Künstlerinszenierungen: Performatives Selbst und biographische Narration im 20. und 21. Jahrhundert [1. Aufl.] 9783839422151

Dieser Band folgt anhand von paradigmatischen Beispielen dem aktuellen Interesse an der Künstlerbiographik und deren Ins

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Künstlerinszenierungen: Performatives Selbst und biographische Narration im 20. und 21. Jahrhundert [1. Aufl.]
 9783839422151

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Zwischen Authentizität und Inszenierung: Künstlerische Selbstdarstellung im 20. und 21. Jahrhundert
Strindbergs Inszenierung des Selbst als ästhetische Praxis
Der Filmregisseur als Bild: Sergej Eisensteins Fotoporträts und Autoporträts
René Crevel: Selbstinszenierung eines Surrealisten gegen und mit Krankheit und Tod
Autorinszenierung und Erzählung des Selbst bei dem uruguayischen Autor Felisberto Hernández
Die weibliche und die männliche Diva der mexikanischen Popularkultur: María Félix und Agustín Lara
Heimrad Bäcker: Parataxe und Projekt
An Alternative History of Art: Il’ja Kabakovs sowjetisch-jüdische Fallgeschichten im Feld der Kunst
(Selbst-)Inszenierung im Netz: Neue Strategien russischer AutorInnen
Cosima von Bonin: Partnerschaftliche Imagebildung
Widersprüchliche Positionen: Selbst- und Fremdwahrnehmung des polnischen Autors Jacek Dehnel
Autorenbiographien

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Christopher F. Laferl, Anja Tippner (Hg.) Künstlerinszenierungen

2014-07-24 10-17-22 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03cc372606324014|(S.

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Christopher F. Laferl, Anja Tippner (Hg.)

Künstlerinszenierungen Performatives Selbst und biographische Narration im 20. und 21. Jahrhundert

2014-07-24 10-17-22 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03cc372606324014|(S.

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Inhalt

Vorwort

Christopher F. Laferl/Anja Tippner | 7 Zwischen Authentizität und Inszenierung: Künstlerische Selbstdarstellung im 20. und 21. Jahrhundert

Anja Tippner/Christopher F. Laferl | 15 Strindbergs Inszenierung des Selbst als ästhetische Praxis

Karin Hoff | 37 Der Filmregisseur als Bild: Sergej Eisensteins Fotoporträts und Autoporträts

Oksana Bulgakowa | 57 René Crevel: Selbstinszenierung eines Surrealisten gegen und mit Krankheit und Tod

Birgit Wagner | 83 Autorinszenierung und Erzählung des Selbst bei dem uruguayischen Autor Felisberto Hernández

Agustín Corti | 105 Die weibliche und die männliche Diva der mexikanischen Popularkultur: María Félix und Agustín Lara

Christopher F. Laferl | 131 Heimrad Bäcker: Parataxe und Projekt

Patrick Greaney | 153 An Alternative History of Art: Il’ja Kabakovs sowjetisch-jüdische Fallgeschichten im Feld der Kunst

Anja Tippner | 167

(Selbst-)Inszenierung im Netz: Neue Strategien russischer AutorInnen

Gernot Howanitz | 191 Cosima von Bonin: Partnerschaftliche Imagebildung

Barbara Lange | 221 Widersprüchliche Positionen: Selbst- und Fremdwahrnehmung des polnischen Autors Jacek Dehnel

Anna Artwińska | 251 Autorenbiographien | 273

Vorwort CHRISTOPHER F. LAFERL/ANJA TIPPNER

Der vorliegende Band versammelt Beiträge, die Strategien und Konzepte künstlerischer (Selbst-)Darstellung aus kulturwissenschaftlicher Perspektive in den Blick nehmen. Am Beispiel von Literatur, bildender Kunst, Musik und Film werden Positionen ästhetischer Inszenierung von Kreativität, künstlerischer Praxis und theoretischer Reflexion vorgeführt. Der Schwerpunkt liegt dabei sowohl auf der Selbstinszenierung in autobiographisch fundierten Werken als auch auf der Fremdinszenierung in der medialen Rezeption. Das zeitliche Spektrum reicht von der klassischen Moderne über die Avantgarde und die Nachkriegszeit bis in die Gegenwart. In der Zusammenschau der Beiträge werden so Konstanten deutlich: Zu nennen wären vor allem der Rekurs auf kulturell präfigurierte Rollen und Modelle von Künstlertum und Kreativität, die zentrale Stellung, die der Skandal als Mittel der Aufmerksamkeitslenkung im Feld der Kunst spielt, und die Bedeutung, der Authentizität in künstlerischen Selbstinszenierungen zukommt. Der einleitende Beitrag von Christopher F. Laferl und Anja Tippner diskutiert deshalb Konzepte der kulturwissenschaftlichen Theoriebildung wie Authentizität, Inszenierung und Kreativität im Hinblick auf die künstlerische Selbstdarstellung. Die Autoren arbeiten heraus, welche Bedeutung die Überschreitung der eigenen beziehungsweise primären Kunstgattung und das Ausgreifen in andere Medien für die Selbstdarstellung von Künstlern und Künstlerinnen hat. Deutlich wird auch, dass Inszenierung und Authentizität schon lange nicht mehr als oppositionelle Begriffe aufgefasst werden können, da eine künstlerische Selbstdarstellung immer auch performativen Charakter hat – selbst dann, wenn sie sich unter das Zeichen der Authentizität stellt!

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Die Skandinavistin KARIN HOFF fokussiert in ihrem Beitrag das Wechselverhältnis von autobiographischer Inszenierung und Theater am Beispiel August Strindbergs (1849-1912). Der schwedische Autor verfolgt mit seinem Konzept der „Ich-Dramatik“ eine Engführung von autobiographischem Material und ästhetischer Inszenierung, die für die Moderne richtungweisend ist. Hoff macht darauf aufmerksam, dass es in diesen vermeintlichen Selbstbeschreibungen aber weniger um die Präsentation authentischer, tatsächlich erlebter Ereignisse, sondern vielmehr um die bewusste Inszenierung von Material, das nachträglich als Lebensbericht angeordnet wurde, geht. In Dramen wie Die große Landstrasse wird die Metapher der Künstlerinszenierung auf der Bühne realisiert. In der Rezeption von Strindbergs Texten und Auftritten spielt das Konzept des Skandals, das für nachfolgende Künstlergenerationen ein wichtiges Instrument der Interaktion mit dem zeitgenössischen Publikum werden sollte, eine große Rolle. Strindberg spielte immer wieder mit Skandalen, auch wenn er damit die von ihm angestrebte Kontrolle über Leben und Werk z.T. aus der Hand gab, wie Hoff zeigt. Die Filmwissenschaftlerin OKSANA BULGAKOWA beleuchtet in ihrem Beitrag den sowjetischen Regisseur Sergej Eisenstein (1898-1948) aus einer Doppelperspektive. Sie stellt zum einen die von Eisenstein forcierte Wahrnehmung und Institutionalisierung des Regisseurs als kreativen Künstler mit Copyright auf seine Methoden und Verfahren vor, um sich zum zweiten Eisensteins Selbstkonzept zu widmen. Die Autorin unterstreicht, dass das Medium der Fotografie nur bedingt geeignet war, ein Bild des Regisseurs, das auch seine ästhetischen Verfahren reflektiert, zu geben. Bulgakowa verweist in diesem Kontext darauf, dass der russische Filmkünstler hier kein Einzelfall ist, sondern dass die Frage der visuellen Repräsentation ebenso wie die Probleme bei der Entwicklung eines eigenständigen Künstlermodells für Regisseure als typisch gelten kann. Eisenstein selbst griff deshalb für seine Selbstinszenierung als Künstler neben seinen autobiographischen Schriften bevorzugt auf Zeichnungen und Porträtskizzen zurück, da sich ihm hier die Möglichkeit bot, Körperbilder zu korrigieren und eine ikonische Präsenz zu etablieren. Der Regisseur filterte sein eigenes Leben durch einen Raster von Klischees, die er den visuellen Künsten und der Literatur entnahm. Dieses Verfahren ermöglichte es ihm, sowohl die eigene Biographie mit einer Vielzahl von Mystifikationen zu umgeben und teilweise zu fiktionalisieren als auch die visuelle Gestalt dieser Biographie zu steuern.

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Im Zentrum des Beitrags der romanistischen Literatur- und Kulturwissenschaftlerin BIRGIT WAGNER steht der französische Surrealist René Crevel (1900-1935), dessen Freitod auf extreme Weise Werk und Leben miteinander verschränkt: Schied der junge Autor doch genauso aus seinem Leben, wie er es sich in seinem ersten Buch, dem stark autobiographisch gefärbten Kurzroman Détours, vorgestellt hatte. Von Bourdieu ausgehend fragt Wagner zunächst nach dem Möglichkeitsraum, in dem sich ein Autor der Avantgarde in den 1920er und 1930er Jahren inszenieren konnte. Die Verfasserin zeigt dabei anschaulich, wie verschiedene Faktoren die Selbstinszenierung Crevels bestimmen. Einerseits sind seine bürgerliche Herkunft in Betracht zu ziehen, andererseits seine Zugehörigkeit zur surrealistischen Bewegung, die sich antibürgerlich gibt, genauso wie es sein bisexuelles Lieben ist. Wenn aber sein Begehren schon nicht als willentlicher Akt der Performanz gesehen werden kann, so trifft dies noch viel mehr auf seine Tuberkulose-Erkrankung zu, die der selbstinszenatorischen agency ebenfalls Grenzen auferlegt. Aber auch jener Bereich, der sich dem Willen Crevels zur Selbstdarstellung grundsätzlich weniger entzogen hat, nämlich seine Zugehörigkeit zur surrealistischen Gruppe um André Breton, bringt Einschränkungen mit sich, die ihren Ursprung in der überragenden Stellung Bretons haben, dessen explizit zum Ausdruck gebrachte Homophobie ihn nicht unberührt gelassen haben konnte. Nicht zuletzt wirkt auch Crevels Nähe zu anderen künstlerischen und politischen Strömungen im Paris der Zwischenkriegszeit auf sein Selbstbild ein, wie jene zu den Frauengruppen der Left Bank um Gertrude Stein und Nancy Cunard oder zum internationalen Kommunismus. Konsequent kommt Wagner daher zu dem Schluss, dass die Selbstinszenierung Crevels eine multiple ist, die vom rebellischen Kranken über den bürgerlichen und charmanten Antibourgeois und den bisexuell und promisken Liebenden bis hin zur Figur des einsam am Rande Stehenden reicht. Ganz ähnlich widmet sich der Hispanist AGUSTÍN CORTI in seinem Beitrag einem anderen Autor der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dem uruguayischen Schriftsteller Felisberto Hernández (1902-1964). Anhand seiner Texte, v. a. seines Diario del sinvergüenza (Tagebuch eines Lumpen) und El caballo perdido (Das verlorene Pferd) kann das Verhältnis von Autor, Leben und Werk und die Inszenierung des Selbst im Text besonders gut analysiert werden, da diese Texte einen autodiegetischen Erzähler haben und oftmals als autobiographisch gelesen wurden. In einer Verbindung von narratologi-

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schen mit phänomenlogischen Ansätzen gelingt es Corti anschaulich zu zeigen, dass es trotz aller Aporien in den Analyseergebnissen und Ungewissheiten in der Herstellung der Beziehung zwischen Autor und (autobiographischem) Werk, sinnvoll sein kann, die Frage nach der Präsenz eines/des Selbst im Werk in die Analyse einzubeziehen, da das Werk als Index des Selbst verstanden werden kann. Felisberto Hernández, ein im deutschen Sprachraum viel zu wenig bekannter Autor, mag deshalb als Anwendungsbeispiel besonders hilfreich sein, da er selbst die Frage der Subjektivität im Werk wie auch das Verhältnis zwischen Bewusstsein und Körper explizit in seinen Texten zum Ausdruck bringt. V. a. im Diario del sinvergüenza wird die Dissozation vom Kopf, der für das Bewusstsein steht, und dem Körper, der ein sinvergüenza (wörtlich ins Deutsche übertragen ein Schamloser, oder in der vorliegenden deutschen Übersetzung ein Lump) ist, von Beginn an deutlich angesprochen. Im zweiten untersuchten Werk, in El caballo perdido, werden zwei weitere für die Erfassung des Selbst unabdingbare Kategorien angesprochen: die Erinnerung und die Narration. In der Zusammenschau der beiden Werke und deren von neuen Subjektivitätstheorien geleiteten Lektüre macht Corti einmal mehr deutlich, wie sehr die Inszenierung eines Autors auch mit der Präsentation (s)eines Selbst im Text – durch den Autor oder erst in der Rezeption – verschmolzen werden kann. Der iberoromanistische Literaturwissenschaftler CHRISTOPHER F. LAFERL vergleicht in seinem Aufsatz zwei Kunstschaffende, welche die Popularkultur Mexikos von den 1920er bis in die 1960er Jahre prägten, den Musiker und Komponisten Agustín Lara (1897-1970) und die Schauspielerin María Félix (1914-2002). In ihrem Auftreten im öffentlichen Raum, in dem auch (vermeintlich) Privates zur Schau gestellt wird, können beide als Diven aufgefasst werden, als personae, die mit Elisabeth Bronfen zwischen Himmel und Erde schweben und mit ihrem Körper und ihrem Leben für ihre Erhabenheit einstehen. Der Aufsatz diskutiert in der Folge die Frage, ob die für die Diven des 20. Jahrhunderts vielfach angenommene Versehrtheit auch bei den beiden lateinamerikanischen Kunstschaffenden festgestellt werden kann. Während bei Agustín Lara Indizien für diese Verletzlichkeit und tatsächliche Verletztheit gefunden werden können, so inszenierte sich María Félix niemals als fragile oder hypersensible Diva. Da der Ausdruck Diva für sie aber verwendet wurde, so mit Nachdruck von Octavio Paz, sucht Laferl nach anderen inklusiven Definitionsmerkmalen für das Konzept der Diva. Er hält dabei einerseits fest, dass die Statuserhebung zur Diva vielfach das Ergebnis

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einer retrospektiven Inszenierung zu sein scheint und dass andererseits ein wichtiger Aspekt für die Selbstinszenierung der Diva ihre Gender-Transgression ist. Dies lässt sich bei dem bisweilen sehr „weiblich“ anmutenden Verhalten Laras als auch dem „herrischen“ Auftreten Félix' feststellen. Der Germanist und Komparatist PATRICK GREANEY beschäftigt sich mit einem Autor, der einer etwas jüngeren Generation angehörte als Eisenstein, Crevel und Hernández, nämlich mit Heimrad Bäcker (1925-2003), der in seinen Schriften eine ganz andere Vorstellung von Biographie zum Ausdruck brachte und sich so auch ganz anders als Schriftsteller inszenierte, als dies bei den genannten Künstlern der Fall war. Von Guy Debords Ansicht ausgehend, dass die Vorstellung von einem einheitlichen Leben eine reaktionäre Mystifizierung sei, die auf dem Glauben an die Existenz einer Seele wie auch auf der Arbeitsteilung fuße, findet Greaney sowohl in den Werken als auch in der Lebensauffassung Beckers die grundlegende Vorstellung der Diskontinuität. Dem diskontiuierlichen Leben entspricht in Bäckers Werk, v. a. in nachschrift, in nachschrift 2 und in EPITAPH, die ja im Wesentlichen alle das Leben ihres Autors zum Inhalt haben, das dominierende Prinzip der Parataxe. Lebensgeschichtlich zentral sind für die Biographie Bäckers seine Mitgliedschaft in der NSDAP und sein Umgang mit seiner Vergangenheit während der letzten Kriegsjahre. Dieser Umgang, so Greaney, könne nicht mit den Begriffen von Entschuldigung und Wiedergutmachung eingehegt werden, so wie auch die verschiedenen Phasen der Vergangenheit nicht zu einem Ganzen synthetisch zusammengefügt werden könnten, sondern parataktisch nebeneinander stehen und damit stets gegenwärtig bleiben würden. Im Mittelpunkt des Beitrags von ANJA TIPPNER steht der ästhetisch forschende Umgang mit dem Konzept des Künstlers in der Sowjetunion durch den russischen Konzeptualisten Il’ja Kabakov (geboren 1933). In dem mehrfach gezeigten und variierten Ausstellungsprojekt An Alternative History of Art werden russisch-jüdische Künstlerbiographien als exemplarische Fallgeschichten inszeniert. Für die Rekonstruktion typischer und reproduzierbarer Lebensläufe erfindet er „Personagen“, die sich aus Indizien, Hinweisen und materiellen Spuren zusammensetzen, die nicht nur auf die materielle Alltagskultur (der Sowjetunion), sondern auch auf kunsthistorische, biographische Narrative wie das Künstlerinterview und die Retrospektive referieren. Die ästhetischen case studies arbeiten neben den singulären, individuellen Aspekten eines Lebenslaufs vor allem auch dessen generalisierbare Elemente

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heraus, etwa Konstellationen wie Schüler und Lehrer, offizieller und inoffizieller, erfolgreicher und erfolgloser Künstler, aber auch die Spezifika des sowjetischen kunsthistorischen Diskurses. Mit der Inszenierung von Biographie als Fallgeschichte ist die Auffassung verbunden, dass Kreativität nicht nur im engen Bereich der Kunst, sondern auch in verschiedenen alltäglichen Lebensformen zu finden ist. Der Slavist GERNOT HOWANITZ widmet sich in seinem Beitrag den Möglichkeiten der künstlerischen Selbstinszenierung, die das Internet bietet. Zunächst geht er auf die Spezifika des russischen Internet ein und diskutiert die Frage, ob sich durch das Internet neue Möglichkeiten der Selbstdarstellung eröffnen, um darauf hinzuweisen, dass die Auffassung des Internets als nicht eingelöstes Versprechen eines auto/biographischen Hypertextes durch die neuen kreativen Formen, die sich im Laufe der Zeit etabliert haben, überholt ist. Er verweist in diesem Zusammenhang auf die sozialen Netzwerke des Web 2.0, die als Medien der Selbstdarstellung neue auto/biographische Strategien realisieren. Am Beispiel von zwei russischen SchriftstellerInnen – Vladimir Sorokin (geboren 1955) und Linor Goralik (geboren 1975) – führt Howanitz vor, wie im Internet neue Autorschaften geboren (Goralik) und bereits etablierte (Sorokin) zur Darstellung gebracht werden. Der Begriff der Authentizität nimmt auch in diesem Beitrag eine zentrale Stellung ein, da er auch dort, wo es programmatisch um Inszenierung geht, – so Howanitz – ältere Konzepte von Beglaubigung durch Authentizität wirksam bleiben. Die Kunsthistorikerin BARBARA LANGE diskutiert am Beispiel der Künstlerin Cosima von Bonin (geboren 1962) die Frage, wie stark Fremdinszenierungen von Künstlerschaft vom Einverständnis und der Kooperation der betreffenden Künstler abhängen. Ausgehend von der Wirkungsmacht medial tradierter Inszenierungen von Künstlerschaft stellt sie die These auf, dass die Verweigerung, an erkennbaren, narrativ vermittelten Künstlerbildern zu partizipieren, der Künstlerin zu Autonomie im Verhältnis zu Künstlerdiskursen und einem Mehr an Deutungshoheit im Hinblick auf das eigene Werk verhilft. Lange zeigt auf, dass von Bonin für ihre Selbstdarstellung im Medium der Kunst ein Netz von ästhetischen Verweisen auf andere Künstler, aber auch Freunde knüpft und dass sie ihren Arbeiten so genealogische, thematische, personelle Konturen gibt, ohne diese explizit zu machen. Von Bonin setzt dabei auf Alltäglichkeit und nicht auf Außergewöhnlichkeit, um ihre Biographie bildhaft darzustellen. In der Rezeption taucht im Kontext von Cosima von Bonins Kunstproduktion insbesondere der letzten zehn

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Jahre häufig der Topos der Unverständlichkeit auf. Lange weist abschließend darauf hin, dass es gerade diese Unverständlichkeit bei aller Alltäglichkeit vieler Objekte und Materialien sowie der „Modus des Zeigens“ sind, durch die sich die Künstlerin aktuellen Künstlerdiskursen verweigert und Korrekturen an etablierten KünstlerInnenimages anbringt. Der Aufsatz der Literaturwissenschaftlerin ANNA ARTWIŃSKA analysiert mit dem polnischen Schriftsteller Jacek Dehnel (geboren 1980) ein aktuelles Beispiel für eine starke, medial vielfach präsente und breit diskutierte Inszenierung von Künstlerrollen. Der polnische Schriftsteller, Übersetzer und Kritiker greift in seinen öffentlichen Auftritten wie in seinem in Polen äußerst erfolgreichen autofiktionalen Roman Lala auf Künstlermodelle der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zurück, insbesondere auf jene des Ästheten und Dandy. Die Autorin zeigt, dass es sich dabei nicht nur um eine rückwärtsgewandte Geste handelt, sondern sowohl um einen Kommentar zu aktuellen polnischen Debatten über den Umgang mit nationaler Geschichte als auch um ein ästhetisches Statement. Sie macht deutlich, dass es sich hier um eine gezielte, zeitlich begrenzte Form der Inszenierung handelt, auch wenn der Autor Authentizität für sich reklamiert. Indem Artwińska auch auf die Rezeption der Selbstinszenierung Dehnels eingeht, kann sie herausarbeiten, wie sich das so geschaffene Bild der Kontrolle des Künstlers immer mehr entzieht, so dass er die Korrekturen vornehmen muss, die letztlich zu einer Deformation der gewählten Rolle führen.

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Der Sammelband geht auf eine interdisziplinäre und internationale Tagung zurück, die vom gemeinsamen Schwerpunkt Wissenschaft & Kunst der Universität Salzburg sowie der Universität Mozarteum gefördert wurde. Wir bedanken uns herzlich für die Unterstützung unserer Arbeit zum Thema Künstlerbilder und für die Förderung der Tagung und der vorliegenden Veröffentlichung durch die beiden Salzburger Universitäten, durch Stadt und Land Salzburg, die Stiftungs- und Förderungsgesellschaft der Universität Salzburg sowie durch die Universität Hamburg. Unser besonderer Dank gilt der Kunsthistorikerin Barbara Lange, die die Tagung gemeinsam mit den beiden HerausgeberInnen konzipiert und wichtige Impulse für die Schärfung des

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Konzepts der Künstlerinszenierung gegeben hat. Des Weiteren möchten wir Anna Artwińska für die Unterstützung bei der Redaktion der Beiträge und Alena Goebel sowie Stefanie Guserl für das Korrekturlesen danken.

Zwischen Authentizität und Inszenierung: Künstlerische Selbstdarstellung im 20. und 21. Jahrhundert ANJA TIPPNER/CHRISTOPHER F. LAFERL

Überblickt man das 20. Jahrhundert und das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, dann liegt der Eindruck nahe, dass die öffentliche (Selbst)Darstellung und Biographik von Künstlerinnen und Künstlern – gewissermaßen als Werk „neben dem Werk“ – eine immer größere Bedeutung gewinnt. Damit rücken zunehmend Praktiken der Selbst- und Fremdinszenierung, das heißt des Auftretens und der Selbstausstellung im öffentlichen Raum, in den Fokus der Kulturwissenschaften. Diese Praktiken werden durch eine mehr oder minder konsequente Stilisierung fundiert, das heißt durch die bewusste ästhetische Überformung des Lebens und eine expressive Distinktion im Gegensatz zu Alltäglichkeit. Die Stilisierung und Inszenierung als Künstler folgt dabei einem ästhetischen Impetus und steht meist unter dem Signum der „Kreativität“. Nach Reckwitz meint „Kreativität“ ebenso die „Fähigkeit […] dynamisch Neues hervorzubringen“ wie ein „Modell des ‚Schöpferischen‘“, das mit der Figur des Künstlers verbunden ist.1 Im Folgenden soll es um diesen zweiten Aspekt von Kreativität gehen, der in auto/biographischen Texten wie in der künstlerischen Produktion selbst zur Darstellung kommt. In der Zusammenschau der hier vorgestellten Fallbeispiele zeigt sich, dass die auto/biographische Selbstdarstellung und Zurschaustellung von Künstlertum spä-

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Reckwitz 2012, 10.

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testens ab der Moderne durch folgende Parameter geprägt ist: die Autonomisierung des künstlerischen Feldes, wie sie Pierre Bourdieu nachgezeichnet hat; die Idee, dass Kunstschaffende uns einen unmittelbaren, unverstellten Einblick in Kreativität ebenso wie in ihr Ich erlauben; sowie die Vorstellung, dass künstlerische und bürgerliche Lebensformen unvereinbar sind bzw. dass künstlerischer Selbstausdruck notwendig mit einer Differenz zur Konvention und zur „Normalität“, wenn nicht gleich mit einem Tabubruch, einhergeht. Cornelia Klinger fasst diese Parameter, die die ästhetische Ideologie wie das Künstlerbild seit der Moderne formieren, mit den Begriffen „Autonomie, Authentizität, Alterität“ zusammen.2 Auch wenn die Differenz von Kunst und Leben nicht mehr ausschließlich das Bild des Künstlers, sei er akademisch etabliert oder non-konformistisch orientiert, formt, so gehören die aus diesen Begriffen abgeleiteten Strategien immer noch zum Grundrepertoire künstlerischer Selbstinszenierung. Im Feld der Fremd- wie der Selbstdarstellungen von Künstlertum erweist sich die Opposition von Authentizität und Inszenierung, die einerseits für das Spannungsverhältnis von scheinbar unmittelbar gegebener und damit authentischer Künstlerpersönlichkeit und ihrem öffentlichen und damit inszenierten Ausdruck andererseits stehen, als über die Epoche der ästhetischen Moderne und das ausgehende 19. wie beginnende 20. Jahrhundert hinaus virulent. Blickt man historisch etwas weiter zurück, dann stellt der Gegensatz zwischen Authentizität und Inszenierung kein Novum der Moderne dar. Schon der Streit zwischen Platon und den Sophisten weist auf die Dichotomie zwischen der (authentischen) Sache, die um ihrer selbst willen betrieben oder kommuniziert wird, und ihrer für ein Publikum adaptierten Präsentation hin. Eine Neuauflage erlebte diese Gegenüberstellung im deutschen Idealismus,3 der mit seinem Geniekult, nicht nur die wahre von der „gemachten“ Kunst, sondern auch den wahren Künstler vom Scharlatan oder modischen Blender deutlich geschieden wissen wollte. Das Paar Authentizität vs. Inszenierung hat also eine lange Genealogie. Diese hat allerdings spätestens durch die Postmoderne eine entscheidende Wende erfahren, die „Authentizität“ und „Inszenierung“ weder als Gegensätze noch als Konkurrenten auffasst; vielmehr ist seit dieser kulturalistischen Wende „Inszenierung“ das

2

Klinger 2002, 150.

3

Vgl. z. B. Fischer 1986, 134-135.

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Maß aller Darstellung und damit auch der nun obsolet gewordenen „Authentizität“. Anders als in der klassischen Moderne wird die Dichotomie von positiv gesetztem, „authentischem“ Selbstausdruck und eher negativ bewerteter Inszenierung in der Gegenwartskultur jedoch häufig nicht mehr als konflikthaft erlebt und inszeniert und einer der Aspekte ästhetisch abgewertet, stattdessen wird sie als Kontinuum wahrgenommen, auf dem sich Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie bildende Künstlerinnen und Künstler situieren. Zur auktorialen Dimension von künstlerischer Selbstdarstellung gehört aktuell die Einstellung zu Fragen des Posierens, der sozialen Positionierung, des Verhältnisses zu Affirmation und Provokation. Jeder Anspruch auf Unmittelbarkeit des Zugangs, sei es im Verhältnis des Autors zum Werk, sei es im Verhältnis des Betrachters zum Werk oder des Betrachters zum Urheber, erweist sich letztlich als illusionär. Die Unterscheidung zwischen freier, „nackter“ Kunst einerseits und erkennbar für ein bestimmtes Publikum produzierter, ökonomisch verwertbarer Kunst andererseits wird häufig übersetzt in eine kulturelle Axiologie, die das erste höher bewertet als das letztere. Dies ist ein Konflikt, der in einer Vielzahl von Künstlererzählungen und –dramen wie etwa Gerhart Hauptmanns Der Einsame. Ein Menschenuntergang (1917) oder Rainald Goetz’ Jeff Koons (1998), um nur zwei Texte von Anfang und Ende des 20. Jahrhunderts zu nennen, ausagiert wird.4 Im Anschluss an ästhetische Maximen, die insbesondere in der Literatur seit dem späten 18. Jahrhundert einen individualisierten Selbstausdruck besonders hoch bewerten, werden die Arbeiten jener Künstler, die man – nicht nur wegen früherer Werke, sondern auch wegen ihrer besonderen Art des Künstlerseins – kanonisiert und hoch einschätzt, ebenfalls so bewertet. Das führt wiederum dazu, dass einem Kunstwerk auch dann vom Publikum ein ideeller und ästhetischer Wert zugeschrieben wird, wenn sich dieser nicht oder zumindest nicht unmittelbar erschließt, nur weil man annimmt, dass bestimmte Künstler eben große Kunst hervorbringen, die es zu erkennen gelte. Das schwer auszulotende Verhältnis zwischen Kunst und Künstler macht auf jeden Fall deutlich, dass die Qualitäten der einen Seite mit jener der anderen in eine Beziehung gesetzt werden, die in der Regel als direkt proportional gesehen wird. Diese Annahme trifft aber für jene Künstler, die als Schriftsteller, Komponisten oder Bildende Künstler durch Wort, Bild oder Ton Neues schaffen,

4

Vgl. Nickel 2009, 283-303.

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anders zu als für das Feld der darstellenden Kunst. Traditionell herrschte für dieses Feld die Auffassung vor, dass ihre Akteure – Schauspieler und Schauspielerinnen oder Sänger und Sängerinnen – ‚nur Vehikel’ der großen Kunst seien, dass sie nur auf der Bühne Großes vollbringen müssten, nicht aber im Leben abseits des Theaters. Diese Annahme trifft aber in einer Zeit, in der Schauspielerinnen wie Angelina Jolie als Sonderbotschafterinnen der UNO agieren und Schauspieler durch ihre Rollen zu Talkshow-Experten für Zwangsheirat, Autismus oder die russische Mafia werden, nur noch bedingt zu. Und dennoch hat das Ausgreifen in andere Betätigungsfelder je nach der ursprünglichen oder primären künstlerischen Ausdrucksform unterschiedlichen Charakter, was im Wesen der Primärkunst seinen Grund hat. Von Schauspielern wird in Talkshows keine Kohärenz mit den Rollen erwartet, die sie im Film oder auf der Bühne spielen. Von einem Dichter oder einem Maler hingegen werden in der Regel bis heute andere Formen der Konstanz und eines erkennbaren Personalstils erwartet – und zwar über das ganze Œuvre oder zumindest über weite Strecken desselben hinweg, aber auch hinsichtlich des Verhältnisses von Urheber und Werk – als dies bei einem Schauspieler oder einem Sänger der Fall ist. Bei ihnen setzt man das Gegenteil von Konstanz, nämlich Wandlungsfähigkeit, voraus, was eben in der Bildenden Kunst oder der Literatur ganz anders gesehen wird. Wenn ein bildender Künstler, ein Schriftsteller oder ein Komponist in einer Podiumsdiskussion spricht, so wird von ihm mehr Kohärenz zu seinem Werk erwartet, als dies bei einem Schauspieler oder einem Sänger der Fall ist. Diese müssen für ihre Kunst weit weniger einstehen als Schriftsteller, Komponisten oder Maler. Andererseits sind eine ausgestellte Leiblichkeit und eine expressive Persönlichkeit schon lange nicht mehr das Privileg darstellender Künstler. Seit der Erfindung von Photographie, Film, Fernsehen oder Grammophon präsentieren sich auch bildende Künstler und Schriftsteller ihrem Publikum nicht nur durch ihre Artefakte, sondern durch die Situationen und Images, die sie kreieren. Für den Bereich der schöpferischen wie auch der darstellenden Kunst gilt, dass die Aufmerksamkeit gegenüber Künstlerfiguren ab dem Ende des 19. Jahrhunderts durch die neuen Massenmedien sowohl quantitativ und in der Folge auch qualitativ enorm zunahm. Diese ermöglichten nicht nur eine weit größere Verbreitung von Kunst als es jemals davor der Fall war; in noch nie dagewesener Weise erlaubten die neuen Massenmedien es dem Publikum auch, die hinter dieser Kunst stehenden Autoren und Akteure

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kennen zu lernen. Den Künstlern gaben die neuen Medien wiederum ungeahnte Möglichkeiten, ihre Kunst zu präsentieren und selbst mit dem Publikum in Verbindung zu treten. Das Einhergehen von größerer Verbreitung von Kunst mit jener der Bilder über die hinter dieser Kunst stehenden Künstler wird in nicht wenigen Strömungen der klassischen Avantgarde auch dazu benutzt, über die gesteigerte mediale Präsenz von Kunst und Künstler eine Einheit zwischen Künstler und Kunstwerk zu proklamieren. Die neuen Möglichkeiten, sich als Künstler zu präsentieren, legen eine wesentliche und bis heute gültige Konstante der Künstlerinszenierung frei: In den meisten Fällen werden die Grenzen der ursprünglichen Kunstform überschritten und zu anderen Künsten und Medien hin erweitert; das heißt bildende Künstler nehmen für ihre Selbstdarstellung auch das gesprochene wie geschriebene Wort in Anspruch, etwa in Form von Künstlergesprächen oder autobiographischen Rahmungen; und Schriftsteller präsentieren sich in Fotobüchern, auf der Bühne, in Lesungen und Filmen. Während nun Schriftsteller und Maler, Komponisten und Bildhauer zunehmend selbst zu Darstellern werden und damit in das Feld des Spiels „vor anderen“ – oder mit anderen Worten des Schauspiels – wechseln, so werden Schauspieler und Sänger durch ihre Selbstpräsentation abseits der Bühne selbst zu Urhebern: Sie sprechen in ihrem eigenen Namen, was ebenfalls als ein Ausgreifen in andere Ausdrucksbereiche anzusehen ist. Indem Künstler zunehmend nicht nur in ihrer angestammten Kunstform tätig sind, sondern sich in ihrer Eigenschaft als Künstler vor einem Publikum öffentlich in Szene setzen, werden sie – wenn nicht gleich zu Schauspielern oder Schauspielern zweiten Grades – so doch zu Performern, die sich wie Redner – in der Politik, vor Gericht oder im Festzusammenhang – genau an diesem, ihrem Publikum orientieren.5 Wie man bei seinem Publikum das erreicht, was man erreichen möchte, das lehrte von der Antike bis zur Frühen Neuzeit detailreich die Rhetorik als Disziplin, das lehren bis heute Rhetorik-Seminare, und das lehrte und lehrt im Zusammenhang mit Künstlerbiographien – wenngleich auch auf weniger bewusste und in Regeln fixierter Weise – ganz genauso die „Legende vom Künstler“ (nach Ernst Kris), also jene Lebenslaufmuster und Selbststilisierungsregeln, die in einer Gesellschaft zirkulieren und als solche lesbar sein müssen, was wiederum ihren historisch tradierten Charakter freilegt. Im Bereich der Kunst

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Es gibt natürlich auch Künstler, die solche Auftritte ablehnen oder verweigern und/oder Distanz gegenüber einem biographischen Verständnis fordern.

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ist eine „gute Performance“ aber auch immer eine, die sich nicht ausschließlich an Muster hält, sondern eine, die Muster transzendiert bzw. neue Muster kreiert und dann erfolgreich als ureigene „verkauft“, wie etwa im Fall des Künstlers Joseph Beuys oder des Musikers David Garrett. Das im Medium der Performance, sei es als Kunstform per se oder als öffentlicher Auftritt, angelegte Maskenspiel mit Künstleridentitäten wie mit anderen gesellschaftlichen Rollenangeboten ermöglicht es Künstlern zudem, die eigene Person und die biographische Wahrheit vor der kollektiven Aneignung durch ein Publikum zu schützen. Es ist nicht zuletzt das Maß an biographischer Distanz oder Präsenz, das zu Mythenbildung und Idolisierung sowie immer neuen Anstrengungen führt, die „Person“ hinter der Künstlermaske zu identifizieren.6 Der Umstand, dass Selbstausdruck und Selbstdarstellung in Künstlerinszenierungen häufig in andere Kunstformen als die originäre ausgreifen, und darüber hinaus auch Ausdrucksformen wie Mode, Werbung oder gesellschaftliche Interventionen mit einbeziehen, unterscheidet die Künstlerinszenierung auch vom autobiographischen Feld, das lange als privilegierter Modus künstlerischer Selbsterschaffung wahrgenommen wurde. Wir erkennen den Künstler oder die Künstlerin nicht nur in ihren Werken, sondern auch in ihrem Auftreten wieder. Dabei hat sich das Repertoire möglicher Künstlerrollen seit der Avantgarde deutlich vervielfacht.7 In den Künstlerinszenierungen des 20. Jahrhunderts geht es oft darum, sich neue, noch nicht besetzte Räume innerhalb der eigenen Kunstform anzueignen und über diese auszugreifen, um jenseits präformierter Diskurse eine gewisse Deutungshoheit über das Verhältnis von Leben und Kunst zu behalten. Neben die Deutungshoheit tritt das Moment der Innovation, der „Kreativität“ als Symptom im Zeichen des Neuen, das für die biographische Inszenierung genauso zentral ist wie das künstlerische Schaffen. Anders als die Moderne, die sich einem „außerideologischen Innovationszwang“ verpflichtet fühlte, ist die Postmo-

6

Jean-Martin Büttner führt in einem Aufsatz über Bob Dylan exemplarisch die Abwehrstrategien vor, die der amerikanische Sänger und Lyriker entwickelt hat, um sich gegen biographische Vereinnahmungen zu wehren und die in dem Satz “I’m only Bob Dylan when I have to be“ kulminieren. Büttner 2007, 254.

7

Zu den dominanten Künstlermodellen der Avantgarde vgl. Kuspit 1995, zur Vervielfältigung von Künstlerrollen von Bismarck 2011, 147-157.

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derne geprägt von der Vorstellung, dass die Zukunft zumindest in künstlerischer Hinsicht nur noch bedingt Neues bringen kann.8 Doch auch in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts ist die Rede über Kunst immer noch nicht vom Innovationsdiskurs abgekoppelt. In Groys’ ökonomischer Beschreibung der Kunst bestimmt sich der Wert eines Kunstwerks bzw. der Marktwert eines Künstlers über sein Verhältnis zu anderen Werken oder Künstlern und nicht in Bezug auf einen absoluten Maßstab.9 Der Gegensatz zwischen dem Alten und dem Neuen ist deshalb nur ein scheinbarer und wird nicht selten rhetorisch hergestellt durch Paratexte und Inszenierungspraktiken, die auch habitueller Art sein können. Dadurch gewinnt der Rahmen immer mehr an Bedeutung, neben textuellen und institutionellen Paratexten gehören dazu auch mit kunsthistorischen oder „philologischen Mitteln“ nicht mehr „rekonstruierbare ‚Lebensstile’“, die sich nur kulturwissenschaftlich mit Mitteln der Soziologie oder der Medienwissenschaft erschließen.10 Wie die Kunstwerke selbst dienen sie dazu, eine Aufmerksamkeit zu generieren, die sich als Reputation kapitalisieren lässt – ein Prozess, von dem nicht nur Künstler und Künstlerinnen, Autoren und Autorinnen profitieren, sondern auch jene, die ihre Arbeiten begleitend kommentieren und präsentieren.11 Bisweilen ist die Trennung der zum Kunstwerk gehörenden Rahmungen und Präsentationsformen von jenen, die ihm in der Kritik und im Feuilleton nachgeordnet sind, kaum möglich. Aus diesem Zusammenwirken von Kunst und Rede, der zu ihr gehörenden wie auch der nachgeordneten, ist die Person des Künstlers nicht wegzudenken, denn im Künstler verkörpern sich Vorstellungen von Authentizität, modellhafter Selbstfindung und Kreativität. Meist spielt er in beidem eine zentrale Rolle: Einerseits weil er Urheber jener Texte ist, die das Kunstwerk von Beginn seiner Zurschaustellung begleiten, wodurch er zu dessen erstem und privilegiertem Interpreten wird, und anderseits weil die Texte anderer über seine Kunst in Rückkopplung zu seinen eigenen Aussagen entstehen, wenn sie nicht gar von Beginn an darauf abgestimmt waren.12

8

Groys 1999, 9f.

9

Groys 1999, 13.

10

Jürgensen/Kaiser 2011, 13.

11

Vgl. hierzu Franck 1998.

12

Von Bismarck schreibt deshalb, dass letztlich nicht nur die Künstler dafür verantwortlich sind, was als Künstlerdefinition akzeptiert wird, sondern alle „im Feld Handelnden“. Von Bismarck 2011, 148.

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Einen Sonderfall im Kontext der Künstlerinszenierung stellen sicher Performances als eigene Kunstform dar, in der für gewöhnlich bildende Künstler „etwas darstellen“, für das ihre Präsenz zentral ist und das einmaligen und damit vordergründig ephemeren Charakter hat. Diese vom Moment lebende Kunstform wird aber dann doch fast immer für ein unbestimmtes Danach festgehalten, nämlich durch eine Speicherung in den Medien der Photographie und des Videos und durch ihre Beglaubigung als „zeitbasierte Kunst“.13 Die ausführenden Künstler sind aber im Laufe einer Performance meist selbst physisch anwesend und stehen nicht selten mit ihrem Körper für ihre Kunst ein. Unklar bleibt hier jedoch, wie sehr der darstellende Künstler neben seiner Funktion als „Ideator“ und Regisseur auch zum Schauspieler wird, und noch mehr, wie das Ich des Körpers der Performance mit der Subjektivität des Künstlers in Verbindung gebracht werden kann und wie sehr die Inszenierung des Künstlers im Kunstwerk mit jener außerhalb desselben korreliert. Wie andere Formen der Künstlerinszenierung lebt sie von einer „Vermischung von öffentlicher und persönlicher Identität […], [die] durch hemmungslose Nähe den Eindruck von Authentizität“ erweckt.“14 Ein Dokumentarfilm über die Performance-Künstlerin Marina Abramović mit dem Titel Marina Abramović. The Artist is Present macht diesen Umstand zum Dreh- und Angelpunkt der Dokumentation, die zugleich Teil des Kunstprojekts ist und fügt der Künstlerinszenierung damit noch eine weitere Dimension hinzu.15 Wenn man nach dem Verhältnis von künstlerischen Ausdrucksmitteln und der Biographie eines Künstlers sowie nach der Präsenz des Künstlers im

13

Vgl. dazu z. B. Klopp 2013.

14

Freybourg 2008, 10.

15

Marina Abramović. The Artist is Present. USA 2012. Regie: Matthew Akers. Der Titel des Films ist zugleich auch der Titel der Performance, die Abramović für die Retrospektive im Museum of Modern Art entwickelte. Die Website für den Film fasst die Interdependenz von Kunst, Leben und Dokumentation wie folgt zusammen: „Performance becomes Life – and Life becomes Art. […]. From the story of their [Marina Abramović’s and Ulay’s] relationship and their intensely charged reconnection in the runup to the MoMa retrospective, a parallel Marina emerges – a flesh-and-blood-foil to the art-world-icon – a woman who is driven by passion, desperate for admiration, and maddeningly riven by contradictions.“ http://marinafilm.com/

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Kunstwerk und nach der Konstruktion von Künstleridentitäten fragt, so erscheint es fast gleichgültig, welche der vielen Kunstformen des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts man betrachtet. Für alle gilt, dass die Begriffe von Authentizität und Inszenierung für jede biographische wie auch ästhetische Betrachtung unausweichlich sind. Im Folgenden sollen daher die Begriffe Inszenierung und Authentizität, die ja auch den Titel dieser kurzen Einführung bilden, gemeinsam mit den hier ebenfalls zentralen Begriffen Biographie und Kreativität etwas näher erläutert werden.

INSZENIERUNG UND AUTHENTIZITÄT Die „Inszenierung“ ist seit den 1980er Jahren ein Leitbegriff der Diskussion über das Verhältnis von Wirklichkeit und Repräsentation, deren dichotomische Gegenüberstellung seitdem grundsätzlich in Frage gestellt wird. Dieser Begriff, der aus der Welt des Theaters kommt und ursprünglich die theatralische Umsetzung eines vorgängigen Textes meint, hat Eingang in die Welt der Politik, der Kunst, der Medien und der Gefühle gefunden und wird nun als eine ästhetische Praxis gesehen, die ihre Vorbilder im Theater hat. Mit dem Begriff der Inszenierung ist mehr gemeint als nur eine Theatralisierung des Alltags, denn er zielt nach Erika Fischer-Lichte als „ästhetische und anthropologische Kategorie […] auf schöpferische Prozesse ab, in denen etwas entworfen und zur Erscheinung gebracht wird“, das heißt auf „Prozesse, welche in spezifischer Weise Imaginäres, Fiktives und Reales (Empirisches) zueinander in Beziehung setzen“16. Auch Wolfgang Iser weist in seinen Überlegungen zu einer literarischen Anthropologie darauf hin, dass die Inszenierung als anthropologische Kategorie und als Kultur schaffendes Prinzip das „zur Erscheinung bringt, das seiner Natur nach nicht gegenständlich zu werden vermag“ und dass sie somit ein notwendiger Faktor menschlicher Interaktion ist.17 Dies trifft in besonderem Maße auf die Darstellung von Kreativität zu, da schöpferische Prozesse sehr schwer sichtbar gemacht werden können und deshalb in der Regel auf besondere Weise zur Erscheinung gebracht werden müssen. Wie Iser bemerkt, geht es bei der Inszenierung von künstlerischen Artefakten nicht nur darum, etwas in der Literatur oder der

16

Fischer-Lichte 1998, 83.

17

Iser 1991, 504.

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Kunst „noch einmal zu haben“ und einen verborgenen Prozess sichtbar zu machen, sondern durch die Inszenierung, die immer auch eine Form der Selbstauslegung ist, entsteht ein Mehrwert.18 Inszenierung enthält nicht nur Hinweise auf die Individualität eines Künstlers, das Zur-Schau-Stellen einer spezifischen Subjektivität, und somit Aspekte, die sich im Werk auf andere Weise manifestieren, sondern es geht auch um dessen Objektivierung. In der Performance als Kunstform kommen kreative Prozesse und ihre Zurschaustellung zur Deckung. Andere Formen des Schöpferischen können aber viel weniger publikumswirksam in Szene gesetzt werden, wie z. B. das langsame Malen eines Bildes, das Schreiben an einem Manuskript oder das Komponieren vor einem Klavier, die allesamt eine Armut an Bewegung und damit an Veräußerlichung von im Innern des Individuums stattfindenden Prozessen charakterisiert.19 Mit der Unmöglichkeit, in manchen traditionellen künstlerischen Ausdrucksformen den kreativen Prozess nach außen anschaulich zu machen, scheint das Gefühl einer innerlich leeren Zeit einherzugehen, da die wenigsten Künstler oder Schriftsteller sagen können, was im Prozess des konzentrierten Schaffens in ihnen vorgeht. Viele traditionelle Formen des kreativen Schaffens scheinen also nicht nur schwer so inszenierbar zu sein, dass sie Aufmerksamkeit erregen können, sondern sie scheinen nach dem schöpferischen Prozess selbst auch kaum erzählbar zu sein.20 Während in diesen Fällen über den Grad der Inszenierung nur gemutmaßt werden kann, was nicht zuletzt der Abwesenheit eines Publikums geschuldet ist, so bleibt das Produkt dieses schöpferischen Prozesses – das Bild, die Komposition, der Text – von Dauer, wenngleich es immer wieder neu – im Moment des Betrachtens, des Hörens oder des Lesens realisiert werden muss.21

18

Iser 1991, 508, 513.

19

Vgl. Ronell 2008, 284-286.

20

So versucht etwa die Website des Künstlers Damien Hirst den Schaffensprozess durch live feeds (http://www.damienhirst.com/live-feed) aus seinem Studio sichtbar zu machen und ihn damit in sein Werk zu integrieren. Im Archiv finden sich unter dem Titel “fabrication of …“ mit Zeitraffer aufgezeichnete Dokumentationen, die den Künstler und seine Assistenten bei der Arbeit zeigen.

21

Auch dies ist wieder ein ephemerer, nur schwer inszenierbarer Vorgang.

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Um Inszenierungen von anderen Formen des Erscheinen-Lassens und Darstellens abzugrenzen, betont Martin Seel den korporalen und vergänglichen Aspekt einer jeden Inszenierung.22 Im Kontext der Präsentation von Kreativität und Künstlerschaft scheint zudem ein Aspekt besonders wichtig, den Erika Fischer-Lichte in ihren Überlegungen zur „Ästhetik des Performativen“ hervorhebt, nämlich die Tatsache, dass Inszenierungen prinzipiell „offene Situationen“ sind, die gerade durch die Abweichung von der geplanten Strategie oder durch Unvorhergesehenes Ausblicke auf „nicht-inszenierte Handlungen, Verhaltensweisen“ eröffnen.23 Dies verändert nicht nur die Sichtweise auf das Verhältnis von Konzeption und Ausführung, sondern lässt auch den schöpferischen Prozess, der sonst kaum fassbar ist, besser hervortreten. Ob in der Performance oder anderen auf Inszenierung hin angelegten schöpferischen Prozessen tatsächlich schon alle Möglichkeiten erschöpft wurden, wie der repetitive Charakter vieler konkreter Performances und damit ihre geringe Innovationskraft, auch wenn diese vielfach beschworen wird, nahe legen und wie bereits geäußert wurde,24 ist dennoch zu bezweifeln, weil es nicht nur immer wieder zu neuen Kombinationen des vorhandenen Medienrepertoires kommen kann, sondern auch weil stets neue Elemente der Selbstdarstellung zur Verfügung stehen, wie sie der kontinuierlich stattfindende mediale Wandel, z. B. durch das mittlerweile fast überall verfügbare Internet, anbietet. Konstanten des Inszenierungsrepertoires von Künstlern sind Skandal und Provokation,25 das heißt gezielte Tabubrüche, die sich heute meist nicht mehr auf das Feld der Kunst, sondern eher auf gesellschaftliche Normen oder politische Missstände beziehen. Wie etwa die Selbstverletzung von Rainald Goetz beim Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb, der Auftritt der russischen Punk-Band Pussy Riot in einer Kirche oder die Annagelung der eigenen Hoden durch den Künstler Petr Pavlenskij auf dem Roten Platz in Moskau. Immer geht es darum, Aufmerksamkeit zu gewinnen, sei es um ein ästhetisches oder politisches Programm an eine breitere Öffentlichkeit zu tragen, oder um sich als Künstler überhaupt erst zu positionieren. Dies

22

Seel 2001, 59.

23

Fischer-Lichte 2004, 327.

24

Vgl. Jürgensen/Kaiser 2011, 17: „Die Stilisierungsstrategien sind bis zur Selbstverletzung allesamt durchgespielt und können nun – nur noch – kombinatorisch eingesetzt werden“.

25

Vgl. Neuhaus/Holzner (Hg.) 2006.

26 | ZWISCHEN AUTHENTIZITÄT UND INSZENIERUNG

macht etwa die Debatte um die genannten russischen Künstler deutlich, die sich einerseits mit der Meinungsfreiheit in der gelenkten Demokratie beschäftigt, andererseits aber auch immer wieder die Frage in den Blick nimmt, ob die Performance überhaupt als „Kunst“ und ästhetisch relevant und die Performerinnen und Performer damit als Künstlerinnen und Künstler zu klassifizieren seien. Jenseits von Medien und Öffentlichkeit durchziehen theatrale und inszenatorische Praktiken unseren Alltag; durch sie wird unser Handeln in Gruppen und Interagieren mit anderen zu einer „Darstellung (performance)“, wie Erving Goffman in seiner Studie zur Selbstdarstellung im Alltag schreibt.26 Inszenierung in der Form von Konventionen, Umgangsformen wie Takt und Höflichkeit ist ein notwendiger Bestandteil eines öffentlichen Miteinanders, das keineswegs in der Opposition von authentischem, privatem Selbst und inszeniertem, öffentlichem Selbst aufgeht. Wenn man mit Lionel Trilling authentisches Verhalten als das Bemühen auffasst, sich selbst und anderen zu erzählen, was man empfindet und wie man sich selbst sieht, gerade auch in der Darstellung negativer Eigenschaften27, dann löst sich die Grenze zwischen öffentlichem und privatem Selbst auf andere Weise auf und „Selbst-Enthüllung wird zum universalen Maßstab von Glaubwürdigkeit und Wahrheit“.28 Mit diesem Anspruch korreliert die Erwartung, dass Künstler uns unverstellte Einblicke in ihre „Seelenwerkstatt“ bieten und exemplarisch für das moderne Bewusstsein Selbstbeobachtung üben, wie Susan Sontag in ihren Überlegungen zum „Künstler als exemplarischem Leidenden“ schreibt.29 Eine Übung, die vor allem dann Sinn macht, wenn sie unter dem Signum der Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit steht. Authentizitätsformeln basieren häufig auf der Idee, das Authentische verberge sich unter einer wie auch immer gearteten „Oberfläche“ und müsse erst zur Erscheinung gebracht werden.30 Die „Semantik der Selbstentfaltung“, die insbesondere kultursoziologische Analysen regiert, verbindet sich mit dem Konzept des Authentischen,

26

Goffman 1983, 18.

27

Trilling 1982, 61.

28

Sennett 1986, 59.

29

Sontag 2003, 94.

30

Lethen 1996, 229.

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das seinen Ausdruck finden, das heißt inszeniert werden muss.31 Früchtl und Zimmermann weisen darauf hin, dass das Verhältnis von Authentizität und Inszenierung, die „Inszenierung des Selbst [als] eine aktuelle Strategie der Selbstfindung oder Identitätssicherung, eine epochal verschärfte existenzielle Notwendigkeit“ und damit als authentischen Ausdruck des Selbst und nicht als „Täuschung“ begreift.32 So einflussreich diese Lesart ist, so muss doch festgehalten werden, dass Authentizität in öffentlichen Situationen und für ästhetische Artefakte ohnehin nur behauptet und in Anspruch genommen, aber selten überprüft werden kann. Bernhard Fetz stellt mit Hinblick auf biographische Darstellung deshalb zutreffend fest, dass dies zu einem Paradox führt, nämlich der Tatsache, „dass erst die Inszenierung von Authentizität den biographischen Effekt erzeugt“33, denn nur eine ausgestellte, expressiv vorgeführte Authentizität ist als solche wahrnehmbar und kann somit Teil der Künstleridentität werden. Das, was zu einem bestimmten Zeitpunkt als „authentisch“ betrachtet wird, ist jedoch höchst variabel, da der Authentizitätsbegriff dynamisch ist und Authentizität performativ hervorgebracht wird, so dass veränderte kulturelle Konstellationen und Verschiebungen in der ästhetischen Axiologie des Feldes der Kunst zu veränderten Vorstellungen von Authentizität führen.34 Die semantische Dynamik in der Fassung des Begriffs Authentizität wie auch die Relativierung seiner Bedeutung werden im öffentlichen Raum aber nur dann kritisch vorgetragen und unkritisch hingenommen, wenn es um den westlichen Mainstream geht. Der moderne Authentizitätsbegriff ist eng an die Konzeption des modernen Subjekts gebunden, hieraus erklärt sich in letzter Instanz auch die Leitfunktion, die Künstlern zugesprochen wird. Kommt die Kunst jener Gruppen und Bevölkerungsteile ins Spiel, die in der westlichen Welt oder durch diese verfolgt oder benachteiligt wurden oder werden, erlangt der Authentizitätsbegriff wieder unhinterfragt sein volles Gewicht. Während die Authentizität jener Kunst, die von Akteuren geschaffen wird, deren Herkunft im Establishment angenommen wird, kritisch in

31

Mit Helmut Lethen geht es im Folgenden eher um die Beschreibung von “Effekten des Authentischen“ und ihrer Funktion als um die Annahme, es gäbe eine als „authentisch“ bestimmbare Qualität. Vgl. Lethen 1996, 209.

32

Früchtl/Zimmermann 2001, 16.

33

Fetz 2009, 54.

34

Knaller/Müller 2005, 45.

28 | ZWISCHEN AUTHENTIZITÄT UND INSZENIERUNG

Frage gestellt wird und in Frage gestellt werden kann, gilt das für Kunst von Minderheiten, anderer Kulturkreise oder Leidensgemeinschaften viel weniger. Hier wird vielfach eine enge Beziehung zwischen Kunst und Künstler angenommen, die gewissermaßen natürlich gegeben sei und nicht durch Inszenierungsmodi verschiedenster Art „verfälscht“ würde. Hier wird Authentizität einmal mehr zwischen Selbstbestimmung und –verwirklichung angesiedelt. Dies mag den authentischen Charakter der in Frage kommenden Kunst unterstreichen, legt aber deren Urheber auf ihre Herkunft, ihre kulturelle Prägung, ihr Geschlecht oder ihre sexuelle Orientierung fest. Wie sehr in der aktuellen Rede über Kunst also mit zweierlei Maß gemessen wird und welche Stimmen – oder ideologischen Richtungen – den verschiedenen Positionen zugeordnet werden können, gilt es allerdings noch zu untersuchen und analytisch besser zu fassen. Die Einbeziehung von Kunst, die von Minderheiten geschaffen wurde oder die außerhalb der (nord)westlichen Welt entstanden ist, muss man dabei wohl konsequent in die Diskussion des Verhältnisses von Authentizität und Inszenierung einbeziehen, will man nicht auf der Stelle treten.

BIOGRAPHIE UND KREATIVITÄT Selbststilisierung und damit oft verbunden Selbstvermarktung sind im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts allgegenwärtig, und nicht selten wird diese Tatsache bedauert, als Verfall oder als Bevorzugung des Scheins gegenüber dem Sein gesehen, auch wenn oder gerade weil gelungene Selbstinszenierungen eine deutliche Vorbildwirkung haben. Diese Selbstinszenierung beschränkt sich in der Regel nicht auf eine bestimmte Präsentation in der Gegenwart, sondern hat meist auch eine zeitliche Dimension. Genauso wichtig wie der Stil des Auftretens ist daher die Narration der eigenen Biographie, wie fragmentarisch diese Erzählung auch ausfallen mag. Zu neueren Strategien der künstlerischen Selbstinszenierung gehören nun auch Wikipedia-Einträge, Twitterbiographien in 160 Zeichen und personalisierte Websites die meist Selbst- und Fremddarstellungen kombinieren, etwa in Form von Zeitungsinterviews, Künstlergesprächen und biopics, die gleichberechtigt

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neben Selbstdarstellungen stehen oder gar an ihre Stelle treten.35 Nirgends scheinen die Strategien, sich selbst auf eine bestimmte Weise präsentieren zu wollen und damit das eigene Tun zum Thema zu machen, stärker vertreten als im Feld der Kunst, und in keinem anderen Bereich scheint die „biographische Selbstthematisierung“36 deutlicher erlaubt, wenn nicht geradezu erwünscht zu sein, als bei Künstlern, Schriftstellern, Sängern, Schauspielern usf. Gleichzeitig bleibt auch hier die von Bourdieu diagnostizierte „Illusion“ biographischer Konstruktionen und Selbstdarstellungen, die von einer Einheit von darstellendem und dargestellten Ich ausgehen, spürbar.37 Mittlerweile haben hier Künstler fast aller Ausdrucksformen gleichgezogen, da derzeit für Schriftsteller genauso wie für Komponisten, Schauspieler, Sänger oder bildende Künstler das gleiche biographische Prinzip gilt, dass sie alle nämlich in erster Linie als Künstler wahrgenommen werden wollen. Sahen sich Schriftsteller bis in das 18. Jahrhundert selten in erster Linie als Schriftsteller, sondern als Beamte, Kleriker, Diplomaten oder Politiker, die eben auch, aber nicht nur schrieben, so sind die Autoren seit dem Ende des Ancien Régime immer mehr zu Berufsschriftstellern geworden, für die das Schreiben zentral im biographischen Selbstverständnis wie in der Präsentation vor anderen ist.38 Ähnliches lässt sich für den Bereich der Bildenden Kunst feststellen. Wenn nun aber seit der Industriellen Revolution und der zunehmenden Arbeitsteilung im 19. und 20. Jahrhundert die Künstler aller Sparten und Ausdrucksformen sich vornehmlich als Künstler sehen und ihr Bild diesem Selbstverständnis gemäß sich und anderen vermitteln wollen, so kommt durch die bereits angesprochene massenmediale Aufmerksamkeit

35

Vgl. z.B. die Website des Schriftstellers Aris Fioretos, der Interviews neben Texte stellt www.arisfioretos.com oder die Website www.damienhirst.com des britischen Künstlers Damien Hirst, die einen Link zu einem Film über ihn enthalt, auf den mit Hinweis verwiesen wird: „The film is a unique opportunity to find out more about the real Damien Hirst.“ [Hervorhebung der Autoren]. Vgl. http://www.damienhirst.com/audio-video/video/2012/thoughts-work-life sowie www.damienhirst.com. Beide Websites sind Beispiele dafür, wie hier andere (Graphiker, Programmierer) in die (Selbst-)Präsentation einbezogen werden bzw. sie diese erst ermöglichen.

36

Hahn/Willems 1998, 203.

37

Bourdieu 1998.

38

Vgl. Jürgensen/Kaiser 2011, 15-17.

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im 20. Jahrhundert und mit dem erhöhten Inszenierungszwang ein weiterer Faktor hinzu, der vorher weit weniger stark diskursiv präsent war: die Unmöglichkeit, zur Frage der Selbstinszenierung nicht Stellung zu nehmen. Schriftsteller wie Künstler müssen sich zur Frage der Inszenierung verhalten. Sie können Authentizität und damit Nicht-Inszeniertheit simulieren, sie können die Inszeniertheit zu einem Teil ihrer Selbstdarstellung machen, sie können einen Metastandpunkt einnehmen und die gewählten Formen der Inszenierung thematisieren.39 Aber, so könnte man in Abwandlung des berühmten kommunikationstheoretischen Axioms von Paul Watzlawick sagen, man kann nicht nicht inszenieren, wenn man sich mit seinen Texten, Bildern, Filmen in den öffentlichen Raum begibt. Der Versuch, sich als Autor oder Künstlerin aus dem Spiel zu nehmen, als Person nicht in Erscheinung zu treten, wird immer schon als Teil der Inszenierung verstanden und in Künstlerbilder integriert. So etwa der italienische Künstler Maurizio Cattelan, der sich bei Interviews von anderen vertreten lässt und seine Selbstaussagen bevorzugt hinter den Interpretationen anderer versteckt40 oder der brasilianische Musiker João Gilberto, der ausschließlich und dezidiert nur seine Kunst im Zentrum sehen will und biographische und mediale „Störfaktoren“ ausschließen will. Andere Beispiele vermeintlicher oder tatsächlicher, auf jeden Fall paradoxaler Verweigerung sind Regisseure wie Stanley Kubrick oder Terence Malick sowie Autoren und Autorinnen wie Juan Carlos Onetti, Sarah Kirsch oder ganz radikal J. D. Salinger, die versuchen, ohne eine öffentliche Inszenierung und eine Preisgabe biographischer Fakten und intimer Details auszukommen und auf ein zurückgezogenes Leben abseits der Öffentlichkeit Wert legen; sie werden in der Regel erst recht zur Projektionsfläche für Künstlerdiskurse. Rückzug und Verweigerung sind freilich nur dann wirksame Strategien der Selbstdarstellung, wenn sie als Reaktionen auf ein intensives Interesse der Öffentlichkeit bzw. des Kunstmarkts dargestellt werden können. Die Inszenierung der eigenen „Kreativität“ läuft auch für diese Künstler vor der Folie jener Künstlerbilder ab, die zu einer bestimmten Zeit in einer

39

Vgl. hierzu Blumenkamp 2011, 364 und 380. Blumenkamp erweitert mit dieser Typologie eine Kategorisierung, die Porombka 2007, 228 vorgeschlagen hat.

40

http://www.brooklynrail.org/2011/12/art/charm-like-a-drugmaurizio-cattelanwith-jarrett-earnest. Cattelan beginnt das Interview mit dem Satz: „You can write the interview yourself, if you like!“

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bestimmten Gesellschaft zirkulieren. Diese Bilder setzen sich aus verallgemeinerten Vorstellungen zu einem Künstlerhabitus und aus illustrativen Anekdoten zusammen, die über andere Künstler – aus Geschichte und Gegenwart – in diesem Umfeld bekannt sind. So kann man in der Selbstinszenierung des in diesem Band behandelten Autors Jacek Dehnel einerseits deutlich den Dandy der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und andererseits auch ganz konkrete Bezüge zum Leben von Marcel Proust erkennen, dessen Selbstinszenierung sich selbst wieder auf eine ganze Genealogie des hypersensiblen Künstlers bezieht. Das heißt, dass sich Künstler in ihrem eigenen habituellen Künstler-Sein sehr oft der „Rückversicherung durch historische Künstlerpersönlichkeiten“41 bedienen. Für Künstler, die sich als Vertreter von bestimmten minoritären und damit nicht selten marginalisierten Gruppen ansehen, gestaltet sich diese Suche nach Vorbildern oft äußerst schwierig. Dies war lange Zeit für Autorinnen oder Malerinnen allenthalben oder für schwarze Schriftsteller in den USA oder Brasilien der Fall und wird auch in Mitteleuropa im Zusammenhang mit Literatur von Migranten schon eine gute Zeit lang diskutiert. Gerade das letzte Beispiel macht auch deutlich, dass identitäre Kategorien wie Ethnizität, wenn nicht Nation oder Religion, auch für die Künstlerinszenierung von Relevanz sein können. Als sekundärer Effekt wird aus dem hier beschriebenen Mangel an Vorbildern zugleich eine scheinbar gesteigerte Authentizität abgeleitet, die sich mit Unmittelbarkeit und Eigentlichkeit verbinde, was zu einem Mehr an Glaubwürdigkeit führe. Die biographischen Anleihen beziehen sich aber nicht immer auf dieselbe künstlerische Ausdrucksform, der sich ein Künstler bedient, manchmal nicht einmal auf dasselbe kulturelle Feld. So können für Künstler auch Forscher oder Wissenschaftler zum Vorbild für den eigenen Habitus oder ihre Künstlerinszenierung werden, wie etwa Soziologen für den Konzeptkünstler Hans Haacke oder historische Musikwissenschaftler für den Dirigenten Nikolaus Harnoncourt. Das oben bereits mehrfach angesprochene Ausgreifen in andere Kunstformen als jene, in der die Hauptproduktion des eigenen künstlerischen Tuns stattfindet, manifestiert sich oft in der Suche nach Vorbildern. Dies ist der Fall, wenn der Dichter wie ein Rockstar auftritt, wie Wladimir Kaminer, oder wenn eine Sängerin in ihrem Outfit oder Gehabe eine Schauspielerin zitiert, wie dies z. B. bei Madonna in Bezug auf Marilyn

41

Muysers 2006, 28.

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Monroe beobachtet werden kann.42 Das Aufgreifen vorhandener Modelle des Künstler-Seins wie auch die genannten Bezugnahmen auf real existierende Vorbilder betreffen die Selbstinszenierung nach außen, beeinflussen aber auch das künstlerische Schaffen selbst, sowohl was die Formensprache als auch die Sujet-Wahl betrifft. Bei darstellenden Künstlern kann dies auch bis zu Übernahmen in Sprech- oder Gesangsstil auf der Bühne reichen. Die für das Publikum erkennbaren Bezüge laufen allerdings per se Authentizitätsstrategien zuwider, da ja sie gerade nicht Einzigartigkeit, sondern Doppelung und Wiederholung, wenn nicht die Kopie evozieren. Die Erzeugung von Einzigartigkeit ist aber eines der anderen zentralen Elemente in jeder Selbstinszenierung, und deswegen wird gerade sie diskursiv vielfach beschworen. Aus genau diesem Grund wird auch jenen Beglaubigungsverfahren eine so hohe Bedeutung zugemessen, die, wenn schon nicht die Einzigartigkeit, so doch die Einmaligkeit für das Individuum, unterstreichen. Besonders aussagekräftig sind hier Verweise auf den eigenen Körper, v. a. wenn es um Schmerz und Lust geht. Wenn nun z. B. der Anspruch erhoben wird, dass ein bestimmter Schmerz die Grundlage für ein bestimmtes Kunstwerk darstelle und diese Kunst daher authentisch sei, dann lässt sich einer derartigen Aussage wenig entgegensetzen. Es kann nur mehr diskutiert werden, wie sehr die Schmerz- oder Krankheitserfahrung den Betrachter oder Leser erreicht und damit die Frage nach der Qualität der Umsetzung gestellt werden; es kann jedoch nicht die Erfahrung selbst infrage gestellt werden, die sich als authentische zu erkennen geben möchte. Das gleiche gilt für die Thematisierung anderer Inspirationsquellen durch die Künstler selbst, auch sie stehen wegen ihrer grundlegenden Subjektivität ebenfalls außer Diskussion. Schließlich dienen als besondere Verfahren der Authentisierung Aussagen zur Arbeitsweise und zum künstlerischen Prozess, die aber – wie oben bereits angedeutet – vielfach tautologischen Charakter haben oder in die „je-ne-sais-quoi“Aporie münden. Einfachere und plakativere Strategien, die allerdings die genannten Schwierigkeiten in der Auslotung der Authentisierung eher eskamotieren, als dass es ihnen gelingen würde, diese tatsächlich herzustellen, finden sich in den verschiedensten Versuchen, das Werk mit seinem Urheber zu verbinden, wie es z. B. durch (mehr oder weniger gestellte) Bilder des Künstlers bei der Arbeit, das fotografische Festhalten der Betrachtung des eigenen Werks durch den Künstler oder der öffentlichen Lesung durch den

42

Vgl. dazu Bronfen 2002 und Miessgang 2011.

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Autor oder durch das Aufgehen von Werk und Künstler in einer Performance, die den eigenen Körper einbezieht, erreicht wird. Gerade die radikalen Performances, die im wahrsten Sinne des Wortes unter die Haut gehen, die an der Oberfläche des Körpers nicht Halt machen, sondern in sein Inneres vordringen und genau dies vor einem Publikum tun und den Akt der radikalen Einbeziehung des Selbst durch visuelle Speichermedien seines ephemeren Charakters entheben, machen deutlich, dass Inszenierung und Authentizität nicht mehr als Gegensätze aufgefasst werden können und dass Selbstdarstellung selten ohne das Ausgreifen in andere Medien auskommt.

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34 | ZWISCHEN AUTHENTIZITÄT UND INSZENIERUNG

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Strindbergs Inszenierung des Selbst als ästhetische Praxis KARIN HOFF

Kaum ein anderer skandinavischer Autor ist so sehr mit seinem Werk identifiziert worden wie August Strindberg. Von Beginn an haben Kritik und Forschung seine Texte und Bilder als autobiographische Zeugnisse gelesen, und Strindberg selbst hat an dieser Identifikation von Leben und Kunst kräftig mitgearbeitet. Autobiographische Schriften sowie wiederholte Hinweise in seinen zahlreichen Briefen und Tagebucheinträgen demonstrieren nachdrücklich, wie sehr Strindberg einerseits reale Begegnungen, Erfahrungen, politische und gesellschaftliche Ereignisse in die Literatur überführt – und andererseits wird deutlich, dass die eigene Biographie offensichtlich als Literatur gelebt und inszeniert wird.1 Mit anderen Worten: Kunst und Leben scheinen bewusst miteinander verbunden zu werden – und diese Ästhetik einer Lebenskunst, die Strindberg in produktiver Korrespondenz und Übereinstimmung mit Friedrich Nietzsche um 1890 deutlich formuliert hat,2 bestimmt das gesamte Oeuvre, nicht nur die als solche ausgewiesenen autobiographischen Texte, sondern auch die Dramatik, Lyrik, Essayistik und die vielen anderen ästhetischen Experimente und Selbstversuche, an denen der Künstler Zeit seines Lebens arbeitete – etwa die Malerei und Photographie.

1

Olof Lagercrantz vertritt in seiner Biographie ebenfalls die These, dass Leben und Werk Strindbergs eng miteinander verbunden sind und Strindberg diese Ästhetik seiner Lebenskunst auch selbst inszenierte. Lagercrantz 1979.

