Iberische Europa-Konzepte: Nation und Europa in Spanien und Portugal seit dem 19. Jahrhundert [1 ed.] 9783428531103, 9783428131105

Die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes thematisieren Konzepte Europas spanischer und portugiesischer Autoren

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Iberische Europa-Konzepte: Nation und Europa in Spanien und Portugal seit dem 19. Jahrhundert [1 ed.]
 9783428531103, 9783428131105

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CHEMNITZER EUROPASTUDIEN

Band 10

Iberische Europa-Konzepte Nation und Europa in Spanien und Portugal seit dem 19. Jahrhundert

Herausgegeben von Teresa Pinheiro

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

TERESA PINHEIRO (Hrsg.)

Iberische Europa-Konzepte

Chemnitzer Europastudien Herausgegeben von Frank-Lothar Kroll und Matthias Niedobitek

Band 10

Iberische Europa-Konzepte Nation und Europa in Spanien und Portugal seit dem 19. Jahrhundert

Herausgegeben von Teresa Pinheiro

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Werksatz, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1860-9813 ISBN 978-3-428-13110-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Die Erfindung Europas auf der Iberischen Halbinsel Von Teresa Pinheiro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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A. Europa-Ideen im Zeitalter der Iberischen Nationalismen I. Spanien: Zwischen Abkehr und Hinwendung zu Europa 1. Spanien im 19. Jahrhundert: Spannungen, Niederlagen, Krisen Von Julia Kasperczak . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Antieuropäisches Denken bei Donoso Cortés und Ángel Ganivet Von Katrin Kreißig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Spanische Europäisten: Francisco Pi y Margall und Joaquín Costa Von Johannes Kunath . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Europa als Faszinosum und Gegenbild im Portugal des 19. Jahrhunderts 1. Portugal im 19. Jahrhundert Von Tanja Olischer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Europa im Denken von Antero de Quental Von Katja Schneider . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Eça de Queirós’ Europaidee in Stadt und Gebirge Von Eva Gräfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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B. Vorstellungen Europas während der Iberischen Diktaturen III. Europa als ideologischer Zankapfel der ‚Zwei Spanien‘ 1. Europa im Franquismus: Ideologische Distanz und wirtschaftliche Annäherung Von Constanze Roscher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

2. Europa als Alternative: Die Idee Europas bei José Ortega y Gasset Von Carola Graupner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Die Vielfalt Europas in Salvador Madariagas Porträt Europas Von Claudia Mehardel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Portugal zwischen Atlantik und Europa 1. Auf Umwegen nach Europa: Die Europapolitik des Estado Novo Von Friedemann Brause . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 2. Portugal und Europa im Werk Eduardo Lourenços Von Christoph Schmitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 C. Europa-Konzepte auf dem Weg nach Europa V. Spanische Blicke auf Europa während des Integrationsprozesses 1. Der Beitritt Spaniens zur Europäischen Gemeinschaft Von Judith Varga . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 2. Europa-Diskurse spanischer Intellektueller im Kontext des Beitritts zur EG Von Beatrice Schäfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 3. Der Blick von außen: Spanien und Europa in Juan Goytisolos Spanien und die Spanier Von Gordana Martinovi´c . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 VI. Portugal: Vom Atlantik nach Europa? 1. Portugals Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft Von Nora Däberitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 2. José Saramagos Idee von Europa im Roman Das steinerne Floß Von Cornelius Mutschler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160

Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Zu den Autoren und Autorinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180

Die Erfindung Europas auf der Iberischen Halbinsel Von Teresa Pinheiro Als welch ungeheure Barriere die Pyrenäen die Iberische Halbinsel von Frankreich und vom übrigen Europa absperren. Ja, jenseits liegt etwas ganz anderes, da muß eine besondere Welt sich auftun! 1

Mit kraftvollen Worten beschreibt der deutsche Historiker Willy Andreas seine Überquerung der Pyrenäen auf dem Flug nach Madrid. Die überwältigende Größe des Gebirges lässt den Reisenden hinter dem Koloss das Fremde geradezu erwarten. Die Reisenotizen seines Aufenthaltes in Spanien und Portugal belegen, dass seine exotisierende Erwartung erfüllt wurde. Denn fortwährend betont Andreas die Andersartigkeit der iberischen Kulturen im Vergleich zum nördlichen Europa. In Musik und Trachten, in der Physiognomie und im Verhalten attestiert Andreas den Bewohnern das Erbe jüdischen und vor allem maurischen Blutes und zieht den kategorischen Schluss: „Das hier ist Orient, nicht mehr Europa“. 2 Mit der Einsicht, dass die Pyrenäen nicht nur eine geographische, sondern auch eine kulturelle Barriere zwischen der Iberischen Halbinsel und dem restlichen Europa bildeten, stand der Autor keineswegs allein. Vielmehr knüpfen diese Aussagen an einen verbreiteten literarischen Diskurs an, der auf der Iberischen Halbinsel das Fremde lokalisierte. Hans Christian Andersen besang in einem Gedicht von 1838 Spanien als „das Zauberland hinter den Pyrenäen“. 3 Die extreme Andersartigkeit der Iberischen Halbinsel veranlasste viele Autoren zur Topos gewordenen Feststellung, Afrika beginne in den Pyrenäen. 4 Noch in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts sind deutsche Schriften wie Afrika beginnt hinter den Pyrenäen 5 oder Spanien, das Land zwischen Afrika und Europa 6 erschienen, die an diesen locus ibericus anknüpfen. Das mental mapping einer von Europa 1 2 3 4 5 6

Andreas 1949: 23. Andreas 1949: 39. Zit. nach Perlet 1968: 364. Vgl. Armbruster 1999: 1499. Nolden 1932. Schmid 1937.

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Die Erfindung Europas auf der Iberischen Halbinsel

abgetrennten Iberischen Halbinsel wurde mit den unterschiedlichsten rhetorischen Funktionen bemüht, die vom verklärten Exotismus der Romantiker bis hin zum Ausschluss Spaniens und Portugals aus der politischen Weltordnung des Kalten Krieges reichen. Doch wie sahen spanische und portugiesische Politiker und Intellektuelle selbst das Verhältnis der iberischen Staaten und Kulturen zu Europa? Bemühten sie ebenfalls den Mythos der kulturellen Andersartigkeit der iberischen Geschichte und Kultur, der überseeischen Bestimmung und intakten Katholizität, die sie vom Europa nördlich der Pyrenäen trennten? Oder sahen sie Spanien und Portugal stets als untrennbaren Teil Europas? In beiden Fällen liegt ein bestimmtes Verständnis dessen zugrunde, was Europa ausmacht. Was bedeutet also für spanische und portugiesische Autoren Europa und was trennt es von oder verbindet es mit Iberien?

1. Nation und Europa auf der Iberischen Halbinsel Die Diskussion um eine europäische Identität Spaniens und Portugals begann nicht mit dem Beitritt der beiden Länder in die damalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft im Jahr 1986. Obwohl erst der Beitritt die politische Zugehörigkeit zu Europa institutionalisierte, haben iberische Denker im Laufe der Jahrhunderte eine europäische Identität Spaniens und Portugals reflektiert und dabei Europakonzepte entworfen, die aufgrund ihrer Aktualität faszinieren. Das 19. Jahrhundert bildet hierbei in beiden Ländern einen fruchtbaren Boden für das Nachdenken über die Nation und Europa. Kaum ein Thema beschäftigte die portugiesischen und spanischen Intellektuellen des ausgehenden 19. Jahrhunderts mehr als die Erkundung der Gründe für die Rückständigkeit – für die ‚Dekadenz‘, um den zeitgenössischen Begriff zu bemühen – der beiden Staaten im Vergleich zum modernen, industriellen Europa. Insbesondere die Niederlage im Kuba-Krieg 1898 gegen die Vereinigten Staaten und der daraus resultierende Verlust der letzten amerikanischen Kolonien stellten die spanischen Schriftsteller vor Fragen nach der nationalen Identität und Zukunft. Von einer Weltmacht in der frühen Neuzeit auf die peninsulare Größe im ausgehenden 19. Jahrhundert geschrumpft, bot sich Europa als übernationaler Bezug der Identitätsstiftung an. Auch Portugal erlebte eine außenpolitische Niederlage in seinem Selbstverständnis als koloniale Macht. Als die britischen und portugiesischen imperialistischen Interessen in Afrika aufeinander prallten, und Portugal daraufhin den britischen Forderungen des Ultimatums von 1890 nachgeben musste, stürzte das Land in eine Woge patriotischer Aufwallung. Das koloniale Element als Bestandteil nationaler Identität wurde in seinen Fundamenten erschüttert. Die Antworten, die von den Intellektuellen und Politikern auf die Frage einer europäischen Hinwendung Spaniens und Portugals gegeben wurden, könnten

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kaum unterschiedlicher sein. Sie spiegeln die ideologischen Strömungen wider, die im 19. Jahrhundert auf der Iberischen Halbinsel vorherrschend waren. 7 Kritiker des iberischen Status quo wie Joaquín Costa oder Antero de Quental sahen in Europa den Hort jenes Fortschritts und der rationalen Wissenschaft, die sie sich für Iberien wünschten. Traditionalisten wie Donoso Cortés hingegen sahen in der Iberischen Halbinsel die letzte Bastion des Christentums in einem untergehenden Europa und forderten wie Ángel Ganivet die Rückbesinnung auf die eigenen Werte. Doch allen war eines gemeinsam: Sowohl in ihren Wunschäußerungen, Spanien und Portugal zu europäisieren, als auch in ihrer Ablehnung einer europäischen Identität Iberiens vertiefen sie in ihren Reflexionen die Kluft zwischen Europa und der Iberischen Halbinsel noch weiter. Joaquín Costa scheute nicht davor zurück, das Topos des afrikanischen Spaniens zu verwenden, um die Rückständigkeit des Landes im Vergleich zu Europa anzuklagen und anschließend zu fordern: Afrika solle in Europa verwandelt werden. Sogar eine solche Europa bejahende Position, die eine Entafrikanisierung und die Europäisierung Spaniens forderte, 8 lässt die Ansicht erkennen: Spanien – und implizit auch Portugal – war auch für den überzeugendsten Europäisten (noch) nicht Europa. Mit der Etablierung der Rechtsdiktaturen von Francisco Franco und Oliveira Salazar in den 1930er Jahren wurde die Auffassung einer nicht-europäischen Identität der Iberischen Halbinsel ideologisch instrumentalisiert. Sowohl der spanische als auch der portugiesische Neue Staat verurteilten die demokratischen Werte der Republik. Insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg, als Spanien und Portugal mit ihren Regimes in Europa isoliert waren, erhielt der Mythos des iberischen Sonderwegs politische Bedeutung. Portugal und Spanien seien einer anderen historischen Tradition verpflichtet als die Länder nördlich der Pyrenäen, hieß es. Der Katholizismus und die koloniale Bestimmung haben die beiden Staaten und ihre Kulturen geprägt – somit ebenfalls ihre Regierungsform. Mit dieser Auffassung, die im Motto des Franquismus España es diferente (dt.: Spanien ist anders) und Salazars orgulhosamente sós (dt.: Mit Stolz allein) ihren prägnantesten Niederschlag findet, versuchten die Diktatoren, sich der Forderung einer Demokratisierung der iberischen Staaten zu entziehen. Doch auch wenn Portugal und Spanien bis zum Ende ihrer Diktaturen in der politischen Praxis des Franquismus und des Estado Novo eine ideologische Abkehr von Europa erlebten, führte ausgerechnet die angestrebte Autarkiepolitik beider Länder bald an einen Wendepunkt. Die faktische Notwendigkeit, an dem sich konstituierenden europäischen Binnenmarkt teilzuhaben, ließ Franco und Salazar ab den 1960er Jahren eine Gratwanderung zwischen politisch-ideologischer Abkehr und wirtschaftlicher Annäherung an Europa vollführen.

7 8

Vgl. Navajas 1997: 236. Vgl. Beneyto 1999: 63.

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2. Inszenierung europäischer und nationaler Identität nach dem EU-Beitritt Als am 1. Januar 1986 beide iberischen Länder der Europäischen Gemeinschaft beitraten, signalisierten sie die Bereitschaft zur Integration, ja sogar den Wunsch, als europäische Staaten anerkannt zu werden. Mit dieser pro-europäischen Haltung verbannten sie die Autarkiebestrebungen der langen Diktaturzeit aus dem kollektiven Gedächtnis. Trotz einiger Bedenken, vor allem gegen die Gemeinsame Agrarpolitik, stimmten sowohl das spanische als auch das portugiesische Parlament mit großer Mehrheit dem Beitritt zur damaligen EWG zu. Beide Länder versprachen sich davon einen wirtschaftlichen Aufschwung, der ihnen aus der Rückständigkeit heraus helfen sollte, die seit dem 19. Jahrhundert beklagt worden war. Darüber hinaus aber erhofften sie sich von der Angliederung an Europa eine Stabilisierung ihrer noch jungen Demokratien. Damit vollzogen sie eine entschiedene Abkehr von der Isolationspolitik Francos und Salazars. Sich einem föderativen Bund zu nähern, sich als Teil dieses supranationalen Bundes namens Europa zu sehen, ist kein leichtes Unterfangen. Es setzt zum einen voraus, dass die Idee der Nation ihre identitätsstiftende Funktion mit der Idee einer übernationalen Struktur teilen muss. Es erfordert zum anderen, dass die Grundwerte, durch die sich Europa definiert, geteilt werden. Zu diesen Grundwerten gehören die Demokratie als politisches Prinzip, die Beachtung der Menschenrechte und die Ablehnung jeglicher Form von kolonialer Beherrschung anderer Völker. In Spanien wie in Portugal gehörte jedoch die koloniale Vergangenheit bis zum Ende der Diktaturen – und zwar in Gestalt einer apologetischen Erinnerung an ihren (einstigen) Kolonialbesitz – zu einem festen Bestandteil der nationalen Identität. Es stellt sich daher die Frage: Wie ließ sich die Bejahung Europas durch den Beitritt mit dem Erbe der kolonialen Vergangenheit in der Inszenierung spanischer und portugiesischer Nationalidentität vereinbaren? Welche Funktion konnte unter europäischen Bedingungen die koloniale Vergangenheit für die Konstruktion einer nationalen Identität noch erfüllen? Im Jahr 1992 war Spanien seit sechs Jahren Mitglied der EU und befand sich im Zenit des wirtschaftlichen Aufschwungs und des Europa-Optimismus. Es war also folgerichtig, dass das offizielle Spanien drei Veranstaltungen mit internationaler Resonanz nutzte, um den acquis communautaire sichtbar zu zelebrieren. Die Olympischen Spiele in Barcelona, die Weltausstellung in Sevilla und die Einsetzung Madrids als europäische Kulturhauptstadt gaben Gelegenheit zu zeigen, dass Spanien den Anschluss zur europäischen Kultur und damit auch zur Modernität erfolgreich geschafft hatte. Mit großem technologischem Aufwand wurden die Olympischen Spiele veranstaltet, pünktlich zur Weltausstellung wurde eine Trasse für Hochgeschwindigkeitszüge zwischen Madrid und Sevilla eröffnet, Autobahnen wurden gebaut, und sogar ein erster spanischer Satellit wurde ins All geschickt. Das Publikum sollte staunen und erkennen: Spanien ist der Übergang

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von der España profunda (dt.: dem tiefen Spanien) zur España europea (dt.: dem europäischen Spanien) gelungen. Spanien inszenierte sich aber im Jahre 1992 nicht nur als ein modernes Land, sondern auch als eine ehemalige Entdeckernation. Denn 1992 war das Jubiläumsjahr der Ankunft Christoph Kolumbus’ in Amerika. Ganz bewusst war Sevilla als Ort für die Weltausstellung ausgewählt worden. Sevilla erinnert an die Zeit der großen Eroberungsfahrten. Die Stadt besaß seit der Entdeckung Amerikas das Monopol für den Überseehandel; hier befand sich die Casa de Contratación, der Sitz des Indienrates, dem die Verwaltung aller spanischen Kolonien oblag. Schließlich war auch der Ort für die Weltausstellung historisch reich an Bedeutung. Die Expo 92 fand auf der Halbinsel von La Cornija in Sevilla statt, wo auch das Kloster Santa María de las Cuevas liegt. In diesem Kloster hat Kolumbus einige Jahre seines Lebens verbracht, hier wurde er schließlich begraben. Luis Yañez, der Leiter der Nationalkommission für die Feierlichkeiten des 500. Jahrestages der Entdeckung Amerikas, fasste die offizielle Sicht zusammen: „Zweifellos müssen wir stolz darauf sein, dass unsere Vorfahren die Protagonisten dieses Ereignisses [der Entdeckung Amerikas] waren, das für die Menschheitsgeschichte so entscheidend war“. 9 Im selben Jahr durfte sich auch der iberische Nachbar nach außen präsentieren. Portugal hatte 1992 die EU-Präsidentschaft inne, so dass der Europäische Rat in Lissabon tagte. Für diesen Anlass wurde eine Tagungsstätte gebaut, das Kulturzentrum von Belém in Lissabon, ein hochmoderner, ästhetisch ansprechender Bau, mit dem sich Portugal als ein moderner, europaorientierter Staat präsentierte. Das Zentrum entstand aber nicht irgendwo in Lissabon, sondern im historisch aufgeladenen Stadtteil Belém. Von dort waren die Karavellen im 15. und 16. Jahrhundert nach Indien und nach Brasilien losgesegelt; dort befinden sich noch heute die architektonischen Höhepunkte des Entdeckungszeitalters, und dort hatte bereits im Jahre 1940 Salazar die Kolonialausstellung O mundo português (dt.: Die portugiesische Welt) veranstaltet, deren Überreste bis heute zu sehen sind. Man kann das Kulturzentrum nicht betreten, ohne an den Kolonialmonumenten vorbei zu defilieren. Als es dann an der Zeit war, die portugiesischen Entdeckungen zu feiern, fand auch in Portugal eine Weltausstellung statt, und zwar im Jahre 1998 in Lissabon. Mit dem geschickt gewählten Leitthema ‚Ozeane‘ konnte sich Portugal als Entdeckernation weltweit in Szene setzen, denn genau 500 Jahre zuvor hatte Vasco da Gama den Seeweg nach Indien entdeckt. Die Umsetzung war konsequent: Vasco da Gama heißt das moderne Einkaufszentrum, das auf dem Gelände der Expo errichtet wurde. Und auch die Brücke über den Tejo, die anlässlich der 9 Yáñez 1989 – 90: 14. Übersetzung der Autorin, Original: „Sin lugar a dudas debemos sentirnos orgullosos porque nuestros antepasados fueron los protagonistas de este acontecimiento [el descubrimiento de América] tan decisivo para la historia de la humanidad.“

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Expo gebaut wurde – eine straßenbauliche Meisterleistung –, auch sie heißt Vasco da Gama. Wie Spanien inszenierte sich das offizielle Portugal als ein moderner, europäischer Staat und im gleichen Atemzug als ehemalige Entdeckernation. Diese Inszenierung nationaler Identität kurz nach dem Beitritt Spaniens und Portugals zur Europäischen Gemeinschaft ist symptomatisch für das spannungsreiche Verhältnis zwischen der Inanspruchnahme einer europäischen Identität der iberischen Länder und der Überzeugung eines Sonderwegs. Sie illustriert ebenfalls den Prozess der Selbstfindung der beiden Länder zwischen dem autistischen Dornröschenschlaf der Diktaturzeit und der Eingliederung in das politische Europa. Die Überhöhung der Technologie in den Veranstaltungen, durch die sich Portugal und Spanien als Neuankömmlinge im europäischen Haus präsentierten, ist ein später Widerschein dessen, was die Europa-Debatten der iberischen Intellektuellen am meisten geprägt hatte: die schmerzhafte Konstatierung der iberischen ‚Dekadenz‘. Dabei besteht der Dekadenz-Diskurs aus zwei Topoi: der vergangenen – kolonialen – Größe und der verpassten Modernisierung. Die Iberische Halbinsel, die sich in den 1990er Jahren der Welt präsentierte, versuchte, mit dem Rückständigkeitsmythos aufzuräumen, indem sie sich zu Fortschritt und Modernisierung bekannte; zugleich beharrten beide Länder auf der kolonialen Vergangenheit als einem Teil ihres Sonderwegs. Gerade dieses historische Erbe diente durch die Verankerung der Afrika- und Lateinamerika-Beziehungen in die eigene EuropaPolitik der Selbstfindung der beiden Länder im europäischen Konzert.

3. Zu den Beiträgen des Bandes Der vorliegende Band versammelt Beiträge, die von Studentinnen und Studenten der Technischen Universität Chemnitz im Rahmen des Forschungsseminars Iberische Europa-Konzepte erarbeitet wurden. Die Studierenden teilen das Interesse an Europa und die Wahrnehmung Spaniens und Portugals als durch und durch europäische Länder. Die meisten von ihnen sind nur wenig älter als die EU-Mitgliedschaft Portugals und Spaniens. An das Erbe der Diktaturen, das beiden Staaten den Weg in die Europäische Gemeinschaft zuweilen erschwerte, und an die Furcht der Unionsmitglieder vor den zu hohen Kosten der Integration zweier ökonomisch rückständiger Mitgliedstaaten mit instabilen Demokratien haben sie keine individuelle Erinnerung. Die iberischen Länder, die sie aus ihren Reisen und Studienaufenthalten kennen, sind zwei moderne, demokratische, friedliche Staaten, in denen Wohlstand herrscht und die Menschenrechte respektiert werden – zwei europäische Staaten. Der Kontrast zwischen Vergangenheit und Gegenwart machte es reizvoll, nach iberischen Europa-Konzepten zu forschen. Das Projekt Iberische Europakonzepte verfolgt das Ziel, die Bedeutung Europas in den Reflexionen spanischer und portugiesischer Politiker, Intellektueller und Literaten des 19. und 20. Jahrhunderts zu Fragen nach nationaler Identität heraus-

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zuarbeiten. Denn Europa-Entwürfe entstehen meist im Zusammenhang mit dem Nachdenken über die eigene – nationale – Identität. 10 Die zeitliche Schwerpunktsetzung ergibt sich aus der Tatsache, dass insbesondere ab der Industrialisierung Europas in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Topos der iberischen Dekadenz in den Reflexionen über nationale Identität auf der Iberischen Halbinsel an Gewicht gewann. Der Schwerpunkt liegt dabei auf drei für das Thema relevanten Epochen: (i) dem Zeitalter des Nationalismus, der Auseinadersetzungen zwischen Liberalen und Konservativen ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der kolonialen ‚Desaster‘ der 1890er Jahre; (ii) der Zeit der autoritären Regimes des spanischen Franquismus und des portugiesischen Estado Novo, die eine Autarkie und Differenzierung von Europa anstrebten, zugleich aber ungewollt eine Generation der alternativ denkenden Intellektuellen hervorbrachten; (iii) dem Demokratisierungsprozess ab Mitte der 1970er Jahre mit der damit einhergehenden Hinwendung zu Europa, die im Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft kulminierte. Die historische Erkundung iberischer Reflexionen über Europa beginnt im 19. Jahrhundert, einer Epoche, die für das Spannungsverhältnis zwischen Europa und den beiden Nationen bestimmend war. Der Beitrag von Julia Kasperczak arbeitet die komplexen Facetten der spanischen Innen- und Außenpolitik des 19. Jahrhunderts heraus, die für das Verständnis der zeitgenössischen Ideen über das Verhältnis Spaniens zu Europa von Bedeutung sind und die im Wesentlichen im Kontext der 1898er Generation entstanden. Eine ähnliche Arbeit leistet der Beitrag von Tanja Olischer für den portugiesischen Nachbarn. Die Aufsätze zeigen, dass sich auf der Iberischen Halbinsel im Zuge der Befreiungskriege gegen Napoleon das nationale Bewusstsein entscheidend gefestigt hat. Die politischen Kämpfe zwischen Liberalen und Konservativen spalteten dann sowohl Spanien als auch Portugal und führten zu ideologischen Gräben, die auch in den Reflexionen über das Verhältnis zu Europa ihren Niederschlag finden. Die spanische 1898er Generation und die 1870er Generation in Portugal, so verschieden und vielfältig sie auch in ihren Zielsetzungen waren, erscheinen uns im historischen Rückblick als das Gewissen zweier Nationen, die sich im ‚dekadenten‘ Zustand erkennen, das heißt eingezwängt zwischen dem Verlust kolonialer Macht und Größe und einem unüberwindbaren Rückstand zum fortschrittlichen, überwiegend protestantischen Europa. 11 Wie unterschiedlich sich die verschiedenen Denker die Überwindung der Krise nationaler Identität ausmalten und welche Rolle Europa in solchen Visionen spielte, zeigen uns die materialen Kapitel dieses ersten Teils. Der Beitrag von Katrin Kreißig widmet sich zwei Autoren, die zu unterschiedlichen Zeiten und aus verschiedenen Motiven antieuropäische Positionen einnehmen. Juan Donoso 10 11

Vgl. Albuquerque 1980: 14. Vgl. Bernecker 2004: 453.

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Cortés spricht als Politiker in der Mitte des 19. Jahrhunderts sein Unbehagen gegen die europäischen Revolutionen aus, die die Unsicherheit in Europa verbreiten. Ángel Ganivet argumentiert weniger politisch als vielmehr geistesgeschichtlich für die Notwendigkeit einer Hispanisierung, verstanden als die Rückbesinnung zu den hispanischen Werten in Abkehr zu Europa. Mit diesen Ansichten kontrastieren die Ideen von Pi y Margall und Joaquín Costa, die im Beitrag von Johannes Kunath herausgearbeitet werden. In seiner Kritik des spanischen oligarchischen Zentralismus entwickelt Pi y Margall nicht nur die Vision eines föderalistischen Spaniens, sondern auch die Utopie eines Europas der Regionen und der kulturellen Vielfalt. Auch Costa wendet sich nach Europa, wo er soziale und wirtschaftliche Modelle für die Überwindung der spanischen Krise zu finden glaubt. Europäisierung bedeutet für Costa Modernisierung nicht nur der Wirtschaft, sondern auch des Staates und der Gesellschaft. Während Joaquín Costa bei seinem Paris-Aufenthalt das moderne Europa vor Augen geführt bekam, hielt der Portugiese Antero de Quental in Lissabon seinen berühmten Vortrag Ursachen des Verfalls der iberischen Völker in den letzten drei Jahrhunderten (1871). Katja Schneider analysiert in dieser und in weiteren Schriften des bedeutenden Vertreters der 1870er Generation die inhärenten EuropaIdeen. Seine Kritik an der Rückständigkeit Portugals ist, ähnlich wie Costas, gelenkt vom Fortschrittsglauben. 12 Auf der Suche nach den Ursachen für den defizitären Zustand der iberischen Völker hebt Quental den Katholizismus hervor, der ab dem 16. Jahrhundert die Iberische Halbinsel von Europa getrennt und für Despotismus, Intoleranz und mangelnden technischen und wissenschaftlichen Fortschritt gesorgt habe. Die entschieden positive Besetzung Europas in der 1870er Generation wird im Aufsatz von Eva Gräfer relativiert. Die Autorin analysiert das Spätwerk des mit Antero de Quental bedeutendsten Vertreters der Generation, Eça de Queirós. Queirós, der in seinen weiteren Werken Europa als Inbegriff des Fortschritts und der Offenheit dem zurückgebliebenen, hinterwäldlerischen Portugal gegenüberstellt, entwirft in Stadt und Gebirge ein differenziertes Bild der beiden Welten. Ohne die Opposition zu brechen – Portugal bleibt auch hier rückständig und Europa fortschrittlich – relativiert Queirós seine Wertung. Die Hauptfigur erkennt die Vorzüge der ruralen Existenz im Gegensatz zur Urbanität. In diesem zivilisationskritischen, ja proto-ökologischen Werk betont Queirós den hohen Preis der Modernisierung und stellt diese letztlich in Frage. Die Beiträge der zweiten Sektion sind der Europa-Politik der iberischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts sowie den damit kontrastierenden Europa-Konzepten regime-kritischer Autoren gewidmet. Der Aufsatz von Constanze Roscher beschäftigt sich mit der Rolle Europas in der Ideologie des Franquismus. Die Autorin zeichnet den Wandel der Politik Francos im Laufe der Jahrzehnte und die wirt12

Vgl. Albuquerque 1980: 36.

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schaftlich erzwungene Annäherung an den europäischen Markt nach, die neben der ideologischen Distanzierung von den europäischen Werten der Demokratie und Freiheit Bestand hielt. 13 Zu ähnlichen Ergebnissen führen die Nachforschungen von Friedemann Brause zur Europa-Politik des Estado Novo. Dessen Annäherung, so Brause, war ebenfalls rein wirtschaftlich motiviert gewesen, eine politische Hinwendung zu Europa hat bis 1974 warten müssen. Ein Kontrast zur ideologisch und politisch begründeten Autarkie der Diktaturen bieten die Europa-Konzepte von spanischen und portugiesischen Autoren, die dem Regime kritisch bis feindlich gegenüber standen. Der Aufsatz von Carola Graupner widmet sich einem nicht nur in Spanien, sondern auch im Ausland rezipierten Europa-Denker: José Ortega y Gasset. Dieser plädiert durchaus in der Linie Costas für eine Europäisierung Spaniens. Was ihn jedoch auch heute noch zu einem aktuellen Europa-Denker macht, ist die Tatsache, dass er sich nicht nur mit dem Verhältnis zwischen Spanien und Europa befasste, sondern auch die Umrisse einer europäischen Identität allgemein erkundete. Die Aktualität seines Denkens im heutigen Integrationsprozess wird in einer Analyse seines 1953 in München gehaltenen Vortrags „Gibt es ein europäisches Bewusstsein?“ herausgearbeitet. Zwei Jahre zuvor war das Buch Bosquejo de Europa (dt.: Porträt Europas) von Salvador de Madariaga erschienen. Wie Ortega y Gasset ging auch Madariaga mit dem Ende der Zweiten Republik ins Exil. Seine Reflexionen gehen – wie uns der Beitrag von Claudia Mehardel zeigt – ebenfalls über das Verhältnis Spaniens zu Europa hinaus. So erkennt er in der Vielfalt der Völker Europas das Wesen des Kontinents. Diese Analysen zeigen, dass sich die dos Españas an der Einstellung gegenüber Europa schieden. Der Beitrag von Christoph Schmitt legt uns diesen Schluss auch für den portugiesischen Fall nahe. Eduardo Lourenço, der das Land 1954 ins selbst gewählte Exil verließ, ist bis heute ein überzeugter Europäist geblieben. Ausgehend von einer Erkundung in der portugiesischen Geistesgeschichte nach Ursachen für das komplexe Verhältnis zwischen Portugal und Europa fordert der Autor dazu auf, die Skepsis gegen Europa, die er als Erbe des Estado Novo ansieht, abzulegen. Die dritte Sektion des Buches beschäftigt sich mit dem Kontext des Beitritts Portugals und Spaniens zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Der Beitrag von Judith Varga zum Beitrittsprozess Spaniens und der Artikel von Nora Däberitz zu Portugals Beitritt zur EWG machen deutlich, dass sich mit der Demokratisierung die politische Einstellung gegenüber Europa in beiden Ländern entscheidend geändert hat. Wenn die Beitrittsverhandlungen zuweilen träge voranschritten, so lag dies im Wesentlichen an der Einstellung der Unionsmitglieder zu den beiden Neuankömmlingen – nicht umgekehrt. Dass dieses Naserümpfen zu einer gewissen Ernüchterung unter spanischen Intellektuellen führte, wird im Beitrag von Beatrice Schäfer deutlich. Die Autorin widmet sich darin den Diskussionen 13

Vgl. Navajas 1997: 235.

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über den EWG-Beitritt unter spanischen Intellektuellen. Trotz der Kritik an den verzögerten Verhandlungen teilten die meisten Autoren die Meinung, dass die europäische Integration als ein Garant für die junge Demokratie positiv sei und dem europäischen Charakter des Landes Rechnung trage. Eine neue Bestimmung für Spanien sahen einige Autoren in der Sonderrolle Spaniens als Drehscheibe zwischen Europa und Lateinamerika. Die detaillierte Textanalyse von Juan Goytisolos España y los españoles (dt.: Spanien und die Spanier), die Gordana Martinovi´c in ihrem Beitrag unternimmt, zeigt ein ähnliches Bild. Goytisolo steht dem spanischen Individualismus alter Tradition kritisch gegenüber und sieht die europäische Integration entsprechend als eine positive Errungenschaft. Dennoch mahnt der katalanische Autor zur Notwendigkeit, die eigene Identität im Kontext der Europäisierung zu wahren. Der Roman A jangada de pedra (dt.: Das steinerne Floß) des portugiesischen Nobelpreisträgers José Saramago schließt – wie Cornelius Mutschler in seinem Beitrag zeigt – skeptischer ab. Saramago lässt in diesem Buch, das ausgerechnet im Jahr des iberischen EWG-Beitritts erschien, die Iberische Halbinsel sich vom Kontinent trennen und orientierungslos auf dem Atlantik dahin driften. Unterdessen lässt er die Geschichte Portugals und Spaniens zwischen kolonialer Herrschaft und europäischer Hinwendung Revue passieren. Nicht in Richtung Europa sollten sich die iberischen Staaten orientieren, sondern sie sollten zur eigenen Identität stehen – einer Identität, die auch das koloniale Erbe beinhalte. Das treibende ‚steinerne Floß‘ kommt jedenfalls ausgerechnet zwischen Afrika und Lateinamerika zum Stehen. Obwohl die chronologische Darstellung der Übersicht halber gewählt wurde, zeigen die Beiträge dieses Bandes keine kontinuierliche Entwicklung von einer Isolation hin zur Europäisierung. Vielmehr war den Autoren und Autorinnen daran gelegen, der Heterogenität der Europa-Entwüfe in derselben Epoche und sogar im Werke desselben Autors Rechnung zu tragen. Diese Epochen werden nicht als monolitische Größen behandelt, die homogene Diskurse entstehen ließen, sondern als komplexe Geflechte von Positionen und Negationen, die stets der Differenzierung bedürfen. In jeder dieser Epochen entstand eine Vielfalt von sehr heterogenen Europa-Konzepten – um diese Vielfalt geht es hier, auch wenn in ihr Widersprüche und Brüche enthalten sind. Da die intellektuelle Auseinandersetzung mit Europa meist mit Reflexionen über die eigene nationale Identität einhergeht, haben zwei Fragen die Beschäftigung mit dem Thema geleitet: Welche Ideen von Europa werden entwickelt bzw. vorausgesetzt? Welche Funktion erfüllen die Konzepte Europas in Reflexionen über nationale Identität? Theoretischer Ausgangspunkt ist dabei die Auffassung von Nation als ein soziales Konstrukt. Benedict Anderson schlägt in Imagined Communities vor, Nationen nicht als ontologische Entitäten zu konzipieren, sondern vielmehr als Ideen politischer Gemeinschaften, die in Kommunikationsprozessen geschmiedet und verbreitet werden. 14 Das Erkenntnisinteresse des Projekts 14

Vgl. Anderson 1994 [1983]: 5 – 6.

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richtete sich entsprechend nach der semantischen Füllung des Europa-Begriffs (etwa: Europa als Synonym für technischen Fortschritt, Wissenschaft, Demokratie oder Protestantismus) sowie den rhetorischen Funktionen (der Abgrenzung, der Annäherung, der Selbstkritik), die Europa in den Konstruktionen nationaler Identität erfüllt. Beide Aspekte bedingen sich gegenseitig und lassen sich nun im Zusammenspiel und durch eine textnahe Analyse herausarbeiten. Die Bedeutung und die rhetorische Funktion der unterschiedlichen Konzepte Europas in den Reflexionen über nationale Identität lassen sich jedoch erst verstehen, wenn man den Kontext ihrer Entstehung berücksichtigt. So werden in den folgenden Kapiteln Angaben sowohl zur Biographie eines Autors als auch zu den politischen und gesellschaftlichen Bedingungen herangezogen, die die hier untersuchten Aussagen zu Europa in ihrer Kontingenz erscheinen lassen. Das Korpus, das als Grundlage für die Analysen diente, besteht aus Texten spanischer und portugiesischer Autoren, die in deutscher oder englischer Übersetzung vorliegen. Bereits aus dieser pragmatischen Einschränkung erheben die folgenden Seiten keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die einzelnen Kapitel verstehen sich vielmehr als exemplarische Analysen ausgewählter Texte zu europäischer und nationaler Identität. Portugiesisch- und spanischsprachige Sekundärliteratur wurde in der Regel nicht herangezogen. Somit erhebt dieser Band nicht den Anspruch, neue Erkenntnisse für die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema Nation und Europa im spanischen und portugiesischen intellektuellen und politischen Diskurs zu präsentieren. Die folgenden Seiten bieten vielmehr für diejenigen, die das Interesse am Thema teilen und weder Vorkenntnisse der iberischen Geschichte noch Zugang zur spezialisierten Literatur in iberischen Sprachen haben, einen – so hoffen wir – angenehmen Einstieg in das faszinierende Thema der iberisch-europäischen Beziehungen. Für die Experten mag dieser Band auch seinen Reiz haben: Er bietet eine erfrischende Sicht auf das Verhältnis zwischen Iberien und Europa aus der Feder von solchen, für die Europa keinesfalls mehr an den Pyrenäen endet. Dieser Band ist das Ergebnis geeinter Kräfte. Den Autorinnen und Autoren bin ich für ihr Engagement und ihre Zuverlässigkeit dankbar, mit denen sie sich in das Terrain des wissenschaftlichen Schreibens wagten. Meinen Kollegen Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll und Prof. Dr. Mathias Niedobitek gebührt mein Dank für die Aufnahme des Bandes in die von ihnen herausgegebene Reihe „Chemnitzer Europastudien“ und für die Unterstützung bei der Vorbereitung des Bandes. Mein Dank geht ebenfalls an Jana Beinhorn, Carolin Lindenmaier, Stefanie Kaluza und Leonie Miserre – sie haben mit ihren Anregungen in den Diskussionen der Papiere und durch geduldiges Lektorieren wesentlich zur Qualität des Buches beigetragen.

A. Europa-Ideen im Zeitalter der Iberischen Nationalismen

I. Spanien: Zwischen Abkehr und Hinwendung zu Europa 1. Spanien im 19. Jahrhundert: Spannungen, Niederlagen, Krisen Von Julia Kasperczak Mit der Landung Christoph Kolumbus’ in Amerika 1492 begann das für Spanien glorreiche Zeitalter kolonialer Expansion. Im Laufe des 16. Jahrhunderts stieg die Seefahrernation zur ersten Kolonial- und Weltmacht Europas auf. Ihr Reich erstreckte sich über den ganzen Globus und schlug die Brücke von Europa über die Weltmeere nach Afrika, Asien, Nord- und Lateinamerika – ein Reich, in dem die Sonne nicht unterging. 1 Doch Anfang des 17. Jahrhunderts begann das spanische Imperium zu bröckeln, seine Vormachtstellung schwand dahin, nachdem sich auch England und Frankreich verstärkt um Kolonien bemühten. Als Spanien seine letzten Überseeterritorien Ende des 19. Jahrhunderts abtreten musste, verlor es gänzlich seine koloniale Größe und den letzten Schimmer imperialen Glanzes. Parallel zur zusehends schwindenden Hegemonie Spaniens zeichnete sich innerhalb des Landes eine zunehmende politische Instabilität ab. Obwohl der erfolgreiche Volksaufstand gegen die napoleonische Fremdherrschaft den spanischen Nationalismus entstehen ließ, war dieser in seinem Anspruch bei weitem nicht konsensuell. So spaltete sich das Königreich Anfang des 19. Jahrhunderts auf politisch-ideologischer Ebene unversöhnlich in ‚Zwei Spanien‘. Die Spannungen zwischen den beiden Fronten entluden sich immer wieder in Aufständen, Revolutionen und Kriegen. Der Verlust des Kolonialreiches und die innenpolitischen Zerwürfnisse stürzten die spanischen Intellektuellen in eine intensive Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das Jahr 1898, in dem Spanien seine letzten Kolonien im Krieg gegen die USA verlor, stellt dabei eine entscheidende Zäsur dar. Dieser Einschnitt in die spanische Geschichte blieb nicht folgenlos für das Kollektivbewusstsein der Spanier, so auch nicht für eine Gruppe von Schriftstellern, die unter dem Namen Generación del 98 (dt.: Die 98er Generation) bekannt geworden ist. 1

Vgl. Straub 2004: 22.

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Der vorliegende Aufsatz beleuchtet zunächst die gesellschaftliche, sowohl innenals auch außenpolitische Situation Spaniens, mit der sich die spanischen Intellektuellen konfrontiert sahen. Sodann werden die wesentlichen ideologischen Züge der daraus resultierenden literarischen Bewegung der 98er Generation beschrieben. Im Spannungsfeld zwischen dem Wunsch nach Regeneration und der Öffnung zu Europa lassen sich Widersprüche und Gemeinsamkeiten in den politischen Positionen dieser Intellektuellen identifizieren. Abschließend wird, im Hinblick auf das Thema dieses Bandes, das Verhältnis der 98er Generation zu Europa skizziert. Innenpolitische Situation – Der Kampf der ‚beiden Spanien‘ Im Zuge der Errichtung eines Kontinentalsystems gegen England besetzte Napoleon I. (1769 – 1821) 1808 die Iberische Halbinsel. Infolgedessen geriet Spanien unter die Herrschaft Frankreichs. Auf französischen Druck hin verzichteten König Karl IV. (1748 – 1819, reg. 1788 –1808) und sein Sohn Ferdinand VII. (1784 – 1833) auf den spanischen Thron, und Napoleon I. ernannte seinen Bruder Joseph (1768 – 1844, reg. 1808 –1813) zum König von Spanien. Abgeschreckt von der hegemonialen Politik Napoleons I. regte sich innerhalb der spanischen Bevölkerung sofortiger Widerstand gegen den Eindringling. So kam es im Mai 1808 in Madrid zum Volksaufstand gegen die französischen Besatzer und den neuen König, der sich zu einem Unabhängigkeitskrieg entwickelte und als Guerilla 2 geführt wurde. 3 Mit Unterstützung des englischen Heeres gelang den Spaniern 1814 schließlich der Sieg über die Besatzungsarmee und die Befreiung aus napoleonischen Zwängen. Der Aufstand des spanischen Volkes gegen die französische Fremdherrschaft ließ ein nationales Selbstbewusstsein mit dem Bestreben erwachen, den eigenen Staat zu stärken und zu gestalten. 4 Doch in seinem Anspruch an die zukünftige Herrschafts- und Gesellschaftsform spaltete sich der spanische Nationalismus in zwei gegensätzliche Lager – Traditionalisten und Konservative auf der einen, Mo-

2 Der Begriff Guerilla (dt.: Kleiner Krieg) bezeichnet den Kampf kleiner Verbände gegen eine feindliche Armee oder Besatzungsmacht; zugleich dient er auch der Bezeichnung dieser Verbände selbst. Der Begriff wurde im spanischen Unabhängigkeitskrieg gegen Napoleon I. geprägt. Der ‚Kleine Krieg‘ war in seiner Form und Führung bis dahin einzigartig. Bei diesem Krieg standen irreguläre Truppen der Okkupationsarmee Napoleons I. gegenüber. Die Guerilla hatte demonstriert, wie der militärisch Schwächere die Natur des eigenen Landes in Verbindung mit einer Mobilisierung der gesamten Volkskraft und ihrer Emotion gegen feindliche Eindringlinge zu nutzen verstand, um ein Gleichgewicht und schließlich eine Überlegenheit über den militärisch Stärkeren zu erringen (vgl. Freudenberg 2008: 245 – 251). 3 Vgl. Bernecker 2003: 56ff. 4 Vgl. Menéndez Pidal 1955: 159f.

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dernisten und Liberale auf der anderen Seite. Die Traditionalisten strebten nach einer Wiederherstellung der alten monarchischen Ordnung. Die Modernisten hingegen verwarfen die göttliche Legitimation des Herrschers und suchten nach mehr politischer Repräsentation. 5 Diese fanden sie in den 1812 in Cádiz zusammengetretenen Cortes (dt.: Ständeversammlung): Mit der Ausarbeitung und Umsetzung der ersten spanischen Verfassung suchten die liberalen Kräfte den institutionellen Rahmen für eine bürgerliche Gesellschaft zu verwirklichen. Allerdings war die Verfassung das Werk einer fortschrittlichen Minderheit im Land, die zu schwach war, um die Errungenschaften der Moderne nachhaltig durchzusetzen. 6 Stattdessen zeichnete sich eine rückwärtsgewandte Entwicklung in Spanien ab. Mit der Wiederbesetzung des Thrones durch Ferdinand VII. (reg. 1814 – 1833) kam ein absolutistischer Herrscher an die Macht, der die Verfassung nicht akzeptierte, für ungültig erklärte und die Cortes auflöste. In den folgenden Jahrzehnten kämpften die Liberalen für die Durchsetzung der in Cádiz beschlossenen Neuerungen, während die Konservativen – Monarchisten, Kirchenanhänger und Großgrundbesitzer – vehement versuchten, sie daran zu hindern. 7 Zwischen den ‚beiden Spanien‘ entbrannte ein erbitterter Kampf um die Legitimation der eigenen Herrschaftsform – ein Kampf zwischen Revolution und Tradition, der auch im übrigen Europa entfacht war, in Spanien aber Züge äußerster Heftigkeit annahm. Die spanischen Krisen wurden nicht durch kurzfristige Revolutionen oder Staatsstreiche beendet, sondern arteten im 1833 begonnenen Karlistenkrieg zu einem fünfjährigen Bürgerkrieg aus, der später noch zwei weitere Male aufflammte. 8 Es kam zu keiner Verständigung zwischen den Fronten, und so durchzog ein unaufhörlicher Kampf das ganze 19. Jahrhundert. In kurzen Abständen folgten Regierungswechsel, die Vertreter sowohl der konservativen als auch der liberalen Kräfte an die Macht brachten. 9 Doch der ständige Machtkampf der ‚Zwei Spanien‘ ließ kein politisches System erfolgreich überdauern. Die jeweiligen Regierungen verfolgten keine einheitliche politische Linie, was sich in einem ständigen Ministerwechsel äußerte. Besonders deutlich wurde dies, als das liberale Lager in einen gemäßigten und einen radikal-progressiven Flügel zerfiel. Die Moderados (dt.: Gemäßigte) traten für eine ausgewogene Aufteilung der Macht zwischen Volk und Krone ein und unterstützten damit die konservative Seite der ‚Zwei Spanien‘.

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Vgl. Nellessen 1963: 18ff. Die spanische Verfassung folgte weitgehend den Idealen der Französischen Revolution und gewährte Volkssouveränität, konstitutionelle Monarchie, Garantie der Grundfreiheiten, Gleichheit im Zugang zu öffentlichen Ämtern und die Anerkennung des Katholizismus als Staatsreligion (vgl. Ruhl 1993: 127; Bernecker 2003: 254). 7 Vgl. Ruhl 1993: 15. 8 Vgl. Straub 2004: 55. 9 Vgl. Menéndez Pidal 1955: 163. 6

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Die Exaltados (dt.: Radikale) plädierten demgegenüber für Volkssouveränität und die unveränderte Beibehaltung der Verfassung von 1812. Aufgrund dieser Uneinigkeit, die nicht mehr ausschließlich auf die ‚Zwei Spanien‘ beschränkt war, sondern auch innerhalb der beiden Lager zu finden war, konnte die Vielzahl sozialer und wirtschaftlicher Probleme im Land nicht behoben werden. Unter Ferdinand VII. waren ungefähr zwei Drittel des bebaubaren Landes in den Händen des großgrundbesitzenden Adels und der Kirche. Doch Unzufriedenheit und Krisenmomente beschränkten sich nicht auf die bäuerliche Bevölkerung. Agrarkrisen, Epidemien, zunehmende Inflation und vor allem die katastrophale Finanzlage des Staates prägten gleichermaßen Gesellschaftsstruktur und Staat. Das von den Cortes 1812 geplante Reformprogramm sah vor, die miserablen Zustände zu ändern und einer liberalen Gesellschaftsordnung den Weg zu ebnen. 10 Doch aufgrund fehlender Reformbereitschaft des Königs und der konservativen Kräfte radikalisierte sich das städtische und ländliche Proletariat und übernahm sozialistische, vor allem aber anarchistische Ideen. 11 Die Uneinigkeit und Radikalisierung innerhalb der zwei Lager sowie die fehlende Kompromissbereitschaft beider Fronten ließen die Kluft zwischen den ‚Zwei Spanien‘ zusehends tiefer werden. Eine Annäherung und die damit verbundene Lösung politischer, sozialer und wirtschaftlicher Probleme waren damit in weite Ferne gerückt. Erst unter der Restaurationspolitik Alfons XII. (1857 – 1885, reg. 1874 – 1885) war der permanente Machtkampf zwischen Fortschritt und Reaktion einem waffenlosen Frieden gewichen. 12 Doch dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die ‚Zwei Spanien‘ weiterhin unversöhnlich gegenüberstanden. Durch die Verschärfung und Zunahme der sozialen Probleme zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der Kampf wieder offen ausgetragen und gipfelte 1936 in einem erneuten Bürgerkrieg. Die politische Instabilität schien unüberwindbar und ging weit über das 19. Jahrhundert hinaus; zwischen 1833 und 1936 gab es in Spanien 11 Regimewechsel, 109 Regierungen und 8 Verfassungen. 13 Wie kein anderer europäischer Staat war Spanien im 19. Jahrhundert vor allem mit sich selbst und seinen innenpolitischen Krisen beschäftigt, die sich in einer regen Folge von Revolten, Bürgerkriegen und Regierungswechseln äußerten. Die politische Instabilität und die Starrheit der gesellschaftlichen und ökonomischen Strukturen Spaniens hemmten erheblich den Prozess der Modernisierung in diesem Land. 14 In Großbritannien, Frankreich, Belgien und Deutschland hingegen bewirkte die Industrialisierung ein gesamtwirtschaftliches Wachstum und 10 11 12 13 14

Vgl. Bernecker 2003: 58ff. Vgl. Ruhl 1993: 125. Vgl. Straub 2004: 69ff. Vgl. Ruhl 1993: 125. Vgl. Kleinmann 2005: 253ff.

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zeigte weitreichende Folgen im staatlichen und gesellschaftlichen Bereich; der Entwicklungsvorsprung Europas nahm unaufhaltsam zu. 15 Außenpolitische Situation – Der Kampf um Kuba Zu den innenpolitischen Problemen des spanischen Königreiches kamen bereits Anfang des 19. Jahrhunderts Schwierigkeiten in den Kolonien hinzu. Die Unterdrückung aller revolutionären Bestrebungen durch den absolutistischen Herrscher Ferdinand VII. führte nicht nur in Spanien, sondern auch in den kolonialen Überseegebieten zu Erhebungen. Zwischen 1816 und 1825 erklärten fast alle Kolonien in Hispanoamérica 16 ihre Unabhängigkeit. Nach 1825 verblieben Spanien vom einstigen Kolonialreich nur noch die Inseln Kuba, Puerto Rico und die Philippinen. Doch auch diese kolonialen Besitztümer musste Spanien, nach einem erbitterten Kampf, 1898 frei geben. Besonders schmerzlich war dabei der Verlust Kubas, der als Zucker- und Tabaklieferant wirtschaftlich bedeutsamsten Kolonie. 17 Aufgrund einer unbefriedigenden Zoll- und Steuerpolitik der spanischen Zentralregierung wurden seit Mitte des 19. Jahrhunderts in der kubanischen Kolonie die Forderungen nach mehr politischer Autonomie immer lauter. Diese mündeten 1868 – motiviert durch den Befreiungskampf gegen Napoleon I. im spanischen Mutterland – in den Ersten Unabhängigkeitskrieg Kubas. Der Kampf endete erst zehn Jahre später mit dem Kompromissfrieden von Zanjón, der den Kubanern politische Repräsentation in den spanischen Cortes gewährte und die allmähliche Sklavenbefreiung festlegte. Von der Unabhängigkeit war Kuba aber noch weit entfernt, denn die politische Kontrolle oblag weiterhin der alten Kolonialmacht. 18 Obschon der Unabhängigkeitskrieg fehlgeschlagen war, hatte er erheblich zur Entstehung einer cubanidad (dt.: Kubanität) beigetragen: Genährt von einem starken antispanischen Ressentiment und vom Unmut über die Nichterfüllung der Reformversprechen aus dem Friedensvertrag seitens der spanischen Regierung, erstarkte dieses kubanische Nationalgefühl zunehmend und führte schon bald zu einem neuen Aufschwung der Unabhängigkeitsbewegung. Unmittelbar nach ihrer Gründung 1892 bereitete die separatistische Partei Partido Revolucionario de Cuba (dt.: Revolutionärpartei Kubas) den Zweiten Unabhängigkeitskrieg Kubas vor – die Zeit für eine politische Lösung des Problems drängte. 1893 legte 15

Vgl. Bernecker 2004: 457. Der Begriff Hispanoamérica meint in diesem historischen Zusammenhang die Gesamtheit aller ehemaligen Kolonien Spaniens in Lateinamerika. Dazu zählten Kuba, Puerto Rico und die Vizekönigreiche Río de la Plata (Argentinien, Bolivien, Paraguay, Uruguay), Peru, Neu-Granada (Kolumbien, Ecuador, Panama) und Neu-Spanien (Mexiko) (vgl. Ruhl 1993: 96 – 114). Heute wird der Begriff verwendet, um die Gebiete Lateinamerikas zu beschreiben, in denen der überwiegende Teil der Bevölkerung Spanisch spricht. 17 Vgl. Domnick 1998: 31. 18 Vgl. Domnick 1998: 31f.; Franzbach 1988: 25. 16

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der konservative Kolonialminister Spaniens, Antonio Maura (1853 – 1925), dem Parlament in Madrid ein Reformpapier vor, das auf eine Lösung der Kuba-Frage abzielte. Als zu weitreichend wurde es jedoch von der spanischen Regierung abgelehnt. 19 In Spanien war man sich einig: Kuba konnte als ein wichtiger Teil des Reiches nicht leichtfertig aufgegeben werden. Doch auch die USA hegten ein reges Interesse an der Karibikinsel und pflegten schon vor dem ersten Befreiungskrieg intensive Handelsbeziehungen zu Kuba. Washington unterbreitete Madrid immer neue Kaufgesuche, die jedoch erfolglos blieben. Spanien war nicht bereit, auf Kuba und die damit verbundene koloniale Stärke zu verzichten. 20 Seither lauerten die Kuba-Politiker des US-Außenministeriums auf die passende Gelegenheit, auf der Insel zu intervenieren. 21 Eine solche Gelegenheit bot sich mit dem Ausbruch des Zweiten Unabhängigkeitskrieges (1895 – 1898) gegen Spanien. Im Gegensatz zu der ersten Auseinandersetzung war dies ein harter Kampf, der schnell den Charakter eines GuerillaKrieges annahm. Dem Mutterland nützten in dieser Situation auch politische Zugeständnisse nicht mehr, denn im Gegensatz zu 1878 fand sich im Lager der kubanischen Freiheitskämpfer keine Mehrheit mehr für einen Kompromiss. Ihr erklärtes Kriegsziel blieb die vollständige staatliche Unabhängigkeit. Als dieses Ziel greifbar nahe schien, erfolgte 1898 die Intervention der Vereinigten Staaten. Den Anlass zur Kriegserklärung bot den USA eine Explosion auf dem US-amerikanischen Kreuzer Maine im Februar 1898 im Hafen von Havanna, die rund 250 Matrosen in den Tod riss. 22 Obwohl die Ursachen keineswegs geklärt waren – heute nimmt man einen technischen Defekt in der Kohlekammer an – wurde den Spaniern alle Schuld zugeschoben. Auf Massenveranstaltungen und in den nordamerikanischen Massenmedien hetzte man gegen Spanien und forderte McKinley, den regierenden US-Präsidenten, mit dem Schlachtruf „Remember the Maine! To hell with Spain!“ 23 lauthals zu einer Kriegserklärung auf. 24 Der vermeintliche Anschlag auf das Leben amerikanischer Bürger erlaubte der US-amerikanischen Regierung, Spanien in einen Krieg zu verwickeln, den es gar nicht führen wollte. Militärisch um ein Vielfaches unterlegen, bat Madrid – erschöpft und ausgeblutet – nach 78 Tagen des Kampfes um einen Waffenstillstand. Nach langen Verhandlungen, bei denen Frankreich vermittelnd eingriff, kam es im Dezember 1898 in Paris zum Abschluss des Friedensvertrages. Spanien musste Puerto Rico und die Philippinen an den Sieger abtreten. 25 Kuba erhielt seine Unabhängig19 20 21 22 23 24 25

Vgl. Shaw 1975: 1. Vgl. Domnick 1998: 31. Vgl. Franzbach 1988: 26f. Vgl. Straub 2004: 25ff.; Domnick 1998: 33. Zit. nach Eßer 1998: 36. Vgl. Nilsson 1998: 33; Franzbach 1988: 27. Vgl. Straub 2004: 27f.

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keit, jedoch nur auf dem Papier. Die Insel wurde von amerikanischen Truppen militärisch besetzt, denn das Platt Amendment, ein Zusatzartikel der ersten kubanischen Verfassung (1901), räumte den USA ein permanentes Interventionsrecht ein. Der lange Kampf gegen die spanische Kolonialherrschaft hatte für Kuba de jure die Unabhängigkeit gebracht, doch de facto war es noch weit von wirklicher Souveränität entfernt. 26 Wohl kein anderes Ereignis wirkte sich auf die weitere Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert nachhaltiger aus, als der Verlust seiner letzten Überseekolonien – der Rest des einst mächtigsten Imperiums der Welt. 27 Damit fand die spanische Kolonialherrschaft vier Jahrhunderte nach ihrem Beginn ein Ende. War Spanien Anfang des 19. Jahrhunderts noch eine Weltmacht, so wurde es im Laufe des Jahrhunderts von den USA überholt, ja sogar zurückgeschlagen und schied gleichzeitig aus dem weltweiten Konzert der Mächte aus. Das Blatt hatte sich gewendet: Nun waren es die Vereinigten Staaten von Amerika, die die Weltmachtsleiter empor kletterten. 28 Die 1898er Generation Das „Desaster von 1898“ 29 blies „wie ein heftiger Windstoß geistige Erschütterung, Unruhe, Unzufriedenheit [und] Enttäuschung ins Nationalbewußtsein“ 30 der spanischen Gesellschaft. Kritischen Zeitgenossen wurde deutlich, dass Spanien an einem Tiefpunkt angelangt war, und sie machten sich an die Ursachenanalyse des Niedergangs der einstigen Weltherrschaft. 31 Für eine Gruppe von Schriftstellern, die diese Erfahrungen und Enttäuschungen, aber auch den analytischen Ansatz teilten, prägte Azorín (Pseudonym für José Martínez Ruiz; 1873 – 1967) 1913 den zusammenfassenden Begriff Generación del 98. Auch wenn es der Begriff vermuten lässt, so bildete die Generation von 1898 keine weltanschauliche Einheit. In ihren Auffassungen spiegelte sich der gespaltene Zustand Spaniens wider. Pío Baroja (1872 – 1956), der ihr meist zugerechnet wird, bezweifelte sogar die Existenz einer solchen Gruppe und, falls sie doch existieren sollte, rechnete er sich nicht dazu. 32 Sofern man aber die Existenz einer solchen Gruppe akzeptiert, gelten als ihre unumstrittenen Vertreter: Azorín, Miguel de Unamuno (1864 – 1936), Ramiro de Maeztu (1874 –1936) und Antonio Machado (1875 – 1939); die Zugehörigkeit Borojas wird bisweilen diskutiert. Als Vorläufer und Wegbereiter gelten 26 27 28 29 30 31 32

Vgl. Domnick 1998: 33. Vgl. Bernecker 2004: 458. Vgl. Bernecker 2003: 76. Bernecker 2003: 77. Salinas 1977: 7. Vgl. Bernecker 2003: 76; Franzbach 2002: 250. Vgl. Kreutzer 1991: 81.

