenteil eine überraschende Konstanz der Unfallhäufigkeit für die Altersgruppen der Lebensperiode von 25 bis 60 Jahren, eine Feststellung, die von Interesse ist für die Bewertung der aus den Lohnangaben von Verletzten berechneten Mittelwerte und der aus diesen gezogenen Schlüsse. Dann wurde für die jungen Alter und namentlich für die auf die Lehrzeit fallenden, unter 20 Jahren liegenden Altersjahre eine wesentlich höhere Unfallhäufigkeit festgestellt, als sie in den Altern 25 bis 60 besteht, ein Resultat, das durch eine für Lehrlinge durchgeführte Spezialuntersuchung bestätigt wurde und beweist, daß die der Jugend eigene Verkennung der Gefahr und der jugendliche Übermut sowohl in der Versicherung der BeK. Marbe, Untersuchungen zur Unfallstatistik, Zeitschrift für die gesamte Yersicherungswissenschaft, Bd. 24, Heft 3, 1924, S. 201. 2 ) Unter Unfallhäufigkeit versteht man die Zahl der Unfälle bezogen auf eine bestimmte Risikoeinheit. Als solche wurde auf dem internationalen Kongreß für Sozialversicherung im Jahre 1905 der Vollarbeiter festgesetzt entsprechend einer Risikozeit von 300 Arbeitstagen.



43



triebs- wie der Nichtbetriebsunfälle gefahrerhöhende Momente sind, und daß die stets noch aufgestellte Behauptung, das Unfallrisiko eines Betriebes sei kleiner, wenn er nur Lehrlinge und Jugendliche beschäftige, als durch die Erfahrungen widerlegt betrachtet werden muß 1 )." Auch die Ergebnisse der Schweizerischen Versicherungsanstalt führen daher zu der Annahme, daß eine Steigerung der Unfallneigung mit zunehmendem Lebensalter nicht a u f t r i t t . Ihre Behauptung, daß bei ihrem Material eine überraschende Konstanz der Unfallhäufigkeit für die Altersgruppen der Lebensperiode von 25 bis 60 Jahren stattfindet, läßt sich freilich mittels unserer Untersuchungen nicht verifizieren. Sie steht aber auch nicht mit derselben im Widerspruch, wenn m a n bedenkt, daß die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt keine Militärversicherung betreibt und daß hier die Gründe, die speziell bei unserer Militärversicherung eine Abnahme der mittleren Unfallzahl mit dem Lebensalter begreiflich erscheinen lassen, wegfallen. Wenn die Schweizer Anstalt darauf hinweist, daß die jungen Alter ganz besonders gefährdet sind, so dürfte dies mit unserer Tabelle 31 übereinstimmen. Dieselbe ist eine Wiederholung von Tabelle 29, doch sind hier die Personen, die im ersten Beobachtungsjahr 16 bis 26 Jahre alt waren, nicht zusammengefaßt, sondern nach Jahrgängen aufgeführt. Wahrscheinlich werden die relativ sehr großen mittleren Unfallzahlen bei den Jahrgängen 16 bis 26 oder doch gewiß bei den Jahrgängen 16 bis 20 nicht allein auf die größere dienstliche Inanspruchnahme der jüngeren Militärpersonen zurückzuführen sein. Daß die jüngeren Arbeiter, insbesondere die zwischen 16 und 25 Jahren, Unfällen ganz besonders ausgesetzt sind, ist auch für die deutsche Holzindustrie nachgewiesen 2 ). 1) Schweizerische Uniallversicherungsanstalt. Ergebnisse der Unfallstatistik der ersten fünfjährigen Beobachtungsperiode 1918—1922. S. 9. (Nicht im Buchhandel). 2 ) O. Heller, Eignungsprüfung und Unfallvorbeugung in der Holzindustrie. Industrielle Psychotechnik. 1. Jahrgang, August 1924, Heft i , S. 100.



44



T a b e l l e 31. a Anzahl der Personen

2 9 92 228 366 301 225 237 190 180 158 1012

b

0

Gesamtzahl Alter im der Unfälle in ersten den zehn BeobachtungsBeobachtungsjahr jahren

16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27—58

8 25 192 457 736 523 429 375 322 296 245 1298

d Mittlere Unfallzahl pro Person (1)

4.00 2,78 2,09 2,00 2.01 1,74 1,91 1,58 1,69 1,64 1,55 1,28

Wir können hiernach zusammenfassend sagen: 1. Eine Zunahme der Unfallneigung mit dem Alter ist nicht nachgewiesen. 2. Eine erhöhte Unfallneigung scheint dagegen in jüngeren Jahren und ganz besonders in der Zeit unter 20 Jahren zu bestehen. 3. Die erhöhte Unfallneigung in jüngeren Jahren dürfte mit der jugendlichen Verkennung der Gefahren und dem jugendlichen Übermut zusammenhängen. Ob es mit Rücksicht auf Punkt 1 richtig ist, innerhalb der privaten Unfallversicherung den Personen über 65 Jahren in der Regel keine Versicherung zu gewähren und die Personen über 60 Jahren (sofern sie noch körperlich rüstig und beweglich sind) nur von Jahr zu Jahr gegen eine um eine Berufsgefahrenklasse erhöhte Prämie zu versichern 1 ), muß dahingestellt bleiben. Vielleicht würde sich mit Rücksicht auf Punkt 2 eine Erhöhung der Prämien für Personen bis zu Vgl. Wörner in A. Manes' Versicherungslexikon. Artikel Unfallversicherung, S. 1247 f.

2. Aufl., 1924,



45



20 Jahren empfehlen. Mit der erhöhten Unfallneigung junger und besonders jugendlicher Personen hängt wohl auch die während des Weltkrieges öfters vertretene Ansicht zusammen, daß sich diese im Feld unvorsichtiger erwiesen als die älteren. Doch wird bei den Jüngeren auch Mangel an Kriegserfahrung der Unvorsichtigkeit Vorschub geleistet haben.

§ 10.

