Widerstand und Dissidenz: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2017 Heft 04 [1 ed.] 9783666800238, 9783525351277, 9783647351278, 9783525800232

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Widerstand und Dissidenz: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2017 Heft 04 [1 ed.]
 9783666800238, 9783525351277, 9783647351278, 9783525800232

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INDES Vandenhoeck & Ruprecht

Heft 4 | 2017 | ISSN 2191-995X

ZEIT SCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT

Widerstand und Dissidenz Interview mit Harald Welzer 

»Man muss sich angegriffen fühlen« Dieter Thomä  Stören­friede in der Politik  Hanna Klimpe  Die Kontroverse um die Volksbühne Markus Pausch  Demokratie als Revolte  Miriam ­Gebhardt  Der Wider­stand der Weißen Rose

Berichte der Geheimpolizei über Bevölkerungsstimmungen in Diktaturen im 20. Jahrhundert

Daniela Münkel / Henrik Bispinck (Hg.)

Dem Volk auf der Spur …

Staatliche Berichterstattung über Bevölkerungsstimmungen im Kommunismus. Deutschland – Osteuropa – China Analysen und Dokumente der BStU, Band 50 2018. 270 Seiten mit 6 Abb. und 15 Tab. gebunden € 20,– D ISBN 978-3-525-35127-7 eBook: € 15,99 D / ISBN 978-3-647-35127-8

Die Autoren befassen sich in international vergleichender Perspektive mit geheimpolizeilichen Berichten über die Bevölkerungsstimmung in kommunistischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Was denkt die eigene Bevölkerung? Welche Themen und welche Probleme bewegen das Volk? Welche Meinungen haben die Menschen von der politischen Elite? Berichte von Inlandsgeheimdiensten über derartige Fragen zählten in Diktaturen zu den wichtigsten Informationsquellen der Staats- und Parteiführungen. Dies galt auch für die DDR, in der das Ministerium für Staatssicherheit die SED-Führung regelmäßig über die Stimmung im Land unterrichtete. Der Sammelband stellt diese Berichte in den breiteren Kontext der Geschichte des 20. Jahrhunderts und behandelt auch Beispiele aus der Sowjetunion, Bulgarien, China oder der ČSSR. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

EDITORIAL ΞΞ Matthias Micus / Marika Przybilla-Voß

Widerstand – für die meisten derjenigen, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einer stabilen Demokratie leben, klingt dieses Wort wie selbstverständlich nach grundlosem Krawall, demokratiefeindlicher Revolte, im besten Fall: halbstarkem Aufruhr. Freilich: In der Antike galt zahlreichen Denkern ebensolcher Widerstand als ein Instrument, mit dem sich eine demokratischere Ordnung, wie es so schön heißt, proaktiv herbeiführen ließ. Und da seinerzeit Macht durch die Figur des singulären Herrschers personifiziert wurde, ist der Urtypus der Widerstandshandlung zur Beendigung einer Gewaltherrschaft der Tyrannenmord. So wird die Tötung Hipparchos im Jahre 514 v. Chr. für gewöhnlich zugleich als klassischer Widerstandsakt und als Gründungsmythos der Athenischen Demokratie klassifiziert. Widerstand ist also einerseits ein Relationsbegriff, der erst durch die Bestimmung der Herrschaftsform, gegen die er sich richtet, Bedeutung und Inhalt gewinnt. Als solcher ist ein fundamentaler, gegen die Grundlagen der bestehenden Ordnung gerichteter Widerstand in einer Demokratie, in der Kritik und Widerspruch nicht nur möglich, sondern als parlamentarische Opposition in den gesetzgebenden Körperschaften institutionalisiert und in Form des Widerstandsrechtes im deutschen Grundgesetz juristisch fixiert sind, zweifellos mit weitaus gravierenderen Plausibilisierungsnotwendigkeiten und Begründungsschwierigkeiten konfrontiert als in anderen Regierungssystemen. Andererseits ist Widerstand insofern ein Gegenbegriff zu Herrschaft. Er bezeichnet ein Handeln, das den Herrschenden – und hiermit können sowohl konkrete Personen als auch überindividuelle Parteien, Institutionen und Strukturen gemeint sein – die Legitimität abspricht und infolgedessen die Gefolgschaft verweigert. Das ist, noch einmal, in Diktaturen etwa oder absolutistischen Monarchien erheblich leichter zu argumentieren als in Demokratien, die auf dem gleichen und geheimen Wahlrecht basieren, in denen sich Regierungs- und Machtwechsel unblutig bewerkstelligen lassen und überhaupt Elitenkritik weithin nicht nur akzeptiert, sondern vielfach respektiert und in breiten Kreisen sogar gewünscht wird. Nun mag die herrschaftskritische Haltung die Widerständler über alle Zeit und jeden Raum hinweg verbinden, in der Wahl der Mittel wie auch in den angestrebten Ziele unterscheiden sie sich jedoch. Mal erfolgt der Widerstand

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kollektiv, mal individuell. Er ist von Gewalt geprägt oder gewaltfrei und als ziviler Ungehorsam deklariert, verläuft spontan oder gründlich geplant. Auch die Beiträge des vorliegenden Heftes thematisieren Widerstand als Tyrannenmord wie im Fall Friedrich Adlers – wobei der von ihm attackierte Tyrann gar nicht so tyrannisch war – ebenso wie als legitimen, ja demokratiekonstituierenden Akt, so in den Beiträgen von Dieter Thomä und ­Markus Pausch. Wie unter einem Brennglas mithin zeigt sich in den Beiträgen dieses Heftes, dass es den einen und einzigen Weg des Widerstands nicht gibt. Widerstandshandlungen sind facettenreich und vielschichtig, ebenso mannigfaltig wie ihr Gegenüber. Die einzige Konstante des Widerstands ist und bleibt letztlich eben die genannte Gegnerschaft zum Bestehenden – mit dem Gegenspieler als den etablierten Eliten und Verhältnissen, der geltenden Ordnung, dem bestehenden (politischen, gesellschaftlichen, ökonomischen etc.) System. Ansonsten überwiegt die Variation. So kann Widerstand eine Veränderung oder einen Umsturz bewirken wollen, sich als systemimmanente Opposition oder als umstürzlerische, eine grundstürzende Transformation anstrebende Dissidenz äußern. Der Bezugspunkt von Widerstand ist dabei durchaus entgegen der gängigen Erwartung und einem weitverbreiteten Wortgebrauch prinzipiell eine – als gut und besser gedachte – frühere Ordnung des Zusammenlebens, die von einem despotischen Führer, von korrupten Machtgruppen oder einem diktatorischen Regime verdorben wurde und deren Wiederherstellung angestrebt wird. Revolutionär und vorwärtsdrängend ist Widerstand also recht eigentlich nicht. Dies ganz im Gegensatz zum Selbstverständnis zahlreicher Akteure, die in Vergangenheit und Gegenwart wie selbstverständlich den Widerstandsbegriff für ihr Tun reklamieren, ja bisweilen exklusiv für sich reservieren zu können meinen und sich selbst auf dem Pol linker Radikalität verorten. Jedenfalls: Widerstand regt sich, er wird geleistet – mal friedlich, mal gewaltsam. Er wird erwartet, er wird ignoriert, gegen ihn wird vorgegangen. Es wird zum Widerstand aufgerufen, mal wird er vermisst, mal als unerträglich empfunden. Er kann von Individuen, Gruppen oder der Gesellschaft ausgeübt werden, dabei zwecklos oder fruchtbar sein. Im Erkennen des Gegenspielers, gegen den er sich richtet, liegt schon die erste Hürde, zumindest angesichts einer zunehmend sich globalisierenden Weltgesellschaft mit anonymisierten Herrschaftsstrukturen jenseits des gewohnten und überschaubaren nationalstaatlichen Rahmens. Daran schließt sich die Frage nach der Motivation und den Kapazitäten der ausübenden Akteure an.

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EDITORIAL

Der Ruf nach Widerstand hallt durch die Gesellschaft – und scheint zu verpuffen. Woran mag das liegen? Wie kann Widerstand erfolgen? Was zeichnet Widerstand aus? Und ist er überhaupt möglich? Noch weitere Fragen drängen sich auf: Übt der Andersdenkende oder der Andershandelnde per se Widerstand aus? Ist Widerstand gegen eine demokratisch gewählte Person legitim? Muss Widerstand im Sinne des Gemeinwohls geschehen – oder kann er auch Selbsthilfe sein? Die vorliegende Ausgabe der INDES widmet sich im Schwerpunkt dem Thema »Widerstand und Dissidenz«, um den aufgeworfenen Fragen nachzuspüren und zu versuchen, das komplexe Thema der Widerständigkeit in seinem Perspektivenreichtum zu erfassen. Im Vordergrund steht dabei vor allem das Spannungsverhältnis von Demokratie und Widerstand. Leitend ist die Frage nach den Beweggründen widerständiger Individuen und Kollektive. Erlauben Sie, liebe Leserinnen und Leser, uns abschließend eine Bemerkung in eigener Sache. Das Heft, das Sie hier in der Hand halten, ist das erste, das nicht mehr von Prof. Franz Walter herausgegeben wird. Nach langer schwerer Krankheit ist er zum 1. Oktober 2017 in den vorzeitigen Ruhestand getreten. Damit endete zugleich auch seine Herausgeberschaft der ­I NDES, einer Zeitschrift, die es ohne ihn nicht geben würde und der er, durch alle Ausgaben hindurch, seinen prägenden Stempel aufgedrückt hat. Franz ­Walters Rückzug bedeutet einen tiefen Einschnitt – für die INDES, das ­Göttinger Institut für Demokratieforschung, seine ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Umso mehr freuen wir uns, dass er uns weiterhin als Autor erhalten bleibt, diesmal im Übrigen gleich doppelt, als Verfasser eines Textes über Friedrich Adler ebenso wie als Interviewer Fritz Heines. Wir wünschen Franz Walter alles Gute und Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, viel Vergnügen bei der Lektüre.

EDITORIAL

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INHALT

1 Editorial

ΞΞMatthias Micus / Marika Przybilla-Voß

>> INTERVIEW



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»Man muss sich ­angegriffen fühlen« ΞΞEin Gespräch mit Harald Welzer über Widerstand, Autonomie und Klimawandel

>> ANALYSE 18 Störenfriede in der Politik



Vorschlag zu einer Typologie ΞΞDieter Thomä

26 Digitale Debattenbühne

Die Kontroverse über die Neuausrichtung der Volksbühne ΞΞHanna Klimpe

37 Kunst als Widerstand

Anmerkungen zu einer schwierigen Debatte ΞΞJennifer Ramme

45 Die Weiße Rose

Überlegungen zur Sozialisation der ­Widerstandskämpfer ΞΞMiriam Gebhardt

57 Widerstand im demokratischen Verfassungsstaat Das Widerstandsrecht des Grundgesetzes ΞΞSebastian Ehricht

66 Hannah Arendt

Ein Zuhause für den zivilen Ungehorsam ΞΞWolfgang Heuer

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76 Energiewende und ­Widerstand

Dimensionen lokaler Konflikte um ­Energiewendeprojekte ΞΞJulia Zilles

83 Body Politics Revisited Feminismus und Widerstand ΞΞJana Günther

92 Vom Hype in die B ­ edeutungslosigkeit? Die Nuit-debout-Bewegung in Frankreich ΞΞTeresa Nentwig

100 Zweifel, Kritik und Dialog Die Demokratie als Revolte ΞΞMarkus Pausch

>> PORTRÄT 108 Tödliche Schüsse im Nobelrestaurant Das Attentat des Sozialdemokraten Friedrich Adler ΞΞFranz Walter



>> INTERVIEW 128 »Der Mensch klammert sich an Hoffnungen« ΞΞInterview mit Fritz Heine über die Schwäche der Weimarer ­Arbeiterbewegung, den sozialdemokratischen Widerstand und die Zeit des Nationalsozialismus

PERSPEKTIVEN

>> ANALYSE 151 Rechtsextreme Demokraten?

Das Beispiel des Holocaust in Frankreich ΞΞMichael Mayer

Inhalt

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SCHWERPUNKT: WIDERSTAND UND DISSIDENZ

INTERVIEW

»MAN MUSS SICH ­ANGEGRIFFEN FÜHLEN« ΞΞ Ein Gespräch mit Harald Welzer über Widerstand, Autonomie und Klimawandel Am heutigen Tag findet die Weltklimakonferenz statt. Der einstige Musterschüler Deutschland scheitert krachend an seinen nicht einmal sonderlich ambitionierten Klimaschutzzielen, der Dieselskandal bleibt akut, wirksame Klimaschutzmaßnahmen wie die Besteuerung von Flugbenzin bleiben ein Tabu. Kurz: Die deutsche Klimapolitik gleicht einer Mischung aus Ignoranz und Verweigerung. Zeit, Widerstand zu leisten? Zeit, Widerstand zu leisten, ja. Aber in diesem speziellen, eher auf Deutschland bezogenen Themenzusammenhang hieße das auch Widerstand gegen sich selbst leisten zu müssen, das Gesellschaftsmodell, von dem man selbst profitiert, aufzukündigen, kurz: »vor dem eigenen Kamin zu demonstrieren«, wie es ein Grünen-Politiker einst auf den Punkt brachte. Das aber wirft die historisch interessante und äußerst ernsthafte Frage auf: Hat es eigentlich schon Protestformen gegeben, die sich selbst adressieren? Denn im Grunde genommen ist das Thema Klimawandel, insbesondere in Gestalt der Weltklimakonferenzen, eine Geisterdiskussion: 25.000 Personen, die über die Reduzierung von Treibhaus­ gasen diskutieren, aber das Thema Wachstumswirtschaft ebenso wenig tangieren wie jene, die Sie in Ihrer Eingangsfrage aufgeworfen haben. Und dies gilt eben auch für die deutsche Debatte: Ein Tempolimit auf Autobahnen bleibt indiskutabel, zeitgleich boomen Kreuzfahrten und Flugverkehr. Das ist eine Groteske, die in einer stillschweigenden Komplizenschaft aller Beteiligten stattfindet. Jeder findet den Klimawandel besorgniserregend, aber solange die elementaren Lebensgrundlagen nur in fernen Ländern verschwinden, folgt nichts daraus. Gilt in Anbetracht dessen das »Prinzip Verantwortung«, das noch Anfang der 1980er Jahre diskutiert wurde, nicht mehr? Das Prinzip der Fernstenliebe funktioniert mit Sicherheit nicht, kann es psychologisch auch gar nicht. Natürlich sind wir in der Lage, in gewissen

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Größenordnungen empathisch zu reagieren; aber grundlegend altruistisch zu handeln oder Empathie für die gesamte Menschheit zu entwickeln, scheint mir ein unrealistischer Wunsch. Er ist aber auch nur ein Teil des Problems. Das wirkliche Problem besteht meines Erachtens in der Parallelität zweier völlig konträrer Entwicklungen. Auf der einen Seite sehen wir, wie sich Wachstumswirtschaft und die daran gekoppelten Lebensstile in einer atemberaubenden Geschwindigkeit globalisieren und das Problem Klimawandel eskalieren lassen. Und auf der anderen Seite finden diese Konferenzen statt, auf denen auf kafkaeske Art und Weise das Gegenteil entweder vollkommen unverbindlich postuliert oder in ferne Zukünfte verlagert wird. Die Frage nach Verantwortung taucht dagegen kategorial überhaupt nicht auf, kommt gerade noch an den Stellen zum Tragen, wo es um Kompensationen für Klimaanstrengungen der armen Länder geht. Aber erstens werden diese dann nicht gewährt. Und zweitens müssen diese Länder doch gar nicht sparen, weil deren CO2 -Ausstoß ohnehin sehr gering ist. Wenn wir jetzt auf die eben benannten Lebensstile und gleichzeitig das Agieren im Rahmen der Weltklimakonferenz schauen: Wer wäre an der Reihe und in der Position, wirklich Widerstand zu leisten? Als allererstes diejenigen, die das geringste Interesse daran haben, also die reichen Länder. Das mutet verrückt an, aber natürlich wären die frühindustrialisierten Gesellschaften, die den Klimawandel überhaupt hervorgerufen haben und bis heute von den dahinterstehenden Prozessen am meisten profitieren, schon moralisch in der Pflicht, etwas zu tun. Aber Klimapolitik basiert nun mal nicht auf Moralvorstellungen. Aber vieles in der Debatte um konkretes Handeln basiert durchaus auch auf moralischen Maximen, die im Alltag konsequente Handlungsstrategien empfehlen. Sie selbst haben einiges beschrieben, Gleiches gilt etwa für den Ökonomen Niko Paech. Aber scheitert der gesellschaftliche Umbruch nicht auch am Konflikt zwischen Alten und Jungen, zwischen automobiler Wirtschaftswundergeneration und neuer ökologischer Empfindsamkeit? Das glaube ich nicht, gerade nicht in Hinblick auf das Mobilitätsverhalten. Es mag sein, dass die junge Generation weniger Auto fährt, dafür fliegt sie umso mehr. Da wird vielmehr, wie der Wiener Politologe Ulrich Brand sagen würde, eine Ausprägung imperialer Lebensweise gegen eine andere ausgetauscht. Und auch im Umfeld von Gemeinwohlökonomie, Urban ­Gardening und ähnlichen Geprägen sind die Älteren überproportional vertreten. Erfreut bin ich aber, dass im Postwachstumsdiskurs die Jüngeren überwiegen. Aber

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Widerstand und Dissidenz  —  Interview

dass es einen manifesten Anteil bei den unter Dreißigjährigen gibt, die jetzt einen ganz anderen Lebensstil favorisieren, stimmt ja leider nicht. Wenn wir nun nach China blicken, weltweit größter CO2 -Emittent, auch, weil dort Waren für die ganze Welt produziert werden, sieht man ein Top-down-Vorgehen gegen den Klimawandel. Wäre eine Art »Ökodiktatur« die bessere, weil wirksamere Lösung? Da bin ich der falsche Adressat. Schließlich kippen die Ökodiktaturvorstellungen allzu häufig das Kind mit dem Bade aus. Also, wenn die letzte Konsequenz heißt, Kinder seien im Hinblick auf CO2 -Emissionen ein ernsthaftes Problem, würde ich den Klimawandel dann doch vorziehen. Ich will die Diskussion auch ganz grundsätzlich anders führen, als sie im Postwachstums- oder Klimawandeldiskursumfeld geführt wird. Für mich ist die entscheidende Kategorie die eines zivilisatorischen Niveaus, welches Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und die zentralen Versorgungsfragen mindestens versucht zu realisieren. Die westlichen liberalen Demokratien haben das bis zu einem gewissen Maße auch geschafft – aber um den Preis eines zerstörerischen Naturverhältnisses. Daher sage ich, die Frage, die wir im 21. Jahrhundert schnellstmöglich zu beantworten haben, lautet: Wie kann ich den zivilisatorischen Standard halten auf der Grundlage eines völlig anderen Naturverhältnisses, sprich einer anderen Form des Wirtschaftens und was muss ich dafür beim Metabolismus verändern? Die Konsequenz daraus kann nur sein, alles spürbar herunterzufahren und dabei neu zu kombinieren – etwa die Nutzung erneuerbarer Energien mit weniger Konsum, anderen Formen des Wohnens, des Arbeitens, der Mobilität usw. zusammenzudenken. Dafür gibt es keinen Masterplan und kein Rezept. Aber es beschreibt zumindest eine Richtung, aus der sich dann auch ein konkreter Ansatzpunkt für Widerstand speist, einer der sich diesbezüglich eher aus Gerechtigkeitsvorstellungen ableitet als aus abstrakten Erwägungen. Bei Niko Paech bspw. ist es hingegen umgekehrt: Paech ist so wissenschaftsgläubig, dass er in der Konsequenz auch daran glaubt, Berechnungen der Klimawissenschaftler ohne Abstriche in die soziale Welt umsetzen zu können und zu müssen. Das aber ist im Kern totalitär und führt in letzter Konsequenz zur Erkenntnis, dass man den Menschen abschaffen müsste … Ein schreckliches Szenario …! Ja, aber die dahinterstehende Logik ist so brutal. Was viele, die nicht aus der Sozial- oder Geschichtswissenschaft kommen, nicht verstehen können oder wollen, ist die simple Einsicht, dass sich naturwissenschaftliche Befunde nicht ohne Weiteres in soziale Prozesse übertragen lassen. Dort, wo das versucht Ein Gespräch mit Harald Welzer  —  »Man muss sich a­ ngegriffen fühlen«