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allgemein Mariano José de Larra (1809 –1898), Joaquín Costa (1846 – 1911) und Ángel Ganivet (1865 –1898). 33 Bei aller Heterogenität ihrer Mitglieder kennzeichnete die 98er Generation doch eine gemeinsame Zielsetzung: Sie wollten Ursachen der spanischen Krise aufdecken und Möglichkeiten ihrer Überwindung aufzeigen. 34 Dabei wurden die Bemühungen der Schriftsteller grundlegend vom regeneracionismo (dt.: Regenerationismus) beeinflusst. Schon vor 1898 wiesen Intellektuelle und Politiker auf die katastrophalen Missstände im Land hin und erhoben die Forderung nach Revision und Erneuerung (Regeneration). Im Mittelpunkt der öffentlichen Kritik standen vor allem das korrupte politische System, die außenpolitische Ohnmacht, die völlig unzureichende Wirtschafts- und Sozialverfassung und die restriktive Bildungspolitik. Doch während die Regenerationisten die Rettung Spaniens im Wesentlichen durch gezielte politische Maßnahmen und Reformen für möglich erachteten, erstrebten die 98er die Regeneration durch eine weitgespannte ideologische Umorientierung des Landes. 35 Eine Notwendigkeit für die geistige Wiederbelebung sahen die 98er in der Rückbesinnung auf das ‚wahre Wesen‘ Spaniens. 36 Sie richteten ihren Blick „nach innen“ und suchten „die Tiefe, das Wesentliche“, das „Ewige“ und die „Wahrheit“ Spaniens. 37 In der sich kaum verändernden Landschaft Kastiliens fanden sie es – das „eigentlich Spanische“: 38 Die kleinen Dörfer, die von der Neuzeit noch so unberührt sind, daß sie am Rande des Geschichtlichen stehen geblieben scheinen. Die einfachen Leute, die Generation um Generation die Verrichtung elementaren Lebens wiederholen und nicht zur Kenntnis nehmen, was vor sich geht. Volk und Land als unbewußte Schatzhalter reinsten spanischen Geistes. 39

Das machte die 98er zu wahren Traditionalisten, doch nicht im Sinne greifbarer Politik. Sie kümmerte „nicht so sehr das Reich des Materiellen wie das Reich des Geistigen“. 40 Ihre Haltung – das Materielle verabscheuend und das Ideale suchend – bestätigte sich in ihrer Wiederbelebung des Don Quijote. 41 Nachdem Spanien von den materialistischen Amerikanern um sein Kolonialreich beraubt 33

Vgl. Beyme 2002: 565; Kreutzer 1991: 81; Franzbach 1988: 7ff. Vgl. Lentzen 1996: 324. 35 Vgl. Kreutzer 1991: 81. 36 Vgl. Kreutzer 1991: 82. 37 Salinas 1977: 11. 38 Salinas 1977: 11. 39 Salinas 1977: 11. 40 Salinas 1977: 13. 41 Vgl. Salinas 1977: 9. Don Quijote ist die allgemeinsprachliche Bezeichnung für den Roman El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha (1605/1615, dt.: Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha) von Miguel de Cervantes (1547 –1616). Der Prot34

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wurde, war die Figur des Quijote für die 98er das Sinnbild der allen Spaniern innewohnenden idealistischen Einstellung. Gleichzeitig personifiziert sich in ihm die Dekadenz Spaniens, denn auch Quijote hatte seine Kräfte überschätzt und so seinen Untergang selbst herbeigeführt. 42 Ein weiteres Erfordernis für die geistige Regeneration war für die Mitglieder der 98er Generation die Auseinandersetzung mit europäischen Denkern, die das Geistesleben auf dem Kontinent prägten. Die Beschäftigung mit dem modernen Gedankengut Europas sollte den Weg zur Reform der verkrusteten spanischen Gesellschaftsstrukturen bahnen. 43 Es erscheint paradox, dass die 98er einerseits das wahre Wesen Spaniens suchten, andererseits aber eine Orientierung an europäischem Gedankengut forderten. Doch für die Schriftsteller bedingten sich beide Ziele einander wechselseitig, wie Miguel de Unamuno feststellte: „Wir müssen uns europäisieren und kopfvoran ins Volk stürzen [...] Spanien muss erst noch entdeckt werden, und entdecken können es nur europäisierte Spanier.“ 44 Die Autoren der 98er Generation lasen europäische Literatur und brachten das nach Spanien, was ihnen davon als das Beste vorkam. 45 Die wichtigsten Einflüsse übte dabei das Geistesgut von Schopenhauer, Nietzsche, Kierkegaard, Ibsen, Tolstoi und Dostojewski. 46 Besonders intensiv war die Auseinandersetzung mit der Philosophie von Karl Christian Friedrich Krause (1781 –1832). Krause war ein Außenseiter des deutschen philosophischen Idealismus und wurde in seinem Heimatland kaum beachtet. Nach einer Studienreise durch Europa brachte der Philosophieprofessor Julían Sanz del Río (1814 –1869) die Grundzüge des krausischen Idealismus nach Spanien und begründete den krausismo (dt.: Krausismus). 47 Krauses Lehre war gekennzeichnet durch eine optimistische Anthropologie und Geschichtsphilosophie, welche die Vervollkommnung des Menschen und den historischen Fortschritt durch Erziehung und sozialpolitische Reformen begründet sieht. Den spanischen Intellektuellen kamen solche Gedanken Mitte des 19. Jahrhunderts gelegen, weil sich Krauses sozialethische Überlegungen leicht mit ihren pädagogischen Absichten zu Nationalerziehung und geistiger Erneuerung verbinden ließen. 48 Bei aller Ähnlichkeit zwischen der 98er Bewegung und dem regeneracionismo sowie dem krausismo muss doch eine grundlegende Unterscheidung getroffen agonist, Don Quijote, rennt – in dem Glauben Ritter zu sein – idealen Zielen und Utopien nach, ohne Rücksicht auf die Realität. Der Roman hatte bereits im 17. Jahrhundert großen Erfolg, denn die Spanier sahen darin ihr Wesen, ihren Nationalcharakter. 42 Vgl. Franzbach 1988: 79 – 83. 43 Vgl. Franzbach 1988: 152. 44 Zit. nach Salinas 1977: 13. 45 Vgl. Salinas 1977: 15. 46 Vgl. Franzbach 2002: 250. 47 Vgl. Franzbach 1988: 31f. 48 Vgl. Straub 2004: 42.

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werden. Krausismus und Regenerationismus wurden von einem festen Glauben getragen – an den Fortschritt, an Spanien, an die Menschheit, an Gott und an die ewigen Werte. Ihre Vertreter waren davon überzeugt, dass eine Regenerierung Spaniens möglich sei. Die Felsenfestigkeit des je anderen Glaubens war aber gerade die Voraussetzung für die Unversöhnlichkeit der ‚Zwei Spanien‘. Eben diese Glaubensgewissheit geht bei den 98ern verloren. Kritik und das Gefühl von Frustration auf der einen, sowie Unsicherheit und Orientierungslosigkeit auf der anderen Seite, waren stärker als der Glaube an die mögliche Bewältigung der Krise. 49 Das Verhältnis der 98er zu Europa Die Generation von 1898 durchlief zwei Abschnitte, zwei Seelenzustände, und erwies sich dabei als Aufbruch in zwei Richtungen. Die erste, jedoch sehr kurze Phase beginnt mit der Niederlage im Krieg gegen die USA und ist gekennzeichnet durch eine erbarmungslose Kritik an Spanien. Auf der Suche nach neuen Ideen wandten sich die Intellektuellen Europa zu. Die 98er lasen die Schriften europäischer Philosophen nicht aus intellektueller Neugier, sondern aus Hoffnung „that somewhere [...] they might stumble across a thinker who could set them on the road towards fresh certainties“. 50 Doch bereits nach wenigen Jahren verlor sich der pessimistische Ton der ersten Etappe und mündete in einer verliebten Betrachtung Spaniens und in einer tiefen Verehrung seines eigentlichen Wesens. Die Auseinandersetzung mit dem europäischen Geistesgut war für das Wirken der 98er Generation eine wichtige Voraussetzung. Die Besinnung auf ihr nationales Selbst und ihre Selbstkritik entfaltete sich im Verhältnis zu Europa. Dabei war Europa zumeist Maßstab allen Handelns und Denkens. Die nationale Hoffnungslosigkeit der Schriftstellergeneration führte allerdings zu den unterschiedlichsten Zukunftsvisionen, Zielprojektionen und Haltungen gegenüber Europa. 51 Die Frage nach dem Verhältnis der spanischen Nation zu Europa in den Auffassungen der 98er ist nicht leicht zu beantworten. Die literarische Gruppe an sich, aber auch einzelne Schriftsteller innerhalb ihrer Schaffensperiode weisen ein äußerst differenziertes Verhältnis zu Europa auf. Sprachen sich die einen für eine Europäisierung Spaniens aus, so lehnten andere diese Haltung kategorisch ab und forderten eine Isolierung Spaniens von Europa. * In den beiden folgenden Aufsätzen kommen zwei extrem voneinander abweichende Auffassungen zu Europa von spanischen Politikern und Intellektuellen 49 50 51

Vgl. Neuschäfer 2001: 306, 310f. Shaw 1975: 13. Vgl. Bernecker 2004: 458.

2. Antieuropäisches Denken bei Donoso Cortés und Ángel Ganivet

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zum Ausdruck. Erstes Augenmerk fällt dabei auf die Ansichten Juan Donoso Cortés’ (1809 – 1853) und Ángel Ganivets. Der antiliberale Traditionalist Donoso Cortés vertrat gegenüber Europa eine stark ablehnende Haltung, die sich auch in Ganivets berühmten Essay Idearium español von 1897 (dt.: Spaniens Weltanschauung und Weltstellung) wieder finden lässt. Sein Werk, das als Nachschlagewerk der spanischen Lebenswahrheit gedacht war 52 und auch solche Wirkungen ausübte, wurde zur „Bibel der 98er Generation“. 53 Darin lassen sich die Wurzeln der isolationistischen und antieuropäischen Haltungen einiger 98er finden. Der zweite Aufsatz widmet sich Francisco Pi y Margall (1824 – 1901) sowie Joaquín Costa und lenkt den Blick auf Europa zugewandte Ansichten und Vorstellungen. Pi y Margall, Präsident der kurzlebigen Ersten Republik Spaniens und Costa, als Regenerationist und Vorläufer der 1898er Generation bekannt, sprachen sich für eine Europäisierung Spaniens aus.

2. Antieuropäisches Denken bei Donoso Cortés und Ángel Ganivet Von Katrin Kreißig Juan Donoso Cortés und der Untergang Europas Zwar hatten die gesamteuropäischen Revolutionsbewegungen der Jahre 1848 – 1849 eher geringe Auswirkungen in Spanien gehabt, gleichwohl verschärfte sich im Inneren ein schwerwiegender Konflikt zwischen den ‚Zwei Spanien‘. Auf der einen Seite standen diejenigen, die demokratisch gesinnt waren und sich durch die im restlichen Europa stattfindenden revolutionären Ereignisse in ihrer Ansicht bestätigt sahen, dass Spanien in einer bedrückenden Lage sei und Veränderungen unumgänglich wären; auf der anderen Seite standen vor allem Konservative und dem Absolutismus Zugeneigte, welche in dem revolutionären Treiben eine Gefahr für das Fortbestehen der Monarchie sahen und eine Restauration befürworteten. Unter den letztgenannten sticht mit besonders extremistischen Ansichten der Diplomat und Politiker Juan Donoso Cortés hervor. Im Jahr 1809 geboren, war er in seiner Jugend zunächst ein antiklerikaler Liberaler, wandte sich aber nach und nach wieder dem Katholizismus zu und wurde zu einem extrem konservativ und monarchistisch eingestellten Gegner des aufkommenden Sozialismus, in welchem er den größten Feind des Abendlandes erkannt zu haben glaubte. 54 Zu Donosos 52 53 54

Vgl. Krauss 1972: 44. Beyme 2002: 567. Vgl. Hinterhäuser 1979: 175.

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Hauptwerk zählt der 1851 erschienene Ensayo sobre el catolicismo, el liberalismo y el socialismo (dt.: Essay über den Katholizismus, den Liberalismus und den Sozialismus), welcher sogleich in mehrere Sprachen übersetzt wurde und in welchem er seinen Werdegang schildert und seine persönliche Weltanschauung ausführlich darstellt. Berühmtheit erreichte der Spanier zudem mit seiner leidenschaftlichen, vor düsteren Zukunftsaussichten für Gesamteuropa strotzenden Rede Discurso sobre la situación general de Europa (dt.: Über die allgemeine Lage Europas) vor dem spanischen Parlament am 30. Januar 1850. In dieser bringt Donoso seine Ansichten über die Zukunft Europas und die Rolle Spaniens zum Ausdruck – vor allem verdeutlicht diese Rede seine ablehnende Haltung gegenüber den revolutionären Aufständen. Donosos Ansicht nach gibt es „[s]eit jener Revolution furchtbaren Angedenkens [...] nichts Sicheres mehr in Europa!“ 55 Dabei bezieht er sich auf die Revolutionen von 1848 – 1849 und beklagt den Zustand Europas, das in einem zunehmenden und rasch fortschreitenden Verfall begriffen sei. Spanien jedoch sei das Land, welches einer Oase in der Wüste gleiche, die noch Widerstand gegen die revolutionären Ideen leiste. 56 Doch auch hier müsse man wachsam sein, denn nur mit äußerster Anstrengung könne man das „Ungeheuer“ 57 niederhalten. In engem Zusammenhang mit der Revolution steht für Donoso der aufkeimende Sozialismus. In seiner Stellungnahme wird sehr deutlich, dass er ein strikter Gegner dieser Geistesströmung war und in ihr einen Vorboten des unvermeidlich erscheinenden Unterganges gesehen hat. Denn egal, welche Herrscher an der Macht oder welche Ideen vorhanden seien, letztlich würde alles auf das gleiche Unvermeidbare, auf den Untergang des Abendlandes hinausführen. 58 Hinter dem Duktus dieser Rede lässt sich eine resignierte oder zumindest eine sehr pessimistische Einstellung vermuten. Doch worin sah Donoso eigentlich die Ursache für die herrschenden Missstände und den mit diesen einhergehenden Verfall? Seiner Meinung nach sei die allgemein und weit verbreitete Annahme falsch, dass die Regierungen die Schuld an den schlechten Zuständen tragen würden. Stattdessen liege das Problem darin, dass sich die „Regierten allmählich nicht mehr regieren lassen.“ 59 Zunehmend verschwinde die Idee einer göttlichen und auch menschlichen, also irdischen, Autorität, welche beispielsweise durch Monarchen oder Regierungen repräsentiert wird. Erneut drückt sich im Bedauern darüber Donosos sehr konservative Haltung aus; er bekennt sich in der gesamten Rede oft zu seinem Glauben an Autoritäten. 55 56 57 58 59

Donoso Cortés 1948 [1851]: 64. Vgl. Donoso Cortés 1948 [1851]: 64. Donoso Cortés 1948 [1851]: 64. Vgl. Donoso Cortés 1948 [1851]: 65ff. Donoso Cortés 1948 [1851]: 66.

2. Antieuropäisches Denken bei Donoso Cortés und Ángel Ganivet

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Die Erkenntnis, dass Religion und Politik in engem Bezug zueinander stehen, sei Donoso Cortés zufolge für das Verständnis der Zustände in Europa von großer Bedeutung. Auch der Begriff der Zivilisation spielt in Donosos Argumentation eine wichtige Rolle. So gibt es seiner Meinung nach zwei Perioden der Zivilisation, welche sich in antithetischer Weise gegenüberstehen. Die erste ist gekennzeichnet durch Schlagwörter wie ‚bejahend‘, Fortschritt‘ und ‚Katholizismus’; die andere Periode wird durch Attribute wie ‚verneinend‘ und negativ besetzte Substantive wie ‚Entartung‘ und ‚Revolution‘ veranschaulicht. 60 Die der ersten Periode eigene religiöse Bejahung, also die Anerkennung eines allmächtigen Gottes entspräche einer Bejahung im politisch-gesellschaftlichen Bereich, d. h., die Bevölkerung erkenne einen ‚allmächtigen‘ Herrscher an – wie es in der absolutistischen und konstitutionellen Monarchie der Fall sei. Die Phase der Entartung steigert sich laut Donosos Ausführungen vom Deismus in der konstitutionellen Monarchie über den Pantheisten als Vertreter der Republik bis hin zum Atheismus. Und da es für die Atheisten keinen existierenden und herrschenden Gott gäbe, stellen sie auch das Vorhandensein einer Regierung infrage. In dieser letzten Verneinung sieht der Politiker einen Abgrund, jenseits davon existiere nur noch Finsternis. Donoso sieht Europa zu jener Zeit in der zweiten verneinenden Stufe, also im Übergang von der Monarchie zur Republik und prophezeit den in nicht allzu weiter Ferne liegenden Eintritt in die letzte Stufe. Doch nicht nur die Revolution und die Verbreitung des Sozialismus stellen Gefahren für die europäische Ordnung dar. In Russland und der sich ausbreitenden Idee eines Panslawismus unter russischer Führung meint Donoso, eine weitere Bedrohung Europas ausgemacht zu haben. 61 Wenn es auf dem Kontinent zu einer kriegerischen Auseinandersetzung mit den Russen käme, so würde es, unabhängig von einer Staats- oder Volkszugehörigkeit, nur zwei Heere geben, die sich gegenüberstünden: „Plünderer“ und „Ausgeplünderte“. 62 Denn: Nachdem die Revolution und der Sozialismus die Gesellschaft zerstörten, würde es auch keine stehenden Heere mehr geben. Die Eroberung Europas durch Russland ist für den Redner gleichbedeutend mit dem Tod, welcher durch den Einfluss der slawischen Stämme hervorgerufen würde. Außerdem bezeichnet Donoso die Slawen als „halbzivilisiert“ 63 im Gegensatz zu den seiner Meinung nach zivilisierten Völkern Westeuropas. Hierbei muss beachtet werden, dass bei Donoso „jede wahre Zivilisation“ 64 vom Christentum ausgeht und es außerhalb des Verbreitungsgebietes des Christentums sowie in der Zeit vor dem Christentum, also z. B. auch in der griechischen Antike, keine 60 61 62 63 64

Donoso Cortés 1948 [1851]: 68ff. Vgl. Donoso Cortés 1948 [1851]: 65ff. Donoso Cortés 1948 [1851]: 76. Donoso Cortés 1948 [1851]: 74. Donoso Cortés 1948 [1851]: 78.

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zivilisierten Völker gegeben habe. Vor allem zivilisiere das Christentum durch die Idee einer unverletzlichen Autorität und einer Erhöhung von Gehorsam und Opferbereitschaft über das Alltägliche hinaus. 65 Daraus folgert der Redner, dass nur mit Hilfe von Autoritäten ein Ausweg aus dem drohenden ‚Untergang‘ möglich sei. Diesen sieht Donoso in erster Linie in einer Besinnung auf das Christentum und dessen Werte und Moralvorstellungen. Besonders der Katholizismus, welchen er als wirksamstes Mittel im Kampf gegen die beiden Grundübel Sozialismus und Revolution ansieht, könne einen ‚Tod Europas‘ verhindern. Letztlich seien: [...] die Kirche und die Armee die einzigen, [...] die die Begriffe von der Unverletzlichkeit der Autorität, von der Heiligkeit des Gehorsams und von der Übernatürlichkeit der Nächstenliebe unversehrt bewahrt haben. 66

Donoso sollte nicht der einzige bleiben, dessen antieuropäische und konservative Haltung einen großen Einfluss auf die Diskussion darüber ausübte, ob nun Spaniens Zukunft eher inner- oder außerhalb Europas liegt. Eine in manchen Punkten ähnliche Auffassung findet man bei Ángel Ganivet. Dieser fand jedoch nicht, wie Donoso, in der europaweiten revolutionären Bewegung um 1848 – 1849 die Basis seiner antieuropäischen Ansichten, sondern im Bewusstsein einer Rückständigkeit und Fehlentwicklung Spaniens im Vergleich mit Nord- und Mitteleuropa in den letzten Jahren vor 1900. Spanien und Europa im Denken von Ángel Ganivet Kaum etwas beschäftigte die Schriftsteller und Denker, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Spanien wirkten, mehr als die Frage nach einer Möglichkeit, die in der technischen und gesellschaftlichen Entwicklung zurückgebliebene, dekadente, spanische Nation wiederaufzubauen und konkurrenzfähig gegenüber den anderen (europäischen) Großmächten zu machen. Für manche Schriftsteller bestand die geeignete Lösung in einem antieuropäischen Isolationismus. Ein Vertreter dieser Ansicht ist der andalusische Diplomat, Schriftsteller und Journalist Ángel Ganivet. Ángel Ganivet wurde 1865 in Granada geboren, ist dort in einer bürgerlichen Familie der Mittelschicht aufgewachsen und studierte Rechts- und Literaturwissenschaften sowie Philosophie. Im Jahr 1891 lernte er in Madrid Miguel de Unamuno kennen, welcher ebenfalls im Kontext der 98er Generation wirkte und mit dem ihn bis zu seinem Tod eine enge Freundschaft verband. Ab 1892 war er als Diplomat tätig, zunächst in Antwerpen, später in Helsinki, wo er den Großteil seines literarischen Werkes verfasste, und zuletzt in Riga. Hier nahm er sich auch 65 66

Vgl. Donoso Cortés 1948 [1851]: 79. Donoso Cortés 1948 [1851]: 79.

2. Antieuropäisches Denken bei Donoso Cortés und Ángel Ganivet

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1898 in Folge schwerer Depressionen, unter anderem hervorgerufen durch den Tod seiner Frau, das Leben. 67 Bereits diese einleitenden biografischen Angaben enthalten drei für sein späteres Schaffen sehr bedeutende Umstände. Da wäre zuerst einmal Ganivets Tätigkeit als Diplomat, infolge deren er sich viel im Ausland aufhielt und so die Möglichkeit hatte, seinen Blick auf die spanische Heimat von außen schärfen zu können und sie insbesondere im Vergleich mit dem nördlichen Europa einzuschätzen. So beeindruckten ihn vor allem der Zivilisationsgrad und die wirtschaftlichen Zustände in den vorwiegend nordund mitteleuropäischen Ländern, die er bereiste. Gleichzeitig führten ihm seine Beobachtungen auch schmerzlich die allzu offensichtliche Unterlegenheit Spaniens in diesen Bereichen vor Augen. 68 Des Weiteren stammt er aus Andalusien, d. h. all seine Ausführungen gehen von der zentralspanischen Perspektive aus. So ist oftmals in der Forschung zu Ganivets Werk von der Erfindung Kastiliens die Rede. 69 Überhaupt gilt er als einer der Ersten, die in dieser Region das metaphysische Zentrum und die Geburtsstätte der spanischen Nation sahen. Noch heute hat dieses Kulturkonstrukt auch in der nichtspanischen Welt Bestand. Letztlich spielt Ganivets Herkunft aus der bürgerlich-konservativen Schicht eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Rezeption und im Verständnis seines Werkes sowie seiner Sichtweise auf Europa. Ganivets Bedeutung für den Diskurs über Spaniens Zukunft Ende des 19. Jahrhunderts wird den nord- und mitteleuropäischen Ländern besonders von den gebildeten Oberschichten in eben jenen wirtschaftlich starken Staaten wie England oder den Niederlanden eine Überlegenheit gegenüber den Südeuropäern attestiert. Diese zeigte sich laut herrschender Meinung aber nicht nur im ökonomischen, sondern auch im gesellschaftlichen Fortschritt. Zudem interpretierte man diesen Zustand als einen Beweis für die anscheinend positivere Auswirkung der protestantischen im Vergleich zur katholischen Moral, die in den ‚rückständigeren‘ Ländern Süd- und Südwesteuropas herrschte. Ganivet und weitere zeitgenössische Autoren reagierten auf solche Ansichten, indem sie versuchten, neben einer Feststellung des Status quo und einer Untersuchung der spanischen Vergangenheit, auch mögliche Wege aus der nationalen Krise aufzuzeigen. 70 Selbst für Experten ist es schwierig, Ganivet und sein Werk in der Literaturgeschichte einzuordnen. Von vielen wird er als der Vorläufer und Ideengeber der Generation von 1898 gesehen, andere betrachten ihn isoliert von jeglichen 67 68 69 70

Vgl. Franzbach 1988: 47. Vgl. Hinterhäuser 1979: 225. Vgl. Voges 2004: 52ff. Vgl. Voges 2004: 52.

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Richtungen oder ‚Generationen‘ und ordnen ihn einfach der Moderne zu. 71 Sein Essay Spaniens Weltanschauung und Weltstellung, welcher die Grundlage der folgenden Ausführungen darstellt, bildet einen Teil des geistigen Fundaments für die 98er Generation. Er gilt zudem als ein wesentlicher Impulsgeber für die Ideen eines wieder entdeckten spanischen Nationalismus und die Frage nach einer spanischen Identität. Zudem trug der Schriftsteller maßgeblich zur Verbreitung der literarischen Form des Essays in Spanien bei, welche heutzutage oftmals als die literarische Gattung des 20. Jahrhunderts schlechthin angesehen wird. Jedoch gelangte Ganivets Werk erst nach seinem Tod in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, teilweise wurde er als nahezu „messianische Figur“ 72 verehrt. Letztlich hat er zumindest die nachfolgende intellektuelle Diskussion über die Gegenwart, aber vor allem auch die Zukunft Spaniens in großem Maße beeinflusst. Ganivets Suche nach einer spanischen Identität Der „kulturkritische Essay“, 73 in welchem Ganivet ausführlich seine Vorstellungen einer nationalen Identität Spaniens erläutert, wurde von ihm im Oktober 1896 abgeschlossen und 1898 erstmals veröffentlicht. Er trägt in der deutschen Übersetzung den einerseits sich vom Originaltitel Idearium español entfernenden, andererseits aber inhaltlich sehr bezeichnenden und treffenden Titel Spaniens Weltanschauung und Weltstellung. 74 Der Text gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil „Spaniens Weltanschauung“ versucht der Autor zunächst die wesentlichen Punkte im Charakter und im Selbstverständnis der Spanier zu erklären. Im zweiten Teil „Spaniens Weltstellung“ erläutert er anhand von politischen und historischen Ereignissen die Position, welche seiner Meinung nach Spanien in der Welt bzw. vor allem im Vergleich mit anderen europäischen Staaten, einnimmt. Im letzten, verglichen mit den beiden anderen, eher kurzen Kapitel „Spaniens geistiger Wiederaufbau“, fügt Ganivet noch einmal seine zuvor ausgeführten Ideen zu einer möglichen Lösung des spanischen Problems zusammen, die für ihn zunächst aus der Überwindung der kollektiven Willensschwäche besteht und in einer Rückbesinnung auf die eigenen Traditionen gipfelt. Zum besseren Verständnis soll jedoch zunächst eine wesentliche Grundlage in Ganivets Überlegungen erläutert werden: die Annahme der sogenannten ideas madres (dt.: Mutterideen). Diese könnte man, kurz gefasst, als Grundkonstanten 71

Vgl. Voges 2004: 65. Voges 2004: 65. 73 Franzbach 1988: 48. 74 Auch die englische Übersetzung Spain: An Interpretation weicht zwar vom Originaltitel ab, gibt jedoch Ganivets Vorhaben angemessen wieder. 72

2. Antieuropäisches Denken bei Donoso Cortés und Ángel Ganivet

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auf historisch-kulturellem Gebiet bezeichnen, als Archetypen, die den spezifischen Nationalcharakter eines Landes maßgeblich beeinflussen. 75 Zu diesen ideas madres zählen insbesondere der Stoizismus Senecas – der senecismo 76 – und das Christentum – der cristianismo español. In Spanien sei der Katholizismus allgegenwärtig und die „allgemein herrschende und beherrschende Religion“. 77 Der Stoizismus schließlich ist eine noch auf die römische Antike zurückgehende Geistesströmung, die nicht nur die moralische und religiöse Entwicklung Spaniens maßgeblich geprägt habe, sondern auch im Alltag, in Sprichwörtern oder im Rechtsverständnis erhalten geblieben sei. Ein weiterer Ausgangspunkt Ganivets ist seine Feststellung einer das gesamte Land lähmenden abulia, einer „Erschöpfung oder ernste[n] Schwächung der Willenskraft“. 78 Diese könne nur durch eine Wiederbesinnung auf die genannten ursprünglichen Geistesströmungen der spanischen Kultur überwunden werden. Ein weiterer essenzieller Punkt in Ganivets Ideenkomplex ist die Existenz eines für jede Nation individuellen ‚Nationalmythos‘, dessen Platz im Falle Spaniens von Cervantes’ Don Quijote eingenommen wird. Der ursprünglichen Satire eines Ritterromans widerfährt in Verbindung mit der bereits erwähnten Idealisierung der kastilischen Hochebene als symbolischem Kern der spanischen Kultur eine ‚Heroisierung‘ bis hin zu einem identitätsstiftenden und kollektiv verbindlichen Ideal. Ferner entstand dieser Mythos in seiner bis heute andauernden Form erst im Diskurs um die Generation von 1898. 79 Der Autor versucht mit Hilfe dieses Mythos, der technischen Überlegenheit der nordeuropäischen Länder das Ideal eines spirituellen Erbes entgegenzusetzen. Auch in anderen Nationen dienen solche Heldenepen oftmals einer Aufwertung der eigenen Kultur, eben durch eine Rückbesinnung auf das traditionelle Erbe. In engem Zusammenhang damit steht auch der von Ganivet thematisierte ‚Konquistadorengeist‘, welcher Ritterlichkeit und Eroberungsdrang miteinander verbindet und dem in seinen Schriften eine Individualisierung und Mythisierung widerfährt. 80 Zum Verhältnis Spanien–Europa Eine weitere zentrale idea madre ist die von Ganivet selbst eingeführte Vorstellung der Existenz eines nationalspezifischen espíritu territorial (dt.: Geist der Heimaterde). So gibt es bei ihm die festländischen Geister, 81 zu denen beispiels75 76 77 78 79 80 81

Vgl. Voges 2004: 62. Vgl. Ganivet 1921: 2ff. Ganivet 1921: 10ff. Ganivet 1921: 137. Vgl. Voges 2004: 58ff. Vgl. Ganivet 1921: 41. Vgl. Ganivet 1921: 26ff.

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weise die Franzosen gehören, die insularen, hier nennt er die Engländer, sowie peninsularen Geister, zu welchen er das spanische Volk zählt. In diesem Zusammenhang stellt Ganivet zudem die These auf, dass die Entwicklung eines Gebietes abhängig sei von dessen Entfernung vom Mittelpunkt der jeweiligen territorialen Einheit. Folglich würde der Fortschritt auf einer Insel am schnellsten vorangehen, daraus ließe sich schließen, dass sich eine Halbinsel, wie die Iberische Halbinsel, da sie meist am Rand eines Kontinents liegt, am langsamsten entwickelt. Um dieses Gedankengebäude noch auf die Spitze zu treiben, stellt Ganivet bei den drei verschiedenen Ausprägungen auch noch unterschiedliche typische Eigenschaften fest. Inselbewohner würden demnach besonders angriffslustig sein, festländische Völker besäßen eine hohe Widerstandskraft, und Halbinseln, wie die Iberische, seien durch ein starkes Unabhängigkeitsgefühl geprägt. Schließlich dienen diese jeweiligen Eigenheiten dem Zweck der Selbstbehauptung, vor allem im Bezug auf die Machtverteilung innerhalb Europas. Da die Spanier auf einer Halbinsel siedeln, seien sie zwar in gewisser Weise isoliert vom Rest des Kontinents, aber diese Lage biete keinen Schutz vor allen Gefahren, weil sich durch die wechselvolle und von Invasionen geprägte spanische Geschichte kaum eine dauerhafte Organisation zur Verteidigung herausgebildet habe. Zwischen den Zeilen könnte man hier auch zusätzlich eine Kritik des maroden und durch Korruption und Ineffizienz heruntergewirtschafteten politischen Systems im Spanien des Silbernen Zeitalters, des Edad de la plata, gegen Ende des 19. Jahrhunderts herauslesen. Das dem peninsularen Geist eigene, natürliche Unabhängigkeitsgefühl stehe zudem in engem Zusammenhang mit dem ‚Konquistadorengeist‘. Beide Phänomene seien die Grundlage des spanischen Kolonialismus gewesen; diesem wiederum räumt Ganivet eine Vorbildwirkung gegenüber allen anderen europäischen Kolonialvölkern ein, da hier anstelle von ausbeuterischen Formen, wie sie bei den anderen europäischen Großmächten aufträten, die kulturelle und ‚zivilisatorische Mission‘ im Vordergrund gestanden habe. 82 Auch die zahlreichen Bürgerkriege auf der Iberischen Halbinsel sind für Ganivet Ausdruck des spanischen Strebens nach Unabhängigkeit. Trotz all dieser von ihm festgestellten, teils sehr gravierenden Unterschiede räumt der Autor ein, dass die gesamten europäischen Nationalkulturen auf drei „Quadersteinen“ 83 aufgebaut seien: der griechischen Kunst, dem römischen Recht und der christlichen Religion. Zu beachten gilt es jedoch, dass diese Grundbausteine bei den unterschiedlichen Nationen in verschiedenen Mischungsverhältnissen und Ausprägungen vorhanden seien. Dementsprechend unterschieden sich auch die jeweiligen gegenwärtigen Zustände voneinander. Im Bewusstsein, dass Spanien vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet nicht mit Nord- und Mitteleuropa mithalten könne, setzt Ganivet deren ökonomischem Kapital ein „symbolisches 82 83

Vgl. Franzbach 1988: 52. Ganivet 1921: 62.

2. Antieuropäisches Denken bei Donoso Cortés und Ángel Ganivet

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Kapital“ 84 im Sinne Bourdieus 85 entgegen, welches sich seiner Ansicht nach im kulturell-metaphysischen Bereich manifestiert. Grundlage dieser Annahme einer symbolischen Überlegenheit sind unter anderem die bereits vorgestellten ideas madres. Eine Schwäche Spaniens sei zudem, dass zu viel geistige Energie aus dem Landesinneren entweiche wie aus einem „Haus mit zwei Toren“ 86 und so nicht mehr dem nationalen Fortschritt und dem Staatswohle zunutze ist. Gerade deshalb müsse Spanien seine Position gegenüber Europa (und dem Rest der Welt) stärken. In der Politik solle Spanien sich auf seine Wurzeln als Seemacht besinnen und seinen Einflussbereich besonders auf den Mittelmeerbereich hin ausrichten. Trotzdem steht bei Ganivet immer im Vordergrund, dass Spanien sich vor allem auf seine ihm eigenen Gegebenheiten und seinen Nationalcharakter ‚verlassen‘ soll. Um eine moderne Nation zu werden, werde auch in erster Linie eine Organisation benötigt, die zu eben diesem Nationalcharakter passt. Wenn es doch zu einer Assimilation von ausländischem Gedankengut käme, müsse man dieses hispanisieren, also an die Eigenheiten der spanischen Kultur anpassen: „Aber solange wir nicht unserem Werk einen spanischen Charakter verleihen, so lange das Ausländische nicht im Spanischen aufgeht [...] werden wir unser Haupt nicht wieder erheben können“. 87 So seien zwar auf dem Gebiet der Wissenschaften gewisse Rückständigkeiten und Unzulänglichkeiten im Vergleich mit anderen europäischen Nationen einzuräumen, dafür sei der spanische Geist vor allem in der Kunst und Religion (als Grundlage der erstgenannten) besonders stark ausgeprägt. Die Ganivets Ansicht nach fehlgeleitete Politik habe zu einem Niedergang der spanischen Kultur bzw. des spanischen Geistes geführt. Dieser Niedergang soll nun durch eine von äußeren Einflüssen weitgehend unabhängige Haltung beendet werden, die zudem diesem Geist angepasst werden müsse und in einen Aufschwung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zustände kulminieren solle. Ein wesentlicher Bestandteil von Ganivets Lösungsvorschlag, thematisiert vor allem im dritten und letzten Kapitel, ist die bereits genannte Beseitigung der abulia durch eine vor allem geistige Wiederbelebung. Bei einer politischen und sozialen Restauration 88 sollen ausschließlich das innerhalb Spaniens vorhandene Potential 84

Voges 2004: 61. Pierre Bourdieu (1930 – 2002) beschreibt die Interaktionen innerhalb einer Gesellschaft als eine Art ‚Spiel‘, bei dem die Individuen unterschiedliche Potentiale in den verschiedenen alltäglichen Bereichen besitzen und diese gewinnbringend einsetzen oder auch umwandeln können. So gibt es neben dem ökonomischen und dem symbolischen Kapital auch ein soziales und ein kulturelles bzw. Bildungs-Kapital (vgl. Voges 2004: 33ff). Das symbolische Kapital geht zudem über die drei anderen hinaus und entsteht mittels gesellschaftlicher Anerkennungswerte, die sich in einem gewissen Ansehen und Prestige niederschlagen (vgl. Bourdieu 1983: passim). 86 Ganivet 1921: 30. 87 Ganivet 1921: 118. 85

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und die eigenen Mittel genutzt werden. Ganivet favorisiert diese geistige Rückbesinnung gegenüber einer, wie er es bezeichnet, Expansion, die ihr Augenmerk eher auf materielle Werte legt. Wie in vielen zuvor genannten Punkten, kommt hier erneut die europakritische und isolierende Anschauung des Spaniers zum Ausdruck. Voraussetzung für diese Idee ist die Feststellung einer unveränderlichen Basis des spanischen Charakters. Ganivet selbst bezeichnet Spaniens Weltanschauung auch als ein „Modell, nach dem Spanien sich durch Rückbesinnung auf seinen espíritu territorial aus sich selbst heraus erneuern könne“. 89 Ganivet nimmt in einem Großteil seiner Werke die Rolle eines Verhandlungsführers, eines Vermittlers zwischen dem Norden und dem Süden, ein. Dabei ‚manipuliert‘ er jedoch zumeist den Diskurs, indem er auf Seiten des Südens mit symbolisch-moralischen Werten und Tugenden operiert. Konfliktfelder wie den ökonomischen Fortschritt oder die Weiterentwicklung im politischen Bereich spart er entweder aus, oder nimmt zu ihnen zwar Stellung, lenkt aber sogleich wieder die Aufmerksamkeit auf die Überlegenheit des Südens, beispielsweise in den Moral- und Wertvorstellungen. 90 In der wissenschaftlichen Literatur sind gerade im Zusammenhang mit Ganivets Vorstellung von einem espíritu territorial viele kritische Stimmen vernehmbar. Die Vorstellung eines solchen ‚Geistes‘ erweist sich bei genauerem Hinsehen als irrational und mystifizierend und hält, wie auch einige andere Ausführungen des Autors, tiefgründigen Nachforschungen nicht stand. Diesbezüglich ergibt sich die Frage, warum ein gebildeter Diplomat wie Ganivet, der auch andere Länder bereiste, solche weit hergeholten oder rassistisch und nationalistisch wirkenden Gedanken niederschreibt. Für Hans Hinterhäuser etwa handelt es sich um ein psychologisches Phänomen, eine „Trotzgebärde“, 91 die, im Bewusstsein einer faktischen Unterlegenheit, in der Vorstellung einer kulturellen Überlegenheit gegenüber Nord- und Mitteleuropa gipfelt. Andere sehen den konservativen und isolierenden Ansatz des Schriftstellers vor dem Hintergrund des nationalistisch eingestellten, katholischen Besitzbürgertums in Spanien. In Zusammenhang mit dieser These könnte man Ganivet auch als ein ‚Opfer‘ eines gegen Ende des 19. Jahrhunderts „modischen Nationalismus“ 92 bezeichnen. Wesentliche Gedanken zum spanischen Nationalcharakter und zu einer Lösung des ‚spanischen Problems‘ finden sich außer in Spaniens Weltanschauung auch in anderen Werken Ganivets wieder, beispielsweise in den Cartas finlandesas (dt.: Briefe aus Finnland) sowie in El porvenir de España (dt.: Die Zukunft Spaniens), 88 89 90 91 92

Vgl. Ganivet 1921: 131ff. Zit. nach Voges 2004: 61. Vgl. Ganivet 1921: 126ff. Hinterhäuser 1979: 225. Franzbach 1988: 58.

3. Spanische Europäisten: Francisco Pi y Margall und Joaquín Costa

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einem offenen Briefwechsel mit seinem engen Freund Miguel de Unamuno, welcher durchaus ähnliche Ansichten, etwa die Idee eines Nationalmythos, vertritt. Diese Schrift wurde in der Tageszeitung Defensor de Granada im Sommer 1898 veröffentlicht und sollte so ein breites Publikum erreichen. Darin verdeutlicht und präzisiert Ganivet einige seiner in Spaniens Weltanschauung erläuterten Ideen, wobei ein fast ‚meditativer‘ Zug, gerade in der Frage nach einer erfolgreichen Zukunft Spaniens, hinzutritt: In Spanien gibt es nur zwei rationale Möglichkeiten für die Zukunft: absolute Unterwerfung unter die Ansprüche des europäischen Lebens oder ebenfalls absoluter Rückzug und Arbeit für die Herausbildung eines bodenständigen Originalkonzepts. 93

Ganivet plädiert in den untersuchten Texten deutlich für Letzteres. Sein Programm ist das einer Hispanisierung im Sinne einer kategorischen Ablehnung und Abkehr von Europa. 94 Die Ideen des Diplomaten fanden in der Zeit nach dem Erscheinen von Spaniens Weltanschauung, ähnlich wie die Werke Donoso Cortés’, großen Zuspruch in der Öffentlichkeit, da ihnen von ihren Zeitgenossen eine prophetische bzw. aufbauende und ermutigende Funktion zugeschrieben wurde. 95 Gerade die ‚Idee‘ einer Isolation vom Rest Europas ist in einem großen Abschnitt des 20. Jahrhunderts, nämlich während des Franco-Regimes, Wirklichkeit geworden. 96 Doch auch diese Phase konnte nicht verhindern, dass Spanien nach und nach einen Öffnungs- und Liberalisierungsprozess durchlaufen hat und heute ein modernes und mit dem restlichen Europa eng verbundenes Land ist. Im Endeffekt hat sich, wenn man die aktuelle Situation zugrunde legt, die ‚andere Idee‘, nämlich die einer Hinwendung zu Europa durchgesetzt. Somit muss es immer auch Denker gegeben haben, die sich pro-europäisch äußerten. Zwei Vertreter und ihre Ansichten werden im folgenden Kapitel vorgestellt.

3. Spanische Europäisten: Francisco Pi y Margall und Joaquín Costa Von Johannes Kunath Der um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert dominante Pessimismus führte zu dem, was spanische Intellektuelle als eine gesamtnationale Identitätskrise bezeichneten. Diese lässt sich in der Analyse zweier bedeutender Schriftsteller und Politiker aus jener Zeit verdeutlichen: Francisco Pi y Margall und Joaquín Costa. 93 94 95 96

Ganivet, El porvenir de España, 1090f, zit. nach Franzbach 1988: 52. Vgl. Beneyto 1999: 33. Franzbach 1988: 57f. Siehe hierzu Kapitel B.I.1. in diesem Band.

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I. Spanien: Zwischen Abkehr und Hinwendung zu Europa

Beide Autoren stehen in ihren Texten hinter ihrem Heimatland Spanien, betrachten dessen aktuelle Entwicklung jedoch äußerst kritisch. Sie sind starke Befürworter eines Spaniens, welches in das entstehende Netz der Nationen Europas eingeflochten und integriert werden soll. Sie bewegt insbesondere die Furcht vor dem Verlust des Anschlusses an ein Europa, von dessen Modernität ein nationalistisches, rückwärtsgewandtes Spanien sich zunehmend zu isolieren drohte. Pi y Margall und Costa machen, was ihre Vorstellung von Europa betrifft, zwar wenige konkrete Vorschläge, jedoch lässt sich in ihrer Auseinandersetzung mit Spanien eine bestimmte Idee eines gemeinsamen Europas wiederfinden. Viele der Anknüpfungspunkte an Europa müssen jedoch gemäß den Autoren erst geschaffen werden – Gemeinsamkeiten und Parallelen müssen konstruiert werden und wachsen. Dass damit die Distanzierung Spaniens von dessen bisherigem, afrikanisch orientiertem Charakter einhergeht erscheint unausweichlich. Francisco Pi y Margall Francisco Pi y Margall wurde in Barcelona geboren und lebte von 1824 bis 1901. Er war sowohl Schriftsteller und Journalist für diverse Zeitschriften als auch Politiker. Seine katalanische Herkunft prägte sein Denken und Wirken, was man an seinen Vorstellungen eines föderalistischen Spaniens mit autonomen Regionen sehen kann. 97 Pi y Margall trat zwar 1849 der Demokratischen Partei bei, bekannte sich jedoch ein Jahr später zu einem idealistischen Sozialismus mit anarchistischer Ausrichtung. Er verurteilte immer wieder die zentralistische politische Macht des Staates, wusste aber, dass eine vollständige Abschaffung dieser Macht nahezu unmöglich und idealistisch sei. Er war später auch langjähriger Parlamentsabgeordneter sowie vom 11. Juni bis zum 18. Juli 1873 Präsident der Ersten Spanischen Republik. Damit ist Pi y Margall einer von vier Präsidenten, welche in dieser Zeit den Versuch unternahmen, eine spanische Republik zu leiten. Letztlich misslang dies jedoch, da die Republik bereits 1874 wieder abgeschafft wurde. 98 Politisch setzte er sich vor allem für eine föderalistische Reform des spanischen Staatswesens ein und war strikt gegen jegliche Zentralisierung auf regionaler, nationaler oder internationaler Ebene. 99 Pi y Margalls Konzepte wurden erst nach dem Zerfall der Franco-Diktatur von einigen Schriftstellern und Politikern wieder entdeckt, was vor allem an seinen Ideen zu einer dezentralisierten Republik und deren Europabezug lag.

97 98 99

Vgl. Fusi / Palafox 2003: 82. Vgl. Bernecker / Pietschmann 2000: 244. Vgl. Jover / Gómez-Ferrer 2001: 195.

3. Spanische Europäisten: Francisco Pi y Margall und Joaquín Costa

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Für ein Europa der Regionen Hans Hinterhäuser fasst das größte Ziel Pi y Margalls folgendermaßen zusammen: „In der Konsequenz seiner Ideen liegt ohne Zweifel [...] die utopische Wünschbarkeit eines ‚Europa der Regionen‘ – wie man heute sagen würde und sagt“. 100 Anhand dieses Zitats lässt sich erkennen, wie fortschrittlich die Idee Pi y Margalls zu Europa bereits war. Wie steht Pi y Margall nun aber zur Situation in Spanien um 1856 und was sieht er als wichtigstes aktuelles Ziel für ein Spanien innerhalb Europas? Seine klare Antwort lautet: Dezentralisierung. Er macht sehr konkrete Vorschläge für den Aufbau einer spanischen Republik. Für ihn ist die Verteilung der politischen Macht die Quelle für die innenpolitischen Probleme der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Monarchie ist die ursprüngliche und quasi zwingend vorgeschriebene Form der politischen Macht. Schafft man die Monarchie ab, negiert man gleichzeitig die politische Macht. 101 Diese politische Macht ist jedoch ungleich der zivilen Macht, welche seiner Meinung nach „die einzige Garantie für das Recht aller sein könnte.“ 102 Politische Macht stellt sich nämlich im Namen der Ordnung über das Recht, wodurch deren Ablehnung bereits gerechtfertigt wäre. Sie wirklich abzuschaffen ist jedoch beinahe unmöglich. Daher meint Pi y Margall, die momentan einzige mögliche Lösung dieser Frage sei die Dezentralisierung der politischen Macht. 103 Wirklich gefährlich sei politische Macht nur in zentralisierter Form – solange sie in der Hand eines oder weniger Menschen liegt. Daher lautet sein Vorschlag: „Teilen wir sie auf! Verwandeln wir Stadt- und Regionalverwaltung in politische Körperschaften; teilen wir das Volk in Klassen“. 104 Er sieht also den Weg zur Dezentralisierung der Macht in der Bildung von Räten auf den unterschiedlichen geopolitischen Niveaus, also Gemeinde-, Provinz-, und Bundesräte, in denen jede soziale Schicht vertreten ist. Diese Räte haben zudem unterschiedliche Aufgabenbereiche und Interessenssphären, wodurch die Möglichkeit eines gleichzeitigen Scheiterns aller Räte und damit der Republik erschwert sei. 105 Als Argument für eine Dezentralisierung führt er unter anderem an, dass die spanischen Provinzen in der Geschichte schon immer sehr autonom waren; einige seien sogar Jahrhunderte lang unabhängige Königreiche gewesen. Auch in der Arbeiterklasse gebe es starke Tendenzen der Selbstorganisation in Form von Gewerkschaften, deren Ämter durch demokratische Wahlen vergeben werden und welche oft schon eng zusammenarbeiten. 106 100 101 102 103 104 105

Hinterhäuser 1979: 216. Vgl. Pi y Margall 1979: 216. Pi y Margall 1979: 216. Vgl. Pi y Margall 1979: 216. Pi y Margall 1979: 217. Vgl. Pi y Margall 1979: 217f.

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I. Spanien: Zwischen Abkehr und Hinwendung zu Europa

Pi y Margall beschreibt diese Dezentralisierung in mehreren Aspekten. Er ist der Auffassung, dass im säkularisierten Zeitalter auch „das Heer, der Richterstand, der gesamte Verwaltungsapparat, alle wissenschaftlichen Laufbahnen“ 107 vom Staat unabhängig werden könnten. Als gemeinsames Fundament all dieser Klassen sieht er das allgemeine Wahlrecht für Spanien. Die durch die Cortes, also die Stände- bzw. Volksversammlung Spaniens, eingerichteten und durch Volkswahl legitimierten Friedensrichter seien somit ein bereits realisierter Schritt zur Dezentralisierung innerhalb Spaniens. 108 Für Pi y Margall zerstört man durch eine Abschaffung der zentralen Organisation eben nicht – wie man schnell annehmen könnte – die nationale Einheit Spaniens, sondern nur „die sinnlose Uniformität, in die man vollkommen unterschiedliche Elemente des sozialen Lebens hineinpressen will und leider schon hineingepresst hat.“ 109 Diese Einförmigkeit erschwere schließlich nur die Weiterentwicklung des Landes und werde „zurecht von hunderten Völkern verflucht“. 110 Dezentralisierung setzt er zudem auch mit Freiheit und Fortschritt gleich und betont deren Wertigkeit als „Einheit in Vielfältigkeit.“ 111 Diese können als bereits sehr europäische Gedanken interpretiert werden, berücksichtigt man, dass der aktuelle Leitspruch der Europäischen Union „Einheit in Vielfalt“ lautet. Pi y Margall geht mit seinen Forderungen sogar noch weiter, da er die Dezentralisierung nicht nur auf die Verwaltung begrenzen, sondern sie genauso stark im politischen Bereich verankern möchte: „[...] wir sind für die Föderation der Klassen und der Völker und wir sind genauso Feinde der Republik wie der Monarchie, wenn diese Republik nicht weitestgehend dezentralistisch ist“. 112 Wie stellt er sich dieses Prinzip nun für Europa vor? Seine Vorstellungen erscheinen hier bereits erstaunlich weitsichtig. So möchte er die Nationen Europas politisch vereinen – ist sich dennoch bewusst, dass dies zu diesem Zeitpunkt utopisch ist, und dass dieser Gedanke noch lange reifen muss. Die Einigung der Völker ist für ihn letztlich die einzige Möglichkeit, einen dauerhaften Frieden in Europa zu konstruieren – eine Einsicht, welche die Geschichte des 20. Jahrhunderts auf tragische Weise beweisen sollte. Er ist sich dieser Idee sogar so sicher, dass er behauptet, diese Entwicklung sei vollkommen „logisch und unausweichlich.“ 113 Eines Tages, so Pi y Margall, können sogar alle Nationen und Völker der 106 107 108 109 110 111 112 113

Vgl. Pi y Margall 1979: 217. Pi y Margall 1979: 218. Vgl. Pi y Margall 1979: 218. Pi y Margall 1979: 218. Pi y Margall 1979: 218. Pi y Margall 1979: 219. Pi y Margall 1979: 219. Pi y Margall 1979: 219.

3. Spanische Europäisten: Francisco Pi y Margall und Joaquín Costa

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Erde geeint werden, da die von ihm dargelegten Grundsätze der demokratischen Dezentralisierung universell und weltweit anwendbar seien. 114 Joaquín Costa Francisco Pi y Margall war jedoch nicht allein mit seinen Vorstellungen von einem Spanien innerhalb Europas. So ist Joaquín Costa Mártinez ein weiterer Autor des spanischen Europäismus. Er wurde 1846 in Huesca als Sohn armer Bauer geboren, studierte in Madrid Jura und Literatur, und starb 1911. Aus 1867 datiert ein Ereignis in der Biographie Costas, das sein Denken entscheidend beeinflussen sollte: Er wurde nach Paris gesandt, um dort den Auftritt Spaniens bei der Weltausstellung vorzubereiten. Der Aufenthalt in Paris führte ihm die Rückständigkeit Spaniens im Vergleich zum modernen Europa vor Augen. Die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, wie Walter Benjamin Paris beschrieb, 115 wurde für ihn der Inbegriff der Zivilisation, des Fortschritts und der modernen europäischen Kultur. Von nun an widmete sich Costa dem Versuch, Spanien an Europa anzunähern. 116 Costa gilt als Hauptvertreter des so genannten Regeneracionismo, einer Gruppe von Soziologen, Wirtschaftswissenschaftlern und (vor allem republikanischen) Politikern, die die „spanische Dekadenz am Ende des 19. Jahrhunderts durch konkrete und gezielte Reformvorschläge überwinden“ wollten. 117 Dabei war Costa besonders progressiv und eigenwillig. Er beschäftigte sich mit juristischen, soziologischen und politischen Problemen der spanischen Oligarchie – der Herrschaft von wenigen Reichen unter Missachtung des Allgemeinwohls – um die Jahrhundertwende. Seine Ansichten waren insgesamt sehr optimistisch. Was seine Gedanken über Spanien betrifft, ist eine gewisse Sehnsucht nach dem mystischen und märchenhaften Land vergangener Zeiten nicht zu leugnen – sowie auch die Angst vor dem vollständigen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Niedergang seiner Heimat. In seinen Schriften thematisierte er hauptsächlich die Orientierung Spaniens an Europa. Damit beeinflusste er besonders die Schriftsteller der 1898er Generation Spaniens, wie beispielsweise Ortega y Gasset. Der Text Reconstitución y europeización de España (dt.: Wiedergeburt durch Europäisierung) erschien postum 1979. 118

114 115 116 117 118

Vgl. Pi y Margall 1979: 219. Vgl. Benjamin 1991: 45. Vgl. Beneyto 1999: 33 – 34. Hinterhäuser 1979: 233. Vgl. Hinterhäuser 1979: 233.

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I. Spanien: Zwischen Abkehr und Hinwendung zu Europa

Wiedergeburt durch Europäisierung Joaquín Costa befasst sich in diesem Text mit den Problemen Spaniens am Ende des 19. Jahrhunderts. Darüber hinaus unterbreitet er Reform- und Lösungsvorschläge, um Spanien zu regenerieren. Einen zentralen Lösungsweg für die Probleme Spaniens sieht er in der Europäisierung des Landes. 119 Der erste große Problembereich Spaniens am Ende des 19. Jahrhunderts äußert sich in finanziellen Schwierigkeiten des Landes. Für deren Lösung müsse jegliche Investition in Bildung, Bauwesen oder Produktionsförderung unterbleiben, bis der Haushalt saniert und die Bilanz ausgeglichen sei – Reformen seien vorerst unwichtig. Costa sieht diese „kleinmütigen Überlegungen“ 120 jedoch nicht als die einzige Lösung des Problems an. Der zweite große Problembereich ergibt sich für ihn sowohl aus der Identitätskrise der Spanier, also dem Verfall und Niedergang des nationalen Bewusstseins, als auch aus der Notwendigkeit der Rehabilitierung als europäische Macht, was für ihn eine Priorität des spanischen Staates darstellt. 121 Für Joaquín Costa sind die Menschen, die Spanier, wichtig, denn sie stützen das Land und tragen deren Identität. Deren Hoffnung müsse jetzt also wieder gestärkt werden, indem man „nicht Versprechungen macht, sondern etwas Greifbares bietet.“ 122 Hoffnung ist wichtig, um als Nation zu bestehen und um eine Zeit anzustreben, welche das Land wieder belebt – und das beständiger als im 15. Jahrhundert, als Spanien mit seinen Kolonien zwar kurzzeitig die mächtigste Macht der Welt wurde, diese Macht jedoch aufgrund schlechter Führung nicht lange beibehalten konnte. Costa räumt jedoch genauso ein, dass die Umwandlung von einem Militär- in einen Industriestaat nicht so einfach ist. Zudem kann die Politik für die Freiheit des Bürgers nichts weiter tun, da diese „Ware [...] außerhalb der Reichweite der Politiker liegt.“ 123 Das primäre innenpolitische Ziel ist für Costa eine Besinnung auf das Volk, auf die Spanier, und nicht nur auf das Land bzw. den Staat. Dementsprechend sollte man also konkreter in den „Ausbau von Vorratskammer und Schule, den Schlüsseln zu jeglicher Freiheit“ 124 investieren. Die Beseitigung von „Armut und Unwissenheit“ 125 ist für Costa also die wichtigste Prämisse der spanischen Politik. Den zweiten großen Problembereich Spaniens sieht Costa im Konkurs der Nation. Diese sei „nach und nach vom Rang einer fortschrittlichen und europäischen 119 120 121 122 123 124 125

Vgl. Costa 1979 [1924]: 234. Costa 1979 [1924]: 234. Vgl. Costa 1979 [1924]: 234. Costa 1979 [1924]: 235. Costa 1979 [1924]: 235. Costa 1979 [1924]: 236. Costa 1979 [1924]: 236.