Psychologie der Unfallneigung.

Die persönliche Unfallneigung umfaßt offenbar eine große Anzahl von Eigenschaften psychologischer und physiologischer Art. Je mehr jemand fähig ist, seine Aufmerksamkeit zu konzentrieren, je mehr er über Körpergewandtheit und Handgeschicklichkeit verfügt, je weniger er zu Leichtsinn und Sorglosigkeit neigt, je größer seine Reaktionsgeschwindigkeit ist, desto geringer wird auch seine persönliche Unfallneigung sein. Aber natürlich ist die Sache durch diese Gesichtspunkte noch nicht erschöpft. So besteht zweifellos auch ein Zusammenhang zwischen Neigung zum Alkohol und Disposition zu Unfällen; je mehr jemand zu erheblichem Alkoholgenuß neigt, desto größere Unfallneigung wird er zeigen. Auch dürften zwischen Temperament und Unfallneigung bestimmte Beziehungen bestehen. Auch wird die Unfallneigung um so geringer sein, je mehr Geistesgegenwart jemand besitzt, je rascher er eine bestimmte Situation zu übersehen geeignet ist, je weniger er sich durch unerwartete Situationen verwirren läßt und je weniger er Schreckwirkungen zugänglich ist. Diese Eigenschaften hängen mehr oder weniger mit der Umstellungsfähigkeit oder Umstellbarkeit der Menschen zusammen. Wir haben oben gesehen, daß die Einstellung der Persönlichkeit einem steten Wechsel unterworfen ist. Der Übergang von einer bestimmten Einstellung zu einer andern vollzieht sich nun individuell sehr verschieden. So können sich viele Personen nur langsam auf ein neues Arbeitsgebiet einstellen; sie brauchen lange Zeit, um sich auf einen Stoff zu konzentrieren und sie sind nur mühsam oder gar nicht imstande, ihre Tätigkeit in kürzester Zeit mehrfach zu wechseln. Solchen Personen ist die Umstellung unangenehm.



47



Andere wieder folgen mit Vergnügen wechselnden Aufgaben und stellen sich stets mit Leichtigkeit auf neue Anforderungen ein. Diese gehören zu den guten, jene zu den schlechten Umstellern. Übrigens ragt die Bedeutung des Umstellungsbegriffes weit über die Arbeits- und Unfallpsychologie hinaus. So ist er auch für die Theorie des Heimwehs einschlägig 1 ). Es gibt generell gute und generell schlechte Umsteller. Alle Personen dürften aber in verschiedenen Gebieten eine verschieden große Umstellbarkeit zeigen. Die experimentelle Prüfung der Umstellbarkeit wird sich daher immer nur mit der Umstellbarkeit in einem bestimmten Gebiet beschäftigen können. Bei Experimenten über die Umstellbarkeit auf neue Leistungen kann man so verfahren, daß man den Versuchspersonen eine bestimmte Arbeit zumutet, dann einen Wechsel der Arbeit verlangt und dann den Einfluß des Wechsels auf die Qualität und Geschwindigkeit (Quantität) der Arbeit feststellt. Natürlich kann aber auch öfters unmittelbar nacheinander zwischen zwei verschiedenen Arbeiten gewechselt werden. Die besten Umsteller sind dann zweifellos diejenigen, deren Arbeit durch die Umstellung qualitativ und quantitativ am wenigsten leidet. Solche Versuche wurden von Maria Zillig und Axel Kränzen in meinem Institut ausgeführt. M. Zillig 2 ) hat z. B. einzelnen Kindern einen Ball zugeworfen, der je fünfmal nacheinander mit Obergriff und je einmal mit Untergriff aufzufangen war. Diesen Umstellversuchen traten sog. Kontrolloder Konstanzversuche gegenüber, in denen der Ball immer nur in ein und derselben Weise aufzufangen war. In einem anderen Versuch waren Karten mit verschiedenen Kennzeichen so zu ordnen, daß jeweils einige Karten nach dem einen, die folgenden nach einem anderen Kennzeichen zusammengelegt werden mußten usw. Diesem Umstellungsversuch trat wieder ein Kontrollversuch gegenüber, in dem nur l ) K. Marbe, Über das Heimweh. Archiv für die gesamte Psychologie. Bd. 50, Heft 3/4, 1925, S. 513ff. *) M. Zillig, Experimentelle Untersuchungen über Umstellbarkeit Zeitschrift für Psychologie. Bd. 97, 1925, S. lff.



48



Karten auszuscheiden waren, die ein und dasselbe Kennzeichen trugen. Andere Umstellungs- und Kontrollversuche bezogen sich auf logische Tätigkeiten, auf Ausführung einfacher Zeichnungen, auf das Rechnen und auf andere schulische Leistungen. Bei diesen Studien, in denen die Umstellbarkeit lediglich mit Rücksicht auf die Qualität der Arbeit geprüft wurde, zeigte sich, daß einzelne Kinder durchweg bei allen Experimenten im Umstellungsversuch schlechter abschnitten als im Konstanzversuch und daß wieder andere durchweg im Konstanzversuch weniger leisteten als im Umstellversuch. Andere wieder zeigten eine schwere Umstellbarkeit nur in einzelnen Arbeitsgebieten bzw. nur bei einzelnen Arbeitsweisen. Man kann hiernach in der Tat generell gute und generell schlechte, sowie auch in einzelnen Gebieten gute bzw. schlechte Umsteller unterscheiden. Axel Kränzen 1 ) hat dann Umstellungsversuche mit Erwachsenen ausgeführt und die durch die Umstellung entstandene Verzögerung der Arbeit als Maß der Umstellbarkeit verwendet. Er ließ eine Versuchsperson siebzehn Schrauben nach der Länge ordnen. Diese Tätigkeit mußte im ganzen sechsmal nacheinander ausgeführt werden. Dann mußten dreimal nacheinander siebzehn andere Schrauben nach der Dicke geordnet werden. Dann wurde wieder dreimal der Längenordnungsversuch und zum Schluß noch dreimal der Dickenordnungsversuch ausgeführt. Dasselbe Experiment wurde dann noch mit siebzehri anderen Versuchspersonen angestellt. Überall wurde die für ein einmaliges Ordnen erforderliche Zeit mit der Fünftelsekundenuhr gemessen. Da also jede Versuchsperson fünfzehnmal Schrauben zu ordnen hatte, so ergaben sich für jede Versuchsperson 15 Zahlen. Durch Addition der einander entsprechenden Zahlen aller 18 Versuchspersonen und Division durch 18 ergaben sich die bei den 18 Versuchspersonen für die Lösung der einzelnen Aufgaben erforderlichen mittleren Zeiten, die A. Franzen, Zur Psychologie der Umstellung. Würzburger Dissertation 1925.