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wurde, endete es für nicht Wenige im Gefängnis. Oder noch drastischer formuliert: Das endet immer im Massenmord. In Ihrer jüngsten Publikation haben sie Autonomie als eine Fähigkeit, nach eigenen Prinzipien zu handeln, gefasst. Diese Prinzipien sind ein wichtiger Teil des Widerstandes. Was befördert diese Ausbildung von eigenen Prinzipien? Wie kann man eine Gesellschaft gestalten, die Raum für eigene Prinzipien zulässt? Das ist letztlich eine Frage, die paradoxal ist. Es wäre wichtig, jungen Menschen abweichendes Verhalten beizubringen, etwa in der Schule, die aber nun mal auf das Gegenteil ausgelegt ist. Dennoch ist es nie zu früh für die Erkenntnis, dass es nahezu immer Handlungsspielräume gibt, dass Regeln hinterfragbar sind, dass Gewohnheiten und Erfahrungswissen irren oder zumindest ihre überzeitliche Geltung verlieren können. Es ist ein hoch emanzipativer Akt, Spielräume zu erkennen und zu testen, wie weit diese sich dehnen lassen. Empirisch betrachtet, ist es auch eine der wesentlichen Fähigkeiten von Menschen, die sich abweichend verhalten oder widerständig verhalten, dass sie Spielräume sehen können. Wohl jede Widerstandshandlung operiert mit dem Auslegen von Spielraum. Wenn ich, umgekehrt, keinen Handlungsspielraum habe, kann ich auch keinen Widerstand leisten. Problematisch ist deshalb, dass derzeit das Ausmaß an Fremdsteuerung wieder größer und die individuell wahrgenommenen Handlungsspielräume wieder enger werden. Etwas anekdotisch formuliert: Menschen glauben heute nicht selten, sie wären verloren, gingen sie ohne Handy aus der Tür, können den dazugehörigen Autonomieverlust aber nicht sehen. Insofern läuft es im Moment nicht so richtig gut in Sachen Autonomie. Einen Blick allenfalls für Spielräume und Grenzen bedeutet aber zugleich, nur Facetten des Systems zu ändern, nicht aber selbiges grundsätzlich zu verlassen oder zu überwinden? Ganz grundsätzlich, ich bewege mich prinzipiell nie außerhalb eines Systems. Es wäre ja Hybris zu glauben, aus jedwedem System einfach aussteigen zu können, auch deswegen Hybris, weil vieles von diesem Systemischen fest in einem verankert ist, einem der Außenblick verstellt ist. Das beginnt schon bei dem Rahmen der Problemwahrnehmung und -beschreibung. Aber ich würde sagen, dass in der offenen Gesellschaft die Auslegungsspielräume am breitesten sind. Mit der Problematik, dass wahrgenommene Widerstände auch als manifeste Widerstände gedeutet werden können; und dem Übersehen der Tatsache, dass Widerstand in solchen Gesellschaften auch keinen sehr hohen Preis hat. Deshalb ist das Gerede von »Mut« und »Mutbürgern« Unfug. Mut braucht man in autoritären Gesellschaften, nicht in offenen.

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Widerstand und Dissidenz  —  Interview

Wir-haben-es-satt-Demos, der Kampf um den Hambacher Forst, »Ende Gelände«, eine lange ökologische Ideengeschichte mindestens seit der Lebensreform auf der einen Seite und ein selbst weit in konservative Kreise hereinragendes Unbehagen an Beschleunigung und Modernisierung auf der anderen Seite: Trotzdem schaffen es ökologische Themen kaum, die Aufmerksamkeitsschwelle zu überwinden. Wenn aber in Dresden regelmäßig ein paar Tausend Rechte marschieren, verändert das die ganze Politik. Was läuft da schief? Vieles. Aber die verändern die ganze Politik deswegen, weil die Medien das Problem sind und nicht die paar Tausend Rechten. Aber das ist noch mal ein Thema an anderer Stelle. Das Problem bei der Ökobewegung ist, glaube ich, nicht minder dramatisch, nämlich, dass sie längst eingepreist ist. Natürlich ist die Ökologiebewegung eine erfolgreiche Modernisierungsbewegung gewesen. Aber der auch institutionelle Erfolg, denken Sie nur an die grüne Partei, hat den Eindruck manifest werden lassen, die Inhalte der Ökologiebewegung seien scheinbar überallhin diffundiert, in alle gesellschaftlichen Bereiche. Anders gesagt: Der Stachel ist weg aus den Geschichten. Und der zweite Punkt ist: Die aktive Avantgarde der Bewegung ist eher geprägt von subkultureller Radikalität, von sozusagen supergrünen Grünen oder superökologischen Ökos mit dem entsprechenden, wenig anschlussfähigen, Habitus. Das hat dann natürlich auch als Subkultur seinen Stellenwert, der ist aber nicht gesellschaftsverändernd. Und der letzte Punkt, der sicher mit der genannten Entwicklung zusammenhängt, aber auch eine Krisendiagnose ist, ergibt sich aus der Veränderung des Ökologiediskurses selbst. Am Anfang sehr stark und durchaus radikal auf Gesellschaft bezogen, ist die ökologische Debatte heute vor allem eine instrumentelle, in deren Mittelpunkt technologische Lösungen stehen, was im Umkehrschluss heißt, dass die Ökologiebewegung Frieden mit dem System geschlossen hat. Das offensichtliche Ergebnis dieser Verschiebung haben wir schon angerissen: Diese Form von Klimakonferenzen, die gesellschafts- und wirtschaftspolitische Fragen systematisch ausklammert. Das zusammen beschreibt das Dilemma der Ökobewegung. Hieße das, eine andere Ästhetik und eine Rückkehr zu mehr Radikalität könnten mehr Erfolg versprechen? Ja, denn Nichtradikalität lädt gerade dazu ein, etwas für zumutbar zu halten. Denken Sie an das Verbot des Rauchens: Es wäre vor dreißig Jahren völlig undenkbar gewesen, Menschen in öffentlichen Räumen das Rauchen zu verbieten, eine Kulturrevolution, geradezu radikal. Es ist aber dennoch passiert und hat die öffentliche Benutzeroberfläche komplett verändert. Ein Gespräch mit Harald Welzer  —  »Man muss sich a­ ngegriffen fühlen«

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Also dann doch radikale Verbote? Verbote, ja, aber auch radikale Forderungen. Niemand traut sich zum Beispiel, SUVs zu verbieten. Dabei gibt es nicht einen einzigen Grund, weshalb es solche Fahrzeuge gibt. Ordnungspolitisch wäre das überhaupt kein Problem. Aber es wird, wie bei vielem anderen auch, wieder das Stichwort Kerosin­steuerbefreiung, nicht angegangen, auch nicht von den Grünen, die der Mut verlassen hat, unbequem zu sein. Wenn Politik scheitert, bräuchte es dann, in Anschluss an Václav Havel, für den Versuch, in einer gerechten, ökologischen, freiheitlichen Wahrheit zu leben, Öko-Dissidenten? Der Kapitalismus kennt ja differenzierte Lebenswelten, baut Dissidenzen sogar ein. Insofern glaube ich, müsste es schon beides geben, also Veränderungen des praktizierten Lebensstils oder auch der Wirtschaftsweisen auf der einen, aber auch politische Artikulation auf der anderen Seite. Es gibt viele, sehr gute und zukunftsweisende Praxisprojekte, aber nicht wenige sind im Kern viel zu unpolitisch. Erst wenn die Gesamtheit der transformativen Akteure auch politische Forderungen artikuliert, nicht nur im Sinne eines für etwas sein, sondern durchaus auch in Gegnerschaft zu den Verhältnissen, wenn das Ganze eine politische Dimension erhält, dann wird es interessant. So gelten nachhaltig wirtschaftende Unternehmen bspw. als Pioniere, am Markt aber haben sie mit vielen Nachteilen zu kämpfen. Dieses systematische Defizit sollte politisch bekämpft werden, ohne Scheu vor Konflikten. Es ist der neoliberalen Ideologie geschuldet, dass immer alles Win-Win sein muss. Gesellschaftliche Veränderungen sind das aber nie. Sie sind immer Ergebnis von Konflikten, in denen jemand gewinnt und jemand verliert. Und wenn Sie jetzt zwei oder drei Ansatzpunkte skizzieren müssten, an denen politisch angesetzt werden sollte, um Wandel zu erreichen: Welche wären das und sehen Sie derzeit Akteure, die dazu in der Lage sind? Zunächst und nochmals: Die Evidenz, dass eine tiefgreifende Veränderung auf der ökonomischen Ebene notwendig ist, ist und bleibt glasklar. Der Widerstandsanlass hierzulande wäre also weiterhin die ökosoziale Frage. Insofern glaube ich, steckt in diesem Gedanken eines Widerstandes, aus im weitesten Sinne ökologischen Motiven, schon noch etwas drin. Es gibt viele Versuche des guten Lebens und der ökosozialen Gerechtigkeit; was aber fehlt, ist, dass die Leute tatsächlich etwas Anderes wollen. Und notwendig ist eine neue, andere Symbolik. Tiefgreifende Veränderungsprozesse entstehen immer dann, wenn der Druck zu groß wird. Der Druck ist aber nicht groß genug

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in unseren Gesellschaften. Die demoralisierende Erkenntnis ist ja leider viel mehr die, dass Widerstand häufig in jenen Gesellschaften viel heftiger ist, in denen auch die Zwangsverhältnisse viel größer sind. Fehlender Veränderungswille, fehlender Veränderungsdruck, die falschen Symbole – braucht es eine Öko-Ideologie, einen politischen Ökologismus? Ich würde das anders formulieren: Was fehlt, ist Zukunft, eine irgendwie vorstellbare andere Welt, eine, die auch noch attraktiv ist. Wenn ich unter extrem ungerechten Verhältnissen lebe, dann ist es relativ leicht, eine Vorstellung einer gerechteren Welt zu haben, und auch die Legitimität, eine solche haben zu wollen, ist vorhanden. Daraus erklärt sich auch Widerstand. Aber es gibt kein Zukunftsbild, das dem gegenwärtigen so überlegen wäre, dass das Kämpfen lohnte. Das nicht beschrieben zu haben, nicht beschreiben zu können, ist ein großes Defizit aufseiten der Sozialwissenschaften, der sozialen Bewegungen, auch der Intellektuellen. Zukunftsbilder funktionieren meist über den Begriff des Fortschritts. Der aber hat in der Spätmoderne einen schlechten Leumund, auch weil der bundesrepublikanische Fortschrittsglaube längst der durchaus realen Einsicht gewichen ist, dass es den eigenen Kindern möglicherweise nicht mehr besser gehen wird als einem selbst. Aber das stimmt ja vielleicht gar nicht, ist zumindest nicht belegbar. Und warum eigentlich nicht den Fortschrittsbegriff nutzen, der, anders als der leere Begriff der Innovation, über seine notwendige Referenz gerettet werden kann? Fortschritt lässt sich schließlich mit Inhalt füllen, etwa als sozialer oder sozial-ökologischer Fortschritt. Fortschritt abzulehnen, nur, weil er linear gedacht dem Konzept der Moderne inhärent scheint, halte ich für intellektuell verspannt und wenig zielführend. Aber politisch scheint die Innovation gesiegt zu haben. Führten die Grünen Mitte der Nullerjahre einen durchaus auch fortschrittskritischen Diskurs über die ­Ökologie, obsiegte nach wenigen Jahren der Green New Deal und beendete sämt­ liche politischen Grundsatzdiskussionen. Seither gilt zumindest in der politischen Auseinandersetzung ein märchenhaft anmutendes Fortschrittsmodell, das ganz stark auf Innovation setzt und dabei Rebound- oder Backfire-Effekte ignoriert. Bräuchten wir in Anbetracht dieser Verkürzungen nicht eine neue intellektuelle und politische Debatte? Aber natürlich brauchen wir die. Der Niedergang der Grünen ist ja der beste Anlass dafür; aber es ist ja eigentlich viel dramatischer. Nicht nur die Grünen verlieren, sondern auch die Sozialdemokraten, die Linken insgesamt. Ein Gespräch mit Harald Welzer  —  »Man muss sich a­ ngegriffen fühlen«

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Alles das, was sich als fortschrittlich verstanden hat und versteht, ist mittlerweile in der Defensive und dabei zudem nur wenig in der Lage, Ökologie und Gerechtigkeit zusammen zu denken. Es scheint, als habe das fortschrittliche Lager verlernt, jenseits des Bestehenden denken zu können, dies in Ideen zu übersetzen und wirkmächtig zu machen. Da klafft eine riesige Lücke und die Grünen sind die leibhaftig gewordene Hilflosigkeit in dieser Hinsicht. Das ist eine Katastrophe und führt zu der Frage, ob Parteien überhaupt noch die richtigen Adressaten einer sozial-ökologischen Wende sein können. Bräuchte es eine Art Neubeginn? Aus wissenschaftlicher Perspektive würde ich sagen, dass es zunächst eine Modernisierungstheorie moderner Gesellschaften bräuchte. Eine, die zumindest die Anforderungen des 21. Jahrhunderts mitdiskutieren würde. Das zivilisatorische Projekt der Moderne ist ja bei der Industriemoderne stehengeblieben und hat darüber die Zukunftsvorstellung ebenso wie ihre gesamte Theorie verloren. Das ist gewissermaßen, Francis Fukuyama als Stichwortgeber nehmend, als Ende der Geschichte verstanden worden. Aber niemand hat sich infolgedessen Gedanken darüber gemacht, wie es weitergehen kann und soll. Das ist der Zustand, den wir im Moment haben. Das beschreibt die theoretische Ebene, aber wie ist es mit der gesellschaftlichen? Bräuchte es nicht auch einen Weckruf? Und wie könnte der entstehen? Gesellschaften hören nicht auf Weckrufe. Das ist ein Mythos. Ich glaube vielmehr, eine ganz andere Korrelation zwischen der Dringlichkeit des Klimawandels und den Verkaufszahlen für SUVs zu erkennen: Die Käufer solcher Fahrzeuge denken womöglich viel eher darüber nach, dass es aus ökologischen Gründen verboten werden könnte, SUVs zu fahren – deswegen kaufen sie sich jetzt noch schnell so ein Ding. Als Sozialpsychologe muss ich die autonome Aneignungsfähigkeit und Interpretation der Menschen einkalkulieren. Das aber wird viel zu selten getan und auch deshalb ist dieser ganze Umweltdiskurs schief. Und daher glaube ich auch, dass es am Ende tatsächlich darauf hinausläuft, dass Menschen den Ist-Zustand halten, wenn sie keine lohnende Alternative sehen. Und der ist in einer der reichsten Gesellschaften der Welt ja alles andere als unangenehm. Und das mehr oder weniger vorhandene Öko-Gewissen lässt sich doch durch Industrieprodukte mit Öko-Label befriedigen. Und damit sind dann all Konflikte erledigt. Nochmals, das reicht nicht für eine öko-soziale Wende, aber solange wir nichts anzubieten haben, ist hier für die meisten das Ende der Fahnenstange erreicht.

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Bewegt man sich letztlich in einem simulativen ökologischen Zeitalter, wo dann gesagt wird, ich kaufe keine Avocados, aber ich fliege dreimal um die Welt? Na ja, die Avocados kaufen sie ja zusätzlich noch, sofern sie aus ökologischem Anbau kommen. Da ist also sicher viel Simulation dabei, aber ich würde das den Einzelnen gar nicht moralisch ankreiden. Jeder macht was er kann, nach seinen Lebensumständen und Fähigkeiten. Aber als politische Frage greift das zu kurz: Um Gesellschaft zu verändern, und da sind wir am Anfang unseres Gesprächs, braucht es eine Idee, sonst bleibt alles weitestgehend Kosmetik oder Simulation. So wie die Klimakonferenzen, die maßnahmenfreie Beschlüsse quasi als Depeschen ans Klima senden. Das ist ja hochgradig simulativ. Aber was wäre denn das alternative Angebot? Ich versuche da auf zwei Ebenen zu argumentieren, also einerseits den Menschen das Bestehende und Anerkannte, das »immer mehr«, madig zu machen. Das funktioniert auch ganz gut, weil die Hyperkonsumangebote die meisten Menschen überfordern. Meine Behauptung, die ich empirisch nicht belegen kann, ist, dass kaum jemand Christmas Shopping in New York betreiben will. Die wenigsten wollen das, sind aber aufgrund eines gewissen Drucks, etwa des Mithalten-Könnens, gefangen. Es gibt aber gute Anzeichen dafür, dass es sich nicht auszahlt, alles mitzumachen. Andererseits möchte ich über eine freiere, offenere lebensqualitätsvollere, gerechtere Welt sprechen. Wenn ich nun das eine madig mache und das andere attraktiv, dann kann vielleicht zwischen den beiden Polen eine produktive Spannung entstehen. Eine Spannung, aus der neue Ideen, neue Fortschritte, neue Zukünfte entstehen können. Deshalb interessieren mich persönlich Zukunftsbilder der Menschen. Wovon Menschen jenseits der Konsumbefriedigung träumen, ist ja ebenso interessant wie wenig erforscht. Weil es, vermittelt über die Werbeindustrie ausreichend Traumanbieter gibt? Ist es nicht, in Zeiten lernender Algorithmen und deren Dauergegenwart via Smartphones, längst ein systemisches Problem, weil nahezu jeder Traum ein Preisschild besitzt, einen Anbieter? Genau so funktioniert das in der Tat, jedem nach seiner Sehnsucht das passende Produkt verkaufen. Aber das funktioniert vielleicht nur, solange es nichts Anderes, nichts Attraktiveres gibt. Menschen träumen doch eher von einer glücklichen Beziehung, von eigenen Kindern, vielleicht noch davon, einmal Prinzessin zu sein, als von Konsumartikeln. Es könnte doch sein, dass die meisten Träume gar nicht materieller Art sind. Das wäre eine zu untersuchende Hypothese. Dem will ich mich ganz persönlich mehr widmen, Ein Gespräch mit Harald Welzer  —  »Man muss sich a­ ngegriffen fühlen«

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auch weil in der Nachhaltigkeits- und Ökologieszene zu viel, und auch viel zu erfolglos, auf Sendung gesetzt wurde und wird statt auf Empfang. Deshalb sollten wir wieder mehr zuhören, uns fragen, was Menschen umtreibt. Wenn dabei herauskäme, alle träumten nur von einem iPhone, dann wäre das äußerst unglücklich, aber dann würde ich mir die Idee mit den Zukunftsbildern aus dem Kopf schlagen. Aber ich glaube das nicht. Und erst davon leitet sich die Frage nach dem Weg in eine andere Zukunft ab. Das kann ich doch nicht implementieren, wie die ganze Ökoszene denkt. Im Gegenteil – soziale Utopien sind in Menschen sehr tief verankert, sie artikulieren sich nur anders. Und werden ja auch gelebt, in Ökodörfern, durch verschiedene Formen bewussten Handelns, durch Verzicht und anderes. Aber die Akteure und deren Ideen werden nicht selten belächelt, oft ins Lächerliche gezogen, manchmal sogar bedroht. Wie erklärt sich das? Nun, sie zeigen ganz real, was es in der Konsequenz bedeutet, so zu leben, und sie zeigen, dass es die Möglichkeitsräume längst gibt. Psychologisch lässt sich das wohl nur so interpretieren: Es gibt Menschen, die nehmen die öko-soziale Utopie ernst und weisen dadurch darauf hin, dass die allermeisten Menschen sie ganz unernst betrachten. Die halten ja selbst denen den Spiegel vor, die zwar den ökologischen Durchblick haben mögen, es aber beim Durchblick bewenden lassen; aber auch jenen, denen solche Utopien abgehen. Aber eine Beschämung ist es ja in beiden Fällen … … und deshalb stehen immer die Falschen unter Rechtfertigungszwang, jene, die Widerstand gegen den Klimawandel leisten, und nicht jene, die ihn mit ihren SUVs mitverursachen?