3. Spanische Europäisten: Francisco Pi y Margall und Joaquín Costa

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Nation auf den Stand einer jener asiatischen, dekadenten und versteinerten Nationen abgesunken“ 126 – umso mehr fordert er einen Anschluss Spaniens an Europa und „keine Kopie von Marokko [oder] ein zweites China.“ 127 Für Costa müssen beide Probleme gelöst werden: Die Finanzpleite und die geistige Pleite der Nation sind nicht separat lösbar. 128 Er drückt sich hinsichtlich seiner Vorstellungen zur geopolitischen Orientierung Spaniens sehr konkret aus: „Spanien soll schleunigst sein afrikanisches Ambiente in ein europäisches verwandeln, damit wir nicht Heimweh nach dem Ausland haben – welch schreckliche Alternative“. 129 Costa befürwortet hier somit eindeutig schon die Ausrichtung Spaniens an Europa. Zwar hat ein einheitliches Europa zu diesem Zeitpunkt nur rein geographisch existiert, jedoch ist bemerkenswert, dass Joaquín Costa bereits die Vision eines homogenen Europas vorschwebte. Spanien wurde zu dieser Zeit schließlich oft eher als ein Teil Afrikas betrachtet. Die Pyrenäen markierten so die Südwestgrenze Europas – auf der anderen Seite des Gebirges begann Afrika. Die klimatischen Bedingungen und die lange Geschichte eines islamisch geprägten Spaniens waren noch immer zugegen und formten dieses mental mapping. Nach Costas Ansichten müsse sich das Land allerdings entwickeln, um zu Europa zu gehören. Costa ist sich sicher, dass Europa „einen mittelalterlichen Volksstamm in fossilem Zustand als Anhängsel“ 130 nicht dulden wird. Dafür sei nun auch eine innenpolitische Umstrukturierung nötig, also eine „Vereinfachung [von] Heer, Klerus, Gerichten [und] Verwaltung.“ 131 Unter anderem solle sich dadurch eine Reduzierung der Staatsausgaben erreichen lassen – wobei eine rein wirtschaftliche Betrachtung für die Erneuerung Spaniens fatal wäre. Schließlich würde diese erzwungene Zahlungsfähigkeit starke Nebenwirkungen entstehen lassen. Die unter diesem Preis potentiell entstehende Situation Spaniens beschreibt er kritisch: [...] mit einer Landwirtschaft wie in der Sahara, Schulen wie in Kabylien und Karikaturen von Universitäten; von der Beteiligung an der zeitgenössischen Wissenschaft und an der Geschichte so weit entfernt wie der unbekannteste Stamm Zentralafrikas [...]. 132

Anhand dieses Zitats lässt sich erkennen, dass Spanien sich auf diese Art und Weise von Europa entfernen würde. Für Costa ist Zahlungsfähigkeit ausschließlich 126

Costa 1979 [1924]: 236. Costa 1979 [1924]: 236. Diese Länder konnten im 19. Jahrhundert wirtschaftlich und militärisch nicht mehr mit den europäischen Großmächten verglichen werden, da innere Krisen ihnen jede Weiterentwicklung erheblich erschwerten. 128 Vgl. Costa 1979 [1924]: 236f. 129 Costa 1979 [1924]: 236. 130 Costa 1979 [1924]: 237. 131 Costa 1979 [1924]: 237. 132 Costa 1979 [1924]: 237. 127

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I. Spanien: Zwischen Abkehr und Hinwendung zu Europa

zusammen mit Freiheit und Europäertum zu erreichen – und das solle möglichst schnell erreicht werden. 133 Allerdings ist es ihm bewusst, dass das Erreichen dieses Zieles einem Wunder gleiche. Die Menschen, die die Erneuerung Spaniens bewerkstelligen können, sind seiner Meinung nach nicht die momentanen Führungskräfte, sondern „eine Auslese von tapferen, weder optimistischen noch pessimistischen Köpfen.“ 134 Diese elitäre Gruppe hat sich für ihn schon gefunden. Sie wollen letztendlich die Erneuerung eines „[...] Spaniens mit allen Anforderungen und Bedingungen einer modernen Nation, in einer Reihe mit Schweden, der Schweiz, Belgien oder Holland“. 135 Costa zieht für Spanien ein eindeutiges und erschreckend ehrliches – wenn auch sicherlich subjektives – Fazit, was seine kritische Sicht auf die Problematik verdeutlicht: Spanien soll in seiner Geschichte neue Wege einschlagen, nicht so wie bisher Richtung Afrika, sondern in Richtung Europa, und wenn es das nicht kann oder nicht will, soll die Geschichte Spaniens aufhören: alles, nur nicht so weitermachen wie bisher, wo einem sinnentleerten Namen alles andere zum Opfer gebracht wird! 136

Dieses Zitat verdeutlicht die Meinung Costas, Europa als einen festen Bestandteil in der spanischen, kollektiven Identität zu verankern. Nur die Europäisierung führe zur Regeneration und zur Wiedergeburt Spaniens. Er gehört zusammen mit anderen zeitgenössischen Europabefürwortern zu den Pionieren der Hinwendung zum europäischen und weg vom afrikanischen Kulturraum – in ihren Reflexionen einer spanischen Identität. Dass sie hierbei nicht nur gegen die isolationistischen Vorstellungen vieler Zeitgenossen, sondern auch mit bereits etablierten Heterostereotypen Spaniens zu kämpfen hatten, lässt sich durch die Tatsache erklären, dass das Bild eines afrikanischen Spaniens im Laufe des 20. Jahrhunderts oft von außen bemüht wurde. 137 Dennoch legt Costa mit seinem Versuch, das Europa der Wissenschaft und des Fortschritts mit dem traditionellen Spanien zu vereinbaren, einen Grundstein für den Mythos der Europäisierung, an welchem sich ganze Generationen von Denkern im 20. Jahrhundert orientieren sollten. 138 * Erst heute lässt sich ermessen, welches Ausmaß die Gedanken Joaquín Costas und Francisco Pi y Margalls hatten. Sie waren nicht die einzigen mit dem Traum eines geeinten Europas, in dem jedes Land sich trotzdem souverän entfalten kann. 133

Vgl. Costa 1979 [1924]: 238. Costa 1979 [1924]: 238. 135 Costa 1979 [1924]: 238. 136 Costa 1979 [1924]: 238. 137 Vgl. Schmid 1937. 138 Costa inspirierte u. a. die Europa-Konzepte von Ortega y Gasset (vgl. Beneyto 1999: 31, 65). 134

3. Spanische Europäisten: Francisco Pi y Margall und Joaquín Costa

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Dennoch ist es erstaunlich, welche Weitsicht sich in ihren Texten wiederfinden lässt. Heute ist die Europäische Union ein zollfreier Länderverbund mit einer teilweise gemeinsamen Währung, einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und dem selbst gesetzten Ziel, in der internationalen Gemeinschaft einen gemeinsamen politischen Standpunkt zu vertreten. Auch Margalls und Costas Vorstellungen über Spanien haben sich in vielen Aspekten verwirklicht. So ist das Land heute ein demokratischer Staat, in dem das Volk mit entscheiden kann und dessen Regionen seit der Gründung des Autonomiestaates (1979 –83) weitgehend autonom handeln können. Wirtschaftlich befindet sich das Land, auch dank des EU-Beitritts, in einer stabilen Lage. Schließlich kann man endlich sagen: Europa hört heute im Südwesten nicht mehr an den Pyrenäen auf.

II. Europa als Faszinosum und Gegenbild im Portugal des 19. Jahrhunderts 1. Portugal im 19. Jahrhundert Von Tanja Olischer Innenpolitische Situation Napoleonische Einfälle Die Regierungszeit von Johann VI. (1792 –1816 Prinzregent von Portugal, 1815 – 1816 auch Prinzregent von Brasilien, 1816 – 1826 König von Portugal, 1816 – 1822 auch König von Brasilien) sollte nicht einfach werden. Durch den Methuen-Vertrag mit England verbündet, beteiligte sich Portugal auf der Seite Englands am Krieg gegen die Napoleonischen Kräfte. Bereits 1795 stand es allein mit England ohne weitere Verbündete im Krieg gegen Frankreich. 1 Spanien schaffte es als Bündnispartner von Frankreich, Teile von Portugal als Entschädigung zu erobern. Napoleon verhängte eine Kontinentalsperre gegen seinen Widersacher England und drängte Portugal ebenfalls, den Handel mit England abzubrechen. Die Portugiesen befanden sich daraufhin in einer schwierigen Situation, denn sie waren einerseits wirtschaftlich noch von England abhängig; andererseits stellte Frankreich ihnen nun ein Ultimatum: Entweder schließe sich Portugal der Kontinentalblockade gegen England an oder Frankreich erkläre Portugal den Krieg. Als Spanien 1807 Frankreich die Durchmarschrechte vertraglich zusicherte, wurde Portugal 1808 von Frankreich besetzt. Im selben Jahr entfloh die portugiesische Königsfamilie den Napoleonischen Truppen nach Rio de Janeiro, zu dem somit neuen Regierungssitz Portugals. 2 Mit Hilfe der englischen Truppen vertrieben die Portugiesen das französische Heer zum ersten Mal im Herbst 1808. Nach weiteren fehlgeschlagenen Invasionsversuchen Frankreichs zogen sich Napoleons Armeen 1811 aus Portugal zurück. Die Lage Portugals nach dem Krieg war äußerst schlecht. Die Kriege hatten den Industrialisierungsprozess gestoppt und das Land war verwüstet. Zudem wurde weiterhin von Brasilien aus regiert. Diese portugiesische Kolonie wurde 1815 zu 1 2

Vgl. Bernecker 2001: 71. Vgl. Bernecker 2001: 72.

1. Portugal im 19. Jahrhundert

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einem unabhängigen Königreich und war nun lediglich durch die Personalunion der Regierung mit Portugal verbunden. Zudem war es den Briten gestattet worden, direkt ohne Portugal mit Brasilien zu handeln. In der Folge dieser Umstände wurde Portugal zu einem britischen Protektorat degradiert und beinahe zu einer Kolonie herabgestuft. Bürgerkrieg als ideologischer Kampf Mit dem Einfluss des englischen Oberkommandos auf die Politik, der Abwesenheit des Königs und dem Import von liberalen Ideen durch eine in England und Frankreich exilierte portugiesische Elite gewann die liberale Bewegung Portugals Auftrieb. Der Konflikt zwischen den Liberalen, die eine konstitutionelle Monarchie für das Land wollten, und den Absolutisten, die eine uneingeschränkte Monarchie anstrebten, verstärkte sich mit der Rückkehr des Königs ab 1821. Das konservative Lager lehnte sich dagegen auf. In dessen Folgen wurden die Cortes (dt.: Ständeversammlungen) aufgelöst, die Verfassung entkräftet und die absolutistische Monarchie unter Johann VI. wiederhergestellt. Der König ließ jedoch seinen Sohn und Kronprinzen Peter in Brasilien zurück. Als dieser ebenfalls auf Wunsch der Cortes nach Portugal kommen sollte, rief er 1822 die Unabhängigkeit Brasiliens aus und wurde Kaiser Peter I. von Brasilien. Um sich eine Tilgung der durch Brasilien entstandenen Schulden und günstige Handelsbeziehungen zu sichern, erkannte Portugal Brasilien 1825 als unabhängig an. 3 Nach dem Tod von Johann VI. im Jahr 1826 bestieg sein ältester Sohn Peter den Thron Portugals. Da Peter II. von Portugal auch gleichzeitig Kaiser Peter I. von Brasilien war und auf eine Trennung der beiden Reiche bestand, entschied er sich für den brasilianischen Thron und überließ den portugiesischen Thron seiner Tochter Maria da Glória. Diese war jedoch noch minderjährig, weshalb er als Regent seinen Bruder Michael aus dem österreichischen Exil holte. Michael sollte die Herrschaft innehaben, bis Maria volljährig wurde, sie anschließend heiraten und sodann mit ihr zusammen regieren. Zudem forderte Peter eine neue Verfassung für Portugal. Diese Carta Constitucional (dt.: Verfassungscharta) von 1826 stellte einen Kompromiss zwischen Absolutismus und Liberalismus dar. 4 Michael aber verbündete sich in Portugal sofort mit den Absolutisten und setzte Maria ab, ernannte sich zum König, setzte die Verfassung außer Kraft und zwang seine politischen Gegner ins Exil. Diese Ereignisse führten zu liberalen Aufständen in Porto und stellten den Beginn des Bürgerkrieges dar. Kaiser Peter I. kämpfte in Brasilien mit innenpolitischen Schwierigkeiten und war immer noch über die Tat seines jüngeren Bruders Michael erzürnt. Er trat zurück, sein Sohn Kaiser 3 4

Vgl. Saraiva 1995: 282. Vgl. Bernecker 2001: 81.

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II. Europa als Faszinosum im Portugal des 19. Jahrhunderts

Peter II. folgte auf dem brasilianischen Thron. Peter kehrte nach Portugal zurück, um im Miguelistenkrieg (1832 –1834) gegen seinen Bruder zu kämpfen. Dieser Krieg war sowohl ein dynastischer Kampf zweier Brüder als auch eine Auseinandersetzung zwischen Absolutismus und Konstitutionalismus. Während Michael von den portugiesischen Grundbesitzern und dem Adel unterstützt wurde, erhielt Peter Rückhalt von Frankreich und Großbritannien, die den Liberalismus unterstützten. Peter siegte 1833, verbannte Michael erneut ins Exil, und die Liberalen eroberten Portugal. 1834 fand der Bürgerkrieg schließlich ein Ende. Als Peter bald darauf starb, wurde seine 15-jährige Tochter Maria da Glória Königin. 5 Nun ohne Absolutisten in der Cortes, zerstritten sich die Liberalen untereinander in gemäßigte (Cartisten) und radikale Liberale (Setembristen) über die Art der Verfassung. Die Königin gehörte den Cartisten an und führte entsprechend die Verfassung von 1826 wieder ein. Die Setembristen hingegen bemühten sich um die Wiederinkraftsetzung der Verfassung von 1822. Zu Marias Regierungszeit sollten mit Reformen die Überreste des Absolutismus überwunden werden und die Verwaltung nach dem napoleonischen Vorbild umgestaltet werden. Um die finanzielle Lage zu verbessern, wurden kirchliche Orden und Kirchen zu nationalem Eigentum erklärt und verkauft. Das jedoch stieß bei der Kirche auf Missgunst. Weiterhin wurden das Steuer- und das Justizsystem reformiert, der Staatshaushalt reorganisiert und feudale Rechte auf dem Land abgeschafft. Allerdings war die innenpolitische Lage aufgrund der Zerrissenheit in den zwei Lagern der Liberalisten instabil. 6 1836 führten die Septembristen einen Staatsstreich in Lissabon durch und setzten die Verfassung von 1822 wieder in Kraft. Daraufhin folgte ein Putsch durch die gemäßigten Liberalen mit Hilfe von belgischen und englischen Militäreinheiten. In den folgenden Jahren konnte sich keine der beiden liberalen Seiten für längere Zeit an der Macht halten. 1838 schien endlich eine Lösung ausgearbeitet worden zu sein: eine Konstitution, die Elemente der Verfassungen von 1822 und von 1826 vereinte. Sie trat 1838 in Kraft, galt jedoch nur vier Jahre. Mit dem Staatsstreich von António Bernardo da Costa Cabral, der Portugal in einer autokratischen-bürokratischen Diktatur regierte, wurde die Verfassung von 1838 durch die Carta Constitucional von 1826 ersetzt. Costa Cabral bemühte sich um eine Verbesserung des schlechten Gesundheitswesens, reformierte die Verwaltung und brachte die regionalen Verwaltungskörperschaften unter eine zentrale Kontrollinstanz. Nun waren die lokalen Behörden nicht mehr von Kirche und Adel, dafür aber von der Staatsverwaltung und den Staatsdienern abhängig. 7 Costa Cabrals beinahe diktatorische Regierungspraxis brachte ihm den Unmut der Portugiesen ein und mündete schließlich in einen Aufstand. Die Königin entließ Costa Cabral und es entbrannte ein neuer Bürgerkrieg zwischen den liberalen Seiten, welcher bis 1847 andauern sollte. 5 6 7

Vgl. Bernecker 2001: 81ff. Vgl. Saraiva 1995: 299ff. Vgl. Bernecker 2001: 85.

1. Portugal im 19. Jahrhundert

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Regeneration und Rotativismus Kurze Zeit nach dem Bürgerkrieg ernannte Maria II. eine neue konservativcartistische Regierung unter dem Herzog von Saldanha. Damit beruhigten sich die politischen Verhältnisse in Portugal. In dieser Zeit bildeten die Setembristen die Partido Histórico (dt.: Historische Partei), die von den Bestrebungen des Marquis Sá da Bandeira beherrscht wurde. Die Cartisten gründeten die Partido Regenerador (dt.: Regenerationspartei) unter der Führung von António Maria Fontes Pereira de Melo. Nach dem Tod von Maria II. im Jahr 1855 übernahm ihr Sohn Peter V. den Thron. Als dieser bald darauf verstarb, erhielt sein Bruder Ludwig I. von Portugal die Krone und regierte von 1865 bis 1868 in einer Koalition der beiden großen Parteien. In den folgenden Jahren lösten sich die zwei Parteien Portugals gewaltlos im Rotationsprinzip beim Regieren ab. Dieses Prinzip sah vor, dass – wenn eine Partei nicht mehr zum Regieren im Stande war – es Wahlen gab und die jeweils andere Partei an die Macht kam. In der Regenerationszeit hatte besonders die ländereienbesitzende Mittelschicht an Einfluss gewonnen und war daran interessiert, das Land nach ihren Vorstellungen zu entwickeln. So wurden Straßennetze und Zugverbindungen ausgebaut, Postsystem und Telegraphie eingeführt. Diese Infrastruktur wirkte sich positiv auf den Handel aus. Bauten, Brücken, Aufzüge und Tunnel zeugten vom Fortschrittwillen. 8 Dies brachte ebenfalls demographische Veränderungen mit sich. Besonders durch die hohen Geburtenraten war die Bevölkerung von 1835 bis 1911 um 81% angestiegen. Diese hohe Einwohnerzahl in ganz Portugal konnte jedoch nicht ausreichend mit den eigenen Ernten versorgt werden. Der Bedarf an Warenimporten ging daher trotz des Fortschritts in der portugiesischen Agrarwirtschaft nicht zurück. Viele Menschen entschlossen sich, nach Brasilien auszuwandern, in der Hoffnung dort bessere Arbeits- und Lebensbedingungen zu finden. Das Bürgertum war seinerseits mehr an sozialem Ansehen und Luxus und somit an ihrer Bindung zu Großgrundbesitzern sowie zum Adel interessiert. Es zeigte wenig Engagement in Bezug auf die Industrialisierung. Diese schwache Bedeutung und geringe Entwicklung der Industrie bedingte zugleich die Einflusslosigkeit der Arbeiterklasse. 9 1906 erlangten weder die Historische Partei noch die Regenerationspartei eine Mehrheit bei den Wahlen. Daraufhin löste der König die Cortes auf und gab João Franco Castelo Branco die diktatorische Vollmacht. Zwei Jahre später wurden der amtierende König Karl I. und sein älterer Sohn Luís Filipe ermordet. Der jüngere Königssohn Manuel überlebte und bestieg 1908 den Thron. Er entließ Branco und sprach den Republikanern mehr Freiheiten zu. Noch im gleichen Jahr gewannen sie somit die Wahlen zum Stadtparlament. Die Republikaner setzten sich für ein 8 9

Vgl. Saraiva 1995: 305ff. Vgl. Bernecker 2001: 91.

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II. Europa als Faszinosum im Portugal des 19. Jahrhunderts

allgemeines Wahlrecht ein und forderten die Trennung von Staat und Kirche, politische Gleichheit und Freiheit, Vereinigungs- und Streikrecht sowie Bildungsreformen. 10 Diese Vorhaben sprachen vor allem den Bevölkerungsteil der Lehrer, Journalisten, Künstler, des Industrieproletariats, der Kleinhändler und der Armee an. Die vom König häufig veranlassten Wechsel der Regierungsmannschaft vergrößerten einerseits die politische Instabilität und stärkten andererseits die gegen die Monarchie gerichtete Front der Republikaner. Als diese 1910 bei den Wahlen in Portugal in den wichtigsten Regionen gewannen, war der Sturz der Monarchie nicht mehr weit entfernt: Am 5. Oktober 1910 wurde die erste portugiesische Republik ausgerufen, die Monarchie ging damit endgültig zu Ende. 11 Außenpolitische Situation Innerhalb Europas verlor Portugal mit der Unabhängigkeit Brasiliens an Macht. So sahen viele Politiker in Afrika eine neue Hoffnung für die Aufrechterhaltung des Kolonialimperiums sowie einen Ausweg aus der Wirtschaftskrise. Mit der Unabhängigkeit Brasiliens 1822 lenkte der portugiesische König sehr bald die strategische Aufmerksamkeit auf den afrikanischen Kontinent. 1836 stellte der Premierminister Sá da Bandeira den Cortes seinen Vorschlag zur Intensivierung der Kolonisation Afrikas vor. Darin plädierte er für die verstärkte Besiedlung der portugiesischen Territorien in Angola, Mosambik und Kap Verde, um den Anbau kolonialer landwirtschaftlicher Produkte zu fördern und damit eine Alternative zu Brasilien zu schaffen. 12 1851 wurde der Überseerat eingeführt, dessen wichtigste Mission darin bestand, die Kolonisation der afrikanischen Territorien voranzutreiben und die portugiesische Emigration dorthin zu kanalisieren. 13 Dies erschien umso dringender, als die Konkurrenz der imperialen europäischen Mächte um den afrikanischen Kontinent im Laufe des Jahrhunderts zunahm. Portugal gelang es zwar in der Berliner Konferenz von 1884 – 1885, seinen Anspruch auf fünf afrikanische Kolonien auf der Basis von historischen Argumenten geltend zu machen, nämlich der Einrichtung von Handelsstützpunkten im 15. Jahrhundert auf den Kapverdischen Inseln, auf São Tomé und Príncipe, in Guinea-Bissau, Angola, und Mosambik. Gleichwohl nahm die Konkurrenz der anderen europäischen Kolonialmächte spürbar zu. Den Plan Portugals, weiter ins Landesinnere vorzustoßen und Angola und Mosambik miteinander zu verbinden, stand der Absicht der britischen Krone, die ihrerseits Kapstadt und Kairo mit der Eisenbahn verbinden wollte, entgegen. Als die strategisch-territorialen Interessen Portugals und Großbritanniens in Afrika auf diese Weise kollidierten, stellte die britische 10 11 12 13

Vgl. Bernecker 2001: 94. Vgl. Bernecker 2001: 95. Vgl. Rowland 2000: 315. Vgl. Alexandre 2000: 90.

1. Portugal im 19. Jahrhundert

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Krone 1890 ein Ultimatum an Portugal. Der portugiesische König Karl I. sah sich gezwungen, nachzugeben und die portugiesischen Truppen zwischen Angola und Mosambik zurückzuziehen. Dem König wurde daraufhin die „Missachtung nationaler Interessen durch Vernachlässigung der Kolonialpolitik“ 14 vorgeworfen. Hiermit gewann die republikanische Partei, welche die Abschaffung der Monarchie anstrebte, Aufwind. Dies mündete schließlich in dem Königsmord und der Ausrufung der Republik. 15 Die Geschichte Portugals als Reservoir nationaler Identitätsfindung Das Ultimatum löste eine Welle des Patriotismus im ganzen Land aus. Unter Intellektuellen wurden Fragen nach der nationalen Identität aktueller denn je. In den Konstruktionen der portugiesischen Nationalidentität spielte die Geschichte eine besondere Rolle. Eine nationalistisch gesinnte Historiographie fand insbesondere in den Gründungsmythen der Nation, im glorreichen imperialistischen Entdeckungszeitalter und in einer voluntaristischen Abgrenzung zu Spanien die Säulen des portugiesischen Nationalwesens. Da diese Ereignisse wichtige Erinnerungsorte der im Zuge des Nationalismus aufkommenden kollektiven Identität waren, wird im Folgenden zunächst auf diese Themen der portugiesischen Geschichte näher eingegangen. Nationsgründung Im 11. Jahrhundert entwickelte sich in der Umgebung von Porto die Grafschaft, welche als erster Ansatz für die Entstehung Portugals gilt. 16 Die Grafschaft unter Heinrich von Burgund war die erste portugiesische Königsdynastie und bemühte sich um Unabhängigkeit von der bestehenden Oberhoheit der Könige von León und Kastilien, welche sie 1143 erreichte. Bis 1383 entwickelte sich Portugal unter der Führung des Hauses Burgund weiter, es eroberte die Algarve im Jahre 1250 und Lissabon wurde die Hauptstadt Portugals. Auf diese frühe Staatsbildung sollte die Historiographie des 19. Jahrhunderts zurückgreifen, um die politische Souveränität Portugals zu legitimieren. Aber auch die vorrömische Zeit und der Widerstand der Lusitaner gegen die römische Kolonisation wurden oft bemüht, um für die frühe Entstehung eines portugiesischen Kollektivcharakters zu argumentieren.

14 15 16

Bernecker 2001: 92. Vgl. Barrento 1999: 15. Vgl. Saraiva 1995: 41.

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Entdeckungszeitalter Nach dem Ende des Hauses Burgund führte die zweite portugiesische Dynastie des Hauses Avis das Land zur Blütezeit der Entdeckungen und zu seiner Position als Weltmacht. Portugal war in Folge seiner Entwicklung hin zur Seeund Handelsmacht sowie seiner Entdeckungen die reichste europäische Nation. Es hatte Kolonien in Afrika, Asien, Brasilien, China und Indien, mit welchen sich enge Handelsbeziehungen entwickelten. So wurde einst die Bedeutung Portugals für Europa besonders dadurch geprägt, dass im 15. und 16. Jahrhundert portugiesische Schiffe europäische Gedanken und Güter in der Welt verbreiteten und die Errungenschaften und Produkte aus der Übersee wiederum nach Europa brachten. 17 Die gemeinsame Herrschaft über Spanien und Portugal Als 1580 das Haus Avis ausstarb, wurde Philipp II. von Habsburg rechtmäßig Thronfolger. 18 Dieser war damals bereits König von Spanien und regierte nun beide Länder. Portugal verlor dadurch seine Unabhängigkeit, und musste zusätzlich zahlreiche portugiesische Kolonien an Spanien abgeben. Portugal wurde im Laufe der Zeit zunehmend an Spanien angegliedert, indem man Spanier für portugiesische Verwaltungstätigkeiten einsetzte. Durch die vielen Kriege Spaniens im Laufe des 17. Jahrhunderts wurde der portugiesische Handel gestört. Länder, die einst Verbündete Portugals waren, stellten nun unter der spanischen Vorherrschaft ihre Feinde dar. Hierzu zählten besonders England und die Niederlande. Portugal verlor weitere Kolonien: 1622 Hormuz an Britannien, 1630 Ceylon und Malakka an die Holländer. 19 Die Vielzahl der spanischen Kriege schlug sich negativ auf den spanischen Finanzhaushalt nieder. Zu den territorialen Verlusten, dem erschwerten Handel, der Pest von 1598 bis 1602, den durch das Wetter bedingten landwirtschaftlichen Krisen und der finanziellen Belastung durch die Kriege kam letztendlich auch die Verordnung, die portugiesische mit der spanischen Armee zusammenzuschließen. Portugal hatte schwer mit diesen Belastungen und Problemen zu kämpfen. Als Spanien 1640 Aufstände in Katalonien schlichten musste und beinahe seine ganze in Portugal stationierte Armee nach Katalonien abkommandierte, witterten die Portugiesen ihre Möglichkeit, wieder unabhängig zu werden. Am 1. Dezember 1640 wurde die Residenz der spanischen Vizekönigin gestürmt und in ganz Portugal die Vertreter und Statthalter Spaniens gefangen genommen, in Klöster eingewiesen oder getötet. 20 Portugal hatte infolgedessen 17 18 19 20

Vgl. Barrento 1999: 14. Vgl. Bernecker 2001: 48ff. Vgl. Franco 2005: 4. Vgl. Bernecker 2001: 56.

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seine Unabhängigkeit zurückerlangt. Eine sofortige Reaktion und kriegerische Unterwerfung Portugals waren den Spaniern nicht möglich, da sich Spanien im Dreißigjährigen Krieg gegen Frankreich befand. Diese Verzögerung nutzte man in Portugal bewusst zur Vorbereitung auf den noch ausstehenden Krieg: Ein portugiesisches Heer wurde zusammengestellt, ein Bündnis mit England abgeschlossen und Kolonien zurückerobert. 21 Die portugiesische Kolonie Brasilien sollte später noch zu der wichtigsten finanziellen Einnahmequelle für die Portugiesen werden. Brasilianisches Gold, Diamanten und Zucker sicherten Portugals Wohlstand. Nach dem Ende des Krieges mit Frankreich wandte sich Spanien 1659 wie erwartet einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Portugal zu. Geschwächt von den Kriegen wurde das spanische Heer mehrfach von den gut vorbereiteten Portugiesen geschlagen. 1668 erkannte Spanien endlich die Unabhängigkeit Portugals im Frieden von Lissabon an. Nie wieder in der portugiesischen Geschichte kam es zum Verlust der politischen Souveränität. Doch die Personalunion unter Philipp II. blieb – sowohl als historisches Trauma als auch als Stolz einflössender Sieg gegen Fremdherrschaften – ebenso im 19. Jahrhundert ein wichtiges Element nationaler Identitätsbildung. Die 1870er Generation Wie bereits erwähnt, erhofften sich die Politiker in Portugal mit Hilfe der afrikanischen Kolonien eine Rückkehr ihres Landes zur einstigen Glorie des Entdeckungszeitalters. Während Portugal hauptsächlich durch seine agrarische Produktion geprägt war, seinen Wohlstand und seine Wirtschaft über den Seeweg erhalten und Waren aus seinen Kolonien eingeführt hatte, entwickelten sich im übrigen europäischen Raum neue Technologien, eigenständige Produktionen und Industrien. Anders als in Portugal wurden Waren in diesen Ländern selbst hergestellt, Wohlstand im eigenen Land erzeugt und nicht mehr in Abhängigkeit von anderen Ländern importiert. Durch die verstärkte Orientierung hin zu den überseeischen Kolonien und die geringe Industrialisierung verlor Portugal den Anschluss an Europa. Es entstand das Bild der Rückständigkeit und Randexistenz, aber auch eines glücklich und friedlich lebenden Volkes. 22 Doch als schließlich eine neue Eisenbahnverbindung nach Coimbra Güter, Menschen und europäisches Gedankengut brachte, machte sich das Misstrauen gegen die einst gelobte Abgeschiedenheit breit. Nun war das Land gespalten einerseits zwischen der Faszination für das glitzernde liberale und moderne Europa sowie dem Gefühl der eigenen Rückständigkeit und des eigenen Verfalls demgegenüber. Andererseits stand es konservativ und nationalistisch abgeneigt oder misstrauisch gegenüber der Modernität Europas, die nun die bereits genannte glückliche Ruhe 21 22

Vgl. Bernecker 2001: 58f. Vgl. Barrento 1999: 15.

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und Abgeschiedenheit störte. 23 Während die Einen das Neue suchten, annahmen und als Vorbild sahen, konnten die Anderen der europäischen Moderne nichts abgewinnen, in deren Vergleich das stolze Portugal nun rückständig schien. Rückständig in Wirtschaft, Industrie und materiellen Werten; rückständig in Bildung und gedanklich von den Europäern an den Rand gedrängt. 24 Folglich wurde Portugal von Europa weniger beachtet und hatte politisch eher geringen Einfluss auf das gesamteuropäische Geschehen. Diese Zerrissenheit zwischen dem Gefühl, nicht gut genug zu sein, und dem Streben nach Anschluss an das Niveau des weit entwickelten Europas spaltete auch die Autoren Portugals in zwei Lager. Zum einen in eine aus Lissabon stammende Generation, schwelgend in einem Traum von einer ruhmreichen Rückkehr zur Blütezeit Portugals wie einst im 16. Jahrhundert. Zum anderen in ein jüngeres Lager, eine aus Coimbra stammende Generation, die in andere Länder Europas reiste und auch die neuen Ideen und Konzepte Europas quasi mit der Eisenbahnverbindung geliefert bekam. 25 Die jungen Schriftsteller aus Coimbra Die Geração de 70 (dt.: 70er Generation), deren Europakonzepte hier im Vordergrund stehen sollen, sprach sich gegen die utopischen Träumereien ihrer der Romantik angehörenden Vorgänger, wie etwa Camilo Castelo Branco, aus. Zwar noch der Epoche der Romantik zugehörig, mischte sie sich bei den jüngeren mit dem Positivismus zu der geistigen Bewegung der 1870er Generation. Diese Dichter und Autoren aus Coimbra kritisierten die vorangegangenen Autoren aus Lissabon, deren harmlose Poesie ohne Innovation, ihre Furcht vor der Freiheit des Geistes und ihr wirkungsloses Tun. Ihrerseits sprachen sich die Autoren aus Lissabon gegen die Einschränkung des Geistes durch die natürlichen Gegebenheiten aus und trafen somit den Kern des positivistischen Gedankens. Die 1870er Generation der jungen Autoren aus Coimbra sah Portugal als unfähig an, den europäischen Fortschritt aufzuholen und mit dem modernen Europa Schritt zu halten. Dennoch waren sie von Europa und dessen Errungenschaften in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur begeistert. 26 Zu den bedeutendsten Vertretern dieser 1870er Generation zählen Almeida Garrett, Antero de Quental, Oliveira Martins, João de Deus, Teófilo Braga, Guerra Junqueiro, Ramalho Ortigão und Eça de Queirós. „‚Das Sein empfinden¡ lautete ihre Parole; Revolution, Metaphysik, Anarchie und Boheme waren ihr Lebenszweck“. 27 Mit Geschichten über die Bürger 23 24 25 26 27

Vgl. Barrento 1999: 15. Vgl. Franco 2005: 6. Vgl. Schnerr 1961: 42. Vgl. Franco 2005: 6. Meyer-Clason 1988: 382.

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aus dem einfachen portugiesischen Alltag sowie ihrem Denken und Handeln versuchten die Schriftsteller aus Coimbra mit Sarkasmus und Spott den Lesern einen Spiegel vorzuhalten und sie zum Nachdenken anzuregen. Ihre Absicht war es nicht, Literatur lediglich aus Interesse an der Kunst zu verfassen, sondern zur Offenlegung und Verdeutlichung von aktuellen Problemen der Zeit. 28 1867 gründeten Mitglieder der 70er Generation den Intellektuellen-Zirkel O Cenáculo (dt.: Speisesaal), der in Anlehnung an die Praxis französischer Zeitgenossen entstanden war. Namhafte Persönlichkeiten wie Antero de Quental, Eça de Queirós, Salomão Saragga, Jaime Batalha Reis, Oliveira Martins, José Fontana und Ramalho Ortigão wirkten als Mitglieder in O Cenáculo. Auch bei dieser portugiesischen Variante eines Intellektuellen-Zirkels handelte es sich hauptsächlich um liberale Denker. Sie trafen sich, um die gesellschaftspolitischen Entwicklungen, insbesondere in Portugal, aber auch in der Welt, kritisch zu betrachten und zu diskutieren. Im Zirkel „verschmolz der Romantismus der einen mit dem Positivismus der anderen zu einer geistigen Bewegung, wie sie Portugal, das nach dem Vorbild von 1820 lebte, bisher nicht erlebt hatte“. 29 So hatte sich die Vereinigung zur Aufgabe gemacht, die Öffentlichkeit besser zu bilden und durch ihren Einsatz die portugiesische Gesellschaft aufzuklären, zu modernisieren und zu reformieren. 30 Die Mitglieder von O Cenáculo initiierten 1871 eine Reihe von Vorlesungen aus dem Bereich der Literatur, der Geschichte und der Pädagogik im Kasino von Lissabon: Die so genannten Conferências Democráticas (dt.: Demokratische Konferenzen) oder Conferências do Casino (dt.: Kasino-Konferenzen) waren geschaffen. 31 Mit ihren Vorlesungen wollten die Intellektuellen der damaligen Entwicklung in Portugal entgegen wirken und dafür Sorge tragen, dass „nicht ein Volk entsteht und sich entwickelt, das isoliert ist von den großen intellektuellen Sorgen seiner Zeit“. 32 Den intellektuellen Anschluss Portugals an Europa sahen sie als Programm. Allerdings wurden die Vorlesungen von der portugiesischen Regierung verboten, die den Rednern vorwarf, mit der Pariser Kommune zu sympathisieren. 33 Im Folgenden werden die Reflexionen zweier wichtiger Vertreter der 1870er Generation – Eça de Queirós und Antero de Quental – über das Verhältnis Portugals zu Europa untersucht. 28

Vgl. Schnerr 1961: 43. Meyer-Clason 1988: 382. 30 Vgl. Schnerr 1961: 43. 31 Vgl. Medina 1980: 10. 32 Antero de Quental, zit. nach Schnerr 1961: 43. Übersetzung der Autorin, Original: „não pode vir e desenvolver-se um povo isolado das grandes preocupações intelectuais do seu tempo“. 33 Vgl. Schnerr 1961: 43. 29

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2. Europa im Denken von Antero de Quental Von Katja Schneider Die Ansichten und Vorstellungen des portugiesischen Dichters und Denkers Antero de Quental über Portugal und dessen Beziehungen zu Europa am Ende des 19. Jahrhunderts stehen im Mittelpunkt der Darstellung des folgenden Abschnitts. Sie resultieren aus seinem eigenen biografischen Hintergrund wie auch aus den gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der iberischen Halbinsel, insbesondere Portugals, zu jener Zeit. Gleichwohl beeinflussten und prägten sie maßgeblich die Entstehung seines Werkes. Zur Person Antero de Quentals Antero Tarquínio de Quental wurde am 18. April 1842 in Ponta Delgada auf der Azoreninsel São Miguel geboren. Neben Teófilo Braga war er einer der führenden Persönlichkeiten der ‚Schule von Coimbra‘, deren Bestrebungen auf die Einführung der europäischen Moderne in die portugiesische Literatur und Gesellschaft abzielten. Außerdem zählt er zusammen mit Eça de Queirós zu den herausragenden Figuren der Geração de 70. 34 Zu seinen bekanntesten schriftstellerischen Werken gehören die 1861 veröffentlichten Sonetos (dt.: Sonette), die 1865 erschienenen Odes Modernas (dt.: Moderne Oden) sowie Os Sonetos Completos (dt.: Gesammelte Sonette) aus dem Jahre 1886. 35 Charakteristisch für seine Prosa ist – entgegen der im 19. Jahrhundert üblichen romantischen Darstellung des irdischen Lebens – eine intensive philosophische Auseinandersetzung mit der Realität, die er weniger beschreibt als viel mehr reflektiert, deren Konflikte er versucht aufzuspüren und darzustellen. So werden seine Sonetos Completos zuweilen als eine Mischung aus Symbolismus und philosophischer Reflexion betrachtet. 36 Quentals philosophische Ansichten sind u. a. von Hegel, Proudhon, Leibniz, Schopenhauer und Kant beeinflusst. Nicht zuletzt begründet sich darin auch seine durchaus kritische und pessimistische Haltung hinsichtlich zukünftiger Entwicklungsmöglichkeiten Portugals innerhalb Europas. Ebenfalls prägend für seine Sichtweise war die Tatsache, dass er ausgedehnte Reisen in Europa und Amerika unternahm. 37 Die insbesondere in Frankreich von ihm gemachten Erfahrungen und Eindrücke in der Zeit nach der Revolution von 34 35 36 37

Vgl. Medina 1980: 11ff. Vgl. Serrão 1993: 11. Vgl. Almeida Martins 1991: 9. Vgl. Schnerr 1961: 43.

2. Europa im Denken von Antero de Quental

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1848 bestimmten maßgeblich seine politische Einstellung als utopischer Sozialist und sein Engagement im Rahmen der sozialistischen Bewegung in Portugal. 38 Ebenfalls für sein Schaffen als Philosoph bedeutsam war die französische Kultur und der damit verbundene Einfluss der Werke wichtiger Denker Frankreichs wie Voltaire, Rousseau, Diderot und Comte sowie namhafter Zeitschriften wie Figaro und Rappel. Quental brachte, ähnlich wie Eça de Queirós, Frankreich und dem französischen Zeitgeist gegenüber eine große Wertschätzung zum Ausdruck. 39 Er empfand die Situation in seinem eigenen Land als so belastend und bedrückend, dass er die Conferências Democráticas do Casino in Lissabon 1871 mitinitiierte. Gegen Ende seines Lebens, dem er 1891 selbst ein Ende setzte, befasste sich Quental mit dem Wissenschafts- und Fortschrittsgedanken des 19. Jahrhunderts zunehmend kritischer. Dies lag nicht zuletzt in dem sich verstärkenden Einfluss nihilistischer Auffassungen von Nietzsche und Schopenhauer begründet. 40 Auch heute noch wird Antero de Quental – insbesondere in Portugal – als einer der größten Dichter und Schriftsteller verehrt und seinem Werk eine große Bedeutung für die Nationalkultur beigemessen, 41 insbesondere seiner Rolle als unbestrittener Führer der Geração de 70. Eça de Queirós charakterisierte Quental als ein Genie, einen Heiligen, und errichtete damit über der Gestalt des Dichters einen beinahe hagiographischen Mythos. 42 Portugal und Europa im Werk von Antero de Quental Um die Ansichten Antero de Quentals hinsichtlich des Spannungsverhältnisses zwischen Portugal und Europa zu verstehen, muss man sich die Aspekte der Situation in Portugal und Europa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Erinnerung rufen. In jener Zeit entwickelten sich die Naturwissenschaften in rasantem Tempo, wissenschaftliche Entdeckungen rüttelten an jahrhundertealten Theorien sowie religiösen Auffassungen und im gesellschaftlichen Bereich vollzogen sich revolutionäre Veränderungen. Tiefgreifende Reformen in der Bildung, eine Wissenschaftseuphorie und der Fortschrittsgedanke prägten das geistige Leben in Europa genauso wie die philosophische Auseinandersetzung mit sozialen Phänomenen. Der revolutionäre Wandel des modernen Europas sollte die iberischen Völker nicht unberührt lassen. 43 All diese Entwicklungen und Erscheinungen beeinflussten maßgeblich das Denken und die Auffassungen von Antero de Quental. Dabei war für ihn die 38 39 40 41 42 43

Vgl. Zenith [2008]. Vgl. Almeida Martins 1993: 63 – 82. Vgl. Catroga 1993: 92; Lourenço 1993: 100; Moisés 1993: 32. Vgl. Hess 1993: 35. Vgl. Moisés 1993: 30. Vgl. Serrão 1991: 65.

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II. Europa als Faszinosum im Portugal des 19. Jahrhunderts

Stellung Portugals im europäischen Kontext eine zentrale Frage, der er sich insbesondere in seiner Rede Causas da decadência dos povos peninsulares nos últimos três séculos (dt.: Ursachen des Verfalls der iberischen Völker in den letzten drei Jahrhunderten) vom 27. Mai 1871 auf einer der von ihm geleiteten Conferências Democráticas widmete. Antero de Quental analysiert darin die Situation Portugals (und Spaniens), beschreibt die Rückständigkeit des Landes in Bezug auf andere europäische Länder und im Vergleich zu den ruhmreichen Zeiten der Entdeckernation Portugal im 16. und 17. Jahrhundert. Anhand eines gewaltigen Streifzuges durch die iberische Geschichte versucht der Autor zu argumentieren, dass Portugal und Spanien seit vorrömischen Zeiten eine besondere Größe vorgewiesen hätten. Bereits an dem Widerstand gegen die Römer würde sich der iberische Charakter – gekennzeichnet durch Unabhängigkeitsgeist und Kreativität – manifestieren. Auch das Mittelalter sei eine Blütezeit der iberischen gegenüber den weiteren europäischen Völker gewesen: Die Scholastik habe sich dort besonders entwickelt, in Alfons dem Weisen, hätten die Iberer einen aufgeklärten Monarchen, der die Kultur der Iberischen Halbinsel prägte. 44 Aber insbesondere wählt Quental die Entdeckungen zum zentralen Argument für die Vormachtstellung Portugals und Spaniens in der Vergangenheit innerhalb Europas. In einer Sache überholten wir sogar Europa, denn wir waren darin Pioniere: im geographischen Fortschritt und in den großen Navigationen. Die Entdeckungen, die das 15. Jahrhundert so glänzend krönten, kamen nicht zufällig. Sie entwickelten sich in der Folge einer intellektuellen Arbeit, die der Epoche angemessen wissenschaftlich war und von unserem Infant Heinrich und seiner Schule von Sagres initiiert wurde, und aus welcher Männer wie der heroische Bartolomeu Dias herauskamen [...]. Deswegen schaute Europa auf uns. In Europa zählte unser Einfluss am meisten. 45

Doch dann habe Portugal den Anschluss an Europa verloren. Die Dekadenz habe zu Beginn des 17. Jahrhunderts begonnen als – und hier knüpft er an den traumatischen Erinnerungsort der Kronenunion an: „[...] Portugal aufhört, unter den Nationen gezählt zu werden, und die anormale, inkonsistente und unnatürliche Monarchie von Philipp II. von allen Seiten zerbröckelt“. 46 Quental sieht die Ursache für den sozioökonomischen Verfall Portugals im Fehlen einer Wissenschaft, die nach seiner Auffassung aus drei Gründen resultiert: der Moral, der Politik und der Wirtschaft. 47 Im Bereich der Moral beschreibt Quental die Transformation des Katholizismus durch das Konzil von Trient und die dadurch ausgelöste Inquisition als einen Grund für die rückständige Situation 44 45 46 47

Vgl. Quental 2001 [1871]: 17ff. Quental 2001 [1871]: 23. Übersetzung von Teresa Pinheiro. Quental 2001 [1871]: 24. Übersetzung von Teresa Pinheiro. Vgl. Cunha [2008].

2. Europa im Denken von Antero de Quental

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in Portugal bzw. auf der Iberischen Halbinsel. 48 Hinsichtlich der Politik sei es nach Quental die Etablierung des Absolutismus und die Unterdrückung oppositioneller Kräfte sowie der Verlust an lokaler Autonomie und Freiheit, die dem Fortschritt in Portugal entgegenwirkten. 49 Die wirtschaftlichen Verhältnisse auf der Iberischen Halbinsel seien geprägt von den Nachwirkungen der Kolonialzeit, wobei es dem Land nach Auffassung Quentals nicht gelinge, die Reichtümer der Kolonien produktiv einzusetzen. Der erwirtschaftete Profit werde nicht in Produktivität verwandelt, sondern dazu verwendet, mehr Luxus für den Adel zu schaffen. 50 Dies seien aber jene Kräfte in der portugiesischen Gesellschaft, die andere Wertvorstellungen haben als dies im modernen Europa der Fall war; sie beharren auf den Besitz von Ländereien, statt die Industrie zu fördern. Der Adel könne sich somit im Schutz der Krone und der Kirche halten und die Entwicklung des Bürgertums als Träger des gesellschaftlichen Fortschritts verhindern. Insbesondere auf dem Gebiet der Religion nimmt Quental eine klare Gegenüberstellung zwischen Europa und der Iberischen Halbinsel vor. Ausgehend von der Rückständigkeit Portugals und Spaniens und der fortschrittlichen Entwicklung in anderen Teilen Europas findet Quental die Antwort für solche Unterschiede in der Religion. In Ländern wie Deutschland, England und Holland seien in Folge der Reformation neue philosophische Strömungen und Wertvorstellungen entstanden wie etwa die moralische Freiheit. In den modernen Gesellschaften habe sich eine Mittelschicht als Instrument des Fortschritts herausbilden können, deren wirtschaftliche Erfolge im Aufbau einer modernen Industrie ersichtlich seien. 51 Den Grund für den zunehmenden Entwicklungsabstand zwischen dem Europa nördlich der Pyrenäen und der Iberischen Halbinsel sieht Quental in der positiven Wirkung der Reformation bzw. der negativen Rolle der katholischen Kirche: Wer kann negieren, dass die reformierten Völker den moralischen Fortschritt, der sie zu Anführern der Zivilisation macht, aus der Reformation erlangten? [...] Die intelligenteren, moralischeren, friedlicheren und industrialisierten Nationen sind diejenigen, die der religiösen Revolution des 16. Jahrhunderts folgten: Deutschland, Holland, England, die Vereinigten Staaten und die Schweiz. Die dekadenteren Nationen sind ausgerechnet die katholischen! 52

Nicht das Christentum – so Quental – sondern der Katholizismus sei für die geringe Entwicklung des Geistes und des Fortschritts auf der Iberischen Halbinsel verantwortlich. Denn dieser habe ab dem 16. Jahrhundert den religiösen Despotismus organisiert und damit die Intoleranz durch die Inquisition institutionalisiert. 53 48 49 50 51 52 53

Vgl. Almeida 1993: 124. Vgl. Almeida 1993: 124. Vgl. Liu 2006: 184. Vgl. Almeida 1993: 124. Quental 2001 [1871]: 37. Übersetzung von Teresa Pinheiro. Vgl. Quental 2001 [1871]: 33, 43.

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Die Inquisition habe aber auch einen zerstörerischen Effekt für die Iberische Halbinsel gehabt, nämlich die Verbannung oder Zwangsakkulturation von Juden und Mauren und mit ihnen des ökonomischen und kulturellen Kapitals. 54 Mit dieser Rede gelingt es Antero de Quental, die mit den Konferenzen verbundene Einbindung Portugals in die moderne europäische Bewegung und die Entwicklung von „neuen sozialen, politischen und kulturellen Ideen“ 55 zu fordern. Er stand somit der Entwicklung von Philosophie, Wissenschaft, dem Fortschrittsglauben, den bürgerlich-demokratischen Strukturen und dem Ausbau moderner industrieller Infrastrukturen positiv gegenüber. Bezeichnend für die portugiesische Gesellschaft jener Zeit sei jedoch die Tatsache, dass „[...] Themen wie Sozialismus, Religion und Erziehung [...] die Aufmerksamkeit der Regierung [negativ erwecken], die schließlich die Fortsetzung der Konferenz verbietet“. 56 Die Erkenntnis Quentals über die scheinbar aussichtslose Rückständigkeit Portugals im Vergleich zum nördlichen Europa 57 führte zu seiner stärkeren Hinwendung zu geistigen und philosophischen Strömungen anderer europäischer Länder. Dazu gehörte die Auseinandersetzung mit den hegelianischen Gedanken über Vernunft und das Verhältnis von Geist und Natur. 58 Ihn interessierte grundlegend die Suche nach dem Wesen des Konflikts der Dualität zwischen Geist und Natur im Menschen. 59 Obwohl Quental die Gründe für die Rückständigkeit Portugals in der damaligen Zeit einerseits erkannte, musste er andererseits akzeptieren, dass die Situation sich kurzfristig nicht verändern würde. Er verarbeitete diese Erkenntnis in seinem literarischen Schaffen. Das zeigt sich insbesondere in seinen Sonetten, die zwischen großen Hoffnungen auf gesellschaftlichen Fortschritt und tiefer Mutlosigkeit schwanken, und in denen der Gedanke des Todes einhergeht mit dem Tod des Dichters, der letztlich seinen Platz in einer neuen, veränderten Welt nicht finden konnte. 60 Die Sichtweise Antero de Quentals auf die europäischen und portugiesischen Verhältnisse prägte maßgeblich die intellektuelle Grundlage der 1870er Generation – jener Gruppe, die Ende des 19. Jahrhunderts mit ihren Ansichten, die europäische Moderne nach Portugal transportieren wollte. Voraussetzung dafür war das Anderssein Quentals, d. h. die Erkenntnis und Fähigkeit mit der ihn umgebenden Welt und ihrem geistigen Gedankengut zu brechen. Gleichzeitig jedoch konnte er die von ihm angestrebten Zustände – Harmonie des Geistes, Frieden der Seele und des Herzens – für sich nie erreichen. 61 54 55 56 57 58 59 60

Vgl. Quental 2001 [1871]: 44. Campos Matos 2006. Campos Matos 2006. Vgl. Franco 2005: 6. Vgl. Catroga 1993: 92 – 95. Vgl. Serrão 1993: 85. Vgl. Júdice 1993: 85.

3. Eça de Queirós’ Europaidee in Stadt und Gebirge

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Quentals Selbstsuche kann im Zusammenhang mit der Suche der portugiesischen Intellektuellen nach einer gemeinsamen Identität am Ende des 19. Jahrhunderts gesehen werden. Die portugiesische Gesellschaft verharrte im Konflikt „zwischen [dem] alten und [einem] neuen Europa, zwischen ländlichen und bürgerlichen Gesellschaftsformen“, 62 zwischen der kulturellen Prägung des alten und dem wirtschaftlich-technologischen Einfluss des modernen Europas. Die politischen Kräfte, die liberale, fortschrittlich-sozialistische Auffassungen vertraten und für das moderne Europa eintraten, stellten sich gegen nationalistische und konservative Bewegungen. Zugleich resultierte die damals vorherrschende Identität Portugals auch aus den Relikten des Kolonialreichs, aus den Errungenschaften der Eroberungszeit. Deren schwindende Bedeutung führte jedoch dazu, dass Portugal sich in der damaligen Zeit am Rande Europas, ohnehin geographisch an dessen Peripherie, abschottete. Das erscheint angesichts der Tatsache, dass Portugal bis zum 16. und 17. Jahrhundert eine Vorreiterrolle in Europa übernahm, als Paradoxon. Durch seine Eroberungen trug Portugal das damalige Europa in die Welt hinaus – zugleich hielt die Welt Einzug in Europa. Diese Zeit prägte in hohem Maße die portugiesische Identität. So sah der portugiesische Historiker Oliveira Martins Portugal als Gründungskraft Europas, wenn er behauptet: „Der kühne und forschende Geist der Portugiesen brachte Europa die Navigation und die Kolonisation bei [...]. Sie wussten, wie niemand zuvor, die Fundamente neuer Städte, eines neuen Europas zu gründen“. 63 Im Denken von Antero de Quental spiegelte sich Europa in zweierlei Hinsicht wider. Zum einen beschäftigte er sich mit der Moderne in den fortgeschrittenen europäischen Ländern, zum anderen versuchte er gemeinsam mit den anderen Mitgliedern der Geração de 70 seine eigene Heimat Portugal an dieses europäische Niveau heranzuführen und in das moderne Europa zu integrieren.

3. Eça de Queirós’ Europaidee in Stadt und Gebirge Von Eva Gräfer Eça de Queirós gehörte zu den Mitgliedern der 1870er Generation, die Europa in einer Mischung zwischen Skepsis und Faszination gesehen, erlebt und beschrieben haben. Im Folgenden wird zunächst eine Übersicht über das Leben und Werk dieses bedeutenden Autors gegeben. Anschließend wird sein Roman A cidade e as serras (dt.: Stadt und Gebirge) analysiert. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht das 61 62 63

Vgl. Lourenço 1993: 100f. Barrento 1999: 15. Oliveira Martins, zit. nach Pinheiro 2008: 307.

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II. Europa als Faszinosum im Portugal des 19. Jahrhunderts

Spannungsfeld zwischen Europa und Portugal, das im Roman zum Ausdruck kommt. Eça de Queirós: Vita und Werk José Maria de Eça de Queirós wurde am 25. November 1845 in Póvoa de Varzim, im Norden Portugals, geboren. Seine schulische Ausbildung erhielt er ab 1855 im Colégio da Lapa, einem Internat in Porto. Obwohl Queirós in seiner Jugend in ständigem Kontakt mit anderen Menschen stand, zog er die Einsamkeit vor. Gleichwohl knüpfte er während seiner Zeit im Internat ein wichtiges Band zu Ramalho Ortigão, einem seiner Lehrer. Beide verband eine lebenslange Freundschaft, die weit über die spätere literarische Verbundenheit hinausreichte. Über die frühe Freundschaft mit Ortigão kommt Queirós zum ersten Mal intensiv mit Frankreich in Kontakt, da sein Freund ihn in Französisch unterrichtet. Dies bedeutet den Beginn von Queirós’ francesismo – seiner Frankophilie. 64 Queirós verließ Porto 1861 und begann sein Jurastudium an der Universität Coimbra. Als Student machte er weitere prägende Bekanntschaften, unter anderem mit Teófilo Braga und Antero de Quental. In seiner Studienzeit las Queirós eifrig französischsprachige Literatur. Er rühmte sich damit, während seines gesamten Studiums, bis auf eine Ausnahme, nur auf französische Lektüren zurückgegriffen zu haben. 65 Neben dem Studium verbrachte Queirós viel Zeit am Teatro Académico (dt.: Akademisches Theater) in Coimbra. Als Schauspieler lernte er so die Werke einflussreicher französischer Autoren kennen. Die Idee, am Theater ein portugiesisches Werk aufzuführen, rief daher beim frankophilen Queirós nur Entsetzen hervor: „Was, ein portugiesisches Stück! Das hat uns gerade noch gefehlt!“ 66 Das Jahr 1866 stellte eine Zeitenwende in seinem Leben dar. Er beendete nicht nur sein Studium und zog nach Lissabon, um dort als Rechtsanwalt zu arbeiten, sondern fing auch an zu publizieren. Queirós veröffentlichte seine ersten feuilletonistischen Artikel in der Gazeta de Portugal (dt.: Zeitung Portugals) – natürlich auf Französisch. Dies war der Beginn von Queirós’ großem literarischem Einfluss auf die portugiesische Gesellschaft. 67 Queirós war einer der Mitbegründer des Cenáculo und damit der Conferências Democráticas. Im selben Jahr, in dem die Conferências Democráticas verboten wurden, erschien die erste Ausgabe der satirisch-gesellschaftskritischen Zeitschrift As Farpas – O país e a sociedade portuguesa (dt.: Die Pfeilspitze – das 64 65 66 67

Vgl. Medina 1974: 73ff. Vgl. Meyer-Clason 1988: 377ff. Queirós, zit. nach Meyer-Clason 1988: 380. Vgl. Fundação Eça de Queiroz 2005.