— 49 — als mittlere Lösungsdauern bezeichnet werden mögen. In der ersten Kolumne der Tabelle 32 steht die Ordnungsnummer der einzelnen 15 Aufgaben. Die Buchstaben in der zweiten Kolumne deuten an, ob die Aufgabe sich auf eine Ordnung nach der Länge (L) oder nach der Dicke (D) bezog. Die dritte Kolumne gibt die mittleren Lösungsdauern für die einzelnen Aufgaben an. T a b e l l e 32. Art der Aufgabe

Mittlere Lösungsdauer für die einzelnen Aufgaben In Sekunden

1 2 3 4 5 6

L L L L L L

83,5 72,6 69,8 68,0 64,0 58,5

7 8 0

D D D

65,6 60,0 57,8

10 11 12

L L L

66,1

13 14 15

D D D

57,4 40,3 47,1

Nr. des Versuchs

70,3

56,2

Man sieht, daß die ersten sechs Zahlen der Tabelle zunächst abnehmen. Offenbar macht sich hier der Einfluß der Übung geltend. Dann (Nr. 7) steigt die Zeit für die Lösung der Aufgabe, da j a nun die Schrauben nach der Dicke zu ordnen waren. Inwieweit dieses Steigen mit der Umstellung oder der relativen Schwierigkeit der Ordnung nach der Dicke zusammenhängt, läßt sich ohne weitere Experimente nicht ganz sicher entscheiden. Der Abfall der Zahlen Nr. 7, 8, 9 hängt wieder mit der Übung zusammen. Nun bei Nr. 10, wo wieder nach der Länge geordnet wird, findet ein erhebliches Steigen der für die Lösung der Aufgabe benötigten Psych, d. Unfälle.

4



50



Zeit statt. Die Zahl 70,3 (Nr. 10) ist wesentlich größer als 58,5 (Nr. 6). Diese Tatsache muß mit der Umstellung zusammenhängen. Der Abfall der Zahlen Nr. 10, 11, 12 hängt wieder mit der Ü b u n g zusammen. Die relativ große Zahl 57,4 bei Nr. 13 dürfte wieder wesentlich auf das Konto der Umstellung kommen, da die Zahlen Nr. 7 bis 9 viel größere Abnahmen zeigen als die Zahlen Nr. 9 und 13, und da die Zahlen 14 und 15 ganz erheblich viel kleiner sind als alle andern auf die Ordnung nach der Dicke bezüglichen Zahlen. Daß die Zahlen Nr. 14 und 15 klein sind, wird allerdings auch mit der Übung zusammenhängen, wie auch die A b n a h m e der Zahlen Nr. 13 bis 15 mit der fortschreitenden Ü b u n g in Verbindung stehen wird. Die Tabelle 33, in welcher ich die Buchstaben a, b, c, d, e einführe, gibt die Mittelwerte aus den Nummern 1 bis 3, 4 bis 6, 7 bis 9, 10 bis 12 und 13 bis 15. T a b e l l e 33.



Nr. der Versuche

Art der Aufgabe

Mittelwert

Ibis 3

L L D L D

75,3

a

63,5

b

61,1

c

4 „

6

7 „

9

10 „ 13 „

12 15

Bezeichnung

64,4

d

51,3

e

Ähnliche Tabellen wie die vorhergehende lassen sich natürlich auch für jede e i n z e l n e Versuchsperson ausführen. Die besten Umsteller in unserem Schraubensortierversuch sind nun zweifellos diejenigen, bei denen die neue Arbeit gegenüber der für dieselbe früher erforderlichen Zeit keine Steigerung der Arbeitszeit zeigt, sondern bei denen vielmehr die neue Arbeit infolge der im Laufe der Gesamtarbeitsleistung und nicht nur speziell innerhalb der L- und DLeistungen erworbenen Ü b u n g schneller verläuft als früher. Selbstverständlich wird hierbei vorausgesetzt, daß die Ermüdung bei den Untersuchungen keine erhebliche Rolle spielt, was ja tatsächlich auch der Fall war.



51



Die besten Umsteller bei unserem Schraubensortierversuch sind also diejenigen, bei denen d b und e > c. Aus den Untersuchungen Franzens ergab sich nun, daß von den 18 Versuchspersonen 6 als beste und 3 als schlechteste und 9 als mittlere Umsteller bezeichnet werden konnten, bei denen d < L b und e > c oder d> b und e < c war. Die besten und schlechtesten Umsteller konnten wieder rücksichtlich der Größe der Differenzen zwischen d und b bzw. e und c verschieden gewertet werden. Auch bei den mittleren war eine individuelle Würdigung möglich, worauf jedoch hier nicht im einzelnen eingegangen werden soll. So konnte eine Rangreihe für die Umstellbarkeit der Versuchspersonen in dem Schraubensortierversuch gewonnen werden. Bei einer anderen Untersuchung Franzens hatten die Versuchspersonen mit dem Zeigefinger abwechselnd immer wieder zwei markierte Punkte (a, b) einer Metallplatte zu berühren, den Wechsel so schnell als möglich auszuführen und auch die Zeit der Berührung möglichst zu reduzieren. Auf ein Signal hin hatte an Stelle des einen Punktes (b) ein anderer markierter Punkt (c) zu treten. Nach dem Signal wurden noch mindestens 15 Bewegungen ausgeführt. Als einzelne Bewegung wurde sowohl die Bewegung a b ( a c ) als die Bewegung b a {cd) angesehen. Die Zeiten zwischen den einzelnen Berührungen sowie die Berührungszeiten selbst wurden bei diesem Verfahren Franzens mittels meiner Rußmethode genau gemessen, wobei technisch nach Gesichtspunkten verfahren wurde, die schon früher vou mir angegeben 1 ) und dann von M. Bauch verwertet wurden 2 ). Der Einfluß der Umstellung zeigte sich hier insofern, als nach dem Signal die Bewegungen von einem Punkt zum l