Genau, und ich würde dieses Argument generalisierend stark machen. Egal, ob es Ökodörfer sind oder eine Transition Town oder initiative Unternehmen, die in Deutschland Textilien umweltfreundlich fabrizieren: Sie bekommen von nahezu allen Journalisten die Frage gestellt, was das eigentlich bringe und ob das skalierbar sei. Und das nicht-nachhaltige Großexperiment, das gegenwärtig dominiert, wird nie daraufhin befragt. Obwohl, siehe Klimakonferenz, klar scheint, dass dieses Experiment scheitern dürfte. Diese Perspektive umzudrehen, ist ein zentraler Schritt. Die Rechtfertigungszwänge müssten eigentlich die anderen haben und nicht jene, die anfangen, etwas Anderes zu machen. Die sollten sich nicht rechtfertigen müssen, wofür auch? Dass sie es besser machen? Ein klares Plädoyer für einen Perspektivwechsel. Aber haben wir den nicht längst, nur aus der falschen Richtung? Schließlich scheint die Moderne jenseits der

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Widerstand und Dissidenz  —  Interview

Wunschträume einer ökosozialen Moderne in eine hoch regressive Phase eingetreten zu sein. In der Tat haben wir es im Moment mit einer sehr regressiven Phase zu tun, in jeder Hinsicht. Und diese Regression ist sicher hochgradig brisant und sehr bedrohlich, aber zumindest insofern nicht überdramatisch, als sie einer gewissen Entwicklungslogik folgt, die uns auch herausfordert, unsere Komfortzonen zu verlassen. Im Angesicht manch aktueller Konflikte habe auch ich mich dabei ertappt, dass ich viel zu lange und viel zu naiv geglaubt habe, dass es so etwas wie die Fortsetzung eines hegemonialen Modells gibt – so als sei unsere Moderne universalisierbar. Man rechnet natürlich immer mit Rückschlägen. Aber dass es überausschlagende Rückschläge gibt, wie wir sie derzeit erleben, das hat die bundesrepublikanische Gesellschaft in den letzten zwanzig oder dreißig Jahren doch nicht erleben müssen. Mit der Folge, dass nicht mehr mit einer fundamentalen Gegnerschaft zum Bestehenden gerechnet wurde. Aber es gibt sie, die Gegner, und sie werden, wie die neurechte Bewegung zum Beispiel, nach einer langen Phase der scheinbaren Ohnmacht, wieder mächtiger. Und da ist es, Stichwort Konflikt, im Zusammenhang mit dieser regressiven Entwicklung wichtig, sich auch emotional angegriffen zu fühlen. Immer wieder höre ich in Veranstaltungen die Frage, wie man die Produzenten und Mitläufer der Neuen Rechten wieder auf die richtige Seite ziehen könne, immer wieder wird dann die Forderung erhoben, jenen zuhören, einen Dialog auf Augenhöhe führen zu müssen. Doch mein Gefühl ist, dass sich die Pädagogisierer und Zuhörer in ihrem Gegenüber, der neurechten Bewegung, täuschen. Die neurechte Regression will die Lebensform, die von der Mehrheitsgesellschaft favorisiert wird, vernichten. Denen geht es nicht um Aushandlung, sondern um Hegemonie. Sie haben auch kein pädagogisches Konzept, ihre Gegner umdrehen zu wollen, sondern sie greifen an. Und eine adäquate Reaktion auf einen Angriff ist, sich angegriffen zu fühlen! Sich angegriffen zu fühlen schärft zudem nochmal die Sinne dafür, dass es sich nicht um ein pädagogisches Problem handelt, weshalb der Instrumentenkasten der Pädagogik zugunsten des politischen Konfliktes bisweilen zurücktreten darf. Und es bringt uns an den Ausgangspunkt des Gespräches zur Formierung Prof. Dr. Harald Welzer, geb. 1958, ist Sozialpsychologe, lehrt an der Europa-­Universität ­Flensburg und an der ­Universität Sankt Gallen, leitet die Stiftung FUTURZWEI und ist Herausgeber von taz.FUTURZWEI. ­Magazin für Zukunft und Politik.

von Widerstand: Man muss es auch persönlich nehmen. Man muss sich angegriffen fühlen durch ein falsches Leben, durch eine falsche Konsumlandschaft, falsche ideologische Angebote und auch durch manifeste Angriffe! Ich glaube, so gedreht könnte Widerstand die notwendigen Debatten anstiften. Das Interview führten Michael Lühmann und Marika Przybilla-Voß Ein Gespräch mit Harald Welzer  —  »Man muss sich a­ ngegriffen fühlen«

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ANALYSE

STÖRENFRIEDE IN DER POLITIK VORSCHLAG ZU EINER TYPOLOGIE ΞΞ Dieter Thomä

Einer der berühmtesten Werbespots aller Zeiten ist Apples »Think Different«-Kampagne von 1997. Gefeiert werden darin die »Verrückten, Außenseiter, Rebellen und Störenfriede«, die »denken, sie könnten die Welt verändern«, und dies dann tatsächlich schaffen. Als Beispiele werden u. a. Thomas Alva Edison, Albert Einstein, Martin Luther King und Bob Dylan angeführt. Die ehrwürdige Vorgeschichte dieses Werbespots reicht zurück zu John Stuart Mill, der die »exzentrisch[en]« Menschen als »Salz der Erde« feierte, zu Henry David Thoreau, dem Vorkämpfer des »zivilen Ungehorsams«, Fürsprecher der »Extravaganz« und Verächter der »Hirnfäule«, sowie zu Georg Christoph Lichtenberg, der es für »fast unmöglich« hielt, »die Fackel der Wahrheit durch ein Gedränge zu tragen, ohne jemandem den Bart zu sengen«.1 Und zur Nachgeschichte der Apple-Werbung gehören die allgegenwärtigen Appelle, Disruption oder Kreativität zu fördern.2 Im Phänomen des Störenfrieds verbirgt sich tatsächlich ein Lebensthema der menschlichen – zumal der modernen, freiheitlichen, dynamischen – Gesellschaft. Doch wird man diesem Thema nur gerecht, wenn man den ­Silicon-Valley-Kitsch beiseitelässt. Dann merkt man, dass Störenfriede sehr unterschiedliche Gesichter zeigen, und steht vor der lohnenden, paradox anmutenden Aufgabe, sich Überblick über Strategien der Störung, der Abweichung und des Widerstands zu verschaffen. Dabei fällt zuallererst die Ambivalenz der Störenfriede ins Auge. Manche Verrückte wirken inspirierend, andere sind einfach nur auf traurige Weise verwirrt. Unter den Störenfrieden gibt es erfrischende Querköpfe, aber auch nervtötende Querulanten. Einige tragen die Freiheitsfahne, andere zünden eine Bombe. Whistleblower decken auf eigene Faust Missstände auf, skrupellose Geschäftemacher versuchen – wie Sigmund Freud schrieb –, zur »Befriedigung ihrer Habgier« andere »durch Lüge, Betrug, Verleumdung

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1  John Stuart Mill, Über die Freiheit, Stuttgart 1988, S. 89 u. S. 93; Henry David Thoreau, Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat und andere Essays, Zürich 1973, S. 11 ff.; Ders., Walden oder Leben in den Wäldern, Zürich 1971, S. 315 f.; Georg Christoph Lichtenberg, Schriften und Briefe, Bd. 2: Sudel­bücher II, Materialhefte, Tage­bücher (hg. Wolfgang Promies), München 1971, S. 135. 2  Zur Kontroverse um Disruption vgl. Clayton M. Christensen u. Michael Overdorf, Meeting the Challenge of Disruptive Change, in: Harvard Business Review, H. March–April/2000, S. 66–76; Jill Lepore, The Disruption Machine, in: New Yorker, 23.06.2014, URL: http://www.newyorker.com/ magazine/2014/06/23/the-disruption-machine [eingesehen am 31.01.2016]. Zur Kritik der Kreativität vgl. Dieter Thomä, Ästhetisierung, in: Volker Steenblock (Hg.), Kolleg Praktische Philosophie, Bd. 3: Zeitdiagnose, Stuttgart 2008, S. 133–166, hier  S. 162 ff.

zu schädigen«.3 Man mag Störenfriede willkommen heißen oder aber zum Schweigen bringen – wohin man tendiert, hängt nicht nur von deren Gebaren ab, sondern auch davon, wie es um die bestehende Ordnung bestellt ist, ob also bleierne Zeiten herrschen oder blühende Landschaften. Besonders gut kann man die Bewegungsmuster der Störenfriede im Reich der Politik studieren. Dies liegt daran, dass sie über viele Jahrhunderte hinweg an einer einzigen Figur durchgespielt worden sind: dem puer robustus. Heute ist dieser kräftige Knabe oder starke Kerl seltsamerweise in Vergessenheit geraten; aber viele große Geister haben sich ihren eigenen Reim auf ihn gemacht, ihn bekämpft oder begrüßt.4 1647 verschaffte Thomas Hobbes dem puer robustus seinen ersten großen Auftritt – und er ist aus zwei Gründen brandaktuell. Zum einen wollte Hobbes die politische Ordnung – so wie dies auch heute gängig ist – von den Individuen und ihren Interessen her begründen; und deshalb musste er auch in Kauf nehmen, dass sie sich die Entscheidung vorbehielten, brav mitzuspielen oder auszuscheren. Zum anderen trat Hobbes’ staatliche Ordnungsmacht mit einem großen Versprechen auf, das die Individuen bei ihrer Entscheidung beeindrucken sollte: nämlich mit dem – heute gleichfalls attraktiven – Versprechen der Friedenssicherung. Der puer robustus war für Hobbes der Inbegriff des »bösen Menschen«: Gemeint war damit ein Typ mit einem »kindischen Sinn«, der nichts von Regeltreue hielt, auf die eigene »Macht« vertraute und seine Interessen auf eigene Faust durchsetzen wollte.5 Hobbes sah in ihm die ultimative Bedrohung der Staatsordnung, doch ihm gelang nicht, diesen puer robustus von der Bühne der Geschichte hinunterzustoßen. Vielmehr ist das intellektuelle 3  Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion, in: Ders., Gesam­ melte Werke, Bd. 14, London 1948, S. 323–380, hier S. 333. 4  Zur Geschichte und Theorie dieser Figur Dieter Thomä, Puer robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds, Berlin 2016.

Feuerwerk, das Hobbes um diese Figur herum entzündete, über viele Jahrhunderte hinweg nicht erloschen. Den vorerst letzten auffälligen Auftritt hatte der kräftige Kerl in China, während einer kurzen Phase politischer Liberalisierung im Frühjahr 1957. »Lasst hundert Blumen blühen« – so lautete der Aufruf Mao Zedongs. Die Studenten der Universität Peking nahmen ihn beim Wort, gründeten eine Hundert-Blumen-Gesellschaft und taten auf Wandzeitungen ihre Meinun-

5  Thomas Hobbes, Vom Bürger, in: Ders., Vom Menschen. Vom Bürger. Elemente der Philosophie II/III (hg. von Günter G ­ awlick), Hamburg 1994, S. 57–327, hier  S. 69. 6  Zum Text und Kontext vgl. Thomä, Puer robustus, S. 463–481 (in dem Buch ist die erste nicht-chinesische Version dieser Wandzeitung publiziert).

gen kund. Tan Tianrong, einer ihrer Wortführer, gab seiner Botschaft die Überschrift »Giftiges Unkraut«, ließ sie mit einem Heraklit-Zitat beginnen, wonach die »Regierung der Stadt an bartlose junge Männer übergeben werden« solle, und unterzeichnete mit der lateinischen Formel »Puer robustus sed malitiosus«.6 Dieser Typ trat – ganz anders als bei Hobbes – als demokratischer Aktivist auf: als guter Störenfried. Nicht ein, sondern viele Störenfriede verbergen sich also im puer robustus; und diese Wandlungsfähigkeit macht ihn so wichtig. Hierhin und dorthin Dieter Thomä  —  Störenfriede in der Politik

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hat es ihn verschlagen: Vom London des 17. gelangt er in das Peking des 20. Jahrhunderts – und überdies an zahlreiche andere Orte. Jean-Jacques Rousseau, Denis Diderot, Victor Hugo, Alexis de Tocqueville, Karl Marx, Sigmund Freud, Leo Strauss und viele andere haben sich über die Frage entzweit, was mit dem puer robustus gemeint und von ihm zu halten sei. Das ganze Spektrum vom ultimativen bad boy bis zur Lichtgestalt wird dabei ausgeschritten. Der puer robustus erscheint als Dickschädel oder Leichtfuß, Barbar oder Narr, Trittbrettfahrer oder Künstler, Räuber oder Retter. Er wird zum Beinamen der Pariser Straßenjungen, der europäischen Proletarier, der kalifornischen Pioniere, der deutschen Halbstarken und anderer mehr. Immer ist er verwickelt in ein Spiel von Ordnung und Störung, Ausgrenzung und Grenzüberschreitung. Wenn man die Störenfriede, die unter dem Namen puer robustus firmieren, sortiert, stößt man auf vier Typen, die in ihren aktuellen Verkörperungen noch heute für Unruhe sorgen. So taugt die Geschichte des puer robustus als Basis für eine Typologie des Störenfrieds sowie auch als Lehrstück für den Umgang mit den Störenfrieden des 21. Jahrhunderts. Der erste Typ ist Hobbes’ Originalversion des puer robustus, also der egozentrische Störenfried, der meint, seinen Nutzen ohne oder gegen die staatliche Ordnung maximieren zu können. Er ist das Vorbild für zahllose Kriegs­gewinnler und Trittbrettfahrer sowie auch für die Protagonisten der Finanzkrise von 2008, die mit faulen Geschäften Menschen um ihre Existenz und Staaten an den Rand des Abgrunds gebracht haben. Man kann leider nicht sagen, dass sie sich inzwischen zur Ruhe gesetzt hätten. Neben den Egozentriker, der von Hobbes als Fehlerbeispiel eingeführt wird, tritt schon früh eine andere Version des Störenfrieds. Auch dieser zweite Typ hält nichts von Regeln, aber er folgt dabei nicht seinem Eigeninteresse. Er kann schon deshalb nicht auf sich fixiert sein, weil er noch nicht weiß, was er will, sondern erst zu einem anderen Ich und einem neuen Leben unterwegs ist. Die Geburt dieses Typs fällt in die Jahre um 1770, und sein geistiger Vater ist Denis Diderot. In dem Roman »Rameaus Neffe« deutet er den puer robustus gegen Hobbes zu einem exzentrischen Störenfried um und feiert ihn als genialen Kindskopf, der die »gesellschaftlichen Konventionen« wie »ein Krümchen Sauerteig« durcheinanderbringt.7 Die Nachfolger dieses puer ­robustus treten heute als politische Unruhestifter auf, sie sind aber auch in der Kunstszene und in der Wirtschaft Kult. Auffällig ist allerdings, dass viele sich heutzutage als Nonkonformisten inszenieren, um sich geschäftstüchtig auf dem Markt zu positionieren. So schwimmen sie dann doch rasch in den Mainstream der Gesellschaft zurück.

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Widerstand und Dissidenz  —  Analyse

7  Denis Diderot, Rameaus Neffe, in: Ders., Ästhetische Schriften (hg. von Friedrich Bassenge), Bd. 2, Berlin 1967, S. 405–480, hier S. 406 f.

Nicht alle Störenfriede sind auf dem Egotrip oder setzen auf Extravaganz. Manche haben eine größere politische Vision. So gibt es einen dritten Typ des Störenfrieds, der sich mit dem Status quo anlegt, um eine andere, bessere Ordnung durchzusetzen. Jean-Jacques Rousseau macht sich fast zur gleichen Zeit wie Diderot zu dessen Fürsprecher und muss nicht lange nach einem Namen für ihn suchen: Er nennt ihn gleichfalls puer robustus und spielt damit auf jugendliche Unverdorbenheit und Tatkraft an.8 Rousseaus sperriger Held will das Gesetz (griechisch: nomos) nicht – wie die anderen »starken 8  Siehe Jean-Jacques Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit (hg. von Heinrich Meier), Paderborn 2001, S. 139; Ders., Emil oder über die Erziehung (hg. von Ludwig Schmidts), Paderborn 1971, S. 44 f. u. S. 57–61. 9  John Dewey, Creative Democracy – The Task Before Us, in: Ders., The Later Works, Bd. 14: 1939–1941, Carbondale 1988, S. 224–230; zur »wilden Demokratie« vgl. Claude Lefort, Le temps présent. Essais 1945–2005, Paris 2007, S. 389; zur »rebellierenden Demokratie« vgl. Miguel Abensour, Demokratie gegen den Staat. Marx und das machiavellische Moment, Berlin 2012, S. 13–28 u. S. 227–242. 10  Max Horkheimer, Autorität und Familie in der Gegenwart, in: Ders., Gesammelte Schriften (hg. von A. Schmidt u. G. Schmid Noerr), Bd. 5, Frankfurt a. M. 1987, S. 377–395, hier S. 386–388 u. S. 392–395.

Kerle« – unterlaufen oder überspielen, und deshalb kann man ihn auch als nomozentrischen Störenfried bezeichnen. Friedrich Schiller hat ihn auf die Bühne gebracht: Wilhelm Tell beginnt als Einzelkämpfer und wird zum Gründer eines neuen Bundes. Zu den legitimen Erben dieses Störenfrieds gehören die Verfechter einer »kreativen«, »wilden« oder »rebellierenden« Demokratie.9 Unter den Störenfrieden, die zurzeit aktiv sind, gibt es noch einen vierten – abscheulichen – Typ. Zieht man die Geschichte des puer robustus heran, dann kommt man diesem Kerl am nächsten, wenn man sich an Max Horkheimers Beschreibung der »kleinen Wilden« aus den 1930er und 1940er Jahren hält. Diese Wilden – Horkheimer meinte die faschistischen Schlägertrupps – stehen für so etwas wie eine gestörte Störung; denn in ihre Hetze und Härte mischt sich ein Motiv, das dem Selbstbild des Störenfrieds eigentlich zuwiderläuft: der unbedingte Gehorsam, das Aufgehen in der Masse, die Selbstpreisgabe für eine große Sache.11 Wenn dieser Typus denn einen Namen verdient hat, so allenfalls den des massiven Störenfrieds. Nach einer glänzenden Formulierung Adornos handelt es sich um »Rebellen, in deren ungeduldigem Faustschlag auf den Tisch die Anbetung der Herren schon dröhnte«11. Heutzutage treten sie nicht nur als Faschisten auf, sondern als Fundamentalisten in allen möglichen Versionen und, mit besonderer Brutalität, als Islamisten. Der IS-Experte Scott Atran spricht im Anschluss an psychologische Forschungen von einer »Identitätsfusion«, bei der sich der einzelne Terrorist in eine

11  Theodor W. Adorno, ­Gesammelte Schriften. Band 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a. M. 1973, S. 218. 12  Scott Atran u. a., For Cause and Comrade: Devoted Actors and Willingness to Fight, in: Cliodynamics, Jg. 5 (2014), H. 1, S. 41–57; William Swann u. a., When Group Membership Gets Personal: A Theory of Identity Fusion, in: Psychological Review, Jg. 119 (2012), S. 441–456.

totale Einheit mit einer höheren Instanz hineinfantasiere.12 Auch die neuen populistischen Bewegungen setzen in abgeschwächter Form auf eine solche »Identitätsfusion«, also auf eine geschlossene Gesellschaft oder auf nationale Größe: »Make America great again«. Angesichts der Komplexität und Kontingenz der modernen Welt kommt bei vielen Menschen der Wunsch nach einer störungsfreien Welt auf – ein Wunsch, der indes ebenso verständlich wie verfehlt ist. Egal, wie politische Ordnungen aufgestellt sind: Sie müssen Grenzen ziehen, also auch Ausgrenzungen vornehmen, schaffen so aber selbst den Rand und das Abseits, den Humus des Störenfrieds. Dieter Thomä  —  Störenfriede in der Politik

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Es kann also nicht darum gehen, die Störenfriede loszuwerden; auf einige von ihnen kann man sich sogar – mit Max Weber – freuen: »Diese Leidenschaft für die Bureaukratisierung […] ist zum Verzweifeln. Es ist, als wenn in der Politik der Scheuerteufel, mit dessen Horizont der Deutsche ohnehin schon am besten auszukommen versteht, ganz allein das Ruder führen dürfte, als ob wir mit Wissen und Willen Menschen werden sollten, die ›Ordnung‹ brauchen und nichts als Ordnung, die nervös und feige werden, wenn diese Ordnung einen Augenblick wankt, und hilflos, wenn sie aus ihrer ausschließlichen Angepaßtheit an diese Ordnung herausgerissen werden.« Für Weber ist dann die entscheidende Frage, was man diesen »Ordnungsmenschen […] entgegenzusetzen« hat, »um einen Rest des Menschentums freizuhalten von dieser Parzellierung der Seele, von dieser Alleinherrschaft bureaukratischer Lebensideale«.13 Aber auch derjenige greift zu kurz, der sich beim Verhältnis und beim Umgang mit Störenfrieden mit romantischer Zuneigung begnügt. Die Geschichte des puer robustus und die darauf aufbauende Typologie von egozentrischen, exzentrischen, nomozentrischen und massiven Störenfrieden zeigen, dass Einspruch und Einsatz gegen die Ordnung in Formen auftreten, die sich sowohl in deskriptiver Perspektive unterscheiden als auch normativ unterschiedlich zu bewerten sind. Die vier Typen lassen sich in einer Matrix ordnen, der zwei Leitunterscheidungen zugrunde liegen. Demnach geht es deskriptiv um die Gegenüberstellung individueller und kollektiver Störungen sowie normativ um den Unterschied zwischen unkritischen und kritischen Abweichungen. Der egozentrische Störenfried koppelt sich gedanklich von der Ordnung ab und will seinen individuellen Vorteil durch offenen oder klandestinen Regelbruch maximieren. Er verhält sich unkritisch, weil er jede Rechtfertigung und Überprüfung seiner Position unterlässt und sich in seinem Eigensinn gefällt. Der exzentrische Störenfried überschreitet als Individuum die Regeln einer bestehenden Ordnung, koppelt sich aber nicht von dieser ab, sondern reibt sich an ihr in permanenter Provokation. Er verhält sich im strikten etymologischen Sinne kritisch, weil er in der Kunst des Unterscheidens, insbesondere in der Kunst, sich selbst vom Status quo zu unterscheiden, brilliert. Der nomozenrische Störenfried antizipiert beim Kampf gegen das System eine andere Ordnung, deren kritische Rechtfertigung dazu führen soll, dass ein Kollektiv sie sich aneignet. Der massive Störenfried pfeift auf die kritische Rechtfertigung des Systembruchs und schließt sich einer totalen, kollektiven Einheit an, die plump behauptet und als geschlossene Instanz der existierenden Ordnung entgegengehalten wird. Schematisch lassen sich diese vier Varianten in einer Matrix anordnen.