3. Eça de Queirós’ Europaidee in Stadt und Gebirge

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Land und die portugiesische Gesellschaft), herausgegeben von Queirós und seinem Freund Ortigão. Bereits 1870 hatten die zwei Freunde gemeinsam an dem Roman O mistério da estrada de Sintra (dt.: Das Geheimnis der Straße nach Sintra) geschrieben. Damals wurden in der portugiesischen Tageszeitung Diário das Notícias auch Queirós’ Reiseberichte veröffentlicht: De Port Said a Suez (dt.: Von Port Said nach Suez). Sie handeln von seiner Reise in den Nahen Osten 1869. Mit diesen Publikationen etablierte sich Queirós als Autor endgültig in der portugiesischen Gesellschaft. 68 Sein Einfluss blieb ungebrochen und reichte bis weit ins 20. Jahrhundert. 69 Trotz seines literarischen Erfolges beschloss Queirós sich nicht auf seine Arbeit als Autor festzulegen. Er trat als diplomatischer Vertreter in den Dienst seines Heimatlandes Portugal. 1872 entsandte Portugal ihn als Konsul auf die spanischen Antillen. Am Ende des Jahres führte ihn seine Arbeit nach Havanna. Sein Aufenthalt auf Kuba gab Queirós die Möglichkeit, Reisen nach Kanada, die USA und Zentral-Amerika zu unternehmen. In Havanna blieb Queirós als Diplomat, bis er 1874 nach Newcastle-upon-Tyne in Großbritannien berufen wurde. 1878 versetzte ihn die portugiesische Regierung erneut, er musste als Diplomat nach Bristol. 1888 kam Queirós als Konsul nach Paris, wo er bis zu seinem Tode lebte. Seine Entscheidung für den diplomatischen Dienst bedeutete den permanenten Wechsel seines Wohnortes, doch zugleich die Möglichkeit, die weite Welt kennen zu lernen. 70 Während der Arbeit als Diplomat veröffentlichte Queirós einige seiner bedeutendsten Werke. Die meisten dieser Werke weisen einen starken Bezug zu Portugal auf. Queirós veröffentlichte 1875 in der Zeitschrift Revista Occidental seinen ersten realistischen Roman O crime do Padre Amaro (dt.: Das Verbrechen des Paters Amarus). Diesem Werk folgte 1878 sein erster naturalistischer Roman O primo Basílio (dt.: Der Vetter Basilio), in dem Szenen des portugiesischen Lebens skizziert werden. Doch während schon seine Zeitgenossen und später auch die Nachwelt Queirós zu einem der genialsten literarischen Porträtisten seiner Zeit auserkoren hatten, blieb der Autor durchaus selbstkritisch. Queirós’ Ansicht nach ist er an dem Versuch, die portugiesische Gesellschaft zu porträtieren, gescheitert. Er stellte enttäuscht fest: „Ich habe mich davon überzeugt, daß ein Künstler fernab von der Umwelt, die ihm seinen Rohstoff liefert, nichts Echtes schaffen kann. [...] Ich kann Portugal nicht in Newcastle schildern.“ 71 Dies mag wohl kaum überraschen, denn schon seit seinem Amtsantritt als Konsul war Queirós nicht mehr in seiner Heimat gewesen. Queirós widerfuhr daher eine Schaffenskrise:

68 69 70 71

Vgl. Fundação Eça de Queiroz 2005; Meyer-Clason 1988: 377ff. Vgl. Schnerr 1961: 42. Vgl. Fundação Eça de Queiroz 2005. Queirós, zit. nach Meyer-Clason 1988: 388.

68

II. Europa als Faszinosum im Portugal des 19. Jahrhunderts Ich befinde mich somit in folgender geistiger Krise: entweder ich muß dahin gehen, wo ich schaffen kann, nach Portugal, oder ich muß mich einer rein phantastisch-humoristischen Literatur widmen. 72

1880 fuhr Queirós dann für einen Ferienaufenthalt nach Portugal. Er schaffte es seine Krise zu überwinden und veröffentlichte schließlich 1888 das Werk Os Maias (dt.: Die Maias), ein treffendes Porträt der portugiesischen Gesellschaft. 73 Obwohl Queirós lange Jahre im Ausland lebte, verlor er nie die Verbindung zu seiner Heimat. Er war ein hoch angesehener Autor, der zusammen mit den anderen Mitgliedern der 70er Generation das Land bewegte, Einfluss auf die Gesellschaft hatte und zu deren Wandel beitrug. Symptomatisch für seine Verbundenheit mit Portugal ist unter anderem, dass er 1883 als korrespondierendes Mitglied in die Academia Real das Ciências (dt.: Königliche Wissenschaftsakademie) aufgenommen wurde. Noch 1889 wurde Queirós mit der Herausgabe der Zeitschrift Revista Portugal (dt.: Zeitschrift Portugals) betraut. Am 16. August 1900 starb Queirós in Paris an Tuberkulose. Er hinterließ mehrere Kinder und seine Ehefrau, mit der er erst vier Jahre zuvor die Ehe eingegangen war. Er hinterließ auch ein außerordentliches Werk, zu dem der Roman Stadt und Gebirge zählt. Dieser Roman, in dem seine Wahrnehmung von Europa zum Ausdruck kommt, erschien 1901 posthum in Paris. 74 Eça de Queirós’ Stadt und Gebirge Eça de Queirós ist nicht nur der Porträtist par excellence der portugiesischen Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Vielmehr ist er auch einer der Autoren, der Fragen nach einem portugiesischen Nationalcharakter am intensivsten in seinen Werken aufarbeitet. In seinen Romanen und Essays dient Europa dabei als Hintergrund, vor welchem die Konturen seines Portugals erscheinen. Dieses Europa ist eine Metapher für Modernität, Boheme, Zivilisation und Fortschritt. Sie wirkt in seinen Werken als Kontrast für sarkastische Beschreibungen der portugiesischen Rückständigkeit und des Provinzialismus oder als ersehntes zivilisatorisches Vorbild. In beiden Fällen erscheint Europa meist als Ausdruck portugiesischer Minderwertigkeit. 75 Doch in Eça de Queirós’ letztem Werk Stadt und Gebirge kommt eine andere Sicht auf Europa zum Ausdruck. Hier scheint sich die Polarität Europa-Portugal, die sich in seinen sonstigen Schriften wie ein roter Faden durchzieht, aufzulösen; die Asymmetrie kehrt sich zugunsten Portugals um. 72 73 74 75

Queirós, zit. nach Meyer-Clason 1988: 388. Vgl. Meyer-Clason 1988: 377ff. Vgl. Meyer-Clason 1988: 391. Vgl. Reis 2002: 15.

3. Eça de Queirós’ Europaidee in Stadt und Gebirge

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Bei Stadt und Gebirge handelt es sich um einen Entwicklungsroman. Im Mittelpunkt des Werkes steht der junge Jacinto de Tormes, der in vornehmen Verhältnissen in Paris aufgewachsen ist. Seine familiären Wurzeln liegen allerdings in Portugal. Im Verlauf des Romans beschreibt Queirós intensiv die charakterliche Entwicklung des Protagonisten sowie sein seelisches Chaos. Vom rastlosen und überheblichen Dandy, der sich in der Stadt Paris verliert, entwickelt sich Jacinto hin zu einem ausgeglichenen Mann. Im Mittelpunkt dieses Wandels steht Jacintos Entscheidung, sich in der Heimat seiner Vorfahren, dem ländlichen Norden Portugals, niederzulassen. Jacinto findet dort in der Abgeschiedenheit, weit weg von der hoch zivilisierten Stadt, seine endgültige Erfüllung im Leben mit seiner neu gegründeten Familie. Im Roman erkennt der Protagonist Jacinto sich selbst und wird so zu einem ausgeglichenen Menschen. Begleitet wird Jacinto in seiner Entwicklung von seinem portugiesischen Freund José Fernandes (Zé). Die beiden, Jacinto und Zé, kennen sich aus Kindheitstagen, sie verbindet eine innige Freundschaft. So kommt es, dass die beiden Freunde als junge Männer viel Zeit im unruhigen Paris verbringen; dort ist vor allem Jacinto auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Später dann altern sie gemeinsam im ländlichen Norden Portugals. Zé trägt so zur Entwicklung seines Freundes Jacinto bei: Er hilft ihm sein seelisches Gleichgewicht zu finden und steht ihm, meist kritisch, als Freund zur Seite. Auch begibt er sich mit Jacinto auf die Reise zu dessen Ursprüngen in Portugal und gibt ihm geduldig und hilfreich Orientierung, wenn sein Freund sich in der Welt verloren fühlt. Jacinto und Zé stehen stellvertretend für die Polarität, die den Roman Stadt und Gebirge bestimmt. Die beiden Charaktere sind von Grund auf verschieden: Während Zé aus dem Gebirge kommt und sich daher nur in der Natur entfalten kann, ist Jacinto in der Stadt geboren und fühlt sich mit dieser verbunden. Jacinto stellt zu Beginn des Romans bezeichnend fest: „Welch erhabene Schöpfung ist die Stadt! Nur in ihr, Zé Fernandes, nur in ihr sieht der Mensch seine Seele voll bestätigt“. 76 Die Stadt wird für Jacinto zum Synonym für Glück, da seiner Ansicht nach nur hier das Wissen und der Fortschritt, die für die Zivilisation und den erfüllten Menschen notwendig sind, entstehen und existieren können. Für ihn ist „der Mensch erst dann vollkommen glücklich [...], wenn er vollkommen zivilisiert ist“. 77 Auf Zé wirkt die Stadt hingegen bedrohlich und er ist ganz eingenommen von seiner ständigen Sehnsucht nach der Natur. Schon der Titel des Romans, Stadt und Gebirge, ruft diese Polarität hervor. Die beiden Sinnbilder verkörpern allerdings nicht nur per se einen Gegensatz, sondern sie stehen auch stellvertretend für Queirós’ Konzept von Europa und Portugal. Daher findet sich in dem Roman neben dem Leitthema von Stadt und Land auch 76 77

Queirós 1988 [1901]: 18. Queirós 1988 [1901]: 13.

70

II. Europa als Faszinosum im Portugal des 19. Jahrhunderts

das Leitthema vom modernen, fortschrittlichen Europa und dem unzivilisierten, rückständigen Portugal. Diese Polarität bestimmt den Aufbau des Romans. Denn während sich die Handlung in der ersten Hälfte des Romans fast nur in der Stadt, Paris, abspielt, wird sie in der zweiten Hälfte in das Gebirge verlegt, in den Norden Portugals. Wie schon in vorherigen Werken, gelingt Queirós in Stadt und Gebirge eines wieder sehr überzeugend: „Den Szenen des portugiesischen Lebens [...], Bilder vom europäischen Leben gegenüberzustellen“. 78 So zeichnet er das Bild eines modernen, florierenden Europas, in dem Fortschritt und Zivilisation herrschen. Dieses Bild des mondänen Europas kontrastiert er mit dem Bild des provinziellen, rückständigen, durch Tradition geprägten und manchmal auch abnormen Portugals. So stellt Jacinto stellvertretend für Queirós fest: „Iberische Halbinsel, das Barbarentum!“ 79 Und dennoch: In der Polarisierung zwischen Moderne und Tradition, zwischen Europa und Portugal, neigt sich die Waagschale im Laufe des Romans zugunsten des rückständigen, aber noch humaneren Portugals. So lässt Queirós sein ÜberIch Zé bemerken: Draußen heulte der Wind wie in einer Gebirgsschlucht, die Fensterscheiben klirrten, der dagegen prasselnde Regen lief in Bächen an ihnen herunter. Welch traurige Nacht für die zehntausend Armen, die in Paris brot- und obdachlos umherirrten! In meinem Dorf zwischen Tal und Hügel brüllte vielleicht der Sturmwind ebenso stark. Aber dort, im Schutz des Ziegeldaches, unter dem der Kohltopf über dem Feuer hängt, wickelt sich jeder Arme in seinen Mantel und rückt dichter an die Herdglut heran. Und für die, die kein Brennholz haben ist der João das Quintãs da, oder die Tante Vicência, oder der Pfarrer, die alle Armen mit Namen kennen und sie von vorneherein einrechnen, als gehörten sie zu ihnen, wenn Holz geholt und das Brot in den Ofen geschoben wird. 80

In Portugal gebe es noch eine soziale Absicherung des Einzelnen durch die anderen Mitglieder der Gesellschaft, während in der Stadt Anonymität und Egoismus vorherrschen. So kommt der Autor zu dem Schluss: „Oh, kleines Portugal, wie gut bist du immer noch zu den Kleinen!“ 81 In Stadt und Gebirge werden die Schönheit der Natur Portugals und der malerische Charakter des Landes über und über gelobt. Diese Schönheit ist nicht nur mit dem Auge, sondern auch mit allen anderen Sinnen erfassbar: „Das ist also Portugal! [...] Es riecht gut!“ 82 Selbstverständlich mangelt es daher auch nicht an Lobpreisung für die traditionelle portugiesische Küche, nach der sich Queirós wohl selbst sehnte: „Am Abend dann das erste Ge78 Reis 2002: 19. Übersetzung der Autorin, Original: „confrontar as cenas da vida portuguesa [...] com as imagens da vida europeia“. 79 Queirós 1988 [1901]: 213. 80 Queirós 1988 [1901]: 165f. 81 Queirós 1988 [1901]: 166. 82 Queirós 1988 [1901]: 197f.

3. Eça de Queirós’ Europaidee in Stadt und Gebirge

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birgsessen mit den landesüblichen Leckerbissen des alten Portugals!“ 83 Queirós konstruiert so im Laufe seines Romans das Bild eines fast durchweg perfekten Portugals, wo das vermeintlich authentische Leben stattfindet. Die Gegensatzpaare, welche den Roman durchziehen, erfüllen verschiedene Funktionen. Der Autor nutzt sie zum einen, um Spannung zu erzeugen, zum anderen aber auch um zu verdeutlichen, dass es Dinge gibt, die durch ihr Wesen immer in einem polaren Verhältnis stehen werden, so zum Beispiel Stadt und Land oder Zivilisation und Natur. Trotzdem gelingt es Queirós zu zeigen, dass auch die gegensätzlichen Pole gut miteinander harmonieren können und dies in manchen Fällen sogar vonnöten ist: So sind die beiden Freunde Jacinto und Zé in ihrem Wesen grundverschieden, nichtsdestoweniger ergänzen sie sich gut. Mehr noch, jeder schafft den Ausgleich und ist somit der Ruhepol des jeweils anderen. Für Queirós stellen wohl auch Portugal und Europa ein solches Gegensatzpaar dar, das einander bedingt und zugleich einen Ausgleich zum Wesen des jeweils anderen Pols schafft. In seinem Roman zeichnet Queirós ein Europa, dessen Zentrum deckungsgleich mit dem mitteleuropäischen Teil ist. Portugal hingegen steht im Gegensatz zu alldem, allein schon wegen seiner geographischen Lage, am Rande des europäischen Kontinents. Aufgrund dieses klaren Entwurfs, aber auch der geographischen Situation wegen, werden Portugal und Europa so nie miteinander vereinbar sein. Die beiden Konzepte stehen einander gegenüber und wirken trotz ihrer Polarität komplementär. Diese Idee der Komplementarität hatte Queirós bereits in Prosas Bárbaras zum Ausdruck gebracht, wo er Europa als einen Körper mit Seele konzipierte, in dem der Norden (Frankreich und Deutschland) die Seele und der Süden (Italien, Spanien und Portugal) der Körper waren. 84 Fernab von den Problemen Europas, an der Peripherie des Kontinents, bringt der Protagonist während seiner persönlichen Entwicklung seine Seele ins Gleichgewicht. Die Schönheit und Ruhe Portugals stützen diesen Prozess. Hatte er im Laufe seines Lebens doch erkannt, dass er die innere Erfüllung nicht in der Hektik und dem Überfluss der Zivilisation finden kann; vielmehr hatte er sich selbst abhängig von der Zivilisation und zu ihrem Sklaven gemacht. Diesen Zustand kann er letztlich nur überwinden, indem er sich der Zivilisation entsagt und versucht sich selbst in der Natur zu finden und so in Einklang mit sich selbst zu kommen. Hatte Jacinto als Stadtmensch noch panische Angst vor der Natur geplagt, so fühlt er sich im Gebirge Portugals sofort heimisch. Daher gelingt es Jacinto in Portugal schnell und problemlos Ängste zu überwinden, die sich ansonsten sogar als lebensbedrohlich hätten entwickeln können. Die Ängste vor der Natur, die ihn in der französischen Hauptstadt befallen, bringt Jacinto zum Beispiel folgendermaßen zum Ausdruck: „Das Leitungswasser wimmelt von Mikroben ... Bis jetzt habe 83 84

Queirós 1988 [1901]: 200. Vgl. Albuquerque 1980: 41.

72

II. Europa als Faszinosum im Portugal des 19. Jahrhunderts

ich jedoch kein Wasser ausfindig machen können, das mir zusagt. Ich leide sogar Durst.“ 85 Jacinto ist nicht eins mit der Natur, er fürchtet sich vor ihr, lehnt sie ab, selbst auf die Gefahr hin, zu verdursten. In Portugal ist Jacinto allerdings schon kurz nach seiner Ankunft von den Qualitäten des Landes überzeugt und so schreit er beim Anblick eines Brunnens aus: „Ich muß unbedingt von diesem Wasser trinken!“ 86 Die früheren Ängste sind verflogen. Zwar befindet sich Jacinto noch für einige Zeit im Zwiespalt zwischen Stadt und Gebirge, doch letztendlich kann der Protagonist seine duale Seele einen und findet in der Natur zu sich. In seinem späten Roman Stadt und Gebirge ist Queirós davon abgerückt, kompromisslos ein aufgeklärtes Portugal zu fordern. Er verlangt nun nicht mehr uneingeschränkt, wie es typisch für die 1870er Generation war, nach einem „anderen Portugal, wo man handelt, denkt und erfindet wie in England, in Deutschland, in Frankreich, kurz gesagt, im einzigen Europa, das es verdient diesen Titel zu tragen.“ 87 Es scheint, als habe Queirós sich besonnen und seine Werte und Ansprüche neu geordnet – an sich, das Leben und die Gesellschaft. Er macht somit den Eindruck die Erkenntnis gewonnen zu haben, dass das Individuum und seine Seele nur im Einklang mit der Natur in einen vollendeten Zustand gelangen können. Geographisch wie kulturell liegt der Ort, in dem im Einklang mit der Natur gelebt werden kann, für ihn nun in seiner Heimat Portugal – und nicht mehr im Zentrum Europas. Trotzdem kommt in Stadt und Gebirge deutlich zum Ausdruck, dass Portugal von Queirós als rückständig wahrgenommen wird. So gibt es im portugiesischen Gebirge, als der Protagonist Jacinto dort ankommt, weder Telefon noch ärztliche Versorgung. Die vermeintlich ungebildeten Menschen leben im Einklang mit den Gesetzen Gottes und zelebrieren ihren christlichen Glauben. Sie zeigen wenig Interesse an weltlichen Entwicklungen und Fortschritt und empfinden davor oft nur Furcht. Auch die Menschen, die in diesem von Queirós plastisch gezeichneten Portugal leben, sind an sich in ihrer Entwicklung nicht vollkommen. Sie sind von animalischen Instinkten geprägt und haben so wenig mit den hoch zivilisierten Menschen aus den europäischen Städten gemein. Dennoch bestechen die Menschen im ländlichen Portugal durch ihre Authentizität. Jacinto ist beeindruckt von den Menschen und der Region: „[D]ie Serra ist wunderbar [...]. Aber hier findest du das Weibchen in seiner ganzen Tierhaftigkeit und das Männchen in seinem ganzen Egoismus ... Trotzdem sind sie echt, wahrhaft echt!“ 88 Queirós beschreibt sein Portugal als ein Portugal, das von Schlichtheit und Einfachheit geprägt ist. 89 85

Queirós 1988 [1901]: 41. Queirós 1988 [1901]: 214. 87 Eduardo Lourenço, zit. nach Reis 2002: 16. Übersetzung der Autorin, Original: „um Portugal-outro, um Portugal onde se actuasse, se vivesse, se pensasse e se inventasse como na Inglaterra, na Alemanha, na França, em suma, na única Europa que merecia esse título“. 88 Queirós 1988 [1901]: 242. 89 Vgl. Queirós 1988 [1901]: 239, 258. 86

3. Eça de Queirós’ Europaidee in Stadt und Gebirge

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Den störenden Überfluss der Stadt, der nur dazu führt, dass der Mensch von den wesentlichen Dingen des Lebens abgelenkt sei, gibt es in der Serra nicht. 90 Hier kann ein jeder sich entspannen, die Ruhe und Stille genießen und seiner selbst sein – oder zu sich selbst finden. 91 Trotz dieses Lobs auf die Natur verliert sich im Verlauf des Romans die Verbindung zur Stadt niemals. In seiner Person verkörpert Jacinto die französische Hauptstadt Paris auf dem Land. Für die Bewohner der Serra repräsentiert er alles, was in ihren Vorstellungen mit der Zivilisation in Verbindung stehen könnte. Daher tritt ihm die ländliche Bevölkerung zunächst mit ambivalenten Gefühlen entgegen. Während Jacinto nach seiner Ankunft in der Serra oft von ihnen verherrlicht wird, schwingt trotzdem meist ein gewisses Maß an Respekt bis hin zur Ehrfurcht mit. 92 Denn er ist der Inbegriff für Bildung, Wissen, Fortschritt, Kultur und Zivilisation. Doch diese Gefühle ändern sich bald: Es wird schnell sichtbar, dass Jacinto all das Wissen der Stadt im Gebirge wenig nützt; hier gelten die Regeln der Natur, an die er sich erst gewöhnen muss. 93 Allerdings schlägt er in der Serra schnell Wurzeln und lebt sich in die neuen Verhältnisse ein. 94 Wie der Charakter Jacinto für die Bevölkerung bald einen Teil seines Zaubers verliert, so wird das paradiesische Gebirge auch für den mondänen und somit landfremden Jacinto entzaubert. Etwa als sein Freund Zé ihm erklärt: „Natürlich gibt’s hier Hunger. Hast du dir etwa eingebildet, das Paradies habe sich in der Serra verewigt, ohne Arbeit, ohne Not?“ 95 Jacinto lernt die Armut, die Krankheit und den Hunger kennen, die auf dem Land herrschen. Dennoch wählt er diese Welt, die einen Teil ihres Glanzes verloren hat, zu seiner neuen Heimat; er bevorzugt ein armes, unzivilisiertes Portugal mit all seinen ländlichen und menschlichen Schönheiten gegenüber einem Paris, das von Wohlstand und Fortschritt geprägt ist, in dem jedoch Kälte zwischen den Menschen herrscht und der Mensch in Tristesse vegetiert. 96 Queirós letzter Roman lässt sich als ein melancholischer Entwicklungsroman lesen, nämlich die Beschreibung der persönlichen Entwicklung Jacintos. Gleichwohl trägt der Roman autobiographische Züge und repräsentiert somit neben der Entwicklung des Charakters auch die Entwicklung Queirós’ selbst. Fernab der Heimat, in den Städten Europas, fühlte sich Queirós häufig unwohl. Weit entfernt von Portugal überkam ihn oft die Sehnsucht nach seiner Heimat, dem Norden Portugals. So schrieb er einst aus Havanna einem Freund:

90 91 92 93 94 95 96

Vgl. Queirós 1988 [1901]: 244. Vgl. Queirós 1988 [1901]: 281. Vgl. Queirós 1988 [1901]: 301. Vgl. Queirós 1988 [1901]: 246ff. Vgl. Queirós 1988 [1901]: 264, 272. Queirós 1988 [1901]: 290. Vgl. Queirós 1988 [1901]: 160.

74

II. Europa als Faszinosum im Portugal des 19. Jahrhunderts Hier merkt man, wie sehr man Europäer ist, ein Gefühl, das du nicht nachempfinden kannst, weil du nie verbannt warst. [...] Erst im Exil verherrlicht man die Heimat. Sei froh, dass du in dem dunklen alten Schrank bleiben kannst, der Portugal heißt. Hier fehlt mir alles, was ich zum Leben brauche: Politik, Kritik, literarische Korruption, Humor, Stil, Farbe, Palette. 97

Auffallend ist hierbei, dass Queirós zwar die Unvereinbarkeit Europas und Portugals in seinem Roman beschreibt, gleichzeitig jedoch beide Konzepte in seiner Person zu vereinen scheint – Queirós selbst, eine Persönlichkeit multipler Identität. In dieser Äußerung kommt zudem Queirós’ Abneigung gegenüber der modernen Welt und ihrer Zivilisation deutlich zum Ausdruck – eine Abneigung, die er wohl auch gegen Ende seines Lebens verspürt haben mag. Vor allem während seiner Zeit als Konsul in Paris hat er sich immer wieder nach seiner Heimat gesehnt. Der Roman Stadt und Gebirge muss somit als Hommage an seine Heimat gelesen werden, wenngleich diese doch durch und durch von seiner saudade, der typischen Form der portugiesischen Sehnsucht, bestimmt und sicherlich verklärt war. Queirós konzipiert in seinem Roman Stadt und Gebirge das eine Europa und das eine Portugal. Verständlicherweise handelt es sich bei den beiden konzipierten Einheiten um Konstrukte, sie sind folglich starr in ihrer Konzeption und werden künstlich von einander abgegrenzt. Reale Begebenheiten werden übersimplifiziert, um die Unterschiede zwischen den beiden Konzepten und ihre Polarität eindringlicher darstellen zu können. Schließlich nimmt Queirós im Verlauf des Romans zum Beispiel wenig Bezug auf das Zentrum Portugals, Lissabon, da er infolgedessen die europäischen Einflüsse in Portugal isolieren und übergehen kann. Er vermag daher, Portugal noch stärker von Europa zu distanzieren als es damals de facto war. Lediglich die Eisenbahn stellt die Verbindung zwischen den zwei Welten dar. 98 Und wie bei dem Spiel ‚Stille Post‘ werden auch die Nachrichten, die zwischen den beiden Welten wechseln, verzerrt bleiben und so viel Freiraum für unterbewusste Träume lassen; das Konstrukt bleibt Illusion. Oder Desillusion des zuvor überzeugten Europäisten, der am Ende des Jahrhunderts stellvertretend für die 70er Generation enttäuscht feststellt, dass die Transformation Portugals nach europäischem Vorbild nicht gelingen konnte. 99

97 98 99

Queirós, zit. nach Meyer-Clason 1988: 386. Vgl. Queirós 1988 [1901]: 375. Vgl. Medina 1974: 35 – 36.

B. Vorstellungen Europas während der Iberischen Diktaturen

III. Europa als ideologischer Zankapfel der ‚Zwei Spanien‘ 1. Europa im Franquismus: Ideologische Distanz und wirtschaftliche Annäherung Von Constanze Roscher Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war in Europa stark von der Entstehung diktatorischer Regime geprägt. Der italienische Staat unter der Herrschaft von Mussolini war dabei Vorbild für andere europäische Nationen wie Deutschland, Portugal und Spanien, die ebenfalls staatliche Machtsysteme nach diesem Modell schufen. Nach dem Zweiten Weltkrieg fand die Herrschaft der radikalen Nationalisten in Europa weitgehend ein Ende. Der Franquismus aber gehörte zu den autoritären Systemen, die diese Wende überlebten, und existierte noch weitere dreißig Jahre. Doch bereits bevor Francisco Franco die Macht im spanischen Staat übernahm, hatte die Regierung der Zweiten Republik mit Auseinandersetzungen im eigenen Land zu kämpfen. Nach dem Sturz des Diktators Primo de Rivera setzte die spanische Bevölkerung, besonders das Proletariat, ihre Hoffnung in die neue Staatsführung. Diese wurde jedoch durch immense innere Spannungen zerstört, und die Republik musste nach dem verheerenden Bürgerkrieg einer erneuten Diktatur weichen. Während die Zweite Spanische Republik darum bemüht war, Beziehungen zu Europa aufzubauen, ließ das autoritäre System Francos neben der Besinnung auf die eigene glorreiche Geschichte, den wirtschaftlichen Aufbau Spaniens und den Katholizismus kaum Platz für Verbindungen zum restlichen Europa. Die Zweite Spanische Republik Nachdem der Diktator Primo de Rivera im Januar 1930 nach sieben Jahren seine Position als spanischer Staatschef aufgab, ergriffen die politischen Parteien die Gelegenheit wieder aktiv zu werden. Zahlreiche sozialistische und bürgerliche Parteien sprachen sich für die Stürzung der Monarchie aus und auch viele Intellektuelle und Liberale unterstützten die Idee einer Republik. Nachdem die prorepublikanischen Parteien bei den Gemeindewahlen im April 1931 großen Zu-

78

III. Europa als ideologischer Zankapfel der ‚Zwei Spanien‘

spruch erhielten, wurde in einigen spanischen Städten die Republik ausgerufen. 1 Daraufhin bildete Acalá Zamora eine provisorische Regierung, die sich sowohl aus sozialistischen als auch republikanischen Vertretern des Revolutionskomitees zusammensetzte. Das Hauptinteresse der Republikaner bestand darin, Reformmaßnahmen durchzusetzen. Diese sollten sich in einer demokratischen Verfassung, einer Militärund Bildungsreform, der Beschränkung des kirchlichen Einflusses und besonders in einer Agrarreform äußern. Daher kann die Republik auch als Modernisierungsregime bezeichnet werden. 2 Allerdings herrschten trotz aller Maßnahmen, die Spanien zu einem demokratischen und fortschrittlichen Staat werden lassen sollten, Auseinandersetzungen innerhalb des Landes vor: Eine katholisch-konservative Rechte, eine bürgerlich-liberale Mitte und eine anarchistisch-sozialistische Linke standen sich unvereinbar gegenüber. Zu den Errungenschaften des republikanischen Flügels in den ersten Jahren der Zweiten Spanischen Republik zählten neben der Schaffung einer Verfassung und der Neuregelung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche, vor allem die Neugestaltung der Grund- und Bürgerrechte, die nun weitaus umfangreicher berücksichtigt wurden. Weiterhin verabschiedeten die Republikaner im September 1932 ein Agrarreformgesetz, das Grundbesitzenteignungen, Landverteilungen und Entschädigungen regelte. Nach dem Wahlsieg der Konservativen 1933 wurde ein Teil dieser Reformen wieder außer Kraft gesetzt. 3 Dies traf auf Unverständnis bei den Landarbeitern und ermutigte die Anarchisten zum öffentlichen Vorgehen gegen die Republik. Obwohl die Regierung der Zweiten Republik den Autonomiestatus Kataloniens im September 1932 anerkannte, kam es in den folgenden Monaten dennoch zu zahlreichen Aufständen. Weiterhin proklamierte der Regierungspräsident Kataloniens Lluís Companys, so Walther Bernecker, „den katalanischen Staat innerhalb der spanischen Bundesrepublik“. 4 Auch in Asturien lehnte sich eine Vielzahl von Arbeitern gegen die neu gewählte Regierung auf, allerdings wurden jene Revolten durch die Fremdenlegion unter der Führung von Francisco Franco nach kurzer Zeit niedergeschlagen. Die innere Zerstrittenheit führte schließlich zu einer schwerwiegenden Regierungskrise. Im Januar 1936 löste Staatschef Zamora die Cortes auf und setzte Neuwahlen an. Diese konnten die Linken erneut für sich entscheiden. Dennoch wurde schnell deutlich, dass die spanische Regierung zahlreiche Probleme, insbesondere das wirtschaftliche Ungleichgewicht im Land, nicht lösen konnte. Im Februar 1936 folgten Landbesetzungen sowie unzählige Aufstände der 1 2 3 4

Vgl. Ruhl 1998: 136. Vgl. Bernecker 2002: 190. Vgl. Vilar 1998: 138f. Bernecker 2002: 194.

1. Europa im Franquismus

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Landarbeiter. Die Regierung versuchte daraufhin, ihre Agrarreform so rasch wie möglich durchzusetzen. 5 Die Pläne, die starren wirtschaftlichen Strukturen, die sich über Jahrhunderte in Spanien gefestigt hatten, zu beseitigen, wurden jedoch von einem folgenreichen Militäraufstand durchkreuzt. Die Europapolitik der Zweiten Spanischen Republik Die Führungsschicht der Zweiten Republik wandte sich gezielt dem restlichen Europa zu. Diese Außenorientierung konnte jedoch nicht auf alle Staatsbereiche übergreifen: Die vorübergehende Dominanz des ‚westeuropäischen Modells’ – das sich in parlamentarischer Demokratie, Pluralismus, Marktwirtschaft und wohlfahrtsstaatlichen Einrichtungen äußerte – ließ sich nach Ausrufung der Zweiten Republik allenthalben in Politik und Kultur feststellen. 6

Der Spanische Bürgerkrieg von 1936 zeigte schließlich sehr deutlich, dass die angestrebten modernen Reformen, die an Modelle anderer europäischer Staaten angelehnt waren, sich auf Dauer nicht halten und kaum etwas verändern konnten. Der Versuch, sich für den Rest Europas zu öffnen, scheiterte aufgrund der heftigen Unruhen im Land während der gesamten Zeit der Republik. Der Franquismus Bereits 1936 nahm Francisco Francos Herrschaft im Zuge des Spanischen Bürgerkrieges ihren Anfang. Zu Beginn des Krieges standen sich die Volksfront, in der sich Republikaner, Sozialisten, Kommunisten und Anarchisten sammelten, und die Nationale Front, die sich aus der faschistischen Falange, katholischen Konservativen, Monarchisten und Rechtsrepublikanern zusammensetzte, gegenüber. Nach einem Putsch gegen die zwei Monate zuvor gewählte Regierung der Zweiten Republik konnte die Nationale Front den westlichen Teil Spaniens weitgehend einnehmen; mehrere Versuche scheiterten jedoch, die Hauptstadt Madrid zu besetzen. 7 Daraufhin wurde die erste provisorische Junta 8 gebildet, die umgehend alle Gewerkschaften und Parteien des Landes verbot. Am 1. Oktober 1936 folgte die Ernennung Francos zum Generalissimus aller Streitkräfte. Von diesem Zeitpunkt an übernahm er die allumfassende Befehlsgewalt über die Nationalfront während 5

Vgl. Vilar 1998: 142. Bernecker 2006: 197. 7 Vgl. Ruhl 1998: 139. 8 Eine Junta ist eine Ratsversammlung bzw. ein Volks- oder Regierungsausschuss. Bildet das Militär den größten Teil der Regierung, handelt es sich um eine Militärjunta. 6

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III. Europa als ideologischer Zankapfel der ‚Zwei Spanien‘

des Bürgerkrieges. Am 1. April gelang es der Nationalen Front schließlich auch Madrid einzunehmen, nachdem sie stetig die Gewalt über weite Teile Spaniens an sich gerissen hatte. Dieser Tag gilt daher als die Geburtstunde des Franquismus. Das franquistische Regime kann im Allgemeinen als ein autoritäres System beschrieben werden, das sich weitgehend auf das Militär stützte und stark durch die Person Francos geprägt wurde. Seine Legitimation bezog es sowohl aus dem Bürgerkrieg als auch aus dem traditionellen Katholizismus. 9 Abgesehen von der Verteidigung des Katholizismus, der erst nach dem Zusammenbruch der Zweiten Republik in Spanien wieder populär wurde, wurden die traditionelle Moral, das Recht auf Eigentum und die nationale Einheit betont. 10 Zu den Grundsätzen des franquistischen Regimes gehörten neben einem engen Verhältnis zwischen Staat und Kirche die Zusammengehörigkeit der verschiedenen spanischen Völker sowie die Förderung der hispanidad (dt.: Hispanität), bedeutender spanischer Werte und ihres Einflusses in der spanischsprachigen Welt. Allerdings beabsichtigte Franco weder eine Einbindung der spanischsprachigen Gebiete weltweit in ein Großreich noch die Eroberung fremder Gebiete. Er unternahm lediglich den Versuch, die Werte und Stärken, die den Staat ehemals zur Weltmacht aufsteigen ließen, wieder in das Gedächtnis der spanischen Bevölkerung zu rufen. 11 Neben einer strengen Zensur der Massenmedien lehnte die Obrigkeit sowohl eine Gewaltenteilung und ein allgemeines Wahlrecht als auch die Republik als Staatsform ab. Francos Weltanschauung und seine politischen Ziele wurden besonders von Negationen beeinflusst. Eine solche Negation betraf den Kommunismus und die Anarchiebewegungen, die vor allem nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Deutschlands als größte Gefahr für Europa angesehen wurden. Aus diesem Grund wurden zahlreiche Gegner des Regimes, gerade im ersten Jahrzehnt nach der Machtübernahme, einer kommunistischen Gesinnung beschuldigt, verhaftet, getötet oder gezwungen, ins Exil zu flüchten. 12 Die Isolation des franquistischen Spaniens nach dem Zweiten Weltkrieg Während Franco zwischen 1939 und 1959 eine wirtschaftliche Unabhängigkeit vom Ausland erzielte, schränkte eine Vielzahl von europäischen Staaten ihre wirtschaftlichen und diplomatischen Beziehungen zu Spanien ein. Grund für das internationale Embargo war die Ablehnung des Faschismus, da angenommen wurde, dass dieser mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gänzlich bezwungen 9

Vgl. Ruhl 1998: 147. Vgl. Horvath 1999. 11 Vgl. Bernecker 2006: 197. 12 Vgl. Díaz 1991: 16. 10

1. Europa im Franquismus

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werden konnte. Schließlich führte dies zur beinahe vollständigen Isolation Spaniens. Einzig die Beziehungen zu den ehemaligen, spanischsprachigen Gebieten in Südamerika, beispielsweise zu Peróns Argentinien, blieben bestehen. 13 Die heraufbeschworene Autarkiepolitik bewirkte schließlich einen Anstieg der Arbeitslosigkeit, das Sinken des allgemeinen Lebensstandards, die Stagnation von Forschung und Entwicklung, die Etablierung von Schwarzmärkten sowie zahlreiche Fehlinvestitionen. 14 Seit 1951 setzte sich zunehmend die Einsicht durch, dass der einzige Ausweg aus dieser Misere in der Eingliederung in den Weltmarkt zu sehen und dies nur mit ausländischer Hilfe möglich sei. Tamames beurteilt Spaniens Autarkiepolitik wie folgt: Die Autarkie bedeutete einen totalen Rückschritt hinsichtlich der in den dreißiger Jahren eingeleiteten Strukturänderungen [...]. Doch logischerweise konnte sich das autarke System auf Dauer nicht halten. 15

Sowohl die Bevölkerung als auch zahlreiche Vertreter in der Politik forderten eine Wende hinsichtlich der wirtschaftlichen Strukturen des Landes. Dieser allseitige Druck machte einen Fortbestand der Autarkie nicht mehr möglich. Aus diesem Grund kam es zu einer Liberalisierung der Wirtschaft und der Förderung des Außenhandels. Für Letzteres waren jedoch wirtschaftliche Beziehungen zu den anderen europäischen Staaten essentiell. Franco wurde durch die schlechten ökonomischen Bedingungen im eigenen Land und die Forderungen der Bevölkerung nach besseren Lebensumständen regelrecht dazu gezwungen, eine Verbindung zu Europa aufzubauen. Die Europapolitik des Franquismus Franco lehnte während seiner gesamten Amtszeit eine politische Vereinigung Europas strikt ab. Allerdings befürwortete er eine gemeinsame Wirtschaftsunion, nicht zuletzt um die ökonomischen Bedingungen im eigenen Land verbessern zu können. Doch bevor sich die Beziehung zu den anderen europäischen Staaten beruhigte, konnte sich das franquistische Regime die Unterstützung der Vereinigten Staaten sichern. Spanien, dem bisher jegliche Hilfe durch die USA versagt war, hegte seit langem die Intention, genau wie Deutschland oder Frankreich in das MarshallPlan-Programm integriert zu werden. Sich den Vorteilen einer Allianz mit dieser führenden Weltmacht bewusst, konzentrierten sich die Franquisten seit den späten 1940er Jahren auf dieses Ziel.

13 14 15

Vgl. Horvath 1999. Vgl. Bernecker 1999: 103f. Tamames 1992: 238.

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III. Europa als ideologischer Zankapfel der ‚Zwei Spanien‘

Auch für die Vereinigten Staaten wurden Beziehungen zu Spanien immer attraktiver, obgleich sie unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg dem Franco-Regime am feindseligsten gegenüberstanden. Der wohl wichtigste Grund für den Sinneswandel beider Regierungen war die vollkommene Übereinstimmung in Bezug auf den Kommunismus: „Franco präsentierte sich als ‚Wächter des Abendlandes‘ gegen die roten Horden. Diese Politik stand durchaus im Einklang mit Trumans Erklärung von der Eindämmung des Kommunismus vom Mai 1947“. 16 Spanien wurde letztlich zwar nicht in das Marshall-Plan-Programm eingegliedert, dennoch gewährte man dem Franco-Regime einen Kredit von 6,25 Millionen Dollar. Die sich entspannenden internationalen Beziehungen führten weiterhin zur Aufnahme Spaniens in die UNESCO am 17. November 1953 und in die UNO am 15. Dezember 1955. Auch die 1957 von Franco neu gebildete Regierung unterstützte eine nachhaltigere Internationalisierung Spaniens. Somit gehörte die Isolation des Staates der Vergangenheit an, wodurch wiederum einer Annäherung an Europa nicht mehr gänzlich unmöglich schien. In den 1950er Jahren trug der Katholizismus maßgeblich dazu bei, dass das franquistische Regime internationale Akzeptanz erlangte. Spanien etablierte sich somit als ein Teil der christlichen Einheit Europas. In diesem Zusammenhang konnten vor allem die Beziehungen zur BRD gestärkt werden, da beide Staaten die historische Erfahrung mit dem Konservativismus verband. 17 Allerdings war zu diesem Zeitpunkt immer noch ein mangelndes Interesse an Europa vorherrschend. Ein erster wichtiger Schritt Spaniens auf dem Weg nach Europa war die Unterzeichnung im Jahr 1958 des Assoziierungsabkommens mit der Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC). Zwar wurde das FrancoRegime nicht als vollwertiges Mitglied aufgenommen, aber es wurden ihm gewisse Rechte und Pflichten zugestanden. Ende der 1950er Jahre beruhigte sich außerdem das Verhältnis zu Frankreich, da dessen Interessen auch Spanien zugute kamen. Dies äußerte sich besonders in De Gaulles Konzept von einem Europa der Nationen, in dem die Nationalstaaten unabhängig von den supranationalen Institutionen bleiben sollten. Der Aspekt der Autonomie der Mitgliedstaaten deckte sich mit Spaniens Vorstellung von Europa. 18 Auf wirtschaftlicher Ebene aber war das Franco-Regime gezwungen, eine Annäherung Spaniens an den europäischen Markt anzustreben. Schon allein in Anbetracht der bisherigen ökonomischen Erfolge und der Beseitigung vieler Missstände, die sich infolge der Isolationspolitik etablierten, war dies notwendig. So bewarb sich Spanien 1962 um den Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Dies wurde jedoch mit der Begründung, das Land sei kein freier 16 17 18

Horvath 1999. Vgl. MacLennan 2000: 26. Vgl. MacLennan 2000: 44.

1. Europa im Franquismus

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und demokratischer Staat, abgelehnt. 19 Da die Erwartungen der franquistischen Regierung bei dieser Bewerbung sehr hoch waren, war die Ablehnung ein herber Rückschlag. Allerdings konnte das Franco-Regime in den 1960er Jahren seine Beziehungen zur EWG ausbauen, wobei Frankreich und Deutschland die wichtigsten Partner Spaniens blieben. Erst 1970 schlossen Spanien und die EWG ein Präferenz-Handelsabkommen. Für das Franco-Regime bedeutete dies einen diplomatischen und politischen Sieg, da dessen Ziel bezüglich der Etablierung von Beziehungen zur EWG nun durchgesetzt werden konnte. Zwar befürwortete Franco den Beitritt Spaniens zur EWG, aber eine Einführung demokratischer Verhältnisse lehnte er weiterhin strikt ab: Vergessen wir nicht: Wir machen eine Revolution durch. Es braucht uns daher nicht weiter zu beunruhigen, wenn wir nicht mit anderen Nationen oder mit dem Empfinden anderer europäischer Länder, die sich an ihre alten Systeme klammern, gleichziehen, denn wir führen eine Revolution durch, eine Revolution in Spanien. 20

Grund dafür war vor allem das beständige Infragestellen der autoritären Staatsform durch die anderen europäischen Nationen, was schließlich dazu führte, dass Europa nicht als Alternative für Spanien angesehen wurde. Diese politische Distanzierung von Europa wurde von der ideologischen Betonung eines kulturellen Sonderwegs flankiert: Als Spanien in den 1960er Jahren mit dem Slogan ‚Spanien ist anders‘ um Touristen aus Mittel- und Nordeuropa warb, 21 stellte dies gleichzeitig eine bewusst konstruierte politische und ideologische Abgrenzung dar. Somit lehnte das Franco-Regime weiterhin eine europäische Einigung ab. Angesichts der skeptischen Haltung des Franquismus gegenüber Europa wundert es nicht, dass gerade Europa zur ideologischen Waffe mancher spanischer Intellektueller gegen die Diktatur wurde. Gerade wegen des Festhaltens an den autoritären Strukturen wuchs das Verlangen der Opposition nicht nur nach einer wirtschaftlichen Verbesserung, sondern auch nach einer sozialen, politischen und kulturellen Veränderung. Dieser alternative Europäismus, der hauptsächlich von Akademikern getragen wurde, argumentierte, dass Spanien nicht von der europäischen Einigung ausgeschlossen werden solle. 22 Die Intellektuellen vertraten die Ansicht, dass das bestehende politische System einem Wandel unterzogen werden müsse, damit Spanien eine aktive Rolle im neuen Europa übernehmen könne. Daher gründete die gemäßigte Opposition des Landes pro-europäische Gesellschaften, was zu ersten Konflikten mit dem Regime führte. Einer der Befürworter der europäischen Integration, Professor Tierno Galván, beschrieb das Spanien der 1950er Jahre wie folgt: 19 20 21 22

Vgl. Horvath 1999. Zit. nach Bernecker 2004: 462. Vgl. Bernecker 2006: 198. Vgl. MacLennan 2000: 28.

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III. Europa als ideologischer Zankapfel der ‚Zwei Spanien‘ [All] anti-Francoist political activity during these years had a European character. Spain was Europe in the sense that it was anti-Francoist. Europe represented for us an open window which allowed us to dream of democracy. 23

Um ihrer Antipathie gegenüber dem Franco-Regime und dem Glauben an die europäische Integration Ausdruck zu verleihen, nahm eine Vielzahl von Oppositionellen, wie beispielsweise Salvador de Madariaga, an der Münchner Konferenz im Juni 1962 teil. Bei diesem Kongress der Europäischen Bewegung hatten die 118 spanischen Teilnehmer – sowohl Exilanten als auch inländische Franco-Gegner – die Möglichkeit, Vorschläge zu unterbreiten, die zu erfüllende politische Bedingungen für die Einbindung Spaniens in Europa beinhalteten. Jene Spanier, die der Konferenz beiwohnten, sahen sich in den folgenden Tagen einer Verleumdungs- und Hetzkampagne ausgesetzt und wurden verbannt oder mit Redeverboten belegt. Dieses Beispiel zeigt, wie kaum ein anderes, die auch in den 1960er Jahren noch vorherrschende Ablehnung der europäischen Vereinigung durch das FrancoRegime. Gegen Ende der 1960er Jahre spitze sich sowohl die innen- als auch außenpolitische Situation zu. Intern nahmen Streiks und Terroranschläge, besonders in den Regionen, die für die Unabhängigkeit kämpften, zu. 24 Außenpolitisch beschäftigte der Konflikt um Gibraltar die franquistische Regierung. Bis zum Tode Francos im Jahr 1975 kam es zu keiner Einigung mit Großbritannien. Die vollständige Annäherung an Europa konnte somit erst nach dem Ende der franquistischen Herrschaft erfolgen. Auch wenn Spanien in den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten Verbindungen zu Europa aufbauen konnte, kann man doch nicht von einer Aufhebung des Isolationsstatus sprechen. Jene Beziehungen wurden lediglich mit dem Ziel aufgenommen, den wirtschaftlichen Niedergang des franquistischen Staates zu verhindern. Franco sah ein, dass Spanien nur an seine glorreichen Epochen anknüpfen konnte, wenn man sich die Unterstützung Europas sicherte. Dennoch blieb der franquistische Staat bis 1975 ein ‚Einzelkämpfer‘ in Europa. * Die Regierung der Zweiten Republik konnte die angestrebte Verbindung zum restlichen Europa nicht etablieren. Aufgrund der zahlreichen Krisen, die es von Beginn an zu lösen galt, konnte sich keine geistige Elite in Spanien bilden, die von Intellektuellen wie José Ortega y Gasset oder Salvador de Madariaga gefordert wurde, um das Land in das für sie so wichtige Europa einzubinden. Auch die Praxis der franquistischen Politik entsprach in einer Vielzahl von Aspekten nicht den ursprünglichen Intentionen. Besonders prägend für das Re23 24

Zit. nach MacLennan 2000: 33. Vgl. Ruhl 1998: 155f.

2. Europa als Alternative

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gime war die Erstarrung gegen Ende der Regierungszeit Francos. Die spanische Gesellschaft und die Ideologie des Franquismus drifteten immer weiter auseinander. Somit kann von einer Veralterung des Systems gesprochen werden, was besonders dem voranschreitenden Alter und der zunehmenden Regierungsunfähigkeit seines Anführers zuzuschreiben ist. Dies hatte auch Auswirkungen auf die Haltung der spanischen Führungsschicht gegenüber Europa, wie Bernecker beschreibt: „Nie zuvor in seiner Geschichte dürfte Spanien wirtschaftlich und sozial so ‚europäisch‘ gewesen sein wie im Übergang zur Demokratie nach dem Ende des autoritären Regimes“. 25 An dieser Entwicklung waren maßgeblich die Intellektuellen Spaniens, die gegen jeden Widerstand für ihre Ideen von Europa einstanden, beteiligt. Die Münchner Konferenz im Juni 1962 ist dabei nur ein Beispiel für das öffentliche Vorgehen der geistigen Elite gegen das autoritäre System Francos. Sowohl die Intellektuellen der Zweiten Republik als auch jene, deren Tätigkeit in die Zeit des Franquismus fällt, versuchten mit ihren Werken ihre Leserschaft für die Bedeutsamkeit eines geeinten Europas zu sensibilisieren. Gleichsam war es ihr Anliegen, auf die Unfähigkeit der Regierung zu einer wirkungsvollen Europäisierung aufmerksam zu machen.

2. Europa als Alternative: Die Idee Europas bei José Ortega y Gasset Von Carola Graupner José Ortega y Gassets Werk ist in der Tradition der 1898er Generation und aufgrund der gesellschaftlichen und familiären Umstände seines Lebens durch einen ausgeprägten Europäismus gekennzeichnet. Sein im Folgenden behandelter Vortrag zum europäischen Kulturbewusstsein zeigt, wie tief die Idee eines geeinten Europas in Ortega y Gasset verwurzelt war. Seine Visionen einer europäischen Integration, die heute zwar häufig kritisiert werden, 26 wirken jedoch im Kontext seiner Zeit nahezu revolutionär. So ist es nicht verwunderlich, dass sein Werk auch außerhalb der Grenzen Spaniens, z. B. in Deutschland, großen Anklang fand. 27

25 26 27

Bernecker 2006: 199. Vgl. Hinterhäuser 1979: 314f. Vgl. Jung-Lindemann 2001: 181f.

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III. Europa als ideologischer Zankapfel der ‚Zwei Spanien‘

Biographische Schwerpunkte Der Philosoph und Essayist José Ortega y Gasset wurde am 9. Mai 1883 in Madrid geboren. Drei Aspekte seiner Biographie waren für seine intellektuelle und schriftstellerische Arbeit von besonderer Bedeutung. Seine familiären Hintergründe legten schon früh den Grundstein für einige der Besonderheiten seines literarischen und politisch-philosophischen Schaffens. So war sein Großvater mütterlicherseits der Gründer und Eigentümer der liberalen Tageszeitung El Imparcial. Sein Vater war von 1900 – 1906 der Direktor dieser Zeitung, nachdem er zuvor für den Literaturteil verantwortlich gewesen war. Diese frühe Verbindung zu Presseerzeugnissen spielte im schriftstellerischen Schaffen Ortega y Gassets eine herausragende Rolle. Viele seiner literarischen Werke erschienen zunächst als Reihe von essayistischen Zeitungsartikeln, wie zum Beispiel eines seiner wichtigsten Werke La rebelión de las masas (dt.: Der Aufstand der Massen) von 1930, auf das noch einmal eingegangen werden soll. Auch sein populärer Stil und seine Themenauswahl wurden durch seine Liebe zur Presse beeinflusst. Mit seinen ausführlichen Gedankengängen und scharfen Pointen wollte er auch, wenn nicht sogar vor allem, die Menschen außerhalb des akademischen Kreises erreichen. Er beschäftigte sich mit einem breiten Spektrum von Themen, von Philosophie über Kunst bis hin zu Europa und der europäischen Identität, und lieferte zumeist eine politische (liberale) Konnotation. 28 Seine Affinität zur liberalen Presse mündete Jahre später, als er schon die Professur für Metaphysik an der Universidad Central de Madrid innehatte, darin, dass er zunächst Essays zu verschiedenen Themen insbesondere in liberal ausgerichteten Tageszeitungen und Kulturzeitschriften veröffentlichte. Weiterhin gründete er im Jahr 1923 die Monatszeitschrift Revista de Occidente (dt.: Zeitschrift des Abendlandes). Unter seiner Leitung gewann die Zeitschrift schnell großen Einfluss in kulturellen Kreisen und wurde zu einem Verknüpfungspunkt zwischen „dem spanischen Geistesleben und den zeitgenössischen und künstlerischen Strömungen im übrigen Europa“. 29 Ein weiterer wichtiger Aspekt seiner Biographie, der vor allem sein philosophisches Denken beeinflusste, war sein Studienaufenthalt in Deutschland von 1905 bis 1907. Diesen legte er nach Beendigung seines Studiums der Philosophie und Rechts- und Geisteswissenschaften bzw. seiner Promotion im Jahr 1904 ein. Er hielt sich vor allem in Marburg auf, wo er sich mit Hermann Cohens und Paul Natorps neukantianischer Philosophie vertraut machte. Es liegt nahe, dass dieser Aufenthalt im Ausland sein Interesse für Europa und die europäische Identität und die Beziehung zwischen Spanien und Europa weckte bzw. bestärkte. So kehrte er 1911 erneut mit einem Stipendium nach Deutschland zurück und studierte ein weiteres Jahr dort, bis er Ende 1911 nach Madrid zurückkehrte, um 28 29

Vgl. Jung-Lindemann 2001: 15f. Jung-Lindemann 2001: 17.

2. Europa als Alternative

87

dort seine Professorentätigkeit am Lehrstuhl für Metaphysik an der Universidad Central aufzunehmen. Nach dem Ende des 2. Weltkrieges kehrte er wiederholt für Vortragsreisen nach Deutschland zurück. Deutschland spielte eine wichtige Rolle in der Rezeptionsgeschichte seiner Werke. So wurde La rebelión de las masas unter dem Titel Der Aufstand der Massen 1936 ins Deutsche übersetzt und machte Ortega y Gasset zu einem der meist gelesenen ausländischen Essayisten und Philosophen in Deutschland. 30 Ein dritter besonders bedeutender Punkt seiner Biographie bestand in seinem fortwährenden Interesse an der (spanischen) Politik. Viele seiner Werke behandelten, wie bereits erwähnt, politische Sachverhalte Spaniens. Sein politisches Engagement erreichte seinen Höhepunkt im Jahr 1931 mit der Wahl in die Cortes Constituyentes (dt.: Verfassungsgebende Versammlung) der Zweiten Spanischen Republik. Jedoch legte er sein Amt schon im darauf folgenden Jahr nieder, da er sich weder an den Ablauf der Parlamentsdebatten noch die politische Alltagsarbeit gewöhnen konnte. Trotzdem stand er auch weiterhin hinter der spanischen Republik und versuchte z. B. als Berater während der Kabinettskrise im Jahr 1933 bei der Bildung einer stabilen neuen Regierung mitzuwirken. Dies schlug jedoch fehl, was ihn dazu veranlasste, sich gänzlich aus der Politik zurückzuziehen und sich von den Republikanern zu distanzieren. Mit dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges im Jahr 1936 ging Ortega y Gasset ins Exil, womit seine Schaffenszeit als Essayist beendet war. Zunächst führte ihn sein Weg nach Frankreich, später nach Portugal und Argentinien und 1945 zurück nach Spanien. Ortega y Gassets Versuche, seine politisch-philosophischen Ansichten umzusetzen, wurden jedoch durch die intellektuelle Atmosphäre des Franco-Regimes verhindert. In vielen seiner in den folgenden Jahren stattfindenden Vortragsreisen, die ihn u. a. wie bereits erwähnt nach Deutschland führten, setzte er sich trotzdem auch weiterhin mit (Europa bezogenen) politischen Themen auseinander. José Ortega y Gasset starb im Jahr 1955 in Madrid. 31 José Ortega y Gasset – Europäische Kultur und Europäische Völker Ortega y Gassets Reflexionen über Europa ergeben sich, wie für die meisten seiner Vorgänger, aus der Beschäftigung mit der spanischen Identität. Er belebt durchaus das Programm einer Europäisierung Spaniens, wie es bereits von Joaquín Costa vertreten worden war. 32 Dabei bewegt er sich jedoch über die bloße Suche eines Auswegs für die spanische Identitätskrise hinaus. Vielmehr erkannte er, 30 31 32

Vgl. Jung-Lindemann 2001: 181. Vgl. Jung-Lindemann 2001: 17f. Siehe hierzu Kapitel A.I.3. dieses Bandes.

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III. Europa als ideologischer Zankapfel der ‚Zwei Spanien‘

dass auch Europa sich in einer Krise befindet. Sein Programm ist also nicht nur die Europäisierung Spaniens, sondern auch eine Hispanisierung Europas. Wie José María Beneyto feststellt, lassen sich im Werke Ortega y Gassets mehrere Europäismen identifizieren. 33 Sein späterer Europäismus, der die europäische Einigung als Ausweg aus den nationalstaatlichen Totalitarismen vertritt, steht im Mittelpunkt der folgenden Betrachtungen. In seinem 1953 in München gehaltenen Vortrag Gibt es ein europäisches Kulturbewusstsein? 34 beschäftigt sich José Ortega y Gasset mit der Frage, ob es eine europäische Identität gibt und wie diese aussieht. Zudem verknüpft er diesen Sachverhalt mit der Frage nach der europäischen Zukunft und wie diese beschaffen sein könnte. Wie schon in seinen vorhergehenden Überlegungen zum Thema Europa, wie etwa in La rebelión de las masas, leitet er den Begriff der europäischen Identität zunächst aus einem Exkurs in die europäische Geschichte her; anschließend stellt er die Nationenbildung und deren Rolle bei der Entwicklung der europäischen Identität dar; schließlich geht er auf die Beschaffenheit und die Zukunft der Nationen ein. Dabei hebt er hervor, dass ein Europa der einzelnen Nationen keine Zukunft habe. Er spricht hier von „[einer akuten] Krise“ 35 des europäischen Kulturbewusstseins. 36 Zunächst weist er mit seinen geistesgeschichtlichen Ausführungen zur europäischen Geschichte darauf hin, dass so etwas wie ein einheitliches europäisches Kulturbewusstsein schon seit dem Ende der Antike bestehe. Er spricht dabei von einer „[zweifachen] Lebensform“ 37 der europäischen Völker. Diese Lebensform zeichnet er als einen Kreislauf nach, in dem „jedes einheitliche neue Prinzip“ 38 von den verschiedenen europäischen Völkern unterschiedlich antizipiert wurde. So verweist er darauf, dass aus der Homogenität eines Prinzips, wie z. B. der christlichen Idee, die Verschiedenheit der Völker in Europa, in diesem Falle die jeweils unterschiedlich ausgeprägten nationalen Kirchen, entstand. Als weiteres Beispiel wählt der Autor das Römische Reich, das zu verschiedenen Staatsformen führte. Dabei weist er jedoch ausdrücklich auf den eigentlich homogenen Ausgangspunkt dieser Entwicklungen hin. 39 Das schon früh existierende europäische Kulturbewusstsein begründet er mit der Tatsache, dass das bloße Zusammenleben in einem bestimmten geographischen Raum – dem europäischen Kontinent – schon Beziehungen zwischen den Völkern entstehen ließ. Somit entstand das Bewusstsein für den Anderen, aber auch die verbindendenden Elemente zwischen den europäischen Völkern. Als Beispiel führt Ortega den Handel, aber auch kriegeri33 34 35 36 37 38 39

Vgl. Beneyto 1999: 128. Vgl. Beneyto 1999: 157. Ortega y Gasset 1954: 37. Vgl. Ortega y Gasset 1954: 1ff. Ortega y Gasset 1954: 8. Ortega y Gasset 1954: 8. Vgl. Ortega y Gasset 1954: 8f.