2

Gundlach 1980, 59-70.

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So wie Christopher Laferl und Anja Tippner in ihrer Einleitung zum Sammelband Das Leben als Kunstwerk feststellen, dass die „Grenze zwischen der Lebensgeschichte und der Lebenskunst […] in vielen Fällen nicht klar zu bestimmen“ ist,3 so lässt sich für Strindberg nicht nur dieser bewusst inszenierte Grenzgang zwischen Kunst und Leben feststellen, der als Ästhetisierung seiner biographischen Erfahrungen Teil des Konzepts der Lebenskunst ist. Die schwedische Literaturwissenschaft (und nicht nur sie) hat denn auch sehr lange die biographische Lesart seiner Schriften bevorzugt, was in nahezu allen Arbeiten, die sich seit den 1980er Jahren mit Strindbergs Texten beschäftigen, kritisch angemerkt wird.4 Die jüngere Forschung hat sich deutlich von der positivistischen Betrachtung der Strindbergschen Texte distanziert, ohne jedoch die „Autorfigur“ Strindberg völlig außer acht lassen zu

3 4

Laferl/Tippner 2011, 9. So Olsson 1996, 13; Behschnitt 1999, 3: „In der Strindbergrezeption spielte von Anfang an die autobiographische Lesart eine dominierende Rolle, bei der zeitgenössischen Leserschaft ebenso wie in der Literaturwissenschaft. Man suchte und fand den Autor Strindberg in seinen Werken, nicht nur in den ausdrücklich autobiographischen, sondern ebenso in den Dramen, Romanen, Erzählungen und in der Lyrik. Eine solche Rezeptionshaltung entsprach zum einen dem zeitgenössischen Literaturverständnis, zum anderen der positivistischen und biographischen Ausrichtung eines großen Teils der literaturwissenschaftlichen Strindbergforschung. Diese naiv-biographische Tendenz ist ihr in jüngerer Zeit häufig vorgeworfen worden.“; sowie Robinson 1986; Ulf Boëthius formuliert Strindbergs ästhetische Selbstinszenierung so: „Strindberg påbörjade själv mytologiseringsarbetet – han bearbetade ju ständigt sitt eget liv – och de många uttolkarna har fortsatt. De verkliga gestalterna har försvunnit, överlagrade av ständigt nya bilder. Strindbergs liv har blivit en gigantisk och alltid oavslutat, kollektivt producerad dokumentärroman.“ (Strindberg begann selbst mit der Mythologisierung – er bearbeitete ja ständig sein eigenes Leben – und die zahlreichen Deutungen gingen weiter. Die realen Figuren sind verschwunden, überlagert von ständig neuen Bildern. Strindbergs Leben ist zu einem gigantischen, unabgeschlossenen kollektiv produzierten Dokumentarroman geworden.) Boëthius 1977, 264.

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können, worauf Wolfgang Behschnitt in seiner Monographie Die Autorfigur Strindberg deutlich hingewiesen hat.5 Der Frage nach der vom Autor offensichtlich bewusst gesetzten Relation von Biographie und Text möchte ich im Folgenden ebenfalls noch einmal nachgehen. Strindbergs Inszenierung seiner Selbst soll hier aber nicht auf der Grundlage seiner explizit als autobiographisch ausgewiesenen Prosatexte erfolgen, sondern auf der seines letzten Dramas Stora Landsvägen (Die große Landstraße) von 1909, das als letzter Akt der Selbstinszenierung gelesen werden kann. Das Stück greift nämlich noch einmal eine Vielzahl jener Selbstversuche auf, die für Strindbergs ästhetische Experimente der Moderne paradigmatisch sind. Wenn ich hier von Selbstinszenierung spreche, so wird damit zum einen die große Bedeutung berücksichtigt, welche die Arbeit für das Theater in ihren unterschiedlichsten Formen für Strindberg eingenommen hat: als Dramenautor, Dramen- und Theatertheoretiker sowie als Regisseur, Dramaturg und Theaterdirektor. Angesichts der Nähe von Biographie und Kunst, die er selbst immer wieder zum Ausdruck gebracht hat, liegt der Bezug zur theatralischen Selbstinszenierung und der Autobiographie als performativem Akt zweifellos nahe. Zum anderen schließe ich mich mit dem Begriff der Inszenierung des Selbst Martin Seels Auffassung an, die besagt, dass die Präsentation der biographischen Ereignisse immer auch impliziert, dass alles „ganz anders sein könnte“, dass diese spezifische Form der Darstellung natürlich auch arbiträr ist und dass die Auswahl dessen, was an tatsächlich Erlebtem in die Kunst überführt wird, eben als bewusst getroffene Auswahl verstanden wird.6 Das Material, aus dem die Lebensgeschichte rekonstruiert wird, ist natürlich wesentlich umfangreicher als die Texte, die daraus entstehen. Das „poetische Kammerspiel“7, so der Untertitel von Stora Landsvägen (Die große Landstraße), erschien 1909 und ist das letzte Stück, das Strindberg überhaupt für die Bühne verfasst hat. Es gilt als ein Schlüsseldrama, in

5

S. dazu die differenzierte Einleitung von Behschnitt 1999, 7-74. Diese Übersetzung und alle im Folgenden von Karin Hoff.

6 7

Seel 2001, 52. „ett poetiskt kammarspel“ (Strindberg an Tor Aulin, 10. August 1909). Damit schließt Strindberg noch einmal an die Kammerspiel-Ästhetik an, die er 1907 bis 1909 für das in diesen Jahren endlich realisierte Projekt eines eigenen Theaters (Intima teatern in Stockholm) auch theoretisch in seinem Memorandum an

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dem der Autor noch einmal mit seinen Gegnern abrechnet, es gilt zugleich als ein enigmatischer Text, der die bereits zuvor erprobten Formen der IchDramatik und des Wanderungsdramas auf die Spitze treibt. Hinzu kommt die ebenfalls aus Strindbergs früheren Stücken bekannte radikale Überschreitung der Gattungsgrenzen: epische, lyrische und musikalische Elemente prägen diesen Text, der offensichtlich alle zur Verfügung stehenden Möglichkeiten einer radikalen Dramatik der Moderne erprobt. Das Stationendrama über die moderne Landstraße ist insofern rätselhaft, als bis auf die zentrale Figur des Jägers (dem Protagonisten dieser Ich-Dramatik) kaum durchgehende Handlungsfäden nachvollziehbar sind. Dieser Protagonist, der namenlose Jäger, durchschreitet insgesamt eine „symbolische Parabel“ mit sieben Stationen, wie Fritz Paul es genannt hat: In den Alpen, Bei den Windmühlen, In Eselsdorf, Eine Passage in der Stadt, Park vorm Krematorium, An der letzten Pforte, Der dunkle Wald.8 Das Zentrum bildet die Stadtszene (Eine Passage in der Stadt) auf der vierten Station. Begleitet wird der Jäger von einer ihn teilweise ergänzenden, regulierenden Figur des Wanderers, der als alter ego des Jägers erscheint. Hinzu kommen eine Reihe von Nebenfiguren, die teilweise als vorübergehende Gegenspieler eines seine letzten Lebensstationen und -phasen durchlaufenden Protagonisten auftreten, teilweise – wie Martin Lamm beobachtet hat9 – als weitere Vervielfältigungen seiner selbst erscheinen, als imaginäre Gegner, mit denen er sich auf einen aussichtslosen, lächerlichen Kampf einlässt. Realistische und absurde Elemente wechseln

die Mitglieder des Intimen Theaters entwickelt hatte. Auch Ruprecht Volz liest Stora Landsvägen als Bekenntnisdrama, in dem der Monolog des Jägers zentral ist: „Auffallend ist die Handlungsarmut des Werks, die durch den episodenhaften Stationen-Aufbau noch verstärkt wird. Die Unterhaltungen sind in Wirklichkeit Monologe des Jägers in der Gesellschaft von merkwürdig körperlosen Personen, die nur in der Begegnung mit der Hauptgestalt als Gegenspieler oder Doppelgänger Leben gewinnen. Sie sind Objektivationen des widerspruchsvollen Inneren Strindbergs, seiner Sehnsucht nach Versöhnung und Erlösung, seiner Angst vor dem Ich-Verlust und seiner Trauer, nicht in einer Welt der Gerechtigkeit und Menschlichkeit leben zu dürfen. Als symbolistisches Bekenntnisdrama steht Stora Landsvägen in der Nähe von Till Damaskus.“ Volz 1986, 9019-9020. 8

Paul 1979, 97.

9

Lamm 1963, 427-431.

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einander ab, lyrische und „polyphone“ Monologe10 oder stilisierte, „monologisierende“ Dialoge mit sich selbst oder den verschiedenen Gestalten, die das dramatische Ich annimmt, zementieren die Handlungsarmut, die auf die Grenzen der Handlung im Drama hinweist und damit die Grenzen der Gattung überhaupt signifikant vorführt – wie schon in den Kammerspielen, die Strindberg wenige Jahre zuvor verfasst hat. Gunnar Ollén spricht von einem „seltsamen Hybrid aus Kammerspiel, Gegenwartssatire und lyrischem Bekenntnisdrama.“11 Dass eine solche Präsentation der Gattungsauflösung, die zugleich einen biographischen Abschluss beschreibt, nur unter Zuhilfenahme anderer ästhetischer Ausdrucksformen gelingen kann, ist Strindberg auch in diesem letzten Stück natürlich bewusst: Diese Formen hat er nicht nur mit den Kammerspielen, sondern in seiner gesamten Dramatik von Beginn an erprobt. „Hier nun meine Letzte Symphonie. Sie soll gelesen werden, dann eine Weile liegen bleiben, bevor sie gespielt wird!“, schreibt August Strindberg denn auch am 19. August 1909 an Karl Börjesson.12 Für diese „letzte Symphonie“ verfügte er jedoch darüber hinaus noch eine Reihe von anderen Dingen, die eine möglichst distanzierte Rezeption seines Schlüsseldramas bewirken sollten. So wünschte er erstmals ausdrücklich, dass sein Name nicht auf der Textausgabe stehen solle und nannte sein mögliches alter ego im Stück auch Incognito.13 Zugleich schreibt er in einem Brief an den Verleger Karl Bonnier am 5. November 1909, dass Stora Landsvägen als „Abschied vom Leben und Selbsterklärung“ zu verstehen sei und reiht dieses letzte Drama damit ein in die Reihe seiner autobiographischen Schriften.14 Dabei geht es sowohl um die Abrechnung mit seinen Gegenspielern, den gefeierten Autoren Verner von Heidenstam und Sven Hedin, die Nobelpreisvergabe an Selma Lagerlöf und die Feierlichkeiten anlässlich von Strindbergs 60. Geburtstag am

10 11

Volz 1986, 9019-9020. Ollén 1982, 580. „En sällsam hybrid av kammarspel, samtidssatyr och lyriskt bekännardrama“.

12

„Härmed min ‚Sista Symfonien‘. Den skall läsas, och sedan ligga, innan den spelas!“ Eklund/Meidal, 1948-2001, Bd. 18, 111.

13

Strindberg 1992, 242.

14

„Avsked till Livet och Självdeklaration“. August Strindberg 1992, Kommentar, 251; Eklund/Meidal 1948 - 2001, Bd. 18, 202.

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22. Januar 1909, einen Monat vor der Uraufführung des Stückes an dem von ihm 1907 ins Leben gerufenen Intima Teatern in Stockholm. Über alle diese Einzelheiten gibt Strindberg selbst Auskunft, die Kommentare zu seinen Ausgaben haben weitere Hinweise zu den mehr oder weniger konkreten Bezügen zu Strindbergs Lebens- und Arbeitsverhältnissen, seinen Kontakten und Fehden um 1909 herausgearbeitet. Dabei bleibt jedoch offen, warum diese Abrechnung mit einem als konventionell und ungerecht empfundenen kulturellen Umfeld, die Selbsterklärung und der Abgesang auf ein Leben als Künstler in dieser Form vorgenommen wurde, in Form eines Dramas, das auch ungeachtet dieser konkreten Selbstdarstellung als zwar rätselhafter, aber zugleich radikal moderner Theatertext funktioniert. Oder anders gefragt: Ist der Zusammenhang zwischen Autobiographie, Selbsterklärung und moderner Ästhetik hier Methode? Stora Landsvägen ist einer der enigmatischsten Texte Strindbergs überhaupt. Das Drama rekurriert einerseits direkt auf reale Begebenheiten und andererseits führt es die bereits in früheren Stücken erprobte modernistische Ästhetik radikal weiter: durch die Überschreitung der Gattungsgrenzen, Aufgabe der Einheiten von Zeit, Ort und vor allem Handlung, durch absurde Elemente und eine sich in viele Einzelfiguren aufspaltende Hauptfigur, die – wie bereits in seinem frühen naturalistischen Drama Fröken Julie (1879; Fräulein Julie) – als ein „Konglomerat verschiedener Muster und Formen“ erscheint.15 Die Forschung hat sich in der Auseinandersetzung mit Stora Landsvägen entweder mit den konkreten Hinweisen auf die außerliterarische Realität des Autors beschäftigt oder aber mit der spezifischen Verfahrensweise des Textes. Dass dieses beides möglicherweise methodisch zusammenhängt, ist bislang nur am Rande gestreift, nicht aber systematisch untersucht worden. Inwiefern Strindbergs polemische und provokative Auseinandersetzung mit seinen ästhetischen und politischen Gegnern in seinem Drama verhandelt wird, d.h. inwiefern er einen gesellschaftlichen Skandal hier bewusst herbeiführt, aufgreift und buchstäblich inszeniert, gilt es also im Folgenden zu untersuchen. Damit auf das Engste verbunden ist die Frage, ob die dramatische „Lebensbeichte“, als die Stora Landsvägen deklariert wird, eine konsequente Zusammenführung von biographischem und künstlerischem Rückblick bedeutet.

15

Strindberg 1984, 10. „Mina själar (karaktärer) äro konglomerater“.

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Das Entstehungsjahr des Dramas, 1909, ist – wie sich aus einer Vielzahl von Quellen schließen lässt – geprägt von Ereignissen, die Strindberg offensichtlich persönlich sehr beschäftigten: Zum einen ist es das Jahr, in dem er seine letzte Beziehung zu einer Frau aufnimmt, zur mehr als vierzig Jahre jüngeren Künstlerin Fanny Falkner, auf die im Stück auch angespielt wird und die die Umschlagvignette zu Stora Landsvägen gestaltete, zum anderen fühlt er sich als Autor von den etablierten kulturellen Institutionen nicht ausreichend gewürdigt. 1910 wird er in einer Reihe von Zeitungsbeiträgen diese Wahrnehmung öffentlich machen und offensiv gegen seine Widersacher auftreten, was in der so genannten Strindberg-Fehde eskaliert. Konkreter Anlass für den Ausbruch von Strindbergs seit Jahren schwelender Unzufriedenheit waren die Aufmerksamkeit und Würdigung, die den Dichterkollegen Verner von Heidenstam, Selma Lagerlöf und Sven Hedin in der schwedischen Öffentlichkeit zukamen.16 Am 17. Januar, also nur wenige Tage vor Strindbergs 60. Geburtstag, kam Sven Hedin von seiner dritten Asienexpedition zurück und wurde in Stockholm mit höchsten Ehren empfangen, so dass die Geburtstagsfeierlichkeiten für Strindberg (in seiner Wahrnehmung) in den Hintergrund rückten. Im Mai desselben Jahres wurde Heidenstam fünfzig Jahre alt, und den Aufwand, den die Stadt betrieb, um ihn zu feiern, bewertete Strindberg als eine breite Zustimmung des kulturellen Establishments für die konservativ-elitären Gegenspieler Heidenstam und Hedin. Heidenstam wurde statt seiner als Nationaldichter und Ehrendoktor der Universität Stockholm gefeiert, Hedin zum Ehrendoktor der Universitäten Oxford und Cambridge ernannt, und im Dezember 1909 war es auch keine große Überraschung mehr, dass die dritte im Bunde der neuromantisch-konservativen Autoren, Selma Lagerlöf, den Nobelpreis für Literatur bekam. Hinzu kam die aus Strindbergs Perspektive zu beobachtende Vereinnahmung der reformpädagogischen Bewegung, die sowohl für die Erneuerung des schwedischen Bildungssystems als auch für eine grundsätzliche Modernisierung von Staat und Gesellschaft standen. Diese nach Strindbergs Ansicht ungerechtfertigte Würdigung der Reformpädagogen als Vorreiter einer modernen Gesellschaft und eines innovativen Bildungskonzepts führt auf seiner Seite zu

16

Zum Ablauf der Ereignisse im Januar 1909, die zur Strindberg-Fehde führten und die Strindberg in Stora Landsvägen verarbeitet, s. ausführlich: von See 1987, 28-35 sowie Meidal 2012, 470-81.

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einer polemischen Abwertung der Reformpädagogik und ihrer Vertreterinnen, allen voran Ellen Key und Selma Lagerlöf, deren reformpädagogisches Schulbuch Nils Holgerssons underbara resa genom Sverige (Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden) ebenfalls 1909 erscheint. Strindberg reagiert empfindlich – das zeigen die starken Reaktionen auf die Erfolge seiner Konkurrenten – auf die öffentliche Würdigung der aus seiner Sicht konservativen Neoromantiker als Reformer von Gesellschaft, Kultur und Bildung. Dieses Unbehagen trägt er nicht nur in der nach ihm benannten Strindberg-Fehde lautstark aus, sondern in verschlüsselter Form auch in seinem letzten Bühnenstück. Hier wertet er nämlich die Ereignisse rund um die Geburtstagsfeierlichkeiten auf, indem er sie als Skandal dramatisiert. Indem er diese Abrechnung mit seinen politischen und künstlerischen Widersachern in dramatischer Form vorlegt, behält er sich auch die Deutungshoheit über diesen Konflikt vor: Er unterbindet als alleiniger Wortführer den Dialog mit seinen Konkurrenten und inszeniert quasi ein Selbstgespräch.17 Vor allem die dritte Station in Stora Landsvägen, die auch im schwedischen Original mit der deutschsprachigen Ortsangabe „Im Eselsdorf“ überschrieben ist, enthält mehr oder weniger deutliche Seitenhiebe auf die zu Unrecht gefeierten Dichter, die den Wanderer in die Isolation gedrängt haben. Gunnar Ollén weist in seinem Kommentar zum Drama auf die Vorwegnahme der Strindberg-Fehde in diesem Kapitel hin: Heidenstam wird hier als brutaler Schmied karikiert, der dem großen Landeszerstörer, König Karl XII. huldige.18 Damit wird erstens auf Heidenstams populären Novellenzyklus über König Karl XII. Karolinerna (1897/98) angespielt und zweitens auf das grundsätzlich andere Verständnis, das Strindberg von historischer Dichtung hatte: In seinen historischen Dramen geht es nämlich um die Revision der staatstragenden heroischen Geschichtsbilder, wohingegen Heidenstam für ihn der Repräsentant eines anachronistischen monumentalen Geschichtsverständnisses war. Die öffentliche Debatte über die Bedeutung historischer Dichtung fällt hier nun zusammen mit Strindbergs letztem Stück, das er explizit als Abschluss seiner Arbeiten für das Theater und „Abschied

17

Jens Bergmann und Bernhard Pörksen nennen in der Einleitung zu ihrem Buch über den Skandal als „Machtinstrument im öffentlichen Leben“ die gesteuerte Inszenierung und Dramaturgie der Ereignisse als Kennzeichen: „Der Skandal braucht eine Dramaturgie.“ Bergmann/Pörksen 2009, 23.

18

Strindberg 1992, 244.

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vom Leben“ ankündigt. Sie fällt auch zusammen mit seinem langsamen Rückzug aus der Öffentlichkeit in seine letzte Wohnung im so genannten „Blauen Turm“ in Stockholm, in dem auch Fanny Falkner mit ihrer Familie lebt. Dieser Rückzug hatte mit seinen zunehmenden gesundheitlichen Beschwerden zu tun. Im Mai 1912 starb er an Magenkrebs. Inwiefern er sich hier selbst nun in diesem so deklarierten letzten Drama zum – gebrochenen – Helden eines autobiographischen Historiendramas macht, ist also zu fragen. Geht es ihm im Stora Landsvägen auch um die Vermittlung eines kritischen Geschichtsbilds in Bezug auf ein autobiographisches Ich, das sich in den multiplen Protagonisten wieder erkennen lässt, oder stehen nicht vielmehr die Widersacher in der Strindberg-Fehde in der Kritik? Dass die Auseinandersetzung mit den Gegnern und der Abschluss von Strindbergs eigener (Lebens-)Geschichte in Form eines Dramas erfolgt, erscheint gerade angesichts der auch in Schweden geführten Debatte über den Nutzen und Nachteil historischer Dichtung durchaus nachvollziehbar: In dieser Form hat Strindberg seine Positionen zur Bewältigung der schwedischen Geschichte vorgelegt. Immer wieder geht es in seinen Historienstücken um die Entheroisierung der großen Männer: Gustav Vasa (1899), Gustav Adolf (1900) oder auch Carl XII. (1901). Die historische Dramatik ist demnach offensichtlich das Medium, in dem die eigene Vergangenheitsbewältigung erfolgt – ungeachtet der gleichfalls in Prosa vorgelegten bekannten Form der Autobiographie. An diesem kleinen Beispiel, der polemischen Abrechnung mit einem künstlerischen Widersacher, die noch ganz andere Formen annehmen sollte, wird nämlich deutlich, dass eine Lebensbeichte für Strindberg nicht nur die Verhandlung politischer und gesellschaftlicher Streitfragen, sondern auch wesentlich die Diskussion ästhetischer Positionen einschließt: eigener wie fremder. Er inszeniert seine eigene Biographie unter anderem auch als ein historisches Schauspiel, das provokativ die eigenen Rollen kritisch vorführt und zugleich noch einmal seine Vorstellung historischer Dramatik bestätigt. Strindbergs Selbstinszenierung als ästhetische Praxis meint also mit Blick auf dieses letzte Bühnenstück nicht nur die Thematisierung autobiographischer Erlebnisse, die mit dem Begriff der „Lebensbeichte“ umrissen werden, sondern impliziert die Überführung realer Ereignisse (oder besser Ärgernisse) in die Literatur, die teilweise deutliche und teilweise rätselhafte Anspielung auf die literarischen Widersacher, die oben skizziert wurde. Das heißt: Der Autor macht auf mehr oder weniger deutliche Weise auf seine

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konkrete Situierung im kulturellen Umfeld aufmerksam und stellt sie polemisch zur Debatte. Der ambivalente Umgang mit der Autorfigur, die Incognito bleiben möchte und damit zugleich eine Verwandtschaft zur Hauptfigur dem ebenfalls Incognito agierenden Wanderer signalisiert, demonstriert deutlich die Komplexität dieser Verschränkung von Erfahrung und dramatischer Deutung. Das Vermächtnis und die Lebensbeichte, die mit der Form der Ich-Dramatik einen Ausdruck gefunden haben, führen schließlich das ästhetische Experiment des modernen Dramas konsequent weiter. Damit einher geht die Analogie von modernem Subjekt und modernem Drama: Beide werden als sich auflösende Kategorien diagnostiziert. So stellt sich die Frage, warum gerade die Personalisierung eine so große Rolle spielt angesichts der Erkenntnis eines nicht konsistenten Subjektbegriffs und warum angesichts der offensichtlich nicht mehr tragfähigen Handlung im Drama das Drama als Form für die Vermittlung dieser Erkenntnis gewählt wird. Die Auseinandersetzung mit dem Subjektbegriff und einer Ich-Figur erweist sich in Stora Landsvägen ebenso wie in den zuvor verfassten Kammerspielen als zentrales Thema: So werden die Rezipienten bis zum Schluss darüber im Unklaren gelassen, inwieweit sich die Hauptfigur im Stück, der Wanderer, immer wieder selbst in anderer Gestalt begegnet, in welcher Weise sich seine Figur in andere Personen oder Persönlichkeiten aufspaltet und inwieweit er sich vervielfältigt. Dieser Verunsicherung im Hinblick auf den/die Protagonisten entspricht denn auch die Einführung des Wanderers als namenloser Unbekannter: Incognito reist man am besten, und glaube mir, Man sollte niemals bekannt werden, Niemals kennen lernen, was man nicht lernen kann, im Übrigen, glaubt man also nur…19

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„Vandraren: […] Incognito man reser bäst, och tro mig,/Man borde alltid bli bekant,/Men aldrig lära känna,/Det lär man ej, för övrigt,/Man tror så bara ---Alltså (111)“. Strindberg 1992, 111. Die Namenlosigkeit der Figuren in Stora Landsvägen sieht Evelein in Strindbergs expressionistischer Dramatik begründet. Das scheint mir allerdings die inszenierte Distanzierung von der Autorfigur nur ansatzweise zu erklären. Vgl. Evelein 1996, 63-72.

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Das Motiv des namenlosen Unbekannten wird im Stück immer weiter entfaltet, in dem – in offensichtlicher Anspielung auf die Außenseiterposition des Wanderers Strindberg selbst – ironisch seine unbequeme Rolle in der Gesellschaft thematisiert wird. Die Rede über sich selbst, so der Wanderer in seiner Rolle als Schulmeister, hat zwei Gründe: Er will sich in die Gesellschaft – allerdings unter Vorbehalt der Nennung seines Namens – einführen und er akzeptiert, dass auch andere nicht möchten, dass über sie gesprochen wird. So bleibt nur die Rede über sich selbst, wie er konstatiert: Die Herren glauben wohl, dass ich subjektiv bin, weil ich von mir selbst spreche, aber das hat zwei Gründe: zum Ersten, weil ich mich präsentieren muss, zum Anderen, weil die Herren es nicht mögen, wenn ich über sie spreche!20

Diese Konzentration auf sich selbst wird somit als zwar ungewollt, aber notwendig dargestellt: Das in mehreren Rollen auftretende Ich kann nur auf die eigene Biographie als Stoff für seine Erzählungen zurückgreifen. Die Inszenierung seiner Selbst entspricht damit Strindbergs Darstellung seines psychischen Zusammenbruchs in Paris, die er im Roman Inferno (1897) festgehalten hat und die von der Forschung mit dem Begriff der Infernokrise aufgegriffen wurde: Auch hier wird deutlich, wie sehr Strindberg selbst die Rezeption seiner Texte als autobiographische Zeugnisse – in diesem Fall seines Paris-Aufenthalts 1895 bis 1897 – steuerte. Die immer wieder formulierte Rückbindung an das biographische Ich erscheint auch in seinem letzten Drama als eine weitere Legitimation der Lebensbeichte. Sie inszeniert die subjektive Perspektive als Notwendigkeit und als einzige Möglichkeit, überhaupt zu sprechen und – vor allem – über sich selbst zu sprechen. Denn offensichtlich braucht nicht nur die dramatische Rede einen Gegenstand und ein Gegenüber. Sofern sich dieses entzieht, ist nur noch ein Monolog möglich, ein Selbstgespräch, das sich selbst auch zum Inhalt macht. Und dieser Bezug auf den nicht mehr dramatischen – im Sinne von Handlung tragenden, sondern auf sich selbst zurück geworfenen – Dialog ist insofern bemerkenswert, als Strindberg damit scheinbar auf eine dramatische Form zurückgreift, die er in seinen früheren theoretischen Überlegungen zum Om modernt

20

„Herrarne tycker nog att jag är subjektiv därför att jag talar om mig själv, med detta har två orsaker, för det första måste jag presentera mig, för det andra tycker herrarne inte om att jag talar om dem!“ Strindberg 1992, 141.

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drama och modern teater (1889; Über das moderne Drama und Theater) und in seinen naturalistischen Theaterexperimenten noch abgelehnt hatte: dem dramatischen Monolog wurden hier das „natürliche Gespräch“, der Dialog als Ausdruck einer realistischen Gesprächssituation entgegengestellt.21 Wenn er nun in seinen letzten Stücken, den Kammerspielen und in Stora Landsvägen auf den Monolog zurückgreift, so hat das gleich mehrere Gründe: Zum einen unterstreicht er in diesem letzten Stück das Moment der självdeklaration, der Selbsterklärung, indem der unbekannte Protagonist seine Position noch einmal in einer Art Selbstgespräch reflektiert, zum anderen erscheint der Monolog als die konsequente Weiterführung einer bereits in früheren Stücken (wie etwa Dödsdansen, Till Damaskus, Ett Drömspel oder den Kammerspielen) formulierten Erkenntnis, dass die sprachliche Kommunikation kaum mehr gelinge. Das entspricht Pfisters Analyse des

21

Vgl. dazu die Vorrede zu Fröken Julie (1888), in der Strindberg seine Vorstellungen von einer lebendigen Gesprächsführung entwickelt und sich von dem „Symmetrischen, Mathematischen im konstruierten französischen Dialog“ distanziert, (Strindberg 1984, 109-110) Bereits in diesem „naturalistischen Manifest“ nimmt er auch Stellung zum Monolog, der dann berechtigt erscheint, wenn der Protagonist ein Selbstgespräch führt. Diese Monologe werden – im Unterschied zu den späten – ganz der Improvisation des Schauspielers überlassen: „Och för att en gång ger jag skådespelaren tillfälle till självständigt arbete […]. Ty då är det tämligen likgiltigt vad som säges i sömnen och åt katten, alldenstund detta icke har inflytande på handlingen, så kan en begåvad skådespelare, som sitter mitt inne i stämning och situation, möjligen improvisera detta bättre än författaren.“ (110; Und um dem Schauspieler endlich einmal Gelegenheit zum selbstständigen Spiel zu geben […] Denn es ist ziemlich egal, was im Traum gesagt wird oder zur Katze, denn das hat ja keinerlei Einfluss auf die Handlung, somit kann ein begabter Schauspieler, der sich mitten in der Stimmung und Situation befindet, möglicherweise besser improvisieren als der Autor.). Bereits in dieser frühen dramentheoretischen Schrift wird deutlich, dass Strindberg dem Monolog keine Handlung fördernde, sondern eine rein reflexive Funktion zuspricht. Diese Bedeutung behält der Monolog konsequent in den letzten Stücken bei, in denen die Selbstreflexion an die Stelle der Handlung getreten ist.

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Monologs als „Aushöhlung des Dialogs“ in Folge von „Gestörter Kommunikation“.22 Die dem Drama inhärente Bedeutung der Sprache als Handlungsträgerin, die das Geschehen vorantreibt und motiviert, und die Aufgabe der Protagonisten, im Dialog Positionen zu entwickeln, auszutauschen und damit den Fortgang der Handlung zu betreiben, sind somit hinfällig geworden. Strindberg spricht seit der Jahrhundertwende immer wieder diesen Zweifel an der Ausdrucksmöglichkeit einer gelingenden Kommunikation aus, er macht sie zum Thema und radikalisiert sie im zunehmenden Selbstgespräch, der Vervielfältigung seiner Protagonisten und seiner Selbst, die in ihren unterschiedlichen Rollen mit sich selbst in den künstlichen Dialog treten. Die in Stora Landsvägen teilweise verschlüsselte, teilweise kokett auf die eigene Außenseiterposition und Isolation anspielende Form der Selbstdarstellung kommt also insbesondere im „polyphonen Monolog“ des Jägers mit sich selbst in den verschiedenen Varianten seines Ichs zum Ausdruck, etwa mit einem Mörder, der ihm auf seinem Weg begegnet. Auch dieses Aufeinandertreffen formuliert erneut die Distanz zur Gesellschaft: So spricht der Mörder von seinem „bürgerlichen Tod“ (176), davon dass er sich unmöglich gemacht habe, dass sein „altes Ich“ verurteilt wurde und er nicht mehr der sei, der er einmal war. Diese Rede über seinen „bürgerlichen Tod“ greift der Jäger noch einmal wörtlich im Gespräch mit einer namenlosen Frau auf der letzten Station Im dunklen Wald auf: Die Frau: Und nun bist Du tot? Der Jäger: Ja, bürgerlich tot, aber nicht geistig! Ich kämpfe, darum lebe ich! Ich bin nicht; allein das, was ich gemacht habe, ist! Gutes und Schlechtes! Das Gute habe ich bekannt und dafür gelitten, habe versucht, durch Gutes Gutes zu tun. [...] Die Frau: [...] Warum haben Sie kein Mitleid mit Ihren Mitmenschen? Der Jäger: Die Frage ist falsch gestellt! Haben Sie jemals jemanden gesehen, der Mitleid mit mir hatte? – Nein! – Wie sollte ich dann Gefühle erwidern, die mir nie geschenkt wurden? – Und im Übrigen: Wer war es, der predigte: „Es ist schade um die Menschen!“23

22

Pfister 1988, 182.

23

„Kvinnan: Och nur är du död?

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Es wird an dieser Stelle nicht nur wieder – in klarer Aufnahme des zuvor schon einmal erklärten bürgerlichen Todes des nicht mehr handelnden, sondern stagnierenden Subjekts – auf die Isolation des Jägers angespielt, der sich vom Bürgertum ungeliebt und unerkannt fühlt, was Strindbergs Selbstaussagen angesichts seiner mageren Geburtstagsfeierlichkeiten geradezu wörtlich entspricht. Der Verweis betrifft auch nicht allein den für tot erklärten Bürger Strindberg, sondern vielmehr geht es um die Identifikation des Künstlers mit seinen Schöpfungen und insbesondere mit seinem dramatischen Werk. Denn wenn sich schließlich in der letzten zitierten Replik der Jäger mit dem „Prediger“ aus Strindbergs Drama Ett Drömspel (Ein Traumspiel) identifiziert, wird deutlich, dass diese selbstbezügliche Lebensbeichte eines multiplen Ich auf der Bühne auch der Auseinandersetzung mit seinen früheren Texten dient. Dem Prediger, von dem hier die Rede ist, entspricht die Rolle von Indras Tochter in Strindbergs Drama Ett Drömspel. Indras Tochter ist nämlich dort auf die Erde gekommen, um die Menschen zu retten, was sich als unmöglich erweist. Leitmotivisch wiederholt sie immer wieder den Satz Es ist schade um die Menschen. 24 In dieser Rückschau, die der Jäger auf der letzten Station im Gespräch mit der Frau vornimmt, wird also demonstrativ vorgeführt, wie diese Lebensbeichte und Selbsterklärung als Drama von der Großen Landstraße zu verstehen ist: Der Jäger ist eine Reinkarnation von Indras Tochter, beide sind Sprachrohr und alter ego ihres Autors. Die Vermischung von Selbstzitat und Gleichsetzung von Figur und Autor entspricht dem erklärten Vorhaben des Autors, seine Rolle in der Gesellschaft und als Künstler noch einmal zu resümieren. Er inszeniert diese Verbindung, indem er die Grenzen zwischen den dramatis figurae und der Autorfigur bewusst ineinander fließen lässt.

Jägaren: Jag, borgerligt död, men icke andligt! Jag kämpar, därför lever jag! Jag är icke; blott vad jag gjort, det är! Gott och ont! Det onda har jag bekänt och lidit för, sökt göra gott, med gott! Strindberg 1992, 205. Kvinnan: [...] Varför hade ni aldrig medlidande med era medmänniskor? Jägaren: Frågan är orätt framställd! Såg ni nånsin någon ha medlidande med mig? – Nej! – Hur kunde jag då besvara känslor, som icke skänktes mig? – Och för övrigt, vem var det som först predikade: „Der är synd om människorna!“ Strindberg 1992, 206. 24

„Det är synd om människorna“. Strindberg 1988, 35, 65 etc.

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Die Episodenstruktur des Dramas, die nicht logisch miteinander verbundenen Stationen des Wanderers gewinnen durch ihren Bezug auf die Autorfigur, das Selbstzitat und den Verweis auf den Zusammenhang zwischen Traumspiel und Die große Landstraße eine Struktur, die dem Lebenslauf entspricht. Die Logik des Traumspiels, die als Logik des Träumenden eine dem Drama übergeordnete epische Instanz eingeführt hat, wird hier durch die Biographie des Dichters als Struktur bildendes Element eines Dramas ersetzt, das keine Handlung mehr hat. Peter Szondi hat in Theorie des modernen Dramas in einer überzeugenden Analyse dieses Stückes davon gesprochen, dass es in „der Konsequenz der subjektiven Dramatik“ liege, „daß die Einheit der Handlung durch die Einheit des Ich ersetzt wird. Dem trägt die Stationentechnik Rechnung, indem sie das Handlungskontinuum in eine Szenenfolge auflöst“.25 Dieses Ich bildet aber keine Einheit, sondern braucht – in Analogie zu Strindbergs schon früher formulierten Zweifeln an der Kohärenz des Subjekts, das er als Konglomerat aus verschiedenen Versatzstücken und Zusammenhängen versteht – das Rollenspiel, die Möglichkeit, unterschiedlichste Identitäten annehmen und wieder ablegen zu können. Nietzsches Aussage in Jenseits von Gut und Böse, dass der Mensch die Maske braucht, um der „flachen Auslegung jedes

25

Szondi 1965, 46 sowie 40: „Mit Strindberg hebt an, was später den Namen „IchDramatik“ trägt und das Bild der dramatischen Literatur Jahrzehnte hindurch bestimmt. Der Grund, in dem sie bei Strindberg wurzelt, ist die Autobiographie. Das erweist sich nicht nur in ihren thematischen Zusammenhängen. Die Theorie des „subjektiven Dramas“ selbst scheint bei ihm mit der Theorie des psychologischen Romans (der Entwicklungsgeschichte der eigenen Seele) in seinem Entwurf der Literatur der Zukunft zusammenzufallen.“ Diese Form der Selbstdarstellung eines multiplen Ich entspricht auch Carola Hilmes Ausführungen über die „Grenzfälle des Autobiographischen“: „[...] und das künstlerische Oeuvre ist nicht aus der Biographie zu verstehen, sondern das Leben wird der entsprechenden ästhetischen Programmatik zufolge aufgefasst und dargestellt [...] Die existentielle Verbindung von Kunst und Leben, wie sie in den modernen Selbstdarstellungen, die zugleich an ihrer Trennung festhalten, zum Ausdruck kommt, indem sie gleichsam dem Text eingeschrieben wird, erweitert das Spektrum autobiographischen Schreibens und bringt dabei alternative Entwürfe des Ich ins Spiel.“ Hilmes 2000, 59.

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Worts und jedes Schritts“, den er tut, zu entgehen, bringt diese Notwendigkeit des modernen Künstlers zur Inszenierung und zum Maskenspiel auf den Punkt.26 Strindberg setzt mit diesem letzten Stück seine eigene Biographie in Szene als Teil eines dramatischen Experiments, das er zu Recht als Teil des vierten und letzten Stücks seiner Autobiographie Tjänstekvinnans son (18861909; Sohn einer Magd) ausweist. Am Ende dieser ästhetischen Selbstinszenierung steht – wie im letzten Bild des Kammerspiels Spöksonaten (1907; Gespenstersonate) – ein fast liturgischer Gesang, der pathetisch noch einmal die Rolle von Indras Tochter aus dem Traumspiel aufnimmt. Wie diese, die es schade um die Menschen findet, empfindet der Dichter als Jäger Mitleid mit sich selbst, weil er nicht der sein konnte, der er sein wollte. Angesichts seiner letzten modernistischen Dramen und auch des vorliegenden Stücks ist diese Analyse zumindest ambivalent zu sehen: Denn gerade die Einsicht, dass das Leben des Protagonisten (und damit verweist Strindberg natürlich auch erneut auf seine eigene biographische Retrospektive) anders verlief als geplant, dass er sich nicht mit sich selbst identisch weiß, ist die Grundvoraussetzung für das dramatische Experiment als Lebenswerk. Der Jäger: […] Oh Ewiger! Ich lasse deine Hand nicht los, Deine harte Hand, bevor Du mich gesegnet hast! Segne mich, deine Menschlichkeit, Die leidet, leidet unter deiner Gabe des Lebens! Mich zuerst, der am meisten gelitten hat, Am meisten gelitten unter dem Schmerz, Nicht der sein zu können, der ich sein will!27

Bis zum Ende wird also in diesem Stück die Auflösung des Subjekts radikal formuliert. Zugleich geschieht jedoch dies immer – auch hierin Nietzsches

26

Nietzsche 1980, 58. Strindberg kannte diesen Text von Nietzsche und verstand ihn als Bestätigung seiner eigenen Positionen.

27

„Jägaren: [...]/O Evige! jag släpper ej din hand,/Din hårda hand, förrn Du välsignat!/Välsigna mig, din mänsklighet,/Som lider, lider av din livsens gåva!/Mig först, som lidit mest –/Som lidit mest av smärtan/Att icke kunna vara den jag vill!“. Strindberg 1992, 201- 211.

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Schriften vergleichbar – durch eine extreme Personalisierung und Konzentration auf ein Ich – und zwar das Ich des Künstlers selbst. Dieses vervielfältigt sich nicht nur in verschiedenen Rollen in diesem Spiel, sondern greift auf Figuren früherer Stücke ebenso zurück wie auf mythologische und biblische Gestalten. Die Analogie mit mythischen Mustern und literarischen Konventionen auf der einen Seite und der radikale Bruch mit vorgegebenen Formen und Vorstellungen auf der anderen entspricht Szondis Diagnose des Dramas, der in diesem Widerspruch „die Paradoxie der Subjektivität selbst“ erkennt: „ihre Selbst-Entfremdung in der Reflexion, das Gegenständlichwerden des ins Auge gefaßten eigenen Ich, das Umschlagen der potenzierten Subjektivität ins Objektive.“28 Weitergedacht betrifft eben diese Paradoxie das im Drama verhandelte Verhältnis von Biographie und dramatischer Entfremdung. Die widersprüchliche Relation bedeutet zugleich auch immer eine Auseinandersetzung mit der ästhetischen Form und den Bedingungen des modernen Dramas überhaupt. So geht die Frage nach der Möglichkeit, angesichts einer zu erkennenden Auflösung des Subjekts über sich selbst zu sprechen, einher mit der Frage nach der Zukunft des Dramas angesichts einer erkennbaren Stagnation von Handlung. Strindbergs Drama Stora Landsvägen ist also in vielfacher Hinsicht ein Resümee des Autors, der damit die Einheit von Leben und Werk noch einmal bestätigt. Die Rede über sich selbst in diesem letzten Stück meint auch die Zusammenfassung seines dramatischen Lebenswerks: Es greift ästhetische Positionen auf, die er bereits in früheren Dramen, autobiographischen Arbeiten und Streitschriften sowie theoretischen Überlegungen geäußert hat, führt sie weiter und transponiert sie damit konsequent in den Bereich der Lebensbeichte. Diese setzt sich gleichermaßen aus persönlichen Kränkungen, Begegnungen etwa mit der jungen Fanny Falkner, als auch aus den ästhetischen Experimenten zusammen, deren Abschluss in diesem letzten Stationendrama gefunden zu sein scheint. Dafür spricht der abschließende liturgisch anmutende Gesang des Wanderers. Angesichts dieser Bedeutung, die dem nicht mehr handlungsfähigen Ich in einem der Handlung enthobenen Bühnenstück zukommt, scheint es kein Zufall zu sein, dass Strindberg zum Abschluss seiner Selbstbeschreibungen nicht nur die autobiographische Prosa wählte, sondern ein (historisches)

28

Szondi 1965, 49.

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Drama. Der letzte Akt, der das Experiment der Selbstinszenierung eines modernen Subjekts abschließen sollte, brauchte offensichtlich die Bühne, um endlich von ihr abtreten zu können.

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Der Filmregisseur als Bild: Sergej Eisensteins Fotoporträts und Autoporträts OKSANA BULGAKOWA

Eisensteins Leben ist fast eine fertige Metapher für das Schicksal eines Künstlers im 20. Jahrhundert mit allen Wendungen, Verführungen und Konflikten: zwischen dem großbürgerlichen Elternhaus und dem existentiellen Modell eines Avantgardekünstlers; zwischen dem linken Avantgardekünstler und seinem Publikum, der proletarischen Klasse, in deren Namen er spricht und die ihn nicht versteht. Als sowjetischer Linker traf er auf die europäische Bohème und die Maschine Hollywood. Er konnte ins Exil gehen oder durch ein Sondergericht zur Erschießung verurteilt werden. Er lernte jedoch unter Stalin zu leben – zwischen Verbot, Verführung, Erpressung, Angst und Anpassung. Angst hatte er vor seiner Sexualität, die er in erotischen Zeichnungen und Scherzen verdrängte, auch in der Kunst, die er allerdings nicht als Sublimierung der Erotik, sondern des eigenen Sadismus verstand. Eisenstein sah sich als ein Kind, dessen Brutalität durch emotionale Unreife und sexuelle Verklemmung entstehe.1 In seiner Kunst – und sie war für ihn die einzige Realität und Notwendigkeit – traf er die wunden Punkte des Jahrhunderts: Gewalt und Massenmord, Erotik der Masse und der von ihr eroberte Raum, Zersplitterung der Wahrnehmung und Sehnsucht nach verlorener Totalität, die er in den 1930er Jahren als stalinistische Utopie erlebte.

1

Eisenstein 1984, 56 - 57.

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Die Rezeption dieses zum Klassiker gewordenen Umstürzlers war keineswegs eindeutig. Marie Seton, die erste Eisenstein-Biographin, konstruiert seine Persönlichkeit aus vorprogrammierten Widersprüchen: Erbkomplexe eines Mischlings – jüdischer Vater, aristokratische Mutter –, der sich später verleugnen muss: als Mystiker in der Umgebung von Materialisten. Viele Fakten lieferte ihr allerdings Eisenstein selbst und sparte dabei nicht mit wirkungsvollen Erfindungen. Dominique Fernandez vertraute ihnen und fand in seiner Psychoanalyse von Eisensteins Persönlichkeit unterdrückte Homosexualität. Zu Zeiten der Wiederentdeckung der sowjetischen Avantgarde wird Eisenstein im Westen von der Generation der 1968er als linker Künstler gefeiert. In seiner Heimat dagegen erblickt die gleiche Generation – nach dem XX. Parteitag – in ihm einen Konformisten: Eisenstein habe genauso wie die Futuristen in Italien den Faschismus gefeiert und gestützt, der Stalinzeit ein pathetisches und daher fragwürdiges Monument gesetzt – eine Meinung, die Aleksandr Solženicyn dem Gefangenen X 123 in den Mund legt. Junge russische Intellektuelle von heute interpretieren die oft deklarierte Absicht Eisensteins, das Bewusstsein mittels Kunst beeinflussen zu wollen und die Wirkung zu programmieren, als eine „totalitäre Poetik“: Die Kunst nährte die Gewalt des Staates. Eisenstein wollte all seinen Biographen zuvorkommen. 1927 beschloss er, unter dem Eindruck von Freuds Essay über Leonardo da Vinci, eine psychoanalytische Studie über sich selbst zu schreiben, und nannte sein (nicht geschriebenes) Buch My Art in Life. In den erst 1943 begonnenen autobiographischen Aufzeichnungen verwandelte er sich in eine belletristische Figur aus einem alten Erziehungsroman, den er allerdings in der neuen Stilistik des automatischen Schreibens verfasste. War er ein Homosexueller? Ein Stalinist? Opportunist? Dissident? Darauf gab Eisenstein seinen Biographen keine Antwort. Sie liegt zwischen seinen Tagebüchern, Briefen, Drehbuchentwürfen, Filmen, Zeichnungen, Projekten und Forschungen, in denen er gegen Ende seines Lebens die Rettung erblickte – vor allen Kompromissen mit sich und seiner Kreativität, die er bei vollem Bewusstsein eingegangen war.

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Abb. 1: Eduard Tissé, Eisenstein im Anthropologischen Museum, 1932 Es ist kein Wunder, dass es in den letzten zehn Jahren mehrere Versuche gab, das Leben Eisensteins in einen Film zu verwandeln. Selten jedoch wurde er zu einer grotesken, tragischen oder pathetischen Figur gemacht (vielleicht gelingt es Peter Greenaway, der seit Jahren versucht, einen Spielfilm über Eisenstein zu machen), sondern eher zum Helden eines Boulevardmelodramas mit Slapstickeinlagen. Gennadij Poloka, ein Regisseur mit der starken Neigung zum Camp und Kitsch, machte den Zusammenprall des Dokumentarischen und Fiktiven zum Grundkonflikt seines Films über die Dreharbeiten von Panzerkreuzer Potemkin. Der Chef einer Kleindarstellerbörse bekommt den Auftrag nur echte Typen für den Film eines jungen Regisseurs zu finden, besetzt jedoch eine Schauspielerin in Not, die auf der Odessaer Treppe die Mutter des getöteten Jungen spielt. Er verliebt sich in die mittellose Frau, muss sie jedoch entlassen und wird von ihr abgewiesen. Eisenstein erscheint im Film als eine Figur in der Ferne, in einer Totalen, der die Massen dirigiert, ohne zu ahnen, wie seine Theorie des Dokumentaren durch die Realität (eine fiktive Realität) zerstört wird – genauso wie er selbst ahnungslos das Leben seiner Statisten zerstört. Poloka lässt diese anonymen Statisten von Stars des sowjetischen Unterhaltungsfilms spielen, gibt ihnen eine fiktive Individualisierung zurück, macht sie zu Opfern Eisensteins totalitären Willens und – zu Helden eines kitschigen Liebesmelodramas (Die Rückkehr des Panzerkreuzers/Vozvraščenie bronenosca, 1996).

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Der kanadische Regisseur Renny Bartlett inszeniert einen traditionellen Biopic mit allen Lebensstationen – von Proletkult zum Herzinfarkt (Eisenstein, 2000). In diesem naiven und sehr bunten Film gibt es einige manieristische Referenzen zu bekannten Mise-en-Scènes Eisensteins (der Assistent Griša trägt den halbtoten Eisenstein wie die Mutter auf der Odessaer Treppe ihr totes Kind trägt). Der exzentrische Darsteller Simon McBurney baut die Figur Eisenstein auf dem inneren Konflikt: Sein Held bewundert den schönen athletischen Assistenten und hasst seine eigene Homosexualität. Eisenstein selbst ging mit diesem Thema anders um. Auf einer Serie von Eisensteins Zeichnungen, die über lange Umwege in der Abteilung „Westeuropäische Stiche“ der Eremitage-Sammlungen in St. Petersburg gelandet ist, sind prächtige Matrosen zu sehen, deren Liebe von einem älteren, etwas hilflos wirkenden rundlichen Mann gekauft wird. Entfernt ähnelt er Eisenstein. Signiert sind die Bilder mit einem fremden Namen – Dr. Laupts. Laupts war das Pseudonym eines Militärarztes namens Georges Saint-Paul (1870-1937), der sich als junger Forscher mit der Psychologie von Künstlern, später immer mehr mit sexuellen Abnormitäten beschäftigte. 1896 publizierte er unter dem Namen Dr. Laupts die Beichte eines anonymen italienischen Homosexuellen. Das Buch trug den Titel Le Roman d'un inverti und wurde mit einem Vorwort von Émile Zola versehen. Die expliziten Passagen wurden auf Latein veröffentlicht, um vor allem die Leserinnen nicht zu schockieren. Eisensteins Serie von Zeichnungen kann als ein später, elegischer Kommentar zu den Bildern der Körper junger Matrosen gesehen werden, die er in Panzerkreuzer Potemkin festhielt – mit der Zärtlichkeit eines Jean Genets und der Bewunderung eines späten Fassbinders. Die intellektuelle Maskerade dieser Zeichnungen ist weit weg von der einfachen Lösung Renny Bartletts. Der mexikanische Kunstwissenschaftler und Kurator Olivier Debroise lud seine Freunde, Künstler und Intellektuelle ein, in dem Film A Banquet at Tetlapayac (2001) aufzutreten. Der Film rekonstruiert einen Abend – ein Abendmahl? – während der Dreharbeiten zu Que viva Mexico! und benutzt einige Motive aus Katherine Anne Porters Novelle Hacienda in der die Schriftstellerin die dramatischen Peripetien am Drehort schilderte. Ein Schauspieler wurde von einer Schlange gebissen, ein anderer tötete seine Schwester mit Eduard Tissés Pistole und wurde verhaftet; ein dritter wurde beim Drehen schwer verletzt. Der Manager Hunter Kimbrough, intrigierte massiv gegen den launischen Diktator-Regisseur Eisenstein, der in seinen

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Augen arrogant und sexuell pervers war. Diese verdeckten und offenen Konflikte werden während des Abendmahls im Kreis der mexikanischen Anthropologen, Ästheten, Trotzkisten und Homosexuellen, Eisensteins Berater bei dem Film, aufgedeckt. Die dekorative Filmsprache Debroises bricht den Gestus einer dokumentierten Performance mit raffinierten Kameraperspektiven und extremen Nahaufnahmen. Seine Akteure spielen keine historischen Figuren, sie tragen ihre eigene Kleidung und sprechen ihre eigene Sprache. Sie diskutieren das, was auch heute in der mexikanischen Kunstszene aktuell ist: Wie verhalten sich die Vorstellungen einer kosmopolitisch orientierten avantgardistischen Elite von archaischen Kunstpraktiken zur realen nationalen archaischen Kultur? Zu einem der zentralen Momente wird auch hier die Körperlichkeit und Sexualität, die mythologisiert wird, um zur Basis der Kunst zu werden. Der Film arbeitet mit Referenzen, die nur die Eingeweihten entschlüsseln können. Er wurde von ihnen bewundert – und kaum gezeigt. Währenddessen hatte ein russischer Emigrant in Paris, Igor‘ Minaev, ein Queer-Melodrama nach Motiven von Eisensteins Leben gedreht. Sein Film erzählt die Geschichte einer homosexuellen Liebe zwischen einem Regisseur und seinem Assistenten, die nach ihrer Rückkehr aus Mexiko nach Moskau unterdrückt werden muss. Der Assistent heiratet eine Blondine aus dem corps de ballet und macht sie zu einem Filmstar, während der Regisseur sich das Leben nimmt (Loin de Sunset, 2008). Alle diese Filme haben in verschiedenen Genres eines betont: die Auseinandersetzung mit dem Körper des Regisseurs und seiner Sexualität (nicht mit der Gewalt, die Eisenstein zum Sujet seiner Filme gemacht hatte). Doch alle diese Versuche, Eisenstein in die Figur einer fiktionalen Konstruktion zu verwandeln, sind recht traditionell, wie auch die Darstellung von Eisenstein Körperlichkeit, die für den realen Eisenstein eine andere Dimension hatte. Die Theorie war in seinem Verständnis durch und durch körperlich bestimmt – als Erlebnis der Bisexualität, die eine Voraussetzung für ein dialektisches Denken ist: „Genie ist überhaupt ein Mensch, der die dialektische Entwicklung des Universums fühlt, der sich in sie einfügen kann. Bisexualität als eine physiologische Voraussetzung muss bei allen creative dialectics vorhanden sein.“2 Als Eisenstein diese Gedanken in sein Tagebuch notiert, schreibt er

2

Eisenstein-Archiv, RGALI , 1923-2-l 138, 139.

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einen Brief an Magnus Hirschfeld, datiert vom 23. Mai 1931, und fragt ihn nach Belegen für Hegels Bisexualität.3

D ER K ÖRPER DES R EGISSEURS Diese Filme provozieren eine einfache Frage: Wie gingen die Zeitgenossen und Eisenstein selbst mit seinem Körper um und welche Bilder wurden dafür geschaffen? Eisenstein hatte sich zwischen 1924 und 1933 von vielen berühmten Fotografen ablichten lassen, die ihn wie einen Star behandelten: Man Ray, André Kertész, Germaine Krull, Eli Lotar (der Kameramann von Luis Buñuel), Margaret Bourke-White, Pressefotografen der Paramount. Auch die sowjetischen Pressefotos von Eisenstein, zum Beispiel von Dmitrij Debabov, sind zahlreich. Die Auseinandersetzung mit dem Körper des Filmregisseurs, die Verwandlung seines Körpers in ein Bild, ist aber eine Herausforderung, denn der Regisseur ist eigentlich ein unsichtbarer Körper, mit dem das übliche autobiographische Maskenspiel nicht betrieben werden kann. Oft ist der Filmstar seine reale Verkörperung: Josef von Sternberg könnte – anders als Flaubert – buchstäblich behaupten: Marlene Dietrich c’est moi. Der Filmregisseur kann kaum den Gestus eines Malers übernehmen und das Filmset als Bühne für Selbstinszenierungen oder Rollenspiele nutzen. Er befindet sich nicht nur hinter der Kamera, sondern ist in der Masse der Beteiligten schwer auszumachen. In den 1920er Jahren wurde der Regisseur gar nicht als autonomer Künstler betrachtet, nur als ein Teil des Kollektivs oder des Systems Hollywood (die ‚Auteur-Theorie‘ im Film ist ein Produkt der 1950er Jahre). Diese Vorstellung hat auch ökonomische Folgen: Bis heute bekommen beim Film nur Szenaristen und Komponisten die Tantiemen. Doch Eisenstein war ein Sonderfall. Mit seinem zweiten Film Panzerkreuzer Potemkin wurde er weltberühmt. Im Juli 1926 stellte er einen Antrag auf Anerkennung seiner Urheberrechte an Potemkin, was ihm ein Prozent der Welteinnahmen als Tantiemen sichern sollte. Dieser Antrag wurde von einer Sonderkommission bei Sovkino erörtert. Zwar hieß es, dass weder Regisseur noch Kameramann einen Anspruch auf Urheberrechte hätten, doch Eisensteins Montageliste könne als eine literarische Vorlage für den Potemkin-

3

Die Vorschrift des Briefes befindet sich in seinem Tagebuch, Eisenstein-Archiv, RGALI, 1923-2-1113, 62 - 63. Veröffentlicht in: Bulgakowa 1998 b, 96 - 97.

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Film betrachtet werden, also sei er als Urheber dieses Werkes anzuerkennen! Der Einsatz des Films brachte der deutschen Verleihfirma Prometheus eine Million Reichsmark ein.4 Mary Pickford und Douglas Fairbanks schauten sich den Film in Berlin in einer Sondervorstellung morgens an; der Komponist Edmund Meisel dirigierte nur für sie. Prometheus benutzte ihre Begeisterung für die Werbekampagne, denn die beiden Stars bekannten, dies sei der gewaltigste Eindruck im ihrem Leben gewesen. Das junge 27jährige Genie, das eine großbürgerliche Bildung genoss, fließend deutsch, englisch, französisch sprach und witzig die Fragen der Interviews parierte, wurde zum Objekt journalistischer Neugier. Er konnte gut reden, amüsierte die Kolumnisten mit Wortspielen und war der beste Promoter seiner Filme und der russischen Revolutionskunst. Der Markterfolg, die geschickte Nutzung anderer Medien (Presse, Bücher, Rundfunk) und anderer celebrities, die inszenierten Skandale in der Öffentlichkeit wurden von Eisenstein und seinen Produzenten und Verleihern – sowohl sowjetischen, als auch ausländischen – eingesetzt, um der Figur des Regisseurs zur Visibilität zu verhelfen. Zwei Bücher kamen pünktlich zum Kinostart von Panzerkreuzer Potemkin in Sowjetrussland heraus. In einem wurden das Drehbuch und ein Bericht über die abenteuerlichen Filmaufnahmen veröffentlicht; das andere, Eisenstein, erschien in einer Serie, die sonst Porträts populärer Stars brachte, mit Texten von Viktor Šklovskij. Während seines langen Aufenthalts im Ausland nutzte Eisenstein alle Medien für die Eigenwerbung. Dabei suchte er nicht den Ruhm, sondern Produzenten für seine Filmprojekte. Er gab viele Interviews, trat im Rundfunk auf, hielt Vorlesungen und Vorträge: in der British Film Society, am Berliner Psychologischen Institut, an der Sorbonne und an allen wichtigen amerikanischen Universitäten – Yale, Harvard, Columbia. Er traf alle notwendigen Berühmtheiten, fleißig networking pflegend. Dmitrij Marjanov, der Schwiegersohn Albert Einsteins, der einen roten Salon in Berlin unterhielt, kümmerte sich um Eisenstein in Deutschland. Er führte Eisenstein mit Alfred Kerr, Asta Nielsen, Fritz Lang, Joseph von Sternberg und Albert Einstein zusammen. Stefan Zweig versprach, Eisenstein mit Freud bekannt zu machen. Eisenstein frühstückte mit Luigi Pirandello, wurde bei Viconte de Noailles, der den Film von Dalí und Buñuel L’âge d’or finanziert hatte, und bei Otto H. Kahn, einem amerikanischen

4

Völkermagazin 1927, Nr. 11, 55.

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Milliardär und Mäzen, eingeladen. In Pariser Salons wurde er „lionized“. Sein Notizbuch war von Terminen mit Colette und Yvette Guilbert, Marinetti, Jean Cocteau, Paul Eluard, André Breton und James Joyce gefüllt. Als Paramount eine Werbekampagne für ihn startete, ließ das Studio Fotos machen, auf denen Eisenstein mit anderen Stars zu sehen war: mit Marlene Dietrich und Josef von Sternberg zum Beispiel. Das war ein symbolisches Zusatzkapital, um Eisensteins Wert zu erhöhen. Diese Pressefotos zeigten einen gut und konventionell gekleideten modernen Mann: dunkler Anzug, das Hemd mit weichem Kragen, gestreifte Krawatte, stets eine Taschentuchspitze in der Brusttasche. Eisenstein ließ sich – pressewirksam – mit dem Hundestar Rin-Tin-Tin fotografieren und scherzte, dass er an ihm die Pavlov’sche Reflex-Theorie prüfe. Auch Skandale hatte Eisenstein geschickt benutzt, aber eine besondere Art von Skandalen. Futuristen haben diese Skandale selbst provoziert, wie auch die Surrealisten, und Eisenstein wurde Zeuge eines solchen Skandals.5 Eisenstein wusste die gegebenen Umstände dafür zu nutzen, um diese als einen politischen Skandal auszulegen und (meist unter einem Pseudonym) in der sowjetischen Presse als Beleg seiner propagandistischen Tätigkeit im imperialistischen Westen darzustellen. Der Psychoanalytiker René Allendy, der an der Sorbonne eine Gruppe für philosophische und wissenschaftliche Studien leitete, organisierte dort am 17. Februar 1930 eine Vorführung von Eisensteins Das Alte und das Neue vor zweitausend Zuhörern. Doch die Polizei verhinderte die Vorführung des nicht zugelassenen Films; so weitete sich Eisensteins geplante Einführung zu einem Vortrag über den intellektuellen Film aus, mit anschließender Diskussion über die Unterschiede zwischen der kapitalistischen und der sozialistischen Produktionsweise, zwischen einem Massenfilm und einem EisensteinFilm. Eine Woche später wurde die Veranstaltung in der sowjetischen Presse als politischer Skandal behandelt, der in der Realität weniger mit Eisensteins Auftreten zu tun hatte, sondern mit einer Aktion des sowjetischen Geheimdienstes und der Reaktion der französischen Politik darauf. Einen Monat zuvor, am 26. Januar 1930 war der General Aleksandr Kutepov, der Vorsitzende der Vereinigung russischer Militärs im Exil, von GPU-Agenten in Paris entführt worden, was eine große Protestkampagne in diplomatischen und politischen Kreisen auslöste, die gegen die sowjetische Botschaft gerichtet

5

Eisenstein 1984, 300 - 301.

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war, aber auch gegen alle sich in Frankreich aufhaltenden Sowjetbürger. Vor dem Hintergrund dieser Affäre fand Eisensteins Vortrag statt, gleichzeitig lief sein Visum ab und sein Antrag auf Verlängerung wurde abgelehnt. Erst Monate später wurde Eisensteins Visum verlängert, nachdem dem Ministerpräsidenten eine Petition überreicht wurde, die von prominenten Künstlern und Intellektuellen unterschrieben war. In der Sowjetunion wurde dieser Vorfall in der Presse ausgeschlachtet.6 In der Regierungszeitung Izvestija erschien eine Karikatur: Der Regisseur in der Konfrontation mit den gegen ihn gerichteten Bajonetten und Pistolen der französischen Polizei – als ein „Potemkin“-Matrose. Auch sein Konflikt mit dem Studio Paramount nach der Auflösung des Kontrakts wurde in der sowjetischen Presse als eine politische Angelegenheit interpretiert. Der Vizepräsident des Studios, Jessy Lasky, bat Eisenstein, öffentlich zu erklären, der Vertrag sei in beiderseitigem Einverständnis gelöst worden. Paramount versprach dem Regisseur, den Vertrag zu erneuern, sobald sich die Anti-Eisenstein-Kampagne in Hollywood etwas beruhigt hätte.7 In der sowjetischen Presse hatte Pera Ataševa auf Eisensteins Anweisung eine andere Notiz zusammengefasst, die die Auflösung des Kontrakts mit der Ablehnung des Drehbuchs An American Tragedy zusammengebrachte und erklärte, dass Eisenstein die sozialen Tendenzen von Dreiser – entgegen dem Wunsch der Paramount-Bosse – verschärft hatte.8 1934 wandte sich der amerikanische Journalist Joseph Freeman an Eisenstein mit der Bitte, ihm authentische Zeugnisse zu dem Konflikt zu geben, da er ein Buch über die Konfrontation eines revolutionären Künstlers mit der angeblich nicht propagandistischen Filmindustrie in den USA schreiben wollte, doch Eisenstein lieferte ihm als Erklärungsmuster die Differenzen zwischen zwei Vize-Präsidenten der Paramount, Lasky, dem romantischen Typ eines Hazardspielers, und B. P. Schulberg, einem Wall-Street-Typ ohne Phantasie und Mut zum Risiko. Doch die Kapitalisten seien Gentlemen geblieben, meinte Eisenstein, und betrachteten ihren Versuch mit einem Kommunisten als ein „edles Experiment“.9

6

Über die Ausweisung Eisensteins aus Frankreich schrieben Kino-Front (Leningrad) 1930,1; Kino (Moskau) 1930, 1 u. a.

7

Bulgakowa 1998 a, 138 - 148.

8

Ataševa 1931, 59 - 62.

9

Freeman 1992, 245 - 248.

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K ÖRPERINSZENIERUNG Parallel zu diesen verbalen Kampagnen wurde Eisenstein oft zum Modell vieler Photographen und Maler aller Stilrichtungen, zu Hause und im Ausland. Es lohnt sich, diese Porträts mit den Selbstporträts, die Eisenstein ein Leben lang gemacht hatte, zu vergleichen und über die Prinzipien der Inszenierung der unsichtbaren Figur des Filmregisseurs nachzudenken. Eisenstein Porträts – von Jean Charlot, David Burljuk oder Martiros Sarjan – sind recht traditionell. Die Bilder geben der statischen Figur keine zugespitzte Interpretation. Das Gesicht – oder das Profil – ist eine Maloberfläche, die eine entfernte Ähnlichkeit mit Eisenstein offenbart. Nur zwei Bilder fallen heraus: Kiki, das berühmte Modell vieler Montparnasse-Künstler, malte in Paris ein Porträt von Eisenstein, das am 26.12.1930 in der Zeitschrift Pour Vous abgebildet wurde. Darauf ist Eisenstein zu sehen, mit dem sinnlichen Mund seines Assistenten Grigorij Aleksandrov ausgestattet, vor dem Hintergrund eines Schiffchens, wie Kinder es malen. Kiki schenkte Eisenstein das Ölbild und ihre Memoiren, darin die Widmung: „Car moi aussi j’aime les gros bateaux et les matelots“ („Denn auch ich liebe die großen Schiffe und die Matrosen.“).10 Auch der mexikanische Maler Roberto Montenegro hatte Eisenstein auf dem Fresko Die Neue Welt in Gestalt eines spanischen Konquistadors des XVI. Jahrhunderts abgebildet. Als einen Welteroberer – jedoch mit dem Film zwischen den Fingern, dem Instrument seiner Welteroberung. Üblicherweise wird der Regisseur auf den Fotos in der Umgebung der Filmaccessoires präsentiert – Kamera, Filmmaterial, Schneidetisch, ein Megaphon, um die Klarheit für den Betrachter zu schaffen, ganz im Sinne von Panofskys Ikonographie: Der Gegenstand in der Hand definiert die Funktion und den Sinn der dargestellten Figur, wie die Flügel von Amor. Später reproduzierten die Fotos (in der Lichtgebung oder der Komposition) die stilistischen Besonderheiten der Filme, der Stil wurde zum Porträt, und dieser Ansatz appellierte an die Kenner, die Cinephilen. Eisenstein wurde in beiden Genres inszeniert: ikonographischen Prinzipien folgend und als „Verkörperung“ seines Stils, der sich änderte – von den betont konstruktivistischen Kompositionen zum barocken Licht- und Schattenspiel.

10

Eisenstein 1984, 304.

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Germaine Krull und Eli Lotar benutzten das expressionistische Licht, um Eisensteins Körper und vor allem sein Gesicht zu modellieren. So hat ihn auch Eduard Tissé im anthropologischen Museum von Mexiko fotografiert. Doch während die Porträts von Krull und Lotar, gemacht in Fotoateliers, abstrakt bleiben, ist Tissés Bild von einer beeindruckenden Mise-en-scène geprägt, die eine stilistische Ähnlichkeit mit dem Film Que viva Mexico! aufweist: Die gigantische steinerne Statue einer aztekischen Gottheit verschluckt die kleine menschliche Figur, und die Maskerade im Museum wird zu einer Metapher der Macht der Idole (Idols Behind Altars heißt das Buch von Anita Brenner, der mexikanischen Anthropologin, das Eisenstein als Vorlage seines Films betrachtet hatte). Hans Richter und Man Ray versuchten, durch modernistischen Hintergrund (gemalte Kulisse mit abstrakten Formen), Eisenstein als einen Avantgarde-Künstler zu präsentieren, doch ihr Versuch ist zu illustrativ, weder die gemalte konstruktivistische Kulisse, noch das Telefon in der Hand des Regisseurs vermittelte den Bildern den gesuchten Sinn. Sie präsentieren uns einen bürgerlich gekleideten Herrn in der Arbeitssituation eines Fotoateliers, und die ganze Serie hat den Gestus einer abgebrochenen Suche nach einem nicht gefundenen Bild. André Kertész dagegen hatte Eisenstein etwas leicht Geheimnisvolles gegeben, indem er ihn auf dem Fußboden neben dem langen Rollbild der abstrakten Zeichnungen platzierte. Der Avantgardekünstler wird als eine nicht entzifferbare antibürgerliche, doch sehr dekorative, ja gezähmte Erscheinung, eine ornamentale Hieroglyphe inszeniert. Mitte der 1920er Jahre haben die avantgardistischen bildenden Künstler nicht einfach gut komponierte und ausgeleuchtete Fotoporträts für ihre Künstlerkollegen entwickelt, sondern Fotocollagen geschaffen, die die Körperlichkeit unterdrückten und einige Körperteile durch Apparate ersetzten. In seinem Selbstporträt hatte El Lissitzky 1924 sein Auge mit einer Hand und einem Zirkel überblendet. Auf dem Buchumschlag Der japanische Film (1929) (für den Band hatte Eisenstein ein Vorwort geschrieben) wurde von El Lissitzky eine ganze Filmkamera in das Gesicht montiert. 1924 präsentierte der Berliner Künstler Umbo den rasenden Reporter Egon Erwin Kisch als einen Cyborg: ein Auge wurde durch das Objektiv ersetzt, Hände und Füße wurden durch Instrumente und Räder dargestellt. Die Brüder Sternberg übernahmen 1929 diese Collage als einen fertigen Teil für ihr Plakat zu Berlin. Sinfonie der Großstadt, ohne auf die Quelle zu verweisen. Die Kamera

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anstelle des Auges – so porträtierte sich auch Michail Kaufmann, Dziga Vertovs Bruder, Kameramann und Darsteller des „Mannes mit der Kamera“ in dem gleichnamigen Film, ganz im Sinne von Vertov, der das nicht perfekte menschliche Auge mit der Kamera zu ersetzen suchte. Der sowjetische Pressefotograf Dmitrij Debabov wiederholte diesen Gestus in Eisensteins Fotoporträts. In einem wurde sein Auge auch durch die Kamera ersetzt, auf dem anderen wurde er mit Filmstreifen am Schneidetisch präsentiert (das Foto wurde später für den Umschlag des Buches über den Vater der russischen Montage benutzt).