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Widerstand und Dissidenz  —  Analyse

13  Max Weber, Debattenreden auf der Tagung des Vereins für Sozialpolitik in Wien 1909 zu den Verhandlungen über »Die wirtschaftlichen Unternehmungen der Gemeinden«, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik (hg. von Marianne Weber), Tübingen 1988, S. 412–416, hier S. 414.

massiv

kollektiv

nomozentrisch

egozentrisch

individuell

exzentrisch

unkritisch

kritisch

Die Erschließungskraft dieser Typologie soll an einem aktuellen Beispiel illus­t riert werden: am Aufstieg Donald Trumps. Er darf dabei als Störenfried, sowohl egozentrischen wie auch massiven Gepräges, gelten; denn nach der inneren Umwälzung der Republikanischen Partei betreibt er nun einen radikalen Um- bzw. Abbau der Demokratie in den USA.14 Einerseits tritt er – vor allem, aber nicht nur im Wahlkampf – als Schlawiner auf, der alle Konventionen über den Haufen wirft und sich damit brüstet, Regeln zu biegen oder auch zu brechen. Dieser Regelbruch steht im Dienst seines eigenen Vorteils oder ist Symptom narzisstischer Selbstgefälligkeit. Einschlägig hierfür ist bspw. seine Reaktion in der TV-Debatte vom 26. September 2016 in Hempstead, New York, als Hillary Clinton ihm vorwarf, über Jahre hinweg keinerlei »federal income taxes« gezahlt zu haben. In seiner Antwort hat er dies indirekt zugegeben, dem Vorwurf aber zugleich die Spitze genommen. Er sagte: »That makes me smart.« 14  Zum Folgenden Dieter Thomä, Der Präsident als puer robustus. Donald Trump, Thomas Hobbes und die Krise der Demokratie, in: Leviathan, Jg. 45 (2017), H. 2, S. 154–179.

Das Ausnutzen von Schlupflöchern, die Abfälligkeit gegenüber gesellschaftlichen Gruppen, seine Art, Frauen als bloße Beute anzusehen, etc.: All dies passt, als wäre es einem Lehrbuch entnommen, ins Profil des egozentrischen Störenfrieds. Trump setzt – wie der puer robustus in Thomas Hobbes’ Dieter Thomä  —  Störenfriede in der Politik

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Version – auf die eigene Stärke und legt sich die Welt als Schlachtfeld und Jagdrevier zurecht. Aus dem Jahr 1981 stammt die folgende Bemerkung Trumps: »Man is the most vicious of all animals, and life is a series of battles ending in victory or defeat. You just can’t let people make a sucker out of you.«15 Er findet sich freilich nicht zähneknirschend mit dem Hobbes’schen Befund ab, wonach das Leben ein Hauen und Stechen sei, sondern heizt den Krieg aller gegen alle an und verfolgt dabei ein einziges Ziel, das in den letzten Worten seines Buches »The Art of the Comeback« formuliert ist: »Victory, victory, victory!«16 Seine unzählige Male wiederholte Parole »The system is rigged« verschafft ihm einen Freibrief, den eigenen Regelbruch nicht als ehrenrührig, sondern als ehrenhaft darzustellen. Andererseits zeigt Trump noch ein zweites Gesicht, das gleichfalls schon im Wahlkampf – und dann verstärkt seit Amtsantritt – erkennbar wird. Es ist leicht einzusehen, warum er dieses andere Gesicht braucht. Schließlich wäre es wenig zielführend, wenn seine Anhänger ihn nachahmten und sich den Regelbruch zu eigen machten. Dann würden sie gerade nicht mehr an ihn, sondern nur noch an sich glauben und als Einzelkämpfer zu reüssieren suchen. Trump muss seinen Anhängern einreden, dass er »one of us« ist, aber darüber hinaus das Heft des Handelns in die Hand nehmen und sich als der Einzige darstellen, der fähig ist, »to do it for us«.17 Die Ansammlung von Individuen, die sich mehr oder minder erfolgreich durchschlagen, verwandelt sich damit in ein Kollektiv, ein Wir, das durch die Identifikation mit dem Trump-Ich homogenisiert wird. Beispielhaft kommt dies in Trumps Rede vom 13. Oktober 2016 in West Palm Beach/Florida zum Ausdruck, in der er sich zunächst als Mann des Volkes geriert und dann mit Christus als Erlöserfigur gleichsetzt. Zunächst gibt er sich ganz bescheiden: »I […] know that it’s not about me. It’s about all of you and it’s about our country. […] It’s about all of us together as a country.« Und doch soll das Volk auf ihn als Führer angewiesen sein: »I’m the only one that can fix it.« Trump erklärt sich bereit, sich schützend vor das Volk zu stellen, sich den Angriffen der politischen Gegner auszusetzen und ihnen zu widerstehen: »I take all of these slings and arrows gladly for you. I take them for our movement so that we can have our country back.« Stellvertretend für das Volk lässt er sich verwunden und hält den Pfeilen stand, die auf ihn geschossen werden. Er stellt eine politische Fusion, eine totale Einheit her, in der er für alle spricht und handelt. So ist Trump ein Musterbeispiel für eine gestörte Störung: Seine Störung ist kurzgeschlossen mit einer Ordnung, die als gegeben angenommen und verteidigt wird: der wiederherzustellenden Größe Amerikas. Trump tritt nicht nur als egozentrischer Störenfried, sondern auch als massiver Störenfried auf. Gerade

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Widerstand und Dissidenz  —  Analyse

15  Lee Wohlfert-Wihlborg, In the Manhattan Real Estate Game, Billionaire Donald Trump Holds the Winning Cards, in: People, 16.11.1981, URL: people. com/archive/in-the-manhattanreal-estate-game-­billionairedonald-trump-holds-thewinning-cards-vol-16-no-20 [eingesehen am 22.02.2017]. 16  Donald Trump, The Art of the Comeback, New York 1997, S. 233. 17  Stephen Reicher u. S. ­Alexander Haslam, The Politics of Hope: Donald Trump as an Entrepreneur of Identity, in: Scientific American, 19.11.2016, URL: www.scientificamerican. com/article/the-politics-of-­ hope-donald-trump-as-anentrepreneur-of-identity [­eingesehen am 22.02.2017].

diese Mischung ist in einem Land, das zugleich individualistisch und patriotisch (oder dann auch nationalistisch) ist, eine Voraussetzung seines Erfolges. Insgesamt fällt auf, dass die westlichen Gesellschaften zurzeit eine ziemlich üble Mischung egozentrischer und massiver Störenfriede produzieren. Die einen kümmern sich nur um sich und schlagen sich mehr oder minder gekonnt durch, die anderen schließen sich populistischen oder gar totalitären Bewegungen an. Dabei gerät bedauerlicherweise in den Hintergrund, dass die Entwicklung der Gesellschaft – zumal der Demokratie – auf gute Störenfriede seit jeher angewiesen war und dies auch weiterhin ist. Nüchtern ausgedrückt, sind die Arbeitsbedingungen für solche Störenfriede derzeit nicht allzu gut. Exzentriker werden von Marktmechanismen in Rituale der Provokation hineingezogen, in denen ihre Sonderstellung mit Bonifikationen honoriert und vereinnahmt wird. Nomozentriker tun sich schwer damit, überhaupt eine Front aufzubauen, in der sie sich dem ›richtigen‹ Gegner, also den Steuerungsinstanzen der bestehenden Ordnung, gegenübersehen. Diese Schwierigkeit ergibt sich daraus, dass diese Akteure – wenn man etwa an global operierende Unternehmen und Finanzinstitutionen denkt – sich entziehen, also auf der herkömmlichen Bühne politischer Auseinandersetzung, der nationalstaatlichen Ordnung, gar nicht mehr anzutreffen sind. Nomozentrische Störenfriede sind demnach vor die Alternative gestellt, lokal oder national eine Auseinandersetzung zu verschärfen, die doch über diese politische Plattform hinausgeht, oder aber – wie etwa Edward Snowden – auf die transnationale Ebene zu wechseln und dafür Isolation in Kauf zu nehmen. So oder so darf man in diesen kritischen Störenfrieden Menschen sehen, die der westlichen Gesellschaft gewissermaßen den Spiegel vorhalten. Sie zeichnet sich nicht nur dadurch aus, Besitzstände zu wahren und Grenzen zu ziehen, sondern auch durch die Bereitschaft zum Experiment und die Lust an der Grenzüberschreitung. Thomas Jefferson notierte 1787, während seiner Zeit als Botschafter im vorrevolutionären Paris: »Der Geist des Widerstands gegen die Regierung ist bei gewissen Gelegenheiten so wertvoll, dass ich mir 18  Thomas Jefferson, Writings (hg. von Merrill D. Peterson), New York 1984, S. 889 f.

wünsche, er möge immer lebendig bleiben. Ich mag ein bisschen Rebellion dann und wann. Sie ist wie ein Sturm in der Atmosphäre.«18

Prof. Dr. Dieter Thomä, geb. 1959, ist Professor für Philosophie an der Universität St. Gallen und leitet dort das Masterprogramm »Management-Organisation-Kultur«. Seine letzten Buchveröffentlichungen sind »Puer robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds« (Suhrkamp 2016) und »Der Einfall des Lebens. Theorie als geheime Autobiographie« (Hanser 2015).

Dieter Thomä  —  Störenfriede in der Politik

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DIGITALE DEBATTENBÜHNE DIE KONTROVERSE ÜBER DIE NEUAUSRICHTUNG DER VOLKSBÜHNE ΞΞ Hanna Klimpe

Der Vertrag eines Theaterintendanten wird nach 25 Jahren nicht verlängert, als Nachfolger wird ein Quereinsteiger aus der bildenden Kunst benannt. Diese Personalie aus der Berliner Kulturpolitik löste eine gesellschaftliche Kontroverse über Neoliberalismus, Gentrifizierung, deutsch-deutsche Geschichte, Internationalisierung und lokale Identität, die Definition und sozioökonomische Bedeutung des Ensemble- und Repertoiretheaters, die Marktkonformität des Kulturbetriebs und Legitimationskrise der Politik aus, die

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nicht nur in den Feuilletons, sondern vor allem auch im Internet debattiert wurde. Aus zwei Gründen ist eine nähere Betrachtung dieser Debatte besonders lohnenswert: Erstens dient sie dem medienwissenschaftlichen Verständnis von sozialen Konflikten, die durch Online-Kommunikation ausgetragen werden. Zweitens wirft sie ein Schlaglicht auf die kulturelle Selbstverortung der Berliner Republik – dies nicht nur aus kulturpolitischer, sondern auch aus sozialer Perspektive. Denn im Zentrum des Konflikts steht die Ausrichtung eines der wichtigsten Theaterhäuser Deutschlands. Ende März 2015 hatte der damalige Berliner Staatssekretär für Kultur, Tim Renner (SPD), bekannt gegeben, dass der rot-schwarze Senat den ­Vertrag von Frank Castorf, seit 1992 Intendant der Volksbühne in Berlin, zur Spielzeit 2017/18 auslaufen lassen werde. Schnell ging das Gerücht um, als Nachfolger 1  Castorf selbst hatte die Volksbühne als eines der ersten Stadttheater auch für die freie Szene, politische Veranstaltungen und Partys geöffnet; tragende Säule blieb aber im künstlerischen Selbstverständnis das Sprechtheater.

solle der damalige Direktor der Tate Gallery of Modern Art, Chris ­Dercon, berufen werden. Dies wurde gut einen Monat später, am 24. April 2015, vom Senat bestätigt. Hierbei ging es nicht nur um einen Intendanzwechsel, sondern auch um die Frage, ob die Pläne Dercons und seiner Programmdirektorin Marietta Piekenbrock, zuvor leitende Dramaturgin der Ruhrtriennale, einer konzep-

2  Vgl. Ingo Matuschek u. a., Links sein: Politische Praxen und Orientierungen in linksaffinen Alltags­milieus, Wiesbaden 2011, S. 9. 3  Diedrich Diederichsen sieht in der Volksbühnen-­Debatte hingegen eine innerlinke Auseinandersetzung zwischen antiimperialistischen Marxisten und einer postkolonial/antirassistisch/antisexistischen Perspektive; vgl. Diedrich Diederichsen, Weder Wohnung noch Währung, in: Texte zur Kunst No. 105, Berlin 2017, S. 158–163. 4  In Frankreich oder Großbritannien ist zum Beispiel üblich, Schauspieler nur für die Dauer der Produktion zu engagieren; in den Zwischenphasen sind diese dann regelmäßig auf Arbeitslosengeld angewiesen. Dies erschwert auch den Aufbau langfristiger Arbeitsbeziehungen sowie die Identifikation der Schauspieler/Zuschauer mit dem Haus und dem Ensemble.

tionellen Umstrukturierung der Volksbühne vom deutschsprachigen Literaturtheater zum internationalen und interdisziplinären Mehrspartenhaus gleichkämen.1 Auffällig an der Debatte und ihrer Genese war vor allem die als völlig evident gesetzte Dichotomie von Castorf und dessen Theaterkonzept als linkem, avantgardistischem System mit Ost-Bewusstsein und dem seines Nachfolgers, das als ›neoliberales Eventtheater‹ der bisherigen Volksbühne diametral gegenübergestellt wurde. Das Ende der DDR und die neoliberale Wende unter einer SPD-Regierung als die zwei großen linken Zäsuren in der jüngeren deutschen Geschichte2 wurden, so könnte man meinen, als Reenactment auf Kulturebene inszeniert. Im Folgenden sollen die Motive dieser Debatte in einer Diskursanalyse hinterfragt werden.3 HINTERGRUND UND CHRONIK DER DEBATTE Die Volksbühnen-Debatte lässt sich nicht nachvollziehen ohne Referenz auf die Struktur des deutschen Stadttheatersystems und die Geschichte der Volksbühne. Die deutsche Theater- und Orchesterlandschaft, 2016 für die UNESCO-Liste des Immateriellen Kulturerbes nominiert, ermöglicht durch

ihre Subventionsstruktur, über die Dauer einer oder mehrerer Intendanzen (im Regelfall fünf bis zehn Jahre) fest angestellte Schauspielensembles4 sowie Hanna Klimpe  —  Digitale Debattenbühne

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einen über mehrere Jahre angelegten Repertoirebetrieb5 zu pflegen. Hinzu kommt, dass durch das föderalistische System Deutschlands eine einzigartige Vielzahl von Theatern zu finden ist, die eine starke lokale Verwurzelung des Theaters in der Stadt befördern. Unter den Stadt- und Staatstheatern hat die Volksbühne hierbei eine historische Sonderposition. 1890 durch Spenden des Vereins Freie Volksbühne (»Arbeitergroschen«) ermöglicht und 1914 in Berlin-Mitte eröffnet, war ihr Ziel, Arbeitern zu ermäßigten Preisen Theaterbesuche zu ermöglichen und sozial engagiertes Theater zu zeigen. Dieses Erbe sowie eine Haltung des Widerstandes und des Exzesses wurden von dem Ost-Berliner Frank Castorf, der seit dem Mauerfall die Intendanz der Volksbühne innehatte, und seinem Publikum sowohl in der Inszenierung des Gebäudes6 als auch auf der Bühne und im Nebenprogramm konsequent thematisiert. Die Debatte um die Neubesetzung nahm am 1. April 2015 Fahrt auf, als Claus Peymann, seit 1999 Intendant des Berliner Ensembles und ebenfalls von einer Nicht-Verlängerung seines Vertrags betroffen, in einem offenen Brief den Begriff »Eventschuppen« angesichts des drohenden Intendanz-

5  Im Gegensatz zum En-suite-Betrieb, bei dem eine Produktion nach mehreren aufeinanderfolgenden Vorstellungen abgespielt ist, erlaubt der Repertoirebetrieb eine permanente Aktualisierung und Modifizierung einer Inszenierung, deren künstlerische Einzigartigkeit nur innerhalb ökonomisch geschützter Strukturen so konsequent durchsetzbar ist. 6  Unter anderem durch den OST-Schriftzug auf dem Dach des Hauses, ein Stalin-Porträt im Intendantenbüro sowie den seit den 1990er Jahren verwendeten Zusatz »Volksbühne am Rosa-­ Luxemburg-Platz«.

wechsels geprägt hat.7 Kurz darauf forderten die Intendanten Ulrich Khuon, Joachim Lux und Martin Kusˇej in einem weiteren offenen Brief Tim Renner auf, Castorf nicht abzusetzen und die Volksbühne nicht als »Ensemble-, Literatur- und Repertoiretheater abzuwickeln«. Am 18. April nannte Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung die mögliche Berufung Dercons »eine Weichenstellung in Richtung jenes neoliberalen, von Outsourcing-Strategien und Marktgängigkeit beherrschten Denkens, das allmählich auch in der Kunst obsiegt«8. Der Tagesspiegel veröffentlichte am 19. April ein Interview mit Volksbühnen-Bühnenbildner Bert Neumann, der das Gentrifizierungsargument aufmachte: »Wir kamen in einer eher runtergekommenen Gegend an ein relativ kaputtes Theater […]. Leider Gottes funktionieren Künstler in solchen Prozessen als Gentrifizierungs-Pioniere. […] Man kann die Entscheidung, Castorfs Intendanz zu beenden, als Teil dieses Gentrifizierungsprozesses verstehen.«9 Zu diesem Zeitpunkt war die Personalie Dercon noch nicht bestätigt, verifizierte Informationen über dessen Pläne lagen der Presse nicht vor. Worauf fußten die Vorwürfe? Zum Programm war zu diesem Zeitpunkt nichts bekannt, die Biografie Dercons – von nun an Symbolfigur für die Zerstörung antikapitalistischer Kultur – gab wenig Anhaltspunkte. Zwar kam er aus

7  Siehe URL: https://nachtkritik.de/images/stories/pdf/ Offener_Brief_Claus_Peymann_ Michael_Muller.pdf 2440401 [eingesehen am 30.10.2017]. 8  Christine Dössel, ­ Hauptsache, es rockt, in: sueddeutsche.de, 18.04.2015, URL: http://www.sueddeutsche. de/kultur/kommentar-erst-dastheater-und-dann-1.2440401 [eingesehen am 30.10.2017]. 9  Peter Laudenbach (Interview mit Bert Neumann), »Wer bleibt in der Rosa Luxemburg-Straße, der Sex-Shop oder wir?«, in: tagesspiegel.de, URL: http://www. tagesspiegel.de/kultur/zum-todvon-bert-neumann-wer-bleibtin-der-rosa-luxemburg-strasseder-sex-shop-oder-wir/11653950. html [eingesehen am 30.10.2017]. Bert Neumann verstarb im Juli 2015 unerwartet, was das Narrativ emotional noch verstärkte.

dem Kunstmarkt als »Paradigma der kommerzialisierten Kulturindustrie«10, hatte dort aber ausschließlich für staatliche Institutionen gearbeitet. Zudem hatte er sich in der Vergangenheit kritisch über die (Selbst-)Ausbeutung der

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Widerstand und Dissidenz  —  Analyse

10  Walther Müller-Jentsch, Die Kunst in der Gesellschaft, Wiesbaden 2011, S. 186 ff.

Kreativen und die niedrigen Löhne im Kulturbereich geäußert und vor urbanistischen Entwicklungen wie in London gewarnt. In seinem ersten Interview als offizieller Castorf-Nachfolger gab Dercon dann an, die Werkstätten weiter erhalten zu wollen, und hob die Bedeutung der Volksbühne als eine der letzten nicht durchgentrifizierten Inseln in Berlin-­M itte hervor.11 In der Berichterstattung12 von 2015 wurde kein einziges konkretes Beispiel aus Dercons Vita genannt, an dem der Vorwurf der Neoliberalität und der kunstfeindlichen, unsozialen Marktkonformität hätte festgemacht werden können. (Kultur-)Politische Schlagworte wie Neoliberalismus, Gentrifizierung, Eventisierung, Zerstörung der Theaterkultur, die in der massiven Berichterstattung insbesondere in den Printmedien fielen und den Ausgangspunkt des Links-gegen-neoliberal-Narrativs bildeten, blieben spekulativ. Antikapitalistisches, nicht-kommerzielles Theatersystem gegen neoliberale, durchkommerzialisierte Kunstwelt; sperriges und politisches Sprechtheater gegen marktkonforme Performancekultur; lokales Bewusstsein gegen beliebige Internationalität: Das Narrativ der Dercon-kritischen Berichterstattung entsprach letztlich Theodor W. Adornos Gegenüberstellung von Kultur als transzendierender Kritik und affirmativer Kultur. VON DER FEUILLETON- ZUR SOCIAL-MEDIA-DEBATTE 11  Siehe Holger Liebs (Interview mit Chris Dercon), »Die Kunst muss das Theater nicht retten«, in: monopol-magazin.de, 27.04.2015, URL: http://www. monopol-magazin.de/Chris-Dercon-Interview-Volksbuehne [eingesehen am 30.10.2017]. 12 

Auf Nachtkritik ausführlich dokumentiert: URL: https:// nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view= article&id=10862:chronikdes-berliner-theaterstreits &catid=242&Itemid=62 [eingesehen am 30.10.2017].