2. Europa als Alternative

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sche Auseinandersetzungen an. Dies lässt ihn zu dem Schluss kommen, dass die „europäischen Völker [...] seit langem eine Gesellschaft“ 40 sind. Dabei hebt er hervor, dass das Zusammenleben in Gesellschaften gemeinsame Gewohnheiten entstehen ließ. Für Europa bedeutet das in diesem Falle, dass es bereits sehr früh in der Geschichte „europäische Sitten, europäische Bräuche, [eine] öffentliche europäische Meinung [...]“ 41 gab und somit ein europäisches Kulturbewusstsein vorhanden sei. 42 Ortega y Gasset weist darauf hin, dass die Menschen seit dem Ende der Antike in zwei sozialen Räumen bzw. Gesellschaften lebten: zum einen in Europa und zum anderen in ihren jeweiligen Nationen bzw. den „engeren Marken und Gegenden“, 43 aus denen später die Nationen hervorgingen. Im Mittelalter etwa sei das Bewusstsein für die Zugehörigkeit zum gebietsmäßig größeren sozialen Raum, dem „Okzident“, 44 vorhanden. Im Verlauf der folgenden Jahrhunderte habe meist einer dieser beiden sozialen Räume dominiert: Im Jahrhundert Karls des Großen herrschte z. B. mit der Karolingischen Schrift und dem Vulgär-Latein, das über fast ganz Europa verbreitet war, der Europäismus vor; in anderen Jahrhunderten wiederum war der Partikularismus dominierend. So führte laut Ortega y Gasset etwa die eigentlich vereinigende europäische Strömung des Humanismus im 17. Jahrhundert zur Entstehung des Nationalbewusstseins. Dieses wiederum mündete in einer gegenseitigen Abgrenzung der europäischen Völker – sowohl mittels ihrer nationalen Sprachen und Literaturen als auch durch ihre territorialen Grenzen. 45 Doch trotz dieser dynamischen Wechselbeziehung zwischen den beiden sozialen Räumen – Europa und Nation – weist der Autor energisch darauf hin, dass das einende europäische Kulturbewusstsein aus bereits genannten Gründen immer bestanden haben muss. 46 Diesem einigenden Kulturbewusstsein wird von Ortega y Gasset die Idee der „Europa-Einheit“ 47 entgegengesetzt. Er verweist dabei auf die Gegenwart der 1950er Jahre, in der u. a. wirtschaftliche Interessen und Notwendigkeiten einen Zusammenschluss der europäischen Nationen erforderlich machten. Dabei macht Ortega y Gasset jedoch deutlich, dass es so einen Europazusammenschluss bislang noch nie gegeben habe. Weiterhin grenzt er diese politische Europa-Einheit vom europäischen Kulturbewusstsein ab: „Europa als Kultur ist durchaus nicht das gleiche wie Europa als Staat“. 48 Jedoch weist er gleichzeitig darauf hin, dass 40 41 42 43 44 45 46 47

Ortega y Gasset 1954: 10. Ortega y Gasset 1954: 11. Vgl. Ortega y Gasset 1954: 10ff. Ortega y Gasset 1954: 12. Ortega y Gasset 1954: 13. Vgl. Ortega y Gasset 1954: 16ff. Vgl. Ortega y Gasset 1954: 22. Ortega y Gasset 1954: 23.

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es zwar einen Zusammenschluss der europäischen Nationen noch nicht gegeben habe, aber eine gemeinsame – grenzüberschreitende – öffentliche Meinung bereits vorhanden sei. In seiner Argumentation setzt er den Druck, den diese europäische öffentliche Meinung ausübt mit der öffentlichen Macht gleich, die einen Staat gemeinhin charakterisiert. Somit folgert Ortega y Gasset, dass es, wenn schon keinen offiziellen Europazusammenschluss, so doch einen europäischen Staat gäbe, der durch die Macht der öffentlichen Meinung manifestiert wird. Diesem Staat schreibt er beispielsweise eine größere Souveränität zu, als sie die einzelnen Nationalstaaten je hatten. Die Namen dieses Staates variierten laut Ortega von Epoche zu Epoche, so wurde er z. B. nach dem Ersten Weltkrieg ‚Europäisches Gleichgewicht‘ genannt. Die unterschiedlichen Namen des Staates Europa wiederum stellten im Verlauf der Geschichte immer die Wechselbeziehung zwischen den einzelnen Nationen dar. 49 Somit wäre zu folgern, dass ein europäischer Zusammenschluss ‚nur‘ ein weiterer neuer Name für den eigentlich schon existierenden europäischen Staat ist. Welche Rolle spielen nun die Nationalstaaten in diesem europäischen Zusammenschluss? Ortega y Gasset hebt besonders hervor, dass die heutigen Nationen ihren ursprünglichen Charakter, den sie während der Nationenbildung und des Nationalismus des 19. Jahrhunderts hatten, verloren haben. Für ihn ist die Dynamik, die innerhalb der einzelnen Nationen herrschte und sich besonders im Umgang mit anderen Nationen zeigte, verloren gegangen. Er weist darauf hin, dass der im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts für Europa zukunftsschaffende Charakter der Nationen einer starren, unbeweglichen Ausformung der Völker gewichen ist. Das damalige Bewusstsein für die jeweils eigene Nation habe den europäischen Entwicklungsprozess gehemmt, da es nur nach innen gerichtet gewesen sei. Seine Argumentation gipfelt, wie schon in La rebelión de las masas, darin, dass es für Europa keine Zukunft gibt, wenn nicht der mittlerweile ausgeschöpfte Gedanke der Nation einem neueren, beweglicheren Modell weiche. Dieser neue Entwicklungsschritt bestehe in „einer Über-Nation, einer europäischen Integration“. 50 Die vorübergehende Erstarrung in veralteten Denkstrukturen wiederum ordnet Ortega y Gasset in den größeren Entwicklungsrahmen der europäischen Geschichte ein. Er bezeichnet dieses nur auf die jeweils eigene Nation bezogene Denken und die daraus resultierende Abkehr von dem eigentlich wichtigen sozialen Lebensraum und Bezugspunkt Europa als „eine akute Krise“ 51 des europäischen Kulturbewusstseins. Doch sieht er selbst in dieser Krise eine Chance: Die europäische Zivilisation zweifelt ernstlich an sich selbst. Wir können uns gratulieren, dass es so ist. Ich kann mich nicht erinnern, dass irgendeine Zivilisation an einem Anfall 48 49 50 51

Ortega y Gasset 1954: 23. Vgl. Ortega y Gasset 1954: 23ff. Ortega y Gasset 1954: 32. Ortega y Gasset 1954: 37.

2. Europa als Alternative

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von Zweifeln zugrunde gegangen wäre. Ich glaube mich vielmehr zu entsinnen, dass Zivilisationen an einer Versteinerung ihrer Glaubenstradition [...] zugrunde gegangen sind. 52

Somit liegt für ihn in dieser Krise die eigentliche Chance für die weitere Entwicklung Europas und des europäischen Kulturbewusstseins. Er schließt mit dem zusammenfassenden Gedanken, dass es ein europäisches Kulturbewusstsein (immer noch) gibt. Jedoch liegt es ihm fern, bestimmte Merkmale dieses Kulturbewusstseins festzulegen. Aus der vorangegangenen Argumentation ergibt sich für ihn, dass die stetige Weiterentwicklung und Dynamik der europäischen Kultur es unmöglich macht, Charakteristika eines europäischen Kulturbewusstseins festzulegen. Gleichzeitig erhebt er diese Entwicklung selbst zu dem eigentlichen und einzigen Merkmal der europäischen Kultur: „Die europäische Kultur ist eine immerwährende Schöpfung.“ 53 * José Ortega y Gassets Gedanken zu Europa und dem europäischen Kulturbewusstsein, die er in seinem Vortrag im Jahr 1953 darlegte, können als ein Gegenentwurf zu der im vorangegangenen Kapitel vorgestellten Autarkiepolitik des franquistischen Spaniens und des Desinteresses an den europäischen Nachbarn verstanden werden. Zugleich scheinen seine Ausführungen bereits eine Vorahnung der späteren Annäherung Spaniens an Europa zu enthalten. Hatte der junge Ortega in Europa die Lösung für die spanischen Probleme gesehen, so erkennt er später die tiefe Krise, in die Europa mit dem Zweiten Weltkrieg gestürzt war. Europa, und nicht Spanien, wird zum Problem. Die Lösung sieht er in der Integration der vielfältigen europäischen Identitäten. Europa wird für Ortega zum Torwächter der Kultur und der Freiheit gegenüber den Nationen. 54 In der gegenwärtigen Debatte zur europäischen Identität sind Ortega y Gassets Vorstellungen immer noch aktuell. Zwar haben sich der politische und geschichtliche Kontext verändert. Jedoch hat die Kernaussage des Vortrags, dass eine gemeinsame kulturelle europäische Grundlage existiert und die Entwicklung Europas einem zukunftsgerichteten Prozess entspricht, auch heute noch ihre Berechtigung. Trotz seiner umfangreichen und zeitweise offenen Argumentation, die einigen Raum für Kritik bietet, ist es doch bemerkenswert, dass Ortega y Gasset gerade im geschichtlichen Kontext der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts über eine europäische Einheit nachgedacht hat.

52 53 54

Ortega y Gasset 1954: 38. Ortega y Gasset 1954: 39. Vgl. Beneyto 1999: 156.

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III. Europa als ideologischer Zankapfel der ‚Zwei Spanien‘

3. Die Vielfalt Europas in Salvador Madariagas Porträt Europas Von Claudia Mehardel Salvador Madariaga Don Salvador de Madariaga y Rojo wurde am 23. Juli 1886 in Nordwestspanien, in A Coruña geboren. Er studierte Berg- und Maschinenbau in Paris. 1911 begann er bei der nordspanischen Eisenbahngesellschaft als Ingenieur zu arbeiten. Ab 1916 war er bei der Times in London tätig. Ein Jahr später veröffentlichte er sein erstes Buch La guerra desde Londres (dt.: Der Krieg aus London gesehen) und 1920 Shelley and Calderón and other essays on english and spanish poetry. Im Jahr 1922 erschien Ensayos anglo-españoles (dt.: Englisch-Spanische Essays). Von 1922 bis 1928 hatte Madariaga die Leitung der Abrüstungsabteilung beim Völkerbund in Genf inne und übernahm ab 1928 den Lehrstuhl für spanische Literatur in Oxford. Mit der Proklamation der Spanischen Republik 1931, kehrte Madariaga nach Spanien zurück und war dort als Abgeordneter in der Nationalversammlung tätig. Er wurde von der spanischen Republik als Botschafter nach Washington und Paris entsandt, gleichzeitig war er bis 1936 Chefdelegierter Spaniens beim Rat des Völkerbundes. Als der Spanische Bürgerkrieg 1936 ausbrach, ging Madariaga zurück nach Oxford und war dort für die nächsten 40 Jahre schriftstellerisch und publizistisch tätig. Aus dem Exil bekämpfte er das Franco-Regime. Am 14. Dezember 1978 starb Madariaga im Alter von 92 Jahren. Madariagas Publikationen orientieren sich überwiegend an der spanischen Kultur und der hispanoamerikanischen Welt. 55 In Porträt Europas bringt Madariaga seine innovativen Ideen zu Europa zum Ausdruck. Porträt Europas In seinem 1951 veröffentlichten Werk Bosquejo de Europa (dt.: Porträt Europas) 56 versucht Salvador de Madariaga, die Einheit Europas zu finden, indem er die Spannungen der einzelnen europäischen Nationen herausarbeitet. Er behauptet – in einer Argumentation, die an Ortega y Gasset erinnert –, dass die Menschen in Europa durch geographische Nähe miteinander verwoben sind. Auch er erkennt mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges die tiefe Krise, in der sich Europa befindet. Für die Einheit Europas muss die Geschichte als europäische Geschichte neu über55 56

Vgl. o.V. 2004. Die deutsche Übersetzung wurde 1952 veröffentlicht.

3. Die Vielfalt Europas in Salvador Madariagas Porträt Europas

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dacht werden. Die Fehler und Sünden der Vergangenheit sollen nicht überdeckt, sondern richtig bewertet und eingeordnet werden. Die Neudeutung der gemeinsamen Geschichte ist aber nur möglich, wenn dieAndersartigkeit innerhalb Europas anerkannt und respektiert wird. Die Verschiedenheit zwischen den europäischen Ländern soll nicht verloren gehen, sondern gebührend betont werden. 57 Geleitet von diesem Versuch, die Andersartigkeit der Völker Europas zu verstehen, zeigt Madariaga in seinem Buch die verschiedenen Charaktere der unterschiedlichen europäischen Länder auf, was José María Beneyto als ironische Spielereien über die kollektiven Psychologien bezeichnet. 58 Die folgende Episode ist nach Madariagas Meinung kennzeichnend für die Verschiedenheit in Europa: In einem großen Geschäft in Sevilla wurde eine lächerlich angezogene ältere Ausländerin von zwei andalusischen Mädchen ausgelacht. Ein Engländer und ein Franzose waren Zeugen dieses Auftritts. Der Engländer ging auf die Mädchen zu und sagte ihnen die Meinung, worauf die beiden Herren den Laden verließen und gemeinsam ihren Manzanilla trinken gingen. Beim Wein kam der Franzose auf den Vorfall zurück: „Sie haben sich ebenso falsch benommen wie die beiden Mädchen. Spanierinnen legen Wert auf Schönheit, und wer gegen ihren Schönheitssinn verstößt, den bestrafen sie. So etwas straft man mit Heiterkeit. Sie als Engländer legen Wert auf gute Formen und bestrafen den, der dagegen verstößt. Solche Verstöße bestraft man durch eine Moralpredigt. Ich bin Franzose und lege Wert auf menschliches Verstehen. Wer es daran fehlen lässt, den strafe ich. Und zwar indem ich dem Betreffenden eine Lektion erteile. Ich hoffe sie werden sie sich zu Herzen nehmen. 59

Madariagas Buch Porträt Europas gliedert sich in vier Teile, die im Folgenden vorgestellt werden. Erster Teil: Der europäische Geist Im ersten Teil des Buches beschäftigt sich Madariaga mit Gemeinsamkeiten europäischer Länder auf unterschiedlichen Gebieten. Laut Madariaga wird Europa durch eine übergeordnete Einheit zusammengehalten: „Als Ganzes gesehen, erscheint Europa in ebenso festen Umrissen wie irgendeine der Nationen, aus denen es besteht.“ 60 Diese übergeordnete Einheit existiert, obwohl in Europa sehr unterschiedliche Menschen leben. Die natürliche Vorbedingung hierfür ist das Klima. Europa ist der kleinste Kontinent, der sich durch ein gemäßigtes Klima auszeichnet. Hier ist es wärmer als in asiatischen und amerikanischen Zonen auf gleicher Breite. Als Grund hierfür nennt Madariaga zwei natürliche Heizungssysteme. Dies ist zum 57 58 59 60

Vgl. Madariaga 1955: 7 – 10. Vgl. Beneyto 1999: 160. Madariaga 1955: 11f. Madariaga 1955: 17.

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III. Europa als ideologischer Zankapfel der ‚Zwei Spanien‘

einen die Sahara, welche die Winde erhitzt, die über den Süden von Europa wehen; zum anderen wirkt der Golfstrom, der von Amerika über den Atlantischen Ozean kommt, wie eine Zentralheizung. Ohne diese beiden Faktoren wäre das Klima in Europa wahrscheinlich ein gänzlich anderes. In Spanien, Frankreich und England wäre es kälter, wodurch auch die Weltgeschichte anders verlaufen wäre. 61 Nicht nur das Klima haben die europäischen Länder gemeinsam. Auch die Architektur und Kunst spielen eine wichtige Rolle. Obwohl es auf den ersten Blick nicht möglich erscheint, die europäische Architektur und ihre zahlreichen Formen einem gemeinsamen Nenner unterzuordnen, entdeckt Madariaga zwei Gesetze, die sich in der gesamten europäischen Architektur immer wieder finden lassen: die Symmetrie und die Übereinstimmung der Proportionen mit denen des menschlichen Körpers. Dieses Merkmal ist laut Madariaga mit der sokratischchristlichen Natur des europäischen Geistes verbunden. 62 Im Gegensatz zu China oder Indien, wo Träume oder Symbole der Künstler mit in die Kunst eingebaut werden, existieren in Europa keine überladenen Stücke: Gebäude und Skulpturen entstehen in einfachen Linien. 63 Zweiter Teil: Der Europäische Olymp Im Mittelpunkt des zweiten Teils stehen die Götter, wie Madariaga sie nennt, die Europa hervorgebracht hat. Die europäischen Götter bekamen menschliche Züge und finden sich in Hamlet, Don Quijote, Faust, Don Juan, Ivan Karamasow und Peer Gynt wieder. 64 Madariaga schreibt hierzu: „Von unseren Göttern sind Don Juan, Don Quijote, Hamlet und Faust die größten“. 65 Im Vergleich dieser vier steht sich laut Madariaga Hamlet und Don Quijote nahe, während sich Faust eher mit Don Juan in Zusammenhang bringen lässt. 66 Sucht Hamlet Freiheit von seiner Gesellschaft, so sehnt sich Don Quijote nach einer Gesellschaft für seine Freiheit. Sie sind europäische Symbole für das Problem des Gleichgewichts zwischen dem Menschen als Individuum und dem Menschen als Gemeinschaftswesen. 67 Madariaga beschreibt Hamlet und Don Quijote wie folgt: Hamlet verkörpert die gequälte Seele frei geborener Menschen, die in einer Gemeinschaft leben müssen, die ihnen zu starr und fordernd ist. Don Quijote verkörpert die ebenso gequälte Seele gesellig geborener Menschen, die in einer zu lockeren, zu verdünnten Gemeinschaft leben. 68 61 62 63 64 65 66 67

Vgl. Madariaga 1955: 19ff. Vgl. de Madariaga 1955: 38f. Vgl. Madariaga 1955: 39. Vgl. Madariaga 1955: 45f. Madariaga 1955: 46f. Vgl. Madariaga 1955: 49. Vgl. Madariaga 1955: 55f.

3. Die Vielfalt Europas in Salvador Madariagas Porträt Europas

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Hamlet und Don Quijote stehen symbolisch für den Engländer und den Spanier. Der Engländer ist genauso wie Hamlet ein Mann der Tat in einer Gesellschaft, die über ihre Regeln und Traditionen wacht. Der Spanier ist ähnlich wie Don Quijote ein Mann der Leidenschaft, der in einer weitmaschigen Gesellschaft lebt und nicht besonders positiv auf Überlieferungen, Gesetze und Einrichtungen reagiert. 69 Bei Faust und Don Juan liegen die Hauptspannungen im Reich der absoluten Werte, wie Leben, Tod, Schicksal und Gott. Während Faust Geist ohne Willen ist, findet sich bei Don Juan ein Wille ohne Geist. 70 Faust und Don Juan sind damit Symbole für den Deutschen und den Spanier. Der Deutsche hat wie Faust einen passiven Willen, aber einen aktiven Geist. Der Spanier ist wie Don Juan ein Anarchist. 71 Dritter Teil: Europäische Spannungen In diesem Teil des Buches analysiert Madariaga paarweise die Spannungen zwischen den sechs europäischen Ländern Frankreich, Italien, Spanien, Deutschland, Russland und England. Der Vergleich zwischen Frankreich-Italien, FrankreichSpanien und Italien-Spanien wird hierbei in einem Kapitel bearbeitet. Diese Länder bilden für Madariaga „die drei lateinischen Schwestern“. 72 Die Zugehörigkeit zu einer Familie liegt im gemeinsamen Ursprung dieser drei Länder in Rom begründet. Italien, Frankreich und Spanien sind die Erben Griechenlands. Madariaga bezeichnet sie dennoch nur als Fast-Gleiche. Sie haben zwar ihre Staatsdefinition von Rom übernommen, haben auch eine gemeinsame Sprechweise und politische und soziologische Familienähnlichkeiten. Dennoch sind sie nicht gleich: Zwischen den drei Ländern bestehen auch Spannungen. So ist Madariaga der Meinung, dass Italien auf Frankreich neidisch ist, weil Frankreich politisch mächtiger ist. 73 Die Spannungen zwischen Frankreich und Spanien gleichen denen zwischen Talent und Genie oder Mann und Frau. Der Geist Frankreichs ist feminin, während Spanien maskulin ist. In Frankreich sucht und findet der Spanier die Form. Er bewundert Frankreich hierfür. Ein Minderwertigkeitskomplex kann hier jedoch nicht aufkommen, da Spaniens Kollektivbewusstsein zu schwach ausgebildet ist. Die Franzosen bilden als Einzelwesen das Ganze, also Frankreich, während Spanien nur aus einzelnen Spaniern besteht. Hierdurch ist Frankreich im Sein stärker. 74 68 69 70 71 72 73 74

Madariaga 1955: 57. Vgl. Madariaga 1955: 70. Vgl. Madariaga 1955: 59. Vgl. Madariaga 1955: 70f. Vgl. Madariaga 1955: 70. Vgl. Madariaga 1955: 77 – 79. Vgl. Madariaga 1955: 85 – 89.

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III. Europa als ideologischer Zankapfel der ‚Zwei Spanien‘

Italien und Spanien verbanden einst enge Beziehungen, die nun lockerer geworden sind. Die Spannungen zwischen Italien und Spanien sind schon seit Beginn auf Italiens Rolle als unterdrücktes und Spanien als herrschendes Volk zurückzuführen. 75 In den weiteren Vergleichen fällt auf, dass Deutschland am häufigsten und Russland dagegen selten auftauchen. Madariaga stellt Deutschland den Ländern Frankreich, Russland, England, Italien und Spanien gegenüber, während Russland nur im Vergleich mit Deutschland betrachtet wird. Die beständigsten Spannungen in Europa bestehen nach Madariaga zwischen Frankreich und Deutschland. Diese beiden Länder unterscheiden sich in ihrer geistigen und moralischen Haltung, in ihrem psychologischen Habitus. In Deutschland lebten die Menschen lange Zeit als wandernde Stämme. Das Leben wird als etwas im Fluss Befindliches verstanden, was nicht in feste Formen gepresst werden kann. Für Frankreich gilt das Gegenteil. Hier besteht die Bereitschaft, das Leben in festen Formen zu gestalten. Auch unwichtige alltägliche Geschehnisse besitzen bestimmte Muster. 76 Eine ähnlich problematische Beziehung wie die zwischen Deutschland und Frankreich besteht zwischen Deutschland und Russland. Deutschland nimmt hier die Rolle von Frankreich ein und Russland die von Deutschland. 77 Madariaga beschreibt dieses Paradoxon wie folgt: Wie Deutschland von Frankreich aus gesehen, einen stromähnlichen, fließenden Geist hat, so scheint ihn auch Rußland, von Deutschland aus gesehen, zu haben. Dies Paradox kann so gedeutet werden, daß Deutschland ein Strom ist, der, wenn er auch in eine bestimmte Richtung fließt, so doch nach allen anderen Seiten hin in seinem Bett gehalten wird, während Rußland wie ein Meer ist, das sich nach jeder Richtung des Kompasses hin ausdehnt. 78

Die Spannungen zwischen Deutschland und England werden darauf zurückgeführt, dass es England gelang, ein imperiales Reich zu gründen. Aus diesem Grund versucht Deutschland England zu studieren, um die Gründe seines imperialen Erfolges zu ermitteln. 79 Die Differenzen zwischen Deutschland und Italien sind die ältesten innerhalb Europas. Sie stammen aus den Zeiten des Römischen Reiches. Die Germanen überfielen und plünderten römische Städte. Später nahmen sie römische Gelder an und besetzten auch römische Staatsstellungen. Ausgehend von diesen Zusam75 76 77 78 79

Vgl. Madariaga 1955: 93. Vgl. Madariaga 1955: 98f. Vgl. Madariaga 1955: 107. Madariaga 1955: 107. Vgl. Madariaga 1955: 120.

3. Die Vielfalt Europas in Salvador Madariagas Porträt Europas

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menhängen sieht Madariaga Italien als die Mutter der deutschen Kultur. Ähnlich wie zwischen dem männlichen Spanien und dem weiblichen Frankreich weisen Italien und Deutschland Elemente einer männlich-weiblichen Beziehung auf. 80 Deutschland und Spanien bilden charakterlich die äußersten Gegensatzpaare. Für Madariaga stehen Deutschland und Spanien zueinander wie Feuer und Wasser. Deutschlands Charakterzüge beinhalten Stetigkeit und Gehorsam, der Charakter von Spanien zeichnet sich dagegen durch Unstetigkeit und Ungehorsam aus. 81 In Madariagas Werk folgen anschließend noch drei Vergleiche zwischen England und verschiedenen europäischen Ländern. England und Frankreich sind die europäischen Länder, die sich am nächsten stehen und gleichzeitig am weitesten voneinander getrennt sind. Sie sind Freund und Gegner zugleich; sich ähnlich, aber doch verschieden. Sie versuchen sich gegenseitig zu verstehen, sind jedoch stets im Streit. Madariaga schreibt, dass den Engländer Empirismus auszeichnet, während der Franzose von Rationalismus gekennzeichnet ist. Hierdurch sind sie gegensätzliche Charaktere, zwischen denen kein gegenseitiges Verständnis besteht. 82 Zwischen England und Spanien bestehen sowohl positive als auch negative Spannungen, die zur Anziehung bzw. Abstoßung der beiden Nationen zuund voneinander führen. England und Spanien sind zueinander komplementär. Hinsichtlich der Wertbegriffe ist der Spanier ästhetisch-persönlich, während der Engländer moralisch-gesellschaftlich handelt. Der Spanier bewundert beim Engländer dessen Disziplin, die sich der Engländer selbst auferlegt, und seine freie gesellschaftliche Ordnung. Der Engländer hingegen bewundert im Spanier seine persönliche Würde und seinen Sinn für die wesentlichen Dinge. Gemeinsam haben sie ihre innige und tiefe Verbindung zur Natur und das Misstrauen gegen den reinen Intellekt. 83 Eines der weniger problematischen Verhältnisse in Europa besteht zwischen England und Italien. Das Hauptelement der Beziehung zwischen diesen beiden Ländern ist ihre gegenseitige Bewunderung. England bringt sie Italien im ästhetischen und kulturellen Bereich entgegen und Italien England im politischen und gesellschaftlichen Bereich. 84

80 81 82 83 84

Vgl. Madariaga 1955: 137f. Vgl. Madariaga 1955: 160f. Vgl. Madariaga 1955: 129. Vgl. Madariaga 1955: 144ff. Vgl. Madariaga 1955: 154f.

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III. Europa als ideologischer Zankapfel der ‚Zwei Spanien‘

Vierter Teil: Europäische Zusammenhänge In diesem letzten Teil geht Salvador de Madariaga auf diejenigen europäischen Nationen ein, die bisher keine Erwähnung gefunden haben, wie Polen, Irland, Russland und Skandinavien. Die Iren sind für Madariaga verirrte Spanier. Sie sind im Norden gestrandet, wo sie nicht hingehören. Sie sind die einzigen nördlichen Katholiken und die unglücklichsten von allen Nordländern: 85 Alle Nordländer sind unglücklich – das ist ja selbstverständlich. Aber die anderen sind unglücklich sozusagen durch Geburt und aus ihrer eigenen Natur heraus, während die Iren aus Zufall unglücklich sind und infolge einer Tragödie, infolge jenes fatalen Irrtums, der sie aus ihrem heimatlichen Spanien nach Norden verschlagen hat. 86

Die Iren haben eine prägnante Gemeinsamkeit mit den Polen und den Spaniern, nämlich die Vertrautheit mit dem Absurden. Die Wurzel des Absurden ist bei diesen drei Nationen der „Kräfteüberschuß am persönlichen Pol des Daseins gegenüber dem gesellschaftlichen“ 87 Sie sind vereint durch die Entschlossenheit, kein Gesetz und keinen Druck von außen zu dulden. Sie sind weiterhin durch die besondere militärische Eigenschaft vereint, weiterzukämpfen, auch wenn eine Niederlage sicher ist. Alle anderen europäischen Nationen, besonders aber die Deutschen und Engländer kämpfen bis zum Ende ohne die Niederlage anzuerkennen. 88 Im weiteren Verlauf des Buches beschreibt Madariaga die Franzosen, Deutschen und Italiener als die intelligentesten Nationen in Europa, während er die Engländer, Spanier und Russen als die verrücktesten bezeichnet. England sei halb ozeanisch, Spanien halb afrikanisch und Russland halb asiatisch, weswegen diese Länder den europäischen Intellekt um außereuropäische Einflüsse bereichern. Die verrücktesten Nationen wagen sich in die Ebenen des Geistes, die dem reinen Intellekt nicht zugänglich sind. Die Verrückten befruchten die Intelligenten. Als Kritiker und Bewahrer von Ordnungen geben die intelligenten den verrückten Nationen dauerhafte Prägungen. Den intelligenten Nationen verdanke Europa Kategorien und Formen: 89 „Die absurde Gruppe empört sich gegen das Sinngemäße, die verrückte Gruppe gegen das Vernunftgemäße“. 90 Ein Kapitel widmet Madariaga den Skandinaviern. Diese haben immer außerhalb des Römischen Weltreiches und entsprechend länger außerhalb des Christentums als jede andere europäische Nation gelebt. Somit sind sie von den mächtigsten Formungskräften des europäischen Geistes am wenigsten beeinflusst. Auch heute ist Skandinavien laut Madariaga im Prozess der Entchristlichung am fortgeschrit85 86 87 88 89 90

Vgl. Madariaga 1955: 171f. Madariaga 1955: 172. Madariaga 1955: 178. Vgl. Madariaga 1955: 178ff. Vgl. Madariaga 1955: 181 – 187. Madariaga 1955: 182.

3. Die Vielfalt Europas in Salvador Madariagas Porträt Europas

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tensten. In Europa hat Skandinavien in gewisser Weise eine Randstellung, weil es natürlicherweise durch Wasser abgegrenzt ist und nur eine kleine Verbindung zum restlichen Kontinent durch die deutsch-dänische Grenze hat. Aufgrund der Distanzierung gegenüber den Kämpfen des europäischen Lebens entwickelten die meisten Skandinavier einen Hang zur Neutralität. Kulturell gesehen, tendieren die Norweger zu England, die Schweden zu Deutschland und die Dänen zu Frankreich. 91 Österreich wird von Madariaga nur kurz erwähnt. Ein kleines eigenes Kapitel erhalten dagegen die Griechen, Türken und Portugiesen. Auch die Bedeutung des Judentums für die Entwicklungen in Europa findet seinen Platz in dem Buch. Nicht erwähnt werden Belgien, Luxemburg und die Niederlande. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Porträt Europas dazu beiträgt, Europa und seine Zusammenhänge zu verstehen und eine gemeinsame europäische Identität zu identifizieren. Madariaga schafft es, Europa eine Identität zu geben ohne dabei die Besonderheiten der einzelnen europäischen Kulturen zu vernachlässigen. Schwierigkeiten lässt Madariaga bei der Wahl der zu Europa zugehörigen Nationen erkennen. Bei Russland und der Türkei offenbart er seine Unsicherheit darüber, ob sie zu Europa zu zählen sind oder nicht: „Ist Rußland europäisch oder nicht? Dieser Zweifel erhebt sich nur im Fall Rußlands [...] und der Türkei [...]“. 92 Speziell zur Türkei schreibt er weiterhin: [...] die Türken sind niemals Christen gewesen. Es ist tatsächlich äußerst zweifelhaft, ob die Türken vor der Revolution Atatürks als Europäer angesehen werden konnten. Ihre Ansprüche, zu Europa zu gehören, sind oft mit dem allerschwächsten Argument bestritten worden, dem territorialen. 93

Madariaga sucht in seinem Porträt Europas – ähnlich wie Ortega y Gasset – über die Nationalcharaktere hinaus einen gemeinsamen Substrakt. Die im Buch beschriebenen Zusammenhänge stammen zu einem großen Teil aus seinen Interpretationen und Beobachtungen der europäischen Menschen. Sowohl Madariaga als auch Ortega y Gasset unternehmen auf den Trümmern des Zweiten Weltkrieges eine Revision der europäischen Geschichte und der europäischen Identität – eine Geschichte und eine Identität, die allen Völkern Europas gemeinsam sind und ihre Andersartigkeit nicht unterdrücken, ja mehr noch: die die Andersartigkeit zum Wesenszug Europas erklären.

91 92 93

Vgl. Madariaga 1955: 208ff., 213f. Madariaga 1955: 108. Madariaga 1955: 216.

IV. Portugal zwischen Atlantik und Europa 1. Auf Umwegen nach Europa: Die Europapolitik des Estado Novo Von Friedemann Brause Die Zeit des autoritären Regimes in Portugal zwischen 1933 und 1974, das von ihren Regierenden selbst als Estado Novo (dt.: Neuer Staat) bezeichnet wurde, gilt als eine Zeit der Isolation Portugals. In der Forschung wird diskutiert, ob der Estado Novo überhaupt eine Europapolitik im Sinne einer Hinwendung zu anderen europäischen Staaten betrieb. Das folgende Kapitel sucht gezielt nach den oft unscheinbaren Ansätzen und auch durchaus unfreiwilligen Handlungen, die Portugal näher an andere europäische Staaten führte. Die Analyse richtet ihr Augenmerk vor allem auf die Beziehungen und Wechselwirkungen mit den großen außenpolitischen Leitlinien, die der Estado Novo zwischen 1933 und 1974 verfolgte. Dabei wird die These vertreten, dass der versuchten Hinwendung zu Europa während des Estado Novo nicht eine politische Überzeugung, sondern schlichtweg eine wirtschaftliche Notwendigkeit zugrunde lag. Grundzüge des Estado Novo Um die Europapolitik des Estado Novo verstehen zu können, sollte ein Blick auf die politischen und historischen Rahmenbedingungen Portugals zwischen 1926 und 1974 geworfen werden. Die Vorgeschichte des Estado Novo begann bereits 1926, 1 als der ersten Republik durch einen Militärputsch ein Ende gesetzt wurde. Trotz des Machtwechsels setzten sich die ökonomischen Probleme Portugals weiter fort. 2 Als Ausweg aus der Krise setzte die Militärregierung auf einen Wirtschaftsprofessor von der Universität Coimbra: António der Oliveira Salazar wurde 1928 der neue Finanzminister. Auf der politischen Bühne kein Unbekannter, erlebte er somit einen steilen Aufstieg vom Universitätsdozenten für Wirtschaft, über den Abgeord1 2

Vgl. Saraiva 1995: 356. Vgl. Sänger 1994: 21.

1. Auf Umwegen nach Europa: Die Europapolitik des Estado Novo

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neten der katholischen Partei Centro Católico (dt.: Katholisches Zentrum) hin zum Finanzminister Portugals. Seine Überzeugungen fußten vor allem auf dem Katholizismus und den traditionellen Werten. Er plädierte für eine elitäre und hierarchische Staatsordnung mit klaren Abgrenzungen zwischen einzelnen Volksund Berufsgruppen (Ständestaat). Deutlich richtete er sich gegen die Idee einer Republik, den Parlamentarismus und den weltweit aufkommenden Kommunismus. 3 In diesem Sinne hatte er bereits 1925 in einer seiner Reden: „Revolution heute, gestern, immer“ 4 gefordert. Schon bald nach Amtsantritt als Finanzminister konnte Salazar Erfolge verbuchen, indem er mit einer restriktiven Ausgabenpolitik das Minus in den Staatsausgaben reduzierte und den Escudo stabilisierte. 5 Das verhalf ihm zu deutlicher Popularität und seinem Beinamen O doutor (dt.: der Doktor), der Portugal heilen sollte. 6 Im Jahr 1930 gründete er die Einheitspartei União Nacional (dt.: Nationale Union) und bereitete die Errichtung eines Ständestaates weiter vor. 7 Obwohl er faktisch weiterhin Finanzminister blieb, wuchs sein politischer Einfluss so stark, dass er schließlich 1932 zum Ministerpräsidenten ernannt wurde. Mit der Einführung einer neuen Verfassung verwirklichte er 1933 den in mehreren Grundsatzreden angekündigten Neuen Staat, den Estado Novo. 8 Das folgende halbe Jahrhundert portugiesischer Geschichte sollte von Salazar geprägt sein. Der Neue Staat bedeutete vor allem autokratische Herrschaftsmethoden, traditionelle Wirtschaftsformen sowie eine konservative und national geprägte Außenpolitik. Inspiriert besonders durch den faschistischen Umbau in Italien entwickelte Salazars zentralistische Einparteienregierung ein System von Hierarchisierung, Zensur und ziviler Unterdrückung. Besonders gefürchtet war die Staatspolizei PIDE 9 (dt.: Internationale Staatsschutzpolizei), die zur gezielten Bespitzelung und Einschüchterung der Bevölkerung eingesetzt wurde. Als Kandidaten zugelassen zu den Wahlen, deren Teilnahme der Bevölkerung nur bei Besitz und Alphabetisierung gestattet war, blieben daher nur die Abgeordneten der União Nacional. Über all dem positionierte sich Ministerpräsident Salazar als ziviler Machthaber, ohne aber einen Personenkult um sich zu stilisieren, wie es bei anderen europäischen Autokraten seiner Zeit der Fall war. 10 3

Vgl. Sänger 1994: 21f. Zit. nach Almeida 1989: 59. 5 Vgl. Saraiva 1995: 357. 6 Vgl. o.V. 1968: 127. 7 Vgl. Beck 1994: 8. 8 Vgl. Kamke 2006. 9 Die portugiesische Staatspolizei wurde 1933 unter der Bezeichnung Polícia de Vigilância e Defesa do Estado (PVDE) gegründet, 1946 in Polícia Internacional e de Defesa do Estado (PIDE) und schließlich 1969 in Direcção-Geral de Segurança (DGS) umbenannt. Bekannt wurde sie als PIDE. Vgl. hierzu: Ribeiro 1996: 748. 10 Vgl. Baioa 2003: 6. 4

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IV. Portugal zwischen Atlantik und Europa

Wichtigstes Legitimationsmittel für die internationale Stellung Portugals waren für Salazar die Kolonien. Die Gebiete in Ostasien (Macau), Ozeanien (Osttimor), Indien (Goa, Diu) und vor allem in Afrika (Angola, Guinea-Bissau, Kap Verde, Mosambik, São Tomé und Príncipe) sollten Portugals Status als Kolonialmacht von Weltgeltung sichern. Schon 1936 meinte der damalige Kolonialminister Francisco J. V. Machado, „daß die koloniale Sache der höchste Daseinszweck unserer Nation ist“. 11 Die Kolonialpolitik war demnach über Jahre hinweg der wichtigste Faktor, der die Außenpolitik Portugals bestimmte. International stellte sich Salazar damit gegen den vorherrschenden Trend der Dekolonialisierung, der durch aufkommende Unruhen und Aufstände in den Kolonien nach dem Zweiten Weltkrieg vorangetrieben wurde. 1968 erlitt Salazar einen Hirnschlag und wurde daraufhin von Marcello Caetano im Amt beerbt, der die Staatsform des Estado Novo beibehielt. Er führte geringfügige Reformen ein, wich aber von der grundlegenden Kolonialpolitik nicht ab. Von der Starrheit des politischen Systems und dem verstärkten innenpolitischen Druck, vor allem durch linksgerichtete Oppositionsgruppen und den seit 1961 andauernden Kolonialkriegen in Angola, Mosambik und Guinea-Bissau, konnte Caetano aber nicht mehr ablenken. Zugeschnitten allein auf die Person Salazars fehlte es dem Apparat des Estado Novo an integrierender Wirkung. Salazar starb 1970 in seinem Privathaus. Der Estado Novo existierte weiter bis ins Jahr 1974 als die Nelkenrevolution den Umsturz brachte. Europapolitik als Resultat des Scheiterns? Die Außenpolitik des Estado Novo war gekennzeichnet durch einige typische Charakteristika und Leitlinien. Dazu gehörten insbesondere eine angestrebte Neutralitätspolitik, die Selbstdefinition als Kolonialmacht und die starke Abgleichung mit dem politischen Handeln Großbritanniens. Mit kritischen Augen über den Zeitraum von mehr als vier Jahrzehnten betrachtet, verloren diese Grundzüge immer mehr an Kraft; mit anderen Worten: Der Estado Novo war durch das sture Verfolgen dieser Leitlinien zum Scheitern verurteilt. Aus diesem Druck und dem Bewusstsein heraus entwickelten sich die rudimentären Ansätze einer europagerichteten Außenpolitik Portugals, die nun in den größeren Kontext eingeordnet werden sollen. Das Scheitern der Neutralitätspolitik im internationalen Engagement Charakteristisch für die Außenpolitik des Estado Novo war erstens der Versuch, den Status quo der Stellung Portugals, besonders als Kolonialmacht, zu erhalten. 11

Zit. nach Serra 1954: 20.

1. Auf Umwegen nach Europa: Die Europapolitik des Estado Novo

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Sie war zweitens geprägt von „the fear of being left behind“ 12 – der Angst, im globalen Gefüge wirtschaftlich abgehängt zu werden. Um beiden Aspekten Rechnung zu tragen, suchte Portugal die Zusammenarbeit auf internationaler Ebene, ohne dabei aber echtes Engagement erkennen zu lassen oder Selbstverpflichtungen einzugehen. Als gegenwärtige Imperialmacht und ehemals stolze Seefahrernation mit einer großen Anzahl an Kolonien sah sich Portugal selbst lieber in der Rolle einer eigenständigen und autonomen Macht. Deshalb war dem Estado Novo viel daran gelegen, eine Politik der Nicht-Einmischung zu betreiben und sich vor einer möglichen Einschränkung staatlicher Autorität durch internationale Organisationen zu schützen. Gleichzeitig versuchte der Estado Novo, die wichtigen Beziehungen zu starken Partnern nicht zu gefährden. Dies äußerte sich in der engen Bindung an das Handeln Großbritanniens. Allerdings konnte Portugal eine solche Neutralitätspolitik nicht lange aufrechterhalten und verlor sich in Inkonsistenzen, die im Folgenden näher darzustellen sind. Im Jahr 1936 brach in Spanien der Bürgerkrieg aus. Schon eine Woche nach Kriegsbeginn ließ Salazar verlauten, dass die rechtsgerichteten Putschisten in Spanien mit allen Mitteln zu unterstützen seien. Die Aufständischen erhielten mit Portugal einen stillen logistischen Partner und Rückzugspunkt. Im selben Atemzug bekannte sich Salazar öffentlich zur Idee der von Frankreich und Großbritannien propagierten Nicht-Intervention in diesem innerspanischen Konflikt. Damit versuchte das Regime des Estado Novo, internationale Komplikationen zu vermeiden. Offen zu Tage trat die Unterstützung der inzwischen Macht habenden rechtsgerichteten Rebellen nach dem Ende des Bürgerkrieges, als Portugal und Spanien 1939 einen gegenseitigen Nichtangriffspakt, den Iberischen Pakt, schlossen. 13 Mit dieser Politik verlor Portugal aber seine eigentlich angestrebte Neutralität, da es nicht zuletzt der Schutzmacht der gestürzten Republik Spanien, nämlich der Sowjetunion, ein feindliches Zeichen sendete. Im Zweiten Weltkrieg blieb Portugal erwartungsgemäß offiziell neutral. Salazar – obgleich seine Regierungsmethoden oft in einen faschistischen Zusammenhang gerückt werden – lehnte den Nationalsozialismus ab und ließ sich nicht in ein Bündnis mit den Achsenmächten eingliedern. Während des Kriegs wurde Portugal zum Tummelplatz von Flüchtlingen, Spionen und Politikvertretern beider Kriegsseiten. Das Salazar-Regime wollte aber Nutzen aus seiner Neutralität ziehen und unterhielt sowohl mit Deutschland als auch den Alliierten wichtige Wirtschaftsbeziehungen. Besonders die Belieferung Deutschlands mit kriegswichtigem Wolfram erregte auf Seiten Großbritanniens Unmut. Um die traditionell guten und wichtigen Kontakte zu Großbritannien nicht zu gefährden, wich der Estado Novo also auch hier von seiner Neutralitätspolitik ab und schlug sich auf die Seite der Alliierten: Im späteren Kriegsverlauf erlaubte Portugal die Stationie12 13

Magone 2004: 2. Vgl. Anderson 2000: 164f.

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IV. Portugal zwischen Atlantik und Europa

rung der alliierten Luftflotten auf den sich im portugiesischen Besitz befindenden und strategisch besonders wichtigen Azoren. 14 Konnte der Anschein einer Neutralitätspolitik im Zweiten Weltkrieg immerhin noch durch eine „neutral collaboration“ 15 gewahrt werden, wurden nach dem Krieg die politischen und wirtschaftlichen Kosten einer Nicht-Integration in internationale Beziehungen immer höher. Internationale Wirtschaftsbeziehungen wurden immer wichtiger, staatenübergreifende Organisationen gewannen an Bedeutung. Das zu erkennen und in eine gewandelte Politik umzusetzen, fiel dem Regime schwer. Deutlich zu beobachten ist dies am Zaudern bei der Frage zur Annahme des Marshall-Plans für Portugal: 1947 lehnte der Estado Novo eine Teilnahme mit dem Verweis auf eine zu starke Einflussnahme der Vereinigten Staaten auf die eigenen staatlichen Angelegenheiten noch ab; erst als sich ein Jahr später die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verschlechterten, trat Portugal dem Programm bei. Internationales Engagement, begriff Salazars Regime, war ein notwendiges Übel – „an unpleasant necessity“ 16 –, um den wirtschaftlichen und politischen Status Portugals aufrechtzuerhalten. Dementsprechend erlebte die Außenpolitik des Estado Novo in den folgenden Jahrzehnten einen Wandel: weg von der Neutralitätspolitik, hin zu einer internationalen Eingebundenheit ohne echte Überzeugung. 1946 bewarb sich Portugal um die UNO-Mitgliedschaft und konnte 1955 die Aufnahme feiern, nachdem die Sowjetunion die Verhandlungen lange blockiert hatte – ein Erbe der nur vorgetäuschten Neutralität Portugals im Spanischen Bürgerkrieg. Damit verbunden war der Beitritt zu weiteren internationalen Institutionen, wie dem Internationalen Währungsfond und der Welthandelsorganisation. Dabei richtete sich Salazars Denken gegen den Multilateralismus der Vereinten Nationen: Er stand der neuen Nachkriegsordnung skeptisch und unbeweglich gegenüber und konnte insbesondere das Recht auf Selbstbestimmung aller Völker nicht anerkennen, da dies einem Infragestellen der eigenen Kolonialmacht gleichgekommen wäre. Dieser Konflikt, die Kolonialfrage und der 1961 aufkommende Kolonialkrieg verhinderten für zwei Jahrzehnte ein effektives portugiesisches Engagement in der UNO, da das internationale Ansehen des Estado Novo erheblich geschwächt war. 17 Die transatlantische Perspektive seiner Außenpolitik versuchte Portugal zu stärken, indem es 1948 mit den USA einen Verteidigungspakt schloss, das LajesAbkommen. Ein Jahr später folgte der Beitritt zur NATO. 18 Mit dem Unterzeichnen beerdigte der Estado Novo wohl endgültig seine Neutralitätsansprüche auf 14 15 16 17 18

Vgl. Anderson 2000: 149. Baioa 2003: 7. Magone 2004: 159. Vgl. Anderson 2000: 150. Vgl. Pinto 2002: 3.

1. Auf Umwegen nach Europa: Die Europapolitik des Estado Novo

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internationalem Parkett. Denn sowohl mit dem Bündnispartner Spanien, der nun als Nichtmitglied der NATO isoliert im globalen Gefüge stand, als auch mit der Sowjetunion war an fruchtbare Beziehungen vorerst nicht mehr zu denken. Letztlich verband sich zwar mit der Aufgabe der Neutralitätspolitik für Portugal eine stärkere internationale Einbindung auf institutioneller Ebene, die allerdings die wahren Entwicklungen nicht lange verschleiern konnte: Portugal blieb als autoritärer Staat unter den westlichen Mächten politisch isoliert. Portugals Bemühung, sich stärker nach außen zu orientieren, blieb also problematisch, da diese im Grunde nur auf einer Reaktion auf innere und äußere Zwänge fußte – eine eigene Handlungsphilosophie als Grundlage für seine Außenpolitik blieb der Estado Novo schuldig. Der geringe Erfolg des internationalen Engagements führte, wie man später erkennen kann, zu einer gezwungenermaßen intensivierten Konzentration auf europäische Dimensionen. Zuerst soll aber ein Blick auf den zweiten der bestimmenden Grundzüge Portugals Außenpolitik geworfen werden: Die Kolonialpolitik. Das Scheitern der Kolonialpolitik Tief in der nationalen Identität Portugals verankert 19 bestimmte die Frage der Kolonien beinahe die gesamte Zeit des Estado Novo über dessen Außen-, und genauer, Europapolitik. Salazars traditionelle und historisch-nationalistisch ausgerichtete Ideologie sorgte dafür, dass die portugiesische Identität weniger eine „imagined community“ 20 als vielmehr eine „mental community“ 21 wurde. Sie war nicht nur eine Vorstellung, sondern existierte als eine Realität in den Köpfen der einer zentralistisch geführten Ideologie ausgesetzten Mitglieder der Gemeinschaft. Die portugiesische Nationalidentität wurde nun als Staatsideologie verankert und beeinflusste direkt die Denkweise der Menschen und damit ganze Politikansätze. Die ‚Portugalität‘ war besonders zu Zeiten Salazars ein „Quasi-Gesetz [...], das als historischer Imperativ [...] auftritt“. 22 Wesentlicher Bestandteil der portugiesischen Geschichte und damit eben auch dieser ‚Portugalität‘ war die seit der Frühen Neuzeit andauernde Selbstsicht als Kolonialmacht. Demzufolge kann die Politik Portugals nicht losgelöst vom historischen Erbe als Kolonialreich untersucht werden. Ab 1961 drängten die Kolonien zunehmend gewalttätig zu einer Loslösung vom Mutterland. Im Februar desselben Jahres erhoben sich in Angola Rebellengruppen, die portugiesische Einrichtungen attackierten und Massaker unter den Siedlern 19 20 21 22

Siehe hierzu Kapitel A.II.1. in diesem Band. Anderson 2000: 160. Almeida 1994: 6. Almeida 1999: 67.

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IV. Portugal zwischen Atlantik und Europa

anrichteten. Salazar lehnte die Empfehlung seiner Militärs ab, die Situation mittels Verhandlungen zu lösen, trat stattdessen im Fernsehen vor die Bevölkerung und verkündete, dass er das Portugiesische Reich mit Militärmacht schützen werde, „in the defense of Western and Christian civilization“. 23 Im März 1961 trat Salazar vor den portugiesischen Kameras auf, um der Bevölkerung die Entscheidung zu verkünden, Truppen nach Angola zu senden – und zwar „schnell und kräftig“. 24 Im selben Jahr griff eine zehnfache indische Übermacht die portugiesische Enklave Goa an und besiegte die schlecht ausgerüsteten Kolonialherren. Salazar betrachtete Goa bis zum Ende seiner Amtszeit als feindlich besetztes Gebiet. Angespornt von diesen Ereignissen rebellierten 1961 ganz Angola, 1963 Guinea und 1964 Mosambik. 25 In den folgenden 13 Jahren versuchte Portugal mit einem enormen militärischen Aufwand, seine Kolonialmacht zu verteidigen: Mehr als eine Million Soldaten waren insgesamt beteiligt, 30.000 Verwundete und über 9.000 Tote waren zu beklagen. 26 Der Krieg verbrauchte in den späteren Jahren 40% des Bruttoinlandprodukts und sorgte damit für eine schwere wirtschaftliche Belastung. 27 Wie wirkte sich der Kolonialmachtstatus Portugals nun auf seine Europapolitik aus? Die eigentliche Zukunft Portugals sah Salazar in den Kolonien – nicht in Europa. Deshalb kann von einer aktiven Europapolitik unter Salazar nicht die Rede sein: Wenn sich Portugal ein Stück nach Europa wandte, dann geschah das in den allermeisten Fällen aus ökonomischen Zwängen, nicht aber aus einer inneren politischen Überzeugung heraus. Lange Zeit sah sich Salazar in seiner Ansicht bestätigt, von beiden Seiten wirtschaftlich bzw. machtpolitisch profitieren zu können: Ein Standbein in Afrika und den weiteren Kolonien, das andere in Europa. 28 Die klare Priorität lag aber auf den Kolonien. Portugal unternahm noch nach 1961 Versuche, die Kolonien stärker an das Mutterland zu binden: Salazar lehnte eine eventuelle Föderalisierung der Kolonialstruktur ab und trieb eine stringentere Kolonialisierung voran, mit dem Ziel, die portugiesische Präsenz in den Überseegebieten zu stärken. Wirtschaftliche Verflechtung erreichte Portugal durch die Schaffung einer einheitlichen Wirtschaftszone, der Mercado Único Português. Ein einheitliches Zahlungssystem sowie der freie Warenverkehr waren Bestandteil des gemeinsamen Wirtschaftsraums. 29 Durch die gewaltsamen Aufstände in den Kolonien und den daraus folgenden Kolonialkriegen bekam Portugals Konzept des autarken imperialen Reiches Risse. 23 24 25 26 27 28 29

Anderson 2000: 152. Zit. nach Cruz 1996: 414. Vgl. Anderson 2000: 153. Vgl. Power 2001: 462. Vgl. Economist 2007: 4. Vgl. Magone 2004: 160. Vgl. Schumann 2004: 173.

1. Auf Umwegen nach Europa: Die Europapolitik des Estado Novo

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Zum einen stieg der innenpolitische Druck auf das Salazar-Regime, den andauernden Krieg zu lösen, notfalls eben auch, indem man den Status der Kolonien überdachte. Salazars starre Haltung trat immer deutlicher zu Tage und ließ den Unmut in der Bevölkerung schwellen. Das Regime als Ganzes schien bald in Frage zu stehen und die afrikanische Option, die der Estado Novo als Stütze seiner Macht gesehen hatte, schwand dahin. 30 „Dictatorship fatigue“ und „war fatigue“ 31 machten sich als Motto in der gesamten Bevölkerung breit. Zum anderen verschärfte sich der ökonomische Druck auf Portugal: Ausgehend von immer schlechteren Wirtschaftsleistungen des Mutterlandes, den Belastungen durch den Krieg und einer stark unterentwickelten wirtschaftlichen Gesamtsituation im Land, musste sich der Estado Novo den anderen europäischen Staaten zuwenden, um den Anschluss nicht vollkommen zu verlieren. 32 Eine Bindung an die Wirtschaftskraft der aufstrebenden EWG schien daher immer ratsamer. Einen wichtigen politischen Impuls für das Zusammenbrechen der kolonialen Perspektive Portugals gab aber auch der erhöhte Druck der atlantischen und internationalen Partner, die der Estado Novo lange Zeit noch beruhigen konnte: Gerade zu den Anfangszeiten des Kalten Krieges konnte Portugal seine Kolonialpolitik mit dem Bemühen begründen, den verstärkten Einfluss des Kommunismus in Afrika zu verhindern. Dafür wurde Portugal von den NATO-Staaten und insbesondere den USA militärisch unterstützt und politisch gedeckt. 33 Mit dem Amtsantritt John F. Kennedys 1960 veränderte sich aber die Afrikapolitik der USA: Sie wandten sich nun gegen unterdrückerische Kolonialpolitik und damit auch gegen Portugal. 34 Gleichzeitig stimmten sie – wohlgemerkt zusammen mit der Sowjetunion – im UN-Sicherheitsrat für eine Resolution, die das Handeln Portugals in den Kolonialkriegen verurteilen sollte. Die afrikanischen Staaten drängten mit gemeinsamen Resolutionen ebenfalls auf eine schnelle Lösung des Konflikts. 35 Die Hoffnung, internationale Isolation durch den UNO- und NATO-Beitritt abzuwenden, war also durch die Kolonialkriege zerstört. Dem Estado Novo blieb demzufolge nicht viel mehr übrig, als sich auf die europäischen Partner zurückzubesinnen. Besondere Tradition und Funktion hatte dabei die Beziehung zu Großbritannien.

30 31 32 33 34 35

Vgl. Baioa 2003: 7. Power 2001: 463. Vgl. Corkill 2003: 62. Vgl. Sänger 1994: 82. Vgl. Rodrigues 2004: 2. Vgl. Sänger 1994: 4.

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IV. Portugal zwischen Atlantik und Europa

Das Scheitern der Politikangleichung mit Großbritannien Den Aufstieg der USA zu einer der beiden bestimmenden Weltmächte verfolgte Salazar mit Skepsis. Viel mehr war ihm daran gelegen, die Beziehungen zur ehemaligen Großmacht Großbritannien zu pflegen und auszubauen. Schon seit 1386, dem Vertrag von Windsor, unterhielten beide Staaten enge Beziehungen: Großbritannien war wichtigster Bezugspunkt und Verbündeter Portugals. 36 Besonders ihr Status und ihre Tradition als Kolonialmächte verbanden die beiden Länder auch im 20. Jahrhundert. Gleich war ihnen die Ablehnung jeglicher supranationaler Einmischung in die interne Staatsordnung sowie eine „imperial fear“: 37 die Befürchtung, dass eine europäische Integration den Verlust von Kolonien bedeuten könnte. Nach dem Zweiten Weltkrieg schlichen sich in die stabilen und guten Beziehungen aber erste Verwerfungen ein, die den Umgang Portugals mit Europa verändern sollten. Die wichtigste war, dass Großbritannien eher als Portugal Abstand von seiner Kolonialmacht nahm und eine Transformation des jeweiligen Status der Kolonien im Commonwealth of Nations erreichte. Großbritannien verurteilte immer mehr die rigide Kolonialpolitik Portugals. So verweigerte es beispielsweise Portugal bei der Verteidigung Goas die Nutzung britischer Luftbasen. 38 Damit verlor Portugal immer mehr den Fürsprecher für sein Festhalten an den Kolonien. Die erzwungene Europapolitik des Estado Novo Um dem Scheitern der internationalen Anbindung entgegenzuwirken, orientierte sich Portugal in seiner Wirtschaftspolitik nach Europa. Der wichtigste Schritt in Richtung Kontinent war Portugals Gründungsmitgliedschaft 1960 in der European Free Trade Association (EFTA). 39 Schon seit den 1950er Jahren gab es erste Ansätze, eine Freihandelszone in Europa zu schaffen. Da die EWG starke supranationale Elemente aufwies, trieb vor allem Großbritannien die Entwicklung des Alternativmodells EFTA voran. Portugal hatte hinsichtlich der weiteren Beziehungen zu Europa und angesichts einer immer stärkeren wirtschaftlichen Verflechtung nur drei Möglichkeiten zu handeln: Die erste wäre eine Komplettverweigerung und Abschottung der portugiesischen Wirtschaft, die zweite ein bilaterales Abkommen und die dritte eine multilaterale Regelung gewesen, die letztendlich einen Beitritt zur EWG oder EFTA bedeutet hätte. 40 Für den Estado

36 37 38 39 40

Vgl. Anderson 2000: 154. Magone 2004: 159. Vgl. Anderson 2000: 154. Vgl. Eaton 1993: 423. Vgl. Pinto 2002: 5.