) K. Marbe, Messung von Reaktionszeiten mit der Rußmethode. Fortschritte der Psychologie und ihrer Anwendungen. Bd. 1, 1913, S. 132 ff. a ) M. Bauch, Zur Gleichförmigkeit der Willenshandlungen. Fortschritte der Psychologie und ihrer Anwendungen. Bd. 2,1914, S. 340ff. 4*



52

anderen zunächst relativ langsam erfolgten, um dann schneller zu werden und dann eine gewisse, ungefähr konstante Dauer zu erreichen. Die allmälige Abnahme der Dauer der Bewegungen war bei allen Versuchspersonen nach der dritten der Bewegungen, die auf das Signal folgten, erledigt, bei weitem die längste Dauer erforderte die erste nach dem Signal erfolgte Bewegung. Diese wurde daher beim Maß für die Umstellbarkeit verwertet. Als solches wurde die Differenz zwischen der Dauer der ersten Bewegung nach dem Signal und der mittleren Dauer der 4. bis 15. Bewegung benutzt. Zur Verdeutlichung des Verfahrens führe ich die auf das Signal folgenden 15 Werte für irgendeine Versuchsperson an. Die Zahlen bedeuten Hundertstelsekunden. 1

2

3

4

5

6

7

8

9

10 11 12 13 14 15

40 22 24 21 23 21 22 20 21 21 23

19 21 21 22

(Mittelwert aus 4 bis 15) 21,3

Als Maß für die Umstellbarkeit dieser Versuchsperson im Gebiet unserer Aufgabe (Variation bestimmter einfacher Bewegungen) ergibt sich daher die Zahl 40-

21 +

2 3 . + 21

12

22

= 40 — 21,3 = 18,7.

Berechnet man den entsprechenden Wert für alle einzelnen Versuchspersonen, so ergibt sich natürlich eine Rangreihe für ihre Umstellbarkeit im vorliegenden Gebiet 1 ). Zweifellos besitzen nun Menschen, die generell schlechte Umsteller sind, also Menschen die sich auch auf die Vermeidung plötzlich eintretender Gefahren verschiedenster Art nicht genügend schnell und nicht gut (vollständig) genug einstellen J ) Über unwillkürliche Einstellungsschwankungen sowie über Einstellung und Ermüdung vgl. M. Zillig, Über Qualität und Tempo bei fortlaufender Arbeit, Zeitschrift für Psychologie, Bd. 9 5 , 1 9 2 4 , S. 274ff.; A. v. Lupin, Über psychische Schwankungen, Würzburger Dissertation 1925 (ungedruckt) und die Zusammenfassung in meinem Kongreßvortrag, München 1925, der in der Zeitschrift für angewandte Psychologie, Bd. 26, 1925, S. 43ff., erschienen ist.

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können, unter sonst gleichen Bedingungen eine größere Unfallneigung als generell gute Umsteller. Aber auch die Umstellbarkeit in ganz bestimmten Gebieten steht offenbar mit der Unfallneigung der Menschen in Beziehung und sie wird sich natürlich um so mehr geltend machen, je mehr diese Gebiete in dem Leben dieser Menschen eine Rolle spielen und je mehr sie zugleich unfallwichtig sind. Analog können auch alle übrigen Eigenschaften, welche in die Unfallneigung eingehen, rücksichtlich ihrer allgemeinen und speziellen oder doch rücksichtlich ihrer allgemeineren und spezielleren Bedeutung für die persönliche Unfallneigung betrachtet werden. Es kann daher auch direkt von einer allgemeineren und einer spezielleren (d.h. für bestimmte Berufe, Tätigkeiten bzw. Gebiete maßgebenden) Unfallneigung gesprochen werden. So ist Mangel an Bewegungsgewandtheit relativ allgemein 1 ) unfallfördernd. Spezieller Mangel an Bewegungsgewandtheit im Gebiet der für den Reiter erforderlichen Bewegungen wird sich aber besonders für die Unfälle des Kavalleristen und überhaupt die Reiten erfordernden Berüfe geltend machen. Uber solche in die Unfallneigung eines Menschen eingehende und sich in bestimmten Berufen besonders geltend machende Eigenschaften, also über die spezielle Unfällneigurfg liegen schon Untersuchungen vor. Denn wenn die vormals Sächsische Staatseisenbahnverwaltung schon unmittelbar nach dem Weltkrieg die Anwärter für sicherheitlich besonders belangreiche Dienste (in erster Linie für den äußeren Stationsbetriebsdienst und den Lokomotivfahrdienst) auf Grund von Experimenten einer Auslese unterzog 2 ), wenn im Moedeschen Laboratorium für Industrielle Psychotechnik Untersuchungen über die seelisch-körperlichen Eigenschaften 1 ) Mangel an Bewegungsgewandtheit ist nur relativ und nicht absolut unfallfördernd, weil er z. B. für das Entstehen von Unfällen infektiöser Art in vielen Fällen ganz außer Betracht bleibt. 2 ) A. Schreiber, Das Prüfungslaboratorium für Berufseignung bei der Eisenbahn-Generaldirektion Dresden. Praktische Psychologie. 2. Jahrgang. 1920/21, S. 232ff.