13  Siehe URL: https://www. facebook.com/volksbuehne/ posts/10155857107349063 [eingesehen am 30.10.2017]. 14 

URL: https://www.change. org/p/zukunft-der-volks b%C3 %Bchne-neu-verhandeln [eingesehen am 30.10.2017].

Die kulturpolitische Auseinandersetzung über unterschiedliche Vorstellungen, ein Haus für darstellende Künste zu führen, steht hierbei exemplarisch für das Unbehagen gegenüber anderen gesellschaftlichen Konflikten. Von der Verkündung des Leitungswechsels im April 2015 bis zum Start der ersten Spielzeit des neuen Volksbühne-Teams am 10. September 2017 wandelte sich die Debatte von einem Feuilleton-Diskurs über ein Konvolut an sowohl in der Presse als auch im Internet veröffentlichten offenen Briefen in eine Social-Media-Debatte. Deren Gipfel war ein Shitstorm vor allem via Facebook gegen die Übernahme der Social-Media-Kanäle durch das neue Team am 1. August 2017, der von morgendlichen Kothaufen vor dem Eingang von dessen Interimsbüros flankiert wurde,13 sowie die Übergabe von 40.000 Unterschriften der auf Change.org veröffentlichten Online-Petition »Zukunft der Volksbühne neu verhandeln«14 an den jetzigen Staatssekretär für Kultur, Klaus Lederer ( DIE LINKE), am 4. September 2017. Die Petition wurde von der Theaterwissenschaftlerin Evelyn Annuß initiiert; im Mittelpunkt standen die Forderung nach einem Erhalt der Volksbühne als Ensemble- und Repertoiretheater sowie die Kritik an der politischen ­Entscheidungsfindung. Die Frage danach, wann ein künstlerisches Konzept dem auch im Haushaltsplan festgelegten Ensemble- und Repertoirebetrieb entspricht und ob Hanna Klimpe  —  Digitale Debattenbühne

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damit die Auflösung bestehender Strukturen einhergeht, war dabei schon im Juni 2016 wieder aufgekeimt, als feste und freie Mitarbeiter der Volksbühne sowie Unterstützer aus der Kulturprominenz nach einem internen Auftritt Dercons einen offenen Brief auf der Volksbühnen-Website veröffentlichten und darin vor einer »irreversible[n] Zäsur«15 warnten. Im Rahmen der kritisierten Umstrukturierung vom Sprechtheater in ein interdisziplinäres Haus wurde ein Stellenabbau »bis hin zur Abwicklung ganzer Gewerke« befürchtet. Die Entscheidung für Dercon solle rückgängig gemacht werden. Eine erste auf Change.org von der Fotografin Cordula Giese initiierte Online-Petition mit der Veröffentlichung dieses Briefes fand 3.438 Unterzeichner. Unterstützung erhielten die Petenten ferner in Form eines weiteren offenen Briefes von Claus Peymann.16 Im Juli 2016 veröffentlichten Kulturakteure wie zum Beispiel Rem Koolhaas, Hans Ulrich Obrist oder Anna Teresa De Keersmaeker als Reaktion darauf einen »Letter of Support« für Dercon. Als infolge der Berliner Abgeordnetenhauswahlen im Dezember 2016 Klaus Lederer, der sich schon vorher als Castorf-Fan geäußert hatte, als Nachfolger von Tim Renner benannt wurde, kündigte er an – ohne über entsprechende politische Möglichkeiten zu verfügen –, sich um eine Revision der Berufung Dercons bemühen zu wollen: Es sei zweifelhaft, dass dieser die Tradition der Volksbühne »unter anderem mit Brecht und Piscator« fortführen könne. 17

Dercon nannte die Unsicherheit, die diese Ansage auf der Suche nach künstlerischen Mitarbeitern hervorrief, auf der Pressekonferenz zur Vorstellung des Programms im Mai 2017 als Grund, warum das Ensemble lediglich aus drei unkündbaren Mitgliedern bestehe. Er sprach dabei von »Künstlern« und nicht explizit von »Schauspielern«.18 Von den 227 Mitarbeitern wurden 21 nicht verlängert und neu ausgeschrieben – eine bei einem Intendanzwechsel durchaus übliche Zahl. Die Werkstätten blieben erhalten. Am 29. Juni 2017 veröffentlichte Annuß mit einem offenen Brief dann die bereits erwähnte Online-Petition »Zukunft der Volksbühne neu verhandeln«. Die Frequenz offener Briefe in der Tradition eines Zola’schen J’accuse ist vor allem angesichts der Funktion von Briefen in der politischen Kommunikation auffällig: Der »Phasenverzug«, der durch die Verschriftlichung und räumliche Trennung von Absender und Empfänger entsteht, kann genutzt werden, um einen Monolog als Dialog zu kaschieren und eine »spontane Reaktion des Kommunikationspartners« zu verhindern.19 Sowohl die nur vermeintliche Bereitschaft zur Kommunikation als auch die Entwicklung nicht-faktenbasierter Narrative ist, wie die Volksbühnen-Debatte zeigt, kein zweifelhaftes Privileg der Debattenkultur sozialer Medien, sondern wird auch von den

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Widerstand und Dissidenz  —  Analyse

15  URL: https://darstellende-kunst.verdi.de/themen/ nachrichten/++co++233dfea2– 3847–11e6-bcc4–52540077a3af [eingesehen am 30.10.2017]. 16  Siehe URL: https://www. nachtkritik.de/images/stories/pdf/ OffenerBriefPeymann210616.pdf [eingesehen am 30.10.2017]. 17  Zit. Nach o.V., »Das Beste für die Volksbühne«, in: 3sat.de, 17.11.2016, URL: https://www.3sat. de/page/?source=/kulturzeit/ themen/189935/index.html [­eingesehen am 30.10.2017]. 18  URL: https://www.youtube. com/watch?v=fEjY3Of25D4 [eingesehen am 30.10.2017]. 19  Christina Antenhofer u. Mario Müller, Briefe in politischer Kommunikation. Einführung, in: Dies. (Hg.), Briefe in politischer Kommunikation vom Alten Orient bis ins 20. Jahrhundert, Göttingen 2008, S. 9–52, hier S. 15 ff.

»klassischen« Medien und einem Kulturmilieu befördert, das sich in seinem Selbstverständnis der Aufklärung und Vernunft verpflichtet fühlt. DIE ONLINE-PETITION »ZUKUNFT DER VOLKSBÜHNE NEU VERHANDELN« ALS SEISMOGRAF DER DEBATTE Um die Motive hinter dieser Debatte nicht nur aus der Warte privilegierter Kulturakteure, sondern in einer gewissen empirischen Breite zu betrachten, bietet sich eine Untersuchung der Äußerungen in den sozialen Medien an.20 Interessant ist dabei insbesondere die Genese und Entwicklung der Debatte bis zur Spielzeiteröffnung am 10. September 2017, also eine Phase, in der das Programm und das Konzept der neuen Leitung noch nicht anhand konkreter Inszenierungen bewertet werden konnten.21 Als Datengrundlage dienen die Facebook-Kommentare des Volksbühnen-Accounts in der ersten Woche nach der Übernahme (1. bis 8. August 2017) sowie die Tweets, die in diesem Zeitraum unter den Hashtags #volksbuehne, #volksbühne und #dercon veröffentlicht wurden; außerdem die 3.487 Kommentare (29. Juni bis 4. September 2017) der Unterzeichner der Online-Petition »Zukunft der Volksbühne neu verhandeln«. Eine Analyse der Hashtags und der Facebook-Posts erscheint dagegen wenig lohnenswert, da es sich bei den 567 Hashtags für Twitter-Verhältnisse um keine relevante Datenmenge handelt und die Facebook-Kommentare hauptsächlich von Hate Speech eingefleischter Castorf-Fans geprägt sind, wobei eine Gruppe von ca. zwei Dutzend Usern die Diskussion dominiert. Die Kommentare der Online-Petition sind aus mehreren Gründen interessant: Erstens wurden sie auf einer externen, politischen Plattform veröffent20  Eine andere Möglichkeit wäre gewesen, den offenen Brief der Mitarbeiter vom Juni 2016 als Ausgangspunkt zu nehmen; allerdings lag dieser zu Beginn der Untersuchung für eine empirische Betrachtung der damaligen Motive schon zu lange zurück. 21  Einige Inszenierungen sind schon an anderen Spielstätten gezeigt worden. Folgt man aber der Argumentation pro Repertoiretheater, demnach eine Inszenierung je nach spezifischem räumlich-zeitlichen Kontext einzigartig sei, muss dies auch für externe Inszenierungen gelten, die schon an anderer Stelle aufgeführt wurden.

licht; zweitens geben sie einen Einblick, ob die (kultur-)politischen Motive hinter der Ablehnung der neuen Intendanz denen, die in der Presse-Berichterstattung angeführt wurden, ähneln und vor allem, wie die einzelnen Argumente gewichtet werden: Die Online-Petition wird als Seismograf für die Debatte verstanden. Bei der Kategorisierung der Kommentare nach (kultur-)politischen Argumenten kristallisieren sich schnell sechs Punkte heraus. Neben der Forderung nach Erhalt des Ensemble- und Repertoiretheaters (216) sind dies die Forderung, kulturelle Traditionen zu erhalten (879), stadtpolitische Argumente wie die Ostgeschichte der Volksbühne, Gentrifizierungskritik oder die lokale Verwurzelung der Volksbühne (547), Kritik an Bürgermeister Müller, Lederer und Renner (361), die Verteidigung von Castorfs Konzept des avantgardistisch-politischen Theaters (170) sowie die Abneigung gegen das »neoliberale Eventtheater« der neuen Volksbühnen-Leitung (166). Hanna Klimpe  —  Digitale Debattenbühne

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Erhalt von Tradition Ostgeschichte/Gentrifizierung Kritik an Müller/Renner/Lederer Für Ensemble-/Repertoirebetrieb Pro Konzept Castorf Anti Konzept Dercon Gegen Kulturschließungen allgemein Sonstiges 0

100

200

300

400

500

600

700

800

900

Anzahl Kommentare (3487 insgesamt, dabei Mehrfachnennungen) Auswertung der Kommentare der Online-Petition »Zukunft der Volksbühne neu verhandeln« (29.6.–4.9.2017)

1.449 Kommentare werden gesondert dargestellt, da sie sich zum Beispiel gegen die Schließung von Kulturstätten allgemein äußern – ein Narrativ, das sich durch die mediale Berichterstattung als Abwicklung/Zerstörung der Volksbühne verselbstständigt hatte. Unter »Sonstiges« finden sich bspw. Kommentare, die ausschließlich aus dem Namen der Unterzeichner bestehen, auf den Begriff »Volksbühne« rekurrierende rechtsradikale Kommentare und vor allem individuell-emotionale Begründungen (»Weil es meine Liebe ist!«). Da zahlreiche Kommentare sich zu zwei oder mehr Punkten äußern und daher zum Beispiel sowohl der Pro-Castorf- als auch der Anti-Dercon-Kategorie zugeordnet wurden, übersteigt die Summe 3.487. Deutlich wird, dass die angeführten Gründe das Feuilleton-Narrativ fortführen. Die Kommentatoren sind dabei so gut über die Debatte informiert, dass sie neben den Schwerpunkten des offenen Briefes – Erhalt des Ensemble- und Repertoiretheaters und Kritik an der politischen Entscheidungsfindung – auch andere Motive anführen. Bemerkenswert ist vor allem aber die Gewichtung der Motive für den Widerstand gegen die neue Intendanz: Während die theaterimmanente Argumentation (Pro-Castorf/Anti-Dercon/ Für Ensemble- und Repertoire-Theater) in den Hintergrund tritt, steht die Forderung nach Erhalt von Tradition im Mittelpunkt.

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Widerstand und Dissidenz  —  Analyse

DIE VOLKSBÜHNEN-VERTEIDIGUNG ALS EMOTIONALE ­SEHNSUCHT DER LINKEN NACH FORDISTISCHEN LEBENSVERHÄLTNISSEN Hierbei muss betont werden, dass »Tradition«, wenn auch historisch ein klassisches Argument der Rechten bzw. Konservativen,22 in den letzten Jahren auch von linker Seite, etwa von Anthony Giddens, wiederentdeckt wurde – allerdings mit der Betonung auf dem rituellen Wert von Traditionen und einer nötigen Dialogbereitschaft über ebendiese.23 In den Kommentaren wird »Tradition« jedoch ausgesprochen konservativ verstanden (»Es geht exemplarisch um das Wesen unserer Kultur.« / »Weil Theater in seiner klassischen Form alternativlos ist!« / »Ich weiterhin in ein traditionelles Theater gehen möchte […].«). Veränderung wird als irreversible Erosion identitätsstiftender Strukturen empfunden (»Kaputt machen geht schnell und dann geht was gewachsenes und eigenes vielleicht für immer verloren.«). Bezieht man die Forderung nach dem Erhalt des klassischen Ensemble- und Repertoiretheaters sowie der Fortführung des Castorf’schen Theaterkonzepts ein, kreist gut ein Drittel aller Kommentare um den Wunsch nach einer Erhaltung des Status quo. Der starke Rekurs auf den Traditionsbegriff zeigt sich auch in der Genese der Debatte im Theater- und Feuilleton-Diskurs, dort mit einem Schwerpunkt auf dem Erhalt des Ensemble-/Repertoire- und Literaturtheaters, dessen nicht erstrebenswerte Alternative scheinbar nur eine weitere »Bühne, auf der 22  Vgl. Norberto Bobbio, Rechts und Links: ­Gründe und Bedeutungen einer politischen Unterscheidung, Berlin 1994, S. 60 ff. 23  Vgl. Anthony Giddens, Jenseits von Links und Rechts: Die Zukunft radikaler Demokratie, Frankfurt 1997, S. 75 ff.

einbeinige albanische Transgender-Performer die Verbrechen der Deutschen im Hererokrieg nachtanzen«24, sein kann. Das ist insofern erstaunlich, als linkes Engagement sich ansonsten eher durch eine Öffnung des Kulturbegriffs auszeichnet25 und die Castorf-Volksbühne auf progressiv-avantgardistischem Selbstverständnis beruht. Linke Kultur verteidigen heißt hier jedoch: die Volksbühne als Trutzburg, als »Bastion«, erhalten zu wollen. Jedwede strukturelle Veränderung wird durch die Stigmatisierung als »neoliberal« verunmöglicht.

24  Matthias Heine, Das Gelaber vom Labor, in: welt. de, 21.04.2015, URL: https:// www.welt.de/print/welt_kompakt/kultur/article139840164/ Das-Gelaber-vom-Labor.html [eingesehen am 30.10.2017]. 25  Vgl. Michael Brie u. Christoph Spehr, Was ist heute links?, in: kontrovers, H.1/2006, S. 9, URL: https://www.rosalux. de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/ kontrovers0601.pdf [eingesehen am 30.10.2017].

Dies zeigt sich auch in der Opposition der Pro-Castorf-/Anti-Dercon-Argumente: Schlagwörtern wie »engagiert, sozial, politisch, utopisch, widerspenstig, rote Kultur, Avantgarde, provokativ, einmalig« wird »Neoliberalität, Bourgeoisie, Hochglanz-Jetset, Eventisierung, Kuratorenzirkus, belgischer Investor, Kommerz, seichter Einheitsbrei, Konsensbefriedigung« gegenübergestellt. Die Chiffre Ensemble- und Repertoire-Theater steht für die Kommentatoren vor allem für »stabilere Arbeitsbedingungen«, deren Abschaffung einer »Privatisierung der Kultur« gleichkäme, hat also sowohl eine sozioökonomische als auch eine identitätsstiftende Komponente (»Verortung und Identität« der »Qualitätsmarke Volksbühne«). Hanna Klimpe  —  Digitale Debattenbühne

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Erstaunlich ist, dass das Theatersystem, das hier verteidigt wird, nicht unbedingt als links im Sinne von sicheren Arbeitsverhältnissen und der Beförderung diversifizierter Teilhabe bezeichnet werden kann. Schon 2010 wies Wolfgang Schneider darauf hin, dass sich die Einkommensverhältnisse der Angestellten an festen Theaterhäusern trotz eines Anstieges der öffentlichen Förderung kontinuierlich verschlechtert hätten.26 Bei dem außer im Verwaltungsbereich üblichen »Normalvertrag Bühne« handelt es sich zudem um einen Einjahresvertrag, der ohne Begründung nicht verlängert werden kann. Ein weiterer, seit Jahren diskutierter Kritikpunkt an der Struktur des Stadtund Staatstheatersystems ist ebenjene Fokussierung auf das deutschsprachige Sprech- und Literaturtheater, die hier so vehement verteidigt wird und große Teile einer kulturell zunehmend heterogenen Gesellschaft ausschließt;27 ferner eine patriarchal-hierarchische Organisationsstruktur, die der FAZ-Redakteur Volker Corsten vor einigen Jahren zugespitzt als »das letzte staatlich subventionierte Männerherrschaftssystem neben der Bundeswehr«28 bezeichnete.29 Die Glorifizierung der Volksbühne als Bastion linker Kultur beruht, so die hier vertretene These, auf einer Haltung, welche die amerikanische Kulturwissenschaftlerin Lauren Berlant als Cruel Optimism, grausamen Optimismus, bezeichnet, der auf einer Fantasie des sogenannten »guten Lebens« beruhe,

26  Wolfgang Schneider, Es geht um die Zukunft unserer Theaterlandschaft. Eine kulturpolitische Polemik aus gegebenem Anlass, in: Fonds Darstellende Künste (Hg.), Report darstellende Künste. Wirtschaftliche, soziale und arbeitsrechtliche Lage der Theater- und Tanzschaffenden in Deutschland, Essen 2010, S. 21 ff. Beispielsweise würden an festen Häusern fünfzig Prozent der Theaterkünstler bloß fünf bis zehn Euro pro Stunde verdienen; auch Stundenlöhne unter fünf Euro seien nicht unüblich.

die unter den heutigen Lebensbedingungen überhaupt nicht mehr zu realisieren sei. Diese Fantasie bezieht Berlant sowohl auf persönliche Beziehungen als auch auf die Stabilität und Berechenbarkeit des eigenen Lebensweges sowie auf politische Projekte. Grausamer Optimismus äußere sich zum Beispiel in starker emotionaler Affiziertheit zu vermeintlichen »heterotopias of sovereignty« – Orten für utopische Gegenentwürfe, hier Gegenentwürfe einer künstlerischen und vor allem auch politischen Autonomie – vor dem Hintergrund struktureller Ungleichheit, politischer Depression und anderer sogenannter Enttäuschungen.30 Grausam ist dieser Optimismus Berlants Meinung nach deshalb, weil der Verlust dieser Fantasie für das Subjekt einerseits untragbar, fast letal sei und sie sich andererseits unmöglich erfüllen lasse, da sie auf sozialdemokratischen Versprechen der Nachkriegszeit beruhe, die ab Ende der 1970er Jahre – nicht unwesentlich durch Sozialdemokraten selbst – aufgelöst worden seien. Direkter Frust über politische Entwicklungen artikuliert sich im Rahmen der Volksbühnen-Debatte in der Kritik an Müller, Renner und Lederer als dritthäufigstem Argument. Neben der Kritik an Renners Entscheidung und der Nicht-Einhaltung von Lederers Versprechen, sich für deren Revision einzusetzen, äußern sich auch eine generelle Politikverdrossenheit und langjährig aufgestauter Ärger über die Berliner Kulturpolitik.