1. Auf Umwegen nach Europa: Die Europapolitik des Estado Novo

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Novo blieb schließlich nur der Schritt hin zur EFTA, weil sie wirtschaftliche Weiterentwicklung ohne politische Kosten versprach. Allerdings wurden diese Bemühungen seitens der EFTA offensichtlich nicht vorbehaltlos unterstützt. Großbritannien versuchte die Sechser-Gemeinschaft 41 als eine Gruppe wirtschaftlich starker europäischer Staaten geschlossen zu halten. Erst auf starken diplomatischen Druck Portugals hin ließ Großbritannien im Januar 1960 die EFTA mit nun sieben Gründungsstaaten in Kraft treten. Deutlich wurde aber, dass die Irritationen zwischen Portugal und Großbritannien sich noch verstärkt hatten, denn dieser wesentliche Grundzug portugiesischer Politik, die Synchronisation mit britischem Handeln, geriet nun ins Wanken. Nicht nur der wirtschaftliche Unterschied zwischen beiden Partnern wurde immer größer – auch die politischen Vorstellungen klafften immer weiter auseinander. Mit Salazar konnte Großbritannien kaum noch gemeinsame Politik betreiben, da er sich in der neuen Situation welt- und europaweit immer weniger zurechtfand: „[Salazar] felt increasingly out of place in the new international environment“. 42 Dies umso mehr vor dem Hintergrund, dass sich das internationale Machtgefüge im Zuge der Blockbildung des Kalten Krieges und des schwindenden europäischen Einflusses stark veränderte. Den letzten Schlag erhielten die portugiesisch-britischen Beziehungen und damit die europapolitischen Bemühungen des Estado Novo dann auch bezeichnenderweise, nachdem Salazar bereits gestorben und sein Nachfolger Marcello Caetano im Amt war: Nach mehreren Beitrittsgesuchen und dem Rückzug aus der EFTA trat Großbritannien zusammen mit Irland und Dänemark 1973 der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bei. 43 Großbritannien hatte erkannt, dass die EFTA im Vergleich zur EWG wirtschaftlich an Boden verlor, und sein Handeln entsprechend ausgerichtet. Für Portugal bedeutete diese Trendwende vor allem, dass seine letzten Bemühungen um ein Wahren des Isolationismus gescheitert waren: Vor dem EG-Beitritt Großbritanniens war ein Ausnutzen der „two Europes“, 44 also der guten Beziehungen zur EFTA und der Handelsverflechtungen mit den Staaten der EG, für Portugal möglich. Dies hatte sich mit Großbritanniens Beitritt zur EWG geändert. Portugal musste sich nun erstmals selbst entscheiden, welchen außenpolitischen Weg es für die Zukunft einschlagen sollte: in den internationalen Beziehungen isoliert, die Partnerschaft mit Großbritannien der unbedingten Nachfolge beraubt und als Kolonialmacht international und intern in Frage gestellt. Wiederum musste sich Portugal äußeren Erfordernissen beugen und stand abermals vor der Ent41 42 43 44

Großbritannien, Dänemark, Norwegen, Österreich, Schweden, Schweiz. Magone 2004: 160. Vgl. Pinto 2002: 6. Magone 2004: 160.

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IV. Portugal zwischen Atlantik und Europa

scheidung: Beitritt zur EWG oder Assoziierungs- bzw. Handelsabkommen mit der EWG. 45 Der selbst auferlegte Handlungsspielraum des Estado Novo war allerdings so klein, dass 1972 nur das Minimalziel erreicht werden konnte: Die Unterzeichnung eines Handelsabkommen mit der EWG. Portugal blieb so verhaftet in seiner Autonomiebestrebung, dass eine tiefere europäische Integration anfangs nicht nötig erschien. Eine stärkere Integration in europäische Politikgeflechte war überhaupt nicht erwünscht. Abgesehen davon blieb aber das größte Hemmnis bestehen: Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) knüpfte an mögliche Beitrittsbestrebungen die Bedingung, demokratische Grundordnungen zu befolgen. Selbst wenn Portugal also eine verstärkte Integration gewollt hätte, wäre es durch seine autoritäre Regierungsstruktur und den rigiden Umgang mit der Kolonialfrage auf Probleme gestoßen, denn: „The maintenance of the African colonial empire required the continuation of authoritarianism, while Portugal’s integration into Europe required decolonisation and democratization“. 46 Eine portugiesische Integration in Europa auf wirtschaftlicher und politischer Ebene und gleichzeitiger Kolonialmachtstatus standen sich also diametral gegenüber. * Viele Forscher sprechen dem Estado Novo eine eigene Europapolitik ab. In der Tat lässt sich – auch nach gründlicher Prüfung der politischen Handlungen des Estado Novo – nicht behaupten, dass das Salazar-Regime eine konsistente Europapolitik mit klaren Leitlinien und einer stringenten Ausführung betrieben hätte. Europapolitik des Estado Novo ist immer gleichzeitig Afrika-, UNO- und Amerikapolitik. Sie ist immer nur als Reaktion auf äußere und innere Zwänge, nicht als überzeugtes politisches Ziel aufzufassen. Die Analyse zeigt jedoch auch deutlich, dass der Estado Novo die Option Europa durch sein Handeln immer stärker in den eigenen Blickpunkt gerückt hat. Das geschah aber beileibe nicht auf freiwilliger Basis, sondern zu größten Teilen als Reaktion auf äußere Zwänge. Kann man also von einer langen Folge des Scheiterns der drei großen außenpolitischen Grundzüge sprechen? In zugespitzter Form, ja. International konnte Portugal seine Neutralitätspolitik nicht aufrechterhalten und später seine ungewollte Isolation nicht durchbrechen. Von Großbritannien wurde der Estado Novo besonders durch den EG-Beitritt im Stich gelassen. Den wohl wichtigsten Aspekt im Entwicklungsprozess der portugiesischen Europapolitik (wenn man sie denn so nennen will) liefert aber die Kolonialfrage. Erst mit dem Platzen des kolonialen Traums konnte und musste Portugal 45 46

Vgl. Pinto 2002: 6. Pinto 2002: 7.

2. Portugal und Europa im Werk Eduardo Lourenços

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eine europäische Perspektive auf wirtschaftlicher Ebene ernsthaft wahrnehmen. Wirtschaftlich geschwächt, innenpolitisch unter Druck, international durch die Verurteilung durch die UNO und den Verlust der USA als ehemaligem Partner im Kalten Krieg bloßgestellt, blieb für Portugal letztlich nur der europäische Ausweg. Besonders unter diesem kolonialen Schlüsselaspekt betrachtet, kann die These, dass es schlussendlich keine Alternative zur – zumindest wirtschaftlichen – Hinwendung zu Europa gab, bejaht werden. Eine politische Hinwendung zu Europa musste jedoch bis 1974 warten, denn erst mit dem Demokratisierungs- und Dekolonisierungsprozess erfüllte Portugal die grundlegende Voraussetzung für eine vollständige Aufnahme in das politische Bündnis demokratischer Staaten.

2. Portugal und Europa im Werk Eduardo Lourenços Von Christoph Schmitt Die Zeit des Estado Novo war eine Zeit der ideologischen Abkehr Portugals von Europa. Trotzdem – oder gerade deswegen – gab es zu dieser Zeit Intellektuelle, die sich mit Portugals Rolle in Europa auseinandergesetzt haben. Zu ihnen zählt Eduardo Lourenço. Er war nicht der Erste und nicht der Einzige, der sich mit der Thematik beschäftigt hat, jedoch ist er „[...] sicherlich derjenige im zeitgenössischen Portugal, der es ausführlicher und tiefgründiger getan hat, als die meisten anderen“. 47 In der Literatur wird seine Auffassung von Europa als „durch und durch pro-europäisch“ 48 beschrieben, Lourenço selbst äußert sich in einem Interview folgendermaßen: Wir befinden uns ohne jeden Zweifel in einem unglücklichen Moment [Lourenço wird 1995 auf die Krise in Ex-Jugoslawien angesprochen, Anm. des Verf.]. Die Widersprüche tauchen wieder auf und wir erleben aktuell eine Rückwärtsbewegung der Nationen zu sich selbst hin. Jede unter ihnen entdeckt, dass ihre Probleme in dieser Europäischen Union nicht die Lösung finden, die sie sich vorgestellt hatte. Ein Teil der Öffentlichkeit beginnt dieses Europa heftig zu kritisieren. Ich schließe mich dieser Kritik nicht an. Das große Problem Europas ist nicht ein Zuviel an Europa, sondern ein Zuwenig. 49

47

Cunha 2005. Machover 1995. 49 Zit. nach Machover 1995. Original: „Nous sommes dans un moment d’adversité, sans aucun doute. Les contradictions réapparaissent et nous assistons à un repli des nations sur elles-mêmes. Chacune d’entre elles constate que ses problèmes ne trouvent pas dans cette Union européenne la réponse qu’elle avait imaginée. Une partie de l’opinion publique commence à critiquer violemment cette Europe-là. Ces critiques ne sont pas les miennes. 48

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IV. Portugal zwischen Atlantik und Europa

Als überzeugter Europäist interessiert sich Lourenço vor allem in früheren Essays für die europaskeptische Einstellung in Portugal. Er zeigt verschiedene Gründe auf, wie die Skepsis erklärt werden kann. Diese Analyse ist aber nicht mit dem zu verwechseln, was seine eigene Überzeugung darstellt. In der Auswahl von fünf Essays, die in deutscher Sprache unter dem Titel Portugal – Europa. Mythos und Melancholie erschienen sind, wird deutlich, wie Lourenço sich im Laufe der Jahre immer klarer für Europa, d. h. insbesondere für eine Hinwendung Portugals zu Europa, ausspricht. Da seine Positionen im Gegensatz zur Europahaltung des Estado Novo standen, soll zunächst die Person Eduardo Lourenço porträtiert werden. Dieser Überblick soll dazu dienen, aufzuzeigen, wie sich seine ideologische Gegenposition zum Estado Novo entwickelt hat. Darauf folgt eine Analyse seiner Essays zum Themenkomplex Portugal und Europa die mit einer zusammenfassenden Interpretation seiner Position zu Europa sowie zur Rolle Portugals in Europa abschließt. Eduardo Lourenço Im Jahre 1923 wurde Eduardo Lourenço im portugiesischen Bezirk Guarda geboren. Er wuchs in einer traditionellen, katholischen Familie auf 50 und studierte Philosophie und Geschichte an der Universität Coimbra. Nach dem Studium erhielt er dort seine erste Stelle als Hochschullehrer. Im Jahre 1954 kehrte er seinem Land den Rücken. Er wechselte zunächst an die Universität Hamburg, später nach Heidelberg (1954 –55) und Montpellier (1955 – 58). Im Anschluss daran übernahm er bis 1959 eine Gastprofessur für Philosophie in Bahia (Brasilien) und kehrte dann nach Frankreich zurück, wo er an den Universitäten von Grenoble und Nizza Lehrstühle innehatte. Auch nach seiner Emeritierung 1988 blieb er in Frankreich und lebt bis heute in Vence. Obwohl Lourenços Studium der Philosophie und nicht der Literaturwissenschaft gewidmet war, machte er sich zunächst insbesondere als Literaturkritiker einen Namen. Sein ausgesprochenes Interesse galt der portugiesischen Lyrik (v. a. Camões und Fernando Pessoa) und seine Literaturkritik zeichnet sich gerade durch seinen eigenen, besonderen philosophischen Ansatz aus. 51 Nach seiner ersten Schaffensphase, die der Lyrik gewidmet war, begann eine intensive und bis heute andauernde Auseinandersetzung mit den Besonderheiten der portugiesischen kulturellen Identität und ihrem Bezug zu Europa. Die Tatsache, dass Lourenço zur Zeit seiner früheren Publikationen (1940er und 1950er Jahre) noch im Portugal des Estado Novo lebte, hatte wichtige AuswirLe grand problème de l’Europe ne se trouve pas dans un trop-plein d’Europe mais dans son insuffisance“. 50 Vgl. Veloso 2002: 12. 51 Vgl. Cunha 2003; Veloso 2002: 11.

2. Portugal und Europa im Werk Eduardo Lourenços

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kungen: Durch die Zensur konnte ein Autor nicht alles frei und offen schreiben. 52 Eduardo Lourenço betraf das besonders, da er sich mit seinen Ansichten gegen den National-Katholizismus in Portugal richtete. Damit wandte er sich automatisch gegen das Regime. 53 Gleichzeitig war er ein Gegner des Marxismus – der zweiten wichtigen ideologischen Ausrichtung, die in Portugal zu jener Zeit in Opposition zum Regime im Untergrund präsent war. 54 Als Gegner beider vorherrschenden Ideologien befand sich Lourenço in einer schwierigen Position: Er wurde von beiden Seiten kritisiert und seine Ideen als „spirituell nihilistisch“ 55 bezeichnet. 56 Wie bereits erwähnt verließ er 1954 Portugal und blieb bis heute im Ausland. Es liegt nahe, hier einen Zusammenhang zu vermuten zwischen diesem selbst gewählten Exil und der vorhergehenden kritischen Betrachtung der zwei wichtigen Denkrichtungen. In der Literatur wird die Ansicht geäußert, dass Lourenço im Ausland andere kulturelle und politische Perspektiven erleben wollte, die das autoritäre portugiesische Regime nicht bot. 57 Tatsache ist, dass er durch die Aufenthalte in verschiedenen Ländern einen anderen Blick auf sein Heimatland gewann. Diese physische Distanz ermöglichte es ihm, bestimmte Aspekte schärfer zu sehen und zu analysieren. Wie er es selbst ausdrückt, müssen wir, um Fehlurteile zu vermeiden, „eine Art Abstand schaffen zwischen uns und dem was wir lieben, seien es Länder, Ideen oder Menschen“. 58 Trotz seiner Entfernung zu Portugal blieb das Land doch durchgehend Gegenstand seiner Überlegungen. Die Beschäftigung mit Fragestellungen der portugiesischen Literatur, Kultur und – vor allem – der Identität stellt bis heute einen wesentlichen Teil seiner Arbeit dar. 59 Es erscheint einleuchtend, dass sein Leben in Deutschland, Frankreich und Brasilien wichtige Impulse gab für zwei seiner zentralen Forschungsfelder: Portugals Rolle in Europa und die Rolle der ehemaligen Kolonien in der portugiesischen nationalen Identität. Lourenço ist bis heute in Frankreich und Portugal weiterhin publizistisch tätig. Für sein umfassendes essayistisches und literaturtheoretisches Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter mit dem wichtigsten Literaturpreis der portugiesischsprachigen Welt. 60 2008 wurde Eduardo 52

Vgl. Cunha 2003. Salazar, ein gläubiger Katholik, hatte die Position der katholischen Kirche innerhalb des Estado Novo sehr gestärkt. Sie wird daher auch als eine wichtige Säule des Estado Novo bezeichnet (vgl. Cunha 2003). 54 Vgl. Cunha 2003; Veloso 2002: 12; Machover 1995. 55 Cunha 2003. 56 Eine tiefer gehende Analyse seiner Opposition zu beiden Ideologien sowie zu der von ihm als Gegenkonzept entwickelten ‚Heterodoxie‘ liefert Cunha 2003. 57 Vgl. Veloso 2002: 12. 58 Zit. nach Veloso 2002: 12. 59 Seine Argumentation steht damit im direkten Gegensatz zu der Meinung von Eça de Queirós. Dieser war ein Jahrhundert zuvor zu der Überzeugung gekommen, Portugal aus der Ferne nicht schildern zu können. Siehe hierzu Kapitel A.II.3. dieses Bandes. 53

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IV. Portugal zwischen Atlantik und Europa

Lourenço anlässlich seines 85. Geburtstags in Portugal durch Tagungen und in öffentlichen Akten gewürdigt. 61 Portugal und Europa in ausgewählten Schriften von Eduardo Lourenço Eduardo Lourenço schildert seine Interpretation der Rolle Portugals in Europa in fünf Essays, die zwischen 1977 und 1994 verfasst wurden. Bevor die Entwicklung seiner Ideen gezeigt wird, soll in den folgenden Abschnitten ein Überblick über die in den Essays dargestellten Konzepte gegeben werden. Mythische Psychoanalyse des portugiesischen Schicksals (1977/78) Um die „nationale Realität“ 62 zu untersuchen, nimmt Lourenço eine freudianische Psychoanalyse an Portugal und seiner Geschichte vor. Die erste Feststellung der Analyse ist, dass Portugals eigenes Geschichtsbild unrealistisch sei 63 und dass sich sämtliche Überblicke über die portugiesische Geschichte wie die Abenteuer eines Helden – „Robinsonaden“ 64 – läsen. Damit ist gemeint, dass in der Geschichtsschreibung die Tendenz zu erkennen ist, Portugals Wichtigkeit im Weltgeschehen als übermäßig groß einzuschätzen. Das habe sich auch in der portugiesischen Literatur und dem Theater niedergeschlagen. Hierauf geht Lourenço immer wieder ein, denn er widmet sich in diesem Essay ausführlich der kritischen Untersuchung literarischer Werke und Strömungen. Häufig kommt er beispielsweise auf die Lusiaden 65 zurück. Er stellt an mehreren Stellen den Bezug zu Europa her. Das geschieht meist in Form eines Vergleichs, aus dem Portugal als Unterlegener hervorgeht. Noch zu Beginn der Entdeckerreisen und des Kolonialismus stärkste politische Macht Europas, stand Portugal schnell im Schatten des erstarkenden Spaniens. Als dann im 19. Jahrhundert ein europäischer Maßstab an Portugal angelegt wurde – in der Diskussion der 1870er-Generation mit dem Wortführer Antero de Quental – zeigte sich endgültig, dass Portugal unterentwickelt war. 66 Man trachtete danach, den 60

Prémio Camões. Etwa die Vorlesungsreihe Eduardo Lourenço – O Heterodoxo zum 85. Geburtstag von Eduardo Lourenço in der FNAC-Lisboa vom 19. bis zum 23. 5. 2008 oder die Tagung Eduardo Lourenço, 85 Anos, die am 6. und 7. 10. 2008 vom Centro Nacional de Cultura und von der Calouste Gulbenkian Stiftung organisiert wurde. 62 Lourenço 1997: 11. 63 Vgl. Franco 2005: 7. 64 Lourenço 1997: 12. 65 Os Lusíadas (1572), Luís de Camões’ Nationalepos über die Geschichte Portugals. 61

2. Portugal und Europa im Werk Eduardo Lourenços

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Anschluss an Europa, dem „Musterbeispiel der Zivilisation“, 67 zu erreichen. Unter der entdeckten Minderwertigkeit litt Portugal allerdings laut Lourenço stark und als Kompensation wandte man sich verstärkt den Kolonien zu. Es entstand ein ausgeprägter Patriotismus, der sich aus eben dieser kolonialen Machtstellung speiste, da sie die Möglichkeit verlieh, sich als „eigentlich großes Land“ 68 zu betrachten. 69 Portugal blieb jedoch das „Schlusslicht Europas“. 70 Zum Ende des 19. Jahrhunderts bekam Portugal nochmals zu spüren, dass es in Europa „zweitklassig“ 71 war. Das portugiesische Kolonialimperium wurde Gegenstand innereuropäischer Streitigkeiten, in deren Folge Portugal sich Großbritanniens Willen beugen musste. Es konnte eine Ausweitung seiner afrikanischen Territorien nicht durchsetzen. 72 Dennoch behielt Portugal seine fünf Kolonien auf dem afrikanischen Kontinent und konnte sich trotz der Konkurrenz der übrigen europäischen Kolonialmächte als ein Kolonialstaat sehen. Der Estado Novo stärkte die Kolonialpolitik ideologisch, indem er imperiale Mythen Portugals wahrte. Dies wird auch verdeutlicht in dem bekannten Ausspruch Salazars, „Angola und Mosambik seien genauso portugiesisch wie Minho und Beira“. 73 Seit den 1960er Jahren gewannen allerdings Freiheitsbewegungen in den Kolonien an Stärke und übten größeren Druck aus, bis schließlich die Nelkenrevolution 1974 den Estado Novo beendete und daraufhin 1975 Mosambik, Angola und andere Kolonien unabhängig wurden. Für Lourenço verschwand der koloniale Mythos, und eine neue, nationalistische Mythologie etablierte sich. Portugal blieb weiterhin unbedeutend im Konzert der europäischen Mächte, arm und klein. Doch die angeblich vorbildliche, demokratische Revolution, mit der die Diktatur gestürzt worden war, brachte Portugal Ansehen und Achtung in der übrigen Welt ein. So entstand erneut ein „unrealistische[s]“ 74 Selbstbild der Portugiesen: Man war stolz darauf, nun eine musterhafte Demokratie zu verkörpern, denn als solche wurde Portugal von außen bezeichnet. Diese Mythenbildung, die den Blick auf die weniger glanzvolle Realität trübte, kritisiert Lourenço. Er betrachtet die Nelkenrevolution als die entgangene Ge66

Siehe hierzu Kapitel A.II.2. dieses Bandes. Lourenço 1997: 21. 68 Lourenço 1997: 43. 69 Vgl. Lourenço 1997: 43. 70 Lourenço 1997: 24. 71 Lourenço 1997: 44. 72 Die Kolonialkrise von 1887 – 1890: Portugal wollte seine afrikanischen Kolonien ausweiten, was den britischen Interessen in Afrika zuwider lief. Großbritannien setzte Portugal ein Ultimatum, auf diese Ambitionen zu verzichten. Nach schwerer innenpolitischer Krise willigte Portugal schließlich ein: Der Vertrag von London wurde unterzeichnet. Siehe hierzu auch Kapitel A.II.1. dieses Bandes. 73 Zit. nach Lourenço 1997: 46. Minho und Beira sind zwei Regionen in Portugal. 74 Lourenço 1997: 53. 67

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IV. Portugal zwischen Atlantik und Europa

legenheit zu akzeptieren, dass Portugal ein verarmtes, sozial und ökonomisch rückständiges Land sei. Die nationalen Probleme würden, wie schon zu Zeiten Salazars, entdramatisiert, was auch im Zusammenhang damit stehe, dass das autoritäre Salazar-Regime nicht reflektiert und nicht vollständig demontiert worden sei. So seien zwar aus den Portugiesen, einem unterdrückten Volk, nun „vollwertige Bürger Europas“ 75 entstanden. Portugal habe sich jedoch sehr schnell von dem Hoffnungsträger, dessen revolutionäre Leistung ganz Europa beeindruckte, in einen „krankes Europas“ 76 mit den bereits genannten Schwächen verwandelt, die in Portugal selbst so nicht wahrgenommen würden. Von der Fiktion des „Reichs“ zum Reich der Fiktion (1984) In einem Rückblick, ein Jahrzehnt nach der Nelkenrevolution und der Unabhängigkeit der Kolonien, widmet sich Lourenço dem Entkolonialisierungsprozess und seinen Wirkungen sowie den Reaktionen in Portugal. Obwohl andere Kolonialmächte ihre Kolonien schon seit 1949 in die Unabhängigkeit entließen, hielt Portugal unter Salazar bis zum Ende des Estado Novo an seinen Überseebesitzungen fest. Dies geschah mit aller Macht und großem Aufwand. 77 Denn Portugals Identität als Imperium sollte unbedingt gewahrt bleiben. 78 Schließlich gründete sich darauf in bedeutendem Maße die nationale Identität. 79 Da sich Portugal, laut Lourenço, nicht mit dem Problem der Entkolonialisierung auseinandersetzte, konnte die imperiale Identität weiter bewahrt bleiben. Dies sei „Selbsttäuschung“ bzw. „Selbstlüge“ 80 gewesen, denn den imperialen Mythen fehle inzwischen jegliche Grundlage. Zwar hätte die Kolonialmacht gewisse Spuren hinterlassen und insofern seien die ehemaligen afrikanischen Kolonien wohl teilweise portugiesisch geworden, 81 trotzdem müssten sich die Portugiesen „an den Gedanken gewöhnen, dass [sie] immer einen Raum bewohnt haben, der für [sie] zu groß [...] war“. 82

75

Lourenço 1997: 68. Lourenço 1997: 71. 77 Als Beispiel: die Niederschlagung der Angola-Aufstände ab 1961 (vgl. Kapitel B.IV.1. dieses Bandes). 78 Daher ließ Salazar z. B. Massendemonstrationen als Protest gegen die Loslösung der Kolonien inszenieren. 79 Vgl. Lourenço 1997: 76. 80 Lourenço 1997: 84f. 81 Vgl. Lourenço 1997: 89. 82 Lourenço 1997: 90. 76

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Das neue Europa und wir (1991) Dieser Essay widmet sich der Frage, wie Portugal von Europa gesehen wurde und wie es selbst glaubte, gesehen zu werden. Lourenço stellt fest, dass sich die Wahrnehmung von Portugal in Europa in der Zeit des Estado Novo bis hin zum EG-Beitritt unterscheidet von jener nach dem Beitritt. Die Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdbild sei sehr groß: Zu früheren Zeiten habe sich Portugal von Europa weder be- noch geachtet gefühlt und dies als sehr ungerecht empfunden, da es im Selbstbild eine wichtige Rolle in der Welt gespielt habe. Nach dem EG-Beitritt sei dieses Gefühl jedoch nicht mehr gerechtfertigt, denn die Beziehungen zu Europa hätten sich verändert: Während sich Portugal zuvor außerhalb Europas sah und Europa Portugal außerhalb seiner Einflusssphäre verortete, sei Portugal nun innerhalb Europas. 83 Europa sehe Portugal als Teil von sich an, und Portugal sei erfreut über diese Aufmerksamkeit. 84 Damit sei Portugal aber nicht vollständig zufrieden, denn: Es fühle sich zwar nicht mehr ausgeschlossen, aber „weiterhin in irgendeiner splendid isolation“ 85 und sehne sich nun nach den Zeiten der Isolation. Lourenço stellt im Zusammenhang damit folgende These auf: Portugal reiche es nicht, in Europa wieder präsent zu sein. Denn gerade die Notwendigkeit, Portugal wiederzuentdecken, verletze den Stolz der Portugiesen, die in ihrer eigenen Wahrnehmung immer groß gewesen seien. Lourenço bezeichnet diese Einstellung als Eitelkeit. Portugal wolle nicht einfach nur wahrgenommen, sondern als „Klassenbeste[r]“ 86 und in seiner Besonderheit beachtet werden. Inzwischen habe sich Europa an Portugal angenähert, Portugal aber noch nicht an Europa. Die Portugiesen müssten einsehen, dass sie bereits ein Teil des europäischen Schicksals seien – sie befänden sich längst „auf dem Schiff Europa“. 87 Europa in der imaginären Welt der Portugiesen (1992) In diesem Essay beschreibt Lourenço die Entwicklung des portugiesischen Europabildes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis einige Jahre nach dem EG-Beitritt. Noch in der Endphase des Estado Novo sei das Bild Europas diffus und unbestimmt gewesen, für eine Mehrheit der Portugiesen sogar bedrohlich. 88 Europa schien weit entfernt. Diese Ferne blieb, obwohl viele Portugiesen in den 1960er Jahren in verschiedene Länder Europas emigrierten. Denn, so Lourenço, 83 84 85 86 87 88

Vgl. Lourenço 1997: 111. Vgl. Lourenço 1997: 122. Lourenço 1997: 122. Lourenço 1997: 115. Lourenço 1997: 122. Vgl. Lourenço 1997: 91.

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IV. Portugal zwischen Atlantik und Europa

trotz oder gerade wegen der Emigration blieb Portugal, die Heimat, ein mythologisch verklärter Ort, selbst wenn das Leben in anderen Ländern bequemer sein mochte. Das neue Europabild der Portugiesen beinhalte einen zwar höheren Lebensstandard, besser bezahlte Arbeit und damit Reichtum und Dynamik – jedoch „keine Träume“ 89 und gelte somit nicht zwangsläufig als erstrebenswert. Als 1986 die Integration in die Europäische Gemeinschaft erfolgte, habe sich der Bezug Portugals zu Europa zwangsläufig verändert. Laut Lourenço war diese Annäherung allerdings erzwungen und nur äußerlich. 90 Wenn auch Europa als Verbündeter gesehen und der EG-Beitritt sogar als Kompensation für den Verlust der Kolonien betrachtet wurde, war die europäische Mythologie den Portugiesen nicht wichtig. Lourenço diagnostiziert Portugal sogar ein „Abdriften“ 91 von Europa und stellt fest, dass der traditionelle Bezug der Portugiesen zum ‚Orient‘ 92 enger ist als zu Europa. 93 Dies betreffe den imaginären Bezug. In der Realität dagegen sei Europa für Portugal allgegenwärtig und in der Bevölkerung steige das Bewusstsein, dass die Zugehörigkeit zur EG ein großes Privileg mit vielen Vorteilen für das Land darstellt. Das nationale Bewusstsein ändere sich nicht, obwohl die europäische Integration schon so weit fortgeschritten sei. Europa wird in Portugal nach Ansicht Lourenços viel zu wenig reflektiert: „Tatsache ist, dass wir [...] uns bereits an Bord des großen Schiffes Europa befinden, ohne uns je ernsthaft um die Art und das Ziel der Reise gekümmert zu haben“. 94 Nicht nur, dass es an Reflexion mangele, es seien sogar neonationalistische Ansichten auf dem Vormarsch – eine Reaktivierung des klassischen, portugiesischen Nationalismus. Darüber hinaus lasse sich eine „Wiederentdeckung [des] arabischen Hintergrunds“ 95 entdecken in Abgrenzung zu Europa. Lourenço spricht in diesem Zusammenhang von Antieuropäismus und kommt zu dem Schluss, dass es die Integration auf „materielle[r], äußerliche[r]“ 96 Ebene zwar gebe, sich jedoch im Imaginären eher der Abstand zu Europa vergrößere. Europa oder die Verführung durch die verlorene Zeit (1994) Lourenço spielt mit dem Titel dieses Essays auf das Hauptwerk von Marcel Proust an. Dies ist als ein Bezug auf Gedanken wie die Identitätsfindung durch 89

Lourenço 1997: 95. Vgl. Lourenço 1997: 103. 91 Lourenço 1997: 96. 92 Portugal besaß u. a. mehrere Kolonien im heutigen Indien; ‚der Orient‘ ist Gegenstand verschiedener literarischer Werke (u. a. von Camões und Fernão Mendes Pinto). 93 Vgl. Lourenço 1997: 97. 94 Lourenço 1997: 104f. 95 Lourenço 1997: 106. 96 Lourenço 1997: 107. 90

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die Erinnerung an die eigene Vergangenheit, die bei Proust thematisiert werden, zu verstehen. Die Metapher der Zeit in Lourenços Essay kann man außerdem so auflösen: Die Zeit wurde durch die Jahrhunderte von Europa bestimmt, und auch andere Kulturen orientierten sich an dem Rhythmus Europas, da es den anderen in seiner Entwicklung voraus war. Verloren ist die Zeit nun deshalb, weil diese Vormachtstellung laut Lourenço nicht mehr gegeben ist. Schon zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hätten die USA die führende Rolle, die „kulturelle Herrschaft“ 97 übernommen. Lourenço sieht in Europa das Symbol für die Entstehung der Menschenrechte, der bürgerlichen Freiheiten und sozialen Gerechtigkeit. Es sei darum auch noch Gegenstand von Träumen, Objekt der Begierde und Verlockung. 98 Jedoch verschwinde es immer mehr von der Weltbühne. Gegenüber der früheren privilegierten, führenden Stellung sei nun die Zukunft Europas in Frage gestellt und Europa selbst glaube nicht mehr an die eigene Zukunft. 99 Lourenço sieht jedoch eine Zukunft, er glaubt an Europas „Kraft zur Erfindung und Erneuerung“, 100 obwohl es nicht mehr über die „kulturelle Hegemonie“ 101 verfügt. Der Essay endet mit dem Appell, Europa solle sich den neuen Herausforderungen stellen und vor allen Dingen eines tun: den eigenen Kontinent, Europa, erforschen. 102 Kerngedanken in Lourenços Überlegungen zu Europa und Portugal In Lourenços Ausführungen wird immer wieder deutlich, dass Europa über mehrere Jahrhunderte in verschiedener Hinsicht eine führende Position in der Welt hatte und sich dieser Stellung selbst bewusst war: Es verspürte einen Führungsanspruch gegenüber anderen Kulturen und Teilen der Welt (am deutlichsten zu sehen am Phänomen des Kolonialismus). Obwohl Lourenço diese Führungsrolle heute nicht mehr gegeben und erst recht nicht mehr gerechtfertigt sieht, glaubt er an die Kraft Europas. Er grenzt Europa wiederholt von anderen Kontinenten ab, insbesondere von Afrika und dem ‚Orient‘. Für ihn war die Entwicklung hin zur Entkolonialisierung ohnehin unvermeidbar und richtig. Daher ist ihm sogar das aktuelle Europa sympathischer als jenes, das sich an der Weltspitze sah. Lourenço verweist außerdem auf Europas kulturelles Erbe – noch immer gelte es als 97

Lourenço 1997: 134. Vgl. Lourenço 1997: 131. 99 Vgl. Lourenço 1997: 126. 100 Lourenço 1997: 140. 101 Lourenço 1997: 135. 102 Vgl. Lourenço 1997: 140. 98

120

IV. Portugal zwischen Atlantik und Europa

Ursprung von Demokratie, Freiheit und Recht. Aus Lourenços Sicht sind das Verdienste, für die Europa in der Welt auch heute noch bewundert wird. Gerade diese Aspekte sind es, die Europa für ihn ausmachen. Er wünscht sich, dass Europa in seiner demokratischen Tradition fortfährt und sich den Herausforderungen stellt, die die moderne Gesellschaft Europas hervorbringt. Intensiv setzt Lourenço sich mit der Rolle Portugals im Bezug auf Europa auseinander. Zunächst bemerkt er, dass portugiesische Intellektuelle bereits in einer langen Tradition (seit dem 18. Jahrhundert) Europa als Vorbild und als Ziel sahen. Bei einem Vergleich des eigenen Landes mit Europa stellte dann insbesondere die 1870er-Generation fest, dass Portugal sehr rückständig war. Es entstand auf der einen Seite ein Minderwertigkeitskomplex – ihm gegenüber stand allerdings gleichzeitig ein „Überlegenheitskomplex“, 103 der sich vor allem daraus speiste, dass Portugal sich als Entdeckernation betrachtete, mit Kolonien auf der gesamten Welt. Hinzu kommt, dass laut Lourenço 104 Portugal einen ganz anderen Entwicklungsweg eingeschlagen habe. Lourenço betrachtet seine Entwicklung außerhalb Europas insbesondere während des Estado Novo als von Portugal selbst gewählt und meint, sie sei mit dem hohen Preis der „Entfernung Europas von uns“ 105 bezahlt worden. 106 Hieraus kann man ablesen, dass Lourenço die portugiesische Abkehr von Europa für die falsche Entscheidung hält. Er versucht jedoch, Gründe dafür zu finden, warum Portugal diesen Weg gewählt hat und stellt in diesem Zusammenhang verschiedene nationale Besonderheiten der Portugiesen fest. Sehr ausführlich versucht er in Psychoanalyse des portugiesischen Schicksals ein Bild der nationalen Identität Portugals zu zeichnen. Charakteristisch für die Identität des portugiesischen Volkes sei es, dass es sich nicht eingestehen wolle, in der Weltpolitik nur eine Nebenrolle zu spielen. Das Bild, das die Portugiesen von sich selbst und ihrer Geschichte hätten, sei unrealistisch, weil man sich zu viel Bedeutung beimesse. Die Portugiesen wollen seiner Ansicht nach die Realität, ein kleines, armes Land zu sein, nicht akzeptieren und schaffen sich immer neue Mythen, aus denen sie ihre Wichtigkeit ableiten. Lange sei dies der Mythos der Kolonialmacht gewesen. Der sei dann abgelöst worden durch den Mythos, ein mustergültig demokratisches Land (aufgrund der Nelkenrevolution) zu sein. Eine weitere Eigenart der Portugiesen leite sich aus ihrem Stolz und der Eitelkeit ab: Über einen sehr langen Zeitraum von Europa nicht beachtet worden zu sein, habe sie in ihrem Stolz sehr verletzt – gleichzeitig seien sie aktuell mit der 103

Lourenço 1997: 13. Und anderer Autoren, etwa: Hanenberg 2004: 129; Barrento 1999: 15. 105 Lourenço 1997: 121. 106 Eine wichtige Rolle spielte dafür zum Beispiel die Reformation in Europa, der sich Portugal nicht anschloss. 104

2. Portugal und Europa im Werk Eduardo Lourenços

121

neuen (Be-)Achtung auch nicht zufrieden. Um diese Eigenart der portugiesischen Mentalität hervorzuheben, zitiert Lourenço einen Schriftsteller, dem er ein intensives Studium gewidmet hatte und dessen Ideen er in seinen Texten immer wieder zum Vergleich heranzieht – Fernando Pessoa: Die Portugiesen („Wir“) seien eine „komplizierte Art von Europäern“. 107 Lourenço sieht darin den portugiesischen ‚Nationalcharakter‘, wie er von verschiedenen Autoren des 20. Jahrhunderts immer wieder beschrieben wurde 108 und stellt dessen Eigenarten als etwas dar, das man akzeptieren muss. Sie haben zur Folge, dass das Verhältnis von Portugal zu Europa nicht einfach sei. Gleichzeitig betont er aber immer wieder, dass Portugal ein Teil des europäischen Schicksals sei. Zur Verdeutlichung verwendet er auffällig häufig die Metapher vom „Schiff Europa“. 109 Portugal befinde sich längst an Bord dieses Schiffes – „auf Gedeih und Verderb, wie in der Ehe“. 110 Lourenço ist viel daran gelegen, dass die Portugiesen einsehen, zu Europa zu gehören und dass sie ihre Skepsis ablegen. Eine Skepsis, die vor allem während des Estado Novo besonders stark war, heute aber immer noch nachbebt. Wie er selbst, der sich vom Estado Novo abwandte und Europa für sich entdeckte, sollen sich die Portugiesen für Europa öffnen. Auch in diesem Bestreben, die Portugiesen von Europa zu überzeugen, tritt Lourenços Pro-Europäismus zutage. Sich den Besonderheiten der portugiesischen Identität bewusst, wünscht sich Lourenço für die Portugiesen multiple Identitäten: Es sei vereinbar, Portugiese zu bleiben und gleichzeitig Europäer zu werden.

107 108 109 110

Lourenço 1997: 119. Vgl. Almeida 1999: 65. Vgl. Lourenço 1997: 93, 104f., 122. Lourenço 1997: 122.

C. Europa-Konzepte auf dem Weg nach Europa

V. Spanische Blicke auf Europa während des Integrationsprozesses 1. Der Beitritt Spaniens zur Europäischen Gemeinschaft Von Judith Varga Am 6. Dezember 2008 wurde in Spanien der 30. Jahrestag der spanischen Verfassung gefeiert. Mit der Annahme der Verfassung durch die Bevölkerung im Dezember 1978 wurde der Transformationsprozess in Spanien weg von der franquistischen Diktatur hin zur Demokratie erfolgreich in seinen Grundelementen abgeschlossen. Die Transición – der Prozess der Etablierung freiheitlich demokratischer Strukturen nach Francos Tod – schuf die Voraussetzungen für eine Integration Spaniens in das institutionelle System der Europäischen Gemeinschaften – sowohl innenpolitisch durch den Reformprozess als auch hinsichtlich der Beziehungen nach außen durch das Ende der jahrelangen franquistischen Isolation. Der Wunsch nach dem Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft (EG) wurde vom gesamten Parteienspektrum in Spanien getragen, da die EG alle Ideale verkörperte, die den Spaniern während des Franco-Regimes fehlten: Freiheit, Frieden, Demokratie, Menschenrechte und Modernität. Der vorliegende Aufsatz beschäftigt sich mit dem Weg Spaniens in die EG. Dabei werden vor allem drei Fragen geklärt: 1. In welchem Zusammenhang stehen die Transición und die Integration Spaniens in die EG? 2. Welche Bedeutung wurde dem EG-Beitritt in der spanischen Transición beigemessen? 3. Wie verlief der Weg Spaniens in die EG? Transición Unter Transición versteht man den Systemwechsel in Spanien von der franquistischen Diktatur zur parlamentarischen Monarchie mit demokratisch freiheitlichen Strukturen. In der Literatur lassen sich verschiedene Auffassungen bezüglich des zeitlichen Abschlusses der Transición finden. So ist MacLennan der Auffassung, die Transición endete bereits 1977 mit der Abhaltung der ersten freien Wahlen in Spanien. 1 Für Bernecker und Pietschmann hingegen ist der Prozess erst 1982 mit dem Wahlsieg der sozialistischen Partei Partido Socialista Obrero Español (PSOE, dt.:

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V. Spanische Blicke auf Europa während des Integrationsprozesses

Sozialistische Arbeiterpartei Spaniens) abgeschlossen. 2 Auch das Jahr 1978 taucht als Endpunkt der Transición in der Literatur auf. In diesem Jahr fand die Ausarbeitung und Annahme der spanischen Verfassung statt und es ist wohl unumstritten, dass ein Kernelement eines modernen demokratischen Staates die Konstitution ist. Aus diesem Grund wird im Folgenden der Transformationsprozess bis 1978 nachgezeichnet. Der Tod Francos am 20. November 1975 bedeutete für Spanien zwar eine Neuorientierung in Richtung Moderne und Demokratie, allerdings ohne einen strikten Bruch mit der autoritären Ordnung, 3 wodurch es zu keiner wirklichen ‚Stunde Null‘ kam. 4 Zwei Tage nach Francos Tod wurde die Staatsgewalt auf den König Juan Carlos I. übertragen, 5 welcher trotz des großen Drucks durch Demokratisierungsforderungen der Opposition den konservativen Politiker Arias Navarro in der Regierung behielt. Gleichzeitig kündigte er aber in seiner Thronrede, die auch im Ausland große Beachtung fand, Reformen zu Gunsten einer Demokratisierung des Landes an. Da diese angekündigten Reformen unter Navarro allerdings kaum voranschritten, wurde am 3. Juli 1976 Adolfo Suárez durch den König ins Amt des Ministerpräsidenten berufen. Unter diesem, in Spanien damals noch relativ unbekannten Politiker, kam der Reformprozess schließlich ins Rollen. Bereits drei Tage nach Suárez‘ Wahl zum Nachfolger Navarros wurde die Erlaubnis zu politischen Zusammenschlüssen erteilt. Am 16. Juli 1976 stellte Suárez sein Reformprogramm zur Errichtung eines demokratischen Systems unter der Achtung der Menschenrechte, der Grundfreiheiten und des politischen Pluralismus vor. Dem ‚Gesetz über die politische Reform‘, 6 welches die Etablierung eines allgemein gewählten Zweikammerparlaments vorsah, wurde in einem Referendum im Dezember 1976 mit 95% der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 77% zugestimmt. 7 Obwohl Suárez im franquistischen Apparat tätig gewesen war, wurde unter ihm das Franco-Regime maßgeblich demontiert, womit dieser, laut Altrichter und Bernecker, neben dem König Juan Carlos I., als wichtigster Architekt des demokratischen Systems anzusehen ist. 8 Zu seinen Verdiensten zählen die Auflösung der Einheitspartei, die Zulassung von Organisationen und Parteien, die Pressefreiheit und die Errichtung eines Zweikammerparlaments. 9 Bernecker und 1

Vgl. MacLennan 2000: 150. Vgl. Bernecker / Pietschmann 2000: 377. 3 Vgl. Kraus / Merkel 1998: 41. 4 Vgl. Helmerich 2004: 2. 5 Franco legte 1947 per Gesetz (Ley de Sucesión en la Jefatura del Estado) fest, dass die Monarchie in Spanien wiedereingeführt werden sollte, und erklärte 1969 den Prinzen Juan Carlos zum legitimen Thronfolger nach Francos Tod (vgl. Jover / Gómez-Ferrer 2001: 736 – 737). 6 Ley de la Reforma. 7 Vgl. Bernecker 1998: 164. 8 Vgl. Altrichter / Bernecker 2004: 319. 2

1. Der Beitritt Spaniens zur Europäischen Gemeinschaft

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Dirscherl bezeichnen diese Reformen als „eine große historische Leistung, die uneingeschränkte Anerkennung verdient“. 10 Am 15. Juni 1977 wurden erstmals freie Wahlen abgehalten, bei welchen die konservative Partei Unión de Centro Democrático (UCD, dt.: Union des Demokratischen Zentrums) 11 unter Führung von Suárez vor den Sozialisten als Sieger hervorging. Die radikalen Parteien, sowohl die Nationalisten als auch die Kommunisten, erzielten nur ein schwaches Ergebnis. Die wichtigste Aufgabe des neuen Parlaments bestand in der Ausarbeitung einer Verfassung. 12 Diese wurde im Dezember 1978 in einem Referendum mit breiter Zustimmung angenommen und trat kurz darauf in Kraft. Die spanische Transición gilt als beispielhafter politischer Prozess, da der Systemwechsel von Diktatur hin zu Demokratie trotz der unterschiedlichen Interessenlagen friedlich vonstatten ging und durch Kompromisse und den Dialog zwischen konservativer Regierung und der Opposition geprägt war. Dem Begriff consenso (dt.: Konsens) kommt in diesem Zusammenhang eine Schlüsselrolle zu. 13 Der Reformprozess fand innerhalb der vom Franco-Regime geschaffenen Systemstruktur statt und führte trotz, wie Kraus und Merkel kritisieren, aller „Elitenlastigkeit“ 14 zu einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Das alles geschah friedlich und ohne Blutvergießen, da „alle Parteien und sozialen Schichten durch Verzicht auf manche Forderungen, durch besonnenes Verhalten und politische Reife zum Erfolg beitrugen“. 15 Dass die Machthaber des franquistischen Regimes dem politischen Wandel zustimmten, führen Altrichter und Bernecker im Wesentlichen auf vier Faktoren zurück: Zum einen auf die entschiedene Haltung von König Juan Carlos, der den Demokratisierungsprozess unterstützte und vorantrieb, was vor allem die Haltung der Streitkräfte beeinflusste; zum anderen auf das [...] ‚politische Klima‘, das eine Demokratie orientierte Entwicklung als unausweichlich erscheinen ließ; sodann auch die Überzeugung der traditionellen Machtelite, dass nur durch Preisgabe gewisser Positionen eine Radikalisierung des Prozesses verhindert werden könne; schließlich auf den internationalen Rahmen, da die Interessen der westlichen Staaten mit der Einrichtung einer ‚gemäßigten‘ liberal-pluralistischen Demokratie übereinstimmten. 16

9

Vgl. Fusi / Palafox 2003: 375ff. Bernecker / Dirscherl 1998: 10. 11 Die UCD galt als eine bürgerliche Partei der rechten Mitte mit konservativ-liberaler Ausrichtung. Sie löste sich aber bereits 1982 wieder auf. 12 Vgl. Bernecker 1998: 164. 13 Vgl. Kraus / Merkel 1998: 42. 14 Kraus / Merkel 1998: 43. 15 Bernecker / Discherl 1998: 10. 16 Altrichter / Bernecker 2004: 318. 10

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V. Spanische Blicke auf Europa während des Integrationsprozesses

Schon während der Transición ließen sich die Wechselwirkungen zwischen dem Wandel im Inneren und den Einflüssen von Außen erkennen. So waren einerseits politische Reformen notwendig, um Anerkennung im Ausland zu finden, andererseits war die Rückendeckung des Auslands für eine erfolgreiche Demokratisierung sehr wichtig. 17 Mit dem erfolgreichen Abschluss der Transición waren alle politischen Bedingungen erfüllt, welche die EG für einen Beitritt verlangte. Den Beitrittsverhandlungen sollte somit eigentlich nichts mehr im Wege stehen. Die Bedeutung der Europäischen Integration für Spanien Unter der Diktatur Francos war Spanien weitestgehend politisch isoliert, demokratische Elemente waren kaum vorhanden und auch eine Garantie der Bürgerrechte gab es nicht. Die EG mit ihrem freiheitlich-demokratischen Grundgedanken hingegen symbolisierte all diese Werte, welche die Spanier in der Zeit des franquistischen Regimes nicht hatten. Wie Bernecker und Pietschmann verdeutlichen, wurde die „EG-Mitgliedschaft mit Rückkehr zur ‚Normalität‘ und in das ‚gemeinsame Haus‘ Europa mit wirtschaftlicher Modernisierung, mit Verhinderung einer politischen Involution“ 18 assoziiert. Die Integration in die EG versprach die Lösung vieler Probleme, mit denen sich die Spanier konfrontiert sahen. Dazu zählten die wirtschaftliche und soziale Modernisierung des Landes sowie die Aufhebung der franquistischen Isolation. 19 Weiterhin bedeutete die Einbindung Spaniens in die Strukturen der EG die Festigung der noch jungen Demokratie, deren Stabilität wiederum „die Basis für wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Fortschritt bildete“. 20 Hinzu kommt, dass Spanien sich einen außenund sicherheitspolitischen Vorteil, wie auch Anerkennung und Solidarität von den ausländischen Partnern versprach. Mit der Beitrittsfrage standen somit nicht nur innenpolitische und ökonomische Ziele Spaniens zur Diskussion, sondern auch „die spanische Würde, die Anerkennung der Europäer und die Ebenbürtigkeit Spaniens“ 21 auf internationaler Ebene. Ein Beitritt zur EG würde für Spanien die ‚Ankunft in Europa‘ und die Zugehörigkeit zur ‚westlichen Welt‘ bedeuten, obwohl MacLennan es als paradox ansieht: that one of the first nation-states in Europe and a country whose contribution to European history is beyond discussion made such statements as if before joining the EEC it had not been part of the continent or had been beyond the pale of Western civilization. 22 17

Vgl. Helmerich 2004: 2. Bernecker / Pietschmann 2000: 383. Unter Involution versteht man in der Politikwissenschaft die Rückbildung demokratischer Strukturen in vor- oder antidemokratische Formen. 19 Vgl. Abellán 2005: 1. 20 Däumer / Grundberger 2007: 1. 21 Bernecker / Pietschmann 2000: 383. 22 MacLennan 2000: 180. 18

1. Der Beitritt Spaniens zur Europäischen Gemeinschaft

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MacLennan verdeutlicht hiermit noch einmal die enorme, vor allem auch symbolische Bedeutung der EG für Spanien. Paradoxerweise werden die Spanier ihr Land erst durch die Aufnahme in die EG als Teil Europas wahrnehmen, obwohl die Zugehörigkeit Spaniens zu Europa aus historischer Sicht unumstritten sei, wie das Zitat belegt. 23 Aus all den genannten Gründen war der Beitritt zur EG ein primäres Ziel der spanischen Außenpolitik. 24 Der Wunsch nach einer europäischen Integration wurde dabei vom gesamten Parteienspektrum getragen und es herrschte allgemein Einigkeit über die enorme Bedeutung der Anbindung an Europa, obgleich auch differenzierte Interessen und Motive innerhalb der verschiedenen Parteien erkennbar waren. 25 Für die Alianza Popular (AP, dt.: Volksallianz), welche den konservativen Flügel der Parteienlandschaft bildete, war mit der Anbindung an die EG vor allem die Wahrung traditioneller Werte verbunden. Die Gemeinschaft galt somit als Garant gegen kommunistisch-revolutionäre Strömungen. Ähnliche Motive lassen sich auch bei der UCD, der Partei der Transición, finden. Die UCD symbolisierte den Einstieg in eine neue demokratische Ära. Somit sah diese Partei neben der Sicherung traditioneller Werte die Vorzüge eines EG-Beitritts in der Konsolidierung der Demokratie und in der Entwicklung der freien Marktwirtschaft. 26 Für die konservativen Parteien standen vor allem ökonomische Interessen im Vordergrund, d. h. eine effizientere Marktwirtschaft und die Angleichung der spanischen Produktionsverhältnisse an das europäische Niveau. 27 Bei der sozialistischen PSOE sowie der kommunistischen Partido Comunista de España (PCE, dt.: Kommunistische Partei Spaniens) lagen die Hauptmotive eines Beitrittes auf anderen Schwerpunkten. Für die PSOE symbolisierte die EG vor allem die Sicherung der Demokratie und Menschenrechte; auch war es ihr Ziel, die Sozialleistungen an europäische Standards anzugleichen – ein Interesse, welches die AP und die UCD nicht verfolgten. Ein wichtiger Aspekt, sowohl für die PSOE als auch für die PCE, war die Bedeutung der EG als Garant gegen autoritäre Bestrebungen. 28 Auch auf der regionalen Ebene, vor allem im Baskenland und Katalonien, ließ sich eine deutlich pro-europäische Einstellung in den Parteien erkennen – allerdings aus gänzlich anderen Motiven, als dies auf nationaler Ebene der Fall war. Die regionalen Parteien sahen in einem EG-Beitritt Spaniens vor allem die Chance, 23

Vgl. MacLennan 2000: 180. Auffallend hierbei ist die Gleichsetzung der Begrifflichkeiten ‚Europa‘ und ‚EG‘. Auch Abellán weist darauf hin, dass in Spanien oftmals beide Begriffe synonym verwendet wurden. Vgl. Abellán 2005: 3. 24 Vgl. Bernecker / Pietschmann 2000: 382. 25 Vgl. Helmerich 2004: 3. 26 Vgl. MacLennan 2000: 155f. 27 Vgl. Bernecker / Pietschmann 2000: 383. 28 Vgl. MacLennan 2000: 155f.

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V. Spanische Blicke auf Europa während des Integrationsprozesses

die Institutionen der EG als Sprachrohr zu nutzen, um ihre eigenen Interessen 29 zu propagieren. Ein weiterer Grund der pro-europäischen Haltung ist auf wirtschaftlicher Ebene zu finden: Ein Großteil der spanischen Regionen würde von den EGFonds profitieren. 30 Insgesamt lässt sich sagen, dass zwar unterschiedliche Interessen und Motive bezüglich der europäischen Integration in den einzelnen Parteien erkennbar waren. Der Wunsch nach einem Beitritt und dessen Unumgänglichkeit wurde allerdings nie in Frage gestellt. 31 Bei der Betrachtung der Motive und Interessen fällt auf, dass alle Parteien mehr oder weniger eine politische Notwendigkeit im Beitritt sahen, obwohl es sich bei der EG zu diesem Zeitpunkt noch um eine reine Wirtschaftsgemeinschaft handelte. 32 MacLennan betont, dass ein solcher Konsens bezüglich der Integration noch nie zuvor und in keinem Land in diesem Maße aufgetreten sei. 33 Die Erklärung dafür sieht er in den Werten und Idealen, welche die EG symbolisierte: Europe was a myth, symbolizing the solution to all problems, that Spain was facing, and this European myth was to captivate all Spaniards at different socio-economic and political levels. [...] The fact that the entire political spectrum, from Francoist to Communist, was Europeanist, was an essential factor during the transition to democracy. 34

Der letztendlich doch sehr steinige und langwierige Weg zur Erfüllung des spanischen Traumes, die Integration in die EG, wird im folgenden Abschnitt nachgezeichnet. Spaniens Weg in die EG Nach der erfolgreichen politischen Transición sollte nun die ‚internationale Transición‘ 35 und damit verbunden eine schnelle Eingliederung in die institutionellen Strukturen der EG folgen. 36 Umso enttäuschter zeigten sich einige Politiker und Intellektuelle in Spanien, als man von den Mitgliedsstaaten „nicht sofort und bedingungslos mit offenen Armen empfangen wurde“. 37 Zwar begrüßte das 29 Dazu zählt vor allem die Stärkung der Autonomien. Europa wird in den Regionen Spaniens nicht explizit als ideologisches Ziel gesehen, sondern dient eher als Rahmen, in welchem man aktiv politisch agieren kann. 30 Vgl. MacLennan 2000: 158. 31 Vgl. Bernecker / Pietschmann 2000: 383. 32 Vgl. Abellán 2005: 2. 33 Vgl. MacLennan 2000: 154. 34 McLennan 2000: 187f. 35 Damit meint MacLennan die Aufhebung der Autarkiebestrebungen des FrancoRegimes und somit den Weg aus der Isolation. 36 Vgl. MacLennan 2000: 150. 37 Kneuer 2007: 205.

1. Der Beitritt Spaniens zur Europäischen Gemeinschaft

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Ausland die positiven Entwicklungen in Spanien, und die Mitgliedstaaten der EG waren sich auch durchaus ihrer politischen Verantwortung bewusst. 38 Dennoch hatten einzelne Staaten Vorbehalte gegenüber einem spanischen Beitritt, insbesondere Frankreich. Dies gründete sich vor allem auf wirtschaftliche Aspekte. Infolgedessen sollte es noch ein langwieriger Weg bis zu einer vollen Mitgliedschaft werden. Nachdem in Spanien im April 1977 die ersten freien Wahlen abgehalten wurden und somit alle innenpolitischen Bedingungen erfüllt waren, wurde am 28. Juli 1977 der offizielle Beitrittsantrag zur EG gestellt. Allerdings dauerte es weitere zwei Jahre bis die Beitrittsverhandlungen offiziell begannen, da Spanien nun auch noch die im April 1978 durch die Kommission aufgestellten ökonomischen Bedingungen zu erfüllen hatte. Die EG erschwerte Spanien eine Mitgliedschaft, indem sie den Akzent „von der Forderung nach der Erfüllung der politischen Kriterien auf die der wirtschaftlichen Probleme“ 39 verschob. Trotz der Hürden, die Spanien in den Weg gestellt wurden, hatte auch die EG ein Interesse an der Mitgliedschaft Spaniens. Allerdings war es schwierig, die europäischen und spanischen Interessen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, da beide Seiten unterschiedliche Ziele verfolgten. 40 Aus politischer Sicht spielte für die EG vor allem der Ausbau des Einfluss- und Machtpotenziales eine Rolle sowie die Brückenfunktion Spaniens zu Lateinamerika und der Mittelmeerregion. 41 Ökonomisch gesehen stellte Spanien einerseits einen interessanten neuen Absatzmarkt zur Verfügung. Andererseits waren es aber genau die wirtschaftlichen Aspekte, welche die Beitrittsverhandlungen so erschwerten. 42 Während die EG in Spanien einen neuen Absatzmarkt für Industrieprodukte sah, wollte Spanien die eigenen Erzeugnisse vor der Konkurrenz schützen. Im Agrarbereich gestaltete sich die Situation genau umgekehrt. Besonders Frankreich stellte sich gegen eine Anbindung Spaniens in der Agrarpolitik, aus Angst vor der starken spanischen Fischerei und Landwirtschaft. 43 Kneuer fasst zusammen, dass die Verhandlungen bestimmt wurden von: [...] den strukturellen Problemen der Gemeinschaft selbst und den wirtschaftlichen Problemen Spaniens bzw. den wirtschaftlichen Auswirkungen für die EG inklusive der nationalen Einzelinteressen. 44

38 39 40 41 42 43 44

Vgl. Kneuer 2007: 204. Kneuer 2007: 206. Vgl. Bernecker / Pietschmann 2000: 384. Vgl. Kneuer 2007: 205. Vgl. Kneuer 2007: 205. Vgl. Bernecker / Pietschmann 2000: 384. Kneuer 2007: 206.