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angestellt wurden 1 ), die beim Auftreten einer Unfallgefahr in der Holzindustrie eine Rolle spielen, wenn K. A. Tramm Untersuchungen über Unfallhäufigkeit und persönliche Eigenschaften im Trambahndienst anstellte 2 ), so sind dies alles Untersuchungen, die auf eine Prüfung derjenigen persönlichen Eigenschaften abzielen, die für die Unfallneigung bestimmter Angestellter und Arbeiter bestimmter Berufe, nämlich solcher der Verkehrsanstalten und der Industrie wesentlich sind. Aber auch die Eignungsprüfungen überhaupt umfassen häufig ohne weiteres auch in bestimmten Berufen unfallwichtige Eigenschaften, wie z. B. die Geschicklichkeit. Viele Eignungsprüfungen wollen wieder gleichzeitig beruflich unfallwichtige und andere beruflich belangreiche persönliche Eigenschaften erfassen, wie z. B. die Rangiererprüfungen nach C. Heydt 3 ). Schließlich hat man auch versucht, ohne Rücksicht auf bestimmte Tätigkeiten oder Berufe einen Test für die allgemeinere Unfallneigung zu gewinnen. Dr. Maria Schorn hat 4 ) in meinem Institut mit Kindern gearbeitet. Die kindlichen Versuchspersonen hatten die Aufgabe, aus einem halb mit Erbsen gefüllten Becherglase je drei Erbsen in sechs Reagenzgläschen zu schütten, die sich in einem Gestell befanden. Es durfte keine Erbse zuviel hinein und keine daneben geschüttet werden. Die zuviel oder daneben geschütteten Erbsen wurden vom Versuchsleiter als „Unfälle" notiert. Diese Ausführung erforderte Handgeschicklichkeit und Vorsicht. Die Versuche wurden im ganzen an hundert Personen durchgeführt, nämlich an dreißig elfjährigen und dreißig J ) Osw. Heller, Unfallvorbeugung und Eignungsprüfung in der Holzindustrie. Industrielle Psychotechnik. 1. Jahrgang, Heft 4, August 1924, S. 99ff. 2 ) K. A. Tramm, Unfallhäufigkeit und persönliche Eigenschaften. Werkstattstechnik. 18. Jahrgang, Heft 15 vom 1. August 1924, S. 395 ff. 3 ) C.Heydt, Industrielle Psychotechnik. 1. Jahrgang, September 1924, Heft 5/6, S. 140ff. 4 ) M. Schorn, Unfallaffinität und Psychotechnik. Industrielle Psychotechnik. 1. Jahrgang, September 1924, Heft 5/6, S. 156ff.

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Nuller Einser Zweier Dreier

1,00 1,84

1,01 2,21

Die mittlere Unfallzahl der Nuller ist nach dieser Tabelle kleiner als die der Einser, diese kleiner als die der Zweier, und diese wieder kleiner als die der Dreier. Der Erbsenversuch scheint hiernach als Test für Handgeschicklichkeit und Vorsicht und somit als Test für die allgemeine Unfallneigung brauchbar. Diese Brauchbarkeit wurde durch neue Versuche geprüft. Wir ließen in fünf Volksschulklassen (I bis V) auf Grund ähnlicher Beobachtungen, wie sie in § 8 mitgeteilt wurden, einmal solche Kinder feststellen, die immer wieder ganz auf-

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fällig viele Verletzungen zeigten und die wir hier als Unfäller bezeichneten und dann solche Kinder, die von sichtbaren Verletzungen ganz oder fast ganz verschont blieben und die hier als Nichtunfäller bezeichnet wurden. So gelangten wir zu 12 Unfällern und 12 Nichtunfällern. Diese Kinder hat Frl. Dr. Schorn dem Erbsenversuch unterzogen. Bezeichnete man nun mit „Zahl der z-Erbsen" die Anzahl der zuviel in das Reagenzgläschen geschütteten Erbsen und mit „Zahl der d-Erbsen" die Anzahl der versehentlich neben das Gläschen geschütteten Erbsen, so ergab sich Tabelle 35. T a b e l l e 35. Nichtunfäller

Unfäller Klasse

Name

Zahl der Mittelz- und d-Erbsen wert

Name

Maria J. . Werner H. Walburga E

38,0

Gabriele R Gertrud H Käthe F.

II

Erna R. Lene B.

23,0

Maria G. Anna B. .

III

Ilse H. . Walter M

32,5

IV

Karl B. Hans E.

24,0

Elise M. . . Marg. Sch. Käthchen E

14,3

Zahl der Mittelz- und d-Erbsen wert

8,3

8' 6:

7,0

Walter B. Betty R.

12 5.

8,5

Frieda F. Anna B. . Richard S.

131 10

10,7

Anna M. . Therese K.

3,5

Man sieht, daß in jeder Klasse die Unfäller auch im Erbsenversuch wesentlich schlechter abschnitten als die Nichtunfäller. Die allgemeinere Unfallneigung wird auch teilweise durch Eignungsprüfungen für Berufe und Tätigkeiten erfaßt, wo Unfälle kaum oder gar nicht in Betracht kommen. Denn auch hier werden vielfach Eigenschaften wie Hand-