D ER G ESTUS Für Eisenstein waren diese Techniken wenig überzeugend. Er bewunderte in den Bildern die Findung eines Gestus, der durch eine Linie den ganzen Charakter vermitteln kann, wie es der amerikanische Karikaturist William Steig in seinem Buch About People vermochte: eine Linie erfasste die psychologische Essenz (der Stolze, der Übermütige, der Schmeichler). Die Photographen arbeiteten mit Licht, Eisenstein inszenierte den Gestus. Deshalb fand er das Selbstporträt von El Lissitzky gelungen: Das Auge ist die Hand, ein Instrument. Dieses Selbstporträt hatte er auf dem Umschlag des Buches Foto-Auge, herausgegeben von Franz Roh, 1929 gesehen. Allerdings entdeckte er in diesem Porträt nicht nur die Techniken der Avantgarde, sondern eine archaische Praxis: das Porträt reproduzierte eine Maske der Anonoko-Indianer.11 Die Idee, dass das Auge die Bewegung der Hand oder des ganzen Körpers um das Objekt wiederholt, entwickelte er in dem Text über Disney. So ist für Eisenstein die Bewegung der Hand des Malers vom Gestus des Porträtierten nicht zu trennen.12 […] eine Zeichnung [bedeutete] einst hauptsächlich (und fast ausschließlich) einen Lauf, eine gleichsam nur zufällig zeichnerisch fixierte Bewegung. […] Eine belebte

11

Macgowan/Rosse 1923, 90; Eisenstein 2009, 56 - 57.

12

Eisenstein 2009, 809 - 810; Eisenstein 2012.

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Zeichnung ist die unmittelbarste Realisierung des [...] Animismus! Etwas offensichtlich Totes, die Zeichnung, wurde belebt – animiert – animated. Die Zeichnung an sich ist – unabhängig vom Gegenstand der Abbildung! – zum Leben erweckt worden.13

In einigen Fotoporträts versucht er, auf die Posen Einfluss zu nehmen. Im ersten Epos, Potemkin, verschmelzen die Matrosen mit dem Schiff zu einem einheitlichen Organismus. Und so bildet Eisensteins Profil auf einem Fotoporträt aus dem Jahr 1925 eine Linie mit dem Mast seines Panzerkreuzers. Oder er lässt sich auf dem Zarenthron im Winterpalais fotografieren, das letzte Bild seines eigenen Films Oktober (1927) wiederholend.

Abb. 2: (Autor unbekannt) Bei den Dreharbeiten von „Oktober“, 1927 Oder er tritt im Kostüm von Don Quichotte auf beim Drehen des parodistischen Films in La Sarraz: Sein Pferd ist die Filmkamera. Er posiert für Margaret Bourke-White auf dem Dach eines New Yorker Wolkenkratzers, doch inszeniert eine Filmszene: Er wird rasiert von einem Mann, der wie Luis

13

Eisenstein 2012, 45.

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Buñuel aussieht und der vielleicht bereit ist, sein Auge zu zerschneiden, wie in Buñuels Un chien andalou. Er posiert zwischen den Beinen seiner mexikanischen Darstellerin, auf dem Kaktus reitend, der wie sein gigantischer Phallus aussieht, mit dem Zuckerschädel für Hermilo Jimenez oder als mexikanischer Macho für Miguel Alvarez Bravo.

Abb. 3: (Autor unbekannt) Eisenstein in Mexico, 1932 Auf allen diesen Fotos trägt Eisenstein denselben Anzug, den er auch auf den Paramount-Pressefotos oder auf den Porträts von Richter, Man Ray oder Kertész anhat. Nicht das Kostüm, sondern der karnevalistische Gestus, den Eisenstein in die Mise-en-scènes der Fotos einbringt, wird von ihm als ein Maskenspiel eingesetzt. Nur Alvarez Bravo schafft es in seiner Fotografie, die Unsicherheit dieser eingenommenen Machopose zu offenbaren und so den Bruch in Eisensteins Maskerade einzubringen. 1936, in der Zeit, in der Eisenstein alle Leistungen, auch sein Panzerkreuzer abgesprochen werden (Eisenstein folgte ja nur den dokumentarischen Ereignissen und der Film wurde quasi von der Geschichte geschaffen,

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meinen seine Kritiker14), lässt er sich einsam auf der absolut leeren Odessaer Treppe fotografieren, die ihn berühmt gemacht hatte. In dem Doppelporträt von ihm und Brecht, von Sergej Tretjakov abgelichtet, korrigiert er den Gestus und verwandelt das Porträt in eine zärtlich nahe – zu nahe – Umarmung.

Abb. 4: Sergej Tretjakov, Eisenstein und Brecht, 1932 Auf diesen Fotos greift er in die Inszenierung des Gestus ein und lässt sich mit Objekten abbilden, denen er in seinen Filmen zu einem neuen Sinn verholfen hatte – dem Panzerkreuzer, einem mechanischen Mann-Fisch oder dem Zarenthron. Dieses eine Bild wiederholt den Gestus des ganzen Films: Beim Drehen an den Originalschauplätzen, mit den Doppelgängern realer Politiker und Beratern, die das Palais vor zehn Jahren erobert hatten, wurde Eisenstein mehr und mehr auf die Idee eines zutiefst symbolischen Films gebracht, der jede Art von Symbolik als lächerlichen Fetischismus zerstören musste. Jeder Vorgang wurde als eine metaphorische Handlung begriffen und auch so inszeniert, jeder Gegenstand um seinen symbolischen Wert gebracht. Orden, verliehen „fürs Vaterland“, wachsen zum Müllberg wertloser Abzeichen. Kerenskij steigt endlos die Treppe der Macht empor, doch als sich ihm die Türen zum Thronsaal öffneten, tritt er – dank Eisensteins Schnitt

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Kalatozov/Bartenev 1933, 3.

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– in das Hinterteil eines mechanischen Pfaus. Und der Zarenthron ist nichts weiter als ein Stuhl zum relaxten Sitzen in weißen Turnschuhen. So bekommen die Fotoporträts seine Signatur. Für ihn sind jedoch diese Abbildungen ein Problem. Eisensteins Verständnis vom Bild rückt vom Abbild weg: Bild ist immer eine Montage-Angelegenheit, denn nur die Montage kann das wahre, das unsichtbare Bild entstehen lassen, das dank der Überlagerung und Konfrontation mit anderen Bildern die Assoziationen auslösen kann.15 In ihnen soll es der Gestus sein, der die Assoziationen auslöst, die nötig sind, um zum Sinnbild zu gelangen – dem unsichtbaren Bild, das den unsichtbaren Regisseur abbildet. Nur mit einem Foto gab er sich zufrieden. Im August 1943 erschien in New York ein von Leyda herausgegebener Sammelband mit Eisensteins Aufsätzen: The Film Sense. Eisenstein bekam das Buch ein halbes Jahr später zugeschickt, genau an seinem Geburtstag: In Erinnerung an den traurigsten Tag in meinem Leben, meinen Geburtstag, traf endlich The Film Sense ein. Zum ersten Mal im Leben bin ich absolut zufrieden, wie ein Buch von mir aussieht. Besser kann man es nicht machen. Sogar der Schutzumschlag ist so, wie ich ihn mir wünschte, gelb und schwarz, wie der Umschlag eines Krimis. Darauf mein Gesicht mit einem absolut unanständigen Schlafzimmerblick und einem Mona-Lisa-Lächeln.16

Zu dem Zeitpunkt, als Jay Leyda dieses Porträt aus dem Jahr 1935 veröffentlicht hatte, ist Eisensteins Körper auf zwei Erscheinungen reduziert. In der Öffentlichkeit trägt er feingeschnittene Anzüge und Stetson-Hüte. Nur sein Haar blieb anarchisch, trotz der großen Glatze. Eisenstein wirkte wie ein alt gewordenes, elegantes Kind aus gutem Hause. Sein Körper war schnell gealtert und wurde korpulent. Er sieht auf den offiziellen Bildern nicht wie ein Künstler aus, sondern wie ein Akademiker im Anzug mit Orden. Zu Hause lief er in Pyjamahosen und Unterhemden umher, doch dieser intime Körper ist nur auf wenigen Privatfotos zu sehen. Die Zeit, als er noch als Star inszeniert wurde, ja inszeniert werden konnte, ist vorbei. Aber auch dieser alte Körper konnte exzentrisch wirken – in seiner Gestik, wie die wenigen Dokumentarfilmaufnahmen von Eisenstein zeigen – etwa bei seiner Rundfunkrede

15

Bulgakowa 2006.

16

Eisenstein-Archiv, RGALI 1923-2-1170, 9.

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am 18. Februar 1940, bei dem Appell an die jüdischen Brüder in der ganzen Welt am 24. August 1941 oder bei seinem Auftritt auf einer Konferenz über den amerikanischen und britischen Film, veranstaltet im Juli 1942 in Moskau.

Abb. 5: Jay Leyda, Eisenstein, 1943

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S ELBSTPORTRÄTS Eisenstein interessierte sich sehr für die Techniken des Selbstporträts in der Literatur und in der Malerei. Er studierte Autobiographien und autobiographische Romane von Stendhal und Stanislavskijs, biographische Romane von Stefan Zweig, Lion Feuchtwanger und Ernst Ludwig. Freuds Essay über Leonardo wurde von ihm sehr aufmerksam gelesen.

Abb. 6: Sergej Eisenstein, Am Tisch Doch als ideales Selbstporträt schätzte er nicht die üblichen narzisstischen Techniken, wie etwa von Andrea del Sarto, der sich selbst in die eigenen Bilder einschrieb (wenn auch in verschiedenen Rollen, bis zur Rolle der Madonna). Eisenstein widmet El Grecos Landschaft Gewitter über Toledo, die er als Selbstporträt des Malers bezeichnet einen langen Essay.17 Auch Eugène Atgets Objektfotografien betrachtet er als Porträts bzw. Selbstporträts und erklärt, was er unter dem Gestus versteht: der Fotograf zwingt den Betrachter die Form körperlich auszuführen. Atgets Magie besteht nicht so sehr in der visuellen, sondern in der kinetischen Wahrnehmung. Sie [die Betrachter] werden zum Karren. Sie waren ein Bankwagen. Sie

17

Eisenstein 2002, 405 - 463.

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sind es, die als Wurzel zum Knoten sich zusammenzieht. Oder als Treppe um die Ecke biegt. Sie haben das Drama der zerbeulten Zylinder und Chapeaus claques durchgemacht. […] Atgets Aufnahmen sind Metapher, doch er zwingt uns, sie durchzuspielen und nicht zu betrachten. Das sind nicht die Metaphern der Form, sondern des Verhaltens: der Inszenierung der Figur und ihrer Tendenz, sich auf eine bestimmte Weise zu bewegen, durch die Flucht oder die Annäherung. […] Ich suche nach Bestätigung meiner Schlussfolgerung in seiner Biographie – und hier schwarz auf weiß lese ich in den allerersten Zeilen: „Vor dreißig Jahren beginnt ein kleiner Schauspieler, der sich von der Wanderbühne zurückgezogen hat, Paris zu fotografieren: E. Atget.18

Eisenstein schreibt ein langes Zitat aus Emil Ludwigs Essay über Leonardo da Vinci heraus (er benutzt die amerikanische Ausgabe), das dieselben Ideen zum Ausdruck bringt. Ludwig meinte, dass Leonardos Kunst auf das Prinzip des Selbstporträts baut, das sich nicht nur in Bildern der Männer und Frauen realisiert, sondern auch in den Maschinen – „stonecutter, crowbar, redging machine“, die Leonardo entworfen hatte.19 Die Techniken des Selbstporträts in den Landschaften oder Gegenständen werden von Eisenstein deshalb so bewundert, weil er vom Film kommt, in dem ein Objekt oder eine Landschaft oft den Schauspieler ersetzt, wie eben bei Leonardo, Atget und El Greco. So sieht Eisenstein Chaplin in seinen Schuhen oder porträtiert den Schiffsarzt von „Potemkin“ durch dessen Zwicker. Er übernimmt dieses Prinzip in die eigenen Selbstporträts, die er sein Leben lang gezeichnet hatte, nicht. Selten reduziert er sich selbst auf ein Objekt. Öfter dagegen wählt er den Körper eines Anderen. Er porträtiert sich in seinen Filmen als ein von der Mutter verlassenes Kind – das Baby im springenden Kinderwagen von Potemkin. Auch in Iwan der Schreckliche reproduziert er einige autobiographisch kodierte Situationen und lässt den Verräter Kurbskij dem jungen Aleksandrov ähnlich machen, der ihn, Eisenstein, verraten hatte. In seinen graphischen Selbstporträts hatte er Prinzipien von Grandville, Steig und Disney übernommen und präsentierte sich im Spiel mit verschiedenen Rollen. 1915 ist er vom visuellen „Spoonerism“ des französischen Karikaturisten Grandville begeistert. In der Serie Les métamorphoses du

18

Eisenstein 2002, 265. Eisenstein zitiert das Vorwort zu Atgets Buch (Atget 1931, 8.)

19

Ludwig 1927, 176. Eisenstein 1972, Bd. 3, 153 - 154.

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jour (1829) platzierte Grandville Tiere in Situationen mit Wiedererkennungswert, versah sie mit menschlichen Kostümen, Gesten und Modeaccessoires und schuf so das Theater des modernen Lebens. Auch Eisenstein schuf ein eigenes zoologisches Theater des modernen Lebens, das die förmlichen Fotografien – im Matrosenanzug, in Samt oder im Kindersmoking, gemacht in Rigaer Fotoateliers, konterkarierte: Er zeichnete sich selbst als Schweinchen, Ratte oder Hase, immer als Verlierer gegen die geforderte Form. Vor Lehrern steht er mit gesenktem Haupt und wird gedemütigt, doch im befreiten Springen – im Raum ohne Begrenzungen schwebend – flieht er vor der geforderten Disziplin.20

Abb. 7: Sergej Eisenstein, Sketchbuch, 1915

20

Die Zeichnungen sind auf dieser Webseite gesammelt: http://www.fondationlanglois.org/flash/e/stage.php?NumPage=746 [1.5.2012]

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Später kreierte er sein Porträt als Clown George (Serie Souvenirs d’enfance, 1943). Das Vorbild war eine reale Person: Petr Rudenko, den Eisenstein als Kind im Rigaer Zirkus gesehen hatte und der später Eisensteins Schüler die Akrobatik unterrichtete. Clown Georges Bild kann als Eisensteins Selbstporträt gewertet werden: das Haar, das wie ein Heiligenschein den Kopf krönt, die weichen „knochenlosen“ Beine, die nonchalante Haltung reproduzieren Eisensteins Posen. Eisenstein sah sich zeitlebens als Clown, seine erste große Leidenschaft war der Zirkus, der den perfekten, ja magischen Körper demonstrierte – leicht und biegsam. Eine Pantomime, die ihn in der Kindheit tief beeindruckte, erzählte vom Verlust des Körpers: Ein Clown konnte seinem Körper entlaufen, so wie Eisenstein es sich wünschte. In den erkennbaren und so bezeichneten Autoporträts versuchte Eisenstein stets, diesen ausdrucksstarken Körper zu fassen und vermied es, sein Gesicht zu malen, wie in der realistischen Variante (Autoritrata, 1944) oder in kleinen Karikaturen im Profil, die den Gestus mit einer Linie erfassten. Die Linie war für ihn immer ein perfekter Ausdruck. Wenn Gestus und Linie zusammenfallen und als eine ununterbrochene Zeichnung entstehen, dann ist die Magie perfekt. Diese Technik findet er bei Olaf Gulbransson, bei William Steig, Saul Steinberg und bei Disney, der sich selbst in den Bewegungen seiner Maus verewigte: Ein junger Mann mit kleinem Schnurrbart. Sehr elegant. Ich würde sogar sagen – von einer tänzerischen Eleganz, irgendwie auf unnachahmliche Weise seinem Helden ähnlich. Mickey hat dieselbe Anmut, dieselbe gestische Ungezwungenheit und Eleganz. Das ist aber kein Wunder. Wie sich herausstellte, ist die Methode so: Disney spielt den ‚Part’, die ‚Rolle’ Mickeys, für den einen oder den anderen Film selbst. Umringt von einem Dutzend seiner Zeichner, die flugs die urkomischen Verrenkungen ihres Modell stehenden und vorspielenden Chefs einfangen. Und schon sind die unendlich vitalen und lebensnahen Vorlagen für die Animation fertig, die nur deshalb wirksam sind, weil sie bei aller Hyperbolisierung der Zeichnung beim lebendigen Menschen abgeguckt wurden. Nicht weniger lebendig ist der Wolf. Oder der Bär. Der Hund, frecher Partner der eleganten Mickey Mouse, ist wiederum nicht zufällig so lebensecht: Für ihn stand Walts Cousin Modell, im Unterschied zu ihm behäbig, grobschlächtig, plump.21

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Eisenstein 2009, 794 - 795.

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Abb. 8: Sergej Eisenstein, Unterschrift Die Linie folgt der Bewegung, sie ist eins mit dem Körper, deshalb kann sich das Selbstporträt auch in der Unterschrift realisieren. 1922 zeichnet Eisenstein seine Bilder mit einer kodierten Unterschrift V2 und auf einem Foto aus dem Jahr 1922 reproduziert es das umgekehrte Zeichnen mit dem ganzen Körper. Später ähnelt seine Unterschrift einer Ellipse, die er nicht als Spur, sondern als Selbstporträt bezeichnet: ein schwebender Fötus, ein Embryo.22 Schreiben, Tanzen und Zeichnen sind für ihn ähnliche Tätigkeiten. Das Gefühl, gefangen in dem Körper zu sein, kann er dabei überwinden und dem Körper entfliehen. Deshalb ist die Linie, die den Körper auf den Gestus zurückführt und auf die Substanz reduziert, gleichzeitig die Darstellung und die Befreiung – im Gestus als Bewegung der Stift: Hier, vor den Augen des begeisterten Zuschauers entsteht die Konturenlinie, und sie bewegt sich. Sie bewegt sich um die unsichtbare Kontur des Gegenstandes, den sie auf das dunkelblaue Tuch zaubert. Die Linie ist die Spur der Bewegung. Und möglicherweise werde ich Jahre später an diese überwältigende Empfindung der Linie zurückdenken, der Linie als dynamische Bewegung, der Linie als Prozeß, der Linie als Weg. […] Viele Jahre werde ich mich begeistert der Mise-en-scène widmen, diesen Linien der Bewegung der Schauspieler ‚in der Zeit‘. Die Dynamik der Linien und die Dynamik der Bewegung — und nicht der ‚verharrende Zustand‘ — werden immer eine Vorliebe von mir bleiben: das gilt für die Linien wie auch für das System der Erscheinungen und ihres Übergangs in andere Formen.23

22

Eisenstein 1984, 970.

23

Eisenstein 1984, 735.

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B IBLIOGRAPHIE Ataševa, Pera 1931. „Amerikanskaja tragedija“. In: Proletarskoe kino Nr. 9, 59 - 62. Atget 1931. Lichtbilder. Eingeleitet von Camille Recht. Paris/Leipzig (Henri Jonquières). Bulgakowa, Oksana 1998 a. Sergej Eisenstein. Eine Biographie. Berlin (Potemkin Press). Bulgakowa, Oksana (Hg.) 1998 b. Eisenstein und Deutschland. Berlin (Henschel). Bulgakowa, Oksana 2006. „Eisensteins Vorstellung vom unsichtbaren Bild, oder Film als Materialisierung des Gedächtnisses“. In: Thomas Koebner/Thomas Meder/Fabienne Liptay (Hg.): Bildtheorie und Film. München (edition text + kritik), 36 - 52. Eisenstein – Archiv. Russisches Staatsarchiv für Dokumente der Kunst und Literatur RGALI, Moskau. Eisenstein, Sergej 1964-1972. Izbrannye proizvedenija v 6 tomach, Moskau (Iskusstvo). Eisenstein, Sergej 1929/1997-1998. „My Art in Life“. Publikation Naum Klejman In: Kinovedčeskij zapiski 36/37, 13 - 23. Eisenstein, Sergej 1984. Yo – Ich selbst. Klejman, Naum/Korschunowa, Walentina (Hg.). Berlin/DDR (Henschel), Band 1- 2. Eisenstein, Sergej 2002. Montaž. Klejman, Naum/Zabrodin, Vladimir (Hg.). Moskau (Muzej kino). Eisensteins Sketch Book 2002. http://www.fondation-langlois.org/flash/e/ stage.php?NumPage=746 [1.5.2012]. Eisenstein, Sergej 2009. Metod/Methode, 4 Bde. Bulgakowa, Oksana (Hg.). Berlin (Potemkin Press). Eisenstein, Sergej 2012. Disney. Bulgakowa, Oksana/Hochmuth, Dietmar (Hg./Übs.). Berlin (Potemkin Press). Fernandez, Dominique 1975. Eisenstein: L'arbre jusqu'aux racines. Paris (Bernard Grasset). Freeman, Joseph 1992. „Perepiska s S.M. Eizenšteinom“. In: Flejšman, Lazar‘ (Hg.): Materialy po istorii russkoj i sovetskoj kul‘tury. Iz archiva Guverovskogo instituta. Stanford (Slavic Studies Stanford), 220 - 262. Kalatozov, Michail/Bartenev, Sergej 1933. „Forma i dramaturgija v proizvedenijach Eizenštejna“. In: Kinogazeta, 29:16 Juni, 3.

80 | DER FILMREGISSEUR ALS BILD: SERGEJ EISENSTEIN

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F ILMOGRAPHIE Poloka, Gennadij 1996. Die Rückkehr des Panzerkreuzers/Vozvraščenie bronenosca. Bartlett, Renny 2000. Eisenstein. Debroise, Olivier 2011. A Banquet at Tetlapayac. Minaev, Igor‘ 2008. Loin de Sunset. Eisenstein, Sergej 1925. Panzerkreuzer Potemkin. Eisenstein, Sergej 1929. Das Alte und das Neue.

ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abb. 1: Eduard Tissé, Eisenstein im Anthropologischen Museum, 1932, Russisches Staatsarchiv für Kunst und Literatur in Moskau (RGALI). Abb. 2: (Autor unbekannt), Bei den Dreharbeiten von „Oktober“, 1927, Russisches Staatsarchiv für Kunst und Literatur in Moskau (RGALI). Abb. 3: (Autor unbekannt), Eisenstein in Mexico, 1932, Russisches Staatsarchiv für Kunst und Literatur in Moskau (RGALI). Abb. 4: Sergej Tretjakov, Eisenstein und Brecht, 1932, Russisches Staatsarchiv für Kunst und Literatur in Moskau (RGALI). Abb. 5: Jay Leyda, Eisenstein,1943, Russisches Staatsarchiv für Kunst und Literatur in Moskau (RGALI).

OKSANA BULGAKOWA | 81

Abb. 6: Sergej Eisenstein, Am Tisch (ohne Datum), Russisches Staatsarchiv für Kunst und Literatur in Moskau (RGALI). Abb. 7: Sergej Eisenstein, Sketchbuch, 1915, Russisches Staatsarchiv für Kunst und Literatur in Moskau (RGALI). Abb. 8: Sergej Eisenstein, Unterschrift, (ohne Datum), Russisches Staatsarchiv für Kunst und Literatur in Moskau (RGALI).

René Crevel: Selbstinszenierung eines Surrealisten gegen und mit Krankheit und Tod BIRGIT WAGNER

„Q UI

SUIS - JE ?“ 1

E INE

VORLÄUFIGE

P ORTRÄTSKIZZE

Der Schriftsteller René Crevel ist im deutschen Sprachraum wenig bekannt; das gilt auch für Spezialisten des Surrealismus, die es in aller Regel vorziehen, sich mit Galionsfiguren wie André Breton, Louis Aragon oder Paul Eluard auseinanderzusetzen. Das ist der Grund, warum ich mit einem Kurzporträt beginne, wohl wissend, dass ein solches die Komplexität eines Lebens und eines Werks immer verfehlen muss. Crevel ist ein Kind des 20. Jahrhunderts, geboren 1900 in einer bürgerlichen Pariser Familie. Er hat, anders als die um wenige Jahre älteren Surrealisten Breton und Aragon, auf Grund seines Geburtsjahrgangs keine traumatischen Kriegserlebnisse im Ersten Weltkrieg erlitten. Einem ‚bürgerlichen’ Beruf geht er nie nach und schlägt sich mit literarischen und journalistischen Arbeiten sowie mit der Unterstützung seiner Familie durch. Im Jahr 1935, schwer gezeichnet vom Verlauf seiner Tuberkulose-Erkrankung, die ihm bereits ein gutes Jahrzehnt zu schaffen macht, scheidet er freiwillig aus

1

„Wer bin ich?“ Das ist bekanntlich die Frage, mit der André Bretons Nadja einsetzt (Breton 1964, 9), die Frage, die alle Surrealisten beschäftigt und verfolgt hat.

84 | RENÉ CREVEL: SELBSTINSZENIERUNG EINES SURREALISTEN

dem Leben: und zwar am Vorabend des Internationalen Kongresses der antifaschistischen, aber von Stalinisten dominierten Association des Écrivains et Artistes Révolutionnaires, eine Veranstaltung, in die er viele politische Hoffnungen gesetzt hatte und die schon im Vorfeld für die Surrealisten enttäuschend verlief.2 Sein Tod gibt sofort Anlass zur Legendenbildung; jedenfalls zirkulieren verschiedene Versionen dessen, was man die Inszenierung dieses Todes nennen kann,3 denn jeder Freitod ist wohl eine – letzte und äußerste – Form der Selbstinszenierung. Crevel hat seit seinem 21. Lebensjahr geschrieben und publiziert, gemeinsam mit Altersgenossen eine der vielen kurzlebigen literarischen Zeitschriften der 1920er Jahre gegründet (Aventure4), und er gehört zu den jungen Männern, die sich um André Breton scharen und den Surrealismus begründen. Ganz zweifellos prägt der Surrealismus Crevels Lebenswerk als Schriftsteller, doch gehört der junge Autor nicht zum engsten Kreis von Bretons Getreuen, zunächst schon deshalb, weil ihn lange Kuraufenthalte in Schweizer Sanatorien oder im Süden Frankreichs aus Paris fernhalten, und dann und vor allem, weil er auch andere Kreise frequentiert: zum Beispiel die englischsprachige Künstlerkolonie in Paris. Er ist gern gesehener Gast bei Gertrude Stein und Alice Toklas, ebenso bei Nancy Cunard, in deren Salon er Eugene Mac Cown kennen lernt, einen nicht sehr erfolgreichen amerikanischen Maler, mit dem ihn eine leidenschaftliche Liebesgeschichte verbinden wird. Er verfügt aber auch über gute Verbindungen zur Berliner Avantgarde-Szene der 1920er Jahre, Klaus Mann bewundert ihn zutiefst und Mopsa Sternheim, Malerin und Theaterdekorateurin, Tochter des Theaterautors Carl Sternheim, ist seine zweite große Liebe. In seinen Schriften – Romane und Essays, die durchweg der assoziativen Imagination der surrealistischen Bildsprache verpflichtet sind – werden einige Grundmotive

2

„Le seul membre du groupe qui crut à l’efficacité de l’intervention surréaliste au sein du Congrès International de l’A.E.A.R fut René Crevel“ („Das einzige Mitglied der Gruppe, das an die Wirkungsmöglichkeiten einer surrealistischen Intervention beim Internationalen Kongress der A.E.A.R. glaubte, war René Crevel“). Zeugnis von Salvador Dalí. In: Dalí 1974, 12. – Diese Übersetzung und alle im Folgenden von Birgit Wagner.

3

Zeugnisse von Zeitgenossen oder solchen, die noch direkten Kontakt mit Surrealisten hatten, in Dalí 1974, 18-19 sowie Alexandrian 1974, 321. Vgl. auch die Biographie von Carassou (Carassou 1989, 9-21).

4

1921/22, drei Nummern erschienen.

BIRGIT WAGNER | 85

variiert: Geschichten von Selbstmördern und Selbstmörderinnen, Meditationen über das Begehren, den Eros und den kranken Körper, Hasstiraden auf das französische Bürgertum und seine Riten, Werte und Normalitätsansprüche.5 Soviel sollte man wissen, um überhaupt zu verstehen, wer sich da eigentlich inszeniert: ein junger Mann, ein Surrealist, Autor schwer zu klassifizierender Schriften, ein Kommunist, den die offiziell organisierten Kommunisten der 1930er Jahre nicht ernst nehmen, ein bisexuell Liebender und an der Liebe Leidender, ein Freund, dem seine Freunde und Freundinnen wunderbare Beinamen gegeben haben: ein Erzengel (so nennt ihn die Malerin Marie Laurencin6), ein Phoenix mit der Gabe zur vielfachen Wiedergeburt (so formuliert es Salvador Dalí7), „der schönste der Surrealisten“ (nachzulesen in der ersten Geschichte des Surrealismus von Maurice Nadeau8), und schließlich sei noch Paul Eluard zitiert: „René Crevel hatte nicht alle Fehler, aber er besaß alle Vorzüge – sogar die Schönheit.“9 Diese wenigen Hinweise mögen deutlich machen, dass Crevel zum Zeitpunkt seines Todes für seine verschiedenen Freundeskreise eine Figur darstellte, die von einer ganz bestimmten Aura umgeben war – ewig schöner Jüngling (auch noch mit knapp 35 Jahren), poète maudit, notorischer Bürgerund Kirchenhasser, kranker Engel und so fort.

5

Zu Crevels literarischem Werk vgl. die beiden umfangreichen Studien von Bell Rochester 1978 und Devésa 1993.

6

„L’Archange“, zit. in: Alexandrian 1974, 309.

7

Dalí, mit dem Crevel in seinen letzten Lebensjahren eng befreundet war, beschreibt ihn als einen Meister der „Phönixologie“, als einen, der unaufhörlich „zu Grunde gehen“ („crever“ wie Crevel) und darauf „wiedergeboren werden“ („renaître“ wie René) konnte: Dalí 1974, 13. In der Zeitschrift La Révolution surréaliste findet sich ein Wortspiel, Zeugnis sprachschöpferischer Lust, das Crevels Namen wie folgt glossiert: „René Crevel – les ravins du crâne et du réveil“ (René Crevel – die Schluchten des Schädels und des Erwachens). Vgl. La Révolution surréaliste N°4, 1925, 22.

8

Allerdings nur in der Luxusausgabe von 1958, in der man im Abschnitt „Indications biographiques“ lesen kann: „CREVEL/René/1900-1935/Français/‚Le plus beau des surréalistes’/Romancier et essayiste, membre du groupe surréaliste de 1922 à 1935“. Nadeau 1958, XXV.

9

„René Crevel n’avait pas tous les défauts, mais il avait toutes les qualités – Même la beauté.“ Handschriftliches Zeugnis, abgebildet in Courtot 1969.

86 | RENÉ CREVEL: SELBSTINSZENIERUNG EINES SURREALISTEN

Ist diese unmittelbare Nachwirkung auf gezielte Selbstinszenierung des Schriftstellers zurückzuführen? Und wenn ja, welchen Spielraum hatte diese in der Pariser Kulturszene der 1920er und frühen 1930er Jahre? Welche Faktoren sind überhaupt mitzudenken, wenn von Selbstinszenierung die Rede ist, ein Begriff, der den Akzent auf agency, die Handlungsfähigkeit des Subjekts legt und der zunächst einmal verschweigt, dass jede menschliche agency sich nur unter nicht selbst bestimmten ökonomischen, gesellschaftlichen und diskursiven Rahmenbedingungen entfalten kann?

„R ÄUME DES M ÖGLICHEN “ 10 SURREALISTISCHER S ELBSTINSZENIERUNG Zunächst gilt es also, sich dem Thema von der Seite der Spannung zwischen Selbstinszenierung und objektiven Zwängen anzunähern, das heißt mit Bourdieu und seinen Begriffen des „literarischen Felds“ und des „Raums des Möglichen“, den dieses Feld jeweils eröffnet. Bourdieu denkt diese Möglichkeitsräume soziologisch als die Summe von „bedingten Freiheiten“ und „objektiven Potentialitäten“: als „eine Menge wahrscheinlicher Zwänge, zugleich Voraussetzung und Komplement einer endlichen Menge möglicher Nutzungen“.11 Die von außen determinierten Freiheiten – die „bedingten Freiheiten“ – und die objektiv gegebenen Potentialitäten eröffnen den Akteuren eines Feldes nicht beliebige, zugleich aber ‚neue’ Aktionsmöglichkeiten. Gewiss, Die Regeln der Kunst ist ein Buch, das in erster Linie die objektiven Fremdbestimmungen herausstellt, denen künstlerisches Tun im 19. und 20. Jh. unterworfen ist. Selbstinszenierung, ein Ausdruck, der bei Bourdieu nicht vorkommt, wäre also mit Bourdieu als eine subjektive Strategie zu verstehen, mit der Akteure symbolisches Kapital in einem Feld sammeln, in dem ökonomisches Kapital als das Kennzeichen kommerzieller, das heißt schlechter Kunst oder Literatur gilt. Bourdieu hat die Zweipoligkeit des literarischen Felds der Moderne, den Raum zwischen „littérature industrielle“ (kommerzieller Literatur) und avantgardistischen Bestrebungen im Wesentlichen an der Literaturgeschichte des französischen 19. Jahrhunderts

10

Dieser Begriff wurde bekanntlich von Pierre Bourdieu in Die Regeln der Kunst eingeführt (vgl. Bourdieu 2001, 371ff.).

11

Bourdieu 2001, 372 (kursiv vom Autor).

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exemplifiziert; seine großen Zeugen sind Flaubert und Baudelaire. Die historischen Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts, zumal der Surrealismus, werden von ihm nur am Rande mitbedacht.12 Für die Surrealisten – und das heißt auch für Crevel – stellt sich die Lage aber doch signifikant anders dar, als das für die Einzelfiguren und Dichtergruppen des 19. Jahrhunderts der Fall war: ein Faktum, dem Bourdieu keine Aufmerksamkeit gewidmet hat. Norbert Bandier, ebenfalls Soziologe, hat diese Lücke in seiner Studie Sociologie du surréalisme zu füllen versucht: mit vielen nützlichen Informationen über die Zweipoligkeit der Verlagslandschaft (kommerzielle vs. für den Avantgardismus offene Verleger) sowie über die Publikationsstrategien der Surrealisten.13 Die „Räume des Möglichen“ (in denen aus Bourdieus Sicht Selbstinszenierung stattfinden kann) stehen in diesem Buch aber nicht im Zentrum des Interesses. Es erweist sich mithin doch als sinnvoll, Peter Bürgers These ernst zu nehmen, wonach „von der Avantgarde aus die voraufgegangenen Stadien der Entwicklung des Phänomens Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft begriffen werden können, nicht aber umgekehrt die Avantgarde von den früheren Stadien der Kunst her.“14 Was unterscheidet die Surrealisten von ihren Vorgängern im 19. Jahrhundert, die für sich in Anspruch nahmen, literarischen Ruhm (weit) über kommerziellen Erfolg zu stellen? Symbolisches Kapital wollen die Surrealisten in ihrer „heroischen Epoche“ (Nadeau) keineswegs mit einer säkularen Kunstreligion gewinnen, wie man sie etwa den Vertretern des l’art pour l’art oder des Symbolismus unterstellen kann, im Gegenteil, Kunst im herkömmlichen Sinn gilt als bürgerlich, lächerlich und passé, jeder Mensch könne hingegen, wie im ersten surrealistischen Manifest ausgeführt wird, die Pforten des Unbewussten öffnen und daraus poetische Energie schöpfen,15 und um die geht es, nicht um die Produktion von „Werken“ oder um den Status als anerkannter Literat. Das ist zumindest die offizielle doxa der Bewegung, mit der sie ihren Avantgarde-Status bekräftigt und aufrecht

12

Im Namenregister finden sich einige wenige Einträge zu Breton, die meist auf Nebenbemerkungen des Fließtextes verweisen, andere Surrealisten – auch so bekannte wie Aragon, Eluard oder Soupault – sucht man vergeblich.

13

Vgl. Bandier 1999.

14

Bürger 1987, 24.

15

Vgl. den Abschnitt „Secrets de l’art magique surréaliste“ im Manifeste du surréalisme, in: Breton 1979, 39ff.

88 | RENÉ CREVEL: SELBSTINSZENIERUNG EINES SURREALISTEN

erhält, wenn auch die Realität einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung die einzelnen immer wieder zu Schritten bestimmen wird, die eben auch ökonomische Interessen des Lebens und Überlebens bedienen und bedienen müssen.16 In der Liste der verdammenswerten Gattungen der traditionellen Literatur figuriert an der Spitze der Roman, der sowohl im ersten als auch im zweiten Surrealistischen Manifest als lächerliches und bourgeoises Genre abgekanzelt wird. Flaubert, der dem Genre im 19. Jahrhundert hochkulturelles Ansehen verschafft hatte, kommt in den verschiedenen Schautafeln, auf denen die Surrealisten ihre Vorbilder sowie ihre Hassfetische aufführen, gar nicht vor. Was bedeutet das für René Crevel, der mit 24 Jahren ein erstes Buch fertig geschrieben hat, Détours, einen Kurzroman mit starken autobiographischen Bezügen, aber immerhin als Roman qualifizierbar? Der junge Mann legt ihn Breton vor, Breton gibt ihn ohne ein Wort des Kommentars zurück; andere Mitglieder der Gruppe sind betreten, Crevel scheint diese Szene, nach dem Zeugnis von Maxime Alexandre, weggesteckt zu haben, ohne sich Bestürzung anmerken zu lassen.17 Er schreibt weiterhin Texte an der Schnittstelle von romanesker Fiktion, autobiographischen Bezügen und der Entfaltung einer schillernden surrealistischen Bildsprache. Festzuhalten ist: in einem literarischen Feld, in dem sich die Vertreter der Avantgarden gegenüber allen anderen Akteuren, auch den Mitbewerbern um den ersten Platz im Feld der Avantgarde, positionieren wollen und müssen, in einer solchen Situation geht es auch um gruppeninterne Machtstrukturen und Positi-

16

Vgl. meinen Aufsatz zu den ökonomischen Strategien der Surrealisten (Wagner 2012).

17

Vgl. Alexandre 1968, 75f.: „[…] nous étions scandalisés de voir qu’un surréaliste, René Crevel, avait écrit un roman, à la manière d’un quelconque Anatole France ou Paul Bourget. Breton, à qui il l’avait soumis, lui rendit le manuscrit, sans commentaire. En sortant, nous avons tous pris le métro. Crevel, son manuscrit sous le bras, ne paraissait pas autrement gêné […].“ („[…] wir empfanden es als einen Skandal zu sehen, dass ein Surrealist, René Crevel, so wie ein x-beliebiger Anatole France oder Paul Bourget einen Roman geschrieben hatte. Breton, dem er ihn vorgelegt hatte, gab ihm das Manuskript kommentarlos zurück. Auf dem Heimweg nahmen wir alle die Metro. Crevel, das Manuskript unterm Arm, schien sich nichts daraus zu machen […].“).

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onierungen. Sich gegen eines der vielen Verdikte Bretons zu wenden, ist einerseits riskant, andererseits auch eine Möglichkeit, die eigene Position stark oder zumindest sichtbar zu machen und auf einem eigenen künstlerischen Weg zu beharren. Was Bourdieu für die verschiedenen Bohème-Attitüden des 19. Jahrhunderts herausgearbeitet hat, gilt mutatis mutandis auch für die Surrealisten: Sie bilden einen Lebensstil aus, der als gegenbürgerlicher angelegt und immer wieder öffentlich performiert wird, doch diese Verhaltensweisen werden nicht mehr individuell, sondern als Gruppenstil vertreten und unterliegen somit auch Gruppenzwängen, die wesentlich stärker sind, als das im vorangehenden Jahrhundert der Fall war. Dazu gehört zum Beispiel, dass Breton, der Theoretiker und auch Praktiker des amour fou zwischen den Geschlechtern, die Homosexualität verurteilt: nachzulesen ist das in den Protokollen der surrealistischen Gruppensitzungen zum Thema „Recherches sur la sexualité“. Bei diesen insgesamt 12 Sitzungen, die sich über den Zeitraum Januar 1928 bis August 1932 erstrecken, war Crevel nie dabei; obwohl in späteren Phasen ‚sogar’ einige wenige Frauen zugelassen waren. Bretons Äußerungen zum Thema männliche Homosexualität, soweit sie protokolliert sind, muss man rundheraus als homophob bezeichnen: „Ich werfe den Päderasten [das ist der Begriff, der in den Recherches sur la sexualité durchgängig für männliche Homosexualität gebraucht wird] vor, dass sie der Toleranz der Menschen ein mentales und moralisches Defizit vorschlagen, das droht, sich zu einem System auszuwachsen und alle Unternehmungen, denen ich Respekt zolle, zu paralysieren.“18 Crevel hatte zu diesem Zeitpunkt die Höhen und Tiefen seiner Beziehung zu Eugene Mac Cown in leichter Verkleidung bereits im Roman La Mort difficile (1926) dargestellt.19 Es ist anzunehmen, dass er sich durch Bretons Haltung verletzt fühlen musste: umso mehr, als er Breton, wie viele Mitglieder der Gruppe, zutiefst bewundert, ja verehrt hat. Anzunehmen

18

„J’accuse les pédérastes de proposer à la tolérance humaine un déficit mental et moral qui tend à s’ériger en système et à paralyser toutes les entreprises que je respecte.“ Archives du surréalisme 4 1990, 39. Das Protokoll der ersten Sitzung, in dem die zitierte Äußerung Bretons fiel, war in der elften Nummer der Révolution surréaliste abgedruckt worden und konnte somit Crevel auf keinen Fall unbekannt bleiben.

19

Zu diesem Roman und seiner komplexen Inszenierung von Identität und Alterität vgl. Wagner 2010.

90 | RENÉ CREVEL: SELBSTINSZENIERUNG EINES SURREALISTEN

ist aber auch, dass er sich genau aus diesem Grund neue Möglichkeitsräume erschloss, mit dem um eine Generation älteren Gide und dessen jungem Freund Marc Allegret20 ein gutes Verhältnis pflegte und Freundinnen wie Gertrude Stein und Nancy Cunard gewann, Freundschaften, die sich für seine Karriere als hilfreich erwiesen. Über Gertrude Steins Vermittlung wurde er zu Vorträgen nach Oxford und Cambridge eingeladen. In Nancy Cunards berühmter Negro. An Anthology findet sich nicht nur ihr Porträt, gemalt von Eugene Mac Cown (auf dem Nancy als androgyne junge Frau mit Spazierstock und Zylinder dargestellt wird), sondern auch ein fulminanter Text Crevels in der Übersetzung von niemand Geringerem als Samuel Beckett (The Negress in the Brothel).21 Crevels gute Beziehungen zu den lesbischen Frauengruppen der „Left Bank“ und die Figur, die er in diesem kleinen, aber einflussreichen Mikro-Milieu darstellte, sind auch in seiner Korrespondenz mit Gertrude Stein belegt.22 Über seine Berliner Bekanntschaften erschloss sich ihm die Möglichkeit, in Deutschland bzw. über deutsche Künstler zu publizieren, zum Beispiel über Paul Klee und die Bildhauerin Renée Sintenis.23 In der durch viele Ausschlüsse und Neuzugänge wechselnd zusammengesetzten Gruppe der Surrealisten sind seine nächsten Freunde Paul Eluard und später, in den 1930er Jahren, Salvador Dalí, der nach Crevels Tod den bereits zitierten schönen Text über ihn schreiben wird. Zwischen Ende 1925 und 1929 ist Crevel wenig ins Gruppenleben integriert und wird von Breton kritisch beurteilt, um danach, im Zeichen des von Ambivalenzen geprägten Engagements der Surrealisten für den internationalen Kommunismus, wieder umso enger eingebunden zu sein. Crevels Position im literarischen Feld seiner Zeit wird also unter anderem durch seine komplexen Beziehungsgeflechte sowie sein vielfach bezeugtes Talent zur Freundschaft geprägt. Breton zählt ihn im ersten Mani-

20

Marc Allegret kennt er bereits aus seiner Schulzeit im Pariser Lycée Janson-deSailly, vgl. Carassou 1989, 30.

21

Heute in: Cunard 1970, 354-356.

22

Crevel 2000.

23

Heute nachzulesen in: Crevel 1986, 69-77 bzw. 98-104. Der Text über Renée Sintenis erschien auf Deutsch 1930 in Berlin (Sintenis 1930).

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feste du Surréalisme in der Liste derjenigen auf, die den „absoluten Surrealismus leben“24. Crevel hat Anteil an vielen öffentlichen Auftritten der Surrealisten, schreibt allerdings nur gelegentlich für die Zeitschrift La Révolution surréaliste (1924-1929), dafür aber regelmäßig für das Nachfolgeorgan Le Surréalisme au service de la Révolution25 (1930-1933). Er publiziert auch in ausländischen literarischen Zeitschriften: in The Little Review, The Transantlantic Review und im Berliner Querschnitt. Man lädt ihn nach Großbritannien, nach Barcelona und nach Berlin ein, um vor großem Publikum über den Surrealismus zu sprechen, La Mort difficile wird ins Deutsche und Tschechische übersetzt.26 Crevel partizipiert am Gruppenruhm und trägt zugleich zu ihm bei. Zugleich steht er aber immer auch ein wenig abseits: einerseits durch seine krankheitsbedingten monatelangen Abwesenheiten, aber auch durch seine Verflechtung mit der homosexuellen und lesbischen Szene in Paris und Berlin. All das steckt den Möglichkeitsraum ab, innerhalb dessen er sich als Figur konstruieren kann.

24

Breton 1979, 35: „Ont fait acte de SURRÉALISME ABSOLU: MM. Aragon, Baron, Boiffard, Breton, Carrive, Crevel […]“.

25

In den sechs Nummern dieser Zeitschrift finden sich nicht nur vier große Artikel und mehrere Glossen und kurze Beiträge aus Crevels Feder, sondern auch großformatige Werbeeinschaltungen für seine Publikationen, was offensichtlich macht, dass der Autor wieder in der Gunst Bretons stand.

26

Der schwierige Tod, übersetzt von Hans Feist (S. Fischer, Berlin 1930, nachgedruckt in der Bibliothek Suhrkamp 1988). Andere auf Deutsch verfügbare Texte Crevels: Mein Körper und ich, übers. von Maria Hoffmann-Dartevelle, Europaverlag 1992; Babylon. Die Frau, die Stadt und der Tod, übers. von Charlotte Jenny, Walter 1993; Seid ihr verrückt?, übers. von Una Pfau, Bibliothek Suhrkamp 1991.

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Ö FFENTLICHKEIT UND P RIVATHEIT , DER GESUNDE K ÖRPER

DER KRANKE UND

Zunächst ist festzuhalten, dass die Öffentlichkeit, für die sich Crevel inszeniert, eine semi-private ist. Die Grenze zwischen „inszeniertem“ und „privatem Leben“27 ist dabei eine durchlässige; auch das private Leben wird inszeniert, oder besser: Kunst und Leben sind, wie schon Peter Bürger festgehalten hat, für die Surrealisten untrennbar. Es zählen die Freunde und Freundinnen, es zählen die Konkurrenten im literarischen und künstlerischen Feld der Avantgarde, zunehmend wichtig werden die umworbenen Ansprechpartner der französischen kommunistischen Partei, doch nicht eine darüber hinaus gehende Öffentlichkeit. Das entspricht dem Selbstverständnis eines Mitglieds der surrealistischen Gruppe, für die die meisten Zeitgenossen nur als Ziel von Provokationen, nicht als Bewunderer oder Fans interessant sind. Die Provokationen ihrerseits gelten den als ‚bürgerlich’ klassifizierten Literaten und Journalisten, dienen aber zugleich als Nachweis für die eigene Zugehörigkeit zur Avantgarde, sind also in gewisser Weise selbstbezüglich. So wie es die verbalen Provokationen in den Druckschriften gibt – Crevel war ein Großmeister der metaphernreichen Polemik – so spielt auch die Provokation im Lebensstil eine wichtige Rolle. Das beginnt bei der Kleidung. Der kleine René, dem seine sittenstrenge Mutter angeblich nicht einmal am Meeresstrand erlaubte, barfuß zu gehen,28 bevorzugt als Erwachsener auffällige und farbenfrohe Kleidungsstücke; die vielen Fotografien, die von ihm erhalten sind, geben davon eine Vorstellung, auch wenn es sich um Schwarz/Weiß-Aufnahmen handelt. Es geht ein wenig in die Richtung, die heute in Anschluss an Susan Sontags bekannten Essay ‚camp’ genannt wird: zum Beispiel weite Kniebundhosen und dazu gestreifte Kniestrümpfe. „Da seine Mutter sich ausschließlich in Schwarz kleidet, wählt er die knalligsten Farben für seine Anzüge, seine Hemden und seine Krawatten.“29 Seine Suche nach der wahren, dauerhaften, einzigen Liebe – in den Beziehungen zu Mac Cown und Mopsa nicht dauerhaft realisierbar – hindern

27

Vgl. Laferl/Tippner 2011, 10f.

28

Vgl. Carassou 1989, 25.

29

Carassou 1989, 53: „Comme sa mère s’habille exclusivement de noir, il choisit les couleurs les plus criardes pour ses complets, ses chemises et ses cravates.“

BIRGIT WAGNER | 93

ihn ansonsten nicht an einem promisken Lebenswandel mit wechselnden Sexualpartnern, was er nie kaschiert hat, auch nicht vor dem strengen Liebestheoretiker Breton, ja mehr noch: er empfindet nicht, wie zum Beispiel Gide, das Bedürfnis nach Rechtfertigung seiner Liebespraktiken. In den privaten Beziehungen zu den verschiedenen Freundeskreisen, in die er integriert ist, arbeitet er mit „Charme“ – das ist der Ausdruck, der in zahlreichen Zeugnissen über seine Auftritte immer wiederkehrt. Der um sechs Jahre jüngere Klaus Mann schreibt: „er war der wahrscheinlich charmanteste Mann, den ich je kennen gelernt habe“.30 Wer bezaubern will, befolgt eine – nicht unbedingt immer bewusste – Strategie: kämpft um die Zuneigung der anderen, jeden Tag, jede Stunde neu. Für uns heute ist dieser Charme nachvollziehbar im Briefwerk: Die Briefe an Marcel Jouhandeau, an André Gide, an Choura Tchelitchev, an Mopsa Sternheim und die in einem kreativ fehlerhaften Englisch verfassten Briefe an Gertrude Stein legen davon ein Zeugnis ab, wie sehr sich der Briefeschreiber bemüht, jedem Briefpartner, jeder Briefpartnerin gerecht zu werden und ein Stück von sich – von seinem Charme – mitzuliefern, den oder die andere immer wieder an sich zu binden.31 Das Liebesdefizit, das seine Biographen und auch er selbst für seine Kindheit mit einer freudlosen Mutter konstatiert haben, mag zu diesem Habitus geführt haben, der auf seine Umwelt als hohe Liebenswürdigkeit und stets zu Pointen bereiter Esprit gewirkt hat. Briefe zu schreiben wird besonders wichtig, wenn man Woche für Woche und Monat für Monat in einem Sanatorium im Wesentlichen an Bett und Balkonliege gebunden ist, zu erzwungener Keuschheit verdammt, wie der Briefeschreiber beklagt. Die Wellen der Krankheit, die Crevel in seinen letzten zehn Lebensjahren mit stetem Hoffen und Bangen begleitet haben, schränken immer wieder den Raum des Möglichen schmerzlich ein, auch den Raum der Möglichkeiten des Schreibens. Crevel hat vielfältige und aus heutiger Sicht schreckliche Behandlungsmethoden auf sich genommen, ohne dass ihm mehr als nur kurzfristige Besserungsphasen beschieden waren.

30

Zit. bei Carasou 1989, S. 109: „il était peut-être l’homme le plus doté de charme que j’aie jamais connu“.

31

Eine kleine Auswahl der Anreden, die Crevel in den Briefen an Mopsa Sternheim für seine Freundin gefunden hat: „Mein lieber süsse“, „Ma Mops!“, „Bonjour la Mops“, „Ma belle“, „Mopsa, meïn süsse, meïn fraü, meïn meïn meïn…“ (Crevel 1997).

94 | RENÉ CREVEL: SELBSTINSZENIERUNG EINES SURREALISTEN

Aber er hat auch, so paradox das klingen mag, der Krankheit etwas abzugewinnen vermocht: seine Selbstdarstellung als Kranker, als leidender Körper, als Geist, der mit dem leidenden Körper uneins ist. Das gibt manchen seiner Schriften eine ganz eigene Qualität, vor allem in den Bänden Mon corps et moi (1925) und Êtes-vous fous? (1929), sowie auch den Briefen, die er als Kranker verfasst hat. Er wäre gerne gesund und kräftig gewesen, doch er konnte, mangels anderer Optionen, sich als rebellischer Kranker auffassen und auch darstellen: Nie war er in Versuchung, in die Rede von Krankheit als Metapher der Verfeinerung einzustimmen, die Susan Sontag beschreibt, im Gegenteil, die ambivalente Zauberberg-Stimmung ist ihm fremd, und die Krankheit ist ein Zustand, über den man luzide nachzudenken hat, ja der man philosophische Einsichten abgewinnen kann. Als Beispiel möchte ich eine Stelle aus Mon corps et moi zitieren: Die Lust am Schreiben ist offenbar aus dieser Zweiteilung erwachsen: Mein Körper und ich. Kopfüber in den Abgrund eintauchend, den diese Pole, die jeweils die ganze Spannweite an sich ziehen, eröffnen, habe ich wohl – durch das Mittel, das die besten Chancen bot, ihre Trennung rückgängig zu machen, durch das Schreiben nämlich – unermüdlich versucht, sie zu versöhnen – eine unendliche Aufgabe. Ich schreibe: was ist dieser Körper, der mir gegenübersteht, lebendig wird, erstarrt und nicht aufhört mein Gegenüber zu sein? Dieser Spiegel, von mir getrennt, in dem ich allein mich nicht wieder erkennen kann? In dem ich mich nicht wieder erkennen will, und so sehr man auch sagen könnte: sehen Sie doch hin, schauen Sie sich ins Gesicht, so werde ich das weiterhin ablehnen. […] Zwischen den beiden, zwischen meinem Körper und mir hin- und herpendelnd, ist das Schreiben die Fähre und bei keinem der beiden zu Hause…32

32

„Le goût d’écrire serait un jour venu de ce divorce: Mon corps et moi, et, plongeant tête première dans le gouffre que creusent chacun de ces pôles tirant à lui toute la couverture, j’aurai, par le moyen qui avait toutes les chances d’entériner le mieux leur séparation, par celui-là justement, écrire, tenté inlassablement de les réconcilier – tâche infinie. J’écris: quel est ce corps qui me fait face, s’anime, se fige, ne cesse de me faire face? ce miroir, séparé de moi où je suis seul à ne pas me reconnaître, et on aura beau dire: mais si regardez, regardez-vous en face, je persisterai à nier. […] Allées-venues, de l’un à l’autre, entre mon corps et moi, l’écriture fait la navette, n’habitant aucun…“ (Crevel 1991, 11f.).

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Abgesehen von der Tatsache, dass Crevel hier das Phänomen der Selbst(v)erkennung im Spiegelbild lange vor Lacan formuliert, frappiert auch die Rolle, die dem Schreiben als remedium gegen eine unhintergehbare Spaltung des Ich zugewiesen wird. Bedenken wir auch, dass diesen Text jemand geschrieben hat, der zum Körper und seinen Lüsten eine ausgesprochen positive Einstellung hat, jemand, den die Krankheit immer wieder aus dem Reich der Lüste vertreibt und an den Aufgaben hindert, die er sich selbst gestellt hat: zu schreiben und politisch zu intervenieren, letzteres besonders in den politisch düsteren Jahren ab 1933. In seinem Artikel „Mort, maladie et écriture“, der in der Zeitschrift Le Surréalisme au service de la révolution erschienen ist, liest man: „Wenn ich mich bemühte, die Tuberkulose, mit der mich die Natur, diese gute Mutter, bedacht hat, auszuheilen, so geschah das ausschließlich zu dem Zweck, um in voller Freiheit und nicht nur aus schlechten Gründen, persönlichen Gründen, gewisse Menschen und Dinge hassen zu können.“33 Die Selbstdarstellung als rebellischer Kranker gehört zu den Mitteln der Selbstinszenierung, die Crevel nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch gegenüber seinen verschiedenen Freundeskreisen einsetzt; sie bestimmt einen guten Teil seiner Korrespondenz sowie auch das Bild, das sich seine Freunde und Freundinnen von ihm machen: „He was young and violent and ill and revolutionary and sweet and tender“, liest man in der Autobiography of Alice B. Toklas,34 in der Crevels Besuche in der Rue de Fleurus bei Gertrude Stein und Alice Toklas sehr freundlich dargestellt werden. Mopsa Sternheim, die an Crevels Krankenbett eilt, als dieser sich in Lausanne einem der zahlreichen chirurgischen Eingriffe unterzieht, die er auf sich nehmen musste, schreibt an den gemeinsamen Freund Marc Allegret: „Ich komme gerade von Lausanne, wo ich wegen seiner Operation bei René war. Ich habe zwei Monate bei ihm verbracht. […] Obwohl er die ganze Zeit das Bett hüten musste, war es eine wunderbare Zeit.“35 Neben diesen Strategien der Selbstinszenierung, die Crevels verschiedenen Freundeskreisen gelten, nimmt der Schriftsteller auch an zahlreichen

33

Le Surréalisme au service de la révolution, n°1, 1933, 4.

34

Stein 1960, 237.

35

„Je rentre de Lausanne où j’étais avec René pendant son opération. J’étais deux mois avec lui. […] Malgré que René était tout le temps couché c’était un temps adorable.“ Crevel 1997, 107.

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Inszenierungen der Surrealisten als Gruppe teil. Er hat viele der Manifeste und politischen Interventionen unterzeichnet, letztere auch häufig konzipiert, vor allem in den 1930er Jahren. In einem politischen Klima, in dem ein Autor wie (der postsurrealistische, zum orthodoxen Marxismus konvertierte) Louis Aragon wegen seines Gedichts Front Rouge sich die Verfolgung der Gerichtsbarkeit zugezogen hat, war das durchaus riskant und mit ein Grund dafür, warum Crevel in seinen letzten Lebensjahren Schwierigkeiten hatte, einen Verleger für seine Schriften zu finden.

E INE

LITERARISCHE

S ELBSTDARSTELLUNG

Selbstinszenierung kann unter anderem auch über Paratexte erfolgen. Der kurze Text „Autobiographie“, den Crevel als Werbetext für Mon corps et moi (1925) redigiert hat, begleitet heute alle bisher erschienen Bände der Neuausgabe seiner Schriften im Toulouser Verlag Éditions Ombres. Der Text ist ein Paradebeispiel für die avantgardistische Selbstdarstellung, die zwischen Parodie, antibourgeoiser Provokation und intentionaler Unterminierung logischer Argumentationsketten oszilliert. Er sei hier zumindest auszugsweise zitiert: Geboren am 19. August 1900 in Paris als Kind Pariser Eltern, was ihm erlaubte, wie ein Slawe auszusehen. Gymnasium, Sorbonne, juristische Fakultät, Militärdienst bis Ende 1923, daher der Eindruck, erst wenige Monate wirklich zu leben. Ist nie nach Tibet oder Grönland gereist, nicht einmal nach Amerika, doch die Reisen, die an der Oberfläche nicht stattfanden, wurden in der Tiefendimension versucht. Kann sich daher rühmen, einige Straßen und ihre Hotels bei Tag und bei Nacht zu kennen. […] Hatte Forschungsarbeiten für eine literaturwissenschaftliche Dissertation über Diderot als Romanautor begonnen, als er, gemeinsam mit Marcel Arland, Jacques Baron, Georges Limbour, Max Morise und Roger Vitrac eine Zeitschrift – Aventure – gründete, die ihn das 18. Jahrhundert über dem 20. vergessen ließ. […] 36

36

„Né le 19 août à Paris de parents parisiens, ce qui lui permit d’avoir l’air slave. Lycée, Sorbonne, faculté de droit, service militaire jusqu’à la fin de 1923, d’où l’impression de ne vivre vraiment que depuis peu de mois. N’est allé ni au Tibet, ni au Groenland, ni même en Amérique, mais les voyages qui n’ont pas eu lieu en surface, on a tenté de les faire en profondeur. Ainsi peut se vanter de bien

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Zwei kurze Anmerkungen zu diesem Selbstporträt des Autors als junger Mann: Die Reise nach Amerika ist, wohl unter dem Einfluss seiner Beziehung zu Eugene Mac Cown, in Wahrheit ein lang gehegter Wunsch Crevels; sie kommt, obschon mehrfach ins Auge gefasst, aus Geldmangel sowie aufgrund des labilen Gesundheitszustandes nie zustande. Diderot hingegen, der subversive Diderot des Rêve de D’Alembert, begleitet Crevel in Gedanken weiterhin, wovon sein Pamphlet Le Clavecin de Diderot (1932) ein beredtes Zeugnis ablegt.37 Neben Texten wie diesem, die Selbstinszenierung mit den Mitteln literarischer Schreibweise betreiben, stehen andere Verfahren, die sich des Mediums Bild – in Form der Zeichnung, des Porträts oder der Fotographie – bedienen und die bekanntlich für die Surrealisten von hoher Wichtigkeit waren.

V ISUELLE (S ELBST -)I NSZENIERUNGEN MULTIPLER I DENTITÄT Eine beliebte Form der Gruppeninszenierung war die kollektive Selbstdarstellung auf Fotografien und Gemälden. So findet man Crevel zum Beispiel auf der Fotomontage, die in der ersten Nummer der Zeitschrift Révolution surréaliste (Nr. 1, Dezember 1924) abgedruckt ist, wobei die Porträtfotos der Surrealisten das Bild von Germaine Berton rahmen, einer Anarchistin, die als Attentäterin und Mörderin die Bewunderung der Surrealisten errungen hatte: ein starkes politisches Statement einer Gruppe, deren diffuse politische Sympathien zu diesem frühen Zeitpunkt den Anarchisten galten. Manche der Fotos, die Crevel mit der Gruppe oder mit einzelnen Mitgliedern der Gruppe zeigen, stammen von Man Ray; nicht selten sieht man Crevel in einer seitlichen oder halbversteckten Position, was wohl seine immer ein wenig marginale Stellung zur Gruppe zum Ausdruck bringt: er steht entweder als letzter

connaître certaines rues et leurs hôtels jour et nuit. […] Avait commencé des recherches pour une thèse de doctorat ès lettres sur Diderot romancier, quand, avec Marcel Arland, Jacques Baron, Georges Limbour, Max Morise, Roger Vitrac, il fonda une revue, Aventure, qui lui valut d’oublier le XVIIIe siècle pour le XXe. […]“ Crevel 2007, 89. 37

Heute in: Crevel 1986, 159-264.

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in einer Reihe am Bildrand oder halb verdeckt in der zweiten Reihe. Das gilt auch für manche Gemälde. Interessant ist ein Gruppenporträt von Max Ernst, Le rendez-vous des amis von 1922, auf dem die Surrealisten in der Gesellschaft von Dostojewski, Jean Paulhan und dem Renaissance-Maler Raffael dargestellt werden, wobei die Bildinszenierung sehr deutlich zum Ausdruck bringt, wer zentral und wer marginal ist. Zentral ist Breton mit seiner ausladenden Geste, die die Aufmerksamkeit der Betrachter sofort auf sich zieht, und marginal sind die beiden Figuren rechts und links am Bildrand, die den Betrachtern den Rücken zukehren. Rechts sieht man Gala Eluard, sie verkörpert die Position, die Frauen im Surrealismus, jedenfalls in seiner ersten Phase, zukam: die der Muse (und Ehefrau). Immerhin blickt sie über ihre rechte Schulter zu dem imaginären Punkt, den der Maler und mit ihm die Betrachter einnehmen. Links hingegen sieht man René Crevel, von der Gruppe und den Betrachtern gänzlich abgewendet, er scheint in sitzender Haltung in der Luft zu schweben und sich mit einem Puppentheater zu beschäftigen. Gewiss, Crevel war 1922 noch sehr jung und gerade erst mit den Begründern des Surrealismus bekannt geworden. Dennoch aber ist diese auffällig marginale Positionierung doch ein Bildsignal, das sich in nicht wenigen der Gruppenfotos und anderen bildlichen Darstellungen fortsetzt. Interessant in diesem Zusammenhang ist Max Ernsts remake des Bildes von 1922, diesmal als Collage mit dem Titel Au rendez-vous des amis, erschienen in der vierten Nummer von Le Surréalisme au service de la révolution (1931): Während sich die meisten Dargestellten in der linken unteren Bildhälfte drängen, hängt Crevel rechts oben als „Porträt“ an einer fiktiven Wand. Es gibt aber auch künstlerische Darstellungen, die ausschließlich Crevel gelten. Jacques-Emile Blanche, ein 1861 geborener Maler, hat Crevel ein Porträt gewidmet, das heute im Musée Carnavalet in Paris hängt und auf dem er ein wenig wie ein Dichter des 19. Jahrhunderts aussieht, was wohl mehr mit der künstlerischen Sozialisierung dieses Malers als mit der Person des Porträtierten zusammenhängt. Innerhalb der Gruppe von ausschließlich Crevel gewidmeten künstlerischen Darstellungen sticht eine kleine Reihe hervor, die ich bemerkenswert finde, weil sie Crevel als Persönlichkeit mit multipler Identität ins Bild setzt und ihm auf diese Weise sehr gerecht wird. Ich kann nicht angeben, woher die ursprüngliche Bildidee stammt; jedenfalls habe ich bisher drei bildliche Darstellungen gefunden, die alle derselben Bildidee gehorchen.

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Die erste stammt von Eugene Mac Cown, seinem zeitweiligen Lebensund Liebespartner; es handelt sich um eine Zeichnung, die für den Buchumschlag von Crevels erster Monographie Détours konzipiert wurde.

Abb. 1: Eugene Mac Cown, Titelillustration, 1924 Wir sehen den 24-Jährigen einmal im Dreiviertelprofil im Vordergrund und, etwas kleiner, zweimal im Profil im Hintergrund. Von Vorder- und Hintergrund kann man sprechen, weil die beiden kleineren Figurinen durch ihre Proportion in den Bildhintergrund gerückt scheinen; zugleich erinnern sie ein bisschen an katholisch inspirierte Darstellungen von schwebenden Engeln, die beschützend auf die Figur im Vordergrund herabblicken. Jedenfalls hat sich der Autor des Buches gleichsam verdreifacht: Es gibt drei Versionen von ihm – und wer will entscheiden, welche die ‚richtige‘ ist? Derselben Bildidee folgt der russische Maler Pavel Tchelitchev, der 1923 als junger Mann nach Paris gekommen war und mit dem Crevel ebenso

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befreundet war wie mit dessen junger Schwester Choura Tchelitchev, die so wie er an Tuberkulose litt und der er vielleicht die berührendsten Briefe über seine Krankheitszustände geschrieben hat. Pavel Tchelitchevs Porträt von Crevel befand sich ursprünglich in Gertrude Steins Sammlung und wurde jüngst in der Ausstellung Matisse Cézanne Picasso. L’Aventure des Stein im Pariser Grand Palais gezeigt; es ist in seiner Konstruktion auch der konstruktivistischen und futuristischen Ausbildung des Malers verpflichtet. Das Ölgemälde entstand um 1925, also etwa ein Jahr nach der Publikation von Détours mit Mac Cowns Titelzeichnung.

Abb. 2: Pavel Tchelitchev, Trois têtes (Portrait de René Crevel), um 1925 Wieder sehen wir Crevel in drei Versionen: im Vordergrund, was wohl am auffälligsten ist, von hinten, ein lockiger Hinterkopf, und in zwei weiteren

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Versionen, die farblich immer heller werden, einmal im Profil und einmal im Dreiviertelprofil, wie bei Mac Cown. Der Blick der Betrachter fällt so gleichsam ins Bild hinein und wird zu den fruchtähnlichen Lippen der beiden helleren Versionen gelenkt, die sich berühren oder nahezu berühren, wodurch Crevel sich selbst zu küssen scheint. Der Gesichtsausdruck, der bei Mac Cown ernst war, ist hier fast finster zu nennen. Der Kontrast zwischen der Beinahe-Berührung der sinnlichen Lippen und dem finsteren Blick trägt zur Faszination dieses Bildes bei: drei Versionen desselben Individuums, narzisstisch ineinander verliebt, selbstbezüglich und die Betrachter abweisend. Mac Cowns Zeichnung und Tchelitchevs Gemälde hat Crevel ausdrücklich begrüßt. Die dritte Fassung derselben Bildidee stammt allerdings aus einem 1954 – also Jahre nach Crevels Tod – erschienenen Band der Zeitschrift Temps mêlés, der Künstler ist Michel Siméon, ein vom Surrealismus beeinflusster Zeichner, Buchillustrator und Maler. Ob seine Porträtzeichnung in Kenntnis der beiden vorangehenden Dreifachporträts entstanden ist, lässt sich vermuten, ich kann es jedoch nicht mit Sicherheit angeben.

Abb. 3: Michel Siméon, René Crevel, 1954

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Hier sieht man einen Kopf, aus dem hintereinander zwei Gesichter heraus zu brechen scheinen, die unverwechselbar Crevels Gesichtszüge tragen. Im Hintergrund erscheint derselbe Kopf ein weiteres Mal, wenn auch viel kleiner, als ob er aus einer Rauchsäule heraus treten würde, die sich über dem Haarschopf des großen Kopfes erhebt und in drei kleinen Sternchen am oberen Bildrand endet – vielleicht eine Reminiszenz an die Engels-Assoziation, die Crevel gelegentlich ausgelöst hat, bei Marie Laurencin und auch bei Salvador Dalí. Der Blick ist wieder ernst und in sich gekehrt, wie bei Mac Cowns Darstellung. Vier Köpfe, drei Gesichter, das kleine davon wie als Vorstellung der großen konzipiert: multiple Identität und selbstbezogene Nachdenklichkeit auch hier. Die drei Darstellungen, die Crevel als facettenreiche Persönlichkeit multipler Identitäten zeigen, kann man als Hinweis deuten, dass die Selbstinszenierung des Autors bei manchen seiner Zeitgenossen durchaus erfolgreich war, dass diese seine komplexe (Künstler-) Persönlichkeit wahrgenommen und vielfach gerade in ihrer Komplexität geschätzt haben: Surrealist, aber auch Romanautor; Homosexueller, aber auch der Mann, der Mopsa Sternheim auch dann noch liebte, als sie sich neuen Partnern zugewandt hatte; Bürgerschreck und Provokateur, aber auch Society-Löwe, der mit dem Comte und der Comtesse de Noailles und anderen Größen der Pariser Gesellschaft seiner Zeit Umgang pflegte; ein großer und großzügiger Freund vieler Menschen, der dennoch konstant am Gefühl seiner Einsamkeit litt. Der Mensch, der mit knapp 35 Jahren seinen Freitod so bewerkstelligt hat, wie er ihn in seinem ersten Buch mit 24 Jahren imaginiert hat.

B IBLIOGRAPHIE Alexandre, Maxime 1968. Mémoires d’un surréaliste. Paris (Éditions de la Jeune Parque). Alexandrian, Sarane 1974. Le surréalisme et le rêve. Préface de J.-P. Pontalis. Paris (Gallimard). Archives du surréalisme 4. Recherches sur la sexualité. Janvier 1928 – août 1932. Présenté et annoté par José Pierre. Paris (Gallimard). Bandier, Norbert 1999. Sociologie du surréalisme. Paris (La Dispute). Bell Rochester, Myrna 1978. René Crevel. Le pays des miroirs absolus. Saratoga, CA (Anma Libri: Stanford French and Italian Studies).