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Widerstand und Dissidenz  —  Analyse

27  Vgl. bspw. Wolfgang Schneider (Hg.), Theater und Migration, Bielefeld 2011; vgl. auch Thomas Renz, Nicht-Besucherforschung. Die Förderung kultureller Teilhabe durch Audience Development, Bielefeld 2016. 28  Volker Corsten (Interview mit Karin Beier), Es gibt ein Leben jenseits des Theaters, in: faz.net, 21.03.2011, URL: http://www. faz.net/aktuell/feuilleton/buehne-und-konzert/im-gespraechkarin-beier-es-gibt-ein-leben-jenseits-des-theaters-1612563-p3.html [eingesehen am 30.10.2017]. 29  Kennzeichnend ist hierbei auch, dass Castorfs Intendanz-/ Regieteam mit René Pollesch, Christoph Marthaler, Herbert Fritsch und dem Chefdramaturgen Carl Hegemann rein männlich war. 30  Vgl. Lauren Berlant, Cruel Optimism, Durham 2011, S. 23 ff.

Ambivalent ist das Argument, der Intendanzwechsel sei Teil einer Stadtentwicklung gegen die Interessen der Berliner. Die gentrifizierungskritischen Argumente entsprechen zwar Giddens’ linkem Traditionsbegriff; allerdings stellt sich die Frage – hier kommt wieder Berlants Hinweis auf die vermeintlichen heterotopias of sovereignity ins Spiel –, ob eine öffentliche Kulturstätte als Objekt der Kritik taugt und nicht eher Maklerbüros, Spekulationsimmobilien oder Airbnb. Auffällig ist weiterhin die teilweise an Nationalismus grenzende Ablehnung der Internationalisierung Berlins (»Ein Chris Dercon hat an einer deutschen Volksbühne nichts zu suchen!« / »Herr Dercon hat auf dem Posten nichts verloren! Ein/e Vertreter/in der jungen Generation Berliner Theatermacher soll demokratisch in die Intendanz gewählt werden.«). Das Programm, so ein wiederholter Kritikpunkt, wird nicht als in der lokalen Identität verwurzelt verstanden (»Filmvorführungen oder […] Performances, die nix mit dem Berliner Leben zu tun haben« / »Haus mit lokaler und historisch gewachsener Bindung an Berlin« / »Sie [die Volksbühne] wahrt in Zeiten von Globalisierung und Austauschbarkeit Berlins Gesicht und Authentizität«). Das Theatersystem und besonders die Volksbühne in ihrer linken Tradition stehen hier, als Gegenentwurf etwa zu Richard Floridas Creative Class,31 für eine Fantasie sicherer Arbeitsbedingungen für Künstler, die Möglichkeit einer Verbrüderung gegen klare politische Feindbilder auf Basis kultureller Hegemonialität, für die Protektion durch patriarchale Führungspersönlichkeiten und eine Perpetuierung des Wohlstands, wie sie die fordistischen Lebensverhältnisse der Nachkriegszeit suggeriert haben – von der aber insbesondere die Post-Babyboomer-Linken nie profitierten und nie profitieren werden. Dies verhindert eine Diskussion darüber, wie die unbedingt zu schützende Institution der Kultur- und Theatersubvention sozialer und diverser strukturiert werden könnte; es verhindert auch eine Diskussion darüber, wie nicht nur das deutschsprachige Repertoire- und Literaturtheater als identitätsstiftendes Moment von diesen Strukturen profitieren könnte. Die Diskussion um Ensemble- und Repertoire-Betrieb kann jedenfalls auch als Versuch gewertet werden, eine kulturpolitische Umverteilungsdebatte über die darstellenden Künste zu verhindern. Sie behindert auch eine notwendige Debatte darüber, wie ökonomisch geschützte Kulturproduktion erhalten werden könnte, ohne 31  Siehe Joachim Thiel, Hoffnungsträger Kreativität? Ambivalenzen einer (Sozial-) Ökonomie der kreativen Stadt, in: Heike Hermann u. a. (Hg.), Die Besonderheit des Städtischen: Entwicklungslinien der Stadt(soziologie), S. 105–124.

sich gesellschaftlichen Entwicklungen zu verschließen. DAS »PRINCIPLE OF CHARITY« ALS KORREKTIV ­E MOTIONALISIERTER FILTER BUBBLES Grundsätzlich positiv hervorzuheben ist, dass im Widerstand gegen den Leitungswechsel an der Volksbühne nicht wenige Punkte hochgekocht sind, die Hanna Klimpe  —  Digitale Debattenbühne

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auf die Komplexität und Heterogenität akuter linker Fragestellungen verweisen: Sei es die Frage nach der Gewichtung von Umverteilung und Anerkennung durch Axel Honneth und Nancy Fraser; das Unbehagen gegenüber einer Beschönigung der Idee des Kosmopolitismus, wie Chantal Mouffe sie thematisiert; die »Wiederentdeckung« der Arbeiterklasse durch Didier Eribon; oder auch die Kritik an prekären Arbeits- und Lebensbedingungen im Neoliberalismus, wie sie Nicolas Bourriaud oder Luc Boltanski und in Deutschland Heinz Bude vornehmen. Schade ist, dass das Narrativ eines klar konstruierten Feindbildes eine ernsthafte Auseinandersetzung mit diesen Fragen und der Frage nach ihrem Zusammenhang mit der Rolle von Kulturinstitutionen und deren Transformation verhindert. Sowohl in sozialen Medien als auch in der »klassischen« journalistischen Berichterstattung befördert, wie hier exemplarisch sichtbar wird, ein stetig wachsender Veröffentlichungsdruck eine Verselbstständigung von Narrativen von als absoluter Wahrheit verstandenen Filter Bubbles,32 die stärker Ausdruck individueller oder kollektiver Ängste sind, als dass sie auf Fakten beruhten. Das kann man beklagen. Ein Versuch, damit umzugehen, könnte sein, in primär von Emotionalität und Misstrauen geprägten Debatten wie dieser, in denen sowohl die Diskussionsgrundlage als auch die Zielrichtung vage ist, sich auf das principle of charity, das Prinzip der wohlwollenden Interpretation, zu berufen, wie es der analytische Philosoph und Quine-Schüler Donald Davidson als linguistisches Interpretationsprinzip in der Wissenschaftsphilosophie entwickelt hat.33 Das principle of charity beschreibt den Willen, die Aussagen des Anderen

32  Zum Konzept und zur Genese von Filter Bubbles vgl. Eli Pariser, The Filter Bubble: What the Internet Is Hiding From You, London 2012.

so zu interpretieren, dass sie sinnvoll sind und eine Verständigung grundsätzlich ermöglichen. Dabei ist eben nicht das Ziel, Widersprüche zu eliminieren: »its purpose is to make meaningful disagreement possible, and this depends entirely on some foundation in agreement.«34 Eli Dresner betont

33  Siehe Donald Davidson, »On the very idea of a conceptual scheme«, in: Ders., Inquiries Into Truth And Interpretation, Oxford 1984, S. 184–198.

hierbei, dass die Rolle des principle of charity in der interkulturellen oder politischen Kommunikation noch nicht ausreichend als Möglichkeit gewürdigt werde, mit der »extensive incommensurability between worldviews«35 umzugehen. Der sinnvollere Widerstand in dieser Debatte würde, so die hier vertretene These, darin bestehen, das principle of charity einer sich verselbstständigenden Mediendebatte entgegenzusetzen. Dr. Hanna Klimpe, geb. 1984, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für Digitale Kommunikation an der Fakultät Design, Medien, Information der HAW Hamburg. Sie hat als Stipendiatin der FAZIT-Stiftung an der Universität Hamburg und der Université Paris VII über theatrales Handeln als Möglichkeit und Wirklichkeit promoviert und schreibt als Autorin u. a. für die tageszeitung.

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Widerstand und Dissidenz  —  Analyse

34  Ebd., S. 196. 35  Eli Dresner, The Principle of Charity and Intercultural Communication, in: International Journal of Communication, Jg. 5 (2011), S. 969–982.

KUNST ALS WIDERSTAND ANMERKUNGEN ZU EINER SCHWIERIGEN DEBATTE ΞΞ Jennifer Ramme

»Es gilt nicht, die Poesie in den Dienst der Revolution, sondern die Revolution in den Dienst der Poesie zu stellen.« (Guy Debord, 1960)1 Der Zusammenhang zwischen Kunst und politischem Widerstand ist ein umstrittenes Thema. Insbesondere, wenn damit die Frage einhergeht, ob künstlerische Praktiken direkt in Gesellschaft gestaltende Prozesse eingreifen können, ohne dabei ihre für die Kunst spezifischen Eigenschaften zu verlieren. Schließlich werden Kunst und Politik häufig als getrennte, gar entgegengesetzte Sphären betrachtet. Auf der Ebene der Praxis könnte diese Aufteilung von Zuständigkeits- und Wirkungsbereichen im Kontext von Widerstand folgendermaßen beschrieben werden: Während künstlerische Praktiken meist daran arbeiten, Wahrnehmungsschemata zu durchbrechen und neue sinnliche Erfahrungswelten zu eröffnen, stehen im Fokus der Politik die Gesellschaft und ihre Organisationsformen. Gemäß dieser Differenzierung betrifft Politik jenen Bereich, in dem auch soziale Bewegungen agieren: das reale gesellschaftliche Zusammenleben – wohingegen die Kunst sich im Bereich des Fiktionalen und Symbolischen bewegt. Bei näherer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass Grenzziehungen zwischen Kunst und Politik sowohl variieren als auch überschrittenen werden. So sind künstlerische Praktiken häufig Teil einer Ausdrucksform sozialer Bewegungen oder stellen in sich selbst schon eine gesellschaftspolitische Form von Widerstand dar. Nicht selten reklamieren Kunstschaffende für sich, die Welt aktiv mitzugestalten, 1 

Guy Debord, Das Programm der verwirklichten Poesie. All the king’s men, in: Der deutsche Gedanke. Organ der Situationistischen Internationale für Mitteleuropa, H. 1 (April)/1963, abgedr. in: Wolfgang Dreßen u. a. (Red.), Nilpferd des höllischen Urwalds – Spuren in eine unbekannte Stadt – Situationisten, Gruppe SPUR, Komune I, Berlin 1991, S. 15.

und positionieren sich dabei häufig explizit als politisch oder gar als revolutionäre Avantgarde. Vor diesem komplexen Hintergrund stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang von Kunst und Widerstand; und, sofern es Widerstand gibt, wogegen sich dieser genau richtet. Eine Möglichkeit, dieser Frage nachzugehen besteht darin, künstlerische Praktiken in Bezug auf ihre Beziehung zu normativen gesellschaftspolitischen Ordnungen zu untersuchen. Dabei sind für die Bestimmung des Verhältnisses von Kunst gegenüber gesellschaftspolitischen

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Ordnungen zwei Ebenen zu berücksichtigen: erstens die Verortung und Funktion von Kunst in einem gesellschaftspolitischen System und zweitens das Verhältnis künstlerischer Formen gegenüber gesellschaftspolitischen Formen. Wann aber ist Kunst widerständig; und unter welchen Umständen ist sie das? Schließlich ist nicht jede künstlerische Gestaltung widerständig, selbst wenn sie sich als politisch oder sozial engagiert ausgibt. Was verbindet Kunst und soziale Bewegungen, kann Kunst gar selbst soziale Bewegung sein? Schließlich: Welche Formate hinsichtlich der politischen Praxis von Kunst lassen sich beobachten? Der für die Beantwortung dieser Fragen zugrundeliegende Widerstandsbegriff ist von anderen »weicheren« Formen, wie der Kritik, aber auch von dem Begriff der Widerständigkeit im Sinne der Beständigkeit von Form und Materie abzugrenzen. Widerstand wird hier als eine wehrhafte, aktive – d. h. produktive oder destruktive – Ablehnung einer Ordnung oder ihrer einzelnen Bestandteile verstanden, in deren Folge es zu einem Konflikt zwischen inkompatiblen oder gar gegensätzlichen Gestaltungspraktiken kommt. DIE GESELLSCHAFTLICHE VERORTUNG VON KUNST Die gesellschaftliche Verortung und Funktion von Kunst ist Gegenstand von Kunstsoziologie, aber auch der Kunsttheorie, Kunstgeschichte und Kunstkritik. Während Letztere die Untersuchung künstlerischer Praktiken in den Vordergrund stellen, beschäftigt sich die Soziologie vor allem mit der Funktion von Kunst in der Gesellschaft und als gesellschaftliches Teilsystem.2 Um über Formen des Widerstandes zu sprechen, ist zunächst zu bestimmen, wo die Kunstschaffenden sich und ihre künstlerische Praxis verorten bzw. wie sie strukturell verortet werden. Kunst kann demnach autonomer Teil eines politischen Systems sein, in welchem auserwählte Personengruppen mit dem Status des Kunstschaffenden einen Freiraum für sinnliche Gestaltungsarbeiten innehaben. Kunst übernimmt zudem bestimmte Funktionen der Repräsentation und, wie Pierre Bourdieu in seiner Theorie des künstlerischen Feldes und des Habitus darlegt, der gesellschaftlichen Distinktion.3 So betrachtet, steht die Kunst in engem Zusammenhang mit den jeweiligen politischen Systemen und der in ihr herrschenden Gruppe. Mit Blick auf die heutige Zeit und die Funktion von Kunst in westlichen marktorientierten Demokratien wird – insbesondere in der Kunsttheorie und unter Kunstschaffenden selbst – immer wieder die Frage verhandelt, ob Kunst dem herrschenden System dient oder ob ihr bspw. gegenüber der Gesellschaft eine Art Korrekturfunktion zukommt. Besonders unter Kunsttheoretiker_innen ist eine Definition von Kunst als Raum der Wissensproduktion und Erfahrung verbreitet: Kunst produziert

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2  Genannt seien hier vor allem Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu. Zu Bourdieus Konzept des künstlerischen Feldes vgl. bspw. Franz Schultheis u. Stephan Egger (Hg.), Pierre Bourdieu. Kunst und Kultur. Kunst und künstlerisches Feld, Schriften zur Kultursoziologie 4, Berlin 2015; zu Niklas Luhmann siehe Ders., Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1995. 3  Vgl. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M. 1982, S. 100–108.

eigene Inhalte. Daraus folgt, dass sie also nicht einfach als Medium für den Transport austauschbarer Inhalte zu verstehen ist. Trotz des Zugeständnisses der besonderen Freiheit der Kunst – in westlichen Demokratien ist die Freiheit der Kunst, ähnlich der Freiheit der Wissenschaft und der Meinungsfreiheit, gesetzlich geregelt – ist die praktische Definition dessen, was überhaupt als Kunst gilt, umstritten. Häufig ist die Definition davon abhängig, ob der institutionelle Rahmen Kunst definiert oder ob ein sogenannter erweiterter Kunstbegriff angewendet wird. Jener geht im deutschen Kontext auf Joseph Beuys, aber auch die Avantgarden der Zwischenkriegszeit zurück. Beuys, der auch an der künstlerischen F­ LUXUS-Bewegung beteiligt war, postulierte in seiner Theorie der sozialen Kunst jedermann als »gestalterische Potenz«, die sich auch an der Gestaltung des »Sozialkörpers« beteiligt. In einer demokratischen Gesellschaft bedeutet nach Beuys das »Sichselbst-sein« und sich zu gestalten ein »Insistieren auf den Souverän, der in jedem Menschen steckt«.4 Das Verhältnis zwischen Kunst und einem Staat, der auf die Durchsetzung von Normen bedacht ist, bleibt auch bei der Gewährung der Freiheit von Kunst ambivalent. Einerseits dienen institutionell gerahmte künstlerische Praktiken als Legitimation und Zurschaustellung der staatlich gewährten bürgerlichen Freiheiten. Die künstlerische Freiheit ist jedoch nicht mit der Freiheit eines jeden Menschen gleichzusetzen. Vielmehr funktioniert die institutionelle Rahmung durch den Status der Autonomie zuweilen wie eine Pufferzone, in der durch die Zuschreibung von Fiktionalität und Funktionalisierung als Ware durch den Kunstmarkt die politische Wirkung auf andere Gesellschaftsbereiche eingedämmt wird. Diese Funktion von Kunst wurde mittlerweile auch von nicht-demokratischen Regierungen erkannt, die zu Imagezwecken kritische Künstler einladen, die dann – beauftragt von staatlichen Kunstinstitutionen – staats- und institutionskritische Kunst produzieren. In vielen gesellschaftspolitischen Kontexten, wie etwa in autoritären Systemen, kann Kunst auch Funktionen einer gesellschaftlichen Parallelstruktur erfüllen, indem sie einen Schutzraum für politischen Aktivismus und freie Meinungsäußerung gewährt. Der politische Widerstand wird in solchen Fällen durch die Autonomie der Kunst und ihre vermeintliche Fiktionalität ermöglicht. Theatralische Bewegungen, aber auch die Bewe4  Vgl. Joseph Beuys u. a., Reden über das eigene Land: Deutschland 3, München 1985, S. 33–52; FIU-Kassel u. a. (Hg.), Die unsichtbare Skulptur. Zum erweiterten Kunstbegriff von Joseph Beuys, Stuttgart 1989.

gung der Orangenen Alternative und der durch sie propagierte Surrealistische Sozialismus im Polen der 1980er Jahre sind Beispiele für die politische Operationalisierung von Fiktionalität. Künstlerische Praktiken unterscheiden sich also darin, ob sie ihre Verortung und die damit verbundene Funktion in einem politischen System Jennifer Ramme  —  Kunst als Widerstand