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geschicklichkeit und Konzentrationsfähigkeit geprüft, die für die allgemeine Unfallneigung mehr oder weniger bestimmend sind. Gibt es doch wohl überhaupt keine nach der Unfallseite hin wichtige Eigenschaft des Menschen, die nicht auch, abgesehen vom Unfallgesichtspunkt, rein beruflich oder in anderer praktischer Hinsicht für ihn Bedeutung hätte. Schließlich sind natürlich auch, wie sich ja schon aus dem oben Gesagten ergibt, rein statistische Untersuchungen nach Art der von mir bei der Militärversicherung angestellten geeignet, uns eine Kenntnis der mit größerer bzw. geringerer Unfallneigung behafteten Personen zu geben. Für die allgemeinere und speziellere Unfallneigung in Betracht zu kommen, scheint auch die Unordentlichkeit der Menschen. Unordentliche Leute dürften unter sonst gleichen Bedingungen unfalldisponierter sein als ordentliche. Tastende Versuche der Frl. Dr. Zillig mit dreißig Schulkindern, bei denen die Verletzungen analog den Mitteilungen in unserem obigen § 8 festgestellt wurden und denen Ordnungsnoten (1, 2, 3, 4, 5) gegeben wurden, zeigten, daß die Nuller unter ihnen durchschnittlich eine bessere Ordnungsnote hatten als die Einser und diese wieder eine bessere als die Mehrer. Doch konnte diese Gesetzmäßigkeit durch weitere Untersuchungen bisher nicht bestätigt werden. Ich zweifle aber trotzdem nicht daran, daß auch zwischen Unordentlichkeit und Unfallneigung eine engere Beziehung besteht. Die Unfallneigung kann durch gewisse Momente bedingt werden und sich zugleich in ebendenselben äußern. Es gibt aber auch Eigenschaften und Verhaltungsweisen, die nie oder kaum jemals unfallbewirkend, sondern vielmehr immer nur Kennzeichen der persönlichen Unfallneigung sind. So kann z. B. auch die Schrift auf eine Unfallneigung hinweisen. Und man hat neuerdings den Zusammenhang zwischen Schrift und Unfall direkt erweisen wollen. B. Kurth behauptet: „wer eng und geringlängenunterschiedlich schreibt, wird keine ,Unfälle' haben, dagegen aber diejenigen, die die entgegengesetzten Schriftmerkmale bc-



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sitzen." Und er will nach diesem Kennzeichen unter den Arbeitern eines großen Betriebs mehr als 70% der Nichtnnfäller und mehr als 70% der Unfäller ausgeschieden haben. Die sehr summarischen Mitteilungen erwecken aber nicht den Eindruck, daß es sich hier um abgeschlossene und einwandfreie Untersuchungen handelt 1 ). Auch erscheint es von vornherein ausgeschlossen, daß zwischen Schrift und Unfallneigung eine so einfache Beziehung besteht. Daß aber zwischen beidem gewisse Zusammenhänge obwalten, halte auch ich für richtig. Dies wäre schon dann der Fall, wenn, wie ich annehme, die Unfallneigung durch die Unordentlichkeit gefördert wird. In diesem Zusammenhang hat eine kleine statistische Untersuchung vielleicht einiges Interesse, die ich in Verbindung mit Frl. Dr. Zillig und anderen Mitgliedern meines Instituts ausführte. Ich ließ durch die Lehrer der einzelnen Klassen von vier großen Würzburger Volksschulhäusern jeweils die beiden ordentlichsten und die beiden unordentlichsten Schüler (Schülerinnen) der Klasse feststellen. Es ergaben sich so 142 ordentliche und 142 unordentliche Kinder. Dann wurden für alle einzelnen Schüler die letzten Noten (Herbst 1924), die sie in den Fächern Turnen, Singen, Schönschreiben und Rechtschreiben (soweit diese Fächer in den betreffenden Klassen gelehrt und zensiert wurden) erhalten hatten, festgestellt. Dann wurde für jedes Fach das Mittel aller Noten berechnet. Hierbei ergab sich Tabelle 36. Sie zeigt uns, was zu erwarten war, daß die Noten und daher auch die Leistungen der ordentlichen Schüler wesentlich besser sind als die der unordentlichen. Es werden nämlich hier in Würzburg die Noten 1 (hervorragend) bis 5 (ungenügend) gegeben. Die Tabelle lehrt uns aber ferner, daß die ordentlichen Schüler rücksichtlich des Durchschnitts ihrer Noten verhältnismäßig am schlechtesten im Turnen, daß sie besser im Singen, noch Das gleiche gilt in noch höherem Grade von den Untersuchungen Kurths über Handschrift und Lebensaussicht. Die Umschau. 27. Jahrg. 1923, H e f t 40, S. 627 ff. Die im obigen Text erwähnten Mitteilungen finden sich in der Umschau. 28. Jahrg. 1924, H e f t 48, S. 937 f.



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besser im Schönschreiben und am besten im Rechtschreiben sind, während sich bei den unordentlichen Schülern geradezu der entgegengesetzte Verlauf ihrer Noten ergibt. T a b e l l e 36.

Turnen Singen Schönschreiben . Rechtschreiben .

Notenmittel für die ordentlichen Schüler

Notenmittel für die unordentlichen Schüler

2,57 2,52 2,11 1,99

3,10 3,27 3,66 3,95

Tabelle 36 kann nicht wesentlich damit zusammenhängen, daß in den verschiedenen Fächern verschieden qualifiziert wird und daß im Turnen und Singen nur mittlere Noten gegeben werden. Ich lasse in Tabelle 37 die Mittel der Noten aus allen 71 Klassen der vier Schulhäuser in unseren vier Fächern folgen. Wir sehen aus ihr, daß das Notenmittel im Schönschreiben nicht schlechter, ja sogar etwas besser ist als im Singen, und daß überhaupt die Notenmittel weniger differieren als die entsprechenden Zahlen der Tabelle 36. T a b e l l e 37. Mittel aller Noten

Turnen Singen Schönschreiben Rechtschreiben

.... ....

2,77 2,91 2,89 3,02

Sollte sich die Unordentlichkeit wirklich definitiv als Unfallquelle erweisen, so wären auch Untersuchungen wie die vorstehenden, abgesehen von ihrem pädagogischen Interesse, für die Unfallwissenschaft bedeutsam. Sollte sich zugleich die in Tabelle 36 erscheinende Gesetzlichkeit bewähren, so würde folgen, daß die unordentlichen also die zu Unfällen neigenden Personen im Schönschreiben und Rechtschreiben im allgemeinen besonders schlecht abschneiden.