BIRGIT WAGNER | 103

Bourdieu, Pierre 2001 [1992]. Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt am Main (Suhrkamp). Breton, André 1979. Manifestes du surréalisme. Édition complète. Paris (Pauvert). Breton, André 1964. Nadja. Édition entièrement revue par l’auteur. Paris (Gallimard folio). Bürger, Peter 1987 [1974]. Theorie der Avantgarde. Mit einem Nachwort zur 2. Auflage. Frankfurt am Main (Suhrkamp). Carassou, Michel 1989. René Crevel. Paris (Fayard). Courtot, Claude 1969. René Crevel. Poètes d’aujourd’hui 198. Paris (Seghers). Crevel, René 1986. L’esprit contre la raison et autres écrits surréalistes. Préface de Annie Le Brun. Paris (Pauvert). Crevel, René 1991. Mon corps et moi. Roman. Paris (Le Livre de Poche). Crevel, René 1997. Lettres à Mopsa. Textes établis et présentés par Michel Carassou. Paris (Paris Méditerranée). Crevel, René 2000. Correspondance de René Crevel à Gertrude Stein. Traduction, présentation et annotation par Jean-Michel Devésa. Paris (L’Harmattan). Crevel, René 2007. Détours. Roman. Toulouse (Éditions Ombres). Crevel, René 2007. La Mort difficile. Roman. Toulouse (Éditions Ombres). Cunard, Nancy 1970. Negro. An Anthology. Edited and abridged by Hugh Ford. New York (Frederick Ungar). Dalí, Salvador 1974. „Préface“. In: René Crevel, La Mort difficile. Roman. Paris (Jean-Jacques Pauvert), 9-20. Devésa, Jean-Michel 1993. René Crevel et le roman. Amsterdam (Rodopi). Laferl, Christopher F./Tippner, Anja 2011. „Vorwort“. In: dies. (Hg.). Leben als Kunstwerk. Künstlerbiographien im 20. Jahrhundert. Von Alma Mahler und Jean Cocteau zu Thomas Bernhard und Madonna. Bielefeld (transcript), 7-28. Nadeau, Maurice 1958. Histoire du Surréalisme. Documents surréalistes. Paris (Club des Éditeurs). La Révoluton surréaliste 1975. Nachdruck. Paris (Éditions Jean-Michel Place). Sintenis, Renée 1930. Renée Sintenis von René Crevel und Georg Biermann. Berlin (Klinkhardt und Biermann).

104 | RENÉ CREVEL: SELBSTINSZENIERUNG EINES SURREALISTEN

Sontag, Susan 1982. „Anmerkungen zu ‚Camp‘“. In: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. Aus dem Amerikanischen von Mark W. Rien. Frankfurt am Main (Fischer), 322-341. Sontag, Susan 1987. Krankheit als Metapher. Aus dem Amerikanischen von Caroline Neubaur. Frankfurt am Main (Fischer). Stein, Gertrude 1960. The Autobiography of Alice B. Toklas. New York (Vintage Books). Le Surréalisme au service de la révolution 1976. Nachdruck. Paris (Éditions Jean-Michel Place). Wagner, Birgit 2010. „Topography of a City of Differences: René Crevels La Mort difficile (1926)“. In: Mettinger, Elke/Rubik, Margarete/Türschmann, Jörg (Hg.). Rive Gauche. Paris as a Site of Avant-Garde Art and Cultural Exchange in the 1920s. Amsterdam/New York (Rodopi), 145-160. Wagner, Birgit 2012. „L’économie de la poésie. Un an de publicités dans La Révolution surréaliste“. In: Myriam Boucharenc/Claude Leroy (Hg.). L’année 1925. L’esprit d’une époque. Paris (Presses Universitaires de Paris Ouest), 135-148.

ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abb. 1: Eugene Mac Cown, Titelillustration für René Crevels Roman Détours (1924), in: Courtot, Claude 1969. René Crevel. Paris (Seghers, Reihe „Poètes d’aujourd’hui“), 88. Abb. 2: Pavel Tchelitchev, Trois têtes (Portrait de René Crevel), um 1925, in: Loth, Valérie 2011. Matisse Cézanne Picasso. L’Aventure des Stein. Album de l’exposition. Paris (Éditions de la Réunion des Musées Nationaux – Grand Palais), 31. Abb. 3: Michel Siméon, René Crevel, in: Courtot, René Crevel, 24 (zuerst in: Temps mêlés. N°10-11, René Crevel. Textes réunis et présentés par Jean-Jacques Lévêque. 1954).

Autorinszenierung und Erzählung des Selbst bei dem uruguayischen Autor Felisberto Hernández AGUSTÍN CORTI

E INLEITUNG Die Kontinuität zwischen einem literarischen Werk und dem Autor wirft eine Reihe komplexer Fragen auf, die bisher unterschiedlich analysiert und beantwortet wurden. Setzte man das gelebte Leben eines Autors mit seinem Werk in Bezug, wurde man gleich der Naivität verdächtigt. Die Kritik an der modernen Subjektivität und die daraus folgende Verabschiedung des Autors und der Berechtigung, sich seiner Biographie theoretisch zu widmen, konnte jedoch das neu aufkommende Interesse für die Biographie und die Selbstinszenierung des Autors nicht bremsen.1 Freilich kann die "Rückkehr des Autors" nicht den früheren Annahmen über Autor und Werk bzw. über deren Beziehungen verpflichtet sein. Allerdings hat auch die neuere Forschung weder Klarheit noch Einigkeit darüber erlangt, wie die Diskursverschiebungen aussehen sollten, die es uns heute erlauben, über den Autor und seine Biographie zu reden. Selbst die Theorie der Biographie bleibt trotz der großen Aufmerksamkeit, die sie in den letzten Jahren diesem Problem gewidmet hat, diffus.2 Eine Beschäftigung mit der Problematik kommt demnach nicht umhin, die Konfiguration bestimmter literarischer Werke auf das Problem der

1

Laferl/Tippner (Hg.) 2011; Fetz (Hg.) 2009; Klein (Hg.) 2009.

2

Klein 2002; Jannidis u. a. (Hg.) 1999; Jannidis u. a. (Hg.) 2000.

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Biographik und des Autors hin zu befragen – ein Weg, der in diesem Beitrag anhand zweier Werke des uruguayischen Schriftstellers Felisberto Hernández eingeschlagen wird. Die Tatsache, dass es unzählige Schriftstellerbiographien gibt, die stets auch den Schreibprozess thematisieren, macht deutlich, dass die Suche nach dem Zusammenhang von Leben und Werk ein weit verbreitetes Bedürfnis darstellt. Die Person eines Autors wird in der Regel durch sein Werk interessant. Dagegen können zwei Einwände vorgebracht werden: Zum einen stellt das Paradoxon von Autoren, die biographisch tauglich sind, aber über kein nennenswertes Werk verfügen, welches das Interesse des Publikums rechtfertigt, diese Grundannahme in Frage. Der Erzähler im Buch des katalanischen Schriftstellers Enrique Vila-Matas Bartleby y compañía beschreibt z. B. in seinem Tagebuch die Figur Roberto Bazlens, der eine SchriftstellerBiographie besitzt, aber in seinem ganzen Leben kein einziges fiktionales Buch veröffentlicht hat.3 Hier wird über die Figur Bazlens als potenzieller Schriftsteller, der nicht schreibt, weil seine Ansprüche zu hoch sind, reflektiert. Die Selbstinszenierung als anspruchsvoller Autor macht ihn zu einem Akteur im literarischen Feld. Selbst wenn er im italienischen Verlag Adelphi tätig war, was ihn als Akteur im literarischen Feld ausweisen könnte, beruht das Paradoxon auf der Tatsache, dass er eine literarische Biographie besitzt, ohne ein fiktionales Werk geschrieben zu haben.4 Die Kontinuität von Werk und Autor scheint in diesem Sinne nicht mehr selbstverständlich. Der zweite Einwand bezieht sich auf die Beständigkeit von biographischen Modellen, die die Darstellung der realen Person bestimmen. Sind die biographischen Parameter nämlich ausschließlich der Tradition verpflichtet, kann das Leben

3

Vila-Matas 2000, 31. Bartleby y compañía erzählt über Vertreter einer Literatur der Verweigerung, d. h. über Schriftsteller, die nicht mehr schreiben können oder wollen. Es sei am Rande angemerkt, dass dieses Werk Vila-Matas mit der vagen Abgrenzung von Fiktion und Realität spielt.

4

Der Erzähler erwähnt in seinem Kommentar das Buch von Daniele Del Giudice Lo stadio di Wimbledon, in dem nach der Entscheidung Bazlens, nichts zu veröffentlichen, gefragt wird. Genette 1997, 39 weist auf diesen generischen Fall hin: „First, the author may be famous for extraliterary reasons, before he has published anything whatsoever. Second, magical thinking (act as if it were so, and you´ll make it happen) occasionally leads the publisher to engage in promotional practices that somewhat anticipate glory by mimicking its effects.“

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einer bestimmten Person nur bedingt die referenzielle Basis für eine Biographie ausmachen. Wie Kris und Kurz schon vor langer Zeit exemplarisch gezeigt haben, stellen gerade Künstlerbilder erzählerische Konstanten dar. Diese Tendenz spitzt sich am globalisierten Markt noch zu.5 Die genannten Einwände müssen berücksichtigt werden, will man die Beziehung zwischen Werk und Autor herausarbeiten, ohne der Trivialität zu verfallen. Nur so kann der Autor eine Biographie haben, die zugleich einen Bezug zum Werk ausweisen kann. Deshalb können Werke, für die ein besonderer Konnex zwischen Autor und Erzähler suggeriert wird bzw. tatsächlich vorhanden ist, in diesem Zusammenhang helfen, Klarheit zu schaffen. Hinsichtlich dieses Punktes bieten sich zunächst die Begriffe von Narrativität und Performativität an. Während der Begriff der Narrativität die Fiktion und die Darstellung des Geschehens auf eine gleiche Ebene stellt,6 bezieht sich der Begriff der Performativität auf die sinnstiftende Rolle des Lebensvollzugs.7 Dass ein Autor sich als Erzähler und Protagonist im Werk präsentiert, konstituiert zugleich den Autor selbst sowie das Werk. Das Selbst, das sich im Werk narrativ vollzieht, wird in dieser komplexen Ebenen-Staffelung vorausgesetzt. Es ist in autofiktionalen Werken präsent und bestimmt folglich die Funktion des Autors.8 Deshalb kann eine Klärung der Funktion des Selbst in Bezug auf die Biographie und das Werk für die Diskussion des Bezugs zwischen Autor und Werk hilfreich sein. Texte, in denen sich der Autor als autodiegetischer Erzähler zeigt, bieten sich als klarer Ausgangspunkt an, da sie das Geflecht zwischen gelebtem Leben und Erzählung – fiktional oder nicht – zum Thema haben.9 Biographie als Erzählung des Lebens eines Anderen sowie Autobiographie als Erzählung des eigenen Lebens beruhen auf der Basis einer gleichen Selbsterfahrung, die performativ immer mehr als diese Erzählung sein wird und aus unterschiedlichen Perspektiven erfasst

5

Kris/Kurz 1995.

6

White 1986. Vgl. auch Mink 1969.

7

Kolesch 2009 zur Performativität in Bezug auf die Biographie.

8

Foucault 1994, Alberca 2005.

9

Die aktuelle Literaturkritik ist sich nicht einig bezüglich der Grenzen zwischen Autobiographie und Autofiktion; manchmal wird einigen autorzentrierten Texten ein hybrider Status zuerkannt. Die vorliegende Arbeit möchte einen Beitrag zu genau dieser Diskussion darstellen. Vgl. dazu Toro/Schlickers/Luengo 2010, Alberca 2007, Holdenried 2000, 19f. und 267f. und Molloy 1991, 1f.

108 | AUTORINSZENIERUNG UND ERZÄHLUNG DES SELBST: FELISBERTO HERNÁNDEZ

werden kann, nämlich aus der ersten oder dritten Person. Wenn die Ebene der Narrativität keine Abgrenzung zu ermöglichen scheint, kann die Einbindung der Ebene des Selbstvollzugs hilfreich sein. Die Grenzen oder Darstellungsmöglichkeiten, die der Narrativität gesetzt sind, hängen stark von der Auffassung des Selbst, die man voraussetzt, ab. Somit kann eine Integration des Selbst in diesem Kontext ebenso die Funktion des Autors klären. In diesem Beitrag möchte ich deshalb die genannte Problematik bezüglich der Strategien von Selbstkonstitution und Selbstinszenierung in zwei Werken Felisberto Hernándezs ausloten. Die Begründung meiner Werkauswahl liegt in der Problematisierung der Erinnerung und der Möglichkeit ihres Ausdrucks sowie des konstitutiven Charakters der Erzählung für das Selbst in beiden Werken. Ich werde darstellen, wie in ihnen die Gewissheit des Erzählers und der Erzählbarkeit der Erinnerungen in Frage gestellt werden, um kardinale Fragen nach den Bedingungen des (auto)biographischen Schreibens zu stellen. Die folgenden Überlegungen gliedern sich demgemäß in vier Abschnitte. Zuerst werde ich den Strategien der Erzählbarkeit des Selbst in Diario del sinvergüenza (Tagebuch eines Lumpen) und dann der Erinnerung in El caballo perdido (Das verlorene Pferd) von Hernández’ nachgehen. Danach werde ich die gewonnenen Einsichten mit dem narrativen Charakter des Selbst in Verbindung bringen. Zuletzt werde ich in diesem Zusammenhang über die biographischen Übertragungen im Beziehungsgeflecht zwischen Werk und Autor im Fall Hernández’ reflektieren.

E RZÄHLUNG

DER

Z ERRISSENHEIT

Die Konstitution des Selbst kommt im Werk Felisberto Hernández’ wiederholt vor. Das Thema wird auf unterschiedliche Weise und in vielfältigen Kontexten behandelt, aber meistens in Verbindung mit dem Akt des Erzählens. Um diese Reflexion kreisen außerdem die Erinnerung und die Präsenz der Erinnerung und ihres öffentlichen Charakters.10 Eine besondere Rolle

10

Rivas Cortés 2010, Rosario-Andújar 2000.

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spielen der Text Diario del sinvergüenza, geschrieben um 1957, und die Erzählung El caballo perdido von 1943.11 Bei dem ersten Werk handelt es sich um einen unvollendeten und erst posthum veröffentlichten kurzen Text in Form eines Tagebuches. Es beginnt folgendermaßen: Eines Nachts entdeckt der Autor dieser Arbeit, daß sein Körper, den er „Lump“ nennt, nicht seiner ist; daß außerdem seine Kopfpartie, „sie“ benannt, ein Eigenleben führt: fast immer ist sie voller fremder Gedanken und pflegt sich mit dem Lumpen und wem auch immer zu verbünden. Seitdem sucht der Autor sein wahres Ich und notiert seine Abenteuer.12

Von Anfang an wird demnach eine komplexe Verbindung zwischen unterschiedlichen Elementen festgestellt, die das Selbst ausmachen. Zuerst wird eine Dissoziation des Körpers (des „Lumpens“) und des Psychischen festgestellt. Der Erzähler, der Autor des Tagebuches, beabsichtigt ein Tagebuch dieser Erlebnisse zu verfassen, um sich sein eigenes Selbst anzueignen. So wird also vom Erzähler ein erster Bruch gezeigt, da er sich wie ein externer Betrachter fühlt. Und er kann darüber hinaus diesen Körper nicht beherrschen. Innerhalb des aufgespaltenen Körpers verselbständigt sich auch die Kopfpartie („sie“). Sie, die Kopfpartie, führt den Körper mit „fremden Gedanken“, mit Gedanken, die der Welt gehören. Innerhalb des Werkes können die fremden Gedanken mit der gegebenen Bedeutung der Öffentlichkeit gleichgesetzt werden. Einerseits sind diese Gedanken fremd, weil sie einer

11

Hier werde ich nicht der Werkchronologie folgen. Ein anderes Werk, das in diesem Kontext oft behandelt wird, Tierras de la memoria, wird hier ausgespart. Vgl. dazu Blixen 2011 und Saer 1997. Die vorliegenden Überlegungen zielen nicht darauf ab, eine gültige Interpretation von Hernándezs Gesamtwerk zu liefern.

12

Hernández 2006, 363. Im Folgenden werden die Übersetzung aus dem Jahr 2006 und die Originalversion in der Werkausgabe (1983) benützt. Der Originaltext lautet: „Una noche el autor descubre que su cuerpo, al cual llama ‘el sinvergüenza’, no es de él; que su cabeza, a quien llama “ella“, lleva, además, una vida aparte: casi siempre está llena de pensamientos ajenos y suele entenderse con el sinvergüenza y con cualquiera. Desde entonces el autor busca su verdadero yo y escribe sus aventuras.“ (III, 245-6).

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gemeinsamen Sprache ausgesetzt sind, ohne die sie nicht ausgedrückt werden bzw. existieren können. Und andererseits charakterisieren sie sich inhaltlich durch vorgeschriebene Kategorien, die mit dem, was von jemandem erwartet wird, gleichgesetzt werden. Diese Feststellung wird zuerst als eine Art Selbstentfremdung erfahren und dementsprechend als negativ herabgesetzt. Das Schreiben des Tagebuchs ist so gesehen eine Rettungshandlung des Körpers, welcher das Gefühl hat, das Ich sei im Besitz eines Anderen: Wenn der Körper nun die Handlungen tätigt, als ob sie dem Selbst gehören würden, wird darüber hinaus auch das Selbst modifiziert: Ich entdeckte, daß mein Körper bereits seit vielen Jahren fremd geworden war. Er hatte in meinem Namen gedacht und geschrieben, und jetzt hat sogar mein eigener Name eine andere Bedeutung und scheint zu ihm zu gehören, zu diesem Körper, mit dem ich eine so lange Komplizenschaft unterhielt und den ich schließlich den „Lumpen“ getauft habe.13

Dem Eigennamen kann keine Identität zugesprochen werden, denn es existieren unterschiedliche Hindernisse, die sie in Gefahr bringen können. Die diskursive Strategie führt zu einer Sackgasse in einem doppelten Sinn: 1) Einerseits ist die einzige externe Verfügbarkeit unzulänglich, um eine Einheit auszubilden, da der Körper ein Lump ist, d.h. er kann nur unvollständige Aspekte eines Selbst ausmachen und zwar, nur jene, die öffentlich verfügbar – Eigenname, Angewohnheiten, Reaktionen, Sprache – oder wahrnehmbar sind. Für das Selbst sind diese Elemente unzureichend. 2) Andererseits scheint die Suche nach dem Gegenteil unangemessen, d.h. nach der Identität in einem narrativen Subjekt, das intellektuell, psychologisch und individualisiert ist. Denn der unabdingbare Körper befindet sich immer in einem Bereich der gemeinsamen Erfahrung. Die körperliche Präsenz und Handlungen überragen eine vereinheitlichte Selbstauslegung, die den Sinn des Selbst ausschöpfen. Nur aus der Sicht der Unzulänglichkeit einer solchen narrativen

13

Hernández 2006, 364. „Descubrí que mi cuerpo ya había sido ajeno desde hacía muchos años. Él había estado pensando y escribiendo en mi nombre y ahora hasta mi propio nombre tiene otro sentido y parece de él, de este cuerpo con el que fui teniendo tan larga complicidad y al que he terminado por llamarle ‘el sinvergüenza’.“ (III, 247).

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Identität scheint die Frage nach dem Körper als „Lumpen“ dringend. Die Erzählung kann wohl das Selbst in seiner Zerrissenheit konstituieren, aber das Tagebuch wird immer nur ein schräges Bild des Ganzen sein, solange der Körper fremd bleibt. Die doppelte Aporie des Tagebuches lässt sich mit den folgenden Fragen zusammenfassen: Wenn ich über mich selbst in Form eines Tagebuches Rechenschaft ablegen möchte, wie kann ich mich nicht täuschen? Wessen Tagebuch schreibe ich? Bin ich selbst derjenige, der das Tagebuch schreibt? Diario del sinvergüenza erschließt auf diese Art und Weise die gleichen Fragen, mit denen sich eine autobiographische Erzählung auseinanderzusetzen hat. Ein erster Schritt ist in diesem Zusammenhang die Reflektion über die Rolle der Erinnerungen. Diese werden jedoch nicht naiv als etwas Gegebenes angenommen. Der Erzähler lehnt diesbezüglich ab, sich den Erinnerungen hinzugeben, da es auch andere wichtige Dinge zu entdecken gibt14, nämlich das wahre Ich und die Art und Weise, in der das Ich im Körper, in seinem Lumpen, lebt. Wie bereits mehrmals von der Kritik betont, versucht das Werk Hernández’ dementsprechend nicht einfach die Erinnerungen zu vergegenwärtigen. Es beansprucht vielmehr, die Strukturierung eines Selbst in der Erfahrung widerzuspiegeln und dabei verlässt es eine unmittelbare Einstellung gegenüber der Erinnerung und dem Akt des Erinnerns. In dieser Hinsicht ist zu betonen, dass zum einen der Lump eine Art Unabhängigkeit besitzt, zum anderen jedoch, dass das Ich „den Lumpen“ zum Dialog zwingen kann. Die Dissoziation ist nicht absolut. Allerdings kommen Zweifel darüber auf, ob es nicht im Gegenteil der Körper ist, der das Ich zwingt, sich selbst in seinem Körper zu suchen. Der Erzähler positioniert die drei Elemente, das des Lumpens, der Kopfpartie und des Ichs wie in einem Kaleidoskop immer wieder neu. Die Suche („ich würde mir selbst gern irgendwie verständlich werden“15) entweicht in unterschiedlichen, immer unvollständigen Funktionen und Kristallisationen, die das Ich bestimmen. In diesem Punkt sieht man unzweideutig die Verbindung von Hernández’ Werk mit der Tradition des

14

Hernández 2006, 365.

15

Hernández 2006, 376.

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regard intérieur – wie sie Ricoeur genannt hat.16 Die Erzählbarkeit der Erfahrung wird in der Konstitution des Selbst erst ermöglicht und das Erzählte trägt so die Spur des Selbst. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Erzählung nur eine Widerspiegelung der bloßen Erinnerungen ist. Gerade weil Hernández die Komplexität des Zusammenhangs zwischen dem Erzählten und dem Selbst anerkennt, bahnt er den Weg zu einer differenzierteren Darstellung des Erfahrenen. Ich versuche jetzt diesen Zusammenhang näher zu erklären. In einer Notiz zum Manuskript gibt uns Hernández einen Schlüssel zum Verständnis der Kopfpartie, zur Rolle des Kopfes. Dieser sei „eine Hampelmann-Regierung des Körpers“, „ein Barbarenvolk mit Mythen“, die „Herrschaft einer Theorie“. Diese drei Charakterisierungen hängen mit Erfahrungen zusammen, bei denen eine äußerliche Instanz oder ein Inhalt die Bedeutung bestimmt, ohne dass das gesuchte Ich sich selbst zeigen kann – Felisberto Hernández sagt dazu: „das gespenstische Ich, das Ich der Kunst“.17 Hier liegt das ganze Paradoxon des Werkes, denn die Suche hängt von dem Körper und der mit ihm assoziierten gemeinsamen Bedeutung ab. Wenn der Körper jedoch eine fremde Natur besitzt, ist er ein Lump, der seinerseits von einer Kopfpartie regiert wird, die ausschließlich durch weltliche Inhalte bestimmt wird, und ich kann ihm die Ergebnisse der Suche nicht zutrauen und sie stattdessen nur einklammern.18 Das Ich muss mit der Ungewissheit der Aufsplitterung seines Selbst leben, die auch seine Selbstauffassung betrifft. Im Diario del sinvergüenza heißt es des Weiteren, dass die Entfremdung so

16

Ricoeur 2000, 115ff. Die Tradition geht auf Augustins Confessiones zurück, in denen im 10. Buch z. B. steht: “laboro in me ipso: factus sum mihi terra difficultatis, et sudoris nimii“ (Augustinus 1987, 524). Dazu vgl. auch Taylor 1989, 127ff.

17

Die Fußnote wird in der deutschen Übersetzung (Hernández 2006) nicht wiedergegeben: „El ‚yo‘ fantasma. El ‚yo‘ del arte. La cabeza (Gobierno títere de él). La gran traidora. Gobierno de un pueblo bárbaro con “mitos“. Gobierno por una teoría.“ (III, 256).

18

Ich benutze den Begriff „Einklammerung“ in einem weiteren phänomenologischen Sinn; vgl. Husserl 1976, 62ff., z. B.: „Wir greifen nur das Phänomen der ‚Einklammerung‘ oder ‚Ausschaltung‘ heraus, […]. In Beziehung auf jede Thesis können wir und in voller Freiheit diese eigentümliche epoché üben, eine gewisse Urteilsenthaltung“ (Husserl 1976, 64).

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groß werden könne, dass sich das Ich bisweilen auch mit dem Ich des Anderen verwechseln kann. Und so entdeckt der Erzähler auch andere Personen mit der gleichen Dissoziation, die auch ihren eigenen Lumpen haben. Demgemäß ist er „nicht allein in seiner Krankheit“.19 Der Körper stellt in diesem Sinne ein Individualisierungsmerkmal dar, den das Ich nicht haben kann und deshalb als einen Mangel fühlt. Die Aussageinstanz baut ein Netz von Beziehungen zwischen Phänomenen, die unterschiedliche Merkmale einer Dissoziation zu sein scheinen, die dennoch qua Aussage einen Zusammenhalt haben. Da das Ich ablehnt, sich dem Fluss der Erinnerungen hinzugeben und sich in der Vergegenwärtigung der Erinnerungen zu finden, bleibt lediglich diese fragmentarische Konstitution des Selbst in Aussageinstanzen über die Fragmentierung. Dennoch kann das Tagebuch einen Autor haben, der nicht der Schizophrenie ausgeliefert ist, denn er konstituiert sich in den Aussageinstanzen. Die Einheit der Aussageinstanz löst dennoch die Zerrissenheit nicht auf, sie macht sich lediglich als Selbstinstanz sichtbar.

I NSZENIERTES S ELBST Das zweite Werk, das im vorliegenden Aufsatz behandelt werden soll, El caballo perdido, beinhaltet eine Reflexion über das Geflecht der Erinnerungen und die Vielschichtigkeit ihrer Präsenz in Bezug auf die Konstitution des Selbst. Nach der Darstellung von Kindheitserinnerungen an die Klavierlehrerin des Erzählers, Celina, setzt es mit einer Reflexion über diese Erinnerung ein. Das autodiegetische Erzählen bildet zuerst die Verflechtung der Erinnerungen an die Unterrichtsstunden in Celinas Haus. Der Erzähler beschreibt seinen besonderen Bezug zu den Objekten in der Wohnung seiner Klavierlehrerin, die seine sexuellen Impulse ihr gegenüber widerspiegeln. Nachdem er am Anfang diese Kindheitserinnerungen ins Gedächtnis zurückgerufen hat, stellt der Erzähler etwa in der Mitte des Textes plötzlich fest, er könne seine Geschichte nicht weiter erzählen, weil er sich in den Erinnerungen verloren habe. Die Autodiegese führt dann zu einer Metareflexion über die Erinnerung und den Akt des Erinnerns. Das Erzählen der Vergangenheit berge die Gefahr, die Erinnerungen zu arretieren und in ihnen verloren zu

19

Hernández 2006, 379.

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gehen. Der Erzähler möchte aber die Erinnerung an die Gegenwart heranführen, „mit aller Kraft auf die Gegenwart zurudern“.20 Die Situation wird diesbezüglich aporetisch: Als ich mich dann anschickte, zu eben diesen Erinnerungen zurückzukehren, stieß ich auf viele sonderbare Dinge. Die meisten davon waren nicht damals zu Celinas Zeit geschehen, sondern jetzt, vor kurzem, während ich mich erinnerte, während ich schrieb und sich mir zwischen den damaligen Begebenheiten und denen, die sich seitdem zugetragen haben, in all den Jahren, die ich unterdessen gelebt habe, Verbindungen aufzeigten, die im Dunkeln geblieben waren oder die ich nicht ganz verstanden hatte. […] Deshalb werde ich jetzt zu erzählen versuchen, was mir vor kurzem geschah, während ich mich an diese Vergangenheit erinnerte.21

Was als ein Versuch, die Vergangenheit zu beschreiben, begann, wird zu einer Erzählung des Akts des Erzählens. Gerade aber in der Analyse der Vergegenwärtigung der Erinnerungen findet das Ich der Erzählung einen „Teilhaber“, der sich in mancher Hinsicht zum wahren Erzähler der Erinnerungen entwickelt. Der „Teilhaber“ will aber auch mit diesen Erinnerungen spekulieren oder, wie der Kritiker José Pedro Díaz festgestellt hat, eine Inszenierung, ein Spektakel aus ihnen machen.22 Hier wird die spätere Gleichsetzung des Teilhabers mit der Welt entscheidend: „Da entdeckte ich, daß mein ‚Teilhaber‘ die Welt war.“23 Wie in Diario del sinvergüenza gilt die Bedeutung, die aus der Welt stammt, als der Bereich, in dem sich die Erinnerungen verwandeln und in der sich das Selbst mitkonstituiert. Es handelt sich nicht um ein falsches Selbst, aber die Erfahrung wird durch eine Differenz geprägt, die

20 21

Hernández 2006, 27. Hernández 2006, 28. Originaltexte von El caballo perdido aus Hernández 1983: „Entonces, cuando me dispuse a volver sobre aquellos mismos recuerdos me encontré con muchas cosas extrañas. La mayor parte de ellas no habían ocurrido en aquellos tiempos de Celina, sino ahora, hace poco, mientras recordaba, mientras escribía y mientras me llegaban relaciones oscuras o no comprendidas del todo. […] Por eso es que ahora intentaré relatar lo que me ocurría hace poco tiempo, mientras recordaba aquel pasado.“ (61)

22

Díaz 1986, 16f.

23

Hernández 2006, 48.

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der Quelle der Erinnerung und der Tatsache, dass diese die eigene Erfahrung ist, nicht Rechnung trägt. Die eigene Erfahrung von „x“ und die eigene Erfahrung des Erinnerns von „x“ machen den Inhalt der Erzählung aus; die Erzählung kann jedoch nur eine bestimmte Darstellung der Erinnerung sein, die weder den Vollzug der Erfahrung noch des Erinnerns ausschöpft. Deshalb wird die Frage gestellt: „Aber wie kommt es, daß ich, obwohl ich mich als mich selbst fühle, plötzlich alles anders sehe? Hat mein Teilhaber sich womöglich meine Augen aufgesetzt?“24 Habe ich die Augen der Welt, so kann ich dann nur sehen, was und wie es mir die Welt ermöglicht. Selbst wenn die Metapher der Welt ziemlich umfassend sein mag, bleibt dennoch klar, dass sich das Selbst in der Erinnerung konstituiert und dass sich die Erinnerung erst aus der Selbsterfahrung konstituiert. Danach wird zusätzlich angemerkt, dass selbst die Erinnerungsbilder des Kindes „unvollständig und unzusammenhängend“ seien.25 Selbst eine richtige Auslegung kann die Erinnerung nicht erschöpfend interpretieren, denn die Erfahrung und die Erinnerung der Erfahrung konstituieren einen Vollzug, der beidem immer eine neue Gestalt geben muss. Aber selbst wenn „die jetzigen Augen“ Elemente zur Verfügung haben, die früher verborgen blieben, spießt der Teilhaber diese Elemente wie Schmetterlinge in einem Schaukasten auf.26 Die Elemente der Erfahrung, die der Welt – dem Teilhaber – verfügbar sind, können und werden in Szene gesetzt. Die Inszenierung des Inhaltes kommt seitens des Stellvertreters der Welt. Was dieser Teilhaber nicht in Betracht zieht, liegt in der Natur jener Erinnerungen, die immer perspektivisch erscheinen. Deshalb kann das Spektakel lediglich ein Teil dessen sein, was ein Selbst ausmacht. Es wird aber möglich, da es auf der gleichen Erfahrung beruht, aus der die Erinnerung besteht. Und obwohl der Erzähler den Erinnerungen Befehle erteilt, „verrichteten [sie] […] ihre Mission in einem verdächtigen Schweigen“27. Das Ich kann sie nicht beliebig steuern, denn sie sind öffentlich. Deshalb vergleicht sich der Erzähler mit einem führerlos herumirrenden Pferd, das einen Karren hinter sich herzieht, den jeder

24

Hernández 2006, 34. “Pero ¿por qué es que yo, sintiéndome yo mismo, veo de pronto todo distinto? ¿Será que mi socio se pone mis ojos?“ (65).

25

Hernández 2006, 34-35.

26

Ebenda.

27

Hernández 2006, 40.

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mit Dingen beladen kann.28 Aus einer Selbsterfahrung können demzufolge einer jeden Person Bedeutungen zugeteilt werden, die nicht abgesprochen werden können aufgrund einer privilegierten Sicht, die das Selbst für sich beanspruchen könnte. Die Prädikate können in der Auslegung verhandelt werden, aber nicht als wahr oder falsch aufgrund einer privilegierten Sicht – sei es der ersten oder der dritten Person – bestimmt werden. Die Perspektive entscheidet nicht über die Wahrheit oder Falschheit der repräsentierten Erfahrung. Daraus lässt sich aber nicht folgern, dass es eine Sicht des Selbst nicht gäbe. Diese poetischen Untersuchungen des Selbst und der Erinnerung beinhalten zusammengefasst mehrere Probleme, mit der sich die Theorie des Biographischen konfrontiert sieht: 1) Die Erfahrung besitzt einen Selbstcharakter, sie ist immer eine Erfahrung, die jemand selbst macht. Dieser Aspekt des Selbst kann aber nicht restlos ausgeschöpft werden. Der „Lump“ und der „Teilhaber“ sind immer Mitgestalter, sie nehmen an der Selbsterfahrung teil. Die Erfahrung besitzt zugleich einen Charakter, der aus einer einzigen Perspektive nicht erschöpft werden kann und deshalb offen für weitere Auslegungen bleibt. Es gibt also keine Reduktion des Sinnes auf einen einzelnen Faktor. 2) Auslegungstauglich wird also der Fluss der Erinnerungen, der dennoch immer, wenn auch nur skizzenhaft, dargestellt werden kann. Die Erinnerungen werden zwar einheitlich strukturiert, aber immer innerhalb einer bestimmten und deshalb begrenzten Struktur. Sie machen jedoch die Ausdrucksmöglichkeiten des Selbst aus. Selbst eine Person, die eine Autobiographie schreiben möchte, also eigene Erfahrungen aus der Perspektive des Selbst erzählen möchte, muss zu den gleichen Erzählinstrumenten wie eine andere Person greifen. Autobiographie und Biographie teilen auf dieser Ebene die Erzählmittel. Die Sicht des Anderen sieht sich mit den gleichen Hindernissen wie jene des Selbst konfrontiert, und deshalb teilen Autobiographie und Biographie in dieser Hinsicht die gleichen Voraussetzungen. Es existiert kein privilegierter Zugang im Bereich der Erzählstruktur. Das Selbst bringt sich in der Erfahrung zum Ausdruck. Die Auslegung dieser Erfahrung findet freilich in einem öffentlichen Raum statt.29 Es ist gerade dieser öffentliche Charakter, der die Ausdrucksmöglichkeit des Selbst bestimmt. 3) Die

28

Hernández 2006, 43.

29

Hernández sagt in diesem Zusammenhang in einer kurzen Erzählung: „Daré algunas noticias autobiográficas. Jamás se dan todas. […] porque después que el

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Möglichkeit, meine Erinnerungen zu gestalten, spielt sich immer im Bereich der Welt – des Lumpens, des Teilhabers – ab. Deshalb wird das erzählte Leben zu einer Inszenierung, zu einem Spektakel. Dieses Merkmal beruht auf der Erfahrung, aber zeigt sich immer in der Konfiguration der Erfahrung. Es gibt keine Inszenierung ohne Konfiguration. (Ob diese Art von Konfigurationen narrativ sein muss, lasse ich hier dahingestellt.) Deshalb wird jedoch die Erfahrung aus dem Selbst (auto-)biographisch zum Spektakel, wie es oben in Bezug auf den Kritiker José Pedro Díaz angedeutet wurde. Zutreffend hebt Díaz in diesem Sinne die Bedeutung des Zuschauers hervor.30 Das (auto)biographische wird in der Erzählung vor den Zuschauern konstituiert; die Erinnerungen konstituieren Szenen, die zur Schau gestellt werden und so einen Sinn bekommen. Das Spektakel gründet prinzipiell in der Selbsterfahrung, aber im Bereich der Welt ist eine Abstufung der Inszenierung zu finden.

D AS S ELBST ALS ( AUTO -) BIOGRAPHISCHE E RZÄHLUNG So wie die Studien zum Biographischen in der Literaturwissenschaft einen Aufschwung genommen haben, kann das Gleiche im Bereich der Philosophie und der Neurowissenschaften für das Interesse an dem Phänomen des Selbst konstatiert werden.31 Im vorigen Abschnitt habe ich versucht, die Erfassung des Selbst in zwei Werken Hernández’ auszuloten. Seine Reflexionen haben eine enge Verwandtschaft mit der Phänomenologie, wie in der Sekundärliteratur bereits betont wurde. Hier interessiert mich nicht so sehr diese Verwandtschaft, sondern vielmehr die Möglichkeit, diese Auffassungen mit der Theorie der Biographie zu verknüpfen. Jetzt werde ich versuchen, die gewonnenen Einsichten etwas näher zu beleuchten, und dafür werde ich mich

mundo se hace una idea de una persona, le cuesta mucho hacerse una segunda o corregir la primera.“ (Hernández 1983 III, 212). 30 31

Díaz 1986, 18. Das gleichzeitige Interesse stellt sicherlich keinen Zufall dar. Die Bereiche der Philosophie und Neurowissenschaften sind in diesem Zusammenhang äußerst komplex und unüberschaubar. Einen umfangreichen Überblick über unterschiedliche Tendenzen findet man in Gallagher 2011.

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vor allem auf die phänomenologische Tradition der Auffassung des Selbst und die narrative – hermeneutische – Variante stützen. Dieser liegt die Annahme zugrunde, dass sich das Selbst immer in einer Auslegung versteht und dass diese Auslegung einen narrativen Charakter besitzt. In aktuellen phänomenologischen Auffassungen des Selbst wird bestätigt, dass Bewusstsein immer Selbstbewusstsein ist.32 Die Erfahrung beinhaltet nicht nur Gefühle, Meinungen oder Erinnerungen: Diese gehören auch mir. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts und seit Edmund Husserl wird der nicht-objektivierbare Charakter und die Unmittelbarkeit dieser Erfahrung hervorgehoben. Das Bewusstsein kann sich nicht seiner selbst wie eines Objektes bewusst sein, denn das würde einen regressus ad infinitum darstellen. Der Ausweg aus dieser Aporie war meistens, das Selbstbewusstsein als nicht bezugsmäßig zu erklären. Es ist einer introspektiven Sicht nicht zugänglich, sondern stellt vielmehr die Bedingung dieser Selbsterfassung dar. Diese Erfahrung, die auch immer körperlich und situativ ist, ist unmittelbar gegeben und nicht thematisch bestimmt. Nehmen wir ein Beispiel von Hernández: Wenn in El caballo perdido das Kind im Haus von Celina eine Büste aus Marmor streichelt, hat es eine synästhetische Erfahrung, die am Ort der Klavierstunden stattfindet und u. a. von seiner Begierde nach Celina geprägt ist. Die Selbstheit bedeutet also nicht primär die Thematisierung dieser Erfahrung, die Identität stiftet, sondern sie ist in der konkreten Erfahrung selbst gegeben. Diese Konkretisierung weist wohl gleichzeitig darauf hin, dass meine Erfahrung ihre Bedeutung aus der Welt mitnimmt. Das Selbst wird im Vollzug des Existierens und nicht als Objekt zugänglich. Das Selbst vereinheitlicht diese Erfahrung jedoch nicht, weil es kein Objekt ist, sondern ist eine Weise, in der die Erfahrung vollzogen wird. Dieser Punkt ist essentiell, denn die Erfahrung ermöglicht die Erzählung, die ihrerseits eine Kohärenz stiftende Rolle spielt. Der phänomenologischen Tradition verwandte Auffassungen des Selbst heben vor allem dessen narrativen Charakter hervor.33 Dass das Selbst nar-

32

Ich folge hier vornehmlich der Version von Zahavi 2005, 31f., die sich ihrerseits vor allem auf Husserl stützt.

33

Obgleich es viele narrative Fassungen des Selbst gibt, werde ich mich hier auf die Beschreibung einer allgemeinen, eher hermeneutischen Variante beschrän-

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rativ konstituiert ist, kann in diesem Kontext ein hilfreiches Erklärungsmuster liefern. Hier möchte ich betonen, dass Erzählungen das Selbst ausmachen, indem das Selbst sein Leben – oder wenigstens Teile dessen – erzählt. Ich lasse hier die Problematik der Struktur und der Reichweite dieser Erzählung beiseite, da ich vor allem die Tatsache, dass jede Erfahrung immer eigene Erfahrung – die Perspektive der ersten Person – ist, in Verbindung mit ihrer narrativen Thematisierung bringen möchte. Wenn das Selbst sich narrativ konstituiert, scheint es plausibel anzunehmen, dass diese Erzählung erst eine Auslegung der schlichten Erfahrung darstellt. Bei Hernández führte die Reflexion über die Ausdrückbarkeit des Selbst und der Erinnerung zu einem Punkt, in dem die Erzählung über die Selbsterfahrung, sowie die Perspektive eines anderen über dieselbe Erfahrung einen gemeinsamen Raum teilten. Deshalb ist eine Erfahrung biographisch oder autobiographisch fassbar, ohne dass eine von den Perspektiven prinzipiell einen besonderen Anspruch erheben kann. Die Sicht ist stets eine andere. Deshalb ist entscheidend, was auf der Ebene der Erzählung stattfindet. Allerdings ist es dennoch nicht das Gleiche, wenn ein Selbst sein eigenes Leben erzählt, als wenn dies ein anderer tut. Die Narrativität fügt dem Selbst eine Ebene der Bedeutung hinzu, die weder in der schlichten Selbsterfahrung noch auf der Ebene der Erzählung allein zu finden ist. Erst beide Elemente machen das Phänomen des Selbst aus.34 Im biographischen und autobiographischen Schreiben leuchtet dieser

ken. Für einen Überblick der narrativen Auffassungen des Selbst vgl. Schechtman 2011. Es muss allerdings angemerkt werden, dass manche narrative Varianten mit phänomenologischen Versionen des Selbst nicht viel gemeinsam haben. 34

Dieses Phänomen wird auch durch neurowissenschaftliche Positionen bestätigt. Antonio Damásio 2000 verteidigt z. B. zwei Arten von Selbst in Bezug auf seine neuronalen Grundlagen. Einerseits erkennt er ein Kernselbst (core self), das für den einfachsten Bezug mit der Welt verantwortlich ist, und andererseits ein autobiographisches Selbst, das über die Zeit hinweg eine gewisse Form der Identität ermöglicht. Dieses Selbst beinhaltet die Erinnerung vergangenen Vorgehens und bereitet sie vor, um eine Neuorganisierung in der Erfahrung zu gestalten. Diese nicht verbale Form des Selbst, das im Gehirn entsteht, kann bei dem menschlichen Wesen auch sprachlich begriffen werden: „I do mean telling a narrative or story in the sense of creating a nonlanguaged map of logically related events. […] In the case of humans the second-order nonverbal narrative of

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Punkt ein, weil die thematische Auffassung des Selbst in einer Erzählung je nachdem, ob sie in der ersten oder in der dritten Person verfasst wird, differiert. In dieser Hinsicht ist es nicht dasselbe, wenn ein Autor die Spuren seines eigenen Lebens erschreibt und seinen Eigennamen benutzt oder wenn er das nicht tut. So wie die Biographie die Erzählung des Lebens eines Anderen bleibt, auch wenn sie in der ersten Person als Autobiographie erzählt wird. Die Verhältnisse zwischen Autor, Erzähler und Protagonist gewinnen in diesem Sinne eine Bedeutung, welche die Erzählung entscheidend bestimmt. Es kann ein autobiographischer Pakt entstehen, weil angenommen wird, dass der Perspektive des Selbst Rechnung zu tragen ist. Die scheinbare Unzulänglichkeit, die Perspektive textuell zu begründen, wurde bereits mehrfach erforscht.35 Dass die paratextuellen Elemente jedoch nicht einfach eine beliebige Rolle spielen, hängt stark von der Bedeutung ab, die dem Autor in diesem Zusammenhang zugeschrieben wird. Knüpft man eine minimale Form des Selbst an das biographische und autobiographische Schreiben, kommt den Elementen der Verhältnisse eine Bedeutung zu, die sie nicht haben, wenn der Autor aufgrund eines Misstrauens gegenüber der Subjektivität als Faktor der Bedeutungskonstitution ausgeschlossen wird. Diese Subjektivität muss erst recht – und nicht inflationär – verstanden werden, damit die volle Bedeutung der Gleichung Autor, Biographie und Text erfasst werden kann. Fehlt das Selbst dagegen in der Analyse, verliert die genannte Gleichung das nötige Bindeglied. Somit muss man präzisieren, über welche Auffassung vom Selbst gesprochen wird bzw. welche vorausgesetzt wird und wie sie im Einklang mit Biographie und Autobiographie steht. Dass das Selbst keine äußerliche Instanz zur Konstitution außer der Erfahrung selbst braucht, bedeutet nicht, dass es in der Erzählung nicht modifiziert wird. Eine solche Position bedarf dennoch nicht nur einer Erklärung der Funktion der Narrativität für das Selbst, sondern auch der Abgrenzungen, die im Vollzug entstehen, und des Status, der den unterschiedlichen Erzählungsmöglichkeiten zukommt. Peter Lamarque hebt beispielsweise den Unterschied zwischen literarischen Erzählungen und Lebenserzählungen hervor und warnt vor einer Einebnung

consciousness can be converted into language immediately. One might call it the third order.“ (184-185). 35

Lejeune 1975, 27f. und Genette 2004, 141f.

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beider Erzählmodi.36 Eine Erklärung des biographischen Schreibens kann hilfreich sein, eine solche Einebnung zu vermeiden, weil in ihm Lebenserzählung mit literarischer Erzählung einhergeht. Auch wenn die Kriterien zur Evaluation von fiktionalen Erzählungen- und von Lebenserzählungen nicht dieselben sind, bedeutet dies nicht, dass sich das Selbst nicht narrativ konstituieren würde.37

S ELBST

UND

AUTOR

Zuletzt möchte ich mich mit dem Zusammenhang zwischen Selbst und Autor im Kontext der Biographie befassen. Das biographische Schreiben hat nicht den gleichen Status, wenn das Selbst nicht nur eine in der Erzählung erfasste Realität ist, sondern eine Erfahrung darstellt, die auf einer höheren Ebene der Erzählung nicht uneingeschränkt fassbar ist. Es gilt, nicht naiv das Selbst mit dem Autor zu identifizieren und dann von ihm in das Werk zu gelangen oder vom Werk Schlüsse über den Autor zu ziehen. Hier muss die Frage vielmehr lauten, welche Elemente der Selbstauffassung eines Autors in einem Text vorkommen, die Autofiktionales, Autobiographisches oder Biographisches zu erzählen vermögen. Wenn die Fiktionalisierungsmöglichkeiten einer Erinnerung oder der autobiographische Pakt nur auf kulturellen Konventionen beruhen, dann spricht es dem Selbst jede Bestimmungsfunktion ab. Wenn die Idee des Autors eine Konstruktion ist, die ganz unterschiedliche Auffassungen – wie Foucault feststellte – erlaubt, soll das Selbst in den verschiedenen Konstrukten erfasst werden.38 Dass ein Autor in einem öffentlichen Raum zu finden ist und die Beziehung zwischen ihm und seinem Text unterschiedlich erfasst werden kann, ist aber kein ausreichender Grund, den Autor nicht prinzipiell als reale Person zu erfassen, die ein eigenes Lebens führt. Dass dieses Leben mit dem Text auf irgendeine Weise durch die Autorschaft zusammenhängt, scheint in existierenden Biographien bestätigt zu werden.

36 37

Lamarque 2007. Wie Schechtman 2011, 409 bereits signalisiert hat, gibt es jedoch immer noch Erklärungslücken bezüglich der Art und Weise der Erzählung, die das Selbst konstituiert. Vgl. z. B. Ricoeur 1983-85.

38

Foucault 1994.

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Wie kann aber diese Beziehung richtig verstanden werden, damit keine inflationäre – und damit nicht akzeptable – Auffassung des Selbst entsteht? In seiner Analyse des Werkes Las dos historias von Hernández, behauptete z. B. der Romanist Walter Mignolo 1977, „die Unterschrift ‚Felisberto Hernández‘ sei nicht mehr als ein Referenzindex, aber nie eine Brücke, die vom Text zur Person führt“.39 Die Vervielfachung der Studien über die Biographie schwächt Mignolos Versuch, den Autor abzuschaffen. Dennoch liegt die Herausforderung eher darin, diese Brücke, die Mignolo als einen psychologisierenden Fehlschluss sah, als eine schiefe Metapher zu zeigen, die verabschiedet werden muss. Wenn die Erzählstruktur auch den Autor qua Selbst im Text zu präsentieren scheint, lautet die Frage also, wie kann ich den Autor in eine Interpretation integrieren oder über den Autor im Werk reden. Da diese Integration meistens mit einer Verwechslung zwischen Erzähler und Autor in mancher Kritik verbunden war, sollen selbstverständlich Kriterien gefunden werden, die eine differenzierte Auslegung ermöglichen. Ich werde jetzt diese Problematik im Fall Felisberto Hernández' kurz darstellen, um die Frage präziser stellen zu können. Die Antwort hängt jedoch von den bestimmten Konfigurationen ab, die Erzählung und Selbstvollzug erlauben. Felisberto Hernández' Werk wurde von Beginn an autobiographisch gelesen, was ja bei Werken mit autodiegetischem Erzähler recht häufig vorkommt, umso mehr, wenn darüber hinaus Elemente erzählt werden, die auf einfache Weise mit dem Leben des Autors gleichgesetzt werden können.40 Was allenfalls nicht so selbstverständlich ist, liegt in der Art des Zusammenhanges zwischen Text und Autor. Es verwundert, dass sein Werk oft eher naiv gelesen und der Erzähler mit dem Autor gleichgesetzt wurde, denn seine Texte tragen selbst der Schwierigkeiten einer solchen Auffassung Rechnung. Die Modellierung des Autobiographischen nimmt im Text eine komplexe Struktur an, die die Konstitution des Selbst in der Erzählung zu zeigen versucht. Wird beispielsweise Diario del sinvergüenza ernst genommen, dann kann es höchstens wie eine parodistische Form der Autobiographie gelesen werden. Da es sich hier um ein Tagebuch der Zerrissenheit des Erzählers handelt, in dem die Beziehung mit den Anderen und die körperliche Erfahrung relativiert und neu interpretiert werden, kann der Erzähler den Autor

39

Mignolo 1977, 172: „… la firma ‘Felisberto Hernández’ será un índice de referencia, pero de ninguna manera el puente que conduce del texto a la persona.“

40

Vgl. Giraldi de Dei Cas 1975, Blengio Brito 1982, Lockhart 1991, Rela 2002.

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nur parodistisch widerspiegeln. Wenn z. B. der Autor im Tagebuch über das Verhalten seines Körpers gegenüber den Kollegen in seinem Büro schreibt, sieht das Ich eine Inszenierung seines Körpers, die es nicht beherrschen kann.41 Es wird also dort den Bedingungen, die aus einer Selbsterfahrung etwas Öffentliches machen, nachgegangen, insofern man auf der Suche nach seinem eigenen Selbst ist. Es ist kein Tagebuch, das ohne weiteres Ereignisse beschreibt, die dann einer Person zugeschrieben werden können. Dass ein Autor die Komplexität der Selbstkonstitution schriftlich als literarisches Werk präsentiert, kann aber aufschlussreich in Bezug auf diesen Autor sein, denn die Performativität dieser Erfahrung stellt eine Form der Inszenierung dar. Hernándezs Diario scheint in diesem Kontext wichtig wegen seiner Thematisierung eines Autors, der sich auf die Suche nach seinem Selbst begibt. So wird das Biographische in der Erzählung problematisiert und in Frage gestellt, aber ohne ihm sein Recht als Autor abzusprechen. So spricht das Werk für eine gerechtere und nicht einseitige Verwendung des Autors. Gleichermaßen kann die zweite Hälfte von El caballo perdido als eine Thematisierung des Zugangs zur Erinnerungen gelesen werden und wie diese in eine Erzählung einbezogen werden können. Diese Tatsache deutet darauf hin, dass die erzählten Erinnerungen des ersten Teils nicht einfach als Reminiszenzen an verlorene Zeiten interpretiert werden dürfen. Wenn der Erzähler einen „Teilhaber“ findet, sagt er über ihn: „Mein Teilhaber war der Repräsentant der die Welt bewohnenden Menschen“42 und „von ihr [der Welt]

41

Hernández 2006, 367: „Die Straßen in der Nähe des Büros waren verflucht. Ich wußte, sobald ich sie betrat, würde ich auf eine schreckliche und aufgesetzte Person treffen, die mich krank vor Beklemmung machte. Diese Person war ich. Sobald Kollegen mich auf der Straße erblickten […], ganz egal, ob ich sie schätze oder verabscheute, steuerte meine aufgesetzte Person auf sie zu, jovial und voller Witze.“ („Las calles próximas a la de mi oficina eran malditas. Sabía que al entrar allí me iba a encontrar una persona horrible, cobarde y artificial, que me enfermaba de angustia. Esa persona era yo. Ya, si en las calles era visto por compañeros […], mi persona artificial se dirigía insistentemente a ellas, cordial y lleno de bromas.“ (III, 250)

42

Hernández 2006, 45.

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hatte ich Nahrung und Worte empfangen“.43 Die Welt und ihre Worte deuten bereits auf die Präsenz der Mitmenschen in der Konstitution des Selbst. Soll die Erzählung von Erinnerungen möglich sein, dann nur unter der Voraussetzung eines gemeinsamen Raumes der Sprache und des Sinns. In dem Moment, in dem sich das Selbst in der Problematisierung der Schichten der Erzählung und seiner Mittelbarkeit sichtbar macht, werden beide Aspekte auch für andere verfügbar. Abschließend können einige Beispiele zeigen, wie die Kontinuität von Werk und Autor im Fall Hernández' aussieht. In diesem Kontext sticht zunächst der Künstlertyp hervor, in den sich der Autor verwandelt. Felisberto Hernández wird aus Elementen seines Werkes mitkonstituiert. Wenn es um psychologische Eigenschaften geht, gilt er als kindlich, aber gleichzeitig als tiefgründig. Einerseits verliere er bisweilen auch den Faden, andererseits beweise er eine extreme Aufmerksamkeit gegenüber den Objekten; er habe einen widersprüchlichen Charakter. Eine Eigenschaft bescheinigt ihm die Literaturkritik relativ einhellig: Er sei exzentrisch.44 Die Einzigartigkeit seines Werkes entspreche den außergewöhnlichen Zügen seiner Biographie. Italo Calvino formulierte 1985 den später oft wiederholten Satz, Felisberto sei ein Schriftsteller, der keinem anderen gleiche, und in dieser Hinsicht wurde er in Folge in Biographien porträtiert.45 Die biographische Beschreibung des Autors wird im Einklang mit Elementen vollzogen, die im Werk vorhanden sind. Da der psychologisierende Fehlschluss, den Charakter des Protagonisten dem Autor zuzuschreiben, nicht immer vermieden wird, ist es erforderlich zu analysieren, wie die Kritik mit Aspekten umgeht, die einen narrativreflexiven Charakter aufweisen. Hernández' Erzählungen beinhalten mehrere Seiten, die in einer psychologischen Beschreibung keinen direkten Platz einnehmen können. Sie dienen jedoch auch der Konstruktion des Autors. Um ein Beispiel zu nennen: Die reflexive Abhandlung über die Erinnerung in El

43

Hernández 2006, 48. Echavarren (1981, 103-4) merkt zu Recht an, der Teilhaber spiele eine vereinheitlichende Funktion, die das Verhalten der Person in der Welt innehat.

44

Vgl. z. B. die Meinungen zweier seiner Geliebten in Rocca 2000. Dazu auch Rela 2002, 8f.

45

Calvino 1985, 3: „Felisberto Hernández es un escritor que no se parece a nadie: a ninguno de los europeos y a ninguno de los latinoamericanos; es un ‚irregular’ que escapa a toda clasificación.“

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caballo perdido gibt Paulina Medeiros, einer Lebensgefährtin Hernández', Anlass, seinen negativen, wenig menschlichen Charakter hervorzuheben. So beklagt Paulina Medeiros, Felisberto bevorzuge die Untersuchungen von El caballo perdido dem menschlicheren Charakter seines früheren Romans Por los tiempos de Clemente Colling, da jene seine eigenen inneren Erlebnisse darstellten, die Medeiros als illusorisch bezeichnet.46 In Medeiros‘ Interpretation entsteht der illusorische Charakter des Autors aus der narrativen Reflexion. Für sie besteht eine Kontinuität zwischen Autor und Werk, auch wenn das Werk keine deskriptive Erzählinstanz aufweist. Ein weiteres außergewöhnliches Element seiner Biographie findet sich in einer Anekdote über Hernández' Tod und sein Begräbnis. Nach langer Krankheit starb er am 13. Januar 1964 an Leukämie. Sein Körper soll so aufgedunsen gewesen sein, dass der große Sarg nicht durch die Tür passte und über ein Fenster, durch das er fast geworfen wurde, abtransportiert werden musste. Laut Lockhart war schließlich auch das ausgehobene Grab für den Sarg zu klein, sodass es vergrößert werden musste und die Beerdigung noch grotesker verlaufen ließ.47

46

In Rocca 2000, 85 sagt Medeiros in einem Interview: „Se iba lejos, imaginaba cosas abstrusas, daba volteretas con ellas, disolviéndolas con su carnadura, antes de la etapa creadora. Tal ocurrió con El caballo perdido (1943). Se había propuesto escribir una novela y se enfurecía si yo me arriesgaba a mostrárselo, elogiándole por oposición, la ternura y condiciones menos metafísicas de Colling, más humano que su segundo libro mayor. Él prefería las disquisiciones de El caballo perdido. Porque en él reflejaba su propia aventura interior, transformadora e ilusoria.“ Vgl. auch die briefliche Antwort von Felisberto auf die gleiche Idee Medeiros (1982, 95): „Lo único que me dejó triste fue la noticia de que el vulgo opina parecido a ti. Afortunadamente este vulgo […] ha simpatizado con la aventura en que sin querer se persigue, con una esperanza, y sin darnos cuenta qué buscamos, ese sentido angustioso de la personalidad.“

47

Bei Lockhart wird der Abtransport der Leiche und das Begräbnis ausführlich beschrieben: „Tan exclusivo parecía ser, tan atenido a sí mismo, que no resultó fácil reconocer la índole de un mundo literario afincado tan íntimamente en su peculiaridad. Su muerte, como suele suceder, aclaró bastante las cosas. Y más por el modo con que se manifestó, a punto que llegó a parecernos una ocurrencia de alguno de sus cuentos. El ataúd, en efecto, no pasaba por la puerta de la humilde pensión en que vivía y debió ser prácticamente arrojado por la ventana

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Eine andere berühmte Übertragung des Textes auf den Autor stammt von Emir Rodríguez Monegal, der den Autor Hernández als kindlich charakterisierte: „Es gibt ein Kind hinter diesem Erzähler. Dieses Kind ist da, unheilbar an die eigene Kindheit gekettet, weil es Hernández‘ Wille war.“48 Die Gleichung geht hier vom Erzähler zum Autor und was in den von ihm verfassten Erzähltexten inhaltlich zu finden ist, wird dann dem Autor zugesprochen, um einen Stil zu kritisieren, der diesem konstruierten Autor verpflichtet sei. Der Mangel an Sorgfalt in der Auseinanderhaltung der unterschiedlichen Ebenen ist vielfach der Grund, warum der Autor aus der literarischen Kritik konstruiert wird und ihm bestimmte Intentionen zugewiesen werden. Selbst wenn mittlerweile ein ausdifferenziertes Instrumentarium zur Scheidung von biographischem Schreiben, Autofiktion und Autobiografie vorhanden ist, bleibt eine Indizierung der Bestandteile des Selbst in einer Erzählung Desiderat. Dass das Selbst narrativ in irgendeiner Weise erfasst wird und die Autobiographie und auch Biographie diesen Kern teilen, spricht für die Einbeziehung des Selbst in das Spannungsfeld zwischen Werk und Autor. Der Autor selbst inszeniert sich im Werk, auch wenn daraus keine Intentionen oder psychologischen Merkmale gefolgert werden dürfen. Indem der Autor sein Werk schafft, was immer als eine Erfahrung des Selbst gelten muss, bestimmt er auch seine Biographie. In dem Maße, dass, wie Bazlen, Autor ohne Werk, die Biographie das Werk herausragen kann. Aber nur weil das Leben um das Werk biographietauglich ist – auch wenn es nicht vorhanden ist. Das Werk bleibt so ein Index des Selbst und deshalb kann also der Autor mitverstanden werden. Wie das Selbst und der Autor genau gefasst werden können, bleibt allerdings nach wie vor offen. Als Antwort kann aber nicht auf die Subjektivität zurückgegriffen werden, die bereits im 20. Jahrhundert demontiert wurde. Das Selbst kann in dieser Hinsicht Abhilfe leisten.

para ser recogido por quienes esperaban en la acera. Después, en el cementerio, no cabía en la fosa que se le había preparado. En aquella tarde calcinante de verano, el sepulturero debió afanarse largo rato para agrandarla, mientras el sudor caía de su frente sobre el cajón como si fuere agua bendita.“ (1991, 5) 48

Rodríguez Monegal 1948, 52. Die ganze Passage lautet: „Es claro, debí haber empezado por decir que hay un niño detrás de este relator. Ese niño está ahí, fijado irremediablemente en su infancia por la voluntad de Hernández y forzado a repetir – abandonada toda inocencia – sus agudezas, sus precocidades de antaño.“ Hernández selbst war von diesem Urteil sehr betroffen.

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Die weibliche und die männliche Diva der mexikanischen Popularkultur: María Félix und Agustín Lara CHRISTOPHER F. LAFERL

„Lara y yo juntos éramos un espectáculo popular“ – „Lara und ich, zusammen waren wir ein populäres Spektakel“1, schreibt María Félix in ihrer in Zusammenarbeit mit Enrique Krauze entstandenen Autobiographie.2 Im Fol-

1 2

Félix 2005, 96. Alle Übersetzungen stammen vom Verfasser dieses Beitrags. Bei Todas mis guerras (auf Deutsch Alle meine Kriege) handelt es sich um eine so genannte kollaborative Autobiographie, die durch das Zusammenwirken von zwei Personen entsteht. Im vorliegenden Fall erzählte María Félix ihre Autobiographie Enrique Krauze, der im Vorwort festhielt, dass María Félix nicht zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Biographie werden, sondern ihm ihre Lebensgeschichte erzählen wollte. Krauze zitiert María Félix in diesem Zusammenhang: „Registra lo que te cuento, recréalo como lo que es, un sueño […]“ („Nimm auf, was ich dir erzähle, schaffe es dann neu als das, was es ist: ein Traum […]“), um danach den Entstehungsprozess des biographischen Texts wie folgt zu charakterisieren: „La solución no era la biografía sino la autobiografía. No sería difícil armarla: las grabaciones consignaban ya una literatura oral que con leves afinaciones pasaría limpiamente a la página. Así nació este libro que me contó María Félix y que Enrique Serna, meticulosamente, transcribió y editó.“ („Die Lösung war nicht die Biographie, sondern die Autobiographie. Es würde nicht schwer sein, das zu bewerkstelligen: Die Aufnahmen stellten schon

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genden soll es um dieses außergewöhnliche Kurzzeit-Ehepaar, um María Felix (1914-2002) und Agustín Lara (1896?-1970), gehen, um zwei Künstler, die in der goldenen Zeit des lateinamerikanischen Bolero3 und des mexikanischen Films4, also der rund drei Jahrzehnte zwischen den späten 1920er und den frühen 1950er Jahren, wirkten, diese Epoche prägten und für sie wie wenige andere stehen. Dass die beiden Künstler, die hier als Diven, als „Stars, die auf der Grenze stehen“5, vorgestellt werden sollen, im deutschen Sprachraum kaum bekannt sind, dürfte nicht zuletzt (und wieder einmal) mit der xenophoben Haltung des nationalsozialistischen Regimes gegenüber kulturellen Importen und wohl mit den Wirren des Zweiten Weltkriegs zusammenhängen, welche die Rezeption der Musik Laras und der Filme María Félix’ im deutschen Sprachraum in den entscheidenden 1930er und 1940er Jahren stark beeinträchtigten. Aus diesem Grund wird es auf den nächsten Seiten unumgänglich sein, auch einige biographische Informationen zu ihnen zu geben; ohne die Kenntnis des Werks und des Lebens Laras und María Felix’ muss nämlich jeder Versuch, die beiden als Diven zu verstehen, scheitern.

D EFINITIONSVERSUCHE Schon ein Blick in das eine oder andere Wörterbuch macht deutlich, dass der Begriff Diva, ähnlich wie jener des Stars, beide Seiten des Künstlerdaseins ins Auge fasst, nämlich sowohl das künstlerische Schaffen (im weitesten Sinne) als auch die Persönlichkeit des Künstlers. Steht im Italienischen, aus

mündliche Literatur dar, die mit geringfügigen Verbesserungen sauber zu Papier gebracht werden konnten. So entstand dieses Buch, das María Félix erzählte und Enrique Serna sorgfältig reinschrieb.“) (Krauze 2005, 15). Zum Begriff der kollaborativen Autobiographie s. Lejeune 1980. Zusätzlich sei angemerkt, dass die Biographie von Rutiaga (2004) über weite Strecken nur eine Transposition von der in der ersten Person erzählten Lebensgeschichte in Todos mis guerras in die dritte Person darstellt. 3

Vgl. Pedelty 1999, 42-44.

4

Vgl. Gronemann 2012, 655-656.

5

Vgl. Bronfen 2002a, 46.

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dem das Deutsche wie auch das Englische6 und das Französische7 das Wort übernommen haben, in Übereinstimmung mit der ursprünglichen Bedeutung von Göttin die aus der noblen Geburt oder der edlen Geisteshaltung herrührende Erhabenheit der damit bezeichneten Frau zunächst im Zentrum, so wird diese göttliche Erhabenheit, ihre Position über allen Irdischen, rasch auf Größen der Bühne übertragen.8 Im Vocabolario Treccani (1997) oder im Nuovo Dizionario Sabatini-Coletti misst sich diese Erhabenheit interessanter Weise hauptsächlich am Ruhm der als Diva bezeichneten Schauspielerin oder Sängerin, also an ihrer Popularität oder – noch prosaischer ausgedrückt – an ihrer Publikumsreichweite. Welchen Faktoren diese große Popularität geschuldet ist, darüber sagen die genannten italienischen Wörterbücher wenig aus; zweifelsohne legen sie aber den Schluss nahe, dass sich die Berühmtheit der Diva ihrer Kunst verdankt. Der deutsche Duden (2011) hebt hingegen die Starqualitäten hervor, wenn er unter dem Eintrag Diva deren exzentrische Allüren, aber auch ihre besondere Empfindlichkeit besonders anspricht: a) gefeierte Sängerin, [Film]schauspielerin [die durch exzentrische Allüren von sich reden macht]: Marlene Dietrich, die große deutsche D.; b) jmd., der durch besondere Empfindlichkeit, durch exzentrische Allüren o. Ä. auffällt: der Parteivorsitzende hat sich zu einer richtigen D. entwickelt.9

Genau an diesem Punkt setzt auch das im deutschen Sprachraum bekannteste Buch zum Thema Diva an, Elisabeth Bronfens und Barbara Straumanns Diva. Eine Geschichte der Bewunderung aus dem Jahr 2002, das zwar im

6

Merriam-Websterʼs 2000, s. v. diva, 338.

7

Petit Robert 1987, s. v. diva, 559.

8

So heißt es im Vocabolario Treccani (1997, vol. II: D–K, s. v. diva, 164-165) nach der ersten Worterklärung „Dea, divinità pagana femminile“ an zweiter Stelle „appellativo di donna che, per doti proprie o nel sentimento del poeta, si innalzi sopra le altre“. Im Nuovo Dizionario Italiano Sabatini-Coletti (s. v. diva) wird der Terminus 'diva' ganz ähnlich als „Cantante o attrice particolarmente famosa“ und des Weiteren als „Donna superiore alle altre per nobiltà di natali o d'animo“ definiert.

9

Duden 2011, s. v. Diva, 429.

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Untertitel nur das Wort Bewunderung trägt, aber in seinem Inneren sich zentral mit dem Thema der Versehrtheit und der Verletzlichkeit der Diva auseinandersetzt. Vor allem in Bronfens einleitendem Beitrag „Zwischen Himmel und Hölle – Maria Callas und Marilyn Monroe“10 kommt diese Akzentuierung explizit zum Ausdruck. Für Bronfen werden in der Figur der Diva nicht nur der öffentliche Körper, oder das Image, das aus jeder einzelnen ihrer Rollen und ihrer offscreen personality erzeugt wird, mit dem das Bild darstellenden Leib, der auch ein Privatleben hat, verschmolzen, sondern auch der Ehrgeiz des tragischen Helden mit dem christlichen Märtyrerbild verschränkt.11 Nach Bronfen überragt uns, i. e. „die normalen Menschen“, die Diva nicht nur, weil sie „schöner, klüger, geistreicher, mutiger als wir“12 ist oder weil sie eine intensivere Subjektivität als wir besitzt, das sei bei allen Stars der Fall, sondern auch durch den Willen, bis an die Grenze zu gehen, und durch die Zelebration der eigenen Verletzlichkeit,13 die von Bronfen nicht als gespielt oder allein als Produkt der Medien- und Starmaschinerie aufgefasst wird. Die Diva verbinde durchgehend ihr Leben mit ihrer Persona, und sie sei deshalb authentisch14 und nicht Produkt der Starmaschinerie, und zwar bis zu ihrem Ende: Im Gegensatz zum Star kann die Diva nämlich ihren Schmerz transformieren. Er bedeutet kein[sic!] Abfall vom Star-Image, sondern wird Teil davon. […] Diven werden zwar von der Starmaschinerie entworfen, aber bezeichnenderweise als innovative Kraft. Deshalb erfahren sie, am Zenith ihres Ruhms angelangt, den Rückschlag, der jeden Star trifft, oft mit besonderer Härte. Ein wirkliches Comeback ist ihnen nicht erlaubt, dafür werden sie aber von ihrem Publikum bewundert, egal, ob sie gut oder schlecht sind.15

10

Bronfen 2002a, 43-67.

11

Bronfen 2002a, 46-47.

12

Bronfen 2002a, 47.

13

Bronfen 2002a, 49-50.

14

Bronfen 2002a, 49 und Bronfen 2002b, 216.

15

Bronfen 2002a, 47.

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Durch ihr durchgehendes persönliches Einstehen für ihre erhabene Position schwebe die Diva zwischen Himmel und Hölle,16 was sie mit dem Verlust von Bodenhaftung bezahle.17 Fasst man die Hauptargumente Bronfens zusammen, so lässt sich sagen, dass die Diva zwar wie alle Stars auch ein Produkt der Medien und der Konsumgüterindustrie ist und diskursiv entworfen wird, aber – anders als „normale Stars“ – mit ihrem Körper und mit ihrem Leben für das Bild, das sie erzeugt, einsteht. Die Diva geht also nicht im Diskurs auf, sondern ist innerhalb wie außerhalb des Diskurses auch mit ihrem eigenen Körper und dem an diesen Körper geknüpften Bewusstsein präsent. Sie bedeutet nicht nur als nach innen leeres Zeichen, sondern ist und lebt, und zwar ganz besonders durch ihr Leiden. Dieses persönliche Leben und Leiden der Diva wird vor dem Publikum nicht verhüllt, sondern ganz besonders vor diesem und für dieses zelebriert. Bei dieser allgemeinen Definition einer Diva hat Bronfen v. a. die Erzdiven der ernsten wie der popularen Kultur, nämlich Maria Callas und Marilyn Monroe, im Auge, auch wenn sie „glücklichere“ Diven, wie Sarah Bernhardt, Greta Garbo oder Marlene Dietrich nicht ganz außer Betracht lässt. Fast unausgesprochen vorausgesetzt wird die hohe Kunst, die dem Ruhm der Diven vorausgeht oder, anders formuliert, dessen Basis bildet. Die Allüren der Diva, die im angesprochenen Dudeneintrag gleich zweimal genannt werden, bringt Bronfen kaum ins Spiel, viel mehr streicht sie die hinter diesen Allüren vermutete Hypersensibilität hervor, die ja eine Grundannahme hinsichtlich des künstlerischen Daseins spätestens seit der Romantik, wenn nicht seit der Renaissance, darstellt. Einer anderen, wie mir scheint, ebenfalls möglichen Sichtweise wird deutlich weniger Raum gegeben, dass nämlich die Allüren für die Diva das mögliche Ventil für ihre Hypersensibilität und ein Ausgleich für Verletzungen und Kränkungen sind, weil sie es sein können, weil ihre Star-Existenz der Diva andere Umfangsformen erlaubt als normalen Menschen. Nicht besonders verwegen erscheint mir in diesem Zusammenhang die Annahme, dass die von der Diva gelebte Exzentrik in vielen Fällen aus der Retrospektive auf ihre Anfangszeit rückprojiziert wird und so auch schon für ihre frühe Zeit, für ihr Leben vor dem stardom, angenommen wird.