132

V. Spanische Blicke auf Europa während des Integrationsprozesses

Die offiziellen Beitrittsverhandlungen begannen schließlich am 17. Juni 1979. Zuvor machte Spanien jedoch schon einen ersten Schritt in Richtung Europa, als es im November 1977 dem Europarat beitrat. Die internationalen Rahmenbedingungen zum Zeitpunkt des Beginns der Verhandlungen standen jedoch unter keinem guten Stern. Durch die zweite Ölkrise 1979 befand sich die internationale Wirtschaftslage in der Krise. Weiterhin stellte auch der Ost-West-Konflikt ein großes sicherheitspolitisches Problem dar. Mit diesen Tatsachen sah sich die EG zum damaligen Zeitpunkt konfrontiert, wodurch die Beitrittsverhandlungen nicht als das primäre Interesse der Mitgliedsstaaten galten, sondern nur zweitrangig waren. 45 Ein weiterer Aspekt war die so genannte ‚Eurosklerose‘ innerhalb des institutionellen Systems der EG. Nationale Eigeninteressen der Mitgliedsstaaten erschwerten die Entscheidungsfindung und somit eine effektive Entwicklung der Gemeinschaft. Alles in allem boten die äußeren Faktoren eine schlechte Ausgangslage für erfolgreiche Beitrittsverhandlungen. 46 Kurz nach der Aufnahme der Verhandlungen 1979 kamen diese durch Vorbehalte Frankreichs wieder ins Stocken. Der französische Ministerpräsident Giscard d’Estaing war der Auffassung, dass eine Eingliederung neuer Mitgliedstaaten zum gegebenen Zeitpunkt nicht möglich wäre, da die EG erst einmal die eigenen wirtschaftlichen Probleme zu lösen hätte. 47 Die Verhandlungen stagnierten bis 1982, es kam zu „endlosen Debatten über Zolltarife, Übergangsfristen und Ausnahmeregelungen“, 48 bei denen kein Konsens gefunden werden konnte. Auch ein Regierungswechsel in Frankreich mit dem neuen sozialistischen Ministerpräsidenten François Mitterand brachte zunächst keine Verbesserungen. Die spanische Öffentlichkeit zeigte sich enttäuscht darüber, dass der EG die ökonomischen Interessen wichtiger waren als die politischen. 49 Unterdessen kam es auch innenpolitisch in Spanien zu Krisenerscheinungen. Suárez gab im Februar 1981, aufgrund der außenpolitischen Erfolglosigkeit, seinen Rücktritt bekannt. Als am 23. Februar 1981 im Parlament über seinen Nachfolger Leopoldo Calvo-Sotelo abgestimmt werden sollte, kam es zum Überfall durch franquistische Kräfte unter der Führung des Oberleutnants Antonio Tejero. Zwar scheiterte der Putschversuch, aber der Öffentlichkeit und vor allem auch dem Ausland „wurde einmal mehr die ständige Gefahr eines Militärputsches vor Augen geführt“. 50 Der neue spanische Ministerpräsident Sotelo forcierte indes den stark umstrittenen Beitritt zur NATO, bei welchem es, ganz im Gegensatz zum EG-Beitritt, 45 46 47 48 49 50

Vgl. MacLennan 2000: 159. Vgl. MacLennan 2000: 159. Vgl. MacLennan 2000: 161. Bernecker / Pietschmann 2000: 384. Vgl. MacLennan 2000: 163. Vilar 1998: 172.

1. Der Beitritt Spaniens zur Europäischen Gemeinschaft

133

keinen Konsens in den Parteien und in der Gesellschaft gab. 51 Die UCD sah in einem Beitritt vor allem positive Effekte für die Stabilisierung der Demokratie als auch für die Modernisierung der Streitkräfte. 52 Schon im Mai 1982 trat Spanien dann dem westlichen Militärbündnis bei. Vor allem die sozialistische PSOE stand dem Beitritt sehr skeptisch gegenüber und warb im Vorfeld der Parlamentswahl im Oktober 1982 im Falle eines Wahlsieges mit einem Referendum über Austritt oder Verbleib in der NATO. Die Parlamentswahl konnte die PSOE am 28. Oktober 1982 schließlich auch für sich gewinnen. Unter dem neuen Ministerpräsidenten Felipe González kamen auch die Verhandlungen mit der EG wieder in Schwung. Er setzte dabei außenpolitisch zunehmend auf den Ausbau bilateraler Beziehungen. Durch die neue Atmosphäre zwischen den sozialistischen Regierungen in Spanien und Frankreich konnten die Verhandlungen endlich weiter geführt werden: Thus, party solidarity between the French and the Spanish Socialists managed to overcome the main obstacle to enlargement. Two meetings between the two governments were to achieve what endless Councils of Ministers were incapable of achieving. This event demonstrated that were there was a political will to cooperate, French economic interests should be no obstacle. 53

Bei der Ministerkonferenz am 25. Juni 1984 in Fontainebleau wurde das endgültige Datum des Beitritts für den 1. Januar 1986 festgelegt. In Bezug auf die NATO-Frage allerdings plädierte González, anders als noch im Wahlkampf, für einen Verbleib, denn sowohl die USA als auch die EG legten großen Wert auf eine Mitgliedschaft Spaniens in der NATO. González hatte schließlich erkannt, dass beides untrennbar miteinander verbunden war. 54 Das Referendum wurde schließlich durchgeführt, wobei es González gelang, die Bevölkerung von einem Verbleib in der NATO zu überzeugen. Mit der Unterzeichnung der Beitrittsakte am 12. Mai 1985 wurden Spanien und Portugal gemeinsam zum 1. Januar 1986 als Vollmitglieder der EG aufgenommen. Damit fand Spanien zehn Jahre nach Beginn der Transición seinen „Platz in der Welt“. 55 Der Beitritt zur EG war für die Spanier auch mit Stolz und Ehre verbunden. Nationalstolz auf das eigene Land und Integration in die europäischen Strukturen schlossen sich für Spanien nicht aus, 56 wie auch Felipe González in einer Rede nach dem Beitritt zur EG deutlich zum Ausdruck bringt: Today, with honour and satisfaction, I address all the citizens and peoples of Spain to transmit to them a message of hope in our future. Early this morning, a transcendental, irreversible step has been taken for our integration in the European Economic Commu51 52 53 54 55 56

Vgl. Däumer / Grundberger 2007: 3. Vgl. Bernecker / Pietschmann 2000: 382. MacLennan 2000: 174. Vgl. Bernecker / Pietschmann 2000: 386. Helmerich 2004: 4. Vgl. Abellán 2005: 3.

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V. Spanische Blicke auf Europa während des Integrationsprozesses

nity ... For Spain, this is a deed of great significance. As a historic fact, it signifies the end of our age-old isolation. It signifies, as well, our participation in the common destiny of Western Europe. For democratic Spain, for the Spain which lives in freedom, it also signifies the culmination of a process of struggle of millions of Spaniards who have identified freedom and democracy with integration in Western Europe. 57

Mit diesen Worten fasst González noch einmal die große Bedeutung des EGBeitritts für Spanien zusammen: das Ende der jahrelangen Isolation, die ‚Ankunft‘ in Westeuropa und die Konsolidierung der Demokratie. * Für Spanien ist mit dem Beitritt zur EG ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung gegangen. Nach dem Beitritt war es nun an Spanien selbst, sich in den neuen außenpolitischen Strukturen zu behaupten und Verlässlichkeit zu beweisen. 58 Die Dankbarkeit gegenüber der europäischen Solidarität zeigt sich bis heute darin, dass Spanien grundsätzlich europafreundlich ist. 59 Je nach Regierungspartei gab es zwar auch Wechselspiele zwischen europäischer Solidarität und nationalen Interessen. Das ändert jedoch nichts daran, dass Spanien zu den Integrationsbefürwortern gehört. 60 Spanien hat sich in den westlichen Strukturen behaupten können und es geschafft, eigene Akzente in der Außenpolitik zu setzen, indem es als Drehscheibe zwischen Lateinamerika und Europa fungiert. Auch die europäischen Partner erkennen die Entwicklung Spaniens hoch an. Diese Anerkennung kommt unter anderem dadurch zum Ausdruck, dass mit Javier Solana, dem Hohen Vertreter der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, eines der höchsten Ämter in der EU von einem spanischen Landsmann besetzt ist. Spanien hat sich somit im Laufe der Zeit zu einem angesehenen Partner in der internationalen Gemeinschaft entwickelt. Und obwohl Europa schon seit dem Beginn der Transición eine sehr wichtige Rolle für Spanien gespielt hat und der Beitritt zur EG als primäres Ziel gesehen wurde, haben die endlosen Debatten und damit verbundenen Konflikte und Spannungen während der Beitrittsverhandlungen teilweise zu Enttäuschung, aber vor allem auch zu Ernüchterung gegenüber der EG in Spanien geführt. 61 Die Vorstellungen über die EG wurden realistischer und die Spanier merkten, dass die EG eben doch nicht alles war. 62 Vor allem bei den Intellektuellen fanden intensive Diskussionen statt, die von absoluter Zustimmung zum ‚Projekt Europa‘, bis hin zu Skepsis und Ablehnung reichten. 63 Mit diesen Debatten werden sich die nun fol57 58 59 60 61 62 63

González zit. nach Jáuregui 2002: 78. Vgl. Helmerich 2004: 4. Vgl. Däumer / Grundberger 2007: 6. Vgl. Däumer / Grundberger 2007: 7. Vgl. Bernecker / Pietschmann 2000: 384. Vgl. Bernecker / Pietschmann 2000: 385. Vgl. Bernecker / Pietschmann 2000: 385.

2. Europa-Diskurse spanischer Intellektueller

135

genden Aufsätze beschäftigen. Zunächst wird der Europa-Diskurs der spanischen Intellektuellen im Allgemeinen betrachtet und anschließend mit Juan Goytisolos Auffassung von Spanien und Europa ein konkretes Beispiel näher analysiert.

2. Europa-Diskurse spanischer Intellektueller im Kontext des Beitritts zur EG Von Beatrice Schäfer Nachdem sich der vorangegangene Beitrag vordergründig mit den politischen und institutionellen Aspekten vom Beitritt Spaniens zur Europäischen Gemeinschaft (EG) beschäftigt hat, werden die nun folgenden Ausführungen den Fokus auf die intellektuellen Kreise der spanischen Bevölkerung legen. Der Politologe Peter Frey führte zu diesem Zweck eine wissenschaftliche Analyse durch, in welcher er ausgewählte Personen aus diesem Umfeld einer empirischen Befragung unterzog. Mit Hilfe verschiedener Tests und Fragebögen konnte er Erkenntnisse gewinnen, die die Erwartungshaltungen der spanischen Intellektuellen vor dem Beitritt sowie während der Beitrittsverhandlungen anschaulich dokumentieren. Die Ergebnisse dieser Studie sind in einer Monographie von 1988 mit dem Titel Spanien und Europa – Die spanischen Intellektuellen und die Europäische Integration dargestellt worden. Diese Publikation diente als Grundlage für den vorliegenden Beitrag, der dem Aufspüren der Europadiskurse spanischer Intellektueller im Vorfeld und während der Transición gewidmet ist. Identitätsstiftung und die Rolle der spanischen Intellektuellen Seit dem Ende der Diktatur Francos und der daraus resultierenden langsamen Öffnung Spaniens nach außen stand das Land vor einer großen Herausforderung. Es musste sich nicht nur mit einer neuen politischen Ordnung auseinandersetzen, sondern gleichzeitig jahrhundertealte Wesensmerkmale abstreifen und die Suche nach einer neuen Identität beginnen. 64 Der Schriftsteller Juan Goytisolo schrieb 1979 dazu: „Wir Spanier haben unsere jahrhundertealte Identität aufgegeben, ohne uns bisher eine neue, klar umrissene Persönlichkeit zu formen“. 65 Das gesellschaftliche und kulturelle Leben in Spanien nach dem Ende der Diktatur war dadurch geprägt, dass die bis dahin geführte Lebensweise und die vertrauten Werte hinterfragt wurden. Die Intellektuellen begaben sich auf die Suche nach einer Identität, die den neuen Herausforderungen, auch der Annäherung 64 65

Vgl. Frey 1988: 19. Zit. nach Frey 1988: 19.

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V. Spanische Blicke auf Europa während des Integrationsprozesses

an die Europäische Gemeinschaft, Rechnung tragen konnte. Wie weitere Beiträge in diesem Band zeigten, waren die Europa-Diskurse in Spanien von Unsicherheit und Minderwertigkeitsgefühlen geprägt. Spanien sei in Bereichen wie der Technik, der Wissenschaft, der Kunst und vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet rückständig. Das Bewusstsein einer Andersartigkeit, der Rückständigkeit oder der Isolation beeinflussten nun auch die Diskussionen über das zukünftige Verhältnis Spaniens zu den anderen Nationen Europas, die während der Transición in der spanischen Öffentlichkeit ausgetragen wurden. 66 Die Tatsache, dass Spaniens Beitrittsgesuch nicht bei allen EG-Mitgliedsstaaten Begeisterungsstürme auslöste, wurde auch in den intellektuellen Kreisen der spanischen Gesellschaft diskutiert. Die Erwartungshaltung und Hoffnung, aus Spanien wieder ein Land zu machen, welches internationales Ansehen genießt und von der restlichen Welt geachtet und geschätzt wird, aber auch die Ängste, aufgrund von politischem und wirtschaftlichem Nachholbedarf nicht angenommen zu werden, sollen deshalb im Folgenden einer genaueren Betrachtung unterzogen werden. Aus den obigen Ausführungen wird deutlich, wie groß das Bedürfnis nach Identitätsstiftung in der spanischen Bevölkerung war. Nicht nur der innenpolitische Transformationsprozess war von großer Bedeutung, sondern auch das Finden einer neuen Persönlichkeit, die es vermochte Spanien einen Platz in der EG und in der Welt zu sichern. Welche Rolle spielen aber nun die Intellektuellen bei dieser Suche nach einer neuen Identität? Inwiefern gelingt es ihnen das vermeintlich Unvereinbare zu einen: eine spanische und eine europäische Identität? Der Europa-Diskurs: Die Intellektuellen vor und während des Beitritts zur Europäischen Gemeinschaft Hoffnung und Erwartung vor den Beitrittsverhandlungen: Europa als Garant der Demokratie Schon während des Franquismus war Europa für die meisten regimekritischen Intellektuellen ein Lichtblick auf mehr politische Rechte und persönliche Freiheiten. Für sie war die politische und kulturelle Dimension des Beitritts zur Europäischen Gemeinschaft von größerer Bedeutung als die wirtschaftlichen Aspekte. Bis heute verbinden sie die Idee eines gemeinsamen Europas mit der Erwartung an eine Stärkung der Demokratie, Vermittlung von demokratischen Werten sowie der Rückkehr zur Normalität des politischen Lebens: 67 „Spanien wird sich in ein normales, demokratisches, weniger lateinisches, das heißt weniger leidenschaftliches, weniger gewalttätiges Land verwandeln. Es wird effektiver werden“. 68 66 67

Vgl. Frey 1988: 19. Vgl. Frey 1988: 72f.

2. Europa-Diskurse spanischer Intellektueller

137

Antonio Garrigues Walker vertritt in diesem Zitat die Meinung, dass Spanien mit dem EU-Beitritt ein demokratisches Land werden würde. Er sah den Beitritt allerdings nicht als ein notwendiges Muss, um die Erhaltung der Demokratie zu gewährleisten. Durch die Erfahrungen, die die Spanier seit dem Übergang von der Diktatur zur Demokratie gemacht hatten, sei der EG-Beitritt eher als günstige Rahmenbedingung zu verstehen, denn als conditio sine qua non für die „Sicherheit, dass ein diktatorisch-militärisches System nicht noch einmal kommt [...]“. 69 Die Frage, ob nur die Aufnahme in Europa Garant der Demokratie sein würde, gewann nach dem Putschversuch von Tejero im Februar 1981 neue Brisanz. Aber nicht nur die erwähnten ideellen Gründe, wie die Rückkehr zur politischen Normalität durch die Integration in europäische Gremien, ließen positive Äußerungen wie die von Antonio Garrigues Walker zu. Die spanischen Meinungsführer erhofften sich auch eine Modernisierung der Wirtschaft, eine Entwicklung der Agrarwirtschaft sowie eine Verbesserung des spanischen Bildungsniveaus. Sie erwarteten von der EG einen Beitrag zur Erneuerung des herrschenden Wertesystems, indem unter anderem in Bereichen, wie Armee, Polizei, Medien, Familie sowie der Kirche längst überfällige Reformen durchgeführt werden könnten. Sie waren der Meinung, dass diese Herausforderungen durch einen Betritt am effektivsten in die Tat umgesetzt werden würden. 70 Eine der wichtigsten Aufgaben, die es für die spanischen Meinungsführer zu lösen galt, war die Bekämpfung der Vorurteile, die Spanien anhafteten. Eine der meist verbreitetsten Vorstellungen war die, dass Spanien im Vergleich zu den anderen europäischen Staaten minderwertig sei. Die Spanier stellten sich selbst in eine Abseitsposition, welche durch Gefühle des Anders-Seins und der Unsicherheit über die eigene Identität noch gestärkt wurde. Dieses konfuse Selbstbild könnte sich aber nicht zuletzt auch deshalb so stark in den Köpfen der spanischen Bevölkerung manifestiert haben, weil nach Meinung der Intellektuellen ebenso das restliche Europa Spanien durch Klischees und Vorurteile präge 71 und nach dessen Ansichten Spanien „antiquiert und rückständig“ gewesen sei. 72 Die spanischen Meinungsführer in den intellektuellen Kreisen sprachen aber ihrer Bevölkerung einen „gewissen Hang zur Selbstinszenierung“ 73 nicht ab und hofften, dass mit 68 Garrigues, zit. nach Frey 1988: 94. Antonio Garrigues Walker war damals unter anderem Vorsitzender der liberalen Partei PDL. Ein Europa, wie er es sich vorstellte, berücksichtigte nicht, dass auch Drittstaaten wie damals Italien zur europäischen Familie gehörten. 69 Garrigues, zit. nach Frey 1988: 94. 70 Vgl. Frey 1988: 95. 71 Einige der in der Literatur vertretenen Bilder, die sich über die Jahrhunderte hinweg über die Spanier finden lassen, waren unter anderem der große Stolz oder ihre Frömmigkeit. Siehe dazu auch Briesemeister 1980: passim. 72 Vgl. Frey 1988: 77. 73 Frey 1988: 78.

138

V. Spanische Blicke auf Europa während des Integrationsprozesses

dem Beitritt zur EG die Chance bestehen könnte, durch gegenseitiges „Geben und Nehmen“ 74 eine lebendigere Beziehung gegenseitigen Interesses aufbauen zu können. Um es Spanien zu erleichtern, den rechtmäßigen Platz in der Gemeinschaft zu finden, müssen auch die übrigen europäischen Staaten ihre „[...] Fixierung auf das ‚typisch Spanische‘[...]“ 75 ablegen. Als eine gute Vorraussetzung, um dieses Problem zu lösen, wurde von spanischer Seite die Verbesserung des Kommunikationsaustausches auf kulturellem Gebiet gesehen. In diesem Zusammenhang kritisierten sie die mangelhafte Kulturförderung und die Schwerfälligkeit der Übermittlung, etwa des spanischen Films, nach außen oder auch das lange Warten eines ‚guten Buches‘ auf die Übersetzung in andere Sprachen und forderten zu diesem Zweck eine Verbesserung der Kommunikationswege. 76 Die meisten waren sich darüber einig, dass Spanien aus kultureller Sicht schon immer ein Teil Europas gewesen sei, auch in Zeiten der politischen Isolation. Der Geschichtsprofessor José Luis Abellán äußerte sich hierzu wie folgt: „Spanien hat europäische Wurzeln; die gemeinsamen Wurzeln Europas, die griechische Kultur, die lateinische Kultur und die christliche Kultur sind auch die Wurzeln der spanischen Kultur“. 77 Aus diesem Grund glaubten sie nicht, dass sich mit dem Beitritt auf kultureller Ebene etwas verändern würde, denn Spanien habe immer an einer europäischen Kultur teilgenommen. Die Ernüchterung während der Beitrittsverhandlungen: Europa als Wirtschaftsbund Wie bereits erwähnt begannen die offiziellen Beitrittsverhandlungen am 17. Juni 1979 und nach langen und zähen Verhandlungen wurde Spanien gemeinsam mit Portugal schließlich am 1. Januar 1986 Vollmitglied der EG. Die großen Hoffnungen und Erwartungen dagegen, welche die spanischen Intellektuellen im Vorfeld an diesen Prozess geknüpft hatten, konnten ihrer Meinung nach nicht erfüllt werden. Laut Freys Untersuchungsergebnissen äußerten sich fast alle Befragten kritisch, indem sie ihren Unmut über die langwierigen Verhandlungen und die Gewichtung der politischen Belange ausdrückten. Ihrer Meinung nach hätten es die politischen Rahmenbedingungen (demokratische Institutionen und eine stabile Demokratie) im Land durchaus zugelassen, einen Beitritt so schnell wie möglich zu lancieren. Aber durch das Vorranstellen wirtschaftlicher Interessen vor die politischen wurden sogar Zweifel laut, die das Interesse der EG gegenüber Spanien anzweifelten. 74 75 76 77

Zit. nach Frey 1988: 78. Zit. nach Frey 1988: 78. Vgl. Frey 1988: 79. Abellán, zit. nach Frey 1988: 74.

2. Europa-Diskurse spanischer Intellektueller

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In den intellektuellen Kreisen manifestierte sich die Meinung, dass die Gemeinschaft nun künstlich Probleme konstruierte, um von den eigentlichen Ängsten der Mitgliedstaaten, die sich im Laufe der Verhandlungen herausgebildet hatten, abzulenken. Den Mitgliedstaaten wurde nämlich bewusst, wie hoch die Kosten sein könnten, die sie wirtschaftlich für einen Beitritt Spaniens zu zahlen hätten und deshalb versuchten sie die wirtschaftlichen Herausforderungen, 78 denen sie sich zur damaligen Zeit gegenüber sahen, in die Verhandlungen einzubeziehen. 79 Der Wirtschaftsprofessor und Leiter der Stiftung für Fortschritt und Demokratie Ramón Tamames drückt seine Sichtweise der Dinge so aus: Das sind mehr Spitzfindigkeiten als Argumente. In Wahrheit fürchtet sich Frankreich [...] vor dem spanischen Agrarpotential, die Deutschen sind der Arbeitnehmerfreizügigkeit wegen zurückhaltend, [...] und Großbritannien macht sich Sorgen über einen weiteren industriellen Konkurrenten. 80

Es gab aber auch Gruppierungen unter den Meinungsführern, vorwiegend im europanahen Katalonien oder in den europäischen Institutionen selbst, die die obigen Kritiker zu einem realistischeren Urteil gegenüber der Einschätzung zum Beitrittsprozess aufforderten. Sie sollten sich doch von der Vorstellung verabschieden, „[...] dass Europa Spanien sofort nach dem Ende der Diktatur wie eine Mutter in die Arme schließen würde [...]“. 81 Denn die damalige Europäische Gemeinschaft war bekanntermaßen nur zum Zweck der Gründung eines gemeinsamen Binnenmarktes ins Leben gerufen worden. Deshalb konnte es nicht verwunderlich sein, dass die Mitgliedstaaten vorwiegend ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen verteidigten. Die Intellektuellen aus den peripheren Regionen Spaniens tendierten zu der Meinung, dass der lange Beitrittsprozess ausschließlich auf Probleme innerhalb der EG zurückzuführen war. Sie sahen die Verhandlungen in einen unglücklichen Zeitpunkt und schlechte Rahmenbedingungen eingebettet, wie zum Beispiel die Erweiterung der Gemeinschaft um Großbritannien oder die schon erwähnten wirtschaftlichen Probleme. 82 Den obigen Formen des Realitätsgewinns gegenüber einem Beitritt Spaniens zur EG, die sich vorwiegend durch Enttäuschung kennzeichnen lassen, standen allerdings auch fundamentalkritische Äußerungen gegenüber. Augustín García Calvo, Linguistik-Professor und Repräsentant einer verbliebenen anarchischen 78 Beispielsweise die zweite Ölkrise 1979, das sicherheitspolitische Problem des OstWest-Konfliktes oder auch das verstärkte Beharren auf nationalen Interessen erschwerte schon innerhalb der EG den Integrationsprozess. Siehe hierzu auch das Kapitel C.V.1. 79 Vgl. Frey 1988: 96. 80 Tamames, zit. nach Frey 1988: 97. 81 Benet, zit. nach Frey 1988: 101. 82 Vgl. Frey 1988: 100.

140

V. Spanische Blicke auf Europa während des Integrationsprozesses

Tradition, ging in seinen Ausführungen sogar soweit, dass er den spanischen EGBeitritt „[...] als Besiegelung der spanischen Normalisierung im negativen Sinne, als endgültigen Verlust des Spanien Eigenen [...].“ 83 begriff. García Calvo spricht hiermit eine der größten Ängste an, die in Spanien zu vernehmen waren, nämlich die Befürchtung, dass die Europäisierung gleichbedeutend sei mit Homogenisierung und Standardisierung des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. Damit einhergehend war außerdem die Furcht vor dem Verlust der eigenen Identität. Auch den zukünftigen Entwicklungen in der Gemeinschaft selbst begegneten einige Intellektuelle nun mit Misstrauen und Skepsis. Der baskische Rechtsprofessor José Recalde äußerte seine Befürchtungen, dass einige Mitgliedsstaaten die Mehrheitsregel, wonach die meisten Beschlüsse im Rat mit qualifizierter Mehrheit getroffen werden, gegen die kleineren und schwächeren Länder verwenden könnten; dieser Umstand würde für die Gemeinschaft einen „demokratischen Rückschritt“ 84 bedeuten. Die Erfindung einer neuen Identität – Drehscheibe zwischen Europa und Lateinamerika Je länger sich die Beitrittsverhandlungen hinzogen, um so lauter wurden Stimmen aus den intellektuellen Kreisen, die über etwaige Alternativen zur EG nachzudenken begannen. In einem waren sich jedoch alle einig: Ein Rückzug Spaniens in sich selbst dürfte auf keinen Fall passieren, denn die rasanten Entwicklungen in Wirtschaft, Technologie und im Kommunikationsbereich ermöglichten es keinem Land, welches auf der internationalen Bühne ‚ein Wörtchen mitreden‘ wollte, für sich allein zu stehen. 85 Aber auf welche Alternativen hätte Spanien zurückgreifen können, wären die Beitrittsverhandlungen gescheitert? Es sollten auf jeden Fall Staaten sein, die die „[...] gleichen Ziele, Interessen und Sorgen [...]“ haben. 86 Laut der Ergebnisse, die Frey durch seine Befragung erzielen konnte, wurden von einer kleinen Gruppe der Meinungsführer unter anderem die Länder Lateinamerikas und des Mittelmeerraumes als denkbare Partner genannt. 87 Vorherrschend war aber die Auffassung, dass es keine wirklichen Wahlmöglichkeiten zur EG gäbe. Gerade mit Blick auf die wirtschaftlichen Bereiche gewannen sie die Einsicht,

83

Calvo, zit. nach Frey 1988: 101. Recalde, zit. nach Frey 1988: 101. 85 Vgl. Frey 1988: 111. 86 Abellán, zit. nach Frey 2001: 111. 87 Wobei sich die meisten Intellektuellen darin einig waren, dass die Beziehungen zu Nordafrika nicht ausgeprägt genug seien, um eine ernstzunehmende Alternative darstellen zu können. Vgl. Frey 1988: 112. 84

2. Europa-Diskurse spanischer Intellektueller

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[...] dass der lateinamerikanische Markt schon von anderen, wirtschaftlich stärkeren Kräften besetzt sei, wie Deutschland, Frankreich oder auch den USA und man solle sich keine Illusionen darüber machen, dass Spanien seiner besonderen historischen Bindung wegen auf irgendwelche Standortvorteile zurückgreifen könne. 88

Aus rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten heraus sahen die spanischen Intellektuellen in der Intensivierung dieser Beziehungen keine Alternative zu einem EG-Beitritt. Auf kultureller sowie historischer Ebene dagegen sahen sie Lateinamerika als Teil ihres „kulturellen Seins, als Teil ihrer Seele“. 89 Sie ließen keine Zweifel darüber aufkommen, dass neben kulturellen Wurzeln in Europa auch Gemeinsamkeiten auf dem amerikanischen Kontinent zu finden seien. Schon allein die gemeinsame Sprache trage dazu bei, dass sich der Spanier, der nach Lateinamerika reise, wie „zu Hause fühlt“. 90 José Maria de Areilza, der unter anderem erster Außenminister nach Francos Tod und zwischen 1981 und 1983 Präsident des Europarates war, gab seine Eindrücke dieses Kontinents folgendermaßen wieder: „Du kennst das, was sich dort ereignet: Das sind unser Lebensstil, unsere Literatur, unsere Lebensmittel und Eßgewohnheiten, es ist unsere Art und Weise, Kontakt zu schließen“. 91 Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass die spanischen Intellektuellen bei der Suche nach einer neuen Identität im Zuge des EG-Beitritts die Besonderheit Spaniens in seinen privilegierten Beziehungen zu Lateinamerika sahen. Die Gefühle gegenüber diesen Ländern sind nach Meinung Freys „vom Gefühl einer tiefen Verbundenheit und vom Bewusstsein geprägt, in einer lebendigen kulturellen Gemeinschaft zu stehen“. 92 Zusammenfassend für diesen Abschnitt kann gesagt werden, dass Lateinamerika zwar nicht als Alternative zu Europa, wohl aber als zusätzlicher Bezugspunkt zur Bestimmung einer neuen Persönlichkeit gesehen wurde. Nach Meinung der spanischen Intellektuellen sollte es demnach auch nach einem EG-Beitritt außer Frage stehen, die Beziehungen ‚über den großen Teich‘ aufrecht zu erhalten und – wenn möglich – sogar noch zu intensivieren. 93 Diese Ansichten wurden auch von der EG begrüßt, da sie, wie schon im vorangegangenen Kapitel erwähnt, durchaus daran interessiert war, mit Spanien eine Brücke zu den lateinamerikanischen Ländern zu schlagen.

88 89 90 91 92 93

Vgl. Frey 1988: 112. Zit. nach Frey 1988: 80. Zit. nach Frey 1988: 80. Areilza, zit. nach Frey 1988: 80. Vgl. Frey 1988: 81. Vgl. Frey 1988: 82.

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V. Spanische Blicke auf Europa während des Integrationsprozesses

Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass das Selbstverständnis der doppelten Identität bis heute seine Gültigkeit nicht verloren hat. Carlos Westendorp, sozialistischer spanischer Außenminister von 1995 bis 1996, sagte zu den politischen Beziehungen der lateinamerikanischen Länder mit Spanien und der Europäischen Union (EU): Ausgehend von der Europäischen Union haben wir eine stärkere Präsenz und einen größeren Einfluss in Lateinamerika. Und dank unserer iberoamerikanischen Dimension haben wir auch mehr Gewicht in Brüssel. 94

Auch die seit Mitte der 1990er Jahre regelmäßig geführten Lateinamerikagipfel zwischen den lateinamerikanischen Ländern und der EU tragen dazu bei, dass die Beziehungen gepflegt und ausgebaut werden können. 95 * Das Anliegen dieses Kapitels war es herauszustellen, wie die intellektuellen Kreise Spaniens mit der Herausforderung einer Annäherung an das restliche Europa nach der franquistischen Diktatur umzugehen versuchten. Nicht nur der Demokratisierungsprozess im eigenen Land und eine damit einhergehende Neudefinierung der eigenen Identität mussten bewältigt werden, sondern auch die außenpolitische Neubestimmung Spaniens hatte eine nicht geringe Bedeutung. Es galt alte Vorurteile und Ängste abzubauen und Spanien in die Staatengemeinschaft Europas einzugliedern. Dies sollte durch den Beitritt in die EG erreicht werden. Nach der anfänglichen Euphorie, die sich in den Kreisen der spanischen Intellektuellen manifestiert hatte und den daraus resultierenden Hoffnungen und Erwartungen an einen Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft, geht aus den obigen Ausführungen deutlich hervor, dass sich mit der Dauer der Beitrittsverhandlungen eine realistischere Haltung durchsetzte. Zwar wurde die Notwendigkeit, sich in Europa zu integrieren nie in Frage gestellt, aber der anfänglichen Begeisterung musste schnell ein gewachsenes Misstrauen gegenüber der europäischen Grundhaltung zu Spanien Platz machen. Die Spanier sahen sich mit einem Europa konfrontiert, welches ihrer Meinung nach zu sehr durch egoistische Attribute und Klischees gegenüber Spanien geprägt war. Diese Vorurteile und Ängste wirkten sich auch erschwerend auf die Beitrittsverhandlungen aus. Um diese Probleme lösen zu können und es den Spaniern zu ermöglichen, die Isolation, ihre Minderwertigkeitskomplexe und angebliche Rückständigkeit zu überwinden, musste Europa nach Ansicht der Meinungsführer anfangen sich für das Land zu interessieren und die Klischees und Vorurteile abzulegen. Denn nur 94

Zit. nach Däumer u. a. 2007: 57. Der jüngste Lateinamerika-Gipfel fand vom 16.-17. Mai 2008 in Lima, Peru statt. Er beschäftigte sich unter anderem mit dem Ziel, die Beziehungen zwischen der EU und Lateinamerika auszubauen. Siehe hierzu auch: Weiß 2008: 1. 95

3. Der Blick von außen

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so könnte es dem Land wertvolle Impulse geben, eine neue europäische Identität aufzubauen. Allerdings soll die Analyse des Europa-Diskurses spanischer Intellektueller nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Thema im Vergleich mit anderen politischen Interessen nicht an erster Stelle stand. Innenpolitischen Themen, wie der Bedrohung der Demokratie durch den Terrorismus oder auch regionalen Problemen, zum Beispiel der Weiterentwicklung der regionalen Selbstverwaltung, wurde ein höherer Stellenwert eingeräumt. 96 Dagegen maßen die Meinungsführer dem spanischen Verbleib in internationalen Organisationen wie der NATO eine geringere Bedeutung bei als der europäischen Integration. Dieser Hierarchisierung der politisch relevanten Themen kann also klar entnommen werden, dass die Europäische Gemeinschaft zwar nicht die oberste Priorität bei den spanischen Intellektuellen genoss, sie aber außenpolitisch durchaus „eine der wichtigsten Prioritäten dieses Landes“ war. 97

3. Der Blick von außen: Spanien und Europa in Juan Goytisolos Spanien und die Spanier Von Gordana Martinovi´c Noch im französischen Exil reflektierte der angesehene spanische Autor Juan Goytisolo das Verhältnis Spaniens zu Europa. In seiner 1969 in Deutschland erschienenen, aber bis 1976 in Spanien verbotenen Essaysammlung España y los españoles (dt.: Spanien und die Spanier), 98 sucht er in der spanischen Geschichte die Gründe für die damalige Abkehr Spaniens von Europa. Kurz vor der politischen Öffnung, die mit der Transición nach Spanien kam, diagnostiziert Goytisolo dem Land Spanien die Unfähigkeit, europäisch zu werden. Doch liegt dieser Diagnose keine fatalistische Abfindung mit der Isolation zugrunde. Eher bekommen Goytisolos Ausführungen den Charakter eines Ansporns an die spanische Gesellschaft, aus ihrer franquistischen Lethargie zu treten und den Weg nach Europa zu finden. Zur Person Juan Goytisolos Der Journalist und Schriftsteller Juan Goytisolo wurde am 5. Januar 1931 in Barcelona geboren. Nach der Schulausbildung begann er ein Jurastudium, das er jedoch 1953 abbrach. Er unternahm mehrere Reisen nach Paris, Kuba, Nordafrika 96 97 98

Vgl. Frey 1988: 89ff. Hermida, zit. nach Frey 1988: 90. 1979 wurde das spanische Original veröffentlicht.

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V. Spanische Blicke auf Europa während des Integrationsprozesses

und in den Nahen Osten. Ein Jahr später veröffentlichte er den Roman Juegos de manos (dt.: Falschspieler), auf den zahlreiche weitere Romane folgten, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Goytisolos Hauptwerk ist eine von Américo Castros Geschichtsbild beeinflusste Romantrilogie, bestehend aus den Romanen Señas de Identidad, 1966 (dt.: Identitätszeichen), Reivindicación del Conde don Julián, 1970 (dt.: Rückforderung des Conde Don Julián) und Juan sin Tierra, 1975 (dt.: Johann ohne Land), auf das er sich häufig in seinen Schriften bezieht. Seine Werke machten ihn zu einem der bedeutendsten spanischen Romanciers seiner Generation. Aufgrund seiner antifranquistischen Haltung ging er 1957 ins selbst gewählte Exil nach Paris, wo er eine Lektoratstätigkeit bei Gallimard aufnahm. Er setzte sich für die Verbreitung der spanischen Literatur in Frankreich ein. Ein Hauptmotiv seiner Romane ist die Sozialkritik und die Kritik am traditionellen Spanienbild. Mit der Gastarbeiterproblematik ausgewanderter Spanier, dem Wandel der spanischen Mentalität durch Touristenströme und der Amerikanisierung Spaniens hat er sich besonders intensiv und kritisch auseinandergesetzt. Seine Veröffentlichungen wurden unter der Franco-Diktatur von 1963 bis 1975 verboten. 99 Von 1969 bis 1975 hatte er Dozentenstellen bzw. Gastprofessuren für Literatur an den Universitäten La Jolla / Kalifornien, Boston und New York inne. Gegenwärtig lebt Juan Goytisolo abwechselnd in Frankreich und Marokko. Durch die Aufenthalte im Ausland lernte er, Spanien mit einem fremden Blick wahrzunehmen. Goytisolos kritische Sicht auf Ereignisse sowohl in seinen literarischen als auch in seinen journalistischen Werken wurde mit vielen internationalen Preisen ausgezeichnet, so erhielt er z. B. 1993 den Nelly-Sachs-Preis. Für sein Gesamtwerk wurde er 1985 mit dem Prix Europalia der Europäischen Gemeinschaft geehrt. 100 Sein Werk Spanien und die Spanier erschien in deutscher Übersetzung 1982 im Suhrkamp Verlag. Die Spanier und Europa in den Schriften von Juan Goytisolo Als Romancier, Erzähler und Essayist versucht Goytisolo mit seinem eigenen Blick über die spanischen Grenzen hinaus die kulturellen und gesellschaftspolitischen Beziehungen zwischen Spanien und Europa zu analysieren. Es erscheint ihm notwendig aufzuklären, wie Europa Spanien sieht, die spanischen Landesbewohner selbst zu Europa Stellung beziehen und worauf diese gegenseitigen Wahrnehmungen zurückzuführen sind. Mit einem Blick in die Geschichte zeichnet Goytisolo die Ursachen und die Auswirkungen jahrzehntelanger Isolation Spaniens von Europa in seinem Buch Spanien und die Spanier eindrucksvoll nach. 99 100

Vgl. Instituto Cervantes Berlin 2005. Vgl. Suhrkamp Insel 2008, Instituto Cervantes Berlin 2005.

3. Der Blick von außen

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Dabei legt er den Fokus auf die aus der Isolation resultierenden Denkblockaden, indem er die geschichtlichen Hintergründe in der Zeit vom 15. bis 19. Jahrhundert zusammenfassend skizziert. Den Versuch, die spanischen Regionen, die nicht unterschiedlicher sein könnten, in ökonomischer, sozialer und kultureller Hinsicht gleichzustellen, vermeidet Goytisolo, da es aus seiner Sicht nach der Absicht gleichkomme „die Wirklichkeit der Methodik zu opfern“. 101 Daher beschränkt er sich in der Analyse auf die Region Kastilien, die auf entscheidende Weise die übrigen Regionen beeinflusste. Das lag in den Werten der kastilischen Gesellschaft begründet, die von der Gesamtheit der Spanier verinnerlicht worden sind. Dieser Einfluss sei erst im 19. Jahrhundert mit den Autonomiebestrebungen der einzelnen Regionen unterbrochen worden. 102 Isolation und Separatismus Die Ursache für die kulturelle Rückständigkeit Spaniens gegenüber anderen europäischen Ländern sieht Goytisolo im spanischen Desinteresse an fremden Kulturen, 103 das in Spanien festzustellen sei. Die Wurzeln für die Apathie und Gleichgültigkeit gegenüber anderen Kulturen liege in der geschichtlichen Vergangenheit begründet, die dazu geführt habe, dass die Ehrenfrage stets über das ökonomische Denken vorherrschte. Die Ehre und der Stolz der Spanier gründeten sich im 16. Jahrhundert und darüber hinaus unter dem Banner des Christentums auf der Idee einer eindeutig belegbaren Herkunft, die eine Vermischung mit anderen Glaubens- und Volksgruppen untersagte. Solch eine Haltung habe eine Landesvertreibung der Juden und Mauren hervorgerufen, die jedoch die intellektuellen und handwerklichen Disziplinen Spaniens im 15. Jahrhundert grundlegend prägten. Um die eigene Integrität nicht in Frage zu stellen oder zu verändern, wurden die ökonomischen und intellektuellen Aktivitäten als gemein und entehrend dargestellt bzw. aufgefasst. Diese oblagen ausschließlich Angehörigen ethnisch und religiös als minderwertig betrachteter Gruppen, woraus die Motivation zur Eliminierung ‚andersartiger Elemente‘ hervorging. 104 Derartige Wertkriterien und die Abstammungsfrage der spanischen Bevölkerung erklären, so Goytisolo, die kargen Beiträge zur ‚modernen‘ Wissenschaft und Technik sowie die weitestgehend literarische und künstlerische Entwicklung. 105 Das sei soweit gegangen, dass weder wissenschaftliche noch kaufmännische Betätigungen ausgeübt und sämtliche Bücher bedeutender Schriftsteller verbannt wurden, sofern sie den Vorstellungen des Nationalkatholizismus nicht entsprachen. Im Besonderen wurden 101 102 103 104 105

Goytisolo 1982 [1969]: 21. Vgl. Goytisolo 1982 [1969]: 21. Vgl. Goytisolo 2004: 13. Vgl. Goytisolo 1982 [1969]: 26ff. Vgl. Goytisolo 1982 [1969]: 36ff.

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V. Spanische Blicke auf Europa während des Integrationsprozesses

Werke spanischer Autoren mit jüdischer oder arabischer Herkunft ausnahmslos vernichtet. Darüber hinaus wurde die intellektuelle Neugier der Spanier geahndet sowie die Einfuhr von Büchern mit Verboten belegt. 106 Die Ursache für das Behindern des humanistischen Denkens liegt nach Goytisolo im traditionellen und schalen Formalismus der Katholiken begründet. Jegliche Unternehmungen, Wissenschaften zu studieren, sie sich anzueignen oder gar zu verbreiten wurden durch den Katholizismus verfolgt. Das hatte eine Emigration oder Verstummung der jüdischen Intellektuellen zur Folge, so dass die Armut und das Analphabetentum jeder Tätigkeit vorgezogen wurden und die wirtschaftlichen sowie geistig-intellektuellen Aktivitäten verarmten. 107 Das Siechtum in Armut, Aberglauben und Unwissenheit sei Bestandteil des spanischen Alltags gewesen: „Während Europa allmählich die Denkstrukturen des Mittelalters aufgibt, verschanzt sich Spanien in ihnen und widersteht dem ‚jüdischen‘ Geschäftsgeist mit hochmütigem und einsamem Trotz“. 108 Die Landflucht sowie die kostspieligen und nutzlosen Kriege begünstigten den ökonomischen Ruin. Auch die Aufklärungsversuche einer ‚aufgeklärten‘ Minderheit, wie Feijóo und Jovellanos, Cadalso y Vásquez und Campomanes, vermochten das Land nicht aus seinem Lähmungsprozess herauszureißen, um ihm den Anschluss zu den übrigen europäischen Nationen zu ermöglichen. 109 Während der europäische Entwicklungsvorsprung immer größer wurde, verharrte Spanien in seiner traditionalistischen Denkweise und kämpfte gegen die liberalen Strömungen. Neue Impulse konnten nur noch von außen kommen. 110 Ein staatsunabhängiger und unternehmerischer Mittelstand, der maßgeblich den Fortschritt hätte vorantreiben können, wie in Europa, konnte sich aufgrund des politischen Systems nicht herausbilden. Daher fehlte auch jegliches Verständnis für die Antriebskräfte der Ökonomie. Das Phänomen der Haltung ‚Nur nichts Neues‘ sieht Américo Castro, ein antikonformistischer Historiker, auf den sich Goytisolo bezieht, in der wirtschaftlichen Rückständigkeit, der Schwäche und Schüchternheit der bürgerlichen Klasse Spaniens begründet. Die desolate ökonomische Lage als Resultat dieser Haltung, welche die Menschen zu sich selbst, zu ihrer Umwelt und zu den göttlichen Mächten eingenommen hatten, sollte dabei nicht außer Acht gelassen werden. 111 Daraus entwickelte sich ein allgemeines 106

Vgl. Goytisolo 1982 [1969]: 95ff. Auf die Verarmung der Iberischen Halbinsel aufgrund der Verbannung der jüdischen und arabischen Gemeinschaften hatte bereits Antero de Quental Ende des 19. Jahrhundert hingewiesen, indem er darin eine der Ursachen für die Dekadenz der iberischen Völker sah. Siehe hierzu Kapitel I-2.2. dieses Buches. 108 Goytisolo 1982 [1969]: 51. 109 Vgl. Goytisolo 1982 [1969]: 86ff. 110 Vgl. Goytisolo 1982 [1969]: 125ff. 111 Vgl. Goytisolo 1982 [1969]: 148. 107

3. Der Blick von außen

147

Misstrauen, das Goytisolo als eine kennzeichnende spanische Eigenart charakterisiert. Dabei sei es unerheblich, ob es sich um Personen oder Dinge von anderen Orten der Halbinsel handele oder aus der eigenen Provinz selbst. Es werde allem mit Skepsis begegnet, was nicht aus der engeren Heimat stamme. 112 Bereits Américo Castro verwies darauf, dass eine Beeinflussung durch die europäische Lebensweise im 19. Jahrhundert nur äußerlich und oberflächlich stattfinden konnte und man so nicht von einem ‚reaktionären‘ und ‚fortschrittlichen‘ Spanien sprechen könne. Denn ‚Reaktion‘, formuliert Castro, würde im spanischen Kontext das Festhalten an veralteten Bräuchen bedeuten; und als ‚Fortschritt‘ benennt er Ideen und Kulturformen, die aus dem Ausland eingeführt worden sind. In der Vergegenwärtigung der Tatsache eines Kulturimports, so gibt Goytisolo Castro wieder, verflüchtigt sich auch das Bild von einem zweifachen Spanien. Wenn das Einführen von Neuem ‚Überlagerung‘ und nicht ‚Befruchtung‘ bedeute, so verändere sich der Zustand, die Ausrichtung und Aktivität eines Volkes im Wesentlichen nicht. Durch die ‚Aufpfropfung‘ entstehe der Eindruck, dass Spanien schon beinahe ein europäisches Land wie die übrigen sei. Da aber keine ‚Befruchtung‘ stattfand, haben sich auch nicht die geistigen Gewohnheiten geändert, so dass fast alles importiert wurde: Philosophie, Wissenschaft, Technik, Politik, Literatur. 113 Trotzdem gab es in den Jahren zwischen 1875 und 1898 eine Reihe von Strukturveränderungen. Eine beschleunigte kapitalistische Entwicklung erlebten nach Katalonien die baskischen Provinzen, und es entstand die erste Schwerindustrie. 114 Diese Entwicklung geschah auf Kosten der Ausbeutung der Naturschätze und der Arbeitskraft der Spanier, was aber erst einmal nicht ins Bewusstsein der Bevölkerung drang. Der so genannte homo hispanicus lebte – noch länger als ein halbes Jahrhundert – überwiegend ohne Verständnis für die Arbeitskraft des modernen homo oeconomicus und im Widerstand zu ihm. 115 Spanischer Individualismus Goytisolo analysiert in Anlehnung an Américo Castro den Gebrauch des Begriffs ‚spanischer Individualismus‘, der die vermeintlich spanischen Verhaltensweisen erklärt. Die Verwendung des Begriffs Individualismus in Bezug auf die Spanier wird gemeinhin nicht unter dem künstlerischen und schöpferischen Aspekt betrachtet. Im Gegenteil: Der Begriff erhält im Kontext der nationalen Herkunft eine andere Bedeutung. So werde beispielsweise bei einem individualistischen 112

Vgl. Goytisolo 1982 [1969]: 144. Vgl. Goytisolo 1982 [1969]: 149f. 114 Die durchgeführten Reformmaßnahmen hatten nach Berneckers Interpretation sowohl eine soziale als auch eine ideologische Polarisierung im Land zur Folge. Dabei standen sich das ‚traditionelle‘ und ‚moderne‘ Modell unversöhnlich gegenüber (vgl. Bernecker 2004: 7). 115 Vgl. Goytisolo 1982 [1969]: 159. 113

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V. Spanische Blicke auf Europa während des Integrationsprozesses

Briten der Einsatz für den freien Wettbewerb, freien Wechsel des Arbeitsplatzes und für die Arbeitsteilung verstanden. Dagegen denke man beim Spanier eher an sein Aufbegehren gegen jegliche Norm, welches nicht in der Intention begründet liege, einer anderen Norm zum Sieg zu verhelfen. Goytisolo resümiert, dass der eigentliche Kern des spanischen Individualismus in der Absonderung und Zurückgezogenheit begründet liege. Eine Zurückhaltung gegenüber der res publica, die jahrhundertelang als etwas Fremdes angesehen wurde, sowie gegenüber materiellen Unternehmungen, in die man die eigene Persönlichkeit nicht einzubringen in der Lage sei. 116 Durch das massive Eindringen der Wertvorstellungen moderner Industriegesellschaften erfolge eine langsame Veränderung der spanischen Mentalität. Dies könne nach Goytisolo die zukünftige Grundlage für ein effektives und dynamisches Zusammenleben in Europa bilden, indem der charakteristische spanische Individualismus die Chance erhalte, in einer Gemeinschaft seinen Platz zu finden. Seiner Ansicht nach ergibt sich durch die Subsumption unter die ökonomischen Gesetze der modernen Welt, ohne geistige Einschränkung, zwangsläufig eine Veränderung der Eigenart des spanischen Individualismus. So könne aus der Jahrhunderte langen Introvertiertheit, der Absonderung und Isolation ein neuer, funktioneller, extrovertierter, schöpferischer Individualismus entstehen. 117 Doch bei allen individualistischen Bestrebungen sollte der Aspekt der spanischen Identität in der Umorientierung zu Europa hin nicht vernachlässigt werden. Denn eine Adaption der europäischen Manier birgt in sich die Gefahr, dass sie oft nur äußerlich und oberflächlich vonstatten gehe und in einer Karikatur ende, d. h. das Verhalten verliere an Authentizität und würde in einer Kopie enden. Der Aspekt der Identitätswahrung im europäischen Kontext wird daher von Goytisolo kritisch analysiert. Die Identitätswahrung im europäischen Kontext Nach Goytisolos Darstellung erfuhr die spanische Mentalität in den 1980er Jahren doch noch eine tiefe Metamorphose. Die Augen wurden der spanischen Bevölkerung durch die Begegnung mit Europa in Form von Millionen spanischer Arbeiter im Ausland und durch den Tourismus innerhalb der eigenen Grenzen geöffnet. 118 Unter dem nahezu vierzig Jahre währenden Franco-Regime habe das Volk dagegen in einem Zustand der Unverantwortlichkeit und der Ohnmacht gelebt. Das Problem, welches Goytisolo deshalb in jedem einzelnen Spanier sieht, ist das Fehlen eigenverantwortlichen Denkens und Handelns, unabhängig von der politischen Lage. Dies musste nach und nach wieder erlernt werden, d. h. ohne Furcht zu lesen und zu schreiben, völlig frei zu sprechen oder auch ohne Angst 116 117 118

Vgl. Goytisolo 1982 [1969]: 160ff. Vgl. Goytisolo 1982 [1969]: 171f. Vgl. Goytisolo 1982 [1969]: 258f.

3. Der Blick von außen

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nur zuzuhören. Mit dem Ende des Franco-Regimes vollzog sich eine Richtungsänderung hin zu Europa, die aber eine Verdrängung der historischen Geschehnisse nach sich zog, statt – so Goytisolos Kritik – das erlittene Trauma zu verarbeiten. 119 Diese Entwicklung hatte zur Folge, dass das Neue auf das Alte gesetzt wurde, ohne auf den Zusammenhang und das Gleichgewicht zu achten. Es erfolgte ein jäher Umsturz aller Gepflogenheiten, aller Denkgewohnheiten statt einer wachsenden Evolution. Goytisolos Ansicht nach sind die Spanier eifrig bemüht im Moralischen wie im Ökonomischen, alles zu verbrennen, was hinter ihnen liegt, ohne zu erwägen, dass weder die Bauwerke noch die Sitten über Nacht geändert werden können. Die Spanier hätten ihre Jahrhunderte alte Identität im Zuge der Modernisierung und Europäisierung abgelegt, ohne eine neue Persönlichkeit konzipiert zu haben. 120 Nein, Spanien ist noch nicht Europa, aber es ist im Begriff, es zu werden, und es hat – sei es zum Guten oder zum Schlechten – die Taue gekappt, die es an das alte, verschlafene Spanien fesselten. 121

Das Kernproblem in der Zeit von 1936 bis 1939 war die Schwierigkeit, die wachsende Macht der regional-nationalistischen Bewegungen im Baskenland und vor allem in Katalonien mit dem Zentralismus in Einklang zu bringen. In Katalonien erwachte ein Nationalgefühl infolge einer immer schärfer werdenden Andersartigkeit der katalanischen Sozialstruktur: aktives Bürgertum mit einem hinreichend gut situierten Mittelstand, Schutzzollsystem, politische Freiheit und Ausweitung der Kaufkraft im Vergleich zum übrigen Spanien. Dort herrschten die alten Lebensweisen, wie der Ackerbau, der vorrangig dem Lebensunterhalt diente im Gegensatz zur Karriere bei der Armee oder Kirche, um Rang und Ansehen zu erwerben. Goytisolo beschreibt zwei Strömungen innerhalb des Landes, die sich bemerkbar machten, indem sich zweierlei Normvorstellungen herausbildeten: Der Kastilier attribuierte den Katalanen Verschlossenheit, Habgier und mangelnde Würde; der Katalane charakterisierte den Kastilier als faul und stolz. Ein unüberwindliches Misstrauen wurde durch den zweifachen Minderwertigkeitskomplex – politischer Art beim Katalanen, wirtschaftlicher Art beim Kastilier – hervorgerufen. 122 Dennoch wurde die katalanische Frage für die verschiedenen Oppositionsgruppen in der Zweiten Republik (Monarchisten, Militär, Kirche, Bürokratie und Kleinbürgertum der nichtindustriellen Gebiete) zum verbindenden Element, die sich gegen die neue Staatsmacht stellten und von 1932 an offen gegen sie agierten. Bedauerlicherweise habe sich das Bürgertum in Spanien als unfähig erwiesen, Korrekturfunktionen auszuüben, weil es im Gegensatz zu 119 Bernecker kommentierte dieses Phänomen nicht nur mit einer Verdrängung, sondern auch mit einer Neukonstruktion der Vergangenheit. Vgl. Bernecker 2004: 11. 120 Vgl. Kapitel C.V.2. dieses Bandes und Goytisolo 1982 [1969]: 262ff. 121 Goytisolo 1982 [1969]: 268. 122 Vgl. Goytisolo 1982 [1969]: 204ff.

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V. Spanische Blicke auf Europa während des Integrationsprozesses

dem französischen Bürgertum sich seiner selbst nicht bewusst gewesen sei und für sich selbst nicht die Verantwortung übernehmen konnte. Ein fortwährender Interessenstreit zwischen den Großgrundbesitzern sowie der Madrider Bürokratie und Administration einerseits und dem fortschrittlichen Bürgertum Kataloniens und des Baskenlandes andererseits war Bestandteil der spanischen Geschichte in den letzten hundert Jahren. 123 Spanien und Europa heute Nach Goytisolos Analyse lassen sich verschiedene Ursachen für die Rückständigkeit und somit den verspäteten Anschluss Spaniens an Europa zusammenfassen. Der Ursprung für die Isolation und den Separatismus sei im fehlenden Interesse an fremden Kulturen zu suchen, das durch den Nationalkatholizimus zusätzlich unterstützt worden sei. Daher seien Weiterentwicklungen im humanistischen Denken sowie der Fortschritt im ökonomischen und wissenschaftlichen Bereich unterblieben. Ferner sei die Ausbildung eines staatsunabhängigen, unternehmerischen Mittelstandes ähnlich dem europäischen durch opportune politische Interessen beeinträchtigt worden. 124 Die unterschiedliche Konnotation des Begriffs ‚spanischer Individualismus‘ führte außerdem zu einer konträren Darstellung und Haltung gegenüber der spanischen Bevölkerung. Während der europäische Individualismus für Fortschritt, Offenheit und Neugier stand, wurde der spanische Individualismus als rebellisch, aufsässig bzw. borniert betrachtet. Die Unterschiede zwischen Spanien und den übrigen Nationen Europas wurden zusätzlich durch die Presse genährt und als unaufhebbar unterstrichen. 125 Ausländische Interpretationen unterstützten das verzerrte Spanienbild. 126 Erst die Touristenströme und die Öffnung der Grenzen 1960 hatten die Annahme von Werten der modernen Industriegesellschaft bei der großen Mehrheit der Spanier bewirkt, wodurch sich die spanische Mentalität erst veränderte. 127 Den Wandel sieht Goytisolo nicht ohne Widersprüche und Schrecken, denn die daraus entstandenen Konsequenzen wie schwindende Improvisation, Tendenz zur Nachahmung, Mangel an Authentizität hätten sich in allen Bereichen des spanischen Lebens gezeigt. Dies habe dazu geführt, dass die Identität im europäischen Kontext nicht mehr gewahrt wurde. Die Spanier ahm123 Vgl. Goytisolo 1982 [1969]: 204ff. Bernecker zufolge werde die Uneinigkeit innerhalb des Landes auch heute noch durch die verschiedenen Entwicklungsströme von Katalanen, Basken oder Galiciern zusätzlich erschwert. Dieses Phänomen zeige sich auch in den differierenden Geschichtsbildern der autonomen Gemeinschaften, die in sich die Gefahr bergen, eine Basis für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu ermöglichen, sofern das gemeinsam Verbindende annulliert und das Trennende glorifiziert werde. Vgl. Bernecker 2004: 14f. 124 Vgl. Kapitel C.V. dieses Bandes. 125 Vgl. Kapitel C.VI. dieses Bandes und Goytisolo 1982 [1969]: 239. 126 Vgl. Goytisolo 1982 [1969]. 127 Vgl. Goytisolo 1982 [1969]: 257.