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bzw. als Teil des globalen Kunstmarktes akzeptieren oder ob sie diesbezüglich widerständig agieren. Dass beides nicht Hand in Hand gehen muss, belegen bspw. die Protagonist_innen der Kritischen Kunst in Polen in den 1990er Jahren (u. a. Zmijewski, Kozyra, Libera) oder auch die russische Gruppe Pussy Riot. In ihren Kunstaktionen teils explizit gesellschafts- oder gar staatskritisch, waren sie den Kunstinstitutionen und dem Kunstmarkt gegenüber durchaus aufgeschlossen. Widerstand ist also immer relativ. Um das Verhältnis von Widerstand und Kunst weiter zu klären, lohnt deshalb ein genauer Blick darauf, welche Bestandteile einer Gesellschaftsordnung durch eine widerständige künstlerische Praxis hinterfragt und welche womöglich reproduziert werden. DIE SINNLICHE ORDNUNG DER KUNST Hierfür notwendig ist der Blick auf das Formale, also die sinnlichen Ordnungen der Kunst und die jeweiligen Formen, die sie hervorbringt. Als hilfreich für die Betrachtung der formalen Ebene erweist sich Jacques R ­ ancières Systematisierung der sinnlichen Regime der Kunst, da der Autor gesellschaftspolitische Ordnungen als Referenzrahmen nutzt. Nach Rancière ist die Praxis der Aufteilung des Sinnlichen sowohl der Kunst als auch der Gestaltung von Gesellschaft gemein. Die sinnliche Ordnung der Kunst unterteilt Rancière in drei Regime: das ethische, das repräsentative und das ästhetische Regime.5 Im ethischen Regime, das insbesondere in die vorchristliche Zeit fällt, gibt es keine Unterscheidung zwischen künstlerischen und nicht-künstlerischen Praktiken: die Grenze zwischen Fiktion und Realität ist fließend. Künstlerische Formate wie Poesie, Malerei usw. sind zweckgebundene Verkörperungen des Göttlichen (Ethik) oder Gebrauchsgegenstände. Die Bezeichnung des zweiten, repräsentativen Regimes verweist auf die Mimesis. Gemeint ist damit die Rolle von Kunst in der Spieglung von gesellschaftlichen Ontologien und Rangordnungen, die sich auch in einer Hierarchie der Zeichen ausdrückt. Kunst wird hier zu einem verlängerten Arm der herrschenden Macht und dient der Ethik, Religion und Politik.6 Kunst erhält eine separate Funktion innerhalb eines gesellschaftspolitischen Systems und es erfolgt die Spezialisierung und Aufteilung der Kunst in Disziplinen. Das dritte, ästhetische Regime, das sich durch die Autonomie der Kunst gegenüber den anderen sinnlichen Regimen sowie die Einführung einer Distanz der Kunst zu sich selbst auszeichnet, findet sich in künstlerischen Praktiken Ende des 19. und in der Mitte des 20. Jahrhunderts, bei Künstlern wie Proust, Malarme, Bresson oder Artaud. Auf dieser formalen Ebene – Aufteilungen

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5  Siehe Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2008, S. 35–49. 6  Siehe ebd., S. 44.

des Sinnlichen und die daraus hervorgehenden (Un-)Ordnungen der Formen – des Regimes entfaltet die Politik der Ästhetik ihre Wirkung. Hier ist, Rancière folgend, der Widerstand von Kunst anzusiedeln. Im ästhetischen Regime bedient sich die Kunst aller möglichen Ordnungen, ohne jedoch einer von ihnen ein Primat zu gewähren. Das Prinzip des ästhetischen Regimes ist die radikale Gleichheit aller sinnlichen Formen. Das politische Potenzial der Kunst zeigt sich in diesem Regime darin, dass der Kunst keine Ordnungen des Sinnlichen und der Seinsformen vorgeschrieben sind, dass die Kunst hier Widersprüche zulässt, die Situationen des Dissens zwischen verschiedenen Ordnungslogiken hervorrufen können. Dissens bedeutet im Sinne Rancières eine Situation der Schwebe, also des Abstands zu einer Ordnung ontologischer Gewissheiten, der nicht mit der Einrichtung einer neuen sinnlichen Hegemonie zu verwechseln ist.7 Die politische Eigenschaft der Kunst resultiert in der Rancière’schen Perspektive aus der formalen Autonomie und Zweckfreiheit der Kunst. Dank der Autonomie verbleibt die Kunst im Modus der Fiktionalität, der Distanz zu sich selbst und behauptet sich gegenüber den außerhalb der Kunst geltenden Hierarchien sinnlicher Formen und gesellschaftlicher Ontologien. Kunst sollte in diesem Sinne auch nicht in den Dienst einer Revolution gestellt werden oder soziale/ politische Konflikte spiegeln, da sie gerade dann ihre politische Eigenschaft verlöre und in den Modus der Mimesis überginge. KUNST ALS SOZIALE BEWEGUNG – ZWEI BEISPIELE Seit Beginn der künstlerischen Avantgardebewegungen Anfang des 20. Jahrhunderts, die eine Aufhebung der Grenze zwischen Kunst und Leben anstrebten, tritt die Kunst aus ihrem Feld heraus und bedient sich zunehmend anderer gesellschaftlicher Ordnungen. So werden Bestandteile, die anderen Ordnungen zugewiesen sind, in das künstlerische Feld integriert; oder aber die Kunst verlässt den Raum ihrer Autonomie, indem sie mithilfe künstlerischer Praktiken in »fremde« Formen der Ordnungen des Sinnlichen interveniert, diese zersetzt, stört, sie überlagert oder gar aufhebt. In der Zwischenkriegszeit sind auch künstlerische Praktiken zu finden, die einen expliziten Bezug zur Politik aufweisen, gesellschaftliche Ordnungen hinterfragen, sich als Teil politischer Bewegungen engagieren oder auch selbst soziale Bewegung sind und dabei gleichzeitig auf der formalen Ebene egalitäre ästheti7  Vgl. Jacques Rancière, The Aesthetic Dimension: Aesthetics, Politics, ­Knowledge, in: Critical Injury, Jg. 36 (2009), H. 1, S. 1–19, hier S. 3.

sche Prinzipien verfolgen. Der Dadaist Wieland Herzfelde schrieb rückblickend, dass DADA nie eine Kunstrichtung gewesen sei, sondern eine »spontane Protestbewegung«, die sich gegen den institutionellen und kommerziellen Kunstbetrieb sowie seine Jennifer Ramme  —  Kunst als Widerstand

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Apostel gerichtet habe.8 Die künstlerische Praxis von DADA richtete sich einerseits gegen die Funktionalisierung von Kunst in einer gesellschaftspolitischen Struktur; und andererseits richtete sich DADA auf formaler Ebene gegen etablierte, normative sinnliche Ordnungen der bürgerlichen Gesellschaft. DADA als kollektive künstlerische Bewegung hatte vor allem destruktive Ziele, was es jedoch nicht davor bewahrte, post mortem institutionell einverleibt und als Kunstrichtung gerahmt zu werden. Einen besonderen Fall stellen einzelne Kunstschaffende oder gar eine ganze Bewegung von Kunstschaffenden dar, die nicht nur die Kunst als autonomen Teilbereich revolutionieren wollen, sondern die ganze Gesellschaft, wenn die Revolution in den Dienst der Poesie gestellt werden soll. Als eine solche revolutionäre Bewegung, die sich gegen die kapitalistische Gesellschaft und einen durch sie definierten Zustand der Entfremdung wandte, kann die Ende der 1950er Jahre gegründete Situationistische Internationale (I.S.) gelten. Laut der I.S. gehörte die gesamte Arbeitsteilung aufgehoben und der Beruf des Künstlers abgeschafft. So heißt es in deren Manifest: »Gegen das Spektakel führt die verwirklichte situationistische Kultur die totale Beteiligung ein. Gegen die konservierte Kunst ist sie eine Organisation des erlebten Augenblicks – ganz direkt«9. Die von der I.S. bevorzugte Praxis sinnlicher Gestaltung, die nicht-institutionalisierte spielerische Schöpfung, wurde zum allgemein erwünschten Prinzip des gesellschaftlichen Zusammenlebens erklärt. Die Aufhebung der Trennung von Leben und Kunst, von Kunst und Gesellschaft, gepaart mit einer weltweiten Anhängerschaft der situationistischen Idee und einer sich verbreitenden kollektiven Praxis ließen den Situationismus als eine Art soziale Bewegung erscheinen. Beide jedenfalls, die DADA-Bewegung und die Situationistische Internationale, inspirierten viele spätere künstlerische Protestbewegungen oder Kunstproteste, ebenso sogenannte semantische Guerillas, die sich in vielen Ländern im Rahmen der Achtundsechziger-Bewegung und auch vermehrt in den

8  Siehe Wieland Herzfelde u. a., Dada und die Folgen – oder die Macht der Freundschaft, in: Klaus Schuhmann (Hg.), Sankt Ziegenzack springt aus dem Ei. Texte, Bilder und Dokumente zum Dadaismus in Zürich, Berlin, Hannover und Köln, Leipzig 1998, S. 403. 9  Situationistische Internationale, Manifest der Situationistischen Internationale, in: Karin Thomas u. a. (Red.), Um 1968. Konkrete Utopien in Kunst und Gesellschaft, Köln 1990, S. 39.

1980er Jahren formierten.10 KÜNSTLERISCHE FIKTION UND SOZIALE UTOPIE – DISSENS UND GESTALTUNG Die Frage, ob Kunst eine soziale Bewegung sein kann, knüpft an die schwierige Frage an, ob Kunst, die den Status und die Verortung im Feld der Autonomie verlässt, noch als Kunst gelten kann. Sie steht also in einem direkten Zusammenhang mit der Frage nach der Verortung von Kunst wie auch der Existenz einer nur der Kunst eigenen Ausdrucksweise oder sinnlichen Form. Nicht nur das Problem der direkten Beteiligung von Kunst an der Gestaltung

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10  Zu der Entstehung von ­Protestkunst und den Ähnlichkeiten zu DADA und Situationismus vgl. Jennifer Ramme, Tragiczna smierc awangardy i narodziny sztuki protestu, in: Gazeta Malarzy i Poetów, Jg. 13 (2006), H. 1, S. 6–9. Der Begriff der semantischen Guerilla geht auf Umberto Ecos Vortrag »Towards a Semiological Guerrilla Warfare« aus dem Jahr 1967 zurück; siehe Ders., Faith In Fakes. Travels In Hyperreality, California 1987.

von Gesellschaft sowie explizit politisch orientierte künstlerische Praktiken sind ein bis heute viel diskutiertes Thema. Auch die Frage, ob politischer Aktivismus als Kunst anerkannt werden sollte, ist, mit der seit vielen Jahren zu beobachtenden Zunahme politisch engagierter Kunst, dem Auftreten von hybriden Formaten des Kunstaktivismus oder auch der Musealisierung von primär politischen Protesten durch Kunstinstitutionen, von fortdauernder Relevanz.11 Dabei handelt es sich keineswegs um rein theoretische Diskussionen – schließlich zieht die damit einhergehende Definition und Eingrenzung des Terminus Kunst auch rechtliche Konsequenzen nach sich.12 Wenn etwa ein erweiterter Kunstbegriff angewandt wird, also ein Kunstbegriff, nach dem alle 11  Siehe hierzu Jürgen Reithmüller, (Wann) Soll politischer Aktivismus als Kunst anerkannt werden?, in: Participate, H. 2, 02.03.2013, URL: http:// www.p-art-icipate.net/cms/ wann-soll-politischer-aktivismusals-kunst-anerkannt-werden/ [eingesehen am 10.10.2017].

Objekte und jegliche Praktiken als künstlerisches Material verwertbar sind, oder wenn Kunst auch im Modus der Politik der Ästhetik operiert, d. h., die Eigenschaft dieser Kunst theoretisch gerade die ist, dass sie außerhalb von gesellschaftspolitischen Normen steht. Durch die Veränderung von Wahrnehmungsgewohnheiten sowie durch die Schöpfung, die Kreation, übt die Kunst auch Einfluss auf die Gesellschaft und ihre Formen aus. So betrachtet, ist das Prinzip der formalen ästhetischen Autonomie und

12  Siehe hierzu u. a. Uwe Scheffler, Kunst und Kunstfreiheit. Materialien zu den Ausstellungstafeln. Kunst und Strafrecht, URL: http://54418078.swh.strato-host­ ing.eu/Prolog-Kunst-und-Kunstfreiheit.pdf [eingesehen am 10.10.2017]; Ders. u. a., When Art Meets Criminal Law – Examining the Evidence, in: Santander Art and Culture Law Review, Jg. 2 (2015), H. 1, S. 245–258. 13  Zum Thema queere Ästhetik und Politik siehe z. B. Antke Engel, Desiring Tension. Towards a Queer Politics of Paradox, in: Christoph Holzhey (Hg.), Tension/Spannung, Wien 2010, S. 227–250.

der Distanz zu sich selbst kein Prinzip, das nur der Kunst eigen ist. Ebenso können sich soziale Bewegungen dieses Prinzip zunutze machen. Gerade dies tun sie auch in der Praxis, indem sie gesellschaftliche Grenzen infrage stellen, verschieben, neu organisieren oder gänzlich aufheben. Als Beispiel kann hier die Cyborg-Bewegung genannt werden, welche die Grenze zwischen Technik und Natur verschiebt, oder auch queere gesellschaftliche Praktiken, in denen die Grenzen zwischen Identitätskategorisierungen aufgehoben werden und eine Politik der Paradoxe zur Geltung kommt.13 Der FLUXUS-Poet Emmett Williams soll einst geschrieben haben: »Das Leben ist ein Kunstwerk, und das Kunstwerk ist Leben.«14 Dies trifft umso mehr auf sogenannte politische Praktiken zu. Die künstlerische wie auch die politische Praxis stellen Formen von Gestaltungsarbeit dar, die sowohl die gesellschaftliche als auch die mit ihr verbundene Ordnung sinnlicher Formen umfassen kann. Künstlerisches Denken und künstlerische Praxis bedeuten

14  Christine Stenzer, Hauptdarsteller Schrift. Ein Überblick über Schrift in Film und Video von 1895 bis 2009, Würzburg 2010, S. 159.

mithin eine bewusste Arbeit an der Wahrnehmung, die auch mit der Trans-

15  Juliane Rebentisch, Die Kunst der Freiheit. Zur Dialektik demokratischer Existenz, Berlin 2013, S. 21.

Subjekt dazu anhält, sich und sein Selbstverständnis, den Sinn seiner Sub-

formation sinnlicher Formen, die in der Gesellschaft als ontologische Gewissheiten gelten, einhergehen kann. Juliane Rebentisch unterstreicht, dass die für die ästhetische Freiheit spezifische Erfahrung einer Selbst­differenz »das jektivität, aus einer Distanz zu sich neu zu ergreifen«, und damit eine transformative Wirkung auf das Selbst und das Soziale entfalten kann.15 Jennifer Ramme  —  Kunst als Widerstand

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Welche Gestalten und Formen wahrgenommen und welche übersehen werden, wie die Grenzen zwischen Objekten und Phänomenen gezogen werden, ist mitunter erlernt. Ludwik Fleck spricht diesbezüglich von einer kollektiven Praxis des Sehens.16 Hinzu kommt, dass soziale Bewegungen, insbesondere wenn sie sich mit den Grundlagen der Gesellschaft befassen, oft in sich selbst schon eine neue kollektive Praxis darstellen, die neue sinnliche Formen hervorbringt. Praktiken sozialer Bewegungen sind also häufig auch auf der Ebene der Form widerständig gegenüber einer anderen sinnlichen Ordnung. Das Prinzip der fehlenden Hierarchien in sinnlichen Ordnungen, was Rancière als Eigenschaft der Kunst im ästhetischen Regime beschreibt, erweist sich sowohl für Künstler_innen als auch für soziale Bewegungen, die sich der gesellschaftlich normierten Realität entziehen oder diese gestalten wollen, als fruchtbar. So wird das formale Prinzip der Gleichheit der Kunst auch auf gesellschaftspolitische Realitäten angewandt, sodass das Sowohlals-Auch der Kunst die fiktiven Aspekte normativer gesellschaftlicher Ordnungslogiken, für die es keine endgültige Form oder Legitimationsgrundlage gibt, zum Vorschein bringt. Soziale Utopie und künstlerische Fiktion sind eng miteinander verwoben. Wird eine Idee einer anders gestalteten Gesellschaft, eine soziale Utopie im Hier und Jetzt, im Zuge einer kollektiven Praxis umgesetzt, bringt diese Praxis sinnliche Formen hervor. Diese wiederum können im Zusammenstoß mit einer naturalisierten und institutionalisierten Gesellschaftsordnung, so wie auch künstlerische Formen eine Situation des Dissens hervorrufen, als Widerstand wirksam werden.

Jennifer Ramme, geb. 1976, ist wissenschaftliche ­Mitarbeiterin des Lehrstuhls für Deutsch-Polnische Kultur- und Literaturbeziehungen an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-­Universität V ­ iadrina in Frankfurt (Oder). Ihr Forschungs­schwerpunkt sind soziale Bewegungen, NROs und Proteste sowie Politiken der Ästhetik und Form. D ­ erzeit forscht sie vor allem zu strittigen Geschlechterordnungen in Polen und darauf bezogene räumlich-­ästhetische Strategien sozialer Bewegung.

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16  Ludwik Fleck, Schauen, Sehen, Wissen (1947), in: Sylwia Werner u. a. (Hg.), Ludwik Fleck. Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse, Berlin 2014, S. 390–418.

DIE WEISSE ROSE ÜBERLEGUNGEN ZUR SOZIALISATION DER ­WIDERSTANDSKÄMPFER ΞΞ Miriam Gebhardt

Der 9. November wird in Deutschland gerne als »Schicksalstag« bezeichnet, an dem mehrmals epochemachende Ereignisse zusammenfielen. Ein anderes Datum, das in der allgemeinen Erinnerung hingegen weit weniger präsent ist, hätte jedoch ebenfalls mit guten Gründen eine symbolbildende Deutung verdient, leuchtet es doch die ganze Bandbreite möglichen Verhaltens der Deutschen im Nationalsozialismus aus: der 18. Februar 1943. An diesem Tag hielt Joseph Goebbels in Berlin seine berüchtigte »Sportpalastrede«, die zum Sinnbild der Überwältigung durch Propaganda geworden ist, zu einem Menetekel der Irrationalität, da dem Regime gelang, die Deutschen unter dem Banner »Totaler Krieg – kürzester Krieg« noch einmal davon zu überzeugen, alle Kraft für den Vernichtungskrieg zu sammeln. Der letzte Satz, den der Propagandaminister in den Saal schrie, lautete: »Der Führer hat befohlen, wir werden ihm folgen. Und darum lautet von jetzt ab die Parole: Nun, Volk, steh auf, und Sturm, brich los!« Und er brach los, der Sturm: Vierzehntausend Menschen im Saal und Millionen am Radio und in den »Wochenschau«-Vorstellungen ließen sich zu rauschhaftem Jubel hinreißen. Am selben Tag, zur selben Zeit bildete sich in München im Gestapo­ gefängnis gleichsam ein Schattenriss der Berliner Vorgänge ab: Die Geschwister Scholl mussten sich gegen den Vorwurf des Verrats am Hitlerstaat verteidigen. Am Abend des 18. Februar 1943 dann ihr trotziges Eingeständnis: Ja, sagte Sophie Scholl, ihre Aktionen seien auf die Beseitigung des nationalsozialistischen Staates hinausgelaufen. »Wenn die Frage an mich gerichtet wird, ob ich auch jetzt noch der Meinung sei, richtig gehandelt zu haben, so muss ich hierauf mit ja antworten.«1 Vier Tage später wurden die Geschwister gemeinsam mit ihrem Mitstreiter Christoph Probst hingerichtet. »Es lebe die 1  Ulrich Chaussy u. Gerd R. Ueberschär, »Es lebe die Freiheit!«. Die Geschichte der Weißen Rose und ihrer Mitglieder in Dokumenten und Berichten, Frankfurt a. M. 2013, S. 236. 2  Ebd., S. 9.