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Schließlich sei noch betont daß eine Untersuchungsmethode- (ein „Test") zur Feststellung der allgemeineren Unfallneigung doch unter Umständen bei der Prüfung der Unfallneigung in einem bestimmten Gebiet völlig versagen kann. So wird unser Erbsenversuch, bei welchem es sich abgesehen von Vorsicht auch um Handgeschicklichkeit handelt, nicht brauchbar sein, wenn Vertreter von Berufen auf ihre Unfallneigung geprüft werden sollen, bei denen die Handgeschicklichkeit gar keine oder nur eine äußerst geringe Rolle spielt. Es ist deshalb begreiflich, wenn bei einer von mir unternommenen Untersuchung, die sich auf mehr als 70 Personen des Rangierpersonals der Eisenbahndirektionen Würzburg und München bezog, der Erbsenversuch als nicht geeignet zur Prüfung der Unfallneigung befunden wurde. Selbstverständlich sind die Eigenschaften einer Person, die der Unfallneigung entgegenwirken, teilweise auch geeignet, die Wirkungen der Ursachen von Unfällen, wo letztere unvermeidlich sind, abzuschwächen. Wer geschickt ist, wird unter Umständen als Reisender im Falle eines Eisenbahnunglücks zwar einem Unfall nicht ganz ausweichen, aber ihn doch wenigstens teilweise parieren können. Der Würzburger Stadtschulbehörde (Herrn Schulrat Walle) und den Herren Lehrern, welche die in diesem § mitgeteilten Untersuchungen an Kindern (Schülern) ermöglichten, spreche ich an dieser Stelle gerne den wohlverdienten Dank aus.

§ 11. Gleichgültigkeit, Unfallbereitschaft, Erwartung, Ahnung, Wille zur Unfallvermeidung und anderes. Für das Erleiden von Unfällen ist auch das jeweilige innere Verhältnis des Menschen zu den möglichen Unfällen von Bedeutung. Gewiß neigt der Mensch von Natur aus dazu, Schädigungen seiner Person und daher auch Unfälle möglichst zu vermeiden. Es ist aber ein sehr großer Unterschied, ob jemand diese Naturanlage einfach walten läßt und sich einer gewissen Gleichgültigkeit hingibt oder ob er sich immer von neuem vornimmt und immer darauf bedacht ist, Unfälle, soweit das beruflich möglich ist, zu verhüten. Offenbar ist eine gewisse erfolgreiche Einstellung der Persönlichkeit auf die Vermeidung von Unfällen möglich, die immer erneuert und schließlich habituell werden kann, während der Zustand der Gleichgültigkeit den Unfällen günstig ist. Ferner kann jemand auch fortwährend mit der Gefahr spielen, besonders wenn er von dem Gedanken an eine Unfallrente geleitet ist und wenn er mit einem gewissen Neid auf die scheinbaren finanziellen Erfolge anderer erfüllt ist, denen das Unfallunglück zum Glück geworden zu sein schien. So können Bewußtseinszustände entstehen, die geradezu als Unfallbereitschaft bezeichnet werden können. In diese Unfallbereitschaft können sogar auch mehr oder weniger deutliche bzw„ differenzierte Wünsche des Erleidens irgendeines Unfalls eingehen. Solche Bewußtseinszustände werden natürlich nicht immer in gleicher Weise und Stärke gegeben sein. Sie werden auch nicht dauernd im Bewußtsein manifest sein. Es ist vielmehr anzunehmen, daß sie vielfach ins Unbewußte versinken, um dann wieder aus ihm hervorzutreten und daß sie auch dann sehr verschiedene Bewußtseinsstufen oder



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Klarheitsgrade des Bewußtseins aufweisen. Analoges gilt auch von dem schon erwähnten Zustand der Gleichgültigkeit und den nun zu behandelnden Zuständen der Erwartung, Stimmung und des Willens zu Unfällen. Die Disposition zu einem Unfall kann nämlich auch durch die Erwartung desselben gefördert werden. Es ist in der Psychologie eine alte Erfahrung, daß die Erwartung von Bewegungen zu wirklichen Bewegungen führt. Die Ausschläge der Wünschelrute beruhen einfach darauf, daß der Rutengänger den Ausschlag erwartet, und sie finden nur dann in der Nähe des gesuchten Wassers oder sonstiger gesuchter Gegenstände statt, wenn der Rutengänger auf Grund geologischer oder anderer Kenntnisse das Vorhandensein dieser Gegenstände weiß oder richtig vermutet. Legt man daher an verschiedene Stellen des Zimmers Metallplatten hin und ersucht man ein Kind, dem man eine Wünschelrute in die Hand gab, im Zimmer herumzugehen, nachdem man ihm die Überzeugung beigebracht hat, daß die Rute in der Nähe der Metallplatten ausschlage, so schlägt sie jedesmal unweigerlich aus, wenn das Kind in die Nähe einer Platte gelangt 1 ). Auch beim Tischrücken finden die Tischbewegungen nur statt, wenn die den Tisch berührenden Personen die Bewegungen erwarten und wenn sie infolge dieser Erwartung den Tisch unwillkürlich bewegen, während indessen der Tisch ruhig stehen bleibt, wenn die Gedanken dieser Personen auf andere Gegenstände abgelenkt werden 2 ). Wie so in den verschiedensten Gebieten die Erwartung von Bewegungen geradezu Bewegungen hervorruft, so wird Vgl. K. Marbe, Psychologie der Wünschelrute. Die Umschau. 26. Jahrgang, 16. September 1922, Nr. 36/37, S. 565ff. 2 ) Über Experimente mit Kindern, welche diese Ansicht bestätigen, vgl. K. Marbe, Über Persönlichkeit, Einstellung, Suggestion und Hypnose. Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. Bd. 94, Heft 2/3, 1924, S. 364. Hier sowie S. 363 werden auch andere Versuche angeführt, die als Belege für den Einfluß der Erwartung von Bewegungen auf das Stattfinden von Bewegungen gedeutet werden können.