3. Der Blick von außen

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ten die Europäer nach, ohne die Ressourcen der notwendigen Erfahrungen eines entsprechenden sozialen Trainings zu haben. 128 Der Aspekt, dass die Einigung Europas als eine Garantie für Beständigkeit erschien bzw. ein Mittel zur Absicherung der bestehenden Ordnung darstellte, 129 rief somit die Motivation Spaniens zur Orientierung nach Europa hin hervor. Goytisolos Werk Spanien und die Spanier stellt daher den Beleg für die Suche Spaniens nach einer europäischen Identität dar, wobei die Europäisierung als diskrepant erscheint: Einerseits verspricht sie die langersehnte Freiheit, wissenschaftliche Entwicklungen, Individualisierung und den Fortschritt, andererseits bedeutete sie den Verlust der eigenen Identität. Soweit die Gedanken Goytisolos zu Europa in seinem Werk Spanien und die Spanier vor der Eingliederung Spaniens in Europa. Inzwischen hat sich Spanien an Europa angenähert, integriert und ist ein vollwertiges Mitglied der EU. Auch Goytisolos differenzierte und besorgte Sichtweise hat sich geändert: Sie konzentriert sich nun auf das Verhältnis Europas zur übrigen Welt. Goytisolo betrachtet Europa aus einer anderen Perspektive, dennoch lassen sich Parallelen zu seinem Werk Spanien und die Spanier erkennen. In seiner neueren Schrift Gläserne Grenzen (2004) lehnt Goytisolo Europa als Maßstab allen Handelns und Denkens ab. Dabei erkennt er die Universalität und Vormachtstellung Europas auf industriellem, technologischem und naturwissenschaftlichem Gebiet an, beklagt jedoch dessen Haltung und die eurozentristische Sichtweise, die sich über die außereuropäischen Staaten hebt. Er prangert das triumphierende Europa des 19. Jahrhunderts an, das sich legitimiert fühle, den gesamten Planeten zu unterwerfen. Das Gefühl der Dominanz verleite Europa dazu, sich als Erbe und Sachverwalter aller früheren Zivilisationen zu sehen. Goytisolo sieht die Problematik, dass sich Europa aufgrund seines Bewusstseins auf dem Gebiet der wissenschaftlichen und technologischen Errungenschaften dazu veranlasst sehe, zu glauben, Gleiches gelte auch für seine kulturellen, ethnischen und sozialen Werte, die es exportieren und durchsetzen könnte. 130 Diese übergestülpten Werte jedoch führten oft zu einer Besonderheit, die im soziokulturellen Umfeld anderer Völker als eine neue Form erniedrigenden Kolonialismus wirke. Die heutige europäische Gemeinschaft sperre sich gegen das Zusammenleben mit den Anderen und ihren unterschiedlichen Gebräuchen, Glaubensvorstellungen und Gesetzen. Diese Haltung sei angesichts der Millionen von Einwanderern, die unter immer prekäreren Umständen auf ihrem Boden leben und arbeiten, 131 abzulehnen. Goytisolo kritisiert die feindliche Stimmung in Spanien gegenüber der Zuwanderung aus dem Maghreb und aus Schwarzafrika sowie der vorhandenen Zigeuner und kommentiert: 128 129 130 131

Vgl. Kapitel C.VI. dieses Bandes und Goytisolo 1982 [1969]: 262. Vgl. Hinterhäuser 1979: 348. Vgl. Goytisolo 2004: 18. Vgl. Goytisolo 2004: 19.

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V. Spanische Blicke auf Europa während des Integrationsprozesses

[...] unsere normale Geschichte [stimmt] mit der europäischen sehr wohl überein [...], aber nicht weil wir mit ihr die gleichen demokratischen Werte geteilt hätten, sondern weil wir die gleichen Greuel begangen haben. 132

Den schwierigen Umgang mit kultureller Fremdheit habe also Spanien mit Europa gemein. Die europäische Gemeinschaft setzt sich aus Millionen von Bürgern aus verschiedensten Kulturen, Sprachen und Völkern zusammen, eine so genannte ‚Einheit in Vielfalt‘. Die Gefahr, die Goytisolo in dem Projekt Europa sieht, ist, dass Europa Schaden nehmen könnte, wenn es zu einer Gemeinschaft zahlungsfähiger Länder mit beschränkter Zulassung statt zu einem Symbol des menschlichen Fortschritts werden würde. Seiner Ansicht nach dürfe sich Europa nicht abschotten, sondern müsse sich verpflichtet fühlen, überall dort einzugreifen, wo es gelte, Blutvergießen, Vertreibungen und Pogrome zu verhindern, d. h. seine konkrete Hilfe nicht nur auf die Völker Mitteleuropas zu beschränken. 133 Eine Erwartungshaltung, die für Europa eine enorme Herausforderung formuliert.

132 133

Goytisolo 2004: 127. Vgl. Goytisolo 2004: 152f.

VI. Portugal: Vom Atlantik nach Europa? 1. Portugals Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft Von Nora Däberitz Die so genannte Süderweiterung 1 der Europäischen Gemeinschaft wurde überschattet von internationalen Spannungen wie etwa Problemen bei der Energieund Rohstoffversorgung sowie der desolaten Lage auf dem internationalen Arbeitsmarkt. Aus vielerlei Gründen ist es daher nachvollziehbar, dass Portugal aus der Sicht der EG zunächst nur eine periphere Bedeutung zukam. Das relativ kleine, agrarisch geprägte Land war strukturschwach und zudem geographisch durch den Grenzstreifen, den die Pyrenäen natürlich bilden, von Europa getrennt. Entscheidend trug auch die bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts währende Herrschaft Salazars zu dieser Distanz bei. Die EG war wenig interessiert an einem diktatorischen Staat, der zudem noch immer eine längst überholte Kolonialpolitik betrieb. Auch das Regime unter Salazar selbst strebte keine engere Zusammenarbeit mit den anderen europäischen Ländern an, mussten sie doch um die Stabilität ihres Herrschaftssystems fürchten. Erst das Ende der Salazar-Diktatur durch die Nelkenrevolution 2 1974 führten eine Wende herbei und zwar im doppelten Sinne: Der Blick Europas auf Portugal veränderte sich, und die Interessen der neuen demokratisch gesonnenen Kräfte im Lande waren darauf bedacht, die selbst gewählte Isolation der vergangenen Jahrzehnte zu überwinden. Von der European Free Trade Association (EFTA) zur Europäischen Gemeinschaft Bis zu seinem Eintritt in die Europäische Gemeinschaft im Januar 1986 war Portugal Mitglied der European Free Trade Association (EFTA, dt.: Europäische Freihandelsassoziation), deren Gründung im Jahre 1960 in Stockholm erfolgte und zu deren Gründungsmitgliedern Portugal zählte. Die EFTA hatte sich zum Ziel gesetzt, Wachstum und Wohlstand ihrer Mitglieder durch die Intensivierung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit westlicher Länder zu erreichen. Ein wesent1 Unter EU-Süderweiterung ist der Beitritt Spaniens, Portugals und Griechenlands 1981 zur Europäischen Gemeinschaft zu verstehen. 2 Im Jahr 1974 wurde mit der so genannten Nelkenrevolution durch einen friedlichen Sturz der Diktatur die Demokratisierung des Landes eingeleitet.

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VI. Portugal: Vom Atlantik nach Europa?

liches Instrument dafür war der Wegfall der Binnenzölle. Damit verstand sich die EFTA auch als ein wirtschaftliches Gegengewicht zur EG und deren politischen Zielen. Bereits der Beitritt Portugals zur EFTA 1960 begann sich für die industrielle Entwicklung des Landes vorteilhaft auszuwirken. Der größere Binnenmarkt im Rahmen der EFTA führte zu einem intensiveren Handel und ausländische Investitionen flossen nunmehr auch nach Portugal. 3 Da erst mit der Nelkenrevolution im Jahre 1974 die Diktatur Salazars überwunden werden konnte, war es dem Land nicht möglich, wie Dänemark und Irland, bereits 1973 der EG beizutreten. Portugal blieb also weiterhin in der EFTA und hatte somit nur die Möglichkeit, sich der Europäischen Gemeinschaft über ein Freihandelsabkommen zu nähern. Freilich wurde dem Land hierdurch die Möglichkeit in Aussicht gestellt, eines Tages ein vollwertiges Mitglied der Europäischen Gemeinschaften zu werden. Das 1972 geschlossene Freihandelsabkommen zwischen der EG und Portugal orientierte sich prinzipiell an den bereits 1970 abgeschlossenen Freihandelsverträgen mit Spanien. Das Vertragswerk nahm aber besondere Rücksicht auf die schwach entwickelte portugiesische Wirtschaft sowie den Umstand, dass Portugal besonders vom Export landwirtschaftlicher Produkte abhängig war. Mit dem Freihandelsabkommen verfolgten die beteiligten Partner das Ziel, im Laufe der Zeit, spätestens aber bis zum Jahre 1985, jede Art von Handelsbeschränkung auf gewerbliche Güter abzubauen. Die EG begann bereits 1976 ihre Handelsbeschränkungen auf portugiesische Industriewaren weitestgehend zu minimieren. Dennoch gelang es Portugal damals nur in geringfügigem Maße, das Defizit ihrer Handelsbilanz gegenüber der EG zu vermindern. 4 Nach der Nelkenrevolution und den damit verbundenen Veränderungsprozessen in Wirtschaft und Gesellschaft schwanden die Währungsreserven Portugals schnell, und das Land musste sich um finanzielle Hilfe aus dem Ausland bemühen. Im Juni 1974 gab der Ministerrat der Europäischen Gemeinschaft sein grundsätzliches Einverständnis zu einer Wirtschaftshilfe, die jedoch an verstärkte Bemühungen Portugals um einen schnellen demokratischen Transformationsprozess gekoppelt war. Bereits im Januar 1972 hatte der Ministerrat Portugal die Erlaubnis erteilt, mit der EG in Beitrittsgespräche einzutreten, um die bisherigen Verhandlungen im Rahmen des Freihandelsabkommens zu erweitern und zu vertiefen. Während der Verhandlungszeit bis zum EG-Beitritt Portugals leistete die Europäische Gemeinschaft bereits im Vorhinein erhebliche Dringlichkeitshilfe an das immer noch wirtschaftsschwache Land. 5

3 4 5

Vgl. Grohs 1982: 106. Vgl. Grohs 1982: 106f. Vgl. Pinto / Lobo 2006: 6.

1. Portugals Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft

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Motive und Probleme der ersten Beitrittsverhandlungen nach der Nelkenrevolution Portugal war durch den Estado Novo von António de Oliveira Salazar in seiner Entwicklung gegenüber den anderen westeuropäischen Ländern stark beeinträchtigt. Die Spuren, die die Diktatur hinterlassen hatte, waren sowohl in gesellschaftsals auch in wirtschaftspolitischer und sozialer Hinsicht unübersehbar. Der Neubeginn stellte eine schwierige Aufgabe für die demokratischen Kräfte dar, die sich erst noch formieren und um die Mehrheit im Lande kämpfen mussten. So war die erste Phase, kurz nach der Überwindung des Estado Novo, geprägt von Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen politischen Lagern. Landreformen und Verstaatlichungen wurden durchgeführt, die aufgrund der unterschiedlichen Interessen der Betroffenen zu großem Unmut führten. Erst nahezu zwei Jahre später, im Juli 1976, konnte der Sozialist Mário Soares die erste verfassungsmäßige Regierung bilden. Die neue Verfassung, die in der Folgezeit ratifiziert wurde, definierte noch den Übergang zum Sozialismus als Staatsziel. 6 Die Idee, der Europäischen Gemeinschaft beizutreten, wurde allerdings bereits in der Übergangszeit zur Demokratie nach der Revolution 1974 in allen Programmen der neuen politischen Parteien artikuliert. Doch erst die Auseinandersetzungen mit den sozialistischen und kommunistischen Strömungen im Lande führten dazu, dass sich die Parteien im rechten und im Mitte-linken Spektrum der Option Europa konkret annäherten. 7 Die Orientierung hin zu Europa sollte auch zum Bruch mit der diktatorischen, isolationistischen und kolonialen Vergangenheit Portugals führen und neue radikale antieuropäische Entwicklungen verhindern. Die Idee von einem in Vielfalt geeinten Europa diente den demokratischen Eliten in Portugal als Legitimation der neuen staatlichen Ordnung nach dem Ende des Estado Novo. Die vom Beitritt zur EG am stärksten betroffene Gruppe, die Zivilgesellschaft, wurde in diesen Prozess allerdings nur bedingt eingebunden. Die Verhandlungen und Entscheidungen über eine europäische Integration wurden allein von den neuen politischen Eliten, den Vertretern der Parteien und verwandter Organisationen getroffen. 8 Ein politikwissenschaftlicher Ausdruck hierfür ist: elite pact transitions. 9 Die Tatsache, dass der Entscheidungsprozess über einen EG-Beitritt lediglich von der Elite Portugals getragen wurde, kann als ein Handikap für die Entwicklung der portugiesischen Zivilgesellschaft angesehen werden. Fehlt es an der Einbeziehung aller gesellschaftlichen Gruppen in Diskussions- und entsprechen6

Vgl. Grohs 1982: 103. Vgl. Grohs 1982: 106f. 8 Vgl. Pinto / Lobo 2006: 6. 9 Vgl. Huntington 1992: passim. In diesem Buch beschreibt Huntington den Trend von über 60 Ländern, die Erfahrungen mit einer demokratischen Transformation seit 1974 gemacht haben. 7

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VI. Portugal: Vom Atlantik nach Europa?

de Entscheidungsprozesse, wie es die europäische Integration darstellt, kann dies zu einer Entfremdung zwischen Bevölkerung und politischen Kräften führen. Auf der politischen Ebene waren sich alle Parteien Portugals, mit Ausnahme der kommunistischen Partei Álvaro Cunhals, darin einig, dass man die Aufnahme in die Europäische Gemeinschaft als Hauptziel der Außenpolitik für die kommenden Jahre betrachten sollte. Man strebte eine uneingeschränkte Mitgliedschaft in der EG an. Mário Soares, der damalige Premierminister, stellte folgerichtig im März 1977 im Namen der portugiesischen Regierung den Aufnahmeantrag. Im Jahr 1986 trat Portugal im Rahmen der Süderweiterung dann der EG bei. Wie auch im Nachbarland Spanien zu beobachten war, beschleunigte allein die Aussicht auf den EG-Beitritt auch in Portugal den gesellschaftlichen Demokratisierungsprozess in zunächst nicht geahntem Maße. Die Erwartung, in naher Zukunft dem sich vereinigenden Europa anzugehören, half insbesondere den Einfluss der konservativen und reaktionären Kräfte innerhalb der portugiesischen Gesellschaft zu überwinden. Die Spielregeln der demokratischen Gesellschaften und die Aussicht auf wirtschaftliche Erfolge innerhalb der EG boten bereits antizipativ Orientierung für politische und wirtschaftliche Erfolge in Portugal. Große Teile der Bevölkerung blieben zunächst skeptisch in Bezug auf den Beitritt ihres Landes in die EG. Wie die statistischen Erhebungen des Eurobarometers 10 nach der Süderweiterung der Europäischen Gemeinschaft jedoch zeigen, veränderte sich das Bild der Bürger hinsichtlich der EG sukzessive. So ergab die Datenerhebung beispielsweise, dass Männer den Beitritt eher unterstützen als Frauen. Ferner steht die Altersgruppe der 15 – 24 Jährigen dem Europakonzept am offensten gegenüber. Des Weiteren werden pro-europäische Tendenzen in der Mitte stärker vertreten als im rechten und linken Flügel des politischen Spektrums. In den Erhebungen des Eurobarometers aus dem Jahre 1984 zeigte sich, dass ca. 67% der Portugiesen entweder wenig oder überhaupt kein Wissen über die EG hatten. Nach dem Beitritt Portugals zur EG ließ sich in späteren Erhebungen des Eurobarometers ein Aufwärtstrend feststellen. 11 Portugals spezifische Gründe für den Beitritt zur EG nach der Diktatur und der Kolonialzeit Der damalige Regierungschef Mário Soares äußerte sich zum portugiesischen Beitrittsgesuch im September 1977 mit folgenden Worten: Die Revolution von 1974 war eine klare Absage des portugiesischen Volkes an das Schicksal außerhalb Europas, das ihm auferlegt worden war. Und die jüngste portu10 Das so genannte Eurobarometer ist eine seit 1973 in regelmäßigen Abständen von der Europäischen Kommission in Auftrag gegebene Meinungsumfrage in den Mitgliedsländern der EU. Es werden Daten in verschiedenen Sparten ermittelt, wie z. B. Soziale Lage, Kultur, Umwelt. 11 Vgl. Eurobarometer 1984.

1. Portugals Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft

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giesische Geschichte zeigt sehr wohl, daß selbst in den Jahren, in denen die offizielle Ideologie diese Realität zu widerlegen versuchte, die portugiesische Kultur immer europäisch geblieben ist und daß [...] die politischen Bewegungen im portugiesischen Volk sich in die großen politischen Linien Europas einfügen. Portugal identifiziert sich mit den Zielvorstellungen der europäischen Gesellschaft, mit der Fruchtbarkeit der Union, die auf der Vielfalt der Völker beruht, aus denen sie besteht, mit einer Lebensform, deren Grundlage die Achtung der Menschenwürde ist [...]. Heute ist Portugal sich darüber im Klaren, daß Europa in der Welt die ihm historisch zukommende Rolle nur beibehalten kann, wenn es geeint ist [...]; unser Land hat das Recht und die Pflicht, an diesen Bemühungen um eine europäische Einigung mitzuwirken, und es glaubt, daß es dies nur in der Institution tun kann, die sie verkörpert: In den Europäischen Gemeinschaften. 12

Dieser Glaube an die europäischen Traditionen Portugals ließen Soares und seine Mitstreiter hoffen, dass durch den Beitritt Portugals zur EG die widersprüchlichen politischen Auffassungen im Lande zu einem Ausgleich geführt werden konnten. Auf der Folie der politischen und rechtlichen Gemeinschaftsgesetze sollten auch in der portugiesischen Gesellschaft politisch und sozial akzeptable Lösungen gefunden werden, die sich in den europäischen Kontext einfügen können. Mit dieser energischen europaorientierten Politik konnte Soares auch gegenüber dem westlichen Ausland erfolgreich Befürchtungen zerstreuen, die neuen Beitrittsländer und insbesondere Portugal könnten sich retardierend auf die europäische Integration auswirken. Die Übertragung von Souveränitätsrechten auf eine supranationale Ebene war und ist ein wesentliches Merkmal der europäischen Politik. Soares erhoffte sich von der erweiterten Gemeinschaft auch die Stärkung der wirtschaftlichen und politischen Spielräume Europas und damit auch die verstärkte Übernahme von Verantwortung in der Welt mit Beteiligung Portugals. Mit dem Eintritt in die Europäische Gemeinschaft 1986 ging der Austritt aus der EFTA einher; die Beziehungen Portugals zur NATO und zur EFTA sollten allerdings im Rahmen des neuen Bündnisses weiterhin gepflegt werden. 13 Die portugiesische Regierung musste sich darüber bewusst sein, dass ein EGBeitritt auch weit reichende soziale und wirtschaftliche Schwierigkeiten mit sich bringen kann. Die Politik der Gemeinschaft führt in neuen Beitrittsländern häufig zu einer Vielzahl von Reformen. Veränderte Rechtssysteme, Wirtschafts- und Sozialsysteme, viele innenpolitische Implikationen, auch für den Hochschul- und Bildungsbereich, wurden wirksam. Gerhard Grohs schließt in seinem Essay zum Beitritt Portugals nicht aus, dass möglicherweise eintretende wirtschaftliche Opfer, die bestimmte Bevölkerungsgruppen zunächst zugunsten der Integration erbringen müssten, sowohl im linken als auch im rechten politischen Lager zu antieuropäische Stimmungen führen würden. 14 Um solchen Befürchtungen ent12 13 14

Mário Soares, zit. nach Grohs 1982: 109. Vgl. Grohs 1982: 110. Vgl. Grohs 1982: 111.

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VI. Portugal: Vom Atlantik nach Europa?

gegenzuwirken, appellierte Premierminister Mário Soares bereits zu Beginn des Beitrittsprozesses an seine Landsleute, an den Beitritt nicht vorschnell zu hohe Erwartungen zu knüpfen. Er warnte davor, zu glauben, dass die Integration in die Europäische Gemeinschaft ein „Allheilmittel für die Übel seien, die dem Land zu schaffen machen“, 15 zumal auch in diesem Meinungsbildungsprozess festzustellen war, dass jede Partei den Integrationsprozess in die EG, wenn auch in unterschiedlichem Maße, zu innenpolitischen Zwecken instrumentalisierte. 16 Außenpolitisch erwarteten die Befürworter eines Beitritts mehr Möglichkeiten der Einflussnahme innerhalb der europäischen Machtzentren. Obwohl Portugal bereits vor Eintritt in die Gemeinschaft handels- und industriepolitische Impulse erfahren hatte, 17 strebten sie doch die Mitwirkung auf allen politischen Feldern der Europäischen Gemeinschaft an. Europas Blick auf die Süderweiterung Die unterschiedlichen Vorstellungen, Wünsche und Erwartungen der beiden Beitrittsländer Portugal und Spanien führten zwangsläufig auch innerhalb der Europäischen Gemeinschaft zu politischen Spannungen. Insbesondere galt dies für Gaullisten und Kommunisten sowie für die Sozialisten und die Anhänger Giscard d’Estaings in Frankreich. Neben Italien war Frankreich schließlich am stärksten von der Konkurrenz Spaniens und Portugals betroffen. Diese kritische Haltung gegenüber der Süderweiterung liegt in der Tatsache begründet, dass das wirtschaftliche Niveau der europäischen Länder sehr verschieden war. Die EG sieht sich in jedem Beitrittsfall vor die schwierige Aufgabe gestellt, dieses Ungleichgewicht auszugleichen. So auch im Falle Portugals. Giscard d’Estaing vertrat deshalb die Auffassung, dass erst einmal die erste Erweiterungsrunde (1973 Norderweiterung) erfolgreich abgeschlossen werden sollte, bevor die Europäische Gemeinschaft sich neuen Herausforderungen stellen könne. 18 In der Erweiterungspolitik der Gemeinschaft fehlte es indes bereits zu Zeiten der Norderweiterung an der erforderlichen Kohärenz aller beteiligten Staaten in Bezug auf die weitere Aufnahme von europäischen Ländern. Forderungen nach einer liberalen Handelspolitik standen denjenigen nach dem Schutz strukturschwacher Regionen gegenüber. Auch fiel es der Kommission der EG schwer, Handlungskonzepte auf diese unterschiedlichen Interessen und Notwendigkeiten hin zu formulieren. Beispielhaft ist in diesem Zusammenhang die Behandlung der portugiesischen Textileinfuhren in die Mitgliedsländer. Aus Furcht vor einem zu starken Wettbewerb und eventueller Verdrängung anderer Handelspartner bekam Portugal in den Verhandlungen 15 16 17 18

Mário Soares, zit. nach Grohs 1982: 117. Vgl. Grohs 1982: 111. Vgl. Grohs 1982: 112. Vgl. Grohs 1982: 112.

1. Portugals Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft

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die Position eines Drittlandes zugeteilt. Diese Erfahrungen, die die zukünftigen Beitrittsländer auf vielerlei Gebieten machen mussten, resultierten in einem unbedingten Willen der betroffenen Länder, so schnell wie möglich Mitglied der Gemeinschaft zu werden. Nur der Status eines Vollmitglieds erhöht die Chancen zu einem verträglichen Ausgleich zwischen allen Beteiligten zu gelangen. 19 Portugals Beitritt zur EG Nach den gesetzlichen Grundlagen der EG besteht keine Möglichkeit, ein Mitglied wieder auszuschließen. Daher legt die Gemeinschaft großen Wert auf die Erfüllung der Kriterien und Standards der EG durch die Bewerber. Die Bevölkerung Portugals, die bei dieser Transformation der wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten auch schmerzhafte Umbrüche und Einschnitte erleben musste, war nur dann bereit, diesen Prozess mit zu tragen, wenn es der Politik und den Eliten gelingen würde, Vorteile und langfristig positive Perspektiven für das Land aufzutun. Dazu zählten z. B. Reisefreiheit, die wirtschaftliche Entwicklung, demokratische Partizipation, Freizügigkeit sowie die Teilnahme an dem europäischen Projekt der Friedenssicherung in Europa und der Welt. Angesichts der schwierigen politischen und wirtschaftlichen Umstände in Portugal und auch im Hinblick auf die skeptische Öffentlichkeit innerhalb der EG galt es für Portugal die vorgeschriebenen Beitrittskriterien zu erfüllen, was dem Land bis zum Beitrittsjahr 1986 auch gelang. Dieser Prozess umfasste neben einem tiefgreifenden Systemwandel auch zunehmende Veränderungen der portugiesischen Mentalität. Die portugiesische Bevölkerung gelangte im Verlauf der Zeit zu einem differenzierten Bild über die EG – schließlich übt diese einen starken Einfluss auf das alltägliche Leben aus. So ist es ihnen möglich Vorteile, wie die Verbesserung des Lebensstandards, und Nachteile, wie etwa die geringe demokratische Legitimation der Entscheidungsträger innerhalb der EG, 20 angemessen gegeneinander abzuwägen. * Noch zu Beginn des Integrationsprozesses war es das Ziel der portugiesischen Regierung, die Schaffung von Infrastrukturen voranzutreiben. Dabei konzentrierte sie sich auf die von der Europäischen Gemeinschaft vergebenen Strukturfonds. Bereits im Jahr 1992, mit der erstmaligen Übernahme der Ratspräsidentschaft, war eine Veränderung zu bemerken. Es schien, als sei sich Portugal nun mehr und mehr seiner Rolle im politischen Kern Europas bewusst. Ein verhältnismäßig kleines Land, welches sich unter den großen Mitgliedsstaaten durchaus behaupten kann. Heute, im 21. Jahrhundert, zeigt etwa die Tatsache, dass das Amt des 19 20

Vgl. Grohs 1982: 113ff. Vgl. Pinto / Lobo 2006: 14.

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VI. Portugal: Vom Atlantik nach Europa?

EU-Kommissionspräsidenten durch einen Portugiesen, José Manuel Barroso, bekleidet wird, dass Portugal mittlerweile in der Europäischen Union angekommen ist und sich erfolgreich integriert hat. Dabei hat das Land die Diktatur Salazars erfolgreich überwunden, sich nach Europa hin geöffnet und kann infolgedessen heute auf eine erfolgreiche Integrationsgeschichte zurückblicken. Zunächst wurde die Entscheidung, der EG beizutreten lediglich von den Eliten getragen und das Volk blieb außen vor. Anfang der 1980er Jahre wuchs der Grad an Information, so dass ein aktiver Meinungsbildungsprozess in der portugiesischen Gesellschaft begann. 21 Portugal als noch relativ junge Demokratie kann also auch als ein Beispiel dafür gelten, dass durch die europäische Integration Demokratisierungsprozesse vorangetrieben werden und so dazu beitragen, System- und Mentalitätswechsel einzuleiten. Somit kann das Land zukünftig als Leuchtturm für die nachfolgenden Beitrittskandidaten dienen, die ihren Weg in eine gelungene EU-Integration noch vor sich haben.

2. José Saramagos Idee von Europa im Roman Das steinerne Floß Von Cornelius Mutschler Glauben Sie an die Zwangsläufigkeit der Dinge. Ich glaube an das, was geschehen muss. José Saramago

Biographie José Saramagos Weg zu einem der bedeutendsten Schriftsteller Portugals und des gesamten portugiesischen Sprachraumes, bis hin zur Ehrung mit dem Literaturnobelpreis im Jahr 1998, begann spät und verlief in unsteten Bahnen. Saramago kam am 16. November 1922 unter dem Namen José de Sousa Saramago in Azinhaga, Alentejo, zur Welt. Lange Jahre arbeitete er als Maschinenschlosser und technischer Zeichner. Ein Gymnasium konnte sich die in bescheidenen Verhältnissen lebende Familie nicht leisten. Die Abende verbrachte Saramago oft in der Stadtbibliothek von Lissabon – hier entdeckte er seine Liebe zur Literatur. 1947 erschien sein erster Roman Terra do Pecado (dt.: Land der Sünde), im gleichen Jahr wurde seine einzige Tochter geboren. 22 Kontakte zur künstlerischen und intellektuellen Szene Lissabons knüpft Saramago als Stammgast in dem Literatencafé 21 22

Vgl. Pinto / Lobo 2006: 14. Vgl. Grossegesse 1999: 87.

2. José Saramagos Idee von Europa im Roman Das steinerne Floß

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Chiado. Diese Kontakte begünstigten erste Veröffentlichungen in Zeitschriften und haben Einfluss auf seine politische Gesinnung ausgeübt. Im Jahr 1969 trat er der kommunistischen Partei Portugals bei. Nach seiner Scheidung heiratete er im Jahr 1988 zum zweiten Mal. Heute lebt José Saramago mit seiner Frau auf Lanzarote. A Jangada de Pedra (dt.: Das steinerne Floß) In Südeuropa geschehen merkwürdige Dinge. In dem französischen Badeort Cerbère versetzen die Hunde des Dorfes die Einwohner in Angst und Schrecken, indem sie anfangen zu bellen – ein Zeichen des bevorstehenden Weltuntergangs. Seit den Tagen des dreiköpfigen Höllenhundes Kerberus schweigen seine einköpfigen Nachfahren im Dorfe, um die Unterwelt vergessen zu machen. Die verzweifelten Anrufe der Bewohner des französischen Städtchens in Paris resultieren, nach Spott und Hohn, in der Entsendung von zwei Veterinären. Sie sollen untersuchen, weshalb die Hunde plötzlich alle Einwohner durch ihren Lärm in Panik versetzen. Doch die Wissenschaft bleibt eine Erklärung schuldig. Die Sezierung des vergifteten Hundes Médor macht die Verwirrung und Sorge perfekt – der tote Hund besitzt keine Stimmbänder. Zeitgleich zieht, hunderte von Kilometern entfernt in einem portugiesischen Ort, Joana Carda mit einem Holzstock einen Kratzer in die Erde. Dieser Kratzer lässt sich nicht mehr entfernen. Will Joana Carda ihn wegwischen, zeichnet er sich wie von Geisterhand wieder neu. Joaquim Sassa, ebenfalls portugiesischer Abstammung, spaziert unterdessen am heimatlichen Strand entlang. Er hebt einen Stein auf, schwer und groß, um ihn vor sich in die Brandung zu werfen. Dieser allerdings fliegt weit ins Meer hinein bevor er in diesem versinkt – ein übermenschlicher Wurf. In der Provinz Granada, Spanien, tritt der Apotheker Pedro Orce vor sein Geschäft. Urplötzlich spürt er die Erde unter seinen Füßen beben. Nachdem der erste Schreck überwunden ist, folgen Tests von Seismologen und medizinischem Personal. Es ist kein Erdbeben festzustellen. Hält jedoch Pedro Orce die Nadel des Seismographen in der Hand, so spielt sie verrückt. Zurück in Portugal erfährt auch José Anaiço Seltsames. Ein Schwarm Stare schwebt über seinem Kopf. Die Vögel verfolgen ihn auf Schritt und Tritt – die Szenerie erinnert an ‚Die Vögel‘ von Alfred Hitchcock. Dann ist da noch die Galicierin Maria Guavaira. Auf dem Speicher ihres abgeschiedenen Landhauses findet sie einen alten Sparstrumpf aus blauer Wolle. Gedankenverloren fängt sie an, ihn aufzudröseln. Der Faden, welcher nach und nach ihren kompletten Speicher füllt, will nicht enden. Dies sind die Protagonisten, die im Laufe der Geschichte zueinander finden. Gemeinsam reisen sie kreuz und quer durch Spanien und Portugal, vereint durch ihre außergewöhnlichen Erfahrungen und in dem Glauben, die persönlichen Erlebnisse stehen mit den unfassbaren Ereignissen auf der Iberischen Halbinsel im Zusammenhang.

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Genau an der Grenze zu Frankreich, entlang der Pyrenäen, bildet sich erst im Osten, danach im Westen ein Riss. Die Untersuchung des ausgetrockneten Flussbettes des Irati ergibt, dass die Wassermassen in eine tiefe Erdspalte gestürzt sind. Bald haben Wissenschaftler, Medien und die Öffentlichkeit Gewissheit. Entlang der Pyrenäen bildet sich eine sich ständig vergrößernde Spalte. Aus allen angrenzenden Ländern werden Betonmischer herbei geschafft um den Riss zu füllen. Schnell wird jedoch klar: All diese Versuche sind zum Scheitern verurteilt. Die Iberische Halbinsel bricht von Kontinentaleuropa weg und treibt auf den Atlantischen Ozean hinaus. Panikartig fliehen die Touristen. See- und Flughäfen sind mit Ausreisewilligen überfüllt. Es kommt zu Tumulten und Gewalt beim Kampf um die kostbaren Plätze auf den Schiffen und in den Flugzeugen, die sie zum Festland bringen sollen. Die Starken fliehen ohne Rücksicht vorneweg, nicht wenige Frauen, Kinder und Alte werden niedergetrampelt. Autos werden achtlos auf der Straße stehengelassen – sie eignen sich nun nicht mehr zur Flucht. Auch die Eliten retten sich. Durch die steigenden Preise werden Tickets teuer, sie sind entsprechend nur dem reichen Bevölkerungsteil zugänglich. Mit ihnen geht auch der Wohlstand. Auf der Insel bleiben nur wenige Banknoten zurück. In der Nacht nach dem Abdriften der Halbinsel reißen die Starkstromleitungen. Für eine Viertelstunde herrscht auf der gesamten Insel, wie sie mittlerweile genannt werden muss, völlige Dunkelheit. An der Algarve fangen Einheimische an, Touristenhotels zu besetzen. Die leer stehenden Bettenburgen sind allemal besser als ihre schäbigen Behausungen. Nach anfänglichen Gefechten mit Polizei und Militär setzen sich die Massen durch und beziehen langfristig die neuen Quartiere. Die Reaktionen der EWG und der Vereinigten Staaten könnten unterschiedlicher nicht sein. Die USA versorgen die Insel mit lebenswichtigen Dingen, vor allem Benzin. Die ehemaligen Gemeinschaftspartner hingegen reagieren zurückhaltend auf den neuen Status Spaniens und Portugals. Solange die beiden Länder nicht weit fort sind, wollen die meisten Festland-Politiker den Status quo der Gemeinschaftsmitglieder nicht überdenken. Unterdessen driftet Iberien jedoch immer weiter ab und nimmt Kurs auf die Azoren. Sowjetische Kriegsschiffe beobachten argwöhnisch die nach Südwesten abdriftende Insel, während die NATO versucht, unter dem Deckmantel von Seemanövern, heraus zu finden wie sich diese Masse an Gestein überhaupt fortbewegen kann. Nicht einmal modernstes Tauchgerät kann jedoch eine zufrieden stellende Erklärung liefern. Während sich die Politiker in Europa mit konkreten Stellungnahmen und Bekenntnissen zur Iberischen Halbinsel als Teil Europas schwer tun, ergreift ein Lauffeuer der Solidarität die Jugend Europas. Ein Graffiti, in Frankreich nachts an eine Hauswand geschrieben, wird zum Schlachtruf des jugendlichen Protests auf dem Kontinent: ‚Auch wir sind Iberer‘. Die fünf Menschen der übernatürlichen Reisegruppe finden sich unterdessen nach und nach zusammen. Im Laufe ihrer Odyssee durch das gesamte Gebiet der

2. José Saramagos Idee von Europa im Roman Das steinerne Floß

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ehemaligen Halbinsel werden sie zu Freunden. Keiner von ihnen hat wartende Familie daheim. So bleiben sie vereint und geben sich Halt in den Stunden des ungewissen Schicksals. Da die Insel auf die Azoren zu treffen droht, machen auch sie sich auf den Weg ins Inland. Vor allem die Südküste Portugals und Galicien drohen bei einem Aufprall zerstört zu werden. Alle, bis auf ein paar Diebe, verlassen die Region. Kurz vor dem Aufprall ändert die Insel auf unerklärliche Weise ihren Kurs und bewegt sich Richtung Nordamerika. Mit wachsender Nähe zur Supermacht ändert sich auch die strategische Situation. Kanada und die USA streiten sich schon über die Einverleibung der Insel, als diese erneut eine Kurskorrektur vornimmt und sich wieder in südlicher Richtung entfernt. José, Pedro, Joaquim, Maria und Joana sind mittlerweile auf einem Pferdegespann unterwegs. Ein Hund hat sich zu der Gemeinschaft gesellt und beschützt mit seinem teuflischen Aussehen die fünf Menschen. Gleichzeitig ist er der engste Begleiter des alten Pedro Orce geworden. Aus den vier jüngeren der Freunde haben sich zwei Paare herausgebildet. Maria und Joana bemerken ihre besonderen Umstände zur gleichen Zeit. Und während die iberische Insel, ziemlich genau in der Mitte der Kontinente, zum Stillstand kommt und anfängt, um sich selbst zu kreisen, bemerken es auch die übrigen Bewohnerinnen Iberiens im zeugungsfähigen Alter. Pedro Orce stirbt kurz darauf – im Moment seines Todes hört das Vibrieren des Bodens unter ihm endlich auf. Die Europaidee im Roman Aus dem Werk A Jangada de Pedra lässt sich kein eindeutiges Bild Saramagos von Europa ableiten. Er bietet dem Leser keine eindeutigen Sichtweisen, lässt Raum für Interpretation und Deutung. Durch seine bildhafte, poetische Sprache eröffnet er jedoch zahlreiche Zugänge, um sich dem Thema anzunähern. Das Buch wurde 1986 veröffentlicht, dem Jahr des portugiesischen EG-Beitritts. Saramago beschäftigt sich also mit einem – zu diesem Zeitpunkt – hochaktuellen Geschehen. Im Kontext dieser Veränderungen müssen die Gedanken Saramagos’ gesehen werden. Das Verhältnis zu Europa, das Selbstverständnis der Portugiesen und der Begriff Identität sollen im Zentrum der folgenden Betrachtung stehen und an Beispielen aus dem Buch erläutert werden. Der Roman beginnt in dem französischen Städtchen Cerbère. Der Name dieses Städtchens ist angelehnt an den der griechischen Mythologie entstammenden Hund Kerberus. Dieser „bewachte [...] angsteinflößend schrecklich die Pforte zur Unterwelt, damit keine Seele dieser zu entwischen wagte“. 23 Dieser Einstieg 23

Saramago 1986: 8.

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wiederholt sich, im Sinne seiner Bedeutung, noch einige Male im Verlauf der Geschichte. Immer wenn die Erzählung mit geschichtlichen Vergleichen oder Anspielungen auf Literatur und Kunst im weitesten Sinne aufwartet, schöpft Saramago aus einem kulturgeschichtlich gesamteuropäischen Becken. Die Figur José Anacios putzt sich gedankenverloren die Zähne, während die Iberische Halbinsel dabei ist, in den Atlantik davon zu treiben. Für diese Unvereinbarkeit der gemeinen Verrichtungen mit dem resoluten Geist führt Saramago das Beispiels Othellos an, welcher sich noch einmal ordentlich schnäuzte, bevor er Desdemona tötete. 24 Das abtreibende ‚steinerne Floß‘ und seine unkoordinierte Reise durch den Atlantik wird mehrmals mit der Geschichte des fliegenden Holländers verglichen. Machiavelli wird ebenso wie Don Quijote ins Feld geführt, wenn es gilt, Charaktere oder die Erzählung mit Beispielen oder Verweisen zu beleuchten. 25 Mit solchen Mitteln werden gemeinsame, kulturelle Bezugspunkte verdeutlicht, welche sich hinsichtlich der Herkunft und Verbreitung nicht auf die Iberische Halbinsel beschränken. Diese angedeuteten Gemeinsamkeiten können allerdings nicht kaschieren, wie weit entfernt Saramago die Iberische Halbinsel tatsächlich vom kontinentalen Rest verortet. Das offensichtlichste und stärkste Bild dieser Distanz findet sich bereits im Buchtitel: Das steinerne Floß, abgetrennt von den Pyrenäen, gen Westen davon treibend. Die Pyrenäen bildeten schon immer eine natürliche Grenze zu den weiter nördlich liegenden Ländern. Durch die Abgeschiedenheit nahm und nimmt die Iberische Halbinsel eine Sonderrolle ein. Partizipation ist schwerer, wenn Gesteinsmassen trennend wirken. Wer nicht partizipiert, bleibt – so die Befürchtung – zurück. Vertrautheit kann unter diesen Umständen auch nicht entstehen. Saramago lässt zwei der Protagonisten dazu folgenden Dialog führen: [...] ich gelangte an die Pyrenäen und sah nichts weiter als Meer [...]. Kein Frankreich und kein Europa. Nun, ich meine, eine Sache die nicht ist, ist sozusagen nie gewesen, vergeblich bin ich viele, viele Léguas gelaufen, auf der Suche nach dem, was es nicht gibt. Nun, da liegt ein Trugschluß vor. Bevor sich die Halbinsel von Europa löste, war Europa da, es gab eine Grenze, klar, man fuhr von der einen Seite auf die andere, [...] es kamen Ausländer, haben Sie denn nie Ausländer in ihrer Gegend erlebt. Manches Mal schon, aber da war weiter nichts zu sehen. Es waren Touristen, die aus Europa kamen. Aber als ich in Zufre lebte, habe ich Europa nie gesehen, nun bin ich fort aus Zufre und habe Europa trotzdem nicht gesehen, wo ist da der Unterschied. Ich war noch nie auf dem Mond, und es gibt ihn doch. Aber ihn sehe ich, zwar geht er auf Abwegen, aber ich sehe ihn. 26

24 25 26

Vgl. Saramago 1986: 144. Vgl. Saramago 1986: 163, 167, 178. Saramago 1986: 385.

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Dieses Zwiegespräch zweier einfacher Männer vom Land weist auf die Nichtexistenz Europas bzw. einer imaginären Existenz Europas in ländlichen Gegenden hin. Die isolierte Situation durch die Wandlung der Halbinsel hin zur Insel bewirkt für die Landbevölkerung keinerlei Unterschied. Viele Leute kennen nur den Landstrich ihrer Geburt, haben keine Möglichkeit entlegene Regionen ihres Landes zu bereisen, ganz zu schweigen vom Ausland. Anders bei den Eliten. Sie setzen sich bei der ersten Gelegenheit ab und verschwinden mitsamt ihrem Reichtum auf das Festland. Erstrebenswert wäre es für die Eliten, eine Wandlung auf der Halbinsel zu erleben. Würde „aus diesem bitteren Leiden süßes Leben, wandelte sich barbarische Versuchung in Zivilisation, in Golfplatz und Swimmingpool, Jacht am Liegeplatz und Kabriolett am Kai“. 27 Da diese Wandlung für die rückständigen Regionen Europas nicht zu meistern ist, werden sich nach der Iberischen Halbinsel andere „unechte Parzellen [...] früher oder später auch irgendwie loslösen“. 28 Folglich scheint die Zukunft auf ein Land begrenzt zu sein – auf die „Quintessenz des europäischen Geistes, [...] d. h. die Schweiz“. 29 Die ‚einfachen Leute‘ haben in dieser Konzeption von Europa nicht einmal mehr eine Nebenrolle. Der Wirkungskreis und das höchste Anliegen der Gemeinschaft wird auf wirtschaftliche Faktoren reduziert. Was nicht passt wird marginalisiert. Auch die Reaktionen der restlichen Welt sprechen gegen einen festen Stand der beiden Länder in Europa. Je weiter sich das ‚steinerne Floß‘ entfernt, desto vager werden die Bekenntnisse der Partnerländer. Eine einberufene Kommission hält fest, „sie [die Halbinsel, Anm. des Verf.] könne sich, falls ihr danach stehe, durchaus entfernen, es sei ein Fehler gewesen, sie überhaupt erst aufzunehmen“. 30 Die USA und Kanada verfallen ihrerseits anfänglich in einen Streit darüber, wer sich bei einer Annäherung der Halbinsel an ihren Kontinent das ‚Neuland‘ einverleiben darf. Beide Länder beraten in bilateralen Verhandlungen über das Schicksal Spaniens und Portugals. Hierbei werden die beiden betroffen Staaten – Portugal und Spanien – lediglich als Objekt gehandelt und nicht aktiv in die Gespräche eingebunden. Der anfänglichen Freude über einen potenziellen Zuwachs an Staatsgebiet weicht jedoch bald die Furcht, der Landstrich mit dem die Halbinsel kollidieren würde, „fände sich unversehens im Landesinnern wieder, mit entsprechendem Abfall der Lebensqualität“. 31 Die Reaktionen, sowohl der übrigen EG-Mitglieder als auch Nordamerikas, stehen für das geringe Gewicht und die eingeschränkte 27 28 29 30 31

Saramago 1986: 199. Saramago 1986: 199. Saramago 1986: 199. Saramago 1986: 53. Saramago 1986: 352.

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Autonomie Spaniens und Portugals in dem Orchester der Weltpolitik. Entscheidungen werden über die Köpfe der Betroffenen hinweg getroffen, die jetzt, da es sich um nunmehr zwei relativ kleine Länder handelt, als Verhandlungspartner nicht mehr recht ernst genommen werden. Die Reise der Iberischen Halbinsel steht sinnbildlich für die Suche nach einer Identität. Die Befindlichkeiten der Bevölkerung und die Reaktionen von außen verdeutlichen: Portugal ist noch nicht in Europa angekommen. Die Irrfahrt des ‚steinernen Floßes‘ zeigt jedoch auch, dass rein geographisch eine solche Suche zu keinem Ergebnis führen kann. Die Reise der Selbstbesinnung kommt genau zwischen den Kontinenten zum Stehen. Portugal, aufgrund seiner langen Geschichte in sich selbst als nationale Einheit gefestigt, wird mit der europäischen Integration vor unbekannte Aufgaben gestellt. Durch eine Selbstsicherheit in Sachen Identität hat sich eine nicht nur geographische Barriere zum Resteuropa gebildet. Die geistigen Grenzen, die Unvereinbarkeit, hängt damit zusammen, „dass Portugal lange vor der Herausbildung der meisten europäischen Nationen bereits ein klar definiertes geographisches und nationales Gefüge war“. 32 Diese starke nationale Identität, gezeichnet durch eine Geschichte als selbstbewusste, individuell handelnde Kolonialmacht, erschweren die Bedingungen einer politischen Vereinigung Europas. Größe und Bedeutung Portugals gründete sich vor allem auf seine koloniale Expansion. 33 Durch seine Orientierung hin zu den Besitzungen in Übersee, verlor sich der detaillierte Blick für die ‚indirekten‘ Nachbarn hinter den Pyrenäen. Wird doch einmal Frankreich betrachtet, so erscheint es in einem feindseligen Licht und wirkt auf einer Seite spaltend, auf der anderen verbindend. Spaltend in Bezug auf das Verhältnis der Länder diesseits und jenseits der Pyrenäen, verbindend zwischen den beiden iberischen Ländern Spanien und Portugal. Arbeitsemigranten aus den ärmeren Ländern der Iberischen Halbinsel waren in Frankreich Ausbeutung und Verelendung ausgesetzt. Der latente Rassismus jenseits des Gebirges vermittelte das Gefühl, nicht willkommen zu sein. Integration war unmöglich, die Identifikation mit der Heimat umso stärker. 34 So bleibt die neue Insel am Ende ihrer Reise zwischen den Kontinenten stehen und fängt an, sich um sich selbst zu drehen: Wo endet Europa, und gehören Spanien und Portugal noch zu Europa oder sind sie nicht schon oder auch ein Teil Afrikas oder Amerikas, Teil einer anderen, über Europa hinausweisenden Welt? 35

32 33 34 35

Barrento 1999: 13. Vgl. Armbruster 1999: 1499. Vgl. Armbruster 1999: 1492. Armbruster 1999: 1499.

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Diese zentrale Frage wird nicht eindeutig beantwortet. Je nach Lesart, lassen sich verschiedene Antworten finden, und es tauchen neue Fragen auf. Ist die Suche nach einem Platz mit dem Stoppen der Iberischen Halbinsel vorbei oder beginnt sie erst hier? Speist sich die iberische Identität (sollte es sie geben) sowohl aus afrikanischen, amerikanischen und europäischen Einflüssen? Oder muss sie als autonom und losgelöst betrachtet werden? Befinden sich Spanien und Portugal noch in einem Prozess der Identitätsfindung, da lange gewachsene Traditionen, Geschichten und Kulturen mit schnellen politischen Einigungsprozessen kollidieren? Die kollektive Schwangerschaft der iberischen Frauen trägt sich im Moment des Stillstands der Halbinsel zu. Saramago lässt in seinem Buch als Erklärung einen Dichter zu Wort kommen. Die Reise der beiden Länder, ihr Stillstand und ihre neue Stellung in der Welt vermitteln das Bild, „die Halbinsel sei ein Kind, das sich unterwegs herausgebildet habe, sich nun im Meer drehe und seiner Geburt harre, so als befände es sich im Uterus aus Wasser“. 36 Die Kinder der Frauen werden auf der neuen Insel in einer neuen Heimat zur Welt kommen. So wie die Kinder von María Guavaira und Joana Carda werden sie Zeugnisse Iberiens sein. Sie werden keine Nachbarn und keinen mächtigen Staatenbund jenseits der Pyrenäen mehr erleben. Dieses düstere Bild bleibt nach der Lektüre des Romans. Der europäische Gedanke scheint sich in den Köpfen der öffentlichen Meinung nicht manifestiert zu haben. Solange Ressentiments und Unwissen vorherrschen, scheint für viele Portugiesen das „nationale Bewusstsein [...] noch lange nicht reif für eine europäische Föderation von Staaten“. 37

36 37

Saramago 1986: 400. Barrento 1999: 17.

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Zu den Autoren und Autorinnen Friedemann Brause, geb 1986, seit 2005 Studium der Europastudien mit sozialwissenschaftlicher Ausrichtung an der Technischen Universität Chemnitz. Studienschwerpunkte Internationale Politik und Europarecht. Studienaufenthalte in New York und Den Haag. Studentische Hilfskraft an der Professur für Internationale Politik. Nora Däberitz, geb. 1983 in Bergisch Gladbach, seit 2003 Studium der Interkulturellen Kommunikation und Politikwissenschaft auf Magister an der Technischen Universität Chemnitz. Auslandsstudium und Praktikum in Granada, Spanien sowie San José, Costa Rica. Eva Gräfer, geb. 1983 in Lörrach, Magisterstudium der Anglistik / Amerikanistik und Politikwissenschaft seit Oktober 2003. August 2006 bis Juli 2007 Studium im Rahmen des Erasmus-Austauschprogramms an der Universität Porto. Seit April 2008 BasisZertifikat der Interkulturellen Kommunikation. B.A. Carola Graupner, geb. 1984 in Erlabrunn. B.A.-Studium der Interkulturellen Europaund Amerikastudien (Großbritannien- und Lateinamerikastudien) an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und der Universidade da Vigo (Auslandssemester). Derzeitiges Studium: Interkulturelle Kommunikation und Interkulturelle Kompetenz mit psychologischer Ausrichtung an der Technischen Universität Chemnitz. Studentische Hilfskraft an der Professur für Interkulturelle Kommunikation. Julia Kasperczak, geb. 1984 in Berlin, seit 2005 Studium der Europa-Studien mit sozialwissenschaftlicher Ausrichtung an der Technischen Universität Chemnitz. Tätigkeit als studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Im Sommer 2007 als Sprachassistentin in der Ukraine. Zurzeit Bachelorarbeit zur Europapolitik Bulgariens. Katrin Kreißig, geb. 1988 in Schlema, 2007 Abitur in Aue, seit 2007 Studentin der Europa-Studien mit kulturwissenschaftlicher Ausrichtung an der Technischen Universität Chemnitz Johannes Kunath, geb. 1985 in Meissen, seit 2006 Studium der Europa-Studien mit kulturwissenschaftlicher Ausrichtung an der Technischen Universität Chemnitz. Auslandserfahrung: High School Year in Grand Bay, Alabama, USA. Tätigkeit als studentische Hilfskraft an der Professur für Internationale Politik. Neben dem Studium Mitarbeit im studentischen Verein Initiative Europastudien e.V. sowie bei den Jungen Europäischen Föderalisten. Dipl. Pflegewirtin Gordana Martinovi´c, geb. 1963 in Vinkovci (Kroatien), seit 2007 Masterstudium Interkulturelle Kommunikation und Kompetenz an der Technischen Universi-

Zu den Autoren und Autorinnen

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tät Chemnitz. Gelernte Krankenschwester und qualifizierte Pflegefachkraft im mittleren Management. 2002 Berufsbegleitender Diplomstudiengang Pflegemanagement in Hannover mit dem Abschluss Diplomierte Pflegewirtin. Publikationen: Co-Konzeption der Broschüre Pflegemanagement „Sagen Sie, was Sache ist“ Informationsmanagement im Berufsalltag. Eine Handlungshilfe von Praktikern für den Arbeitsalltag im Management für Leitungskräfte im Gesundheitswesen von der Zentralen Arbeitsgruppe Stations- und Wohnbereichsleitung. B.A. Claudia Mehardel, geb. 1984 in Greifswald. Seit 2007 Studentin des Masterstudiengangs Interkulturelle Kommunikation und Kompetenz in Chemnitz. B.A. in Marburg im Studiengang Vergleichende Kultur- und Religionswissenschaft. 2003/04 einjähriger Auslandsaufenthalt in den USA, weitere kürzere Auslandsaufenthalte in Spanien, Großbritannien und Israel. Cornelius Mutschler, geb. 1981 in Stuttgart. Seit 2003 Studium der Interkulturellen Kommunikation und Erwachsenenbildung an der Technischen Universität Chemnitz. Spezialisierung auf Internationale Politik. Auslandsstudium in Granada sowie Forschungsaufenthalt an der Universidad de La Habana, Cuba. Publikation: Machado, C. / Mutschler, C. (2005): „Die Notwendigkeit interkultureller Trainings zur Vorbereitung von Auslandsaufenthalten am Beispiel deutsch-tschechischer Wirtschaftskooperation“ in: Holeˇcková, Radka / Neubert, Andreas / Steger, Thomas (Hgg.), Sächsisch-tschechische Unternehmenskooperation. Probleme und Chancen. Mering: Hampp, 136 –170. Tanja Olischer, geb. 1984 in Greiz. Seit 2004 Studium der Pädagogik, Soziologie und Interkulturellen Kommunikation an der Technischen Universität Chemnitz. Aktuell im 9. Semester, Spezialisierung auf Erwachsenenbildung in interkulturellen Teams oder Teams mit ethnischen Minderheiten in Ungarn. Praktikum und momentane Zusammenarbeit im Bildungszentrum der Deutsch-Ungarischen Industrie- und Handelskammer (DUIHK) in Budapest, Ungarn. Juniorprof. Dr. Teresa Pinheiro, geb. 1972 in Lissabon, seit 2004 Juniorprofessorin an der Technischen Universität Chemnitz. Studium der Germanistik und Lusitanistik in Lissabon und Köln. Promotion in der Kulturwissenschaftlichen Anthropologie an der Universität Paderborn. Forschungsschwerpunkte: Iberische Kulturwissenschaft, Erinnerungskulturen, Migration, Repräsentation kollektiver Identität, Europa-Konzepte. Auswahl jüngster Publikationen: „Memória histórica no Portugal contemporâneo“ in: Anna Kalewska (Hg.), Diálogos com a Lusofonia. Warszawa: Universität Warschau, 2008, 299 – 314; „¿Paraíso ibérico en tiempos de guerra? Visiones de España y Portugal en Cuadros de un viaje por España y Portugal de Willy Andreas y La noche de Lisboa de Erich Maria Remarque“ in: Itinerários – Revista de estudios lingüísticos, literarios, históricos y antropológicos, 6, 235 – 254; „Iberische Sichten der EU-Osterweiterung“ in: Niedobitek, Mathias / Jurczek, Peter (Hgg.), Europäische Forschungsperspektiven – Elemente einer Europawissenschaft. Berlin: Duncker & Humblot (Chemnitzer Europa-Studien 1), 385 – 408.

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Zu den Autoren und Autorinnen

B.A. Constanze Roscher, geb. 1986 in Schlema. Studium der Europäischen Geschichte und der Interkulturellen Kommunikation mit psychologischer Ausrichtung (3. Fachsemester) in Chemnitz. Schwerpunkte im Bachelorstudium Europäische Geschichte: Englische Geschichte, Filmgeschichte. Studienaufenthalte in New York und London, Mitglied der Studienkommission der Interkulturellen Kommunikation, Studentische Hilfskraft an der Professur Interkulturelle Kommunikation. Beatrice Schäfer, geb. 1980 in Schönebeck, seit 2005 Studium an der Technischen Universität Chemnitz. Studiengang Europa-Studien mit sozialwissenschaftlicher Ausrichtung. Auslandserfahrung: Auslandssemester an der Universität Basel mit anschließendem Praktikum am Europainstitut in Basel. Christoph Schmitt, geb. 1985 in Meschede, seit 2005 Student an der Technischen Universität Chemnitz in den Fächern Europa-Studien mit kulturwissenschaftlicher Ausrichtung und Wirtschaftswissenschaften. 2002 halbjähriger Besuch des Gymnasiums in Mölnlycke, Schweden, von 2004 bis 2005 Zivildienst in Nischnij Nowgorod, Russland. Von 2007 bis 2008 Arbeit in einer deutsch-russischen Unternehmensberatung sowie Dozent für Deutsch als Fremdsprache am Goethe-Institut in Nischnij Nowgorod, Russland. Engagement im Russisch-Club an der Technischen Universität Chemnitz sowie als Dolmetscher für russischsprachige Migranten in Chemnitz. Katja Schneider, geb. 1986, seit 2004 Studium der Europa-Studien mit wirtschafts- und kulturwissenschaftlicher Ausrichtung an der Technischen Universität Chemnitz. Judith Varga, geb. 1986, seit 2005 Studium der Europa-Studien mit sozialwissenschaftlicher Ausrichtung an der Technischen Universität Chemnitz.