16

Bronfen 2002a, 49.

17

Bronfen 2002b, 213.

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Meines Erachtens werden in Bronfens zweifelsohne grundlegendem Aufsatz zum Phänomen der Diva die Frage der Zeit, oder besser des Zeitpunkts der Reflexion über das Diva-Sein, wie auch der Art ihrer künstlerischen Tätigkeit zu wenig erörtert. Der angesprochene Karriere-Knick der Diva, das Geliebt-Werden durch das Publikum, auch wenn die künstlerische Leistung nachgelassen hat, stellt sich bei Schauspielerinnen anders dar als bei Tänzerinnen und Sängerinnen, da diesen auf der Bühne – selbst wenn sie alte Figuren verkörpern sollten (was ohnehin nur selten vorkommt) – immer eine hohe physische Leistung abverlangt wird, die ab einem gewissen Alter in der Regel nicht mehr erbracht werden kann. In diesem Zusammenhang stellt sich schließlich die Frage, ob es überhaupt eine Diva ohne KarriereKnick geben kann, und – da ja dieser Karriere-Knick doch auch sehr viel mit dem Altern und damit in der Regel mit dem Verblassen von Schönheit zu tun hat – eine ganz junge Diva überhaupt denkbar ist. Fast scheint es, als ob die Diva immer erst retrospektiv, wenn sie auf ihr eigenes, auf ihr eigenes vergangenes Werk zurückblickt, wehmütig, leidend, verletzt zurückblickt, ganz zur Diva werden kann. Diesen Fragen der Verschränkung des Werks mit dem inszenierten Leben, das über den Körper auch ein Teil des tatsächlichen oder des ganzen Lebens ist, dem retrospektiven Diva-Status und schließlich der Gender-Frage soll durch die zwei gewählten prominenten Beispiele aus Lateinamerika, die biographischen Narrationen María Félix’ und Agustín Laras, nachgegangen werden. Anhand der beiden gewählten Beispiele lässt sich die These formulieren, dass auch die Gender-Transgression einen wichtigen Bestandteil des Diva-Status bildet, während die Versehrtheit nicht unbedingt eine zentrale Rolle spielen muss, zumindest nicht bevor der nostalgisch-retrospektive Konstruktionsprozess in Bezug auf die Biographie der Diva einsetzt.

K ÜNSTLERISCHE B ASIS Wenn wir mit der Frage beginnen, welche künstlerischen Leistungen bei Agustín Lara und María Félix die Ausgangspunkte für die spätere Erhebung in den Status einer Diva bilden, uns gewissermaßen dem fundamentum in re zuwenden, so steht bei beiden außer Zweifel, dass es eine solche Basis gibt. Ohne gleich einem Geniekult verfallen und die Macht der Medien und der Kulturindustrie klein reden zu wollen, gibt es bei den beiden hier gewählten

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Künstlerbiographien etwas, was der medialen Aufbereitung und Verbreitung vorausgeht. Weder María Félix noch Agustín Lara waren einfach nur celebrities, Stars ohne Œuvre, wie sie die westliche Welt seit dem späten 20. Jahrhundert in zunehmender Weise kennt. Auch wenn die verschiedenen Bühnen der Gegenwart – jene des Theaters, des Fernsehens oder des Internets – die Macht haben mögen, jede Banalität zu überhöhen, alles, was uns simpel erscheint, komplex und anspruchsvoll wirken zu lassen und vielem Seichten den Anschein von Tiefe zu verleihen, bedeutet dies im Umkehrschluss nicht, dass alles, was uns auf diesen verschiedenen medialen Bühnen begegnet, banal, simpel und seicht ist. Dass im Folgenden die Grenze zwischen dem Banalen, dem Simplen und dem Seichten auf der einen Seite und dem Originellen, dem Komplexen und dem Tiefen auf der anderen nicht deckungsgleich mit gängigen Vorstellungen von den Grenzen zwischen Popular- und Hochkultur gezogen wird, dürfte schon aus der Wahl der beiden Künstlerpersönlichkeiten und aus der für beide getroffenen Wortwahl in der Charakterisierung ihrer Arbeit deutlich geworden sein. Sowohl Agustín Lara als auch María Félix wirkten nämlich deutlich in jenem kulturellen Bereich, den man eher dem Popularen zurechnen würde. Und trotzdem wird ihnen, wenngleich auf unterschiedliche Weise, großes Können und ihrer Kunst hoher Wert zugesprochen. Agustín Lara ist v. a. als Komponist, genauer als Komponist popularer lateinamerikanischer Musik, im Wesentlichen von Liedern, in die Geschichte eingegangen. Wenn er auch in ganz verschiedenen Liedgenres gearbeitet hat, so werden mit seinem Namen hauptsächlich Boleros verbunden, die ohne jeden Zweifel in der Tradition romantischer Liebeslyrik stehen und so wie diese alle Spielarten einer meist unglücklichen Liebe variieren. Laras Aufstieg ist eng an die Verbreitung seiner Musik durch das neue Medium des Radios gebunden, das ab dem Ende der 1920er Jahre auch in Mexiko die Popularkultur nachhaltig bestimmen sollte. Aber auch eines anderen Mediums, das sich genau zur selben Zeit durchzusetzen begann, nämlich des Tonfilms, wusste sich der junge Komponist erfolgreich zu bedienen. In vielen Filmen der 1930er, 1940er und 1950er Jahre, in denen – wenn sie nicht überhaupt reine Musikfilme waren – Gesangseinlagen nicht fehlen durften, spielten Sänger und Komponisten eine wichtige Rolle, und so finden wir Agustín Lara in diesen Filmen als den wieder, der er auch in Wirklichkeit war, nämlich als singenden und komponierenden Pianisten. Nicht untypisch für die Zeit ist auch die Verbindung von Radio und Film mit Live-Auftritten auf der

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Show-Bühne. In den drei Jahrzehnten zwischen 1930 und 1960 konnte so ein großes Publikum – in Mexiko selbst, durch den Film und durch Tourneen in ganz Lateinamerika, aber auch in Südwesteuropa und in den USA18 – Laras Musik und auch ihn selbst live kennen lernen. Zu seinen bekanntesten Nummern gehören zweifelsohne „Amor de mis amores“, „Solamente una vez“, „Noche de ronda“, das María Félix gewidmete „María Bonita“, „Pecadora“ und „Granada“, das von einer Unzahl von Sängern – sowohl aus dem Bereich der Popularmusik als auch von vielen Opernstimmen – aufgenommen und aufgeführt wurde. Durch Plattencover und noch mehr durch Kinoplakate und durch jene Filme, in denen Agustín Lara mitwirkte, war auch der Körper des Komponisten jenem Teil seines Publikums bekannt, das ihn nicht live erleben konnte. D. h. wir haben es auch bei Agustín Lara mit einem Künstler zu tun, der nicht nur durch sein primäres künstlerisches Betätigungsfeld, die Musik, Aufmerksamkeit auf sich zog, sondern die Vorstellungen, die man mit seiner Musik verband, auch an seinen Körper zu binden wusste. Wenn die Werke eines Komponisten auch ohne die physische Präsenz seines Schöpfers auskommen können, so ist das bei Schauspielern unmöglich. Schauspieler ohne Körperpräsenz konnte es bis vor kurzem nicht geben.19 Daher ist auch für María Félix die Arbeit mit dem eigenen Körper noch wichtiger als bei Agustín Lara. Bei Schauspielerinnen und Schauspielern gehört der Körper essentiell zu ihrer Kunst, und ihre Kunst kann ohne den eigenen Körper nicht sein.

18 19

Vgl. z. B. Ramos 2002a, 118. Einerseits erlaubt es mittlerweile der technische Fortschritt in der visuellen Darstellung, lebende Schauspieler durch graphische Animationen zu ersetzen, andererseits zielt bereits das späte Theater eines Samuel Beckett auf eine Loslösung der Stimme des Schauspielers von seinem Körper ab.

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Wenn ihre beiden ersten Filme El peñón de las ánimas [Der Fels der Seelen]20 (Regie Miguel Zacarías)21 und María Eugenia (Regie Felipe Gregorio Castillo), beide aus dem Jahr 1942, María Félix noch nicht zu einem Star machten, so stellten sie doch einen Anfang dar. Schon im Jahr darauf katapultierte sie sich durch die Titelrolle in Doña Bárbara (1943, Regie Fernando de Fuentes), einem Film nach dem berühmten gleichnamigen Roman von Rómulo Gallegos, in die vorderste Reihe lateinamerikanischer Schauspieler. Diesem Film ist es auch zu verdanken, dass María Félix vielen ab nun einfach nur als la Doña galt.22 In Mexiko folgten auf Doña Bárbara die erfolgreichen Streifen La China poblana [Die Frau aus Puebla bzw. Die typische Mexikanerin] (1943, Regie Fernando A. Palacios), La mujer sin alma [Die Frau ohne Seele] (1943, Regie Fernando de Fuentes), La monja alférez [Die Nonne als Fähnrich] (1944, Regie Emilio Gómez Muriel), La devoradora [Die Verschlingende] (1946, Regie Fernando de Fuentes) oder Río Escondido (1947, Regie Emilio Fernández). Danach drehte sie hauptsächlich in Europa, so in Spanien Mare nostrum (1948, Regie Rafael Gil), La noche del sábado [Samstag Nacht] (1950, Regie Rafael Gil) und La corona negra [Die schwarze Krone] (1951, Regie Luis Saslavsky, nach einer Vorlage von Jean Cocteau und dem Drehbuch von Miguel Mihura), in Italien u. a. Messalina (1951, Regie Carmine Gallone) und in Frankreich, wo sie bald als La Mexicaine bekannt werden sollte, La Belle Otéro (Die Affären einer Primadonna) (1954, Regie Richard Pottier), French Cancan (French Can Can) (1954, Regie Jean Renoir) und Les héros sont fatigués (Die Helden sind müde) (1955, Regie Yves Ciampi). Auf etliche andere Filme, u. a. 1959 La fièvre monte à El Pao (Für ihn verkauf’ ich mich) unter der Regie von Luis Buñuel und Sonatas von Juan Antonio Bardem, folgten schließlich eine ganze Reihe von Streifen über die Mexikanische Revolution, in der auch die Handlung ihres letzten Films, La Generala [Die Generalin] (1966, Regie

20

Die übersetzten Filmtitel, die in eckiger Klammer angeführt werden, stammen vom Autor dieses Beitrags, während jene, die in runder Klammer angegeben sind, die offiziellen Filmtitel im Deutschen darstellen, so wie sie in der Datenbank International Movie Data Base http://www.imdb.com/ zu finden sind. Filmtitel, die nur aus Eigennamen bestehen, wurden nicht übersetzt.

21

Die technischen Daten zu den hier angeführten Filmen stammen allesamt aus Taibo I 2008.

22

Félix 2005, 85.

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Juan Ibáñez), angesiedelt ist.23 María Félix mag unterschiedliche Charaktere gespielt haben, am häufigsten finden wir sie aber in der Rolle der willensstarken, rebellierenden Frau, die sich über soziale und sexuelle Normen, und damit natürlich über traditionelle Genderrollen, hinwegsetzt und Männer in großer Zahl förmlich verschlingt. Über allem steht aber in ihren Filmen ihre Schönheit, die bis zu einem gewissen Grad ja die Voraussetzung für ihre Anziehungskraft und ihre Willensstärke bildete.

I NSZENIERTE L EBEN Die biographische Narration Agustín Laras setzt im Nebel der Geschichte und der Geographie ein, da für seine Geburt sowohl 1897 als auch 1900 und sowohl Veracruz, Puebla und die Hauptstadt México genannt werden.24 Agustín Lara stammte zwar aus gutbürgerlichen Verhältnissen, aber als prägend werden in seiner Jugend das Klavierspielen im Bordell und natürlich die Tatsache, dass er dieses Klavierspielen nie richtig gelernt habe, angeführt.25 Des Weiteren sind seine hagere Gestalt, wurde er doch el flaco (der Dünne) genannt, und seine Hässlichkeit, die von allen, auch von ihm selbst thematisiert werden, für die öffentliche Persona Lara maßgebend. Hinzukommt eine große Narbe im Gesicht, die ihm eine eifersüchtige Prostituierte mit einer zerschlagenen Flasche zugefügt haben soll.26 Nach der Meinung María Félix’ soll diese Narbe Lara aber Charakter gegeben haben und ihn, dessen Stimme sie schon als äußerst betörend empfand, erotisch noch anziehender gemacht haben.27 Laras Werk wurde wegen der positiven Darstellung sexueller Transgressionen, v. a. weil er Promiskuität als nicht skandalös oder negativ präsentierte, und der Verherrlichung Prostituierter von verschiedenen katholischen Institutionen vehement bekämpft, was sogar zu Aufführungsverboten

23

Dieser Film wie auch die Rolle, die María Félix in ihm spielt, wirkt wie ein Echo auf Pasolinis Medea (1969), in dem Maria Callas die Hauptrolle verkörperte, allerdings ist La Generala bereits drei Jahre vor Pasolinis Werk entstanden.

24

Ramos 2002, 11; Ramos 2002a, 117; vgl. auch Torres 2004, 10.

25

Torres 2004, 12, 18; vgl. auch Pineda Franco 1996, 123-124.

26

Taibo I 1985, 30-31; Torres 2004, 23-24.

27

Félix 2005, 95.

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im öffentlichen Rundfunk führte.28 Sein eigenes abwechslungsreiches Liebes- und Sexualleben – er war sechs Mal verheiratet und hatte zwischen den Ehen und angeblich auch während derselben viele Geliebte – wurde in diesem Kampf gegen ihn ebenfalls ins Treffen geführt, und so wurde für, aber auch durch das Publikum eine Einheit von Leben und Werk hergestellt, wozu er allerdings auch selbst einen nicht unerheblichen Teil beitrug. Adela Pineda Franco schreibt dazu: […] Lara’s own figure played an important role within the themes of his boleros. By means of the mass media, Lara became the protagonist of his songs, who was the victim of a sinful life. Articles and reviews that appeared in newspapers of the thirties sustained and spread this romantic rhetoric. In order to become a hero and a legend, Lara had to experience suffering and punishment. […] traces of his obscure licentious past were perceived through the cultivated image of his persona: a wretched and defenseless singer of prostitutes, a dandy, and a fragile poet.29

Zur Diva machten den Komponisten aber nicht nur seine großartige Musik und sein Normen überschreitendes und öffentlich ausgebreitetes angebliches Liebesleben, sondern auch die extravagante Eleganz seiner Auftritte, seine an Verschwendungssucht grenzende Großzügigkeit, seine Eifersucht, und v. a. seine große Leidenschaftlichkeit und kitschige Romantik. All dies wurde freilich erst nach seinem Karriereknick in den späten 1950er Jahren, als die hyperbolische Passion seiner Boleros nicht mehr gefragt war, zu einem Bild der Diva zusammengefügt, die dann v. a. im Zeichen des Camp in den 1970er Jahren neues Interesse erregte, v. a. von intellektueller Seite. Erst als Lara nicht mehr als Künstler auftrat und ihm aktiv keine großen Erfolge mehr gegönnt waren, und noch mehr nach seinem Tod, konnte er ganz zur Diva werden. Wie Agustín Lara ließ auch María Félix die Welt über ihr Geburtsjahr im Unklaren, wenngleich sie wenigstens bezüglich des Ortes, nämlich Álamos im Bundesstaat Sonora, keine Zweifel aufkommen ließ. Im Unterschied zu Lara konnte aber ihre Geburtsurkunde gefunden werden, sodass feststeht, dass sie am 8. April 1914 geboren wurde, übrigens am selben Tag, an dem

28

Gelpí 1998, 209.

29

Pineda Franco 1996, 126.

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sie im Jahr 2002 auch aus dem Leben schied.30 Zu ihrer Kindheit lassen sich – genauso wie es Ernst Kris für die ältere Künstlerbiographie herausgearbeitet hat31 – gleich mehrere Anekdoten finden, dass sie nämlich von ihren Schwestern, die alle blond waren, zum schwarzhaarigen Aschenputtel abgestempelt wurde, und dass sie, wie Josef von Ägypten, von ihnen einmal sogar ausgesetzt wurde.32 Damit nicht genug, ihre gutbürgerlichen Eltern sollen sie von ihrem Bruder getrennt haben, da sie zwischen den beiden Geschwistern eine zu innige Beziehung vermuteten. Der Bruder soll sich daraufhin auf einer Militärschule das Leben genommen haben oder ermordet worden sein.33 Um den engen Familienverhältnissen zu entfliehen, heiratete sie früh. Ihr extrem eifersüchtiger Mann, von dem sie bald ein Kind bekam, soll sie aber nicht nur mit anderen Frauen betrogen, sondern die ersehnte Freiheit noch weniger ermöglicht haben, als dies vorher in der Familie der Fall gewesen war. Daraufhin habe sie sich auch einen Liebhaber genommen, die Scheidung eingereicht und sei in die Hauptstadt México gezogen. Ihr Exgatte nahm ihr allerdings den Sohn weg und ließ sich auch gerichtlich das Sorgerecht für diesen übertragen.34 María Félix’ Kinolaufbahn begann, wie sie selbst erzählt, zufällig, wurde doch die einfache Angestellte eines plastischen Chirurgen, der ihre natürliche Schönheit als ein Werk seiner Hände ausgab, beim Betrachten eines Schaufensters von einem Vertreter der aufsteigenden Kinoindustrie entdeckt.35 Wie Lara hatte auch sie auf dem Gebiet, auf dem sie Weltruhm erlangen sollte, keine Ausbildung in der Kindheit und Jugend erhalten. Kaum aber hatte sie ihren ersten Film gedreht, verstieß sie der Vater aus der Familie, zu unehrenhaft sei diese Tätigkeit für eine junge Frau aus gutem Hause.

30

Rutiaga 2004, 13, 173.

31

Kris 1977, 51-74.

32

Krauze 2005, 14.

33

Krauze 2005, 14-15, Félix 2005, 56-57.

34

Félix 2005, 58-61, 69-70.

35

Félix 2005, 68-71.

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Abb. 1: María Felix (wikicommons) In ihrer weiteren biographischen Narration wird die Filmschauspielerin María Félix wahrhaftig zur Diva, zur Göttin, die es vermag, den Leben der einfachen Menschen Glück und Sinn zu schenken. So soll ihr ein alter Museumswärter kostbare Muscheln aus der ihm ja nur anvertrauten Sammlung übergeben haben, und zwar mit dem Argument, dass er während seines langen ereignislosen Lebens nur auf diesen einen Moment, auf die Ankunft der Göttin María Félix gewartet habe; dieser Moment sei nun gekommen und es lohne sich, für eine so wunderschöne Frau zu stehlen.36 Dass sie alle großen Künstler und Intellektuellen ihrer Zeit persönlich kannte, und viele, wie Pablo Picasso, Salvador Dalí oder Jean-Paul Sartre, dessen Sekretär Jean Cau einer ihrer Liebhaber war, nicht ausstehen konnte,37 dass sie viermal verheiratet war und zahlreiche Liebhaber hatte, oder dass sie einmal gar nicht auftreten wollte, obwohl das Theater ganz voll war, und schließlich nur vor den Vorhang trat, um dem Publikum schlicht und kurz eine Gute Nacht zu wünschen, all das erwartet man von einer Diva. Dass sie aber auch dem Tod des berühmten Toreros Manolete in einer spanischen Stierkampfarena beiwohnte38 und mit eigenen Augen zusehen musste, wie ein Mann durch die offene Tür eines fliegenden Flugzeugs hinausgesogen wurde,39 das mutet selbst für den mit Diva-Anekdoten Vertrauten doch etwas viel an.

36

Félix 2005, 117.

37

Félix 2005, 153.

38

Félix 2005, 116.

39

Félix 2005, 130.

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Weniger verwundert, dass auch bei ihr, so wie bei Agustín Lara, vom Publikum eine Einheit zwischen Leben und Werk hergestellt wurde und sie selbst, diese Einheit durch ihr inszeniertes Leben auch noch förderte. Wie bei Lara wurde übrigens auch ihre Kunst von der Kirche verurteilt, wobei der Himmel aber auf ihrer Seite gestanden zu haben scheint, denn den Bischof von Caracas, der seinen Gläubigen verbot, sich die Félix, die eine „devoradora de hombres, destructora de hogares y un peligro para toda la sociedad“ – „ein Männer verschlingendes Monster, eine Familienzerstörerin und eine Gefahr für die ganze Gesellschaft“40 sei, auf der Bühne anzusehen, traf doch umgehend nach dieser Drohung der Schlag.41 Wie bei Agustín Lara ergibt sich auch bei der Doña erst retrospektiv ein überhöhtes Diva-Bild und ein für die Diva so typisches Amalgam von Leben und Rollen, das den spanisch-mexikanischen Schriftsteller und Journalisten Paco Ignacio Taibo I sogar veranlasste zu schreiben, dass keiner der Filme, die sie drehte, an die Größe ihrer Person heranreichen würde.42 Die Diva, die ihrem Werk ihren Status verdankt, ist eben mehr als nur dieses. Ein anderer (wenngleich nicht sehr seriös arbeitender) Biograph nennt ihre Arbeit überhaupt erst an sechster Stelle unter den Dingen, die nach ihrem Ableben im Gedächtnis der Menschen weiterleben würden, und nennt davor „ihre Erscheinung, ihr Andenken, ihre Ideen, ihre Gedanken, ihren Werdegang“.43

40 41

Félix 2005, 186; vgl. Taibo I 2008, 101-102. In Todas mis guerras wird die Wendung „destructora de hogares“ übrigens gleich zweimal verwendet (Félix 2005, 86 und 186).

42

Taibo I 2008, 612. Vgl. auch Paranaguá 1998: „The forty-seven titles in her filmography leave us with the bitter feeling that her films never quite reached the heights of her legend. “

43

Rutiaga 2004, 173: „Su imagen, su recuerdo, sus ideas, sus pensamientos, su trayectoria, su trabajo, sus aficiones, sus amores, sus maridos y todo ese cúmulo de vivencia y experiencia que acumuló a través de los años y de su vida nos quedan para siempre en el recuerdo“. Übersetzung: „Ihre Erscheinung, ihr Andenken, ihre Ideen, ihre Gedanken, ihr Werdegang, ihre Arbeit, ihre Hobbies, ihre Männer und das Ganze ihres Lebens und ihrer Erfahrungen, die sie im Laufe der Jahre und ihres Lebens angehäuft hat, bleiben für immer in unserer Erinnerung. “

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G ENDER -T RANSGRESSIONEN Die beiden Beispiele María Félix und Agustín Lara machen zwei Dinge deutlich: Erstens, dass der Diva-Status zu einem sehr großen Teil erst retrospektiv zuerkannt wird; und zweitens, dass bisher einem anderen Aspekt bei der Betrachtung des Phänomens der Diva zu wenig Augenmerk geschenkt wurde, nämlich ihren Gender-Transgressionen. Diese lassen sich allerdings nicht nur bei María Félix und Agustín Lara, sondern auch bei anderen berühmten Diven beobachten, so bei eher „herrischen“ Frauen-Diven wie Sarah Bernhardt oder Maria Callas genauso wie bei „weiblichen“ Männer-Diven wie König Ludwig II. von Bayern oder Andy Warhol.44 Bei Agustín Lara und bei María Félix lassen sich diese Gender-Transgressionen ganz eindeutig herausarbeiten, und zwar sowohl in ihren inszenierten Leben als auch in ihren Werken. María Félix’ Vordringen in Männerdomänen zeigt sich in ihrer Biographie mehrfach: In ihrer Kindheit trug sie schon gern Hosen, was ihre Schwestern als Skandal empfanden,45 und als Schauspielerin übernahm sie später oft Hosenrollen,46 sie verkörperte in vielen ihrer 47 Filme extrem selbstbewusste, wenn nicht herrische Frauen, die auch nicht davor zurückschrecken, Gewalt anzuwenden, wie z. B. sehr deutlich in Doña Bárbara oder La Generala. Sie hasste nach eigenen Aussagen seit ihrer Jugend häusliche Pflichten, wie Kochen, aber auch den Katechismus.47 Schließlich ist im Zusammenhang mit ihrer Biographie des Öfteren von Homosexualität die Rede, auch wenn María Félix selbst jedes gleichgeschlechtliche Begehren für sich stets in Abrede gestellt hat.48 Auch der Satz, dass ihr die Mutterliebe immer als eine der kitschigsten Dinge erschienen sei,49 ist mit üblichen Vorstellungen von Weiblichkeit nicht in Einklang zu bringen. Schließlich wird sie mehrfach als „mujer con corazón de hombre“,

44

Die hier angeführten Beispiele sind alle dem genannten Buch von Bronfen und Straumann (2002) entnommen.

45

Félix 2005, 42.

46

Taibo I 2008, 109-112; vgl. auch Paranaguá 1998.

47

Félix 2005, 52.

48

Félix 2005, 119 und 131.

49

Félix 2005, 113.

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als „Frau mit einem Männerherz“ bezeichnet.50 María Félix’ Gender-Transgressionen stehen gänzlich außer Zweifel. Auch bei Agustín Lara lässt sich, allerdings auf den ersten Blick weniger deutlich, ein Aufbegehren gegen klassische männliche Verhaltensmuster finden. In seinen Liedern sind passiv leidende Subjekte unübersehbar, und zwar in einem Ausmaß, das jenes des leidenden männlichen artikulierten Ichs, so wie wir es seit Petrarca kennen, weit übersteigt. In seinem bekannten Lied „Noche de ronda“ wartet z. B. ein männliches Ich sehnsüchtig und leidend auf die Geliebte, die sich zu nächtlicher Stunde in den Straßen und Bars herumtreibt. In einem anderen Bolero, in „Amor de mis amores“, finden wir ein männliches Ich, das sich vom Du Blumen der Hoffnung erwartet. Auch wenn es sich hier um eine Metapher handelt, ist das Bild der zu empfangenden Blumen für ein männliches Ich doch sehr ungewöhnlich.51 Aber nicht nur das männliche Ich der fiktionalen Liedtexte Laras erwartet sich Blumen, auch für ihn selbst war es im realen Leben wichtig, stets Blumen um sich zu haben, in der Garderobe, auf der Bühne, zu Hause.52 Bei einer anderen Gelegenheit, als ihm Nat King Cole aus Ehrfurcht und Bewunderung die Hände auf der Bühne küsste, soll er sich dabei nicht unwohl gefühlt haben, weil ein Mann einem anderen Mann die Hände küssen wollte, sondern weil seine Hände viel zu hässlich seien, um überhaupt geküsst zu werden.53 Am Ende seines Lebens schließlich möchte er sich – genauso wie Greta Garbo oder Marlene Dietrich – nicht mehr dem Publikum zeigen; wenn er aber einmal ein Interview gibt, so wie für den bereits genannten Paco Ignacio Taibo I, dann schwebt er dem wartenden Journalisten eine lange Treppe herabsteigend wahrhaft als Diva entgegen.54 Agustín Lara war sich dieser außergewöhnlichen und maskulinitätsgefährdenden Selbstinszenierung durchaus bewusst, ließ er doch in seiner vielleicht berühmtesten Selbstaussage aus der späteren Zeit seines Lebens durchblicken, dass er wisse, dass seine romantische Leidenschaft, seine übertriebene romantische Leidenschaft, etwas Prekäres habe, etwas Gender-Prekäres, wie man hinzufügen möchte:

50

Pizarro 2009, 186 und 193-194; Krauze 2005, 17.

51

Vgl. Laferl 2012, 35.

52

Taibo I 1985, 81-83.

53

Taibo I 1985, 33.

54

Taibo I 1985, 9.

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Jeder Romantiker hat ein feines Gefühl für den Kitsch, und dieses nicht zu verleugnen, spricht für seine Intelligenz. Den Frauen gefällt es, dass es so ist, und wegen ihnen werde ich nicht Männer vorziehen. Aber diese Eigenschaft gehört auch zu einer Künstlerpersönlichkeit und auf diese werde ich nicht verzichten, wie so viele, nur um ein harter Mann zu sein, ein Clown hinter vorgefertigten Masken, mit eingeübter Gefühllosigkeit.55

Lieber übersteige er Gender-Erwartungen als der Kunst zu entsagen. Dieses Zitat mag als bedingungsloses Bekenntnis zur Kunst gelesen werden können, es stellt aber genauso einen Schritt zur Aufgabe von Männlichkeit, zumindest von traditioneller Macho-Männlichkeit, dar.

R EDEFINITIONEN Wenn wir nun zu den Elementen zurückkehren, die nach Bronfen und Straumann eine Diva ausmachen, dann finden wir bei Agustín Lara und María Félix fast eine Deckungsgleichheit von Leben und Werk in ihren biographischen Erzählungen, den eigenen wie den fremden. Ganz gewiss kommt bei beiden auch eine hohe Lebensintensität zum Ausdruck. Wenn man sich ansieht, wie viel die beiden für den Film und die Musik von den späten 1920er bis in die 1960er Jahre geleistet haben, noch mehr aber, wie reich sie gelebt und wie abwechslungsreich sie geliebt haben, dann muss man sich fast fragen, wie all das in einem einzigen Leben und in einem einzigen Gefühlshaushalt Platz finden konnte. Wenn wir aber nun zu dem für Bronfen so zentralen Punkt der dem Publikum vorgeführten Versehrtheit der Diva kommen, so mag ein diesbezüglicher Befund bei Lara möglich sein, bei María Félix, die auch Octavio

55

Original: „Cualquiera que es romántico tiene un fino sentido de lo cursi y no desecharlo es una posición de inteligencia. A las mujeres les gusta que así sea y no por ellas voy a preferir a los hombres. Pero ser así es, también, una parte de la personalidad de artista y no voy a renunciar a ella para ser, como tantos, un hombre duro, un payaso de máscaras hechas, de impasibilidades estudiadas.“ (Taibo I 1985, 20 und Monsiváis 1978, 62)

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Paz ausdrücklich als Diva bezeichnet,56 kann hiervon nichts gefunden werden. Nicht einmal die für Künstler so oft angenommene Hypersensibilität lässt sich bei ihr ausmachen. Wenn wir bei ihr überhaupt von einer Versehrtheit sprechen wollten, dann nur aus der bereits mehrmals angesprochenen angenommenen Versehrtheit aus der Retrospektive, also aus der Sicht des Alters. Bei Lara mag man die Grundversehrtheit der Hässlichkeit annehmen dürfen, aber in der Biographie und in der Selbstinszenierung von María Félix lässt sich von besonderen Verletzungen nichts bemerken. In ihrer Autobiographie spricht sie nur einmal ausdrücklich vom Verlust der Schönheit, aber auch hier nicht in der Tonlage der Wehmut.57 Das mag vielleicht nicht ganz der Wahrheit entsprechen, diese Auslassung beweist aber hinlänglich, dass María Félix keine Versehrtheit nach außen hin zelebrieren wollte. Es darf als gewiss gelten, dass sich María Félix niemals als fragile Diva in Szene setzen wollte! Des Weiteren kann man bei María Félix nicht von einer Stärke sprechen, die ihre Kraft einzig aus der Kunst bezieht, sondern vielmehr aus einer in ihrem Naturell früh grundgelegten Selbstsicherheit. María Félix ist keine Frau, in der sich ein schüchternes und verletzliches Mädchen verbirgt, das erst durch die Kunst und den Erfolg stark wird und wächst. Sie scheint ganz im Gegenteil schon ihr ganzes Leben lang stark gewesen zu sein; und in der Tat wird ihr Wunsch, immer vorne dabei zu sein und berühmt zu werden, in

56

Der große mexikanische Dichter und Essayist schrieb in seinem kurzen Text „Razón y elogio de María Félix“ wortwörtlich und mit allem Nachdruck: „Todos sabemos que María pertenece a la raza de las divas y los ídolos“ – „Wir alle wissen, dass María zur Gattung der Diven und Idole zählt.“ (Paz 2001, 152)

57

Relativ prosaisch heißt es am Ende von Todas mis guerras (Félix 2005, 256): „Yo no me conservo congelada en el refrigerador como una chuleta. Me conserva mi vitalidad, el interés que tengo por todo. A cierta edad la belleza se va y entonces lo que importa es tener el corazón en fiesta, como lo tengo yo.“ Übersetzung: „Ich halte mich nicht wie ein Kotelett im Kühlschrank frisch. Meine Vitalität hält mich frisch, das Interesse, das ich für alles aufbringe. Ab einem gewissen Alter verlässt uns die Schönheit, und ab diesem Moment zählt das Herz, das feiert, so wie meines.“

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ihren biographischen Narrationen mehrfach genannt.58 Zu ihrem Egoismus bekannte sich die selbstbewusste Diva ganz bewusst.59 Und so lässt sich dieser kurze Aufsatz mit dem Zweifel schließen, ob die Versehrtheit vielleicht doch nicht die wesentlichste Eigenschaft der Diva ist, sondern als zentral einfach ihre große Schönheit gelten muss, sei es die ihres Körpers, sei es jene ihrer Kunst. Diese Schönheit der Diva paart sich allerdings mit zwei Faktoren: einerseits mit dem Wissen um die Macht, die von dieser Schönheit ausgeht, und andererseits mit der Einsicht, dass diese Schönheit nicht ewig währt. Diese Angst und später die mit dem Verlust verbundene Trauer begleitet aber das Leben vieler Menschen, wenn auch – wie anzunehmen ist – in den meisten Fällen weniger intensiv als jenes der Diva. Denn die Vielen haben in der Regel keine Bühne, auf der sie ihre Schönheit und ihre Kunst zelebrieren können, so wie dies bei Agustín Lara und María Félix der Fall war, und – trotz der 15 minutes of fame, die Andy Warhol allen Sterblichen zubilligen wollte – sind sie daher auch weniger vor die Aufgabe gestellt, Rollen mit Körpern zu verschränken und sich ständig als erhaben zu inszenieren.

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58

Félix 2005, 55, 73, 211 und 227.

59

Félix 2005, 257-258.

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Taibo I, Paco Ignacio 1985. Agustín Lara. México, D. F. (Ediciones Júcar). Taibo I, Paco Ignacio 2008. María Félix. 47 pasos por el cine. Barcelona/Bogotá/Buenos Aires u. a. (Bruguera). Torres, José Alejandro 2004. Agustín Lara. México, D. F. (Grupo Editorial Tomo). Vocabolario Treccani 21997. Roma (Istituto della Enciclopedia Italiana. Fondata da Giovanni Treccani).

Heimrad Bäcker: Parataxe und Projekt PATRICK GREANEY

AUTOR UND STAR Es ist üblich am Anfang eines Artikels über einen nicht sehr bekannten Autor oder Künstler, wie Heimrad Bäcker, ein kurzes biographisches Porträt zu skizzieren. So ein Porträt bildet den Rahmen für die darauffolgende Interpretation des Werkes oder einzelner Texte, auch wenn sie sich nicht ausdrücklich auf die Biographie bezieht. Eine Biographie, auch eine skizzenhafte, macht das Werk und den Künstler zugänglicher, menschlicher und vielleicht auch spannender. Bei kanonischen Autoren ist eine derartige Vorgangsweise nicht nötig, da man voraussetzen kann, dass ihre Biographien allgemein bekannt sind. Der Wissenschaftler darf diese Kenntnis voraussetzen, aber die Biographie ist nicht weniger präsent, als wenn er sie selber zusammengefasst hätte. Ein Ziel einer biographischen Einleitung ist es oft, nicht oder noch nicht kanonisierte Autoren in den Rang der literarischen Größe zu erheben. Dabei werden unbekannte Autoren oft so dargestellt, dass ihre Nähe zu bekannten Autoren oder bekannten literarischen Strömungen sichtbar wird. Bisweilen werden ihre Biographien auch so verfasst, dass sie irgendwie besonders erscheinen. Ohne diese Nähe zur Größe oder zum Außergewöhnlichen wirken nicht nur Autoren sondern auch Wissenschaftler, die ihre Werke behandeln, fad, ähnlich altmodischen Philologen, die sich mit unbekannten und für immer unbekannt zu bleibenden Autoren abgeben und die keinen Beitrag zur interdisziplinären Diskussion leisten. Im Vorwort zu ihrem Sammelband Leben als Kunstwerk: Künstlerbiographien im 20. Jahrhundert schreiben Christopher Laferl und Anja Tippner von den Starqualitäten, „die Künstler

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aus der Masse herausheben“, und diese Qualitäten wirken auch metonymisch für den Wissenschaftler.1 In seinem Aufsatz „Die biographische Mode“ beschreibt Leo Löwenthal diese erwünschte metonymische Wirkung bei Autoren von Biographien in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts: Hinter der Elite der historischen Helden [in diesen Biographien] verbirgt sich der verdrängte Wunsch [des Biographen], zur Elite der Mächtigen der Gegenwart zu gehören... Die Biographie drückt den Wunsch aus, eine Biographie selbst zu leben, den Wunsch, einer zu sein, der es im Konkurrenzkampf geschafft hat.2

Löwenthal zeigt, wie die „Anbetung des Einzigartigen und Außerordentlichen der Individualität“ ihren Grund „in der Sorge“ hat, nur „ein verwehendes Stäubchen zu sein“. Und er behauptet, dass „der Hymnus des Individuellen“ eigentlich nur „die Wunschphantasie der Autonomie“ des Biographen darstellt.3 Löwenthals Diagnose gilt dem gleichen Zeitalter, in dem nach Guy Debord eine neue Phase der Verdinglichung des Lebens entsteht. In Debords Theorie des Spektakels spielt „la vedette“, „der Star“, eine ähnliche Rolle wie der biographische Held bei Löwenthal. Der Star repräsentiert nach Debord die spektakuläre Vorstellung des lebendigen Menschen... [und soll] die Zerstückelung der wirklich erlebten Produktionsspezialisierungen aufwiegen. Die Stars sind da, um verschiedenerlei Typen von Lebensstilen und Gesellschaftsauffassungen darzustellen, denen es global zu wirken freisteht.4

Der Star stellt ein Bild des gesamten Lebens dar, das der Entfremdung entkommt. Debord kritisiert nun nicht nur die Kompensierungsfunktion des Stars und das fragmentarische Leben, das eine Kompensation aufsucht. In seinem früheren „Rapport zur Konstruktion von Situationen“ geht Debord noch weiter, indem er den Begriff des Lebens überhaupt kritisiert. „Die situationistische Theorie,“ schreibt Debord,

1

Laferl/Tippner 2011, 9.

2

Löwenthal, 250.

3

Löwenthal, 245.

4

Debord 1967, §60.

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behauptet entschieden eine diskontinuierliche Lebensauffassung [une conception non continue de la vie]. Der Begriff der Einheitlichkeit wird von der Perspektive eines ganzen Lebens – in der er eine reaktionäre Mystifizierung ist, die sich auf den Glauben an die unsterbliche Seele und in letzter Konsequenz auf die Arbeitsteilung gründet – auf die vom Leben isolierten Augenblicke und die Konstruktion jeden Augenblicks durch den einheitlichen Gebrauch der situationistischen Mittel verlagert.5

Diese Kritik des Begriffs des „ganzen Lebens“ ist nicht so bekannt wie die situationistische Kritik an der Kunst als einem autonomen Bereich, aber die beiden hängen eng zusammen. Die Kunst soll nach Debord verschwinden, und das Leben als Einheit auch. Beide wiegen die Entfremdung auf, und wenn die Entfremdung verschwinden muss, dann haben auch ihre falschen Kompensationen ausgedient. Die Aufhebung von Kunst und vom Leben findet nach Debord im détournement statt – d.h. in einer „spielerisch-experimentellen Zweckentfremdung und Aneignung kultureller Gegenstände“.6 Das détournement ermöglicht die Überwindung der passiven vita contemplativa und die Erfindung einer neuen vita activa, d. h. eines Lebens, in dem man sich und die Gesellschaft aktiv gestaltet. Eine Auseinandersetzung mit diesen Begriffen ist wichtig, nicht nur für die Literaturwissenschaft und die Kunstgeschichte, sondern auch für die Politik, weil das Leben des Künstlers immer häufiger als Vorbild für das Leben und die Arbeit überhaupt fungiert. Wenn man nach Michel Foucault das Leben als Kunstwerk gestalten soll und wenn nach Michael Hardt und Antonio Negri das kreative Leben des Künstlers als Vorbild sowohl für die immaterielle Arbeit am heutigen Markt als auch für den Widerstand dagegen dienen soll, muss dieses Leben auch kritisch betrachtet werden.7

5

Debord 1980, 53 (Übersetzung korrigiert nach Debord 2006, 326).

6

Baumeister, 186.

7

Hardt/Negri, 59-63. Vgl. Lazzarato 1997 und Revel 2010, 273-304.

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P ARATEXTE In den literarischen, theoretischen und künstlerischen Werken Heimrad Bäckers findet man eine kritische Auffassung vom Leben des Künstlers, das nicht nur Zusatz zum eigentlichen künstlerischen Werk sein soll. Deshalb ist es nicht möglich, Bäcker naiv biographisch vorzustellen, sondern es liegt nahe, ihn sich selber vorstellen zu lassen. Auf der hinteren Umschlagklappe von Bäckers Buch nachschrift 2 von 1997 (das der nachschrift von 1986 folgt) stellt Bäcker sein Leben in vier Absätzen vor, die jeweils einen Lebensabschnitt beschreiben (Abbildung 1).

Abb. 1: Hintere Umschlagklappe von Heimrad Bäcker, nachschrift 2 Quelle: Heimrad Bäcker, nachschrift 2

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Bäcker stellt hier sein Leben parataktisch dar. Erstens: die Jugend, die HitlerJugend und die Parteimitgliedschaft. Mit der ausdrücklichen Referenz auf seine Parteimitgliedschaft und seine Arbeit in der Gebietsführung der HJ nimmt Bäcker im unmittelbaren paratextuellen Apparat Informationen auf, die Autoren normalerweise auslassen und die Leser vermittelter erfahren, in Memoiren, als Gerücht, oder in der Sekundärliteratur. Zweitens, das Studium; drittens, die Karriere, Herausgeberschaft; viertens, eine Publikationsliste. Und am Ende kommt das Autorenfoto. Diese Spalte macht Bäckers Künstlerbiographie aus, die zum Verständnis von nachschrift 2 beitragen soll. In nachschrift 2 gibt es aber keine Erklärung zur Beziehung zwischen der Biographie und dem Text. Man nimmt an, dass dieses Buch mit der Vergangenheit des Autors zusammenhängt, und dass es zum Teil autobiographisch ist, auch wenn kein einziges Wort darin von Bäcker stammt. Diese Vermutung entspricht der von Ernst Kris und Otto Kurz beschriebenen Legende des Künstlers, die „Schöpfer und Schöpfung untrennbar“ verbindet.8 Bei Bäcker wird man sich der Kraft dieser Legende besonders bewusst, auch wenn seine Methode jede unmittelbare Verbindung zwischen literarischem Werk und Innerlichkeit des Autors eigentlich ausschließt. Die Einbeziehung des Klappentexts in die kritische Betrachtung seiner Schriften entspricht Bäckers Literarisierung anderer paratextueller Elemente. Nachschrift 2 besteht wie Bäckers andere Hauptwerke – nachschrift und EPITAPH – aus Zitaten, die Bäcker historischen Dokumenten über die Shoah entnimmt und die er mit den Methoden der konkreten und visuellen Poesie bearbeitet. Für jede Seite gibt es eine Endnote mit einer Sigle, deren Entschlüsselung sich in der Bibliographie findet. Damit bettet Bäcker seine Texte in ein großes Korpus ein und lässt den Haupttext an sich unvollständig. In jedem Augenblick sind sich die LeserInnen bewusst, dass es mehr zu lesen gibt, als der Haupttext bietet. Jenseits des Haupttextes der nachschrift gibt es die Endnoten, die selber codierte Referenzen enthalten und sich auf eine Bibliographie beziehen, die ihrerseits auf eine ganze Bibliothek deutet. Die Endnoten und die Bibliographie spielen eine wesentliche Rolle in der Lektüre von Bäckers Texten. Die Leser müssen zwischen dem Haupttext, den Endnoten und der Bibliographie hin- und herblättern, weil oft das Zitat

8

Kris/Kurz, 127.

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und auch die Endnote nicht ausreichen, um den Haupttext zu verstehen, wie bei dieser Seite aus der nachschrift: 66 min 87 min 106 min 74 min 65 min 65 min 53 min 70 min 65 min 66 min 87 min 65 min9

Die Endnote erklärt, dass der Text aus einem Protokoll von „Unterkühlungsversuche[n] mit tödlichem Ausgang“ stammt, das mit der Abkürzung „IMT XXV/593, 598“ angegeben wird.10 In der Bibliographie findet man, dass „IMT“ für das Protokoll des International Military Tribunal steht.11 Ohne Endnote wäre die Liste unverständlich. Es gibt viele ähnliche Textstellen bei Bäcker. Die Endnoten sind wesentliche strukturelle Elemente in nachschrift. Sie spalten Bäckers Text; keine Seite des Haupttextes ist ganz, weil sie immer die Erklärung der Endnote zum Verständnis braucht. In anderen Worten: die Endnoten zeigen den unvollständigen Charakter des Textes auf. Bäcker schreibt in einem kurzen Text mit dem Titel „Widerspiegelung“ von „Literatur als eine[r] Möglichkeit, auch scheinbar nichtliterarische Elemente zur Literatur zu erklären“, und der biobibliographische Apparat besteht aus lauter nichtliterarischen Elementen (Endnoten, Bibliographie [die Bäcker immer als „Literatur“ bezeichnet], Klappentext...), die er zur Literatur erklären

9

Bäcker 1993, 79.

10

Bäcker 1993, 136.

11

Bäcker 1993, 139.

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möchte.12 Er macht sowohl die explizite Beziehung zu anderen Texten als auch das eigene Leben literarisch.13

P ARATAXE Die gewollte Unvollständigkeit von Bäckers Texten erscheint auch in Bäckers Verzicht auf die Syntax, der sich buchstäblich in seinen Sätzen und im übertragenen Sinn in der Werkstruktur bemerkbar macht. Kurze Auszüge von primären und sekundären Texten über die Shoah werden auf sonst leeren weißen Seiten zitiert, die ohne syntaktische Beziehungen aufeinanderfolgen. Ein Beispiel aus nachschrift zeigt, wie wichtig die Suspendierung der Syntax in Bäckers Texten ist: erst wenn ein volkstum in allen seinen gliedern zu jedem hohen gefühl dereinst und zusammengeschmiedet unerschüttert jede überschäumende kraft vom schicksal. denn die größten umwälzungen auf dieser erde fanatische leidenschaft zum heil der arischen menschheit dereinst das für die letzten und größten auf diesem erdball reife geschlecht ihre krönung hineinbrennt, auch in zukunft nicht nur im sinne der begrenzten auffassung sondern der schmerzlichsten erkenntnis unser blut doch zur niedersenkung bestimmt ist. wenn aus einem volke eine bestimmte summe höchste energie und tatkraft daß allein höheren menschentums überhaupt, aus dessen lichter stirne der göttliche funke und den menschen so den weg zum beherrschen, beginnen sich mit den unterjochten die letzte sichtbare spur des einstigen herrenvolkes im hellen hautton der brennstoff für die fackel des kulturfortschrittes! [...]14

Bäcker beraubt Mein Kampf seiner Syntax und dadurch seiner Selbstverständlichkeit und seines Anspruchs auf unmittelbare Mitteilung. Diese Methodik erscheint auch in einem sonst vielleicht trivial scheinenden Detail seiner Werke: das Weglassen des Punktes am Ende vieler seiner Zitate, auch wenn der Zitatschluss mit einem Satzschluss zusammenfällt. Damit entzieht

12 13

Bäcker 1994, 63. Für eine ausführlichere Interpretation der Unvollständigkeit bei Bäcker siehe Greaney 2010.

14

Bäcker 1993, 92. Vgl. Bäcker 1993, 18 und 100.

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Bäcker diesen Zitaten ihre Schlüsse und allegorisch ihre Stelle in einem zusammengefügten Ganzen. In seinem Essay „Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins“ behauptet Adorno, das Parataktische sei ein Merkmal von Hölderlins „Auflehnung wider die Synthese“: Der Logik dicht geschlossener und notwendig ins Nächste mündender Perioden eignet eben jenes Zwanghafte, Gewalttätige, von denen die Dichtung heilen soll und das von der Hölderlinschen unmissverständlich negiert wird. Sprachliche Synthesis widerspricht dem, was er zum Sprechen bringen will.15

Wie kann man diese Behauptung für eine Lektüre von Bäckers Werken fruchtbar machen? Was will Bäckers Dichtung zum Sprechen bringen? Die Spannung einerseits zwischen dem Gewalttätigen, das sich bei ihm in der unversöhnlichen Chronologie des Terrors manifestiert, die mit juristischen Maßnahmen anfängt und mit dem Morden endet, und andererseits dem, was über dieses Gewalttätige hinausweist. In „Parataxis“ nennt Adorno dieses Andere „das versöhnende Moment am Geist, das nicht in Naturbeherrschung sich erschöpft“16, die in der Dialektik der Aufklärung untrennbar mit dem Nationalsozialismus verbunden ist. An die Gegenwart dieser Versöhnung zu glauben wäre nach Bäcker aber in einem Zeitalter verfrüht, in dem es noch keine durchgehende Auseinandersetzung mit dem Erbe des Nationalsozialismus gegeben hat. Diese Beschuldigung richtet Bäcker nicht nur gegen Andere sondern auch gegen sich selbst. Seine Beschäftigung mit der eigenen Autobiographie hat keine Synthese erreicht, keinen einheitsstiftenden Schluss. Deswegen stellt er sein Leben parataktisch dar, genau wie er seine Werke parataktisch komponiert. Das Parataktische an Bäckers paratextueller Biographie entspricht dem Begriff des diskontinuierlichen Lebens bei Debord, und es hebt etwas allgemein Parataktisches an Bäckers Werk- und Biographiebegriff hervor. In seinem Aufsatz „Widerspiegelung“ findet sich eine passende Formulierung zur Beziehung zwischen seiner Jugend und seiner literarischen Tätigkeit als Erwachsenem:

15

Adorno 1974, 476. Vgl. Adorno 1970, 221.

16

Adorno 1974, 488.

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Ich als Autor unterziehe mich der Aufgabe, das Material zu erschliessen. In meiner Jugend der Phraseologie des Banalen erlegen, fasse ich es mit den Methoden der nachschrift (sie geht formalistische Wege, um das Geschehen umso schärfer hervortreten zu lassen). Wie viele Jahre das, was geschehen ist, auch zurückliegt, in den Dokumenten ist es von akuter Gegenwart.17

Bäcker lässt im zweiten Satz den Zusammenhang zwischen dem Infinitivsatz und dem Hauptsatz unerklärt. Wie versteht er den Bezug des jugendlichen Erlegenseins zu seinem erwachsenen „Fassen“? Der Satz lässt diese Frage unbeantwortet, was Bäckers Auffassung der „akuten Gegenwart“ entspricht. Das „was geschehen ist“ bleibt gegenwärtig. Das Akute bleibt irritierend unbeherrscht, ungemildert, wie die Gegenwart einer Nadel, einer acus. Seine Jugend wird nicht zu einem unter vielen aufeinanderfolgenden und einander auflösenden Lebensabschnitten. In einem parataktischen Leben bleiben die einzelnen Perioden unabhängig; eine darf die andere nicht beherrschen oder überwinden.

D IE AUFHEBUNG

UND DAS

P ROJEKT

Wenn man Bäckers Methode und seiner Lebensauffassung gerecht werden will, muss man nicht nur auf solche Begriffe wie die „Überwindung“ verzichten, sondern auch auf eine ganze Reihe von traditionelleren Begriffen, wie der Kunsthistoriker Detlef Hoffmann erklärt: [Bäcker] hat sein jugendliches Engagement in den Zusammenhang mit seiner Arbeit als Schriftsteller und Fotograf gebracht, beharrlich verweist er immer wieder darauf. Wo viele verschweigen oder ihre Vergangenheit – nicht nur die vor 1945 – jeweils neu umformulieren, besteht er auf den Sätzen des Siebzehnjährigen. Entsprechend können die, die über die Werke Bäckers schreiben, das gesamte christlich-deutschabendländische Reue-Musterbuch abschreiben. Von ‚persönlicher Verstrickung‘ und ‚Bekenntnis eines Irrtums‘..., von ‚Schuld‘ und von ‚Sühne‘ bis zur ‚nichtendenwollenden Scham‘. Ich halte diese Urteile für unproduktiven Tiefsinn und gebe zu bedenken, ob diese vor dem epochalen Verbrechen schon hervorragend etablierten Gesten, zur Beschreibung des Umgangs damit überhaupt tauglich sind. Das Christentum mit

17

Bäcker 1994, 62.

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seinem metaphysischen Entwurf von Schuld, Sühne und Erlösung gehört zu den Ideengebern nationalsozialistischer Ideologie, die Schuld und Erlösung samt Erlöser nicht müde wurde zu paraphrasieren... 18

Hoffmanns Kritik kann mit Debords Kritik auf einen Punkt gebracht werden: Wenn das Leben mit Begriffen wie Schuld und Sühne interpretiert wird, wird es zu einem kontinuierlichen Ganzen, was Bäckers Biographiebegriff nicht zulassen würde. Aber diese Begriffe sind trotz der offensichtlich nachteiligen Assoziationen schwer abzuschütteln und begleiten trotz allem Bäckers Werk, wie z.B. in einer Rezension der englischen Übersetzung der nachschrift im Times Literary Supplement deutlich wird: „After the war, he clearly looked into his own soul and did not like what he saw. Transcript is a kind of apology or reparation for the author’s and his action’s past“.19 Diese Begriffe – Entschuldigung und Wiedergutmachung – wollen unter der Hand alle Probleme lösen, die Bäckers Leben für die Wissenschaft aufwerfen. Wenn man sein Werk als Entschuldigung verstehen würde, würde ein Bild von Bäcker als Künstler entstehen, der das eigene Leben beherrschen und der diesem Leben eine Bedeutung verleihen kann. Diese Begriffe stellen damit eine Ganzheit her, die Bäcker bestreitet. So eine Rezension mag leicht zum Opfer der Kritik werden, aber es geht hier nicht darum, ihren Autor zu kritisieren, sondern zu zeigen, wie wichtig die Biographie des Künstlers in der Rezeption ist – und wie schwierig es ist, eine nuancierte Vorstellung von einem Künstlerleben wie jenem Bäckers zu vermitteln. Anstatt den Begriff der Überwindung zu gebrauchen, schlägt Bäcker im Anhang zu seinem Buch EPITAPH den Begriff der Aufhebung vor, um die Beziehung des Lebens zum Werk darzustellen. Er zitiert dabei eine Rezension, die er 1942 veröffentlichte: EPITAPH ist ein Schritt im Prozess der Aufhebung von Sätzen, die der Autor am 27.5.1942 in der Linzer Tages-Post schrieb: „Wir haben den Führer gesehen! Dieses Buch ist ein Spiegel dessen, was nie mit geschriebenem Worte auszudrücken, nur im Anblick dieser Bilder zu erleben ist: Ein Stück vom Menschen Adolf Hitler“. Die

18

Hoffmann 2000, 82.

19

Rudolf 2010, 10.

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Aufhebung…die subjektiv als Aufhebung der Position eines Siebzehnjährigen erscheinen mag, kann nicht mit einer Publikation zu Ende sein, sondern nur mit der Existenz des Autors.20

Das Aufheben ist bei Bäcker hegelianisch zu verstehen: Im dreifachen Sinne als Verneinen, Aufbewahren und Erhöhen und nicht nur als Überwindung. Die Aufhebung scheint in diesem Text ein literarischer, künstlerischer Prozess zu sein: Das einzelne Werk ist ein Schritt in diesem Prozess, der keinen künstlerischen Schluss hat, sondern nur ein biographisches Ende. Aber die Existenz des Künstlers ist auch als eine Aufhebung zu verstehen: Die Aufhebung ist zu Ende, wenn diese Existenz zu Ende ist. Genau wie Hölderlin wider die Synthese als etwas Gegebenes strebt, versteht Bäcker sein Werk als eine unvollständige Aufhebung. Das Zitieren als Methode scheint bei Bäcker eine besondere Beziehung zur Aufhebung zu haben. Das Zitieren hebt auf: Es ist eine Aufbewahrung und auch in der Dekontextualisierung und Rekontextualisierung eines Textes dessen Verneinung und Erhöhung. Wie bei Debord ist die Kunst bei Bäcker eine Art détournement und das Leben diskontinuierlich. Die Biographie ist ein wesentlicher Teil seines Werkes und nicht nur etwas, das das Werk interessanter machen soll. Wie kann Bäckers Begriff des Lebens vermittelt werden, z.B. in einer Rezension? Es ist unwahrscheinlich, dass die Aufhebung Begriffe wie ‚die Entschuldigung’ oder ‚die Wiedergutmachung’ aus den Seiten des Feuilletons drängt. Wie kann man dennoch Bäckers Biographiebegriff gerecht werden und gleichzeitig einem breiteren Publikum zugänglich machen? Beide Ansprüche werden mit dem Begriff des „Projekts“ befriedigt, wie Boris Groys ihn in seinem Aufsatz „Die Einsamkeit des Projekts“ definiert.21 Im Projekt wird das Leben zum Kunstwerk, und die Kunst zur Dokumentation

20

Bäcker 1990, 53. Die volle Rezension lautet: „Dißmann, Wegner Wir sahen den Führer (Verlag Frz. Schneider, Berlin-Leipzig) – Aus jeder Zeile dieses schlichten Bändchens leuchten dem Leser das größte Erlebnis unserer Buben und Mädel entgegen, leuchtet die glückhafte Freude: ‚Wir haben den Führer gesehen!’ Dieses Buch ist ein Spiegel dessen, was nie mit geschriebenem Worte auszudrücken, nur im Anblick dieser Bilder zu erleben ist: Ein Stück vom Menschen Adolf Hitler! Heimrad Bäcker“. Bäcker 1942.

21

Groys 2003. Vgl. Krebber 2007.

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des Lebens. Bäckers Lebenswerk ist ein einziges Projekt der Dokumentation, dem er in vielen Medien nachgeht. Als Projekt aufgefasst wird der Stellenwert der fast besessenen Wiederholung in seinen Werken betont, die ihn mit Künstlern wie On Kawara verbindet. In seinem Aufsatz nennt Groys keine Beispiele solcher Kunst, aber in der englischen Fassung gibt es eine Abbildung, die als Beispiel dient: sechs photographische Selbstporträts aus Opałkas Serie OPALKA 1965-∞.22 Obwohl die Wiederholung bei Bäcker nicht so streng wie bei Opałka eingehalten wird, kehrt Bäcker immer wieder zu den gleichen Stellen – in der Landschaft, im Gedächtnis, in Texten – zurück, um sein Projekt weiterzuführen. Ein Projekt deutet wie die Aufhebung auf einen Schluss, kann aber auch unvollendet bleiben. Man büßt vielleicht mit dem Begriff des Projekts etwas vom Diskontinuierlichen ein, das Bäcker anstrebt, aber man könnte auch sagen, das Brüchige nimmt als das Unvollendete im Projekt bloß eine andere zeitliche Form an: Jedes Projekt ist vor allem die Ankündigung einer anderen, einer neuen Zukunft, die nach Realisierung dieses Projekts eintreten soll.... Das Projekt versetzt seine Tage somit in eine parallele, heterogene Zeit. Und diese andere Zeit wird von der Zeit der Gesellschaft abgekoppelt – sie wird desynchronisiert23.

Ein diskontinuierliches Leben findet abseits von der chronologischen Reihenfolge eines selbstverständlichen syntaktischen Lebens statt. In diesem Abseits gibt es keine alternative Chronologie, sondern eine diskontuierliche Serie, deren Synthese aussteht. Bäcker versucht in seinem Leben und in seinem Werk auf das Fehlen dieser Synthese immer wieder zu deuten, und das sichtbarste Zeichen dieses Projekts ist die Parataxe, die in keiner Syntax aufgehoben wird.

22

Groys 2010, 80. Vgl. Rabaté 2005, 81-95.

23

Groys 2003, 165.

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B IBLIOGRAPHIE Adorno, Theodor W. 1970. Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main (Suhrkamp). Adorno, Theodor W. 1974. Noten zur Literatur. Frankfurt am Main (Suhrkamp). Bäcker, Heimrad 1942. Rezension von Wegner Dißmann, Wir sahen den Führer. In: Linzer Tages-Post, 27 Mai 1942. Bäcker, Heimrad 1990. EPITAPH. Linz (MÄRZ). Bäcker, Heimrad 1993. nachschrift. Verbesserte und korrigierte Neuauflage. Graz (edition neue texte/Droschl). Bäcker, Heimrad 1994. „Widerspiegelung“. In: Die Rampe 3, 59-63. Bäcker, Heimrad 1997. nachschrift 2. Graz (edition neue texte/Droschl). Baumeister, Biene/Negator, Zwi 2005. Situationistische Revolutionstheorie: Eine Aneignung. Vol. II: Kleines Organon. Stuttgart (Schmetterling). Debord, Guy 1957. Rapport zur Konstruktion von Situationen und andere Schriften. Hamburg (Nautilus). Debord, Guy 1967. Die Gesellschaft des Spektakels. Übersetzt von Jean-Jacques Raspaud. Hamburg (Nautilus). Debord, Guy 2006. Œuvres. Paris (Gallimard). Greaney, Patrick 2010. „Aestheticization and the Shoah: Heimrad Bäcker’s transcript“. In: New German Critique 37, 27-51. Groys, Boris 2003. „Die Einsamkeit des Projekts“. In: ders. Topologie der Kunst. München (Hanser), 161-171. Groys, Boris 2010. „The Loneliness of the Project“. In: ders. Going Public. Sternberg Press (New York), 70-83. Hardt, Michael/Negri, Antonio 2009. Commonwealth. Cambridge, MA (Harvard). Hoffmann, Detlef 2000. „Der Tod des Todes: Zu Fotografien Heimrad Bäckers“. In: Fotogeschichte 78, 77-88. Krebber, Michael 2007. „Projekt“. In: Texte zur Kunst 66, 108-109. Kris, Ernst/Kurz, Otto 1934. Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch. Wien (Krystall). Laferl, Christopher F./Tippner, Anja 2011. „Vorwort“. In: Laferl/Tippner (Hg.): Leben als Kunstwerk: Künstlerbiographien im 20. Jahrhundert. Von Alma Mahler und Jean Cocteau zu Thomas Bernhard und Madonna. Bielefeld (transcript), 7-28.

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Lazzarato, Maurizio 1997. Lavoro immateriale. Forme di vita e produzione di soggettività. Verona (Ombre corte). Löwenthal, Leo 1990. „Die biographische Mode“. In: Ders. (Hg.): Literatur und Massenkultur. Schriften Band I. Frankfurt am Main (Suhrkamp), 231-258. Rabaté, Dominique 2005. „Programming and Play: Life Drive and Death Drive in the Work of Georges Perec, Roman Opałka, and Jean-Benoît Puech.“ In: Gratton, Johnnie/Sheringham, Michael (Hg.): The Art of the Project. Projects and Experiments in Modern French Culture. New York (Berghahn), 81-95. Revel, Judith 2010. Foucault, une pensée du discontinu. Paris (Fayard). Rudolf, Antony 2010. „Rezension von Heimrad Bäcker, transcript und Charles Reznikoff, Holocaust“. In: Times Literary Supplement 10 July 2010, 10.

An Alternative History of Art: Il’ja Kabakovs sowjetisch-jüdische Fallgeschichten im Feld der Kunst ANJA TIPPNER

„What matters is not really what type of art dominates, but what type of artist.“1

Il’ja Kabakov 2 gilt als einer der wichtigsten russischen Künstler der Gegenwart. Seine Biographie ist geprägt von den typischen Verwerfungen einer sowjetischen Künstlerkarriere, die sich zwischen offizieller Kunst - manifestiert durch Arbeitsaufträge als Illustrator für große Verlage und die Mitgliedschaft im sowjetischen Künstlerverband - und inoffizieller Kunst - manifestiert durch Atelierausstellungen und eine Ästhetik, die der Doktrin des Sozialistischen Realismus widersprach - bewegt. Einerseits eignete sich Kabakov die Ausdrucksweisen und Malstile der sowjetischen Kunst an und reproduzierte diese für seinen Lebensunterhalt über lange Jahre hinweg auch perfekt,

1 2

Dieses Zitat aus einem Interview mit Kabakov findet sich in Bojarska 2009. Seit einigen Jahre signiert Il’ja Kabakov seine Kunstwerke zusammen mit seiner Frau Emilia. Die Anteile an den Kunstprojekten, für die Il’ja bzw. Emilia verantwortlich zeichnen, sind nicht zu ermitteln. Im Folgenden verwende ich den Namen Kabakov lediglich im Singular. Die gemeinsame Arbeit und ihre Zurschaustellung wäre ein anderer Aspekt der Künstlerinszenierung Il’ja Kabakovs, der jedoch mangels Selbstaussagen nur schwer erfasst und beschrieben werden kann.

168 | IL’JA KABAKOVS KUNSTHISTORISCHE FALLGESCHICHTEN

andererseits nahm er spätestens ab den 1960er Jahren eine kritische Distanz zu ihnen ein und setzte sich reflektierend mit der sowjetischen Semiosphäre und auch mit den Bedingungen der eigenen Kunstproduktion auseinander.3 Von Anfang zeichnet sich seine Kunstproduktion durch eine große Nähe zu literarischen und theatralischen Verfahren aus, die er nutzt, um seine „Totalen Installationen“ zu konstruieren und die von ihm hergestellte Artefakte in Szene zu setzen.4 Bereits seinen frühen Arbeiten eignet darüber hinaus eine Auseinandersetzung mit biographischem Material und sowjetischen Lebenslaufmodellen. So führt das Projekt „Zehn handelnde Personen/Ten Characters“ verschiedene Personen, wie „Den Mensch, der ins Bild geflogen ist“, „Den Sammler“, „Den unbegabten Künstler“, den „Mensch[en], der Nicolai Viktorovich gerettet hat“ und „Den Müllmenschen (Den Mann, der nie etwas wegwarf)“ in biographischen Fragmenten vor.5 In einem Gespräch mit Il’ja Kabakov formuliert der Kunsttheoretiker Boris Groys die Ansicht, dass es „diese anderen Leute“, die in den Installationen Kabakovs auftauchen, gar nicht gäbe, dass sie „Fiktion [seien], Phantome – letztlich erfundene Doppelgänger“ Kabakovs und Kabakov stimmt ihm zu, ergänzt jedoch die Personen seien „halb real“.6 Genauer wäre es deshalb auch, diese sogenannten „Personen“ als „Figuren“ zu bezeichnen, was ihrem Charakter als Fiktionen und dem Grad der Inszenierung, der die Alben auszeichnet, eher gerecht würde.7

3

Vgl. Kabakovs autobiographische Aufzeichnungen über das inoffizielle Feld der Kunst in Moskau in den 1960er und 1970er Jahren; Kabakov 1999.

4

„Totale Installationen“ sind nach Kabakov „vollständig bearbeitete Räume“, die in sich geschlossen sind und die den Betrachter „vollständig in sich aufnehmen“. Vgl. Kabakov 1995, 27, 13.

5

Vgl. die Dokumentation der Ausstellung dieser Installationen in Kabakov 1995, 385-388. Zur Beschreibung dieser Serie siehe Küppers 2000, 80, 83-87. Die Installation „Ten Characters“ geht auf die gleichnamige Alben-Serie zurück.

6 7

Kabakov/Groys 1991, 35, 36. Die „Personen“ erweisen sich auch insofern als „Figuren“ im literarischen Sinn, als dass sie bestimmte Handlungsrollen und genrespezifische Elemente wie etwa des Bildungsromans oder der Tragödie im künstlerischen Werdegang und im Scheitern der Figuren vorführen und somit Typen und nicht nur „Persönlichkeiten“ abbilden.

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In einem Autokommentar bezeichnet er die Erfindung und Realisierung dieser Figuren als eine Methode, die er aus der Literatur übernommen habe.8 Der russische Konzeptkünstler setzt diese Personen als Konkretisationen bestimmter Haltungen und ideologischer Konstellationen ein, durch die er sowjetische Lebenslaufmodelle ebenso wie seine eigene Künstlerkarriere reflektiert. Es geht Kabakov also nicht nur darum, seine Umwelt, sondern auch das künstlerische Feld mit den Methoden der Kunst zu analysieren und zu dokumentieren. Ein Projekt, das sich ausschließlich mit der Inszenierung von Künstlerschaft auseinander setzt, ist An Alternative History of Art: Rosenthal – Kabakov – Spivak. Es steht im Zentrum der folgenden Überlegungen zur Künstlerinszenierung im Medium von Ausstellung und Ausstellungskatalog sowie zum Verhältnis von Selbstreflexion und –stilisierung von Künstlerschaft bei Il’ja Kabakov. Die Installation An Alternative History of Art. Rosenthal – Kabakov – Spivak wurde (2004-2005) im Museum of Contemporary Art Cleveland gezeigt, Ausschnitte aus dem Projekt waren aber zuvor schon unter wechselnden Titeln an verschiedenen Orten zu sehen.9 Kabakov tritt in diesem Projekt in verschiedenen Rollen auf: als Kurator, Kunsthistoriker, Biograph und Künstler. Darüber hinaus vervielfältigt sich die Künstlerfigur auch noch auf andere Weise, und zwar durch die Einführung von drei Künstlerpersonae: Charles Rosenthal, Ilya Kabakov und Igor Spivak.10 Alle drei wer-

8 9

Kabakov 2004, 136. Kabakov/Kabakov 2004. Diese Ausstellung ist der Abschluss eines Projekts, das in seinen einzelnen Teilen und Phasen schon an anderen Orten gezeigt worden war. Vgl. Leben und Werk von Charles Rosenthal 1898-1933. Ausstellung im Städel, Frankfurt a.M., 10.12.2000-4.3.2001 und zuvor 1999 in Tokio. Vgl. den Katalog Kabakov 2000. 2008 zeigte er eine erweiterte Installation mit dem gleichen Titel noch einmal im Moskauer Ausstellungsraum Garaž. Für einen Kommentar zu dieser Ausstellung vgl. Degot 2008. Degot begreift die Ausstellung als ephemeres Museum, das verschwindet und mit ihm eine figurative Malerei, die es nicht in die Museen der modernen Kunst geschafft hat. Auf den gleichen Aspekt jedoch mit Betonung des Jüdischen hebt Kacis 2008 ab.

10

Die Installation wird zudem nicht mehr nur Il’ja Kabakov zugeschrieben, sondern auch seiner Frau Emilia, die seit über zehn Jahren für alle seine Arbeiten mit verantwortlich zeichnet. Neben seiner Frau Emilia spielt der Kunsthistoriker

170 | IL’JA KABAKOVS KUNSTHISTORISCHE FALLGESCHICHTEN

den in der Ausstellung und im Katalog durch quasi-dokumentarische Fotografien (Abb. 1-3) identifiziert, die sie als unterschiedliche Personen ausweisen, und mit Lebensläufen ausgestattet. Charles Rosenthal ist ein 1898 in Cherson geborener Maler, der u.a. in Vitebsk bei Chagall und Malevič studierte, die Sowjetunion 1922 verließ und nach Paris ging; trotz des Exils wird er als Gestalter früh-sowjetischer und sowjetischer Bildsprachen präsentiert.