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auch derjenige, welcher ungeschickte, unfallbringende Bewegungen erwartet, mehr zu solchen Bewegungen und daher auch mehr zu Unfällen neigen, als derjenige, welchem solche Möglichkeiten subjektiv ganz fern liegen. Die Erwartung künftigen Mißgeschicks wird als Ahnung bezeichnet, wenn sie nicht durch Denken und Erfahrung begründet ist, sondern in unbestimmten depressiven Bewußtseinsvorgängen dunkler Provenienz besteht. Solche Unfallahnungen wirken der Einstellung auf Vermeidung von Unfällen gleichfalls entgegen und sind daher gleichfalls unfallfördernd. Man hat daher auch wohl mit Recht behauptet, daß die Todesahnungen im Weltkrieg vielfach den wirklichen Tod zur Folge hatten 1 ), ohne daß es freilich (wenigstens nach meiner Ansicht) gelungen wäre, hierfür einen strikten Erfahrungsbeweis zu führen. Auch Prophezeihungen und Träume von Unfällen können natürlich zu unfallfördernden Stimmungen führen, wie ja auch wieder bestimmte Träume aus solchen Stimmungen hervorgehen können 2 ). Aus der Psychologie der Einstellung und Suggestion und aus der Psychotherapie ist ferner bekannt, daß die Heilung des Menschen von sog. nervösen Beschwerden verschiedenster Art wesentlich an seinen Willen zur Heilung geknüpft ist. Ähnlich ist schließlich auch das Gefeitsein gegen Unfälle (soweit es überhaupt vom Subjekt abhängig ist) wesentlich von dem manifesten oder unterbewußten oder unbewußten Willen zur Unfallvermeidung abhängig. Eine Abstufung der Prämien unter Berücksichtigung der erlittenen Unfälle würde der Gleichgültigkeit und Unfallbereitschaft, der Unfallerwartung und überhaupt den unfallfördernden Stimmungen entgegenwirken, den Willen zur Unfallvermeidung stärken und daher die Unfälle vermindern. ') E. Schiche, Todesahnungen im Felde. Zeitschrift für angewandte Psychologie. Beiheft 21 (1920), S. 173ff. 2 ) Mancherlei Erfahrungen, die vielleicht durch die Abhängigkeit der Unfälle von den oben geschilderten Faktoren oder von verwandten Bewußtseinsvorgängen zu deuten sind, bringt S. Freud. Vgl. z. B. Psychopathologie des Alltagslebens. 10. Aufl. Leipzig, Wien, Zürich. 1924, S. 198ff.



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Hierbei wird allerdings vorausgesetzt, daß die Versicherten die Prämien ganz oder doch wenigstens teilweise selbst bezahlen. Daß der Arbeiter bei der sozialen Unfallversicherung zur Zahlung der Prämien in keiner Weise herangezogen wird, ist für die Unfallverhütung nicht förderlich und könnte umgangen werden, wenn man den Arbeitern in anderer Weise entgegenkäme. Im übrigen darf angesichts unserer Bemerkungen über die Unfallbereitschaft und den Willen zur Unfallvermeidung nicht verkannt yverden, daß schon das Versichertsein als solches geeignet ist, unter Umständen Unfallbereitschaft und Willen zum Unfall zu fördern. Bei einzelnen Personen mag die Versicherung freilich auch einen Zustand der Beruhigung herbeiführen, der sie vor dem Eintreten von Unfällen schützen kann. Natürlich kann in dieser Schrift nicht aller etwa möglicher im Menschen liegender Ursachen von Unfällen gedacht werden. Daß nicht nur der Hang zum Alkohol als Charakteristikum der Persönlichkeit ihre U n f a l l n e i g u n g fördert (§10), sondern daß auch leichtere akute Alkoholvergiftungen das Eintreten von Unfällen in concreto begünstigen, ist selbstverständlich. Denn es ist ja auch allgemein bekannt, daß der Alkohol Hemmungen verschiedenster Art aufhebt und daher unvorsichtig macht, und daß z. B., wo der Lohn am Samstag ausgezahlt wird, Körperverletzungen besonders am Samstag, Sonntag und Montag vorkommen 1 ). Ebenso selbstverständlich ist es, daß Aufregungen aller Art unfallfördernd wirken. Sehr wichtig ist es, daß Unfälle am Anfang einer Arbeitsperiode dadurch entstehen können, daß der Arbeiter noch nicht auf seine Aufgaben eingestellt ist. Abgesehen von der schon im vorigen Paragraphen behandelten schweren Um] ) Bei einer großen Versicherungsgesellschaft kamen nach Wörner (A. Manes' Versicherungslexikon. 2. Aufl., Berlin 1924, S. 1246) am Samstag (Lohntag) und Montag (Blauer Montag, Nachwirkung des sonntäglichen Alkoholgenusses) mehr Unfälle vor, als an den übrigen Wochentagen.



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stellbarkeit können häusliche Sorge oder andere dienstfremde Interessen sich am Anfang der Arbeitszeit so sehr geltend machen, daß der Arbeiter gegenüber Unfällen zunächst noch zu wenig gefeit ist. Hiermit dürfte auch die Erfahrung im Eisenbahnwesen zusammenhängen, daß Unglücke öfter am Anfang der Dienstzeit als später verursacht werden. Auch der Widerwille gegen die Arbeit, der z. B. bei einzelnen Personen durch die Monotonie der Arbeit hervorgerufen werden kann und dann Ablenkung der Aufmerksamkeit im Gefolge hat 1 ), kann eine Quelle von Unfällen werden. In einer sehr wertvollen Untersuchung hat H. M. Vernon 2 ) für Munitionsarbeiter festgestellt, daß Eile, E r m ü d u n g , mangelnde Einstellung und Alkoholwirkung, aber auch schlechte Beleuchtung, mangelhafte Ernährung und ungünstige Temperaturverhältnisse Hauptbedingungen für das Zustandekommen der Unfälle waren. 1

) A. Levenstein, Die Arbeiterfrage. München 1912, besonders S. 96, 120f. und 126. 2 ) H. M. Vernon, An Investigation of the Factors concerned in the Causation of Industrial Accidents. Ministry of Munitions. Health of Munition Workers Committee. Memorandum Nr. 21. London 1918.

P s y c h .