Abb. 1: Il’ja Kabakov, Rosenthal, An Alternative History of Art Kabakov ist sein alter ego, ein Doppelgänger des Künstlers, der wie der reale Kabakov 1933 in Dnepropetrovsk geboren wurde und in Moskau Kunst studierte und gleichfalls aus der Sowjetunion emigrierte; er wird hier dennoch als ein „provinzieller Künstler“ präsentiert, dessen Ziel die Erforschung eines beschränkten Lebensraums ist.

Boris Groys für die Werkkonstitution von Kabakov eine tragende Rolle. Groys begleitet den kreativen Prozess von Kabakov fast von Beginn an kommentierend und interpretierend. Die Alternative History of Art wie andere Ausstellungskataloge Kabakovs enthält mehrere kurze Texte von Groys, die sich sowohl als Teil des Projekts als auch als Metatexte lesen lassen. Boris Groys begleitet das Werk des Künstlers so konstant, dass er selbst ein Teil davon zu werden scheint.

ANJA TIPPNER | 171

Abb. 2: Il’ja Kabakov, Kabakov, An Alternative History of Art Igor Spivak ist ein 1970 in Kiev geborener Künstler, dessen Lebensdaten kaum bekannt sind, der hier die post-sowjetische Tradition vertritt, die sich der sozrealistischen Kunst nostalgisch zuwendet.

Abb. 3: Il’ja Kabakov, Spivak, An Alternative History of Art

172 | IL’JA KABAKOVS KUNSTHISTORISCHE FALLGESCHICHTEN

Darüber hinaus stattet Kabakov alle drei Künstler mit einer Signatur, aber nicht mit einer eigenen Handschrift, einem Personalstil aus. Rosenthal und Spivak sind deshalb meines Erachtens keine Heteronyme, d.h. fiktive Künstlerpersönlichkeiten mit eigenem Stil und eigener Biographie, die eine Proliferation der eigenen Kunstproduktion sowie eine stilistische Diversifikation im Sinne Fernando Pessoas erlauben, sie sind Fallbeispiele, die bestimmte Konstellationen im Feld der sowjetischen Kunst repräsentieren. Ihre Aufgabe ist es jedoch nicht das Ausdrucksspektrum von Kabakov zu erweitern, da sie erkennbar Kabakovs eigenem Stil untergeordnet sind. In einem Gespräch mit dem japanischen Kunsthistoriker Yusuke Nakahara, das ein Kapitel des Ausstellungskatalogs ist, erklärt Kabakov, eine der wichtigsten Lektionen, die er nach seiner Emigration gelernt habe, sei: „establishing one’s identity and maintaining that identity until one died [is] the most important thing for an artist.“11 In den folgenden Überlegungen soll danach gefragt werden, inwiefern die hier vorgestellten Künstlerinszenierungen, die sich im Kontext eines anderen Gesellschaftssystems und einer anderen Epoche formiert haben, heute von Bedeutung sein können und sich auf andere Kontexte übertragen lassen. Diese Frage soll sowohl konzeptuell als auch anhand der konkreten Künstlerinszenierungen- und identitäten, die Teil von Kabakovs Installation sind, beantwortet werden. Dabei möchte ich folgende Prämissen formulieren: Die hier vorgestellten Künstleridentitäten sind ebenso wie die Paratexte der Ausstellung – wie Kommentare und Interviews – Teil der Kabakov’schen Selbstinszenierung und nicht ausschließlich Kunstobjekt. Teil der distinkten Künstleridentität mit der Kabakov sein alter ego in der Installation ausstattet, ist die fiktive Genealogie, in die die Kabakov-Figur hinein gestellt wird und in der sie von einem künstlerischen „Vater“ wie von einem „Sohn“ flankiert wird.12 Mit Installationen wie An Alternative

11

Kabakov 2004, 136. Im Kontext sowjetischer Künstleridentitäten, die sich wie andere sowjetische Rollenmodelle zwischen dem Exemplarischen und Kollektiven situieren mussten, spielte die ausgeprägte Individualität eine geringere Rolle.

12

Murav 2011, 335.

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History of Art gehört Kabakov damit zur immer größer werdenden Zahl „forschender Künstler“13, die Methoden, Theorien und Themen aus den Wissenschaften aufgreifen und ihre künstlerische Praxis um Strategien des Forschens erweitern, ohne sich an die strengen Regeln wissenschaftlichen Arbeitens gebunden zu fühlen. Häufig geschieht dies durch umfangreiche Dokumentationen eigener Schaffens- und Rechercheprozesse sowie durch begleitende Metatexte. Neben gesellschaftlichen und theoretischen Fragen kann auch die Auseinandersetzung mit der Geschichte der eigenen Disziplin in den Bereich der künstlerischen Forschung zugerechnet werden. Der Künstler als Forscher partizipiert an einem „institutionellen Verfahren“ und damit an einer „zeitgenössische[n] Methode“, deren Ziel es ist, „das Konzept ‚Kunst‘ zu erhalten und zu verwalten“, indem Kunst einen Beitrag zur allgemeinen Wissensproduktion leistet.14 Vor der Folie der offiziellen sowjetischen Kunstgeschichtsschreibung stellt sich die Frage nach „Alternativen“ umso dringlicher.15 Wichtig im Kontext der Frage nach Künstlerinszenierungen ist, dass Forschung nicht einfach eine „Erweiterung des Rollenprofils“16 ist, sondern dass sie ausgestellt wird und integraler Bestandteil des künstlerischen Projekts und der künstlerischen Selbstdarstellung ist. Als gemeinsamer Nenner zwischen Kunst und Wissenschaft fungiert das „Projekt“, als partizipative, zielgerichtete und temporäre Organisationsform gleichermaßen.17 Für die Realisierung seines künstlerisch-forschenden Projekts bedient sich Kabakov eines Genres, das an der Grenze zwischen Literatur und Wissenschaft angesiedelt ist: der Fallgeschichte. Fallgeschichten – seien sie medizinischer, juristischer, literarischer Art – konzeptualisieren Biographien, indem sie in individuellen Geschichten generalisierbare, allgemeine Aspekte sehen. Sie konstruieren, wie Peter Brooks schreibt, „exemplary lives“.18 Fallgeschichten kombinieren also immer das Partikulare, Individuelle mit dem

13

Zu diesem Thema vgl. Caduff 2010; Balkema/Slager 2005.

14

Sá Cavacalcante Schuback 2008, 18.

15

Die Frage nach dem Verhältnis von „alternativer“ und offizieller Kunstgeschichte diskutiert Johnson 2010 am Beispiel neuerer Publikationen und von Kabakovs Installation. Er bestätigt damit den metatextuellen, forschenden Aspekt von Kabakovs Arbeit.

16

Fastert/Joachimidis/Krieger , 12.

17

Klopotek 216.

18

Brooks 1984, 284.

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Allgemeinen, dem Generalisierbaren, sie postulieren Einzigartigkeit und Wiederholbarkeit zugleich. Insbesondere psychoanalytische Fallgeschichten, wie etwa Freuds Studien „Der Rattenmann“ oder „Der kleine Hans“ können als Prototypen des modernen kulturkritischen Genres „Fallgeschichte“ gelten und begründen so einen modernistischen Kanon epistemologischer Erzählungen.19 Die Transformation von Lebensgeschichten und Objekten in repräsentative Künstlerbiographien und Kunstwerke bedarf im Bereich der Kunst des „Kultraums des Kunstsystems“, des Museums, wie Oskar Bätschmann schreibt, ohne den die „magische Umwandlung“ nicht gelingen kann.20 Kabakovs Auseinandersetzung mit der sowjetischen Kunstgeschichte lässt sich als ein solches Projekt an der Grenze von Kunst und Forschung betrachten, weil es in Form von Fallgeschichten nach Künstleridentitäten, überkommenen Formen der Inszenierung von Künstlerschaft und russischen bzw. sowjetischen Künstlergenealogien fragt.21 Seine Auseinandersetzung mit Künstlerbiographien in Form von „Fallgeschichten“ hebt dabei nicht so sehr auf das Pathologische ab, sondern fokussiert eher Fragen nach der Evolution von Kunst und nach dem generationellen Verhältnis von Künstlern in der Sowjetunion. Sie weist damit gegenüber Fallgeschichten, die mit Biographien konkreter, nur schwach anonymisierter Personen arbeiten, den Vorteil auf, keine Persönlichkeitsrechte zu verletzen: Hier werden Lebenslaufmodelle vorgeführt und nicht konkrete Personen. Seine Installation ist zugleich auch eine besondere Form der Künstlerinszenierung, die Kabakov in Anschlag bringt, um seine Überlegungen zum Verhältnis von Künstlersubjekt und totalitärer Kunstideologie nicht nur visuell, sondern auch narrativ umzusetzen und sich selbst für ein Publikum zu kontextualisieren, das diese Geschichte nicht teilt und kennt. Jeder, der hier präsentierten Künstler wird zum „Fall“, weil seine Biographie als funktional im Hinblick auf eine bestimmte Phase der sowjetischen Kunstgeschichte und die ihr eigenen Produktionsbedingungen und das jeweilige Verhältnis zu Avantgarde und Sozrealismus inszeniert wird. Seine Installation bewegt sich damit konstant auf zwei Ebenen:

19

Wells 2003, 353-354.

20

Bätschmann 1997, 227.

21

Man könnte allerdings mit Boris Groys anmerken, dass bereits die „Personen der Alben Künstler [seien], […] die entlang der Entwicklung verschiedener Kunststile des 20. Jahrhunderts“ organisiert seien und das sich „in den Alben die ganze Geschichte der modernen Kunst“ abspiele. Groys 1991, 154.

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der Ebene der Produktion, auf der die Künstlerpersönlichkeit ihre Kreativität und ihr ästhetisches Konzept vermittels Artefakte zum Ausdruck bringt und der Ebene der Reflexion, auf der die Künstlerpersönlichkeit die Bedingungen von Kreativität und künstlerischer Evolution analysiert und darstellt. Auf der ersten Ebene kreiert er exemplarische Objekte und auf der zweiten Ebene gestaltet er die Erfahrung dieser Objekte im Rahmen der Installation.22 Die Frage, die Kabakov als Basis seines Projekts stellt, ist die Frage, wie sich Künstler zu historisch vorhergehenden Kunstrichtungen verhalten, wie sich das „Neue“ in ihren Werken manifestiert und ob künstlerische Evolution immer mit einer umfassenden Ablehnung und „Überwindung“ bereits ausgeformter Stile verbunden sein muss. Kurz, er stellt die Frage, ob man ein origineller Künstler sein kann, auch wenn man in die eigenen Werke Arbeitsformen und Stile integriert, die eigentlich überholt sind und nichts „Neues“ repräsentieren. Er formuliert diese Frage als ein zentrales Problem des Schaffens von Rosenthal, der sich, um es mit den Worten von Robert Storr zu sagen, dem „visionären Utopianismus“ des Suprematismus, nicht um den Preis der Aufgabe des Figurativen anschließen kann.23 Im Gegensatz zu den solipsistischen Personen, die Kabakov in der Installation Ten Characters aufstellt, sind die Künstlerpersönlichkeiten der alternativen Geschichte der Kunst aufeinander und auf Kabakov selbst bezogen; sie stehen in einem räumlichen (man schreitet von den Rosenthal-Räumen über die Kabakov-Räume zu den Spivak-Räumen), einem zeitlichen (von der Jahrhundertwende bis in die 1990er Jahre), einem intellektuellen (kunstgeschichtlichen) und ästhetischen (geteilte Sujets, Techniken und Referenzen) und einem biographischen Zusammenhang (Details wie die jüdische und ukrainische Herkunft, die Bewegung von der Peripherie ins Zentrum, das Leben im Exil/in der Diaspora), aus dem auch der Betrachter nur schwer heraustreten kann, da die Installation nur einen Kurs, einen vorbestimmten Weg zulässt. In der Alternativen Geschichte der Kunst realisiert sich somit ein Konzept von Autorschaft, das Kabakov in seinen Vorlesungen über die „totale Installation“ wie folgt beschrieben hat:

22

Bätschmann 1997, 233. In seinen Vorlesungen zur Totalen Installation weist Kabakov darauf hin, dass die „Qualität“ solcher in eine Installation integrierten Kunstwerke „ziemlich hoch“ sein muss, wenn sie als „vollwertige Kunstwerke“ angesehen werden sollen. Vgl. Kabakov 1995, 96.

23

Storr 2005, 143. Vgl. auch Kabakov 2004, 15.

176 | IL’JA KABAKOVS KUNSTHISTORISCHE FALLGESCHICHTEN

Autorschaft ist die Vereinigung von mindestens drei handelnden Personen (dejstvujuščich lic), deren Handlung in ihrem Charakter und Sinn vollkommen verschieden sind, aber die in einer bestimmten Abhängigkeit von einander stehen. Nennen wir sie ‚Künstler‘, ‚Regisseur‘ und ‚Kunsthistoriker‘.24

Die ursprüngliche Figur des bildenden Künstlers wird hier zum Autor, der mehrere Handlungsebenen koordiniert: die der Forschung als Rekonstruktion einer kunsthistorischen Periode, die der tatsächlichen Kunstproduktion und die der Interpretation der ästhetischen Artefakte, die in diesem Prozess entstehen. Im Kontext der Installation wird der Ausstellungskünstler nach Bätschmann zum „Erfahrungsgestalter“25. Es ist ein Kennzeichen der Alternative History of Art, Kabakov hier nicht nur als unsichtbaren Regisseur zu beteiligen, sondern ihn als Künstler in der Figur „Kabakov“ sichtbar zu machen. Die Installation erweitert das Handlungsspektrum des Künstlers und bildet es in verschiedenen Figuren ab: Der forschende Aspekt des Projekts materialisiert sich in der Gestalt des Kunsthistorikers, dem hier, wie schon der Titel der Installation deutlich macht, eine relativ prominente Position neben den Künstlerfiguren eingeräumt wird. Kabakov selbst nimmt diese Position durch die Gestaltung der Ausstellung, die Produktion von Paratexten und Kommentaren ein, teilt sie aber mit auf sowjetische Kunstgeschichte spezialisierten Forschern wie dem Ehepaar Tupitsyn. Die Figur des Regisseurs hingegen findet im Projekt keine personale oder textuelle Entsprechung. Die Installation besteht aus einer Folge von 14 Räumen, in denen Bilder und Zeichnungen, der drei Künstler, aber auch vermeintlich authentische, dokumentarische Zeugnisse wie Briefe und Fotografien, und paratextuelle Elemente wie Kurzbiographien und Angaben zur Provenienz der Bilder ausgestellt sind. Das Ausstellungsmodell, an dem sich die einzelnen Räume orientieren, ist das der Retrospektive, das heißt eines repräsentativen Überblicks über eine oder mehrere Schaffensphasen der drei Künstler.26 Dieses Ausstellungsmodell wird in An Alternative History of Art jedoch zur Grundlage einer

24

Kabakov 1995, 96-97. Weiter führt er aus, dass der „Künstler“ dem „Schauspieler“, der „Regisseur“ dem „Regisseur“ und der „Kunsthistoriker“ dem „Theaterdirektor, der sorgfältig alle Umstände abwägt“, entsprächen.

25

Bätschmann 1997, 233, vgl. Reckwitz 2012, 116, der das gleiche Phänomen mit dem Begriff „Atmosphäreninitiator“ erfasst.

26

Kabakov 2004, 6-7, hier 7.

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Installation, die dem Besucher eine Neubewertung dieser kunsthistorisch als „Out-Kunst“ klassifizierten Künstler und ihrer Werke nahelegt.27

Abb. 4: Il’ja Kabakov, Aufbau der Installation, An Alternative History of Art Das Medium der Retrospektive im Verbund mit der Kreation fiktiver Künstler eröffnet Kabakov die Möglichkeit, die Mechanismen kunsthistorischer Inszenierung und Wertung darzustellen und zwar nicht nur im Hinblick auf die fiktiven Künstler Rosenthal und Spivak, sondern in einem Akt der Selbstobjektivierung auch im Hinblick auf sein alter ego Kabakov. Dies ist eine Position, die ein Künstler sonst gegenüber dem eigenen Werk nur schwer einnehmen kann. Die Räume sind deshalb sowohl Stadien der ästhetischen Entwicklung der drei Künstler als auch Kapiteln der Kunstgeschichte gewidmet. Das Ausstellungsprojekt schreitet chronologisch voran und will einen transgenerationellen Überblick über das Werk sowie eine Einordnung in die Kunstgeschichte geben. So steht z.B. das Werk Rosenthals in Raum No 2 für die Auseinandersetzung mit dem Suprematismus Malevičs und dem frühen

27

Bätschmann 1997, 227.

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Sozrealismus.28 Mit seinen drei Künstlerpersönlichkeiten Rosenthal-Kabakov-Spivak legt Kabakov somit Sonden in drei historische Kontexte – den der europäischen und russischen Avantgardekunst (Rosenthal), den des Sozialistischen Realismus und seiner Ablehnung (Kabakov) und den des PostSozialismus (Spivak). Die ausgestellten Bilder enthalten vielfache Verweise auf die visuelle Kultur der Sowjetunion, z.B. zitieren sie Bildelemente von Tatlin und Malevič, sozrealistische Bilder von Gerasimov, vor allem aber rufen sie Kabakovs offizielle Kinderbuchillustrationen und post-sowjetische Installationen wie Der Lesesaal auf.29 Die großformatigen späten Ölbilder Rosenthals erinnern zudem stilistisch an Robert Falk, Kabakovs Lehrer, und haben typisch sozrealistische Sujets, weisen aber weiße Flecken auf, die einerseits als Leerstellen, andererseits als Referenz auf den Konstruktivismus betrachtet werden können. Kabakov erklärt dies im Katalog wie folgt: „Rosenthal explained his unfinishedness as his inability to advance into the area of whiteness as some sort of forbidden zone that could not be coloured.“30 An anderer Stelle bezeichnet er Rosenthal „als einen Fall“, „der nicht nur die Aufmerksamkeit der Kunstkritiker, sondern auch die von ‚Psychologen, Psychoanalytikern, Theologen und Augenärzten‘ auf sich gezogen habe“ und nennt die weißen Flecken visuelle Symptome.31 Kabakov führt hier in seiner Eigenschaft als „Kunsthistoriker“, der die Installation in bestimmte Kontexte einschreibt, den Begriff des „Falls“ (case) sowohl in seiner medizinischen oder psychoanalytischen Bedeutung als auch seiner kunsthistorischen Form ein. An anderer Stelle bezeichnet er das fiktive Künstlerpersonal seiner Ausstellung als „‘tendency’ characterization“32, als Figuren, die bestimmte (jüdische) Künstlertypen in der Sowjetunion repräsentieren. Kabakov versucht, unterstützt von Kunsthistorikern wie Robert Storr, Margarita und Victor Tupytsin, Amei Wallach und Boris Groys, die seine Installation kommentieren und die fiktiven Künstlerbiographien ebenso wie die Werke der Künstler mit ihm diskutieren, eine Antwort auf die Frage nach

28 29

Kabakov 2004, 31. Malevič wird hier als Lehrer Rosenthals eingeführt. Jackson bezeichnet die Referenzen auf Kabakovs eigene Arbeiten als „parasitär“. Vgl. Jackson 2001.

30

Kabakov 2004, 262.

31

Kabakov 2004, 14. Vgl. hierzu auch Murav 2011, 126.

32

Kabakov 2004, 136.

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der Künstlerinszenierung zu geben. Die von Kabakov entworfenen Künstlerfiguren dienen nicht nur als „Exempel“ oder „Beispiel“33 oder Antwort auf die Frage nach typischen russisch-jüdischen Künstlerbiographien im 20. Jh., sie stellen auch Fälle dar, weil sie der „Verwirklichung“34 eines Konzeptes dienen, wie man mit André Jolles sagen könnte. Sie aktualisieren jedoch auch noch einen anderen Aspekt der Fallgeschichte, sie versuchen ein neues Licht, auf ungelöste Fragen einer Geschichte der russischen Kunst im 20. Jahrhundert zu werfen.35 Als „chudožnik-personaž“36 realisiert jeder der drei Maler ein distinktes Konzept von Künstlerschaft und Kreativität. So realisiert die Person Rosenthals einen bestimmten Künstlertypus – den Avantgardekünstler –, eine Konstruktion, die neben dem Werk durch die dokumentarischen Anteile der Form Retrospektive (Biographie, Tafel mit Lebenslauf, Signatur und Briefe/Lebenszeugnisse) unterstützt wird. Diese Anteile erscheinen im Kontext der Kunstgeschichte als „Hinzufügungen“37, denn sie sind zur Konstruktion des Falls – Avantgardekünstler – nicht notwendig, sie „erhöhen [jedoch] die Eindringlichkeit des Falles“38. Kabakovs Diagnose enthält nicht nur eine Bestandsaufnahme und Beschreibung, sondern sie schafft sich ihre eigenen Indizien in Form von Kunstwerken – Gemälden und Zeichnungen, in Form von Kritiken und Kommentaren, mit Referenz auf ökonomischen Erfolg/Misserfolg, alles Aspekte des Künstlerdaseins, ohne die der Künstler nicht existieren kann. Man müsste Kabakovs Formel: „Art can only exist inside the art world“39 daher eigentlich umformulieren und sagen „The artist can only exist inside the art world“. Die Kabakovsche Installation versteht sich also nicht nur als persönliche Intervention, sondern als ästhetische Realisierung eines bestimmten Ent-

33

Jolles 1958, 177.

34

Jolles 1958, 179.

35

Vgl. Wells 2003, 354. Susann Wells beschreibt das Potential des Genres Fallgeschichte wie folgt: „Either the case is remarkable and rare, or the interpretation of the case offers new light on unsettled questions“. Kabakovs Fallgeschichten sind sicherlich dem zweiten Typus zuzuordnen.

36

Kabakov 1995, 215.

37

Jolles 1958, 180.

38

Jolles 1958, 180.

39

Kabakov/Groys, Interview, In: Kabakov 2004, 221.

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wurfs von Künstlerschaft, die über das kreative Individuum hinaus einen Anspruch darauf erhebt, verallgemeinerbare Aussagen über Kreativität im Kontext der sowjetischen Kunst zu machen. Viele der Aspekte dieser Installation sind deshalb doppelt kodiert – ästhetisch und wissenschaftlich, privat und öffentlich. „Why was it necessary to use the Personage Device for the exhibit rather than sign my own name?“40 Kabakov verwendet hier den Begriff des Verfahrens oder Kunstgriffs (Device), der auf die formalistische Theorie verweist, um das Verhältnis von Künstler und Person zu problematisieren. Sein Metadiskurs über die Verfasstheit seiner Installation und die Strategien, die sie leiten, lässt sich gleichfalls formalistisch als „obnaženie priemov“ als Offenlegung des Verfahrens beschreiben. Kabakov stellt fest, dass sein Verfahren der multiplen Künstlerpersönlichkeit zeitgenössischen Ansprüchen an öffentliche Künstlerschaft, nämlich der Forderung nach Authentizität und nach Identität von Mensch und Künstler (professional), zuwiderläuft.41 Er wendet jedoch ein, dass diese Authentizität nur eine scheinbare ist, da der Künstler, in dem Moment, in dem er sein Werk schaffe, zu einer öffentlichen Person und damit auch zu einem Schauspieler (actor) werde.42 Zudem vertritt er die Ansicht, dass in der Kunst der Gegenwart diese öffentliche Künstlerperson, den „Menschen“ hinter der Kunst auffressen würde. Und er stellt die Frage: „What if we imagine that the person does not disappear into the artist“.43 Die Vervielfältigung der Künstlerpersönlichkeiten, wie sie An Alternative History of Art vorführt, ist ein Versuch, das Verhältnis von Künstler und Mensch neu zu bestimmen. Man könnte Kabakovs Verfahren somit auch als eine „Inszenierung der Thematisierung der eigenen Thematisierung“44 auffassen. Eine Strategie, die sich im reinen Medium des Bildes nur schwer umsetzen lässt. Gleichzeitig stellt dieses Verfahren natürlich auch eine Kritik der Kunstgeschichtsschreibung dar, die ausgehend von Personalstil, Signatur und Handschrift Individualstile definiert.

40

Kabakov 2004, 258-259.

41

Eine ausgestellte Authentizität ist ein contradictio in adiecto. Inszenierte Autorschaft ist immer bereits nicht mehr authentisch. Vgl. hierzu Fischer-Lichte/Pflug 2000. Blumenkamp 2011.

42

Kabakov 2004, 258. Vgl. auch Laferl/Tippner 2011, 20.

43

Kabakov 2004, 258.

44

Blumenkamp 2011, 364.

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Eine Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von öffentlicher und privater Künstlerpersönlichkeit gibt er in abgewandelter Form in einem Beitrag zu einer Anthologie zur Kunst in Osteuropa. Hier weist Kabakov darauf hin, dass er noch in der Sowjetunion unter den Bedingungen des Totalitarismus eine neue Form der Selbstbeschreibung entwickelt habe, whereby the author would imitate, re-create that very same 'outside' perspective of which he was deprived in actual reality. He became simultaneously an author and an observer. Deprived of a genuine viewer, critic, or historian, the author unwittingly became them himself, trying to guess what his work meant 'objectively'. He attempted to 'imagine' that very 'History' in which he was functioning and which was 'looking' at him.45

An Alternative History of Art inszeniert nicht nur die Trias von Künstler, Regisseur und Kunsthistoriker, sondern fügt dem auch noch eine Betrachterfigur hinzu. Man muss die im Katalog enthaltenen Dialoge/Interviews mit KunsthistorikerInnen, in denen exemplarische Publikumsreaktionen und – fragen formuliert werden, nicht nur als die kompensatorische Maßnahme betrachten, als die sie Kabakov in seinem Zitat darstellt; wie schon die räumliche Situation der Ausstellung, stellen sie in gewisser Weise eine „Manipulation“ des Betrachters dar, dessen Reaktionen gesteuert und durch Experten vorgeschrieben werden.46 Diesen Vorwurf macht auch Groys ihm, der schreibt, Kabakov beraube die Betrachter ihrer „Freiheit und mache sie gleichfalls zu Personagen, die genau wie die Autor-Personagen Aspekte seiner selbst darstellen.“47 Die einzige Möglichkeit für den Betrachter Autonomie wieder zu erlangen, besteht nach Groys darin, den Diskurs des Autors zu ignorieren.48 Eine Möglichkeit, die die Totale Installation eigentlich nicht

45

Kabakov 2002, 7-8. Kabakov beschreibt hier ein Phänomen, das relativ typisch für dissidente, alternative Kunst unter den Bedingungen des real existierenden Sozialismus war, nämlich einen Ausgleich für fehlende Institutionen der Kunstwelt – wie Kritik, Markt und Theorie – zu schaffen.

46

Vgl. Küppers 2000, 87, der in einem anderen Kontext auf diesen Aspekt hinweist.

47

Küppers 2000, 91.

48

Küppers 2000, 91.

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zulässt, da selbst die kleinsten Details der Exponate und Texte dem zugrundeliegenden Künstlerdiskurs bzw. seiner Reflexion verhaftet sind und der Parcours nicht flexibel gestaltet ist. Zu dieser Steuerung des Betrachters gehört auch die Orientierung an biographischen Erzählschemata und Künstlererzählungen, die häufig genug auf Elemente wie Wendepunkte, Peripetien und Krisen basieren: Rosenthal kann die weißen Flecken nicht füllen, er hat Wahrnehmungsprobleme, Kabakov gelingt es nicht, sich in den Kunstbetrieb zu integrieren, er bleibt ein Außenseiter49, Spivak hat ein Alkoholproblem, das ihn jedoch kommerziell noch erfolgreicher macht, weil es konform geht mit Künstlermodellen, die eben auf Abweichung, Krise, Selbstdestruktion bzw. Scheitern basieren. Diese „Abweichung vom Normalverhalten“ konstituiert einerseits die Fallgeschichte und ist andererseits fester Bestandteil eines Künstlermodells, das auf Genialität, Wahn, einer Abweichungsästhetik aufbaut. Über den Kontext der Kunst und der eigenen Biographie hinaus, schafft Kabakov mit dem Prinzip der Fallgeschichte und ihrer Kritik ein „exemplarisches Format“, das über den engen Kontext der Kunst hinaus „Modellcharakter“ hat.50 Harriet Murav liest deshalb in ihrer Analyse Rosenthal, Kabakov und Spivak nicht zufällig als Figuren einer jüdischen Traumatisierungsgeschichte, da die ausgestellten Bilder auf je unterschiedliche Weise leere oder schwarze Flecken enthalten. Sie setzen ihrer Meinung nach damit eine Unvollständigkeit in Szene, die charakteristisch für die Dynamik des Traumas ist.51 Die hier präsentierten Künstler sind also nicht nur sowjetische Künstler, sondern auch jüdische Künstler. Auch hier erweist sich der frühere Makel in der Selbststilisierung nun als Eigenschaft, die in anderen Kontexten Aufmerksamkeit generiert. In einer anderen Deutung, die weniger sympathisch ist, erscheint Kabakov als Demiurg, als Künstler der in seinen Installationen

49

Das ist natürlich eine Selbststilisierung sondergleichen. Reckwitz weist darauf hin, dass Selbststilisierungen immer einem Muster folgen müssen und sich für gewöhnlich an einem historischen Reservoir von Verhaltensweisen orientieren. Vgl. Reckwitz 2012, 121.

50 51

Reckwitz 2012, 127. Murav 2011, 126-127, vgl. auch FN 20. Dem steht die Interpretation von Johnson gegenüber, der diese Flecken als Ausdruck von Optimismus betrachtet. Vgl. Johnson 2011, 584.

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jenen totalitären Zugriff auf die Welt wiederholt, der die sowjetische Ideologie der Stalinzeit auszeichnete und nach Groys durch die Künstlerkonzepte der Avantgarde präfiguriert wurde.52 Die hier diskutierten ästhetischen Fallgeschichten machen ein Prinzip der Kabakov’schen Künstleridentität sichtbar, das bei ihm sonst hinter dem Kunstgriff der Person zurücktritt: Personen sind nicht nur Dokumentation und Alltagsethnologie, sondern Homunkuli eines Künstlergottes, der Figuren schafft, um sie kontrolliert und in Versuchsanordnungen scheitern zu lassen. Letztlich fügen sich die von Kabakov inszenierten Fälle nicht zu einem kohärenten Ganzen zusammen, auch wenn sie in sich – zumindest oberflächlich – stimmig sind, so lassen sie sich nicht in eine Methode, Entwicklung oder gar Teleologie überführen. Vielleicht liegt das auch daran, dass Kabakovs Künstlerfiguren einerseits eine recht konventionelle Kreativität vorführen: Seinen Worten zufolge liebt dieser Künstlertypus seine Arbeit leidenschaftlich, ist intuitiv, impulsiv, talentiert, er hat sich in langen Jahren der Arbeit seinen individuellen Stil geschaffen, ist vertieft in seine nicht leichte Aufgabe etc. Mit einem Wort, die Gestalt eines solchen Künstlers ist aus der Literatur und der Kunstgeschichte allgemein bekannt.53

Diese prototypische Kunst steht für die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit in der Kunstgeschichte, die Kabakov schon mehrfach zugunsten der inoffiziellen, alternativen, nicht-arrivierten Kunst beantwortet hat. Auch im Kontext der Alternative History of Art weist er darauf hin, dass es nicht die „Maleviches“, die Geschichte gemacht haben, sind, sondern Künstler, die eine marginale bzw. marginalisierte Position einnehmen, die neue Perspektiven auf die Kunstgeschichte erlauben.54 Ein Modell, das Kabakov hier vorstellt, ist eine Künstlergenealogie in Form von Schüler-Lehrer-Beziehungen, die nicht nur mit kanonisierten Namen und Positionen wie Malevič und Chagall arbeitet, sondern statt dessen neue Sonden legt: Zum einen projiziert er seine Künstlerpersönlichkeit in die Vergangenheit (Rosenthal) und zum anderen in die Zukunft (Spivak). So wie Rosenthal als Lehrer Kabakovs gelten könnte (und

52

Groys 1988.

53

Kabakov 1995, 96.

54

Kabakov 2004, 265.

184 | IL’JA KABAKOVS KUNSTHISTORISCHE FALLGESCHICHTEN

Parallelen zu Biographie und Malstil von Kabakovs realem Vorbild Robert Falk aufweist)55, erscheint Spivak als Schüler Kabakovs. Kabakov beansprucht Rosenthal als „real teacher“ für sich und reklamiert eine Kontinuität, die in der Sowjetunion nicht gegeben war. In und durch die Rosenthal-Persona thematisiert Kabakov das problematische Verhältnis der Avantgarde zur Kunst des 19. Jahrhunderts wie zur Kunstgeschichte überhaupt: why moving toward a new horizon, one must so radically and mercilessly destroy the past, why was it forbidden, at least partially, to take it with you, why this new system, if it wanted to become complete and all encompassing, could not allow a place for that world which it had ‘overcome’.56

Dieser Gestus der kompletten Ablehnung und damnatio memoriae wiederholt sich in der sowjetischen Kunstgeschichte dann noch mehrfach, nicht zuletzt im Verhältnis von sozrealistischer Kunst zur postsozialistischen Kunst. Der Kulturwissenschaftler Aleksandr Etkind hat die These aufgestellt, dass die sowjetische Geschichte und – so könnte man mit Kabakov auch sagen – die sowjetische Kunstgeschichte von Untoten heimgesucht wird, deren Präsenz immer neue, alternative Geschichtserzählungen hervorbringt.57 Er führt dies darauf zurück, dass es zu viele unterdrückte Erinnerungen gibt, die nicht in das Archiv überführt worden sind. Für diese post-sowjetische Variante steht die Künstlerfigur Spivak, der mit seinen „Retro-Arbeiten“58 genau diese Nostalgie und Remythologisierung zum Ausdruck bringt. Auch in dieser Hinsicht sind Rosenthal und Spivak also charakteristische Fälle, sie stehen für spezifisch sowjetisch- bzw. post-sowjetische Verfahren der Geschichtsschreibung, die zwischen totaler Ablehnung und Re-Mythologisierung changieren. Die Installation An Alternative History of Art gewinnt ihre Autorität

55

Kabakov 2004, 153. Kabakov definiert hier einen „Lehrer“ nicht als einen Lehrer im biographischen Sinn, sondern als eine Person, die die „artistic personality“ eines Künstlers geformt habe.

56

Kabakov 2004, 15. Diese Aussage trifft natürlich nicht nur auf das Feld der Kunst zu, sondern auch auf andere gesellschaftliche Bereiche und ihr Verhältnis zu vorrevolutionären bzw. post-sozialistischen Phänomenen.

57

Vgl. Etkind 2009a, 631-658; Etkind 2009b, 182-200.

58

Kabakov 2004, 7.

ANJA TIPPNER | 185

als Fallgeschichte dadurch, dass sie Anfänge (des modernen nicht-akademischen Künstlers, nicht-arrivierten Avantgardekünstlers [Rosenthal]) in Relation zu Endpunkten (der schemenhafte, post-totalitäre Künstler [Spivak] und der inoffizielle Künstler [Kabakov]) setzt.59 Kunstgeschichte wird hier symbolisch abgebildet im Verhältnis von Lehrer und Schüler. Im Katalogtext weist Kabakov darauf hin, dass der Mensch Kabakov keinen Lehrer im akademischen Sinn gefunden hat und deshalb mit Rosenthal einen Lehrer erfinden musste, eine Person, die als Ursprungsmythos fungieren kann und Kabakov zum Anti-Ödipus macht. Nur so kann er sich in einer alternativen Geschichte der Kunst behaupten, die auf Konfrontationskurs zu ikonischen Theorien und Texten der Kunstgeschichte geht.60 Kabakov formuliert in der Einleitung zum Frankfurter Ausstellungskatalog, diese Art der Installation böte die Möglichkeit, das Gesamtwerk eines Künstlers gleichsam aus der Distanz zu betrachten und seine wichtigsten Ideen offenzulegen, und dies aus der Perspektive einer anderen Zeit mit ihrem entsprechenden historischen Kontext, worauf ein wirklicher Künstler, ‚innerhalb‘ seiner Ideen und in seiner ‚realen‘ Zeit lebend, selbstverständlich nicht hoffen darf.61

Hier thematisiert Kabakov – ohne den Begriff zu gebrauchen – eine weitere Eigenschaft der Fallgeschichte: Sie dient häufig nicht nur der Dokumentation historischen und kulturellen Wissens, sondern soll auch eine Basis liefern für zukünftige Systematiken. Eine solche doppelte Ausrichtung auf die Vergangenheit und die Zukunft geschieht, darauf weist Kabakov hin, immer auf Kosten der Gegenwart. In this conceptualization of this history, the positive origin, being mythological and invented, is located both at the beginning and the end; the negative and the sad, but the actually experienced, comprises the middle.62

59

Vgl. Brooks Beschreibung der erkenntnistheoretischen Bedeutung der Fallgeschichte. Brooks 1984, 276.

60

Kabakov 2004, 265.

61

Hier zitiert nach Müller 2001

62

Kabakov/Kabakov 2004, 7.

186 | IL’JA KABAKOVS KUNSTHISTORISCHE FALLGESCHICHTEN

Diese mittlere Periode wird in der Installation durch die beiden KabakovPersonen repräsentiert. Es kommt jedoch nicht zu einer Aufwertung des momentan Erfahrenen, des jetzigen Lebens, sondern ultimativ kommt es damit zu einer „Realisierung“ der Figuren Rosenthal und Spivak und einer Fiktionalisierung oder De-Realisierung der Figur Kabakov. Während die „Fälle“ Rosenthal und Spivak eine Verwirklichung bestimmter Prinzipien der Kunstgeschichte in der Wahrnehmung sind, wie oben mit Jolles formuliert, wird die Biographie Kabakovs durch die Darstellung als Fallgeschichte fiktionalisiert, sie wird zu einer hypothetischen Konstruktion63 und als solche wiederholbar, reproduzierbar. Zugleich und hier steckt die Selbstermächtigung des Künstlers Kabakov, kann er so das eigene Werk bzw. Teile davon in andere Traditionslinien stellen als jene, in die ihn die Kunstkritik gestellt hat. Abschließend lässt sich konstatieren, dass auch wenn Kabakovs Konzept einer alternativen Kunstgeschichte auf der Unterscheidung zwischen offizieller und inoffizieller Kunst aufbaut, die den sowjetischen Kunstbetrieb der 1960er bis 1980er Jahre beherrschte und die von der Überzeugung getragen war, dass nur der ein Künstler ist, der im System nicht erfolgreich ist (Kabakov, Rosenthal), der sich nicht anpasst und der der totalitären Ideologie keine Opfer bringt64, sich einige Einsichten auch in andere Kontexte übertragen lassen. Das gilt z.B. für die hier offen gelegte Dynamik von Künstlernarrativen und -inszenierungen: Das was in einem Kontext, dem sowjetischen, zu Exklusion führt wie das Festhalten an einem ideologisch nicht opportunen Stil oder die Orientierung an „westlichen“ Künstlermodellen, führt in einem anderen Kontext, dem postsozialistischen, zu Inklusion. Trotz des modernistischen und avantgardistischen Gestus und der zugehörigen Stilisierungen auf der Objektebene, die z.T. den ästhetischen Eigenwert der Arbeit konstituiert, erweist sich Il’ja Kabakov mit seinen Installationen und in seiner Selbststilisierung als Vertreter eines postmodernen Künstlertypus wie An-

63

Brooks 1984, 279. „Biography even in the form of the case history, appears to be intimate with fiction: it is a hypothetical construction.“

64

In seinem Interview mit Groys dehnt Kabakov den Begriff des „ideologischen Raums“, den er für die Sowjetunion verwendet auch auf andere Gesellschaftsformationen wie z.B. die USA aus. Kabakov 2004, 267.

ANJA TIPPNER | 187

dreas Reckwitz beschrieben hat: Er ist ein „quasiwissenschaftlicher Rechercheur und Selbstkommentator“ ein „Kurator und Atmosphäreninitiator“.65 Die vielen Erklärungen, die Kabakov in Form von Paratexten wie Vor- und Nachworten, Kommentaren, vor allem aber Gesprächen und Interviews in seine Arbeit integriert, erhellen das Werk nur scheinbar, sie lösen selbst wieder neue Interpretationen aus, denn schließlich wollen sie nicht Paratext sein, sondern Kunst. Kabakov weist sich durch seine Kommentare der kunsthistorischen Interpretationen seiner Installation eine „Selbstdeutungskompetenz auf zweiter Stufe zu“.66 Man könnte die „alternative Geschichte der Kunst“ nicht nur als Erforschung epistemologischer und kreativer Prinzipien der Kunstgeschichte lesen, sondern als ultimative Selbstlegitimation – das eigene Partikulare wird so zum „Fall der Kunstgeschichte“, zu einem ihrer Kapitel gemacht.

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65

Reckwitz 2012, 116. Als dritte Aktionsart des postmodernen Künstlers führt Reckwitz noch „politisch-kulturelle Interventionen“ an. Dies ist ein Rollenprofil, das im Kabakov’schen Œuvre eher schwach ausgeprägt ist.

66

So formuliert Hoffmann mit Bezug auf Heiner Müllers ganz ähnlich gelagerte Strategien der Metakommunikation, vgl. 2011, 326. Kacis verweist darauf, dass der Wert von Kabakovs Arbeit darin bestünde, dass ein Künstler durch Kunst definiert, was Kunst sei und sich damit auf eine Metaebene begebe. Vgl. Kacis 2008.

188 | IL’JA KABAKOVS KUNSTHISTORISCHE FALLGESCHICHTEN

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ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abb. 1: Rosenthal, Verwertungsgesellschaft Bild-Kunst, Bonn 2013. Abb. 2: Kabakov, Verwertungsgesellschaft Bild-Kunst, Bonn 2013. Abb. 3: Spivak, Verwertungsgesellschaft Bild-Kunst, Bonn 2013. Abb. 4: Kabakov Installation, Verwertungsgesellschaft Bild-Kunst, Bonn 2013.

(Selbst-)Inszenierung im Netz: Neue Strategien russischer AutorInnen GERNOT HOWANITZ

In der Theorie hat das Internet die AutorInnen längst umgebracht. Vertraut man auf Schamma Schahadat, George Landow oder Mary-Laure Ryan, so haben die medialen Eigenschaften des Hypertexts endgültig den von Roland Barthes beschworenen „Tod des Autors“ herbeigeführt.1 Dem kann man aber das vielzitierte Web 2.0 – das sogenannte „Mitmach-Web“ – entgegenhalten, das den SchriftstellerInnen gar nicht nach dem Leben trachtet. Ganz im Gegenteil: Im Internet steht jeder Benutzerin und jedem Benutzer die Möglichkeit frei, gratis digital zu publizieren, eine Möglichkeit, die vor allem auch im russischsprachigen Teil des Internets (Runet) gerne genutzt wird.2 Einige dieser Amateur-AutorInnen haben sogar den Status einer etablierten Schriftstellerin bzw. eines etablierten Schriftstellers erreicht. Aber wie funktioniert diese ‚Geburt des Autors‘, welche Mechanismen wirken dabei? Eine wesentliche Rolle spielen die sozialen Netzwerke und Blogs des Web 2.0, wobei es sich um „facilit[ies] for online self-exposure and selfconstruction“ 3handelt, die einzig und allein die Aufgabe haben, AutorInnen – oder allgemeiner: UrheberInnen – in den Vordergrund zu stellen und zu inszenieren. Nun rechnet man Webseiten und andere Publikationsformen im Internet in der Regel nicht dem Werk von SchriftstellerInnen zu, wodurch

1

Schahadat 1998, 76; Landow 2006, 127f; Ryan 1999, 12f.

2

Adamovič et al. 2011.

3

Arthur 2009, 85.

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eine Analyse des im Netz aufgebauten (Selbst-)Bildes erschwert wird. Die hier vorgeschlagene Lesart der Internet-Texte als Beispiele auto/biographischen Schreibens4 erlaubt es hingegen, die neuen medialen Formen der (Selbst-)Inszenierung harmonisch in das schriftstellerische Gesamtwerk einzubetten und erschließbar zu machen. Dafür ist es zunächst notwendig, die neuen medialen Möglichkeiten zu beschreiben, die dabei zur Verfügung stehen. Henrike Schmidt hat in ihrer Monographie Russische Literatur im Internet unter anderem die wichtigsten Publikationsformen im Runet herausgearbeitet und mit zahlreichen Beispielen belegt. Dabei konzentriert sie sich allerdings vor allem auf die Texte selbst, der Rückbezug auf die jeweiligen AutorInnen erfolgt nicht immer und fällt unterschiedlich umfangreich aus, insbesondere auf die Auto/Biographietheorie wird gar nicht eingegangen. Für die Frage, wie sich Literaturportale, Webseiten, Blogs oder TwitterNachrichten im jeweiligen œuvre der Autorin oder des Autors verorten lassen, kann es aber hilfreich sein, diese Formen vor der Folie auto/biographischen Schreibens zu lesen. Erst wenn die Position von Internettexten in Bezug auf andere literarische Texte und die auto/biographische Inszenierung der Autorin oder des Autors geklärt ist, kann der über Internettexte inszenierten Online-Persönlichkeit zu ihrem Recht als integralem Bestandteil künstlerischen Schaffens verholfen werden. Der vorliegende Artikel ist in fünf große Abschnitte aufgeteilt. Im ersten Abschnitt wird auf die besondere Situation des Runet eingegangen, die sich zum einen aus der speziellen historischen Entwicklung ergibt, zum anderen auf die Eigenheiten der russischen Kultur zurückzuführen ist, die als Ganzes sehr stark literaturzentriert ist. Im zweiten Abschnitt erfolgt dann ein Überblick über die Theorie der Auto/Biographie im Internet, die besonders die Bedeutung der (Selbst-)Inszenierung für das Web 2.0 hervorhebt. Die Idee der (Selbst-)Inszenierung wird auch vom dritten Abschnitt wieder aufgegriffen, der eine Verbindung herstellt zwischen den literarischen Mystifikationen russischer AutorInnen und den neuen auto/biographischen Formen

4

Eine Anmerkung zur verwendeten Terminologie: In der neueren Forschungsliteratur wird darauf hingewiesen, dass sich Biographie und Autobiographie nur graduell unterscheiden (Šlibar 1995, 392), was sich in der Schreibweise „Auto/Biographie“ niederschlägt. Dies entspricht grob dem englischen life writing, das als „general term for writing that takes a life, one’s own or another’s, as its subject“ definiert wird (Smith/Watson 2010, 4).

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im Runet. In diesem Sinne können Webseiten, Blogs und andere Online-Formen als Para- bzw. Epitexte mit mystifikatorischer Intention gelesen und somit in Bezug gesetzt werden zum ‚klassischen‘ Schaffen der Autorin oder des Autors. Im vierten Abschnitt werden die unterschiedlichen Möglichkeiten der (Selbst-)Inszenierung vorgestellt, wobei besonders Webseiten und Blogs berücksichtigt werden. Anschließend – im fünften Abschnitt – erfolgt eine Analyse der konkreten Repräsentationsstrategien des russischen StarAutors Vladimir Sorokin und der russischen Netzliteratin Linor Goralik. Ein abschließendes Resümee versucht, die unterschiedlichen theoretischen Ansätze der einzelnen Abschnitte zusammenzuführen und die (Selbst-)Inszenierungen russischer AutorInnen im Runet als Beispiele auto/biographischen Schreibens zu etablieren.

S PEZIFIKA DES R UNET Die Entwicklung des Runet wird aus politischen Gründen zunächst stark erschwert. Da die Sowjetmacht Kommunikationstechnologien kritisch beäugt und für potentiell gefährlich ansieht, werden Computer- und Netzwerktechnologien über all die Jahre hinweg stiefmütterlich behandelt. Wie Henrike Schmidt anmerkt, ist dies insofern interessant, als dass der Kalte Krieg in Amerika gerade das Gegenteil auslöst, nämlich eine starke Forcierung der Computertechnologien im Allgemeinen und des Internets im Besonderen – auf dessen militärischen Ursprung in Form des ARPANet ja immer wieder hingewiesen wird. In der Sowjetunion hingegen unterbindet der Kalte Krieg nachhaltig die Entwicklung moderner Kommunikationstechnologien.5 Zwar gibt es in den 1980er Jahren einzelne Experimente mit Computernetzwerken im akademischen Umfeld, auf das erste allgemein verfügbare Netzwerk Relcom – eine Privatinitiative! – kann aber erst 1990 zugegriffen werden. Relcom wird am 28. August 1990 mit Computern in Finnland verbunden und es erfolgt die Beantragung der Top-Level-Domain ‚.su‘ für Sowjetunion.6 Mit dem Zusammenbruch der UdSSR ein Jahr später nimmt der Ausbau des nach wie vor privaten Relcom-Netzwerkes weiter an Fahrt auf, bis dieses 1992

5

Schmidt 2011, 55.

6

Schmidt 2011, 57f.

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offiziell ans Internet angeschlossen wird. Relcoms nicht-staatlicher Charakter führt dazu, dass die Betonung des freien Informationszugangs einerseits und eine radikal marktwirtschaftliche Grundeinstellung andererseits das junge Netzwerk dominieren.7 Wenig verwunderlich ist deshalb, dass das Runet in seinen Anfangstagen eine besondere Benutzerstruktur aufweist. Neben ProgrammiererInnen dominieren DesignerInnen und WerberInnen, die das Netz nicht nur als Kommunikations-, sondern vor allem auch als Marketingkanal sehen und eine eingeschworene Gemeinschaft mit elitärem Anspruch bilden.8 Diese Gemeinschaft nutzt das Runet aber nicht nur zur Selbstdarstellung, sondern auch als „[...] a continuation of typically Russian forms of literary exchange and interpersonal communication, such as samizdat and kitchen table talk.“9 Dies hängt sehr stark mit der Literaturzentriertheit zusammen, die der russischen Kultur im Allgemeinen zugeschrieben wird: Russian and Soviet culture have been described as ‚literature-centric‘: in the Soviet Union, material books used to represent ‚status symbol‘ items to be displayed in the house of every educated person [...], and enjoyed high cultural value as ‚the main transmitter and emblem of Soviet kul’turnost’‘ [...]. Books were also scarce products [...] – a factor which only enhanced their cult status.10

Laut Evgenij Gornyj hat diese spezielle Demographie einerseits und die starke Literaturzentriertheit der russischen Kultur andererseits zum spezifisch russischen Phänomen der sogenannten Virtualy geführt. Dabei handelt es sich um virtuelle Persönlichkeiten, die ein Textleben im Netz führen. Sie bestehen aus einem eigenen Namen, einer Auto/Biographie, einem charakteristischen Stil, ihren Aktivitäten im Netz, und teilweise sogar einer Materialisierung in der echten Welt.11 Ein Virtual „zeichnet sich durch die Aufhebung der Opposition zwischen Wahrheit und Lüge, Faktizität aus, was ihn

7

Schmidt 2011, 59.

8

Gornyj 2009, 212.

9

Coati 2011, 50.

10

Coati 2011, 51. Vgl. dazu auch Gornyj 2009, 213; Adamovič et al. 2011.

11

Gornyj 2009, 233.

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einem Kunstwerk ähnlich macht.“12 Man kann sogar so weit gehen, die Virtualy als eigenes literarisches Genre im Runet zu werten. Darin liegt die Besonderheit des russischen Netzes: Es gibt zwar auch im englischsprachigen Internet virtuelle Persönlichkeiten, dort treten sie aber vor allem in OnlineSpielen auf und werden nicht als Kunstform begriffen.13 Die virtuellen Persönlichkeiten sind also gleichzeitig Autor und Text, anhand ihres Beispiels wird die Nähe des Runet zur literarischen Mystifikation offensichtlich. So verwundert es nicht, dass sich auch genügend SchriftstellerInnen aus Fleisch und Blut im Netz finden. Ein Blick auf die Liste der auf Russland populärstem Blogportal LiveJournal vertretenen Prominenten verrät es: SchriftstellerInnen (117) und JournalistInnen (89) stellen vor MusikerInnen (88) und TV-Stars (68) die weitaus größte Gruppe der ‚berühmten‘ BloggerInnen.14 Hier muss man auf eine weitere spezifische Entwicklung des Runet hinweisen: Immer mehr BloggerInnen werden zu ‚wahrhaftigen‘ SchriftstellerInnen, deren Texte in gedruckter Form bei namhaften Verlagen erscheinen. Zunächst ist hier die Literaturplattform www.litprom.ru zu nennen, deren Gründer Sergej Minaev, Ėduard Bagirov und Andrej Orlov in weiterer Folge auch Bücher publiziert haben. Minaev wird mit Dyxless. Povest’ o nenastojaščem čeloveke (Seelenkalt, 2006) bekannt, Bagirov mit Gastarbajter (Gastarbeiter, 2007), und Orlov unter dem Pseudonym ‚Orlusha‘ mit Stichi i ringtony (Gedichte und Klingeltöne, 2008). Zwischen 2006 und 2009 sind in Russland zahlreiche Beispiele von Blogliteratur gedruckt worden, vornehmlich bei AST in der Reihe Avtor ŽŽOuT (Der Autor kann’s), sowie bei Centrpoligraf in der Reihe Pis’ma moich druzej (Briefe meiner Freunde). Zu nennen ist hier etwa Marta Ketros Sammelband Vdochnut’ i! ne! dy! šat’! (Einatmen und! nicht! aus! atmen!, 2008). Weitere bekannte Beispiele sind die Lyrikbände Citatnik (Zitatband, 1999)

12

„V ėtom značenii VL charakterizuetsja snjatiem oppozicii meždu istinoj i lož’ju, faktičnost’ju, čto sbližaet ee s proizvedeniem iskusstva.“, Gornyj 2009, 211. Diese Übersetzung und alle im Folgenden von Gernot Howanitz.

13

Gornyj 2009, 212. Sherry Turkles grundlegende Monographie Life on the Screen beschäftigt sich beispielsweise beinahe ausschließlich mit virtuellen Persönlichkeiten in sogenannten Multi-User Dungeons (MUD), einer Art kollaborativen Online-Spiels.

14

Vgl. „Dajdžest Živogo Žurnala“ („Übersicht über das Livejournal“), http:// www.livejournal.ru/celebrities [31. 5. 2012].

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von Linor Goralik sowie Nepoėmanie (Unverst-e-ndnis, 2008) von Vera ‚Vero4ka‘ Polozkova. Ebenso erwähnt sei der Fantasy-Autor Dmitrij Gluchovskij, der seinen Roman Metro 2033 (Metro 2033, 2007) zunächst im Internet publiziert hat. Um diesen Prozess der Geburt der Schriftstellerin oder des Schriftstellers zu erklären, verweist Henrike Schmidt auf Pierre Bourdieus Konzept des symbolischen Kapitals, über das die ursprünglichen Runet-PionierInnen verfügen und das sich „[...] über die Jahre hinweg konservieren und mit der Massenmedialisierung des Internet in Russland auch zunehmend in traditionelles ökonomisches Kapital verwandeln [ließ]“.15

AUTO /B IOGRAPHIE

IM I NTERNET

Um die neuen Formen auto/biographischen Schreibens im Runet analysieren zu können, ist es zunächst einmal notwendig, auf Arbeiten zur Auto/Biographie im Internet zu verweisen, die als Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung verwendet werden können. Das erste Beispiel in dieser Hinsicht ist David Oels’ und Stephan Porombkas Artikel „Netzlebenslinien“, der auf den durch die elektronische Datenverarbeitung bedingten Wandel der Auto/Biographie eingeht. Auto/Biographie wird dabei als „statistische, parametrisierte Auswertung großer Datenmengen“16 neu definiert. Vernetzte Computer eignen sich hervorragend dazu, „die Totalität des Lebens zu erfassen, zu speichern und zur beliebigen Verfügbarkeit bereit zu halten.“17 Diese totale Sammlung einzelner Bruchstücke auto/biographischer Information tritt – und hier argumentieren Oels und Porombka mit Jean Baudrillard – als Simulacrum an die Stelle der Wirklichkeit und löst eine „vollständige Virtualisierung lebensweltlicher Zusammenhänge durch mediale Inszenierungen [aus], durch die Wirklichkeit zuerst fraktalisiert und schließlich ganz abschafft [sic!] wird.“18 Es stellt sich dabei natürlich die Frage, ob man tatsäch-

15

Schmidt 2011, 634.

16

Oels/Porombka 2001, 130.

17

Oels/Porombka 2001, 130.

18

Oels/Porombka 2001, 133.

GERNOT HOWANITZ | 197

lich aus den einzelnen gespeicherten Datenfragmenten so etwas wie Persönlichkeit rekonstruieren kann.19 Oels und Porombka weisen darüber hinaus auch darauf hin, dass einer bloßen Datenansammlung keinerlei Narrativität innewohnt – der auto/biographische Hypertext hilft damit, „das Leben als komplexe dynamische Einheit ohne feste und das hieße lineare Erzählstrategie zu begreifen.“20 Andererseits kommt es zur Renaissance der Linearität, denn „das Erzählte erscheint als Linie, als eine mögliche Kombination, die im Spiel mit virtuell vollständiger Information realisiert worden ist.“21 In ihrem Schlusswort prophezeien Oels und Porombka, dass „das Computernetz mit seinen Spielregeln Bezugspunkt für alle avancierten Versuche sein [wird], Lebensgeschichten für das 21. Jahrhundert zu erzählen.“22 Gewissermaßen nimmt diese Vermutung die modernen Formen der (Selbst-)Repräsentation im Web 2.0 vorweg, die um die Jahrtausendwende – als Oels’ und Porombkas Text erschienen ist – noch nicht verfügbar gewesen sind. Die Konsequenzen dieser technischen Innovationen formuliert Elizabeth Podnieks in ihrem 2004 erschienen Artikel „‚Hit Sluts‘ and ‚Page Pimps‘“, in dem sie nachzeichnet, wie sich persönliche Blogs, Webseiten und Webcams auf die Tradition des life writing ausgewirkt haben. Diese neuen Formen stimulate, enhance and multiply the means for self-expression, but they do not inherently change the motivations for life writing, which has [...] always been to communicate and connect not only with our own disparate selves but also with those of others.23

Interessanterweise kommt Britt-Marie Schusters Artikel „Biographisches Erzählen und neue Medien“ in Christian Kleins Handbuch Biographie aus dem Jahr 2009 ganz ohne explizite Verweise auf die neuen partizipativen

19

Oels/Porombka 2001, 134. Anzumerken ist hier, dass das Geschäftsmodell einiger der größten Internetfirmen, darunter Google und Facebook, genau auf dieser Prämisse beruht. Von den Nutzerdaten wird auf die Persönlichkeit der Nutzerin oder des Nutzers selber rückgeschlossen, um Werbung zielgenau anzeigen zu können.

20

Oels/Porombka 2001, 136.

21

Oels/Porombka 2001, 136, Hervorhebung im Original.

22

Oels/Porombka 2001, 142.

23

Podnieks 2004, 125.

198 | (SELBST-)INSZENIERUNG IM NETZ

Formen des Web 2.0 aus. Ihrer Meinung nach findet vor allem eine Verschiebung etablierter auto/biographischer Formate in das hypertextuelle Feld statt. Dementsprechend ist das Netz für Schuster ein bloßes Repräsentationsmedium für klassische auto/biographische Strategien, es handelt sich schlicht um „Abwandlungen etablierter Texttraditionen“.24 Als Beispiele nennt sie zum einen Auto/Biographien, die in persönliche Webseiten eingebettet werden und konventionellen Erwartungshaltungen entsprechen.25 Zum anderen verweist sie auf auto/biographische Wikipedia-Artikel, die ähnlich stark formalisiert sind wie ‚gewöhnliche‘ Auto/Biographien.26 Ähnlich wie Oels und Porombka ist sie der Meinung, Hypertexte wären geeignet, auto/biographische Einzeldaten miteinander zu verbinden, allerdings sieht sie die technische Frage zurzeit als nicht gelöst an. In ersten Versuchen eines solchen auto/biographischen hypertextuellen Netzwerks entstehe jedenfalls ein virtueller historischer Raum, diese könnten demnach als „Biotopographie“ bezeichnet werden.27 Auch ein Zugeständnis an poststrukturalistische Subjektkonzeptionen lässt sich finden, wenn Schuster in ihrer Analyse „identitätsstiftender Webseiten“ darauf hinweist, dass verschiedene Aspekte einer Persönlichkeit auf mehrere Webseiten aufgesplittet werden können.28 Bedingt durch das im Artikel geäußerte sehr ‚klassische‘ Verständnis von Auto/Biographie und den starken Fokus auf Hypertext als theoretischer Konzeption werden neue Formen auto/biographischen Schreibens allerdings zum Großteil übergangen, einzig auf die bereits erwähnte Biotopographie und Videographie – auto/biographische Videos – wird verwiesen.29 Einen ganz anderen Ansatz wählt Paul Arthur, der sich unter anderem auf Elizabeth Podnieks beruft und vor allem die Gemachtheit der OnlineIdentitäten betont. Sein Artikel „Digital Biography: Capturing Lives Online“ beschäftigt sich mit der „production of lives and identities online“.30 Nicht nur auto/biographisches Schreiben selbst sei durch den Erfolg des Internets

24

Schuster 2009, 189.

25

Schuster 2009, 184.

26

Schuster 2009, 185f.

27

Schuster 2009, 186.

28

Schuster 2009, 187.

29

Schuster 2009, 189.

30

Arthur 2009, 75.

GERNOT HOWANITZ | 199

radikalen Änderungen unterworfen, auch die Konzepte, die dabei im Hintergrund wirken, also Vorstellungen wie das Selbst, Individualität, Identität und Wahrheit, seien betroffen.31 Beobachtet man die Online-Welt, so fällt auf, dass „[m]any of the lives we can see [in the cyberworld] are actually second lives, fabricated identities.“32 Ähnlich wie Oels und Porombka weist Arthur darauf hin, dass das bloße Ansammeln und Speichern von Lebensdaten noch nicht als auto/biographisches Schreiben gezählt werden kann – die einzelnen auto/biographischen Bausteine müssen erst noch ausgewählt und in Form gebracht werden. Dieses „fashioning“ bzw. „self-fashioning“ geschieht je nach Zielpublikum auf eine andere Art und Weise.33 Als Konsequenz daraus sind findige Internet-Unternehmen entstanden, die sich darauf spezialisiert haben, für zahlkräftiges Publikum die entsprechenden Online-personae zu gestalten.34 Zusammenfassend kann man bemerken, dass es zwar mit digitalen Hilfsmitteln viel einfacher geworden ist, Leben(sdaten) aufzuzeichnen, diese Rohdaten wollen aber erst einmal geordnet bzw. kontextualisiert werden. Hier scheinen vernetzte Datenspeicher im Allgemeinen und das Internet im Besonderen die poststrukturalistische Kritik an Konzepten der herkömmlichen Auto/Biographie, sowie an Vorstellungen des Selbst und von Identität widerzuspiegeln. Im Legen von hypertextuellen Rezeptionspfaden, die die aufgezeichneten auto/biographischen Daten verbinden, sehen Oels und Porombka die Zukunft der Auto/Biographie im Netz. Die überwältigende Tendenz zur Selbstinszenierung, die wenige Jahre nach Erscheinen ihres Artikels das Web 2.0 prägt, haben sie allerdings nicht vorhergesehen. Podnieks hingegen bezeichnet Blogs, persönliche Webseiten und Webcams als neue Formen des life writing. Arthur argumentiert ähnlich, wenn er schreibt, dass im Internet – insbesondere im Web 2.0 – ein großer Schwerpunkt auf der Inszenierung der Online-Persönlichkeit liegt. Dies ist insofern relevant für eine Analyse von (Selbst-)Repräsentationen russischer Autoren und Autorinnen im Runet, als dass hier – wie bereits weiter oben angeführt – das Spiel mit Identität und die Inszenierung von Persönlichkeit(en) in Form der Virtualy

31

Arthur 2009, 75.

32

Arthur 2009, 77.

33

Arthur 2009, 78.

34

Arthur 2009, 80.

200 | (SELBST-)INSZENIERUNG IM NETZ

einen besonderen Stellenwert innehaben und zudem eine starke implizite Literarizität aufweisen. Im nächsten Abschnitt wird deshalb auf die Praxis der (Selbst-)Inszenierung und Mystifikation in der russischen Literatur eingegangen.

V ON DER I NSZENIERUNG ZUR M YSTIFIKATION Bereits Boris Tomaševskij weist auf die komplexen Verbindungen zwischen Leben und Werk eines Schriftstellers hin, so ist es bei Voltaire und Rousseau im 18. Jahrhundert ihr Leben, das das vielgestaltige Werk, d.h. die unterschiedlichsten Textsorten, zusammenhält.35 Das ‚Leben‘, das hier gemeint ist, ist allerdings selbst schon Resultat eines künstlerischen Prozesses und keineswegs nur die Sammlung biographischer Fakten: [D]er Dichter [schickt] seinen Werken nicht seine reale, amtliche Biographie voraus, sondern seine ideale biographische Legende. Für den Literaturhistoriker ist deshalb nur sie für die Wiederherstellung des psychologischen Milieus wichtig, das diese Werke umgab; und sie ist insofern notwendig, als im Werk selbst Anspielungen auf diese biographischen – gleichgültig, ob realen oder legendären – Fakten aus dem Leben des Autors enthalten sind.36

Diese inszenierte „ideale biographische Legende“ trägt Spuren der Mystifikation in sich. Tomaševskij verweist zunächst auf Aleksandr Puškins erfundenen Verfasser Belkin in den Povesti pokojnogo Ivana Petroviča Belkina (Die Geschichten des verstorbenen Iwan Petrowitsch Belkin, 1830) und Nikolaj Gogol’s Rudyj Pan’ko in Večera na chutore bliz Dikan’ki (Abende auf dem Weiler bei Dikanka, 1831/32), die beide die Biographie zu einem Element der Literatur werden lassen.37 Sind es hier allerdings noch erfundene Autorfiguren und damit Mystifikationen im klassischen Sinne, so bezeichnet Tomaševskij auch Vasilij Rozanovs Selbstinszenierung als eine Mystifikation. Hier sei nicht klar, welchen Realitätsbezug die sich selbst (be-)schrei-

35

Tomaševskij 1923, 52.

36

Tomaševskij 1923, 57.

37

Tomaševskij 1923, 56.

GERNOT HOWANITZ | 201

bende literarische Legende Rozanov habe – wichtig ist vor allem die Tatsache, dass die Inszenierung vom Autor selbst bewusst herbeigeführt und betrieben wird.38 Auch bei Aleksandr Blok sei der Fall ganz ähnlich gelagert, denn „seine Gedichte sind ein lyrischer Roman über ihn selbst“.39 Tomaševskij weist aber auch darauf hin, dass es durchaus Schriftsteller ohne Biographie, d. h. ohne biographische Legende, gibt, vor allem in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Als Beispiele nennt er Nikolaj Nekrasov, Aleksandr Ostrovskij sowie Afanasij Fet, deren Texte abgeschlossen und nicht vor der Folie einer auto/biographischen Inszenierung zu lesen sind.40 Im Allgemeinen aber, das heißt, bei einem Schriftsteller, der mit auto/biographischen Legenden arbeitet, ist die Berücksichtigung seiner Lebensfakten notwendig, weil die Gegenüberstellung der Texte und der Biographie des Autors wie auch das Spiel mit der potentiellen Realität seiner [...] Bekenntnisse in seinen Werken eine konstruktive Rolle spielen. Doch diese für den Literaturhistoriker notwendige Biographie ist keine Personal- oder Untersuchungsakte, sondern die vom Autor selbst geschaffene Legende seines Lebens, die allein ein literarisches Faktum darstellt. 41

Wie Erika Greber in ihrer Arbeit zur Mystifikation Čerubina de Gabriaks (eigentlich: Elizaveta Dmitrieva) ausführt, sind es vor allem Paratexte wie Widmungen, Buchumschläge und Titel, sowie Epitexte in Form von Interviews, Briefen und Tagebüchern, die solche Mystifikationen aufbauen und transportieren.42 In Anlehnung an dieses Konzept des mystifikatorischen Para- und Epitexts lässt sich der Status der AutorInnenwebseiten und Blogs innerhalb des jeweiligen schriftstellerischen Werkes besser charakterisieren. Bei Mystifikationen ist „die Biographie dieser Person ausschließlich als sprachlich-textuelles Kommunikat im Paratext zu präsentieren; d.h. es gibt dieses Leben überhaupt nur in Kunstform, in Textform: die Mystifikation ist

38

Tomaševskij 1923, 59.

39

Tomaševskij 1923, 60.

40

Tomaševskij 1923, 58.

41

Tomaševskij 1923, 61.

42

Greber 1993, 182. Ergänzend sei hier noch auf Christine Künzel verwiesen, die die Frage in den Raum stellt, ob man nicht generell Selbstinszenierung von Autoren als Paratext sehen könnte (Künzel 2007, 10).

202 | (SELBST-)INSZENIERUNG IM NETZ

wörtlich zu nehmender Inbegriff eines ‚Lebenstextes.‘“43 Greber verweist in diesem Zusammenhang auch auf die Trope der Prosopopeia, die darauf abzielt, „mit sprachlichen Mitteln Körper-Gesicht-Stimme zu verleihen.“44 Dabei ist die Möglichkeit der Ent-Deckung stets implizit angenommen: Die dekonstruktivistische Lesart von Prosopopoeia als „face“ und „de-facement“ [...] korrespondiert mit den Verhältnissen in der Mystifikation, in der ja eine Maskierung stattfindet, die immer mit Demaskierung rechnen muß, ja rechnen will und in der das de-facement konstitutiver Faktor ist.45

Präsentieren sich SchriftstellerInnen im Internet, ist stets ein mystifizierendes Moment gegeben, selbst wenn auf eine authentische Repräsentation abgezielt wird – man kann sich im Netz schließlich nur über Texte zeigen, also ein Textleben führen. Sherry Turkle bemerkt dazu, dass „[...] in text-based virtual realities [...], words are deeds.“46 Man darf allerdings nicht von den virtuellen Wort-Taten auf die Realität rückschließen. Gerade das passiert aber sehr häufig, dem Textleben wird Authentizität und Relevanz für das wirkliche Leben zugeschrieben, die Texte werden als auto/biographische Wahrheit behandelt. Hier ergibt sich eine Verbindung zum von Bernhard Fetz beobachteten „Paradox der Biographie“, das darin besteht, „dass erst die Inszenierung von Authentizität den biographischen Effekt erzeugt.“47 Laut Fetz ist Authentizität nicht mit Wahrheit gleichzusetzen, das Imaginäre wiederum nicht mit Fälschung, sondern es entspricht eher den positiver konnotierten Begriffen Fabrikation und Erfindung.48 Die fiktionalen Strategien von AutorInnen, sich selbst zu repräsentieren, sind, wie Fetz schreibt, definitiv zur Auto/Biographie gehörig:

43

Greber 1993, 194.

44

Greber 1993, 196.

45

Greber 1993, 196. Hervorhebung im Original. Auch das widerrechtliche Verändern von Webseiten, bei dem die ursprüngliche Version einer Seite durch eine (meist parodistisch verzerrte) neue Version ausgetauscht wird, wird im Internetjargon passenderweise als ‚defacement‘ bezeichnet, Webseiten sind damit tatsächlich so etwas wie eine Maske.

46

Turkle 1995, 15. Hervorhebung im Original.

47

Fetz 2009, 54.

48

Fetz 2009, 57.

GERNOT HOWANITZ | 203

Gerade autobiographische Stilisierungen sind ein wichtiges Erkenntnismittel biographischer Arbeit. Und wie wollte man öffentlichen Figuren gerecht werden, ohne eine Analyse der literarischen und medialen (Selbst)Inszenierungen zu unternehmen und diese als zur Wahrheit einer Biographie gehöriges Moment zu betrachten? 49

Auch Susi Frank et al. verweisen in ihrem Sammelband Mystifikation – Autorschaft – Original darauf, dass Mystifikationen zwar klarerweise nicht der Wahrheit zuzurechnen sind, aber ebenso wenig der Lüge – sie sind vielmehr im Bereich zwischen diesen klassischen Dichotomien zu finden, in einem Ort, den die „Lust an der Halbwahrheit“ eröffnet hat.50 Weiters wird festgehalten, dass Mystifikationen theatralische Verfahren benutzen und sich durch ihre Zeichenhaftigkeit auszeichnen.51 Damit wird klar, dass die scheinbare Authentizität des Künstlerbildes nur Inszenierung ist, im speziellen Fall des Runet entpuppt sich die virtuelle Repräsentation der KünstlerInnen als Rolle in einem hypertextuellen Schauspiel. Die Performativität der (Selbst-)Inszenierungen steht dabei außer Frage, so schreibt Christine Künzel im Vorwort zu ihrem Sammelband über Autorinszenierungen in der deutschen Literatur, dass hier „Strategien der Selbstinszenierung hervor[treten], die das Moment der Theatralität und Performativität betonen.“52 Dass das Internet im Allgemeinen und das Runet im Besonderen Selbstinszenierungen so stark fördert, verwundert insofern nicht, als dass sich dieses Medium durch eine implizite und mehrfache Performativität auszeichnet, die sich laut Henrike Schmidt in folgenden fünf Varianten offenbart: Digitale Schrift als performativer Prozess, konzeptuelle und mediale Mündlichkeit, Handeln als Sprechen, Performanz als Identitätsbildung, sowie ernster und unernster Sprachgebrauch/fiktionale Rahmung.53 Es liegt auf der Hand, dass alle fünf performativen Prozesse in die (Selbst-)Inszenierung russischer AutorInnen hereinspielen. Eine weitere Verbindung zwischen Internet und Mystifikation ergibt sich durch den Stellenwert der Rezipienten, der in beiden Fällen ähnlich hoch ist. So sind neben den jeweiligen AutorInnen auch die LeserInnen am mystifikatorischen Prozess beteiligt – ob sie es wollen oder nicht:

49

Fetz 2009, 57.

50

Frank et al. 2001, 10.

51

Frank et al. 2001, 9.

52

Künzel 2007, 16.

53

Schmidt 2011, 237-241.

204 | (SELBST-)INSZENIERUNG IM NETZ

Aufrichtige Rezipienten werden zu unfreiwilligen Mitmystifikatoren, und was alles von dem, was in der Literaturgeschichte (oder allgemeiner) für tatsächlich gehalten wird, Resultat einer geglückten, weil niemals enthüllten Mystifikation ist, kann niemand sagen. Nicht von ungefähr behalten gerade Gattungen wie Briefe, Tagebücher und Autobiographisches auch im literarischen Bereich noch ihre Authentizitätsfiktion und unterstellen, bei ihnen handele es sich um Dokumente des wirklichen Lebens.54

Diesbezüglich sei auch noch einmal auf die Virtualy des Runet verwiesen, deren „Spiel mit der Realität“ („igra v real’nost’“) nicht nur von AutorInnen gespielt wird, sondern sehr stark auch auf Seiten der LeserInnen.55 Wenn Frank et al. zudem – wie vorher schon Oels und Porombka – für die Mystifikation auf Jean Baudrillards Konzept des Simulacrums zurückgreifen, und auf die „Ununterscheidbarkeit zwischen Wirklichkeit und nicht-Wirklichkeit, das Nebeneinander von alternativen Wirklichkeiten, von denen keine wirklicher ist als die andere“56, hinweisen, so tritt die enge Verbindung zwischen Netz und Mystifikation noch deutlicher zu Tage. Laut Frank et al. ist es nun vor allem die russische Kultur, die als Ganzes zur Mystifikation tendiert: Mit Baudrillard, Flusser oder McLuhan wurde zu Beginn der 90er Jahre versucht, die Produktion von Realität in der Sowjetunion [...] mit westlichen Medientheorien zu fassen und in eine kulturtheoretische Debatte zu übersetzen. [...] [Es] wurde die Affinität zum „als ob“ als russische Identität postuliert und damit ein kulturtheoretisches Paradox offenbart, das die Simulation als Originalität der russischen Kultur auswies.57

Ein Stück weit ließe sich aus diesem Gedanken auch die Affinität des Runet zu virtuellen Persönlichkeiten erklären. Auf keinen Fall aber verwundert es, dass gerade russische Autorinnen und Autoren online so stark vertreten sind. Zusammenfassend kann man anführen, dass sich die neuen Formen auto/biographischen Schreibens im Runet als Para- und Epitexte lesen lassen, die als Ergänzung zum schriftstellerischen Werk im engeren Sinne dienen. Ihr

54

Frank et al. 2001, 10.

55

Gornyj 2009, 219.

56

Frank et al. 2001, 14.

57

Frank et al. 2001, 15.

GERNOT HOWANITZ | 205

Zweck ist es, die idealisierte auto/biographische Legende bzw. Selbstinszenierung der AutorInnen zu transportieren. Das Netz eignet sich aufgrund seiner medialen Eigenschaften – insbesondere seiner strukturellen Parallelen zur Mystifikation – besonders gut als Bühne für diesen Akt der (Selbst-)Inszenierung.

W EBSEITEN UND B LOGS ALS F ORMEN AUTO / BIOGRAPHISCHEN S CHREIBENS Als grundsätzliche Formen der (Selbst-)Inszenierung führt Kerstin Paulsen „Autorenwebsites, Verlagswebsites, Kommerzielle [sic!] Websites (z.B. Amazon), Weblogs [...], Foren, Mitschreibprojekte [...], Online-Literaturprojekte, Netzkunst und -kultur“58 an. Obwohl Paulsen die Strategien deutscher AutorInnen analysiert, sind mit ihrer Aufzählung im Grunde auch alle Publikationsmöglichkeiten des Runet abgedeckt. Der Hauptunterschied zwischen den beiden Kulturkreisen ergibt sich aus der unterschiedlichen Popularität einzelner Formen. Während im deutschen Internet bei Weitem nicht alle SchriftstellerInnen durch eigene Webseiten vertreten sind,59 finden sich im Runet beinahe alle bekannten Namen in URL-Form wieder. Bei Blogs sieht die Situation ähnlich aus, wohingegen Verlagswebseiten und kommerzielle Seiten wie etwa www.ozon.ru für die (Selbst-)Inszenierung russischer AutorInnen kaum eine Rolle spielen. Eine spezielle Situation ergibt sich bei Mitschreibprojekten und anderen kollektiven literarischen Experimenten. Wie auch von Henrike Schmidt beschrieben, ist der Stellenwert von Literaturplattformen wie www.stihi.ru – „Web 2.0 auf Russisch“60 – zunächst sehr hoch, geht aber mit dem in Russland verspätet einsetzenden Siegeszug internationaler kollaborativer Techniken wie Blogs und sozialer Netzwerke im Runet stark zurück. Insgesamt zeichnet sich das literarische Runet jedenfalls durch eine viel höhere Aktivität aus als das deutsche oder auch das englischsprachige Internet. Zurzeit konzentrieren sich die (Selbst-)Repräsentationen russischer AutorInnen auf Webseiten und Blogs, auf diese Formen wird im Folgenden deshalb genauer eingegangen.

58

Paulsen 2007, 258.

59

Paulsen 2007, 260.

60

Schmidt 2011, 112.

206 | (SELBST-)INSZENIERUNG IM NETZ

Wie kann man nun einen analytischen Zugang zu Homepages von SchriftstellerInnen finden? Prinzipiell kann eine Autorin oder ein Autor beim Erstellen einer Webseite „von dem Interesse des potentiellen Lesers an [ihrer bzw.] seiner Person ausgehen und daher das Hauptaugenmerk auf die Präsentation [ihrer bzw.] seiner selbst legen“.61 Obwohl Webseiten dementsprechend eine sehr häufig genutzte Form der (Selbst-)Inszenierung darstellen, gibt es kaum Untersuchungen zu Seiten von russischen SchriftstellerInnen. Henrike Schmidt etwa widmet je ein Kapitel den literarischen Plattformen62, der Netzkunst63 und den Blogs64, Webseiten von AutorInnen werden im Unterschied dazu zwar en passant erwähnt, aber nicht systematisch untersucht. Einen etwas anderen Zugang wählt Elisa Coati, die die Web-Präsenz des russischen Schriftstellers Boris Akunin analysiert. Sie versteht dabei die Webseite www.akunin.ru als Ergänzung und Erweiterung von Akunins Büchern.65 Der Internet-Auftritt wird damit auch zu einem Paratext, allerdings werden laut Coati die Texte inszeniert, nicht ihr Autor. In diesem speziellen Fall ist eine solche Lesart möglich, denn die Webseite evoziert die Welt und insbesondere die Zeit aus Akunins Romanen, Akunin selbst stellt sich als sein eigener Romanheld Ėrast Fandorin dar. Dass es sich hierbei um eine klassische Mystifikation handelt, spricht Coati allerdings nicht an. Sehr wohl kommt aber zur Sprache, dass SchriftstellerInnen in der Regel nicht allein verantwortlich für ihre Online-Repräsentation sind. Da selbst für das Erstellen einfachster Webseiten technisches Hintergrundwissen notwendig ist, wird die Gestaltung häufig an ein Designbüro abgegeben. Coati bemerkt dazu, dass „[t]he author’s website thus becomes an example of shared authorship: the contents belong to Akunin’s books, but their visual implementation is the responsibility of a professional of digital arts“.66 Diese Professionalisierung des Internets betrifft natürlich vorrangig bekannte SchriftstellerInnen, nach denen auch gesucht wird. Unbekannte AutorInnen müssen ihre Webpräsenz in der Regel selbst gestalten, wobei sich hier zusätzlich die Frage stellt, wie die Runet-BenutzerInnen etwas – das heißt, die Seite eines

61

Paulsen 2007, 260.

62

Schmidt 2011, 78-191.

63

Schmidt 2011, 305-328.

64

Schmidt 2011, 404-470.

65

Coati 2011, 50.

66

Coati 2011, 54.

GERNOT HOWANITZ | 207

Unbekannten – finden sollen, das sie gar nicht gesucht haben. Trotzdem sind, wie schon im ersten Abschnitt angedeutet, einige unbekannte SchriftstellerInnen aus der anonymen Masse der Schreibenden herausgetreten. Es ist zu vermuten, dass in diesem Prozess auch die jeweilige Webseite eine Rolle gespielt hat, dieser Aspekt wird von der Forschungsliteratur bis dato jedoch nicht beachtet. Die zweite zentrale Form der Inszenierung sind Blogs, spezielle Webseiten, die es erleichtern, Texte im Internet zu publizieren. Einzelne Einträge werden chronologisch angezeigt und können von den LeserInnen kommentiert werden. Deshalb werden Blogs für gewöhnlich als eine viel direktere und persönlichere Kommunikationsform verstanden als Webseiten. Schon der Name des in Russland führenden Portals LiveJournal weist auf den auto/biographischen Hintergrund dieser Schreib- und Publikationsform hin, in den meisten Fällen ist ein impliziter auto/biographischer Hintergrund leicht auszumachen. Blogs dienen laut Kerstin Paulsen vor allem der Kommunikation mit den LeserInnen. Man könnte „Weblogs als Texte definieren, in denen der Autor seine Gedanken mit relativ enger Anbindung an seine direkte Umgebung formuliert und das Empathische sowie das Anteilnehmende weitaus prägender sind als eine objektiv-distanzierte Darstellung und Umgehensweise“.67 Im Runet tragen diese Texte – wenig überraschend – häufig literarische Züge. Ellen Rutten schreibt in ihrer Analyse russischer literarischer Blogs, es handle sich um eine Komposition, in der literarische Elemente mit anderen Formen der Kommunikation und des kreativen Ausdrucks verschmelzen. Das Genre dient als literarisches, sozial vernetzendes und vermarktendes Instrument. Diese heterogenen Funktionen lassen sich am besten unter dem Begriff kreatiff zusammenfassen [...], in dem Vorstellungen vom Blog als literarischem Werk, als digitalem Medium und als Werk mit Warencharakter zusammenfließen.68

In den Blogs russischer SchriftstellerInnen finden sich Einträge ganz unterschiedlicher Art, vom Kochrezept über Ostergrüße hin zu kleinen literarischen Skizzen. Diese Mischung wird als „halb-literarisch“ bezeichnet: Blogs fungieren als Sicherheitszone, in denen nicht die Literatur im Zentrum steht,

67

Paulsen 2007, 262.

68

Rutten 2009, 16.

208 | (SELBST-)INSZENIERUNG IM NETZ

und man deshalb auch die Regeln des literarischen Schreibens getrost ignorieren darf.69 Nun, wenn es nicht die Literatur ist, die im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, dann bleibt nur mehr die Autorin oder der Autor über, der diesen Platz einnehmen könnte – und in der Tat, die (Selbst-)Inszenierung findet auch in den Blogs russischer SchriftstellerInnen statt, nicht nur auf ihren Webseiten. Wie Rutten schreibt, verfolgen viele BloggerInnen im Runet nur einen Zweck: Selbstvermarktung.70 Abschließend sei darauf verwiesen, dass RezipientInnen Webseiten einen eher offiziellen Charakter zuschreiben, Blogs im Gegensatz dazu als etwas Privates, Intimes aufgefasst werden. Gerade bei SchriftstellerInnen, die beide Publikationsformen nützen, lässt sich diese Unterscheidung beobachten. Nun ist ein Blog streng genommen ja eine Webseite71, umgekehrt kann ein Blog auch in eine (andere) Webseite integriert sein, die Dichotomie Seite – Blog ist also eine sehr brüchige. Trotzdem aber bildet selbst im Fall der Kombination beider Formen der Blog so etwas wie eine „Insel des Privaten“ inmitten der offiziell-formell zu charakterisierenden Umgebung der Homepage, die ursprüngliche Zuteilung der Funktion bleibt damit erhalten. Dies ist insofern von Bedeutung, als dass, wie Christian Klein schreibt, „[...] die Ansicht, nach der die Menschen im Privaten authentisch, ihr Verhalten in der Öffentlichkeit hingegen inszeniert sei, [...] kaum noch haltbar“72 ist – aber trotzdem die Rezeptionshaltung bestimmt: Wie oben beschrieben, werden Blogs all ihrer Inszeniertheit zum Trotz für gewöhnlich als authentisch aufgefasst.

(S ELBST -)I NSZENIERUNG IM N ETZ : V LADIMIR S OROKIN UND L INOR G ORALIK Vladimir Sorokin ist typisches Beispiel eines etablierten, international anerkannten Autors, der die Möglichkeiten des Netzes vor allem zu Marketingzwecken benutzt, während Linor Goralik als eine im Runet ‚geborene‘

69

Rutten 2009, 18.

70

Rutten 2009, 19.

71

Im World Wide Web müssen letztlich alle Inhalte als Webseite bzw. als Teil einer solchen aufbereitet werden.

72

Klein 2001, 14.

GERNOT HOWANITZ | 209

Schriftstellerin verstanden werden kann, die durch ihren Blog bekannt geworden ist. Zwischen diesen beiden Polen und den damit verbundenen unterschiedlichen Strategien der (Selbst-)Inszenierung bewegen sich im Grunde alle SchriftstellerInnen im Runet.

Abb. 1: Die Webseite www.srkn.ru vom 13. August 2003. Vladimir Sorokin ist vor allem durch seine Webseite www.srkn.ru im Netz vertreten. Laut dem Network Information Center (NIC) für Russland, einer Art Meldebehörde im Internet, wurde der Domainname am 16. Juli 2003 durch das Zina Design Studio registriert.73 Wann die erste Version der Webseite ins Netz gestellt worden ist, lässt sich nicht mehr genau feststellen. Der Webcrawler www.archive.org, der in regelmäßigen Abständen Momentaufnahmen der wichtigsten Webseiten anfertigt, hat jedenfalls am 13. August 2003 zum ersten Mal einen solchen snapshot von www.srkn.ru angefertigt74, siehe Abb. 1. Ohne diese – wenn auch zum Teil unvollständigen – Momentaufnahmen wäre es unmöglich, auf frühere Versionen von Webseiten zuzugreifen.

73

http://nic.ru/whois/?query=srkn.ru [31. 5. 2012].

74

http://web.archive.org/web/20030813193447/http://www.srkn.ru/ [31. 5. 2012].

210 | (SELBST-)INSZENIERUNG IM NETZ

Zunächst fällt bei diesem Bild auf, dass einige Grafikdateien fehlen, es also wohl aufgrund technischer Fehler des Webcrawlers zu einer Art ‚digitalen Verwitterung‘ kommen kann. Konzentriert man sich auf die Webseite selber, fällt sofort das prominent platzierte Foto von Vladimir Sorokin ins Auge. Erst die Spuren der ‚digitalen Verwitterung‘ offenbaren, dass dieses Foto aus Einzelfragmenten zusammengesetzt ist – ein unbeabsichtigter Verweis auf die poststrukturalistische Zersplitterung des Selbst. Die nunmehr fehlenden Bildschnipsel fungieren zum Teil als Verweise auf die Unterabteilungen der Seite, darunter „Texte“, „Links“, „Gästebuch“, „Interview“, „Graphik“ und „E-Mail“, zum Teil haben sie eine rein ästhetische Funktion. Versucht man, über die Google-Bildersuche zu rekonstruieren, wie das Originalbild ausgesehen haben könnte, kommt man zu dem Ergebnis, dass die nun fehlenden Teile Sorokins Porträt vor allem verunstaltet haben.75 Wie auch in der ‚verwitterten‘ Version ersichtlich, prangt eine große Wunde – es könnte auch ein Leberfleck sein – auf der linken Gesichtshälfte. Narben finden sich auf Nase und Wange, Fliegen und Spinnen krabbeln herum, und ein Tattoo in Herzform ziert die Stirn. Es wird damit ein Bild des Schriftstellers vermittelt, das mit der „Ästhetik des Häßlichen“, die Dagmar Burkhart dem Werk Sorokins zuschreibt, korrespondiert.76 Unter dem dominanten SorokinKopf, dort, wo eigentlich der Körper sein müsste, steht ein Textfragment ohne Quellenangabe, das aus Sorokins Roman Norma (Norma, 1979-1983) stammt.77 Das Zitat wird auf der rechten Seite von einer Hand flankiert, die den Eindruck verstärkt, dass der Text dem Körper quasi eingeschrieben wird. Somit ist auf den ersten Blick eine Einheit von Autor und Werk ersichtlich, die im Sinne Tomaševskijs durch die Online-Mystifikation aufgebaut wird. Für das Design der Webseite zeichnet das Studija „Zina Dizajn“ verantwortlich, das auch die Domain registriert hat. Vladimir Sorokin selbst wird lediglich die Idee zur Umschlaggestaltung („ideja obložki“) zugeschrieben, im Gegensatz zur Verbindung Autor – Werk ist der Konnex Autor – Webseite damit deutlich schwächer.

75

http://newsimg.bbc.co.uk/media/images/40955000/jpg/_40955385_0322_ sorokin.jpg [10. 10. 2012].

76

Burkhart 1999, 9.

77

Es handelt sich um das Ende des Kapitels „Stenogramma reči glavnogo obvinitelja“ („Stenogramm der Rede des Hauptanklägers“), Sorokin 1979-1983, 264f.

GERNOT HOWANITZ | 211

Ruft man Sorokins Seite heute auf, so präsentiert sich ein völlig anderes Bild, siehe Abb. 2. Wieder ist es ein Foto des Schriftstellers, das die Seite dominiert. Diesmal erscheint Vladimir Sorokin am Schreibtisch sitzend. Die prominent platzierten Federkiele symbolisieren den Schöpfungsprozess, gleichzeitig fungieren kleine, in das Foto hineinmontierte Grafiken als Verweise – nicht aber als Links! – auf Sorokins Texte. Der Spasskij-Turm des Kreml könnte für den Erzählband Sacharnyj kreml’ (Der Zuckerkreml, 2008) stehen, die vier Herzen für den Roman Serdca četyrech (Die Herzen der Vier, 1991), das Pferd für die Erzählung Černaja loščad’ s belym glasom (Schwarzes Pferd mit weißem Auge, 2005) und so weiter. Erwähnenswert ist außerdem, dass das Foto schon etwas älter zu sein scheint, Sorokin wird zum immerwährend jugendlichen, in träumerisch-nachdenklicher Pose versunkenen Autor stilisiert. Gleichzeitig wird der sowjetische Kontext aufgerufen, nicht nur durch den Kremlturm, sondern auch durch Sorokins Kleidung und Haartracht, die den späten Achtzigern bzw. frühen Neunzigern zugeordnet werden kann, sowie das Schachbrett, das als Utensil der inteligencija gewertet werden kann. Hier wird in mystifikatorischer Absicht ein ganz bestimmtes Schriftstellerbild entworfen, nämlich das des literarischen Dissidenten. Die Verbindung Autor – Werk wird aufgeweicht, die „Ästhetik des Häßlichen“ durch eine Ästhetik der Vermarktung ersetzt. Für das Design der Version von 2012 zeichnet erneut Zina verantwortlich, der Autor ist nun aber aus dem Copyright-Hinweis am Ende der Seite verschwunden. Eine weitere Neuerung der Version von 2012 stellt der in die Webseite integrierte Blog dar, in dem sich allerdings nur wenige Einträge finden.78 Ähnlich inaktiv wirkt auch Sorokins Blog auf der Webseite des russischen Magazins www.snob.ru, der seit Dezember 2008 besteht.79 Anhand dieses Beispiels kann man Kerstin Paulsen widersprechen, für die die Authentizität als oberstes Prinzip von schriftstellerischen Blogs feststeht.80 Das Beispiel von Sorokin zeigt, dass durch zu wenig Aktivität ein Blog so uninteressant für die Internetgemeinde wird, dass sich die Frage nach Authentizität gar nicht erst stellt.

78

http://srkn.ru/blog [10. 10. 2012].

79

http://www.snob.ru/profile/5295/about [31. 5. 2012].

80

Paulsen 2007, 257.

212 | (SELBST-)INSZENIERUNG IM NETZ

Abb. 2: Die Webseite www.srkn.ru vom 31. Mai 2012. Soweit die Inszenierungsstrategien eines etablierten Schriftstellers. Bei der Netzliteratin Linor Goralik sehen diese naturgemäß ganz anders aus. In ihrem Fall kam zuerst der Blog snorapp.livejournal.org, dessen erster Eintrag am 22. 4. 2002 vorgenommen worden ist.81 Bezüglich der grafischen Gestaltung von Blogs ist allgemein anzumerken, dass sich bei diesen die visuelle Komponente im Vergleich zu den Webseiten etwas zurücknimmt. Häufig stehen nur einige wenige Standarddesigns der Blogportale zur Verfügung, die gerade einmal zwei Möglichkeiten zur Individualisierung lassen, nämlich das Benutzerbild (Avatar) und den Benutzernamen, der gleichzeitig als URL fungiert. Die Wichtigkeit dieser beiden Elemente darf allerdings nicht unterschätzt werden, so können sie dazu dienen, Kontinuität über mehrere Portale hinweg zu erhalten. Goralik verwendet auf Twitter den gleichen Benutzernamen und das gleiche Bild wie im LiveJournal. Eine weitere Möglichkeit, die sie nützt, um ihre Blogs und die damit verbundenen unterschiedlichen Aspekte ihrer Persönlichkeit zueinander in Bezug zu setzen, ist ihre Webseite www.linorg.ru, die sie am 10. Jänner 2007 selbst registriert hat, und deren erster snapshot von www.archive.org vom 5. Februar 2007 stammt.82 Bei Linor Goralik ist die Bindung zur eigenen Homepage viel intimer, hier hat kein

81

http://snorapp.livejournal.com/2002/04/22/ [31. 5. 2012].

82

http://nic.ru/whois/?query=linorg.ru http://web.achive.org/web/ 20070205001232/http://www.linorg.ru/ [31. 5. 2012].

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Designstudio eine Auftragsarbeit abgeliefert. Ihre Webseite ist mit einfachsten Mitteln gestaltet. Kein prominent platziertes Foto heischt nach Aufmerksamkeit, die Klammerung des Titels – (Linor Goralik: teksty i dr.) – spielt die Bedeutung der Persönlichkeit und des Namens zusätzlich herunter. Im Grunde handelt es sich bei der Webseite einfach um eine Link-Liste, die auf Goraliks zahlreiche Internet-Projekte verweist, siehe Abb. 3. Erwähnenswert ist die von der Schriftstellerin selber vorgenommene Kategorisierung in „Teksty“/„Texte“, „Nekotorye stat’i“/„Einige Artikel“, „Ne teksty“/„Nicht Texte“ und „Blogy“/„Blogs“. Folgt man den Links, so findet man heraus, dass unter „Texte“ nur Literarisches fällt. Unter „Artikel“ ist Goraliks publizistisches Schaffen gesammelt, „Nicht Texte“ sind Cartoons, und die „Blogs“ verweisen auf diverse Online-Texte. Als Beispiel sei hier Goraliks Twitter-Account herausgegriffen, der unter www.twitter.com/snorapp aufgerufen werden kann. Alle Einträge (tweets) beginnen mit „Ich sehe:“ und beschreiben kleine Alltagsszenen, zum Beispiel: „Ich sehe: ein kleines, einsames Hündchen, das geschäftig ein in Zellophan eingewickeltes Brot zwischen den Zähnen trägt“83. Auf den ersten Blick antwortet Goralik mit ihren tweets auf den Twitter-Wahlspruch What’s happening? und lässt ihre LeserInnen damit scheinbar ungefiltert an ihrem Leben teilhaben. Dabei handelt es sich aber um eine Mystifikation, denn den kleinen Alltagsschnipseln kann eine gewisse Lyrizität nicht abgesprochen werden, unter Umständen sind sie sogar gänzlich fiktiv – der Alltag der Schriftstellerin und letztlich ihre Person werden damit zu einem Bestandteil ihres Werks umgearbeitet.

83

„Vižu: nebol’šuju odinokuju sobačku, delovito nesuščuju v zubach baton v cellofanovom pakete.“ https://twitter.com/snorapp/status/ 189590423554109440 [10. 10. 2012].

214 | (SELBST-)INSZENIERUNG IM NETZ

Abb. 3: http://www.linorg.ru. Goraliks Webseite www.linorg.ru erweist sich als ein wahrhaftiger Hypertext, der der Leserin oder dem Leser keine festgelegte Lektürereihenfolge aufzwingt, sondern zum freien Erkunden ihres Textuniversums einlädt. Interessanterweise bringt der hypertextuelle Zugang die Person Linor Goralik nicht zum Verschwinden, diese hält vielmehr – mit dem URL als Anker – die fragile Polyphonie ihrer Texte zusammen und bildet damit den wohl wichtigsten Referenzpunkt für die LeserInnen – auch hier sei wieder an Tomaševskij erinnert. Was bei diesen beiden Beispielen implizit bereits angeklungen ist, ist die Schwierigkeit, einer Webseite den passenden URL zu geben, der der metonymischen Verbindung von AutorIn und Webseite Ausdruck verleiht. Kaum eine Schriftstellerin oder ein Schriftsteller ist unter der naheliegenden Kombination www.vorname-nachname.ru zu finden. In der Regel beinhaltet der URL nur den Nachnamen, was diesen stark in die Nähe eines Markennamens rückt. Hier ergeben sich gleich mehrere Probleme. Zum einen war es bis vor kurzem nicht möglich, in einem URL kyrillische Zeichen zu integrieren, erst die 2010 geschaffene neue Top-Level-Domain ‚.рф‘ hat diese Möglichkeit eröffnet. In der Regel hat man sich bisher mit der wenig standardisierten englischen Umschrift beholfen, wobei man sich für eine aus mehreren möglichen Varianten entscheiden musste. So lautet der URL der Webseite

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von Sergej Luk’janenko, dem wohl bekanntesten zeitgenössischen russischen Fantasy-Autor, www.lukianenko.ru, denkbar wäre aber auch www.lukyanenko.ru. Ein zweites Problem veranschaulicht Vladimir Sorokins Adresse srkn.ru: Das Fehlen der Vokale ist zwar einerseits dessen Sprachexperimenten geschuldet, andererseits verdankt sie ihre Form aber wohl auch der trivialen Tatsache, dass www.sorokin.ru schon an einen Anbieter für Werkstattzubehör vergeben worden war.84 Vladimir Sorokin kann also im Grunde nicht unter seinem eigenen Namen im Runet auftreten – ein völlig neues Problem, mit dem die AutorInnen konfrontiert sind.

R ESÜMEE (Selbst-)Inszenierungen spielen allgemein im Web 2.0 eine große Rolle, noch zentraler sind sie jedoch für das Runet. Dieses Spezifikum lässt sich mit der speziellen historischen Entwicklung begründen, die Computernetzwerke zuerst in der Sowjetunion und dann in Russland durchlaufen haben. Als Resultat zieht sich das Spiel mit unterschiedlichen (virtuellen) Persönlichkeiten – Virtualy – wie ein roter Faden durch das Runet. Zusammen mit der Literaturzentriertheit der russischen Kultur ergibt sich ein für SchriftstellerInnen geradezu ideal erscheinendes Online-Biotop. Alteingesessene AutorInnen nutzen die neuen Möglichkeiten des Internets zur Kommunikation mit den LeserInnen und zu Marketingzwecken, während bislang unbekannte Schreibende dank des inszenatorischen Potentials des Netzes Bekanntheit erlangen können und in weiterer Folge als ‚richtige‘ Schriftstel-lerInnen anerkannt werden. Diese ‚Neugeborenen‘ verweigern sehr häufig klassische SchriftstellerInnenbilder. Linor Goralik beispielsweise führt an, sie sei keine Schriftstellerin, sie sei ein Mensch, der Texte schreibt.85 Diese Haltung findet sich auch bei den bereits erwähnten bekannten Namen Sergej Minaev, Ėduard Bagirov, Andrej Orlov und Dmitrij Gluchovskij. Die preisgekrönte Runet-Lyrikerin Vera Polozkova verneint ebenfalls ihren Status als Poetin.86 Trotz dieser Weigerung, den eigenen Status als SchriftstellerInnen anzuerkennen, erscheint es deshalb als naheliegend, die Online-Inszenierungen

84

http://nic.ru/whois/?query=sorokin.ru [31. 5. 2012].

85

„[…] ja ne pisatel’, ja čelovek, kotoryj pišet teksty“, Idlis 2010, 149.

86

Idlis 2010, 422.

216 | (SELBST-)INSZENIERUNG IM NETZ

bzw. Mystifikationen, die diese ‚neuen‘ AutorInnen erschaffen haben, als Teil der jeweiligen Auto/Biographie zu betrachten. Der Ansatz, InternetPublikationen als mystifikatorische Para- bzw. Epitexte und damit als Beispiele auto/biographischen Schreibens zu lesen, ist die eigentliche Leistung des vorliegenden Textes – bislang haben Untersuchungen des literarischen Runet vorwiegend die Texte an sich in den Blick genommen, weniger die AutorInnen selbst. Gerade Webseiten erschließen sich aber vor allem über die Persönlichkeit der jeweiligen Schriftstellerin oder des jeweiligen Schriftstellers. Bezüglich der Inszenierungsstrategien selbst lässt sich bemerken, dass sich die im Runet geborenen AutorInnen im Vergleich zu etablierten SchriftstellerInnen viel diverserer Formate bedienen und in der Regel über eine höhere technische Kompetenz zu verfügen scheinen. Dies ist nicht verwunderlich, schließlich ist in ihrem Fall zuerst die (selbst erstellte) Web-Präsenz gekommen, dann erst der Ruhm. Diese persönliche Involviertheit führt dazu, dass die Verbindung zwischen Online-Auftritt und realer Persönlichkeit bei den ‚neuen‘ AutorInnen in den meisten Fällen glaubhaft erscheint. Gibt es hingegen keine Involviertheit bzw. keine oder nur wenig Aktivität, dann wird die Frage nach Authentizität unerheblich. So macht es keinen Unterschied, ob Sorokins spärlich gesäte Blog-Einträge tatsächlich von ihm stammen oder nicht – ein virtuelles Teilhaben am Leben des Autors ergibt sich daraus in beiden Fällen nicht. Gewissermaßen findet damit eine Verschiebung der Prioritäten statt, Leitgedanke ist nicht mehr Authentizität, sondern Aktivität.

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GERNOT HOWANITZ | 217

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218 | (SELBST-)INSZENIERUNG IM NETZ

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Cosima von Bonin: Partnerschaftliche Imagebildung BARBARA LANGE

Als Anfang des Jahres 2011 Gerhard Richter seinen 80. Geburtstag feierte, richtete nicht nur die Nationalgalerie in Berlin ihm zu Ehren eine große Überblicksschau aus. Auch zahlreiche Medien im In- und Ausland nahmen das Ereignis zum Anlass, den Künstler für seine bisherige Lebensleistung zu ehren.1

Abb. 1: Gerhard Richter in seiner Ausstellung „Bilder einer Epoche“, Februar 2012

1

Vgl. die Links zu Zeitungsartikeln auf der Homepage des Künstlers, die um den 9.2.2012 erschienen: www.gerhard-richter.com/links/articles/ [24.8.2012].

222 | COSIMA VON BONIN: PARTNERSCHAFTLICHE IMAGEBILDUNG

So verständlich diese Gratulationen waren, erstaunte doch, dass sie mehr oder weniger ausschließlich im Modus der Künstlerbiographik verfasst worden waren. Es ist ein Charakteristikum dieser Literaturgattung, die Leistung des Einzelnen aus dem Kontext zu isolieren, um ihn so als Ausnahmeerscheinung etablieren zu können.2 Resultierte das Feuerwerk entsprechender Stereotypen, das zu Richters Geburtstag entzündet wurde, zum einen aus dieser Tradition, so hat die Vorliebe für Künstlerpersönlichkeiten, die sich hier zeigte und die seit geraumer Zeit in massenorientierten Feuilletons und entsprechenden Megashows des Kunstbetriebs beobachtet werden kann, tatsächlich nur noch bedingt etwas mit den Lobreden auf die Künstlerhelden der Frühen Neuzeit zu tun. Vielmehr wird mit diesem Klischee heute ein Rollenmodell verhandelt, das aktuell auf dem Arbeitsmarkt gefragt ist: Kreativität, Flexibilität und die Bereitschaft, sich auf prekäre Lebenssituationen einzulassen, beschreiben nicht mehr allein die Arbeitsbedingungen von Künstlern, sondern sind Charakteristika vieler Professionen geworden.3 Nicht mehr die Befriedung der Gesellschaft, wie sie mit dem Künstlerhelden der Frühen Neuzeit verbunden wurde, nicht mehr die Etablierung eines unverfänglichen Prototypen für Gedankenfreiheit, wie er im 19. Jahrhundert gefragt war, sondern die Funktionalisierung eines neuzeitlichen Ich-Ideals zur Steigerung von Effizienz innerhalb globaler Ökonomien macht Künstler daher heute zu öffentlich interessanten Figuren. Mit den realen Lebensbedingungen von Künstlerinnen und Künstlern, etwa denen eines Gerhard Richter, hat dieses Image wenig zu tun.4 Es ist vielmehr eine symbolische Form, die allgemein konsensfähig das verkleidet, was tatsächlich die Aneignung von gedanklichen Ressourcen zum Nutzen anderer bedeutet.

2

Zu den Mustern dieser Erzählungen Kris/Kurz 1995 (1934). Zum Stellenwert der Künstlerbiographik in der Rede über Kunst Hellwig 2009.

3

Vgl. Fastert/Joachimides/Krieger 2011, vor allem 12-14. Die zunächst in der Arbeitssoziologie aufgekommene Debatte greift Reckwitz 2012 auf, wenn er die Kreativität des Künstlers als „Imperativ“ aktueller Subjektmodellierungen konstatiert.

4

Kris/Kurz 1995 (1934), 32-33 führen aus, dass es in der Künstlerbiographik daher auch nicht um Wahrheitsgehalt, sondern um die allgemeine Akzeptanz von Images geht.

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Diese Funktionalisierung ist nur mit dem Einverständnis von Künstlerinnen und Künstlern praktikabel.5 Wie zu Beginn der Frühen Neuzeit, wie in der frühen Moderne profitieren sie auch heute davon, dass ihr Erfindungsgeist und ihre Art, die Welt zu kommentieren und sich in der Welt zu bewegen, funktional für andere, außerkünstlerische Bereiche sind. Und wie schon immer reagieren sie in diesem Balancespiel der Machtinteressen nicht nur, sie profilieren aktiv das Image des Künstlers mit. Gerhard Richter begab sich im Februar 2012 ganz real in das Blitzlichtgewitter, um sich anschließend mit den dabei entstandenen Bildern als Künstlerheld feiern zu lassen. Wenngleich er in seinem malerischen Œuvre mit einem höchst bild- und medienkritischen Konzept arbeitet und obwohl sich seit spätestens den 1960er Jahren ein anderes Verhaltensmuster in der Öffentlichkeit etabliert hat,6 entschied er sich dafür, traditionelle Lesarten zur Künstleridentität nicht in Frage zu stellen. Künstlerinnen und Künstler, die hingegen ein subversives Spiel mit dem Heldenimage betreiben, laufen Gefahr, dass ihre Identitätsentwürfe aus identifizierbaren Rastern fallen. Inzwischen hat sich daher eine ganze Menagerie von Künstlerfiguren etabliert, die mehr oder weniger geeignet zu sein scheinen, ‚Künstler’ zu diskursivieren.7 Wie sich zeigt, muss ein alternatives Narrativ passfähig genug sein, um das Klischee wiedererkennen zu können. Um als Alternative tragfähig zu sein, muss das neue Narrativ zugleich aber auch eine gewisse Sperrigkeit aufweisen, Rätsel aufgeben und so Interesse wecken. Ein neues Narrativ benötigt also als Rahmung Anschlussfähigkeit an bestehende Erzählungen oder Funktionalisierungen. Es muss darüber hinaus zugleich eine Widerspenstigkeit aufweisen, die das Potential hat, in Subversion umschlagen und dadurch geläufige Images wenn nicht unterlaufen, so zumindest doch irritieren zu können. Mit diesem Handlungsrahmen im Kopf und der Funktionalisierung des Künstlerhelden im Hinterkopf möchte ich den Blick auf die Selbstdarstellungspraktiken von Cosima von Bonin (Abb. 2) werfen, von der es heißt, dass sie nicht zu fassen sei und wie ein Geist durch den Kunstbetrieb

5

Vgl. hierzu die These von Bätschmann 1997.

6

Vgl. hierzu äußerst materialreich Bismarck 2010.

7

Einen guten Einblick in die Debatte zu entsprechenden Rollenspielen gibt neben Fastert/Joachimides/Krieger 2011; Michalka 2006.

224 | COSIMA VON BONIN: PARTNERSCHAFTLICHE IMAGEBILDUNG

schwebe.8 Ihre bildkünstlerischen Themen von Faulheit, Müßiggang und Spaß mit den Freunden scheinen wie die passende Loungekultur zu den neoliberalen Verwertungstendenzen von Kreativität daherzukommen.9

Abb. 2: Cosima von Bonin, „The Fatigue Empire“, Installation View, Kunsthaus Bregenz, Bregenz 2010 Die Konsumversprechen von Wellness statt Burnout werden allerdings mit einem Künstlerinnenprofil gekoppelt, das in keine der aktuellen Schubladen so richtig passen will. Interessant ist das vor allem, weil Bonin vom Bild ausgehend argumentiert und sich dadurch eine Deutungshoheit über die eigene Person behält, die alle diejenigen, die ihre Biographie durch das Muster der Künstlerbiographik überformen (lassen), letztlich aufgeben müssen: Die Künstlerbiographik ist ein textbasiertes Narrativ, das mit den Ausdrucksmitteln des Wortes arbeitet. Zwangsläufig müssen sich Bildkünstler, wenn sie auf diesen Erzählmodus eingehen, sich dessen Strukturen anpassen und da-

8

Welchman 2010, 97.

9

Vgl. hierzu den sonst wenig ergiebigen Aufsatz Graw 2011 (2007), 347.

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bei ihr genuin eigenes Terrain, das Bild und dessen Argumentationsmöglichkeiten, verlassen.10 Wer mit dem Bild arbeitet, nutzt hingegen den Modus des Zeigens – etwa mittels Ausstellungen, in deren Kunsträume die Öffentlichkeit geladen wird – und ist sich bewusst, dass sein Medium immer polysemantisch funktioniert.11 Negativ betrachtet bedeutet dies einen Verlust von Eindeutigkeit, positiv den Gewinn von „Assoziationsfallen“12, die mit dem Zeigen zugleich die Kritik vielfältig anderer Felder integrieren können. Ein zentrales Thema der Selbstdarstellung von Bonin ist, dass Kunst immer durch einen dichten Kontext von direkten und indirekten Bezügen entsteht, in dem sich eine Künstlerin oder ein Künstler bewegt. Dem Bild vom Einzelnen setzt sie den demonstrativen Verweis auf Teamwork und Teamfähigkeit entgegen. In ihren Ausstellungen arbeitet sie daher mit einem komplexen System von Paraphrasen und Zitaten und stellt anderen Künstlerinnen und Künstlern, lebenden wie verstorbenen, Ausstellungsfläche zur Verfügung.13 Cosima von Bonin, so hat es den Anschein, sind viele.14 Dies scheint im Einklang mit dem oben erwähnten Anforderungsprofil ökonomischer Notwendigkeit zu sein, wie es aktuell in Hinblick auf die Bedeutung von Kreativität verhandelt wird, wäre da nicht der satirische Unterton, mit dem Bonin dies in Anschlag bringt.15 Ihre Selbstdarstellung, so die These,

10

Das heißt nicht, dass Cosima von Bonin ohne Worte arbeitet. Im Gegenteil! Das Spiel mit Worten hat in ihrem Werk einen großen, aber eben nachgeordneten Stellenwert. Vgl. hierzu Diederichsen 2007, 40-41 und Welchman 2010, 108.

11

Schon vor der Moderne entwickelten Bildkünstler, wie Karin Gludovatz zeigt, Techniken, sich der Überformung durch sprachliche Narrative zu entziehen, indem sie bildspezifische Ausdrucksmöglichkeiten nutzten. Vgl. Gludovatz 2011. Von Gludovatz übernehme ich weiter unten auch die Formulierung des „Fährten Legens“.

12

Eggerer 1998, 72.

13

Vgl. die Auflistung bei Welchman 2010, 100-105.

14

Cosima von Bonin adaptierte den aus dem Markusevangelium entnommenen Satz der Occupy-Bewegung als Untertitel für die letzte Station ihrer Wanderausstellung Cosima von Bonin’s Cut! Cut! Cut! for Museum Ludwig’s Sloth Section, Loop # 4 of the Lazy Susan Series. A Rotating Exhibition 2010-2012, die in Rotterdam, Bristol, Genf und zuletzt in ihrer Heimatstadt Köln gezeigt wurde.

15

Lange, im Erscheinen. Vgl. auch Arntzen 2003.

226 | COSIMA VON BONIN: PARTNERSCHAFTLICHE IMAGEBILDUNG

kritisiert nicht nur das Konzept des Künstlerhelden, es ist auch eine Kritik an der Vereinnahmung von Kunst für kunstfremde Interessen, die sie durch ein Überstrapazieren entsprechender Referenzen zum Ausdruck bringt.16

F ÄHRTEN

LEGEN ,

H AKEN SCHLAGEN

Das Œuvre von Cosima von Bonin, mit dem sie mit uns über ihr Leben als Künstlerin kommuniziert, ist voller biographischer Bezüge. Es scheint so auf den ersten Blick einer Kernaussage der Künstlerbiographik zu folgen, wonach das Leben im Werk aufgeht und umgekehrt. Wer sich auf eine entsprechende Lesart einlässt, läuft jedoch bald ins Leere. Cosima von Bonin spielt mit uns ein Spiel, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Marcel Duchamp eingeführt wurde. Man könnte es ‚Ich zeige Dir was, was Du nicht siehst’, oder auch ‚Du siehst etwas, von dem Du nur denkst, es sei das, was Du siehst. Tatsächlich meine ich etwas anderes’ nennen. Duchamp verwendete hierzu maschinell gefertigte Objekte, die wie ein Flaschentrockner oder ein Urinal mehr oder weniger jedermann und jederfrau aus dem Alltag geläufig waren. Er veränderte sie geringfügig, indem er etwa das Urinal in die Horizontale legte, und bedachte sie mit einem sprachspielerischen Titel, etwa Fontaine (1917) für das Urinal. Er thematisierte, dass die visuelle Wahrnehmung der Menschen zu Täuschungen führen kann, wenn er z.B. einen Vogelkäfig mit einem Thermometer, einem für die Haltung von exotischen Vögeln typischen Stück Tintenfischknochen und kleinen Marmorbröckchen füllte, die wie Zuckerstückchen aussehen, und das Objekt Why Not Sneeze, Rrose Selavy?17 (1921) titulierte. Durch die visuelle Wahrnehmung tappten die Rezipienten in eine Falle, die Duchamp die Grundlage für die mittels Sprachwitz vollzogene sinnverschiebende Neusetzungen abgab. Er eröffnete so eine kunsthafte Ebene von Bedeutungen, für die er die alleinige Definitionsmacht hatte und diese qua gesellschaftlicher Konvention als Künstler auch einfordern konnte. Es handelt sich also um ein Spiel, bei dem zwar die Regeln allgemein festgelegt sind – es sind die Regeln des Kunstbetriebs –, der Künstler oder die

16

Vgl. zu dieser Beobachtung vor allem Eggerer 1998 und Welchman 2010, die auf instruktive Weise Bonins Argumentationsstrategie erklären.

17

Marcel Duchamp benutzte den Namen „Rrose Selavy“, das Homophon von „éros, c’est la vie“, zur Kennzeichnung seines Alter Egos.

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Künstlerin jedoch durch den alleinigen Zugriff auf die Bedeutungen setzende Ebene bestimmen kann, welche Richtung die mit der Neucodierung verbundene Dynamik einschlagen soll.18 Genau dieses Spiel spielt Cosima von Bonin. Sie nutzt ihre Definitionsmacht, um ihren Ort im Kunstbetrieb zu thematisieren. Wie Ann Goldstein anlässlich der Ausstellung Roger And Out im Museum of Contemporary Art (MOCA) in Los Angeles 2007 konstatierte: For over fifteen years, Cosima von Bonin has produced a body of work that makes a provocative and elusive statement about artistic identity and sovereignity. Her work addresses the structures and power of social relations and art-historical lineages, starting with her own. Considering her position – as an artist, a woman, and a member of a community among a coterie of friends, a family, and a cultural milieu – she revises and plays with these shifting and often contradictory roles.19

Wie mit einem Füllhorn versorgt uns die 1962 geborene Künstlerin in ihren inzwischen meist viele Quadratmeter bespielenden Ausstellungen (Abb. 3) über Objektreferenzen freigiebig mit Informationen. Verankert in der Kölner Künstlerszene, wo Bonin in den 1980er Jahren ihren späteren Ehemann, den Künstler Michael Krebber im Atelier von Martin Kippenberger kennenlernte, hat sie dort 1990 bei Christian Nagel ihre erste Einzelausstellung, 1991 nutzt sie ihre Schau in der Andrea Rosen Gallery in New York, um Werke bzw. Beiträge von Martin Kippenberger, Jutta Koether, Diedrich Diedrichsen, Isabelle Graw und Mayo Thompson gemeinsam mit dem Video Die fröhliche Wallfahrt (1991) zu zeigen, in dem neben ihrem damaligen Kölner Galeristen Christian Nagel Michael Clegg, Christian Philipp Müller, Josef Zehrer und Michael Krebber auftreten, allesamt wie Bonin von Nagel vertreten.20 Sie betont damit ihre Nähe zur im gleichen Jahr in Köln gegründeten Zeitschrift Texte zur Kunst, deren Mitherausgeberin Isabelle Graw ist, wie ihre Sympathien für eine Kunstpraxis, die Peter Weibel in diesen Jahren

18

Vgl. Bismarck 2010.

19

Goldstein 2007, 13.

20

Vgl. Diederichsen 2007, 44 sowie Dziewor 2007, 332.

228 | COSIMA VON BONIN: PARTNERSCHAFTLICHE IMAGEBILDUNG

als „Kontext Kunst“ bezeichnet.21 Von nun an wird die Künstlerin ein System sich kreuzender Fährten auslegen, „considering her own membership in this art-world community, which she valued (and from which she received support), but not without ambivalence.“22

Abb. 3: Cosima von Bonin, „Roger & Out“, Installation View, Museum of Contemporary Art, Los Angeles 2007 Es sind diese Ambivalenzen, die dem Spiel eine außerordentliche Spannung unterlegen. Sie verwirren, bewegt man sich doch wie in einem nie enden

21

Vgl. Weibel 1994. Die Publikation begleitete die von Weibel kuratierte Ausstellung des Steirischen Herbst, in der Neuen Galerie im Landesmuseum Joanneum in Graz. Cosima von Bonin gehörte zu den ausstellenden Künstler/innen und wurde im Katalog mit einem Text von Isabelle Graw über Weiblichkeit vorgestellt, der 1991 im ersten Jahrgang der Zeitschrift Texte zur Kunst erschienen war. Graw interpretiert hier Bonins Praxis, personelle Verbindungen aufzuzeigen, als einen Reflex auf Zuschreibungen an Weiblichkeit, die Frauen die Verantwortung für die Pflege von Sozialkontakten zuerkennt. Vgl. Graw 1994 (1991), 310-311.

22

Dziewor 2007, 333.

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wollenden Gang mit vielen Seitenwegen, bei dem sich eine Spiegeltür nach der nächsten öffnet. Thomas Eggerer erkennt darin das Prinzip, bei allen Referenzen auf den Kontext die eigene Identität manifestieren zu wollen.23 Er verweist damit auf ein entscheidendes Prinzip von Bonins Selbstdarstellungspraxis, das auf der von Duchamp etablierten Ästhetik aufbaut: Nicht das Objekt, sondern die Prozesse, die zum Objekt führen – ‚the making of’ – , sind das eigentliche Thema. Ihre Werke schildern uns die Einflüsse und Entscheidungsprozesse, die zu ihrer Form führten. Dabei ergeben sich diese Formen – wie Diedrich Diederichsen bemerkte – weniger aus handwerklichen Ausführungen als aus Zusammenstellungen von bereits Fabriziertem. „Es scheint also [...] nicht um Gestaltung und Bearbeitung zu gehen, sondern um Setzung.“24 Um dabei nicht in einer Sozialgeschichte stecken zu bleiben, bedarf es deren Ästhetisierung, für die Bonin ein künstliches/künstlerisches Netz von Sozialbeziehungen knüpft, das sie bildhaft vorstellt. Sie entwirft dazu eine Art Genealogie ihrer Bezugspersonen und thematisiert diese in Ausstellungen mit entsprechenden Titeln, etwa The Cousins (Braunschweiger Kunstverein) und Bruder Poul sticht in See (Kunstverein Hamburg), beide 2001. Wer allerdings meint, hier oder in anderen Zusammenhängen Bezüge in Form von Vorbild-Übernahme vorgestellt zu bekommen, wird enttäuscht. John Welchman konstatiert: Die erwähnte Zurückhaltung von Bonins beruht auf einer gewissen ikonographischen Undurchsichtigkeit, die mit einem häufig expliziten Misstrauen gegenüber kunsthistorischer Recherche und ihren Methoden gepaart ist. Zuweilen drückt sich dies im Sinne einer allgemeinen Undurchlässigkeit gegenüber den Besonderheiten intertextueller Bezüge aus, die in einer ironischen Verknüpfung mit einem auf den ersten Blick eklektizistischen und wahllosen Sampling populärer und musikalischer Kulturen vorgebracht wird.25

Das umschreibt charmant die intellektuelle Hilflosigkeit, die sich vor den Objekten einstellt. Was will man sagen etwa angesichts von pilzartigen Skulpturen aus Holz und Schaumstoff, die mit Stoff überzogen sind und die

23

Eggerer 1998, 76.

24

Diederichsen 2007, 38.

25

Welchman 2010, 106.

230 | COSIMA VON BONIN: PARTNERSCHAFTLICHE IMAGEBILDUNG

Frank Auerbach (2000), Der Senator (2000), Gertrude Jekyll (2000), Paul (2000), Susi (2000), Hans Eichel (2000), Richerzhagen (2000), Robbing Peter to Pay Paul (2001), aber auch Therapie # 43 (2002), Therapie # 44 (2002), Therapie # 45 (2002) und so fort heißen und deren ‚Geschwister’ als orange- und graufarbiges Ensemble mit dem Namen Bruder Poul sticht in See (2001) der gleichnamigen Ausstellung im Kunstverein Hamburg den Titel gaben? Zu diesem Zeitpunkt hatte Cosima von Bonin bereits ihre Verehrung für den damals im internationalen Kunstbetrieb nur wenig bekannten Poul Gernes bekundet, einen Dänen, der mit seinem Engagement für die als Alternative zur konservativen Kopenhagener Akademie gegründete Eksperimenterende Kunstskole (Eks-Skolen) in den 1960er und 1970er Jahren für Beachtung sorgte.26 Gernes entwickelte aufbauend auf starkfarbigen Kreisen eine minimalistische Bildsprache, die an die Farbexperimente von Michail Matjuschin und Wassily Kandinsky erinnert, mit denen diese um 1920 nach ästhetischen Notationen für Klang- und Bewegungsräume suchten. Gernes nahm die dabei entstandenen Erscheinungsformen auf und malte zahlreiche Wände in öffentlichen Gebäuden in Dänemark mit seinen Kreisen aus. Auch Bonins Hamburger Ausstellung von 2001 zeigte eine ‚Gernes Wand’. Aber ist mit „Bruder Poul“ tatsächlich Gernes gemeint, oder sind es vielmehr die visuellen Vorstellungen und Konzepte, die sich über seine Art zu malen abrufen lassen? Wie sind, um ein weiteres Beispiel anzuführen, die sog. Soft Fences zu verstehen, die mal diesen Titel tragen, als Raumensemble zusammengestellt aber Merlin Carpenter, Diedrich Diederichsen, Karola Grässlin, Isabelle Graw, Rosemarie Henschke, Carina Herring, Thomas Müller, Josephine Pryde, Josef Strau, Bernd Witzgall (2000) heißen und als zaunartige Gebilde aus Holz und Schaumstoff mit Laura-Asley-Stoffen sich noch weniger mit Personen in Verbindung bringen lassen als die Pilzobjekte? Die Namen verweisen auf Künstler, Kritiker und Ausstellungsmacher, die sich mit Konzepten einer selbstreflexiven Kunst zusammenbringen lassen. Ihre Nennung lässt angesichts des objekthaften Erscheinungsbildes zwar schmunzeln, eine Erklärung stellt das jedoch nicht dar. Die, wie Künstlerkollege Thomas Eg-

26

Das Engagement von Cosima von Bonin für Poul Gernes (1925-1996) führte dazu, dass dessen Werke auf der documenta 12 2007, zu der sie auch eingeladen war, ausführlich vorgestellt wurden.

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gerer konstatiert „extrem sinnliche, aber deswegen nicht weniger komplizierte Bildsprache“27 vergleicht John Welchman mit freien Radikalen, die in einem „ästhetischen Aquarium“ nur darauf warten, „instabile Verbindungen mit den sich wandelnden Wertigkeiten von Objekten, Performances und Fotografien einzugehen.“28 Treffender kann man wohl kaum die Paarung von Aussage und Metaphorisierung mit deren häufig gleichzeitig erfolgenden Parodisierung beschreiben. Cosima von Bonin legt gut sichtbare Fährten, um dann mittels ihrer Bildsprache Haken zu schlagen, die einen an der Abbruchkante stehen lassen.

M IT S PECK

FÄNGT MAN

M ÄUSE

Seit 2000 kooperiert Cosima von Bonin mit dem Musiker und Kunstkritiker Dirk von Lowtzow, der als Sänger und Gitarrist Mitglied bei den Bands Tocotronic und Phantom Ghost ist. Sie entwirft für Tocotronic Plattencover und spielt deren Musik in ihren Ausstellungen, im Gegenzug verfasst Dirk von Lowtzow für Cosima von Bonin Pressetexte und Aufsätze über die Künstlerin. Auf diese Weise trägt er in den letzten zwölf Jahren in nicht unerheblichem Maße zum öffentlichen Bild der Künstlerin bei, sowohl durch die Tatsache, dass Bonin sich nun über einen Vertrauten mitteilt, als auch durch die Mitteilungen selbst.29 Von ihm stammen Aussagen wie: Bei Cosima von Bonin gibt es nichts zu verstehen und schon gar nichts zu lernen. Die viel beschworene (und oft kritisierte) Hermetik ihrer Arbeiten wäre demnach nur ein Problem, wenn es überhaupt eine Lösung gäbe. Es gibt aber keine Lösung, denn es gibt auch keine Aufgabe und eine solche anzubieten, wäre innerhalb der Boninschen Setzung (oder besser Legung) wiederum eine „Belästigung“. Ihre Kunst ist nicht nur gegen die Interpretation gerichtet, sie befindet sich schon jenseits der Interpretation. Sie befindet sich auch jenseits der Aneignung. Sie ist vielmehr die Einverleibung mit Stumpf und Stil, und als solche die selbstverständlichste aller Gesten.30

27

Eggerer 1998, 76.

28

Welchman 2010, 107.

29

Vgl. hierzu auch Welchman 2010, 97-99.

30

Lowtzow 2007, 30. Hervorhebung im Original mit Bezug auf die Aussage von Cosima von Bonin, ihre Kunst belästige nicht.

232 | COSIMA VON BONIN: PARTNERSCHAFTLICHE IMAGEBILDUNG

Was beim ersten Lesen wie ein Totalrückzug auf die reine Oberfläche erscheinen mag, erweist sich bei genauerem Hinsehen als ausgefuchster Verweis auf den bekannten Essay von Susan Sontag Against Interpretation, mit dem die Autorin 1966 nach dem linguistic turn ein leidenschaftliches Plädoyer für die Entdeckung von Sinnlichkeit in der Kunst verfasst hatte.31 Auf genau diese Aufwertung der Sinnlichkeit zielen auch die Arbeiten von Cosima von Bonin, die sich einer logischen Lektüre verweigern.32 Dass es dabei nicht um die Sinnlichkeit im Allgemeinen geht, sondern deren Erleben in Bezug auf eine sehr konkrete Gegenwartssituation gemeint ist, lässt sich aus einer weiteren Anspielung von Lowtzows schließen: Sein Aufsatz, aus dem das Zitat stammt, trägt in Anspielung auf die Flauschtiere, die seit einer Weile im Werk von Bonin vorkommen und die er zu Beginn seines Textes thematisiert, den Titel „In Flauschgewittern“. Dies ist als Verweis auf den Szeneroman von Wolfgang Herrndorf In Plüschgewittern (2002) zu verstehen, der die Alltagsprobleme eines in den wirtschaftlich recht sorgenfreien 1970er und 1980er Jahren der alten Bundesrepublik aufgewachsenen Mannes um die 30 schildert, der in einer von Markenbewusstsein, politischer Behäbigkeit und der Kulturdominanz eines saturierten Mittelstandes geprägten Kultur groß geworden ist.33 Mit diesem Kontext lässt Bonin ihren Werkkosmos textlich umfangen, ohne dass dies explizit benannt wird. Vielmehr entsteht eine Konstruktion, die weder Modell noch Gegenmodell ist, sondern zwischen beiden oszilliert. Der oben zitierte Vergleich mit dem Geist, der wiederholt bei Bonin angestellt wird und mit dem die Künstlerin selbst auch spielt34, hat hier seine Grundlage.

31 32

Vgl. Sontag 1966. Vgl. Diederichsen 2007. Was der Autor auf die ersten zehn Jahre des Werkes bezieht, bleibt auch darüber hinaus konstitutiver Bestandteil.

33

Im Sprachgebrauch hat sich dafür mit Referenz auf das gleichnamige Buch von Florian Illies aus dem Jahr 2000 der Begriff „Generation Golf“ eingebürgert.

34

Vgl. ihre Ausstellungen Relax. It’s Only a Ghost 2006 in der Friedrich Petzel Gallery in New York und deren Remake anlässlich der documenta 12 2007 in Kassel.

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Abb. 4: Cosima von Bonin, „Roger & Out“, Installation View, Museum of Contemporary Art, Los Angeles 2007 Mit dieser Konstruktion – weiter oben sprach ich von der Ebene des künstlerischen Spiels – schafft sich Bonin den notwendigen Freiraum für ihre ästhetischen Argumentationen, die genauso konkret und diffus zugleich aufgebaut sind, wie das Erklärungsmodell zu ihrer Kunst und ihrer Person. Am Beispiel ihrer Stoffgemälde (Abb. 4), die weniger komplex als viele ihrer Objektensembles sind, lässt sich instruktiv zeigen, wie sie mittels des Bildes argumentiert: Mit dem textilen Medium wählt sie zum einen eine Technik, die in der Moderne lange Zeit mit sogenannter Frauenkunst in Verbindung gebracht wurde. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts hatte sich die Vorstellung etabliert, dass das nun als minderwertig eingestufte ‚needlework’ die eigentliche Domäne von Künstlerinnen sei. In der feministischen Kunstgeschichte der 1970er und frühen 1980er Jahre spielte daher die Auseinandersetzung mit diesem Stereotyp, das mit der Konstruktion einer Stereotype von Weiblichkeit einhergeht, eine maßgebliche Rolle.35 Während Kunsthistorikerinnen darauf zielten, dieses Klischee zu widerlegen, arbeiteten Künstlerinnen

35

Vgl. Parker 1984.

234 | COSIMA VON BONIN: PARTNERSCHAFTLICHE IMAGEBILDUNG

in diesen Jahrzehnten demonstrativ mit textilen Materialien, um die patriarchalen Strukturen der Disziplin Kunstgeschichte und ihre eigene Rolle als Künstlerin zu diskursivieren. Als eine international prominente Protagonistin etablierte sich in diesem Zusammenhang Rosemarie Trockel,36 deren Bekanntheitsgrad so groß ist, dass man bei der Verwendung von textilen Materialien im Kontext der Kölner Kunstszene der Gegenwart, wie im Falle der Arbeiten von Bonin, sofort an Trockels Œuvre denkt. Um nicht im Schatten des von ihr geschätzten Vorbildes zu bleiben, begibt sich Bonin in deren Windschatten. Einerseits thematisiert sie mit ihrer Materialwahl und der konzeptionellen Übernahme des Bildwitzes ihre Abhängigkeit und erweist so Trockel eine Referenz. Andererseits positioniert sie sich völlig anders. Während in den Textilarbeiten von Rosemarie Trockel die Geschlechterdiskriminierung explizit ein Thema ist, ist sie bei der jüngeren Bonin nur noch eine Reminiszenz. Wenn man heute wie selbstverständlich registriert, dass eine Künstlerin wie Cosima von Bonin im Kunsthaus Bregenz ein ganzes Ausstellungshaus über drei Etagen bespielen kann,37 vergisst man leicht, dass noch vor 20 Jahren die Präsenz von Frauen im Kunstbetrieb eine ganz andere war.38 Dennoch kann Cosima von Bonin einigermaßen entspannt auf dem Weg flanieren, den ihr Trockel zuvor freigeschaufelt hat – und zeigt dies auch bildlich: In ihren patchworkartig vernähten Stoffbildern kombiniert Cosima von Bonin verschiedene maschinell gewebte Muster. Allerdings sehen wir neben einfachen Geschirrhandtüchern, wie sie in jedem Haushalt vorkommen, auch Karos der englischen Luxusmarken Burberry oder Laura Ashley. Ein an Rosemarie Trockels Bildersprache geschultes Publikum wird in den Geschirrhandtuchmustern Verweise auf das Hausfrauendasein lesen können und wollen, eine Zugangsmöglichkeit, mit

36

Vgl. Engelbach 2006.

37

Vgl. Dziewor 2010.

38

Vgl. Graw 2003a. Die Autorin bezieht die Strategien von Cosima von Bonin, sich Präsenz zu verschaffen, in ihre Analyse der Künstlerinnenrolle bis zu den Ausstellungen von 2001 (Bruder Poul sticht in See) mit ein, bleibt dabei aber ihrer bereits Anfang der 1990er Jahre entwickelten und bereits oben erwähnten These verhaftet, wonach das Netzwerkeln eine typische Tätigkeit von Frauen ist. Vgl. auch die Rezension zu der Buchhandelsausgabe Graw 2003b von Krause-Wahl 2004, die weitere Perspektiven auf das Thema eröffnet.

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der Bonin zweifelsohne bewusst kalkuliert. Diese Lektüreposition wird jedoch dadurch irritiert, dass die Haushaltsstoffe mit Mustern von Edelkonsumtextilien kombiniert werden, die im Alltag als Distinktionsmerkmale fungieren. Nicht nur die unterschiedlichen Argumentationsweisen, auch die verschiedenartigen Zielsetzungen der beiden Künstlerinnen werden hier fassbar: Mit Burberry-Karos und Laura Ashley-Mustern zitiert Bonin ein erfolgreiches Lifestylekonzept ihrer Generation, das jeder Ausstellungsbesucher aufgrund der vielfältigen Präsenz im Alltag irgendwie erkennt und irgendwie zuordnen kann.39 Indem sie diese Referenz mit dem Verweis auf das Werk der für sie vorbildhaften Trockel gestalterisch im wahrsten Wortsinne auf eine Ebene bringt, ist man vor dem Hintergrund der Interpretationen zu Rosemarie Trockels Werken zunächst geneigt, auch bei Cosima von Bonin die Alltäglichkeit der Markenwelt genauso wie die Geschirrhandtuchkaros als kritischen Gestus interpretieren zu wollen. Doch die Sprecherinnenrolle einer konsumkritischen Feministin wird nicht von der Künstlerin, sondern allenfalls von den Rezipienten eingenommen, die durch das bildliche Angebot von ihr auf diese Idee gebracht wurden. Wie wir dies aus der Praxis der Surrealisten kennen, liefert Cosima von Bonin bildliche Eindrücke, deren deskriptive Versprachlichungen Erkenntnispotential haben (vgl. hierzu auch etwa Abb. 8). Die markenbewusste Konsumkultur ist nur eines der kulturellen Settings, auf die Bonin verweist. Queer Culture, Leben in virtuellen Welten, Arbeitsalltag etc. sind andere. Es sind keine beliebigen Kontexte, vielmehr beschreibt Bonin durch die Auswahl ihrer Materialien und Themen Facetten der sozialen Gemeinschaft, die sich aus einer bürgerlichen Gesellschaft entwickelt hat und deren Angehörige heute das Profil vieler westlicher Demokratien maßgeblich mitbestimmen: Menschen, die gelernt haben, kulturellen Phänomenen mit wachen Augen und Ohren zu begegnen und diese zu beeinflussen wie auch zu genießen wissen, die sich sprachlich ausdrücken und Eigenarten in dialektalen Besonderheiten finden können. Personen, die sich vom Alltag distanzieren, ohne ihm zu entfliehen. Von daher können die meisten Ausstellungsbesucher, die sich aus dieser sozialen Klientel rekrutieren, die Referenzen im Werk von Cosima von Bonin auf Grund der Gegenwärtigkeit in ihrem Alltag erkennen, ohne dass

39

Vgl. Graw 2011 (2007), 350.

236 | COSIMA VON BONIN: PARTNERSCHAFTLICHE IMAGEBILDUNG

man sich selbst unbedingt in den sozialen Räumen bewegen muss, auf die verwiesen wird. Cosima von Bonin ist nicht nur eine wache Zeitzeugin, die weiß, was den Alltag von Menschen ihrer Umgebung heute füllen kann. Diesen Alltag organisiert sie so, dass er ohne großes Vorverständnis Kunst wird: Es geht aber ganz leicht erkennbar nicht darum, irgendetwas normalerweise Sprödes und daher Kunstfernes zu nobilitieren, sondern es geht darum, dass bestimmte spröde, schwache und weiche Materialien mit einer Poesie verbunden sind – also eine Sprache schon haben, eben gerade nicht verwandelt und bearbeitet werden müssen.40

Im Kontext von Gleichgesinnten hat Bonin die Aufgabe einer maîtresse des plaisirs, die in ihren Ausstellungen neben der Präsentation ihrer Werke etwa auch die Vorführung von Musik, von Filmklassikern und aktuellen Science Fiction-Produktionen organisiert. ‚Alltäglichkeit’ erweist sich dabei als eine zentrale Kategorie des Darstellungskonzeptes, mit dem sich auch die Selbstinszenierung der Künstlerin eindeutig vom Starkult im Kunstbetrieb absetzt.41 Cosima von Bonin gibt sich als eine typische Repräsentantin ihrer Generation, die eben Künstlerin geworden ist, eine Künstlerin, die bestimmte Musik aus den Charts mag und wie viele andere Menschen über Sprachwitz lachen kann. Die bildhafte Erzählung ihrer Biographie transportiert diese Codes und ist so strikt indexikalisch strukturiert. Als Konsequenz dieser Form von Selbstdarstellung meint man, diese Frau zu kennen und über ihr Leben irgendwie mitreden zu können, weil einem die Zeichen dieser Narration gegenwärtig sind.

40 41

Diederichsen 2007, 41. Diese Orientierung an Alltäglichkeit ist offenbar eine gemeinsame Basis der Zusammenarbeit mit Künstlerkollegen. Am 6.4.2011 war auf Arte in der Reihe Durch die Nacht mit ... eine Sendung mit Dirk von Lowtzow und dem Theaterregisseur René Pollesch zu sehen, der gleichfalls zum Kreis derjenigen gehört, die Cosima von Bonin zur Partizipation an ihren Ausstellungen einlädt. Die Tour der zwei durch das nächtliche Berlin begann in einer Hinterhofwohnung, in der Lowtzow Pollesch erwartete. Jener war erstaunt, dass das wohnliche Ambiente Tocotronic als Tonstudio dient, was Lowtzow sinngemäß kommentierte: Je alltäglicher die Situation sei, umso spontaner ließe sich Musik machen.

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F ÄDEN VERWEBEN , ... Auch wenn Cosima von Bonin sich weder als Künstlerheldin noch als Ausnahmefrau feiern lässt, wenn sie die Einflussfaktoren ihrer Kunst offenlegt und ihre Ausstellungsräume anderen zur Verfügung stellt, präsentiert sie sich trotzdem als einzigartige und unverwechselbare Künstlerinnenpersönlichkeit. Cosima von Bonin gehört zu einer Generation von Künstlerinnen und Künstlern, die anders als der eingangs erwähnte Gerhard Richter und dessen Zeitgenossen von vorneherein mit einer Skepsis gegenüber dem Kunstbetrieb groß geworden ist. Nicht nur das kunstpolitische Aufbegehren gegen die Praktiken des Kunstmarktes, die Gründung und Stärkung von Produzentengalerien, die Notwendigkeit, sich als Künstlerin vernetzen zu müssen und theoriebewusst zum eigenen Werk äußern zu können, sind ihr aus der rheinischen Kunstszene vertraut. Ihre reflektierte Ausstellungspraxis, die die Geschichte des Ausstellungswesens kommentiert, zeigt auch, dass Bonin ihre institutionskritische Ästhetik an einem Vorbild wie Marcel Broodthaers orientiert, der im kulturellen Bewusstsein des Rheinlandes seine Spuren hinterlassen hat.42 Wenn Bonin sich in das Umfeld der Zeitschrift Texte zur Kunst begibt, wenn sie in für ihre kritischen Einwürfe bekannten Kunstvereinen ausstellt, positioniert sie sich als eine Künstlerin, die nicht nur die Bedingungen des Kunstmachens reflektiert, sondern diese von der ersten Einzelausstellung 1990 an auch öffentlich diskursiviert. Cosima von Bonin ist eine Künstlerin, die nicht nur Netzwerke knüpft. Sie ist jemand, die die sozialen Konditionen dieser Verbindungen bespiegelt und sich damit als Künstlerin in der Gesellschaft positioniert. Schon Rosemarie Trockel hatte die Bedeutung, die Sozialbeziehungen im Kunstbetrieb gerade für Künstlerinnen haben, thematisiert und in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit des gemeinschaftlichen Arbeitens ästhetisch aufgegriffen.43 Bei ihren Kooperationen behält sie sich allerdings immer eine Autorschaft vor, die die Künstlerin im Sinne einer Erfinderin zeigt, während das Team teilweise ungenannt bleibt.44 Anders Cosima von Bonin.

42

Vgl. Diederichsen 2007, 42-45. Zu Broodthaers Auseinandersetzung mit dem Museum als Identität schaffender Institution vgl. König 2012.

43

Vgl. Engelbach (Hg.) 2006.

44

Vgl. Graw 2003a, 174.

238 | COSIMA VON BONIN: PARTNERSCHAFTLICHE IMAGEBILDUNG

Sie verwendet ein Autorkonzept, bei dem nicht nur die jeweils Beteiligten öffentlich gemacht werden. Wenn sie ihr soziales und mentales Gespinst aus in guter Surrealistenmanier lebenden und verstorbenen Personen zum Thema ihrer Präsenz im Kunstbetrieb macht, gibt sie sich als eine unter Vielen, als Gastgeberin für ihre Freunde und die Kunstgeschichte. Vor allem in den 1990er Jahren sind dadurch ihre Ausstellungen derart institutionskritisch überdeterminiert, dass sich in der Rezeption die Narration von Namen, Orten und Ereignissen dann doch häufig vor die Materialität der Objekte schiebt. 2001, mit der Ausstellung im Kunstverein Hamburg Bruder Poul sticht in See, veränderte Bonin ihre Zeigepraxis. Statt durch Objektdichte Komplexität zu präsentieren und dadurch quasi andere zu Wort kommen zu lassen, begann sie mit der Atmosphäre des leeren Raumes zu arbeiten, indem sie auf großer Fläche einfach ein glänzend lackiertes Segelboot ausstellte. Isabelle Graw hat dies als Ausdruck einer allgemeinen Akzeptanz interpretiert: Bonin hatte sich zu diesem Zeitpunkt eine Autorität erarbeitet, glaubwürdig keine künstlerische Ausnahmeerscheinung, sondern eine Künstlerin in einem Kontext zu sein, die nun auch die Sprache der Objekte nutzen konnte.45

Abb. 5: Cosima von Bonin, „The Fatigue Empire“, Installation View, Kunsthaus Bregenz, Bregenz 2010

45

Vgl. Engelbach (Hg.) 2006.

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Allerdings ist diese Objektpräsenz, die sich auch in einem Anwachsen der Formate ihrer Werke zeigt,46 nicht die einzige Veränderung. Die Zusammenarbeit mit Musikern – neben Dirk von Lowtzow seit 2009 zudem auch mit Moritz von Oswald –, die sich neben deren Auftritten in einer Integration von Soundinseln dokumentiert (Abb. 5) und Videoecken, in denen auf verschiedenen Monitoren neuerdings Episoden von Mark Schlegells Starlites Abenteuer von Sofas aus verfolgt werden können (Abb. 6), stellt den Besuchern nun Erlebnisräume zur Verfügung, die ein Abtauchen in die Welt der Kunst versprechen. Nicht zuletzt durch Live-Performances – neben MusikEvents, Tanz, Theater, Lesungen, Podiumsdiskussionen – wird in den von Bonin immer mitkuratierten Ausstellungen nun eine Konzentration auf den Ausstellungsraum eingefordert, der die Balance mit dem Kontext neu austariert. War es zunächst dessen Integration, so ist es jetzt die Inklusion.

Abb. 6: Cosima von Bonin, „Cosima von Bonin’s Cut! Cut! Cut! for Museum Ludwig’s Sloth Section, Loop #04 of the Lazy Susan Series, A Rotating Exhibition 2010-2012“, Installation View, Museum Ludwig Köln, 2012

46

Man sollte in diesem Zusammenhang nicht vergessen – dieses Argument steckt auch in den Ausführungen von Graw 2003a – , dass Erfolg im Kunstbetrieb eine Voraussetzung für aufwendigere Produktionen sein kann, die vorher aus Kostengründen nicht haben umgesetzt werden können. Formatdifferenzen und veränderte Zeigepraktiken können also auch ökonomisch begründet sein.

240 | COSIMA VON BONIN: PARTNERSCHAFTLICHE IMAGEBILDUNG

Gegenüber der früheren institutionskritischen Nonchalance definiert sich die Position der Künstlerin daher neu. Sie wird jemand, die sichtbar den Raum gestaltet und diese, in einem ganz antiquierten, konventionellen Sinne gestalterische Arbeit als ihr Kunstwerk präsentiert.47 Nicht copy and paste, sondern zwar nicht hand- aber selfmade. In diesem deutlich als Kunsträume gekennzeichneten Ambiente präsentiert Cosima von Bonin ihr Selbst im Ensemble ihrer Freunde. Durch Anwesenheiten bei Events dokumentieren sie eine real existierende Gemeinschaft, die nach Verlassen des Ausstellungsraumes ihre Spuren hinterlassen hat (vgl. Abb. 9). Obwohl sich diese Praxis von Cosima von Bonin mit zahlreichen Anekdoten, Künstleranekdoten, verbindet, gehen diese dadurch nicht in eine Erzählung von der Künstlerheldin auf. Wenn die Sprache auf sie kommt, ist immer auch von anderen die Rede, ohne dass sich Bonin oder ihr Werk dabei als Epigonentum entlarvt. Im Diskurs zur Künstleridentität signalisiert sie eine große Souveränität, bedeutet das Inkludieren des Kontextes doch auch, diesen aushalten zu können. Nicht sie als einzelnes Individuum, sondern ihre Individualität als das Ergebnis von Traditionen und Sozialbeziehungen sind ihr Thema.

, ... M USTER WEITERENTWICKELN Studiert man die Texte, die in den vergangenen Jahren zu Ausstellungen von Bonin und ihren Repräsentationstechniken geschrieben wurden, so fällt eine wiederkehrende Hilflosigkeit auf. So heißt es etwa bei Isabelle Graw, Mitbegründerin und –herausgeberin von Texte zur Kunst, die von Beginn an die Karriere der Künstlerin wohlwollend kommentierte, 2003 bezüglich der neuen Form von Ausstellungen: „Eine gewisse Verzweiflung ist aber auch ihren letzten Ausstellungen anzumerken – sie wirken gleichermaßen selbstbewusst, wie sie Ratlosigkeit verströmen.“48 Auch Diedrich Diederichsen, der wie Graw zum weiteren Umfeld der Künstlerin gerechnet werden kann, beendet seine Analyse zur Materialsprache von Bonin mit dem Eingeständnis einer Unsicherheit gegenüber ihren jüngeren Präsentationen:

47

Vgl. Graw 2011 (2007) wie auch Diederichsen 2007, 44.

48

Graw 2003a, 86.

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Es handelt sich jeweils um zwei Möglichkeitsbedingungen: ernst sein zu können und darauf zu beharren und endlos und unbeendbar komisch sein zu können; denn die Dinge hören ja nicht auf, lustig und lächerlich zu sein, wenn man es ihnen befiehlt, im Gegenteil. Dass aber diese beiden Modi einander bedingen, heißt noch nicht, dass die beiden oben genannten Stränge schon zusammengefunden hätten. Wir wissen, dass es einen Ernst gibt, der Voraussetzung dafür ist, dass es sich lohnt zu lachen (und umgekehrt), wie und auf was dieser Modus des Ernsten gerichtet ist, wissen wir nur andeutungsweise, auch nicht, ob seine Richtung eine Möglichkeit unter vielen ist oder die einzig mögliche oder die einzig mögliche in dem System dieser Künstlerin. Dies erfahren wir erst in den nächsten zehn Jahren.49

Mit der partiellen Unverständlichkeit wird ein topisches Künstlerbild bemüht, das zum einen die Autorität von Künstlerinnen und Künstlern, die Setzungen in bildsprachlichen Medien vornehmen und so Diskurse organisieren, akzeptiert. Zum anderen konstatiert es ganz simpel das Phänomen der Unverständlichkeit, dem eine Selbstreferentialität eingeschrieben ist. Sie folgt der künstlerisch gesetzten Logik, der man sich annähern kann, wenn man bereit ist, ihrer Erzählung zu folgen. In ihrer Untersuchung über Selbstrepräsentationsstrategien in der Folge der Institutionskritik beschreibt Beatrice von Bismarck das Medium der Retrospektive, in denen Künstlerinnen und Künstler narrative Strukturen zu ihren Werken konstruieren, als eine Archivierungspraxis, die Einblicke in das jeweilige Handlungskonzept erlaubt.50 Ausgehend von der sich in den 1970er Jahren etablierenden Darstellungsstrategie, Archive des Alltäglichen zu konstruieren, folgert sie, dass Werkschauen wie The Purple Penis and the Venus (Installed in the seven stomachs of Nürnberg) As Part of the Creation Myth (Kunsthalle Nürnberg 1998) von Jason Rhoades, The Boat of My Life (Salzburger Kunstverein 1993) von Il’ja Kabakov oder Between and Including (Wiener Secession 1999) von Renée Green autobiographische Setzungen bedeutet haben, mit denen sich die Künstler/in in ein Verhältnis zum traditionellen Künstlerimage brachten. Anders als die Retrospektive, mit der die Nationalgalerie in Berlin und weitere Stationen in London und Paris Gerhard Richter 2012 ehrten und bei der sich der kooperierende Künstler ganz auf

49

Diederichsen 2007, 45.

50

Bismarck 2010, 177-189.

242 | COSIMA VON BONIN: PARTNERSCHAFTLICHE IMAGEBILDUNG

den traditionellen Hängemodus musealer Präsentation eingelassen hatte,51 lag den Ausstellungen von Rhoades, Kabakov und Green ein anderer Modus des Zeigens zugrunde. Die Künstler/innen erzählten ihr Werk in Form einer Installation, d.h in ihrem eigenen Medium der Kunst, also so, wie auch Bonin ihr öffentliches Selbst inszeniert.

Abb. 7: Cosima von Bonin, „The Fatigue Empire“, Installation View, Kunsthaus Bregenz, Bregenz 2010 Bezüglich der Autorenschaft haben wir es mit einer fundamentalen Verschiebung zu tun: Verantworteten bei der Ausstellung zu Richters Geburtstag die Kunsthistoriker/innen in den ausrichtenden Institutionen die Narration, so machten Rhoades, Kabakov und Green diesen Status streitig und präsentierten auf kunsteigene Weise relevante Stationen ihres Œuvres. Bismarck charakterisiert diese Praxis als ambivalent, da die Geste auktorialer Erzählung

51

Vgl. die Videopräsentation auf der offiziellen Website der Nationalgalerie Berlin zu dieser Ausstellung: http://www.smb.museum/smb/kalender/details. php?objID=29733 [2.9.2012].

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nicht zwangsläufig – dies sei auch zur Ehrenrettung von Richter und den Kuratoren der Nationalgalerie eingefügt – ein Abrücken vom traditionellen Image des Künstlerhelden bedeuten muss: Sie verdoppeln das Museum im Museum, übernehmen ohne kritische Distanz die dort vorgefundenen Verfahren der Konsekration und Naturalisierung, entwickeln weniger selbstreflektierende Züge im Umgang mit den eigenen Entscheidungsschritten und Methoden als vielmehr narzisstische.52

Während Renée Green trotz der Selbstbezüglichkeit von Between and Including eine derart „narzisstische“ Engführung auf die Künstlerpersönlichkeit vermied, versuchten Rhoades und Kabakov dies erst gar nicht. Sie ließen trotz einer Fülle von präsentierten Kontexten alle Verweise immer wieder auf den Künstler als schöpferische Figur zurück fallen. Bismarcks Analyse zeigt, dass nicht die Selbstbehauptung an sich, sondern das ‚wie’ der Selbstbehauptung festlegen, ob eine jeweilige Inszenierung überhaupt Verschiebungen etablierter Images zulässt.

Abb. 8: Cosima von Bonin, „The Fatigue Empire“, Installation View, Kunsthaus Bregenz, Bregenz 2010 52

Bismarck 2010, 182.

244 | COSIMA VON BONIN: PARTNERSCHAFTLICHE IMAGEBILDUNG

Die Zitate von Graw und Diederichsen zur Ratlosigkeit im Umgang mit den Werken von Bonin dokumentieren, dass sie trotz ihres großen rhetorischen Aufwandes, Kontext und Gruppenmitgliedschaft zu betonen, auf ihrer Spielebene ein Geflecht von Bezügen eingerichtet hat, dass letztlich in ihrer Person, der Maîtresse dieser plaisirs, zusammenläuft. Um zu entscheiden, ob dies letztlich narzisstisch ist, oder ein neues, auf Bedeutungsdynamik ausgerichtetes Künstlerimage begünstigt, soll abschließend noch ein kurzer Blick auf ihre Retrospektive The Fatigue Empire geworfen werden, die Bonin als „Museum im Museum“ 2010 im Kunsthaus Bregenz einrichtete. Die Künstlerin hatte für diese Schau die gesamte Ausstellungsfläche zur Verfügung gestellt bekommen, die sie in die drei Zonen „Aka The Hippie Empire“ (1. Geschoss), „Aka The Kippyie Empire“ (2. Geschoss) und „Aka The Oswald Empire“ (3. Geschoss) (Abb. 7-9) einteilte. Konnte dieser räumliche Rahmen als eine Chronologie funktionieren – von der Hippie- zur Kippyie (= Martin Kippenberger)- zur Moritz von Oswald-Zeit – so wurden in der Ausstellung (fast) ausschließlich Objekte gezeigt, die 2010 fertig gestellt worden waren. Als Narrationsform hatte Bonin die Version gewählt, bei der Bildkünstler mit ihren Mitteln des Zeigens ihre Geschichte erzählen. Der Modus orientierte sich dabei, der Richter-Schau vergleichbar, an den Konventionen des Museumsbetriebes: eine scheinbar thematisch geordnete Präsentation, die man sukzessive vom „Hippie Empire“ zum „Oswald Empire“ abschritt, die in ihrer Zusammenstellung Bezüge zwischen Exponaten knüpfte und die, so wie im Fall von Richter den Mies van der Rohe-Bau der Neuen Nationalgalerie, das auf eine karge Ästhetik setzende Gehäuse von Peter Zumthor in die Präsentation einbezog. Eine Brechung mit Museumskonventionen fand auf der Ebene der Exponate statt: Bonin präsentiert ihre Werkgeschichte nicht über die Objekte selbst, sondern zeigte mit neugefertigten Werken deren Kommentar aus einer künstlerischen Position der Gegenwart. Etwa so, als hätte – nicht vorstellbar – Gerhard Richter nur Werke von 2012 gezeigt, mit denen er zugleich seine Werkgeschichte malerisch kommentierte. Mit ihrer Praxis verweigerte Bonin ein Abrufen von bekannten Wertungen und die Wiederholung bekannter Geschichten. Stattdessen fordert sie durch das Erleben der neufabrizierten, bis dahin unbesprochenen Exponate die körperliche Gegenwart der Besucher ein, die nun in der Form aktiviert wurden, dass sie Analogien – etwa bei den Stoffgemälden – zu früheren Werkphasen herstellten (vgl. Abb. 4 und 7), bekannte Figurationen in neuen Ensembles registrierten oder über Produkte – wie einen Toyota und dessen

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Kopien in Holz und Plastik (Abb. 8) – an die Lebenswelten der Künstlerin erinnert wurden. Daneben gab es Unverständliches und unmittelbar sinnliches Erleben, das erstmal verarbeitet, besprochen und klassifiziert werden wollte, das aber nicht unbedingt in die Person der Künstlerin mündete. Vielmehr ließen sich diese Objekte – wie etwa The Bonin/Oswald Empire’s Nothing #11 (CVB’s Sufferer’s DUB & MVO’s Kneipp Rabbit Explains the Empires) (2010) (vgl. Abb. 7), wesentlich ein Wasserbecken zum Kneippen - als Angebote deuten, Bezüge zu gesellschaftlich aktuellen Diskursen, wie hier etwa Wellness, herzustellen. Das Unverständliche, Offene, das selbst mit dem Œuvre der Künstlerin bestens vertraute Personen erfahren, resultiert nicht aus dem Schöpfermythos, sondern aus dem Angebot, Kontexte aktualisieren zu können.

Abb. 9: Cosima von Bonin, „The Fatigue Empire“, Installation View, Kunsthaus Bregenz, Bregenz 2010 Hierzu gehört auch der Eventcharakter, den auch diese Ausstellung aufweist: The Fatigue Empire präsentierte nicht nur Filme, Videos und Musik über Soundduschen. Zur Ausstellungseröffnung trat ein Transvestit auf und in der Mitte der Laufzeit veranstaltete das Moritz von Oswald Trio ein Live-Kon-

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zert. Musikstücke des Trios, die auf Werktitel in der Ausstellung Bezug nehmen, waren auf einer CD eingespielt, die gemeinsam mit dem Ausstellungskatalog/Werkkatalog erworben werden konnte. Der performative Charakter dieser Ausstellungsteile forderte in großem Maße die Gegenwart ein, die immer dann zu einer neuen Gegenwart wird, wenn man nun nach Ende der Ausstellung an neuen Orten, in neuen, eigenen Kontexten die CD abspielt. Bonin konstituierte hier mehr als nur ein aktuelles Erlebnis. Nicht das Kneippbecken, auch der Ausstellungstitel The Fatigue Empire und die Bezeichnung des Werkbestandes, der im Katalog mit Das Internationale Wollsekretariat 1989-2010 zusammengefasst wird, lassen deutlich die Referenzen auf die eingangs erwähnten Bezüge zur Wirtschaft erkennen, für die derzeit Kreativität und Künstlerimages eine solche Attraktivität besitzen. Wortspielerisch greift Bonin diese Bezüge auf, um sie nicht zuletzt durch die großdimensionierten Flauschtiere zu konterkarieren, die wie erschlafft im „Aka The Oswald Empire“ über Pseudomöbel hingen (Abb. 5). Der Witz, der sich aus der unmittelbaren Anschauung ergab, wurde so auf eine weitere Ebene transferiert, die allerdings von den Rezipienten nicht angenommen werden musste, um diese Objekte verstehen zu können. The Fatigue Empire zeigte Cosima von Bonin als eine Künstlerin, die in ihrer kunsteigenen Sprache die Wirklichkeit kommentiert, uns einlädt, mitzukommen, dabei aber vielleicht auch nur ein Stück des Weges zu gehen oder ihr zu widersprechen. Das selbstreferentielle Arbeiten mit Verweisstrukturen konstituiert dabei einen Werkzusammenhang, der die Individualität der Künstlerin garantiert und ihr eine Verfügbarkeit über ihr Vokabular sichert. Zugleich macht sie uns durch die Offenheit, ihr Werk ganz unintellektuell genießen zu können, zu Komplizen eines Humors, der es mit nicht weniger als der Realität aufnimmt. Cosima von Bonins Fortsetzung einer institutionskritischen Reflexion über Künstlerimages zeigt dabei auch, dass es Künstler/innen ohne Künstler/innen nicht geben kann.

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ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abb. 1: Gerhard Richter in seiner Ausstellung „Bilder einer Epoche“, Februar 2012, Foto: Ulrich Perrey, dpa/Ino, picture alliance/dpa/Perrey. Abb. 2: Cosima von Bonin, „The Fatigue Empire“, Installation View, Kunsthaus Bregenz, Bregenz 2010, Courtesy Galerie Buchholz, Berlin/Cologne. Abb. 3: Cosima von Bonin, „Roger & Out“ , Installation View, Museum of Contemporary Art, Los Angeles 2007, Courtesy Galerie Buchholz, Berlin/Cologne. Abb. 4: Cosima von Bonin, „Roger & Out“ , Installation View, Museum of Contemporary Art, Los Angeles 2007, Courtesy Galerie Buchholz, Berlin/Cologne. Abb. 5: Cosima von Bonin, „The Fatigue Empire“, Installation View, Kunsthaus Bregenz, Bregenz 2010, Courtesy Galerie Buchholz, Berlin/Cologne. Abb. 6: Cosima von Bonin, „Cosima von Bonin’s Cut! Cut! Cut! for Museum Ludwig’s Sloth Section, Loop #04 of the Lazy Susan Series, A Rotating Exhibition 2010-2012“, Installation View, Museum Ludwig Köln, 2012, Courtesy Galerie Buchholz, Berlin/Cologne. Abb. 7: Cosima von Bonin, „The Fatigue Empire“, Installation View, Kunsthaus Bregenz, Bregenz 2010, Courtesy Galerie Buchholz, Berlin/Cologne. Abb. 8: Cosima von Bonin, „The Fatigue Empire“, Installation View, Kunsthaus Bregenz, Bregenz 2010, Courtesy Galerie Buchholz, Berlin/Cologne. Abb. 9: Cosima von Bonin, „The Fatigue Empire“, Installation View, Kunsthaus Bregenz, Bregenz 2010, Courtesy Galerie Buchholz, Berlin/Cologne.

Widersprüchliche Positionen: Selbst- und Fremdwahrnehmung des polnischen Autors Jacek Dehnel ANNA ARTWIŃSKA Nicht das Objekt, sondern der Name weckt das Begehren; nicht der Traum, sondern der Sinn ist verkäuflich.1 (Roland Barthes, Sprache der Mode)

Man kann die Behauptung riskieren, dass Jacek Dehnel (Jg. 1980) von allen polnischen Gegenwartsautoren derjenige ist, der nicht nur als Schriftsteller sondern auch als sich selbst inszenierender Künstler am stärksten wahrgenommen wird. Dehnels Stil wird immer wieder aufs Neue in den Medien aufgegriffen und löst permanent verhängnisvolle Debatten aus, genauso wie seine literarischen Texte. Sein Erscheinungsbild, das sich an der Ästhetik der Jahrhundertwende orientiert und dessen charakteristische Merkmale Smokings, schwarze Zylinder und lackierte Gehstöcke sind, weckt das öffentliche Interesse. Im Vergleich mit anderen polnischen Autoren ist Dehnels Inszenierung weder besonders innovativ noch provokativ. Trotzdem ist sie in Polen ein Anlass für Diskussionen über gewollte und ungewollte Künstlerkonzepte. Interessant ist dabei die Tatsache, dass Dehnels self-fashioning 2 seine Leser und Kritiker extrem polarisiert, so dass sie im Endeffekt nicht nur über

1

Barthes 1985, 10.

2

Greenblatt 1995, 36.

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das pro und contra dieser Inszenierung streiten, sondern darüber hinaus Fragen nach der künstlerischen Freiheit und Verbindung von Kunst, Geschichte und (nationaler) Erinnerung aufwerfen. In diesem Sinne ist der Fall Jacek Dehnel ein Beispiel dafür, welche Rolle ein Künstler in einer Gesellschaft einnehmen kann und wie stark nicht-künstlerische Probleme anhand von Künstlerkonzepten diskutiert werden können. Um die Spezifika dieser konkreten Situation verstehen zu können, sollte hinzugefügt werden: Je stärker Dehnel öffentlich angegriffen wird, desto mehr versucht er, sich von seiner Inszenierung abzugrenzen und die Bedeutung seines Erscheinungsbildes zu minimieren, ohne jedoch ganz darauf zu verzichten. Sein anfangs so sorgfältig vorgeführter Ich-Entwurf (neben dem Gehrock auch Krawatten mit silbernen Verzierungen und verlängerte Hemdkragen) wird infolge der öffentlichen Diskussionen als rein ästhetisch dargestellt. „Ich trage von Zeit zu Zeit einen Zylinder oder eine Melone und ich besitze eine Sammlung von Spazierstöcken. Für mich ist das einfach eine Mode, die mir gefällt. Ich mag den Stil des 19. Jahrhunderts. Mir kommt er sehr modern vor“, erläutert der Autor.3 Die vorgeführte Authentizitätsstrategie soll den Verdacht fernhalten, die ästhetische Wahl ginge – was ein Teil der Kritik stets suggeriert – mit einer ideologischen oder pragmatischen einher. So weist Dehnel beispielsweise in einem der Interviews die Feststellung einer Journalistin, er sei „sein eigenes verspätetes Enkelkind und die ganze Maskerade, die Rückwendung zur Vergangenheit, diese Anti-Mode eine Marketingidee“, mit der Bemerkung zurück: „Das ist übrigens keine Anti-Mode, es reicht, die französischen oder britischen Modemagazine durchzublättern und schon sieht man die große Wiederkehr des Gehrocks. Der Neoklassizismus ist an der Spitze der Avantgarde und wird immer schicker. Tah Damm!“4 Aussagen wie diese zeigen deutlich, dass Dehnel nicht bereit ist, über sein Erscheinungsbild zu disku-

3 4

Zit. nach Wenzel 2008. „(…) jest pan niczym swój późny wnuk i że ta cała maskarada, obrócenie w przeszłość, antymoda to doskonały marketingowy pomysł“ „Zresztą to nie jest żadna antymoda, wystarczy sobie przejrzeć jakieś angielskie, włoskie czy francuskie pisma o modzie, pełen powrót surdutów. Neoklasycyzm jest w samej szpicy awangardy i będzie coraz bardziej chic. Ta-daaaaam“. Janowska 2007. Diese Übersetzung und alle folgenden sind von Anna Artwińska.

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tieren und auf die Problematik der eigenen Autokreation einzugehen. Stattdessen grenzt er sich im Gestus der Authentizität von jeglichen Fragen bezüglich einer möglichen Inszenierung ab und ironisiert das Erkenntnispotenzial der „Konfektionskritik“, die ästhetischen Vorlieben der Autoren mit ihren Texten verbindet: „Świetlicki unter dem Gesichtspunkt der schwarzen Rollkragenpullis, Balladyna und Słowackis Kragen, Gogols Mantel (unbedingt ohne Hinweise auf sein Werk) und seine Hose, die Dreads von Jacek Podsiadło und der Rhythmus seiner Lyrik. Ein fantastisches Feld um sich in den Vordergrund zu spielen.“ 5 Der Differenz zwischen Dehnels Selbst- und Fremdwahrnehmung und ihrer Dynamik wird im Folgenden näher zu Leibe gerückt.

J ACEK D EHNELS I CH -E BENEN Jacek Dehnel debütiert mit dem Gedichtband Żywoty równoległe (dt. Parallele Existenzen) im Jahr 2004. Es ist eine der letzten Neuerscheinungen, die der Literaturnobelpreisträger Czesław Miłosz vor seinem Tod lobt, wobei er den jungen Autor als „wahren Dichter“ 6 bezeichnet. Nur ein Jahr später erhält Dehnel den renommierten Kościelski-Preis7 und veröffentlicht seinen zweiten Gedichtband Wyprawa na południe (dt. Reise in den Süden). In beiden Fällen handelt es sich um eine Dichtung, die thematisch und formell ihre Zugehörigkeit zur europäischen Kultur markiert und bewusst auf poetologische Kunstfertigkeit setzt. Seine Verse datiert Dehnel hundert Jahre zurück, wie z.B. „Warszawa 4. V. 1903“. Die kurzen Anmerkungen, die sich unter den Gedichten befinden, setzen ein Zeichen – besonders im Zusammenhang mit dem äußeren Bild des Autors.

5

„Świetlicki przez pryzmat czarnych golfów, Balladyna a kołnierz Słowackiego, płaszcz Gogola (koniecznie bez odniesień do utworu) a jego spodnie, dredy Jacka Podsiadły a rytm w jego wierszach. Fantastyczne pole do popisu“. Janowska 2007.

6

Miłosz‘ Meinung wurde auf dem Cover des Gedichtbands abgedruckt.

7

Auszeichnung für polnische Autoren unter vierzig Jahren.

254 | WIDERSPRÜCHLICHE POSITIONEN: JACEK DEHNEL

Abb. 1: Jacek Dehnel In dieser Anfangsphase geht Dehnels mediale Selbstdarstellung weit über die Mode hinaus: Der Autor versucht, das in der Zeit des „real existierenden Sozialismus“ unerwünschte Erbe der polnischen ziemiaństwo mit der europäischen Moderne zu verknüpfen und als ein Lebensmodell zu praktizieren. Dabei ist festzuhalten, dass die von ihm besetzte Künstlerrolle nicht in der Tradition der polnischen Romantik und ihrer – bis zur politischen Wende 1989 mit Abstand am wirkungsvollsten – Idee vom nationalen Dichter als „wieszcz“ (vates, poète inspiré), der als Prophet eine besondere Macht über die Gesellschaft ausübt, steht. Solche aus der Zeit der Romantik stammenden Werte und Konzepte wie Genialität, Emotionalität, Selbsterhöhung, Verbindung vom Künstlerischen und Politischen gehören nicht zu seinem Programm. An die Stelle von Adam Mickiewicz tritt, so könnte man etwas vereinfacht sagen, Oscar Wilde. Der Dichter selbst betont in den ersten Jahren nach dem Debüt häufig sein faible für die modischen Requisiten der Vergangenheit und pflegt den Look eines eleganten, gut erzogenen und zugleich etwas dekadenten Künstlers. Neben seiner dichterischen Tätigkeit übersetzt

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er Gedichte von Philip Larkin, Osip Mandel’štam und plädiert für einen Lebensstil, in dem neben Lesen, Reisen und Denken auch die entsprechende Mode und Wohnkultur eine exponierte Stellung einnehmen.

Abb. 2: Jacek Dehnel Es liegt nahe, dass es gerade in diesem Fall zu einer Verschränkung des lyrischen Ichs mit der realen Person kommt; diesen Eindruck unterstützen zusätzlich nostalgische Porträts mit Sepia-Tönung, die den Gedichtbänden beigefügt werden. Dehnels literarische Werke und sein modisches Inventar werden schnell metonymisch aufeinander bezogen, die Kleidungsstücke erreichen den Status von Paratexten und die in der Lyrik evozierte Welt erfährt eine autobiographische Deutung. Es herrscht die Überzeugung, dass Dehnels Texte und sein Lebensstil ein Gesamtkunstwerk bilden. „Das bewusst antiquierte Äußere“, schreibt z. B. (übrigens für ein deutsches Publikum) die Li-

256 | WIDERSPRÜCHLICHE POSITIONEN: JACEK DEHNEL

teraturkritikerin Marta Kijowska, „diese kunstvolle Komposition aus Gehrock, Spazierstock und Siegelring passt in der Tat viel besser zu seinen feinen Gesichtszügen und tadellosen Manieren als Jeans und Turnschuhe.“ 8 Im Jahr 2006 erscheint Dehnels erster Roman Lala, eine Auto/biographie – Familiengeschichte – Saga, in der die Großmutter des Ich-Erzählers die zentrale Rolle spielt. Mit diesem Buch gelingt Dehnel ein weiterer Sprung in der literarischen Karriere: Lala steht monatelang auf der Bestsellerliste, wird in mehrere Sprache übersetzt und erhält ein Jahr später den Preis „Paszport Polityki“ („Reisepass der Wochenzeitschrift Polityka“), die Auszeichnung für eine herausragende literarische Leistung im Jahre 2006. Formell gesehen ist Lala ein Roman, der sich in das Konzept der Oral History einschreibt: Die Narration kreist um die subjektiven Erinnerungen der Hauptfigur Helena Bieniecka, wegen ihrer Schönheit „Lala“ (polnisch: die Puppe) genannt, die die historischen Ereignisse individuell und aus der Perspektive der eigenen Lebensgeschichte thematisiert. Die Tendenz zu „Vergessen, Verzerrungen, Umdeutungen, Konfabulation“ 9 ist in dem Roman erkennbar. Die Erfahrungen der Großmutter sind in der Form von Gesprächen mit dem Enkel dargestellt, nicht chronologisch, nicht der Reihe nach, mit zahlreichen Prolepsen und Analepsen, Zeitraffungen und Dehnungen. Die Gesprächspartnerin erzählt ununterbrochen, nach dem Prinzip der plötzlichen Erinnerung und schmückt das Erzählte mit zahlreichen Anekdoten, Geschichten und ironischen Kommentaren aus. Der Gesprächspartner Jacek steht von der Aufgabe, die Erzählungen festzuhalten und zu ordnen. Das Einfangen von Erinnerungen ist ein Verfahren, das gegen das Vergessen gerichtet ist. Die Großmutter leidet an Demenz, und im Laufe des Erzählens verliert sie immer mehr an Bewusstsein, sodass einige Geschichten zum Schluss nur mithilfe des Enkelkindes rekonstruiert werden können. Der Prozess des Niederschreibens der Erfahrungen und Lebensstationen versucht dem Vergessen entgegen zu wirken. Die Hommage an die Großmutter ist zugleich ein Schreiben gegen das Altern und das Sterben; nicht gerade zufällig endet die Geschichte mit der Geburt des Enkelkindes. Der Zerfall einer Existenz wird literarisch reflektiert und mit dem Verfall der Erzählung verglichen:

8

Kijowska 2008, 34.

9

Erll 2009, 83.

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Diese Geschichte erzähle ich für Großmutter. Ich erzähle immer mehr für Großmutter. Alles zerrinnt, wird verwischt, zerfällt in Stücke. Großmutters Verfall ist am deutlichsten am Verfall der Erzählung zu erkennen. Am Anfang fehlten nur kleine Komponenten […] Dann verschwanden Fragmente von Geschichten, Details gerieten durcheinander […] Mit der Zeit verschwanden ganze Geschichten.10

Der Erzähler lässt sich auf die Geschichten in ihrer Inkohärenz und Unstimmigkeit ein, gibt sie wieder, ohne den Redefluss der Großmutter zu unterbinden. Der Überschuss an Fakten, Anekdoten und Szenen, der sich wie ein roter Faden durch den Roman zieht, steht für die Fülle in Lalas Leben (Liebesgeschichten, Reisen, Schicksalsschläge etc.) und reflektiert seine Ungewöhnlichkeit. Denn die zentrale Figur ist keine gewöhnliche Großmutter gewesen: Lala war eine Frau, die selbstbewusst und gegen die Konventionen durch das Leben ging, die sich selbst verwirklichen konnte und selten eigene Entscheidungen bereute. Sie entstammte einer adeligen Familie und lebte ein für ihre soziale Klasse typisches Leben, in dem die Affinität für große Kultur sich mit dem Selbstbewusstsein einer Adeligen, deren Familie teilweise aus den Ostgebieten stammte und viele internationale Kontakte hatte, vermischte. Nach dem 2. Weltkrieg wurde Lala nach Gdańsk umgesiedelt, wo auch Dehnel geboren wurde und wo sie bis zum Zeitpunkt der Erzählung weiterhin zu Hause ist. Im Leben der bildhübschen Lala spiegeln sich die wichtigsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts wider. Geboren 1919, zwei Jahre nach der russischen Revolution, erlebte sie Kriege und Totalitarismen, Fremdherrschaft und Besitzverluste, sie war Zeugin sozialer Umbrüche und topographischer Verschiebungen auf der Weltkarte. Nichtdestotrotz ist der Ton ihrer Erzählung optimistisch. Der Geschichte selbst misst die Hauptfigur keine allzu große Rolle zu, sie ist nur eine Art Kulisse für das eigene Leben bzw. für seine retrospektive Inszenierung. Lala bekommt im Laufe des Jahres 2007 überwiegend positive Kritiken, als ein Werk über die Macht der Erinnerung, das „die Geschichte der eigenen Familie und der ganzen Gesellschaft erzählt“11, oder als zärtliche

10 11

Dehnel 2009, 175. „Jacek Dehnel opowiada nam historię własnej rodziny i całego społeczeństwa polskiego“, so der Literaturwissenschaftler und Kritiker Jerzy Jarzębski in seiner Empfehlung des Buches auf der Internetplattform des Instytut Książki.

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Liebesgeschichte zwischen der Großmutter und dem Enkelkind. Der Schriftsteller Stefan Chwin begrüßt Lala als ersten Roman, der sich ernsthaft mit der kulturellen Rolle der Großmutter in der polnischen Familie auseinandersetzt, und bezeichnet den Autor als Künstler der Erinnerung, der das Potenzial des privaten Gedächtnisses über die reine Faktographie stellt.12 In einer feministischen Besprechung wird auf die positive Rolle des Matriarchats – denn die Männer spielen in Lala kaum eine Rolle – hingewiesen.13 Diese unterschiedlichen Diskursgemeinschaften teilen die Überzeugung, Lala sei ein großer Roman, dessen Größe sich über das Dreieck „Hommage an die Großmutter – die Geburt des Künstlers – polnische Erfahrung“ erschließt. Lala wird dabei als ein faktuales Werk gelesen und der Ich-Erzähler mit dem Autor gleichgesetzt. Die Lebensgeschichte der Großmutter Helena und ihrer Familie samt dem Enkelkind Jacek gilt als eine Universalerzählung, die laut Kritik für einen großen Teil der polnischen Gesellschaft repräsentativ ist. Zugleich betrachtet man den Text als eine Metaerklärung für den Habitus des jungen Schriftstellers. „Dieses Buch erklärt,“ so schreibt beispielsweise der Literaturkritiker Dariusz Nowacki über Lala, „wie es dazu kam, dass Jacek Dehnel ein Vertreter einer anderen Epoche wurde – ein klassizistischer Dichter, ein Maler und Kunstkenner, gekleidet in einen Gehrock, mit einem Gehstock in der Hand und dem Zylinder auf dem Kopf.“14 Die Erklärung liefert, laut Nowacki, die im Buch dargestellte Genealogie: Der Ich-Erzähler/Jacek Dehnel ist ein Produkt eigener Herkunft, ein Erbe eines bestimmten Verhaltenscodes.

Hier findet sich auch die Formulierung „typowo polska epopeja“ – „ein typisch polnischer Epos“. Jarzębski 2007. 12

Chwin 2007, 161.

13

„Dehnel, spisując opowieści babki, odtwarza matrylinearną gałąź rodziny – mężczyźni byli ważni, zmieniali się, pojawiali na nowo, ale to kobiety przyczyniały się do przetrwania, pokonywały wszelkie trudności“. „Dehnel rekonstruierte, indem er die Geschichte der Großmutter aufschrieb, den matriarchalischen Zweig der Familie – die Männer waren wichtig, sie wechselten, aber die Frauen haben zum Überleben beigetragen und alle Schwierigkeiten überstanden.“ Darska 2006, 94.

14

„Ta książka wyjaśnia jak doszło do tego, że Jacek Dehnel stał się przybyszem z innej epoki – klasycyzującym poetą, malarzem i znawcą sztuki, odzianym w surdut, z laseczką w dłoni i cylindrem na głowie“. Nowacki 2006.

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Nowacki liest Lala als einen auto/biographischen Text, in dem, nach den Kategorien von Pierre Lejeune, die Aussagen des Erzählers als Aussagen des realen Autors zu verstehen sind, die Anspruch auf direkte Referenzialität erheben. „Der autobiographische Pakt“ 15 wird hier nicht explizit in einem Paratext geschlossen, sondern implizit durch die Benennung des Ich-Erzählers mit dem Eigennamen (Jacek, Jacuś). „Und dann wurde […] peu à peu Jacek geboren. Das heißt ich.“16 – lautet einer der letzten Sätze des Buches. Dass nicht alle Voraussetzungen des autobiographischen Paktes erfüllt werden – so trägt z.B. die Großmutter Helena im Roman einen anderen Nachnamen als die wirkliche Großmutter des Autors – und dass der Roman eigentlich einen autofiktionalen Charakter17 hat, scheint Nowacki nicht zu stören. Diese Art der Lektüre wird am Anfang auch durch Dehnel selbst gestützt. Auf die Frage, ob man den Erzähler des Romans mit dem Autor gleichsetzen darf, gibt er folgende Antwort: „Absolut – das heißt insofern, als man überhaupt den Protagonisten (sogar einer Biographie) mit einem lebenden Wesen gleichsetzen kann. Übrigens gibt das ganze Buch den Lesern einen Spielraum für solche Gleichsetzungen, meine ich. Aber es ist ein eigentümliches Buch, sehr persönlich, heute werden nicht viele solcher Bücher geschrieben.“18 Der Ich-Erzähler Jacek erinnert in der Tat in vielerlei Hinsicht an den realen Autor. Wie Dehnel ist er ein angehender Schriftsteller, der an einem Text über die eigene Familiengeschichte arbeitet, umgeben von seinen Lieblingsgegenständen, „dem englischen Tee-Service“, „Jugendstil-Besteck“ und dem eigenen Sommerfoto, das ihm „im einem alten Spiegel“, „halb im Schatten, halb in der Sonne“ zeigt.19 Die Legitimation für dieses Künstlerkonzept liefert die Herkunft. Für den Ich-Erzähler gibt es in der Generationsabfolge keine Zufälle:

15

Lejeune 1989

16

Dehnel 2009, 348.

17

Zipf 2009.

18

„Całkowicie – to znaczy na tyle, na ile w ogóle można utożsamiać bohatera (nawet biografii) z żyjącą istotą. Zresztą cała książka daje czytelnikom pole do takiego utożsamienia, jak sądzę. Ale to jest specyficzna książka, bardzo osobista, niewiele takich książek się pisze“. Vgl. „Zapis czatu (Jacek Dehnel)“ 2007.

19

Vgl. Dehnel 2009, 384-385. In der deutschen Übersetzung wurde diese Passage weggelassen.

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Ich denke, wenn Julek hätte Kinder zeugen können […] dann gäbe es mich gar nicht, oder ich wäre ein ganz anderer, vielleicht korpulenter, vielleicht dunkelhäutig und großäugig. Und wenn mein Großvater schnellere Spermien gehabt hätte, dann wäre ich zwar derselbe, aber Julek wäre offiziell mein Großvater. Doch es kam anders.20

Das Heranwachsen in einer inspirierenden Szenerie, voller schöner Gegenstände, wo fast jedes Familienmitglied irgendeiner künstlerischen Tätigkeit nachgeht, prädestiniert quasi zum Dasein eines Ästheten und Künstlers. Diese Art der Erklärung funktioniert auch außerhalb des Textes. In einem Gespräch mit Katarzyna Janowska sagt Jacek Dehnel: „Für mich war es selbstverständlich, dass ein junger Mann […] schreibt, zeichnet, liest, erzählt und diskutiert. Und, ehrlich gesagt, ist das für mich immer noch selbstverständlich.“ 21

Abb. 3: Jacek Dehnel Für meine weiteren Überlegungen ist Lala der Schlüsseltext, der die Diskussionen um Dehnels Künstlerkonzept intensiviert, seine Leserschaft endgültig

20 21

Dehnel 2009, 211. „Dla mnie było oczywiste, że młody człowiek […] powinien pisać, rysować, czytać, opowiadać, dyskutować. I, prawdę mówiąc, dalej jest to dla mnie oczywiste“. Janowska 2007.

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spaltet und den Autor zu wichtigen Korrekturen in seiner „Poetik des Verhaltens“22 bewegt. Von Relevanz scheinen zwei Dimensionen dieses Romans zu sein, nämlich seine autobiographische Ebene und der genealogische Diskurs, was in der Rezeption besonders widersprüchlich fokussiert wird. Im Moment der größten Popularität von Lala kommt es zu einer Rezeptionswende, die die bisherigen affirmativen Deutungen stark revidiert. Die neuen Interpretationen greifen das öffentliche Bild des Künstlers auf und stufen es als reine Selbstinszenierung, die strategisch konzipiert ist, ein. Dehnel wird vorgeworfen, die Familiengeschichte zur Selbsterhöhung zu benutzen und zur Verbreitung der These über den mythischen „Ursprung“ (im Sinne von Michel Foucault) einer bestimmten Klasse beizutragen.

K UNSTWERKE

ALS

„ SOZIALE F AKTEN “

Der Titel dieses Kapitels knüpft an die bekannte Formulierung des tschechischen Literaturwissenschaftlers Jan Mukařovský an. Einer der zentralen Gedanken von Mukařovský ist der, dass ein Kunstwerk „ein soziales Faktum“ ist, d.h. es entsteht in einem durch soziale Praktiken und Riten gekennzeichnetem Raum und ist im Zusammenhang mit dem „Gesamtkontext der sogenannten sozialen Erscheinungen“23 zu deuten. Ein Kunstwerk ist ein Vermittler zwischen dem Autor und den Mitgliedern einer Gruppe oder Gemeinschaft. In seinen Schriften, die sich mit den ästhetischen Aspekten der literarischen Produktion beschäftigen, wurde die These aufgestellt, ein Werk sei nicht nur ein sprachliches und künstlerisches Phänomen, sondern es unterliege auch gesellschaftlichen Modellierungen. Die sozialgeschichtlichen Ansätze des tschechischen Forschers gewinnen an Bedeutung, wenn man sie zusammen mit den Hauptgedanken Pierre Bourdieus über den sozialen Raum und die Ausgliederung seiner Felder, über kulturelles Kapital und den Habitus denkt. Der französische Soziologe geht davon aus, dass zwischen dem literarischen Schaffen eines Künstlers, seinem Habitus und der sozialen

22 23

Lotman 1992. Mukařovský 1978, 141. Zugleich gilt aber, dass „[...] das Kunstwerk nirgends als historisches oder soziologisches Dokument verwenden werden darf, ohne daß vorher sein dokumentarischer Wert [...] analysiert worden ist.“ Ibidem, 142.

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Wahrnehmung ein enger Zusammenhang besteht. Indem er die Illusion zerstört, dass es eine nicht von außen bedingte Kunst gibt, weil sich im Text die habituellen Formen und Praktiken widerspiegeln, weist Bourdieu auch darauf hin, dass ein Kunstwerk als kulturelles Kapital immer ein Objekt sich überschneidender Macht- und Positionsspiele ist (denn in einem Feld sind konkurrierende Strukturen und Relationen erkennbar); wie in jedem anderen Feld, geht es auch im literarischen Feld um Machtgewinn und Machterhaltung.24 In der 14. Nummer der neolinken kulturpolitischen Zeitschrift „Krytyka Polityczna“ aus dem Jahr 2007 erschien ein Artikel von Eliza Szybowicz unter dem Titel Comme il faut 2. O prozie i paszporcie Jacka Dehnela.25 Ihre Ausführungen beginnt die Literaturkritikerin wie folgt: Jacek Dehnel besitzt Affinitäten, Beziehungen und Bekanntschaften. Jacek Dehnel gehört zu dem kleinen Kreis der Auserwählten, die noch heute den Luxus und Charme der Salons der belle époque repräsentieren, die dann durch die zwei großen Kriege vernichtet wurden. Jacek Dehnel ist ein direkter Erbe der europäischen Kultur. Damit ganz Polen davon erfahren kann, wurde er mit dem Reisepass von Polityka ausgezeichnet, und zwar für einen Roman, in dem er die Geschichte des 20. Jahrhunderts (teilweise mit eigener, teilweise mit der Stimme seiner Oma) so erzählt, als ob sich zwischendurch nichts verändert hätte.26

Eliza Szybowicz kritisiert nicht nur Dehnels Selbstinszenierung, sondern auch seinen Umgang mit der Geschichte. Der Fokus ihrer Kritik richtet sich gegen die unreflektierte Kanonisierung eines bestimmten Gemeinschaftsbildes und bestimmter kultureller Werte, in der die Erinnerung (pamięć) immer

24 25

Bourdieu 1999. Szybowicz 2009, 107-132. (Nachdruck). Der Titel knüpft an den Text von Marek Zaleski an. Vgl. Zaleski 1987, 60-66.

26

„Jacek Dehnel posiada parantele, koligacje, stosunki i znajomości. Jacek Dehnel należy do grona nielicznych, którzy dziś reprezentują wykwint i polot salonów belle époque, unicestwionych przez dwie wielkie wojny. Jacek Dehnel jest bezpośrednim spadkobiercą kultury europejskiej. Żeby dowiedziała się o tym cała Polska, przyznano mu Paszport ´Polityki´ za powieść, w której historię XX wieku (częściowo głosem babci, częściowo swoim) opowiada tak, jakby nic się po drodze nie zmieniło“. Szybowicz 2009, 107.

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positiv konnotiert wird. Eine so verstandene Erinnerung vermittelt, so Szybowicz, ein idealisiertes Bild der Vergangenheit, in der zwar auch dramatische Elemente vorkommen, die Oberhand jedoch eine aufbauende, abenteuerliche Erzählung gewinnt.27 Besonders scharfsinnig geht Eliza Szybowicz mit der Selbstdarstellung des Schriftstellers um, die sie nicht „authentisch“, sondern inszeniert und konjunkturell nennt. Sowohl Dehnels Zylinder und Gehstöcke, als auch die Berufung auf Faulkner, Márquez, Cocteau, Proust und Miłosz bezeichnet sie als strategischen und selektiven Rückgriff auf eine Tradition, der die Überlegenheit eines Bessergeborenen signalisieren soll.28 Die Wahl des Nostalgischen stuft sie als ein pragmatisches Verfahren ein, mit dessen Hilfe innerhalb und außerhalb des Romans eine Trennlinie zwischen verschiedenen sozialen Welten geschaffen werden soll: Auf der einer Seite befinden sich die Ikonen der europäischen Kultur (samt Dehnels Familie), auf der anderen diejenigen, die keine „Lala“ als Großmutter haben und nicht mit einem Gehrock zur Welt gekommen sind. An Argumenten wie diesen sieht man genau, wie stark alle künstlerischen Rollen, die der Autor einnimmt, in der Kritik mitei-

27

Am Rande sei angemerkt, dass sich gegen die Verabsolutierung der Kategorie der Erinnerung (pamięć) im polnischen Diskurs neulich auch Katarzyna Chmielewska aussprach, indem sie aus der Falle „Erinnerung“ versus „historischer Nihilismus“ auszubrechen versuchte und die nach Nietzsche und Foucault definierte Genealogie als Alternative erklärte: „Historia genealogiczna, z zasady perspektywiczna, nie tworzy jednej linii, nie zmierza ku homogenizacji, dopatruje się jednostkowości tam, gdzie inni widzą powtarzający się wzór […] Widzi maski historii, przechwycone idee, skolonializowane wzorce i przejęte pojęcia, władzę, która roztacza pozór ciągłości. A przede wszystkim – zmienną i relacyjną rzeczywistość tam, gdzie inni chcą spostrzec tylko monolit pamięci“. „Geneologische Geschichte, per se perspektivisch, bildet keine einheitliche Linie, strebt nicht nach Homogenisierung, sie sucht nach Einmaligkeit dort, wo die anderen ein sich wiederholendes Muster sehen. [...]. Sie überschaut die Masken der Geschichte, die übernommenen Ideen, kolonialisierte Muster und übernommene Begriffe, sie sieht die Macht, die die Dauer nur vortäuscht. Und vor allem – eine sich verändernde, relationale Wirklichkeit dort, wo die anderen nur einen Monolith der Erinnerung sehen.“ Chmielewska 2011, 22.

28

Szybowicz 2009, 109.

264 | WIDERSPRÜCHLICHE POSITIONEN: JACEK DEHNEL

nander verbunden werden. Im Endeffekt wird Jacek Dehnel zur Verantwortung gezogen, als Person, als Schriftsteller, als Enkelkind seiner Großmutter und als Figur seines Romans. Die ideologische Verortung von Szybowicz ist links und in vielerlei Hinsicht argumentiert sie in der Tat neomarxistisch, indem sie literarische Texte als unmittelbaren Ausdruck einer sozialen Klasse betrachtet. Jacek Dehnel ist für sie schlichtweg der Inbegriff eines Künstlers, der die Wirklichkeit aus der Sicht der Privilegierten beschreibt, und alles, was diesen Rahmen sprengt, ignoriert. Als Rezipientin und Literaturwissenschaftlerin positioniert sie sich damit auf der Seite des „Großen Anderen“, den man im Roman verschweigt, infantilisiert oder aus der Gemeinschaft vertreibt. In diesem Sinne kritisiert sie Anekdoten und Geschichten, wie die über die dummen Bauern in der Ukraine, die das Automobil des Großvaters, welches selbstverständlich das erste Automobil im Dorf war, mit einem Teufel verwechselten; in diesem Sinne findet sie die Erzählung über einen gewissen Herrn Gruszkiewicz, der sich zu Tode getrunken hat, weil er „arm war und von niemand geliebt“, nicht witzig.29 Dehnels Umgang mit diesem Stoff bezeichnet Szybowicz als grausam und moralisch nicht nachvollziehbar. Mit einer ihrer Hauptthesen, dass nicht alle von uns „eine solche Oma“ hatten, demaskiert sie auch die Mystifizierung und Selbsttäuschung der Kritiker, die völlig unreflektiert den Blickwinkel der Hauptfigur als repräsentativ und allgemeingültig übernehmen. „Der polnische öffentliche Diskurs unterstützt die snobistischen Gewohnheiten der kollektiven Erinnerung“, bemerkt die Autorin und hebt hervor, dass, rein statistisch gesehen, die meisten Leser eher die Nachkömmlinge des im Roman so diffamierten Proletariats sind.30 Diese Art der Geschichtsschreibung, so kann man Eliza Szybowicz weiter folgen, brauchen wir (in welchem Namen auch immer sie gesprochen hat)

29

Am Rande sei angemerkt, dass die Bemerkungen über die Ukraine in einer postkolonialen Poetik gehalten sind. „Das also ist das Ende der Geschichte. Und wo beginnt sie? […] Oder schließlich in jenem seltsamen Raum namens Ukraine, den ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann; wo andere Pflanzen wuchsen als bei uns und andere Menschen, die mit brunnentiefer, aber singender Stimme redeten, die Bauern, die mit Rungen und Heugabeln dem Automobil von Ururgroßvater Brokl hinterherjagten.“ Dehnel 2009, 8.

30

„Polski dyskurs publiczny podtrzymuje snobistyczne nawyki pamięci zbiorowej“. Szybowicz 2009, 111.

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nicht, denn sie ist nichts weiter als eine Wiederholung der polnischen Narrative, die der Herausbildung einer modernen Gesellschaft im Wege stehen. Stattdessen bräuchten wir eine Saga, die etwas differenzierter mit der Vergangenheit umgeht, und sich traut, auch die polnische Schuld, die Komplexe und Traumata anzusprechen. Die negativen Signaturen des 20. Jahrhunderts – Kriege, Völkermorde, Totalitarismen – dürfen nicht, wie bei Dehnel, nur als Kulisse für eine anekdotenhafte Erzählung gelten. Ersparte wirklich „Fortuna“ der Großmutter, wie wir im Roman lesen, „den Anblick der durch Lisów getriebenen Juden“31? Konnte die Großmutter die Russen wirklich überzeugen, sie nicht zu vergewaltigen, indem sie an ihre Ehre appellierte?32 „Weder wir noch unsere Bauern bereicherten uns am Holocaust, und die Pogrome waren eine Angelegenheit der Staatsicherheit.“33 – So also die Aussage des Romans in Szybowicz‘ Deutung. Die Resonanz der Kritik ist enorm. Schon ein paar Stunden nach der Veröffentlichung teilen sich die literarischen Portale im Internet in Gruppen pro und contra Dehnel (bzw. Szybowicz). Es kommt zu virtuellen Duellen, Kriegen und Gefechten. „Allen Wandlungen des Konzeptes Künstlerschaft zum Trotz“, schreiben Christopher F. Laferl und Anja Tippner, „zeigt sich, dass Künstler eine exponierte Stellung in der Gesellschaft einnehmen, über die zentrale gesellschaftliche Fragestellungen verhandelt werden.34 Diese These kann man auf den polnischen Diskurs rund um Dehnel und seinen Roman Lala gut übertragen. Von Dehnels Anhängern wird Eliza Szybowicz als poststalinistische, parteitreue Literaturwissenschaftlerin bezeichnet (es fiel ein Vergleich mit Melania Kierczyńska 35) und schonungslos attackiert. Jacek Dehnel rutscht nun in die Rolle des unschuldig angegriffenen Autors, und über den Roman Lala kumulieren sich noch stärker die Fragen nach der nationalen Erinnerung und Genealogie. Paweł Dunin-Wąsowicz, der Haupt-

31

Dehnel 2009, 200.

32

Dehnel 2009, 232.

33

„Ani my, ani nasi chłopi nie bogaciliśmy się na Holokauście, a pogrom to sprawka UB“. Szybowicz 2009, 121.

34 35

Laferl/Tippner 2011, 7-8. Melania Kierczyńska war eine der wichtigsten Vertreterinnen des sozialistischen Realismus in der Volksrepublik Polen und Mitglied der kommunistischen Partei.

266 | WIDERSPRÜCHLICHE POSITIONEN: JACEK DEHNEL

redakteur der literarischen Zeitschrift „Lampa i Iskra Boża“, hat selbstverständlich Recht, wenn er die Ideologisierung der Debatte und eine absolute Fehlinterpretation des Textes, und zwar auf beiden Seiten, feststellt.36 Nichtsdestotrotz ist gerade dieses Phänomen besonders interessant. Denn es geht hier de facto nicht nur darum, was Dehnel geschrieben oder nicht geschrieben hat,37 sondern wie seine Inszenierung, Lebenskonzepte und zuletzt auch Texte in dem Rezeptionsprozess gedeutet werden. Die Unterstellungen der Kritiker multiplizieren künstlerische Bilder, entwerfen parallele Lebensläufe, vermischen Tatsachen mit Projektionen. Das Leben des Autors wird zu einem Werk, das mehrere Autoren hat, und existiert zugleich in vielen apokryphen Versionen, die in einem performativen Akt der kollektiven Lektüre entstehen. Gedrängt durch die Internet-User ergreift auch der Autor selbst im Laufe der Debatte das Wort. In seiner Antwort, adressiert an „Frau Szybowicz“38, die höchstwahrscheinlich, trotz ihres wissenschaftlichen Grades, in der Einführung in die Literaturwissenschaft nicht aufgepasst habe, listet er alle Schwächen, Fehler und Übertreibungen des Textes auf.39 An seiner Ar-

36 37

Dunin-Wąsowicz 2008, 12-14. Es lohnt sich, Dehnels Darstellungen der Geschichte genauer zu untersuchen. Auch wenn das Anekdotenhafte dominiert, so gibt es in dem Roman auch Passagen, die das offizielle Vergangenheitsbild zu differenzieren versuchen und einen provokativen Charakter haben, wie z.B.: „Tatsächlich, die Deutschen, die in Lisów einquartiert waren, waren keine blutrünstigen Bestien, sondern normale Menschen mit anständigen deutschen Gewohnheiten. Einer schützte ein Mädchen während einer Bombardierung, ein anderer spielte Mozart auf der Mundharmonika […] Der Hauptmann lieh sich Bücher über Kunst aus, der rotblonde Feldwebel half im Haus, und der Apollo mit den Hosenträger war in Großmutter verliebt.“ Dehnel 2009,181.

38

Błażej Warkocki hat auf die versteckte Funktion einer solchen Rhetorik hingewiesen: den Substantiv „pani“ (dt. „Frau“, „Dame“) benutzt Dehnel nur in Verbindung mit Eliza Szybowicz. In Bezug auf die anderen Personen werden wissenschaftliche Titel verwendet (wie z.B. „Prof. Śliwiński“). Laut Warkocki gleicht das dem rechtsradikalen polnischen Diskurs, wo die Substantive „pan“, „pani“ häufig als beleidigende Attribute verwendet werden. Warkocki 2008.

39

Dehnel 2008.

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gumentation ist, abgesehen von dem feindseligen Ton, schwer etwas auszusetzen. Denn in der Tat legt Szybowicz den Fokus ihrer Interpretation nicht primär auf die kunst- und sprachimmanente Problematik und projiziert die Erwartungen der eigenen Diskussionsgemeinschaft in puncto kulturelle Muster auf den Roman, was zu einer reduktionistischen Lektüre führt. Jacek Dehnel hat Recht, wenn er in seiner Stellungnahme an die Konventionen der Oral History erinnert und betont, dass sein Buch nur eine der vielen Versionen des so genannten polnischen Schicksals darlegt und kein unmittelbares Lob einer bestimmten sozialen Klasse ist. Es handelt vom Älterwerden und vom Verlust einer wichtigen Person und ist als eine höchst persönliche Trauerstimme zu lesen.40 Was dazu seinen modischen Geschmack anbelangt, so fällt hier wieder das Argument, dass sein Erscheinungsbild nicht im Dienste irgendeiner Ideologie steht, genauso wie seine Lektüren, Ansichten und sein Verhalten kein Ausdruck einer (sozialen) Überlegenheit sind. Sehr schnell wurde klar, dass eine Verständigung hier nicht möglich ist und dass sich die Debatte im Kreis dreht; genauso wenig wie die Neolinken von ihren Standpunkten abrücken wollen, genauso wenig ist Jacek Dehnel bereit, die eigene Position zu überdenken. Bei seiner starken Abgrenzung scheint er aber vergessen zu haben, dass sich auch die ihm wohlgesinnte Kritik mit seinem Stilisierungsvorgang beschäftigt und das Potenzial seines Romans für einen sinnstiftenden Diskurs im Dienst der imagined community diskutiert. „[Lala ist] eine raffiniert konstruierte Erzählung über ein paar Generationen von Polen, die dieses Namens wert sind“,41 stellt beispielsweise Aleksander Koczorowski fest. In dem Roman selbst gibt es außerdem viele Hinweise darauf, dass der Erzähler sehr wohl seine Herkunft für eine besondere hält: Nachmittags kam es vor, dass vom Wald her, hinter der Hecke, den Essigbäumen und den Rosensträuchern Schreie von fußballspielenden Halbwüchsigen zu hören waren. Sie bedienten sich einer anderen Sprache als wir, und ich hatte immer den Eindruck, sie gehörten zu einer anderen Welt, durch das dunkle Blattwerk der Linden und Ahornbäume wohlweislich von uns getrennt.42

40 41

Dehnel 2008. „To misternie skonstruowana opowieść o kilku pokoleniach Polaków, godnych tego miana“. Koczorowski 2007.

42

Dehnel 2009, 283.

268 | WIDERSPRÜCHLICHE POSITIONEN: JACEK DEHNEL

Jacek Dehnel protestiert nicht, als sein Roman zu einer Parabel der historischen polnischen Erfahrung erklärt wird und man die Aufmerksamkeit auf das nostalgische Bild der polnischen Vergangenheit lenkt. Erst nach der Kritik an seiner eigenen Person entscheidet er sich einzugreifen. Er weist jetzt verstärkt auf den fiktionalen Charakter seines Romans hin. „Die Gleichsetzung ‚Jaceks‘ mit Jacek Dehnel, ‚Lalas‘ mit der verstorbenen Helena Karpińska und auch der ‚Familie von Lala‘ mit der Familie des Autors ist notorisch“, vermerkt er kritisch auf einem der Internetforen als Reaktion auf einen Text, der die Ansichten von Szybowicz teilt.43 Seine Verteidigung fällt etwas verkrampft aus, so dass man merkt, wie unvorbereitet ihn die Kritik trifft und dass er bereit ist, seinen Roman als Fiktion einzustufen, um sich dadurch von den Vorwürfen einer Inszenierung abgrenzen zu können. Umso mehr staunt man über die Korrekturen, die er in Bezug auf sein Image unternimmt. Statt einen freischwebenden Künstler bekommen wir – in der Phase danach – ein Porträt eines Intellektuellen, der auf Stipendien, Unterstützungen und Übersetzungsaufträge angewiesen ist, der seine Altbauwohnung mithilfe eines Kredits kauft und die meisten Reisen doch eher imaginär unternimmt. Diese Strategie setzt er auch später fort: Die Öffentlichkeit wird mittels Zeitungskolumnen in der „Polityka“ sowohl über seine materiellen Verhältnisse, wie auch über seine gemeinnützigen Tätigkeiten (z. B. über eine Grabpflegeaktion auf dem jüdischen Friedhof in Warschau) in Kenntnis gesetzt. Auch sein äußeres Erscheinungsbild ändert sich etwas: Gehstock und Zylinder werden immer häufiger durch zeitgemäße, wenn auch elegante Kleidung ergänzt.

ABSCHLIESSENDE Ü BERLEGUNGEN Schon in den späten 1990er Jahren beobachtete Ansgar Nünning, dass solche Themen wie „Geschichte“, „kulturelle Erinnerung“, „Biographie“ sowie die literarischen Genres, in denen diese Themen im Zentrum stehen, in vielen Nationalliteraturen eine Hochkonjunktur erleben.44 Auch in der polnischen Kultur lässt sich dieses Phänomen feststellen. Die Auseinandersetzung mit

43

„Pomieszanie ‚Jacusia‘ i ‚Jacka Dehnela‘, ‚Lali‘ ze śp. Heleną Karpińską a także ‚rodziny Lali’ z rodziną autora jest notoryczne“. Dehnel 2008.

44

Nünning 2000.

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dem Vergangenen geht seit der Wende 1989 mit der Frage nach der individuellen und kulturellen Identität und der Suche nach der passenden Ausdrucksform einher. Der Fall Jacek Dehnel ist in diesem Zusammenhang ein virulentes Beispiel dafür, wie stark die künstlerischen Selbstentwürfe immer auch eine ideologische Botschaft mit sich bringen bzw. in sich tragen, ein Beispiel dafür, wie schnell sie in den Dienst der nationalen Interessen gestellt werden können. Die Debatte rund um den Roman Lala beweist einerseits, dass der Literatur in Polen auch in der Zeit der Postmoderne eine sinnstiftende Rolle eingeräumt wird, anderseits, wie eindimensional bzw. schwarzweiß und im Endeffekt fast schon totalitär die Ansprüche (einer bestimmten) Leserschaft ausfallen. Dehnels Selbstinszenierung ist von dem Ästhetischen ausgegangen, die materiellen Requisiten wie silberne Krawatten oder der Gehstock waren eine Metonymie für ein Kunstprojekt, das sich selbst außerhalb des Politischen verortet. Im Laufe der gesellschaftlichen Rezeption zeigte sich, dass es zwar eine „Autonomie der Literatur“ (Paweł DuninWąsowicz) an sich gibt, dennoch ist es oft etwas prekär, sie von den Außenfaktoren zu isolieren. Jacek Dehnel musste erfahren, wie sein Künstlerkonzept einer gesellschaftlichen Korrektur unterzogen wurde und wie man ihn im Rahmen der gesellschaftlichen Kommunikation bewertete. Im Zuge der (Re)konstruktion der eigenen Geschichte reagierte die polnische Gesellschaft auf Dehnels Konzept extrem polarisiert und nutzte es letztendlich als Projektionsfläche für eigene Fragestellungen. Alle diese Reaktionen zeigen, was für ein Potenzial die Künstlerschaft in sich birgt, auch im Falle eines jungen Dichters und Schriftstellers und seiner Experimente im Rahmen des self-fashioning.

B IBLIOGRAPHIE Barthes, Roland 1985. Die Sprache der Mode. Aus dem Französischen von Horst Brühmann. Frankfurt am Main (Suhrkamp). Bourdieu, Pierre 1998. „Die biographische Illusion“. In: Ders. (Hg.): Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handels. Frankfurt am Main (Suhrkamp), 75-82. Bourdieu, Pierre 1997. Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Aus dem Französischen von Achim Russer/Bernd Schwibs. Frankfurt am Main (Suhrkamp).

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ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abb. 1: Emilian Snarski: Jacek Dehnel. Abb. 2: Jacek Zamoyski: Jacek Dehnel, Agora S.A, Warschau Abb. 3: Emilian Snarski: Jacek Dehnel.

Autorenbiographien

Anna Artwińska, Wissenschaftliche Mitarbeiterin (Postdoc) im Bereich Literaturwissenschaft am Institut für Slavistik, Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Sozialistischer Realismus, Communism Studies, Postcolonial Studies, polnische und russische Romantik. Oksana Bulgakowa, Professorin für Filmwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: russische und europäische Avantgarde, speziell Sergej Eisenstein und Dsiga Wertow; Körpersprache im Film; frühe Tonexperimente; visuelle Kultur des Stalinismus; Architektur und Film; Film und Gedächtnis, russische Filmemigranten in Europa und den USA; die Stimme im Film. Agustín Corti, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Salzburg. Forschungsschwerpunkte: Theorien des Selbst in Philosophie und Literatur, Identität und Interkulturalität in Kulturwissenschaft und Didaktik (Schwerpunkt Hispanoamerika), Hermeneutische und phänomenologische Philosophie des Zeitbegriffs. Patrick Greaney, Associate Professor für Germanistik und Komparatistik an der University of Colorado Boulder, USA. Forschungsschwerpunkte: deutschsprachige und französische Literatur des 20. Jahrhunderts, Geschichte und Theorie der Avantgarde, zeitgenössische Kunst.

274 | AUTORENBIOGRAPHIEN

Karin Hoff, Professorin für Neuere Skandinavistik an der Universität Göttingen. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Kultur des 18. Jahrhunderts, der Frühen und Klassischen Moderne; Skandinavisches Drama und Theater; Verhältnis von Kunst und Religion sowie intermediale Grenzüberschreitungen, insbesondere Text-Bild-Relationen. Georg Howanitz, Wissenschaftlicher Mitarbeiter (Doktorand) sowie Stipendiat der Österreichischen Akademie der Wissenschaften am Lehrstuhl für Slavische Literaturen und Kulturen, Universität Passau. Forschungsschwerpunkte: neueste russische, tschechische und polnische Literatur, Netzkultur, Computerspiele, Digital Humanities und faktuales vs. fiktionales Erzählen. Christopher F. Laferl, Professor für Iberoromanische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Salzburg. Forschungsschwerpunkte: spanische Literatur und Kultur der Frühen Neuzeit, lateinamerikanische Literatur und Popularkultur des 20. Jahrhunderts (v. a. Karibik und Brasilien), Kulturbeziehungen zwischen Spanien und Österreich, Geschichte und Theorie der Auto/Biographie. Barbara Lange, Professorin für Kunstgeschichte an der Eberhard Karls Universität, Tübingen. Forschungsschwerpunkte: identitätsstiftende Funktion von Kunst vor allem in der Moderne in Deutschland, Bildmedien und Bildtheorien sowie Wissenschaftsgeschichte und Kunst. Anja Tippner, Professorin für Slavistische Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Theorien und Formen auto/biographischen Schreibens und der Dokumentation; Extremsituationen als ästhetische und kulturelle Herausforderung; Jüdische Narrative in Osteuropa. Birgit Wagner, Professorin für Romanische Literatur- und Medienwissenschaft an der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: historische Avantgarden, insbesondere Surrealismus, sardische Gegenwartskultur (Literatur und Film), Literatur der Frühen Neuzeit und der Aufklärung in Italien und Frankreich, kulturwissenschaftliche Theorie, Translation Studies.

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Gerald Kapfhammer, Friederike Wille (Hg.) »Grenzgänger« Mittelalterliche Jenseitsreisen in Text und Bild

August 2014, 298 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2320-8

Dezember 2014, 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., 31,80 €, ISBN 978-3-89942-888-9

Vittoria Borsò (Hg.) Wissen und Leben – Wissen für das Leben Herausforderungen einer affirmativen Biopolitik (unter Mitarbeit von Sieglinde Borvitz, Aurora Rodonò und Sainab Sandra Omar)

Vincent Kaufmann, Ulrich Schmid, Dieter Thomä (Hg.) Das öffentliche Ich Selbstdarstellungen im literarischen und medialen Kontext

Oktober 2014, ca. 370 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2160-0

Frédéric Döhl, Renate Wöhrer (Hg.) Zitieren, appropriieren, sampeln Referenzielle Verfahren in den Gegenwartskünsten Januar 2014, 288 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2330-7

Alexander Fleischmann, Doris Guth (Hg.) Kunst – Theorie – Aktivismus Emanzipatorische Perspektiven auf Ungleichheit und Diskriminierung Mai 2015, ca. 260 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2620-9

Christian Hißnauer, Stefan Scherer, Claudia Stockinger (Hg.) Zwischen Serie und Werk Fernseh- und Gesellschaftsgeschichte im »Tatort« Oktober 2014, ca. 414 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,99 €, ISBN 978-3-8376-2459-5

August 2014, 226 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2409-0

Tobias Nanz, Johannes Pause (Hg.) Politiken des Ereignisses Mediale Formierungen von Vergangenheit und Zukunft Oktober 2014, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1993-5

Michael Niehaus, Wim Peeters (Hg.) Rat geben Zu Theorie und Analyse des Beratungshandelns Januar 2014, 328 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2359-8

Brigitte Obermayr Datumskunst Zeiterfahrung zwischen Fiktion und Geschichte Dezember 2015, ca. 160 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 17,80 €, ISBN 978-3-89942-921-3

Manfred Pfaffenthaler, Stefanie Lerch, Katharina Schwabl, Dagmar Probst (Hg.) Räume und Dinge Kulturwissenschaftliche Perspektiven Mai 2014, 350 Seiten, kart., 38,99 €, ISBN 978-3-8376-2420-5

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

2014-07-29 13-53-29 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 03c6373051041582|(S.

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3) ANZ2215.p 373051041646

Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Gudrun Rath(Hg.)

Zombies Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2014

Mai 2014, 120 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2689-6 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften ­– die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Wenn die Toten zum Leben erwachen: Die Figur des Zombie ist nach wie vor populär. Aber was genau ist ein Zombie und woher rührt seine Faszinationskraft? Das aktuelle Heft der ZfK geht dem auf den Grund. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 15 Ausgaben vor. Die ZfK kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 25,00 € (international 30,00 €) bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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