Freiheit!«, sollen die letzten Worte Hans Scholls gewesen sein.2 Über die Motive und Mentalitäten der Mitläufer und Mittäter, die am 18. Februar gejubelt haben, ist inzwischen viel geforscht worden, von der Mentalität der Widerständler, die am 18. Februar standhaft blieben, haben wir hingegen ein weniger klares Bild. Die Frage, wo die ethische Unabhängigkeit und der Mut zum Widerstand herkamen, insbesondere bei Menschen, die

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ein vergleichsweise bequemes Leben hätten führen können – denn die Kerngruppe der Weißen Rose stand durch ihr soziales und politisches Milieu in keinem natürlichen Oppositionsverhältnis zum Nationalsozialismus – ist hinter der Fassade der Bewunderung und Verklärung nach 1945 verschwunden. Zwar wissen wir heute das meiste über die Aktionen der Weißen Rose. Es liegen umfangreiche Biografien der einzelnen Akteure vor, auch der Hintermänner. Nicht zuletzt existieren umfängliche Abhandlungen über deren religiöse Verortung, über die Bedeutung ihrer Fronterlebnisse und auch über Abseitiges wie ihren angeblichen Drogenkonsum.3 Aber warum gerade diese jungen, mehr oder weniger stark christlich geprägten, mehr oder weniger kriegstraumatisierten, mehr oder weniger politisierten Leute es gewagt haben, die allgemeine Entrechtung, den Vernichtungskrieg und den Judenmord öffentlich anzuprangern, das konnte die Forschung bisher nicht beantworten. Die Dominanz der geistes- und religionsgeschichtlichen Deutung hat die idealistische, auf die Werte des christlichen Abendlandes zugespitzte Perspektive auf den Widerstand der Münchner Studenten und ihres Professors Kurt Huber bis in die Gegenwart verstetigt. Die Vorliebe für Narrative der Folgerichtigkeit und der abrupten biografischen Kehrtwenden tat ihr Übriges: Entweder wurde darauf abgehoben, dass die Aktivisten durch Bildung oder Erfahrung konsequent auf ihre Rolle vorbereitet waren, oder darauf, dass sie durch das Damaskuserlebnis an der Front quasi zum Widerstand konvertiert worden seien. Beide Modelle erscheinen im Lichte der Disziplinen, die sich mit Fragen der Moral- und der Autonomieentwicklung des Individuums beschäftigen, wenig plausibel. Wir gehen heute davon aus, dass die Voraussetzungen für moralisches Handeln in der Sozialisation erworben werden. Die einschlägigen Fachwissenschaften sehen vor allem die Kindheit in der Familie und die laufenden Lernerfahrungen mit Gleichaltrigen, etwa in der Schule, als grundlegend an.4 In diesem Prozess spielen sowohl kognitive als auch emotionale Komponenten wie zum Beispiel das Erlernen des Beobachterwechsels und Empathie eine wichtige Rolle. Eine abrupte politisch-moralische Kehrtwende im Erwachsenenalter nach dem Saulus-Paulus-Prinzip scheint hingegen eher unrealistisch – selbst wenn, wie im Fall des politischen Widerstands, die äußeren Anlässe des politischen Geschehens, die den widerständigen Handlungen akut zugrunde lagen, nicht ausgeblendet werden können. Die Aktionen der Weißen Rose, die im Sommer 1942 einsetzten und davor schon einige Monate lang intensiv in Gesprächen und durch Lektüre vorbereitet worden waren, standen dabei nicht im unmittelbaren Zeitbezug etwa zur verlorenen Schlacht von Stalingrad. Vielmehr

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3  Vgl. u. a.: Wolfgang Benz, Die weiße Rose. 100 Seiten, Stuttgart 2017; Detlev Bald, Die ›Weiße Rose‹. Von der Front in den Widerstand, Berlin 2004; Ders. u. Jakob Knab, ›Die Stärkeren im Geiste‹: Zum christlichen Widerstand der Weißen Rose, Essen 2012; Jakob Knab u. Robert Zoske, Sehnsucht nach dem Lichte. Zur religiösen Entwicklung von Hans Scholl. Unveröffentlichte Gedichte, Briefe, Texte, München 2014; Christiane Moll (Hg.), Alexander Schmorell, Christoph Probst. Gesammelte Briefe, Berlin 2011; Sönke Zankel, Mit Flugblättern gegen Hitler. Der Widerstandskreis um Hans Scholl und Alexander Schmorell, Köln 2008. Von der Autorin ist dazu erschienen: Miriam Gebhardt, Die Weiße Rose. Wie aus ganz normalen Deutschen Widerstandskämpfer wurden, München 2017. 4  In der Entwicklungspsychologie wird davon ausgegangen, dass moralische Gefühle bereits im Kinderalter existieren, das Bedürfnis nach Konsistenz zwischen dem moralischen Verständnis und dem eigenen Handeln jedoch erst bei größeren Kindern überwiegt – wobei es individuelle Unterschiede gibt. Überblick in: Monika Keller, Moralentwicklung und moralische Sozialisation, in: Detlef Horster u. Jürgen Oelkers (Hg.), Pädagogik und Ethik, Wiesbaden 2005, S. 149–172.

bildeten Euthanasieaktionen, Deportationen und die allgemeine Kriegsentwicklung für die jungen Mitstreiter (bei Professor Huber war die Motivlage etwas anders) eine Kulisse von dauernder Dringlichkeit. Aber auch ein Narrativ der sukzessiven Entfaltung von Widerstands­ tätigkeit lässt sich nicht begründen – schon deshalb nicht, da die Akteure nicht im Sinne und Einvernehmen ihrer Sozialisationsinstanzen handelten. Ihre Eltern waren nicht nur nicht eingeweiht, ihre Haltung zum National­ sozialismus changierte zwischen Zuspruch (Graf), Indifferenz (Schmorell) und Ablehnung (Scholl). Außerdem wissen wir inzwischen, dass die jungen Mitstreiter der Weißen Rose mit Ausnahme Willi Grafs nicht nur alters­t ypisch die Hitlerjugend durchlaufen hatten, sondern im Fall der Geschwister Scholl dieser sogar mit einigem Enthusiasmus angehört hatten. Zwar geriet Hans Scholl mit der HJ, in die er schon am 1. Mai 1933 gegen den Willen des Vaters eingetreten war, früh in Konflikt, an dessen Ende seine Verhaftung (und die seiner Geschwister Werner und Sophie) stand. Aber ein ernsthafter ideo­ logischer Dissens zum Nationalsozialismus der frühen Jahre lässt sich aus den Quellen nicht belegen. 5  Vgl. Ulrich Hermann, Vom HJ-Führer zur Weißen Rose. Hans Scholl vor dem Stuttgarter Sonderbericht 1937/38, Weinheim 2012. 6  Vgl. Johannes Tuchel, Neues von der »Weißen Rose«? Kritische Überlegungen zu »Detlef Bald: Die Weiße Rose. Von der Front in den Widerstand«, in: POLHIST, Nr. 15, Berlin 2003, URL: https:// www.gdw-berlin.de/fileadmin/ bilder/Tuchel_POLHIST_15.pdf [eingesehen am 17.11.2017].

Die Konfrontation entzündete sich vielmehr indirekt an Divergenzen zwischen der bündischen Subkultur seiner Gruppe und der immer hegemonialer agierenden offiziellen HJ-Kultur sowie an einem homosexuellen Vorfall, den Hans Scholl widerspruchslos einräumte.5 Daraufhin wurde gegen ihn ebenso wie gegen zahlreiche andere im Zuge der Zwangshomogenisierung der HJ ein Verfahren nach § 175 und wegen Fortsetzung der bündischen Jugend eröffnet. Die Affäre endete mit einer kurzen Untersuchungshaft und der späteren Amnestie. Weitere Nachteile erwuchsen Scholl daraus nicht. Auch von Alexander Schmorell, dem wichtigen Mitautor der ersten vier Flugblätter der Weißen Rose, sind aus der Jugend keine Meinungsverschiedenheiten mit der NS-Jugend überliefert, ebenso wenig von Christoph Probst.

7  Dabei soll Kurt Huber in den folgenden Überlegungen ausgeklammert bleiben. Der noch im 19. Jahrhundert geborene Professor für Musikpsychologie durchlief schon aufgrund seiner Generationenzugehörigkeit eine ganz andere Sozialisation, stieß zudem erst im Spätherbst 1942 und außerdem eher als intellektueller Zuträger dazu: Überdies stand er politisch, etwa über die Frage, ob die Wehrmacht als Teil des Verbrecherregimes gelten muss, und bezüglich wirtschaftspolitischer Perspektiven nach dem Krieg, eher abseits.

In Reichsarbeitsdienst und Studium fielen die jungen Leute zunächst nicht als besonders regimekritisch auf, auch wenn sie die Einengung der Lebensentfaltungsmöglichkeiten als sehr quälend empfunden haben mochten. Lediglich Willi Graf war als früher Hitlergegner kein HJ-Mitglied. Die militärischen Erfahrungen wiederum haben zwar sicherlich zur Verschärfung des Bewusstseins um das Unrecht der deutschen Kriegsführung beigetragen; der längste gemeinsame Einsatz lag jedoch zeitlich nach den ersten Flugblattaktionen. Und dass die Aktivisten dort konkret mit der Shoah konfrontiert worden seien, ist nicht nachweisbar.6 Wir sollten daher die gängigen Erklärungen, wie aus »ganz normalen Deutschen« Widerstandskämpfer wurden, um ein komplexeres Modell der moralischen Sozialisation ergänzen.7 Miriam Gebhardt  —  Die Weiße Rose

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1. BEDINGUNGEN DES AUFWACHSENS Den Eltern-Kind-Beziehungen kommt – zumindest im westlichen bürgerlichen Familienmodell – eine zentrale Rolle bei der moralischen Sozialisation zu.8 Dabei geht die Forschung von einer expliziten und einer impliziten Sozialisation aus, also davon, dass Kinder einerseits durch die Vorgaben und Werte in der Familie, andererseits durch die Interaktion und die emotionale Atmosphäre in der Familie moralisch sensibilisiert werden. Dazu gehört als Grunderfahrung, dass ein Kind als Person akzeptiert wird und »Spielräume für Verhandlungen um Regeln« erhält.9 Betrachtet man die Familien der Hauptprotagonisten der Weißen Rose, werden diesbezüglich tatsächlich einige Faktoren deutlich, die ungewöhnlich waren und die das moralisch unbestechliche und innerlich autonome Handeln im Widerstand zumindest befördert haben dürften.10 Die Familie Scholl entstammte dem Schwäbischen, der Gegend um Crailsheim, und war protestantisch geprägt – Mutter Lina Scholl mit pietistischem, Vater Robert Scholl eher mit einem säkularen und universalistischen Einschlag. Die Geschwister Scholl erlebten in ihrer Kindheit den sozialen Aufstieg der Eltern: Der Vater erhielt als Bauernsohn schulische Förderung und konnte einen mittleren Abschluss sowie eine Verwaltungsausbildung absolvieren, wurde Bürgermeister zweier württembergischer Kleinstädte, Ingersheim und Forchtenberg, später Steuerberater und nach dem Krieg noch einmal für kurze Zeit Bürgermeister von Ulm. Die Mutter legte mit der Heirat die Diakonissentracht ab und kümmerte sich primär um ihre sechs Kinder und den Haushalt.11 Christoph Probst kam aus Murnau, blieb ungetauft, sein Vater beschäftigte sich mit indischer Spiritualität und gab ihm den Zweitnamen Andana für »Wonne«. Die Familien der Eltern waren von Haus aus vermögend und kulturell breit interessiert, sie gehörten der ländlichen Boheme an, waren befreundet mit Paul Klee und Emil Nolde. Die Kinder Probst wuchsen zeitweise im Gabriele-Münter-Haus in Murnau auf. Alexander Schmorell wiederum war als Deutschstämmiger in Orenburg im Ural geboren worden, lebte aber seit seinem vierten Lebensjahr in München und war russisch-orthodox. Seine Familie entstammte einer Kaufmanns­ dynastie, die mit Pelzhandel zwischen Russland und Deutschland wohl­ habend geworden war; sein Vater praktizierte als Arzt, zunächst in Moskau und Orenburg, nach der Umsiedlung dann in München. Die russische Kultur blieb über die Kinderfrau ein fester Bestandteil im neuen großbürgerlich-­ städtischen Leben Schmorells. Willi Grafs Familie schließlich war ursprünglich rheinländisch-katholisch; es zog sie später nach Saarbrücken, wo der Vater, ebenfalls ein Bauernsohn,

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8  Grundlegend Lawrence Kohlberg, Die Psychologie der Moralentwicklung, Frankfurt a. M. 1996; Bernhard Claußen u. Rainer Geißer (Hg.), Die Politisierung des Menschen. Instanzen der politischen Sozialisation. Ein Handbuch, Opladen 1996. 9  Monika Keller, Moralentwicklung und moralische Sozialisation, in: Detlev Horster u. Jürgen Oelkers (Hg.), Pädagogik und Ethik, Wiesbaden 2005, S. 149–172, hier S. 159. 10  Zur wichtigen Rolle der inneren Autonomie siehe Michael Pauen u. Harald Welzer, Autonomie. Eine Verteidigung, Frankfurt a. M. 2015. 11  Vgl. Gebhardt; ­Barbara Ellermeier, Hans Scholl. ­Biographie, München 2014; Barbara Beuys, Sophie Scholl. Biographie, München 2011.

als Weinhändler und Gastronom tätig war und so seinen Kindern erstmals in der Familie den Bildungsaufstieg durch Gymnasium und Studium ermöglichen konnte. Der nach 1945 und in der Zeit der Achtundsechziger von Linken verstetigte Bürgerlichkeits-»Verdacht« trifft auf die Beschriebenen folglich nicht in Gänze zu – vollzogen doch drei der späteren Widerständler, Willi Graf sowie Hans und Sophie Scholl, erst in ihrer Kindheit den Aufstieg aus dem Kleinbürgertum, während Christoph Probst und Alexander Schmorell von Geburt an dem Großbürgertum und der Boheme zugehörten. 2. FAMILIALE ERZIEHUNGSKULTUREN Alle fünf jungen Widerständler wurden um das Ende des Ersten Weltkriegs herum geboren und in der Kernfamilie großgezogen. Auch wenn Christoph Probst in einer Patchworkfamilie aufwuchs und die längste Zeit seiner Schulausbildung in Internaten verbrachte und Alexander Schmorell als Halbwaise zeitlebens ein distanziertes Verhältnis zu seiner Stiefmutter hatte, so verband sie doch, dass allgemein viel in die Erziehung und Ausbildung der Kinder investiert wurde. Insbesondere galt dies in den Aufsteigerfamilien. Sie erhielten die klassischen Bildungsangebote: Bücher, Sport, Reiten, Fechten, Naturerfahrungen. Gemeinsame familiäre Aktivitäten wie Vorlesen, Theaterspielen, Malen und Basteln waren die Regel, die Fremdsprachenausbildung gehörte teilweise dazu. Musik, Kunst und Theater spielten in allen Familien eine besondere Rolle. Sophie Scholl galt als hervorragende Zeichnerin, gemeinsam mit Schmorell und Probst widmete sie sich der Bildhauerei, Graf sang im Bach-Chor. Auch wuchsen sie ausgesprochen naturverbunden auf, gingen wandern, schwammen in Flüssen, fuhren Ski. Die Erziehung der späteren Aktivisten stand theoretisch wie praktisch auf einem breiten, ganzheitlichen, auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder ausgerichteten Fundament: Die Scholls lasen Pestalozzi, die Probsts setzten auf Reform- und Waldorfpädagogik, Schmorells Vater richtete seinem Sohn einen Handwerkerkeller ein und brachte ihm das Buchbinden bei. Die Eltern waren eher gegen Strafen, die Kinder sollten aus eigenen Erfahrungen lernen. Bei Probsts ging das so weit, dass sich die Kinder selbst für ihre Religionszugehörigkeit entscheiden sollten. Trotz dieses für die damalige Zeit privilegierten Familienklimas darf das Beschriebene jedoch nicht zu der falschen Vorstellung verleiten, die Kinder und Jugendlichen wären stets bewacht und umsorgt gewesen: So gingen die Scholl-Geschwister morgens um sechs Uhr allein weite Wege zur Schule und während der Nachmittage bewegten sie sich unbeaufsichtigt in der Natur. Sie mussten überdies viele Miriam Gebhardt  —  Die Weiße Rose

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Pflichten im Haushalt übernehmen; besonders Sophie Scholl wurde als Mädchen intensiv in die Hausarbeit einbezogen. Was den Erziehungsstil anbelangt, so wissen wir von Hans und Sophie Scholl, dass der Vater dennoch ein strenges Regiment führte, während die Mutter die fürsorgliche und liebevolle Rolle übernahm. Auch Willi Graf hat die Rollenverteilung der Eltern so erlebt: Der Vater streng, die Mutter gütig. Die Eltern gaben die moralischen und politischen Maßstäbe vor – oder versuchten es zumindest. Gemessen an dem, was üblich war im bürgerlichen Familienleben im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, mutet also vieles vertraut an. Ehrgeizige Eltern kümmerten sich damals zunehmend persönlich um ihre Kinder, beschäftigten sich kindgerecht mit ihnen, versuchten eine systematische und von Expertise geleitete Erziehung umzusetzen, die den Kindern altersgerechte Entwicklungsanreize und Bildungsangebote zugleich bot. Aus diesen Umständen werden die besonderen geistigen Ressourcen dieser jungen Menschen wie Aufmerksamkeit, Konzentrationsfähigkeit, künstlerische Sensibilität, aber auch die Fähigkeit zu Empathie und Selbstreflexion erklärbar, von denen ihre frühen Tagebücher und Briefe Zeugnis ablegen.12 Aber die besondere innere Autonomie, diese Eigenschaft, die ihren politischen Eigensinn und ihren Mut begründete, geht über das übliche bürgerliche Sozialisationsinventar hinaus. Diese Fähigkeit kann nicht über Bücher und Fechtstunden vermittelt werden – dazu gehörte auch, dass die jungen Menschen auch Chancen bekamen, sich darin einzuüben, und zwar in den ersten Beziehungen, die sie erlebten, in der Familie. Wir müssen uns also näher heranbemühen an die Bedingungen des Aufwachsens der Aktivisten. 3. FAMILIENBEZIEHUNGEN IN DER ADOLESZENZ Alle Beteiligten der Weißen Rose hatten in jungen Jahren schwere familiäre Verluste zu verkraften und heftige Identitäts- und Ablösungskrisen in ihren Elternbeziehungen durchlebt. Die produktiven Lösungen dieser Konflikte legen einen sicheren autonomen Bindungsstil in den Familien der Aktivisten nahe, der ein verbindendes Element ihrer gemeinsamen, für die damalige Zeit spezifischen familialen politischen Sozialisation darstellen könnte.13 Der Fall Scholl: Vater Robert Scholl glänzte auf seinem ersten Bürgermeisterposten in Ingersheim-Altenmünster, sodass er 1919 zum Bürgermeister eines größeren Städtchens namens Forchtenberg im fränkischen Hohenlohe bestellt wurde, wo er sich an die Modernisierung der Stadt machte: Er realisierte den Bahnanschluss, die Kanalisation und ließ eine Gewerbehalle erbauen. Als I-Tüpfelchen bezahlte er die Bahnhofsuhr aus eigener Tasche.

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12  Das ist besonders augenfällig bei den Briefen und Tagebüchern von Sophie Scholl, Institut für Zeitgeschichte Nachlass Inge Scholl ED 474. 13  Zum Zusammenhang von politischer Orientierung und Bindungsstilen vgl. Winfried Kurth, Bindungsrepräsentationen, Psychohistorie und politische Sozialisation. Ein Überblick, in: Jahrbuch für Psychohistorische Forschung, Jg. 1 (2000), S. 19–36.

Das alles verlangte der alteingesessenen konservativen Bevölkerung einiges ab, mit dem Ergebnis, dass der Bürgermeister zunehmend unbeliebt wurde. Dazu kam, dass er ein typisches Aufsteigerproblem hatte: Er investierte alles in seine Qualifikation und vernachlässigte dabei die sozialen Aspekte seiner Position. Er saß nicht gerne mit seinen Einwohnern beim Wein zusammen, gab überhaupt nicht viel auf Konventionen, beherbergte ein uneheliches Kind aus einer früheren Beziehung als angebliches Pflegekind im eigenen Haushalt und verletzte das Moralgefühl der Bewohner beim Nacktbaden im Fluss. In einer tief patriotischen Zeit machte er aus seiner Verachtung für Krieg und Nationalismus keinen Hehl und kultivierte generell ein elitäres Selbstbild, das mit dem – in seinen Augen – hinterwäldlerischen Gebaren der Mitbürger kontrastierte. So kam es, wie es kommen musste: Nach zehn Jahren aufopferungsvoller Arbeit als Bürgermeister wurde Robert Scholl mit Schimpf und Schande aus dem Amt gejagt – per Ultimatum musste er mit seiner Familie aus dem Rathaus ausziehen. Im Jahr 1929, mitten in der Zeit der Hyperinflation, stürzten die Scholls so vom Status der Honoratioren und Dorfelite herab in eine Lage der Unbehaustheit und finanziellen Unsicherheit. Sophie, Hans und die übrigen Geschwister erlebten, wie man von einem Tag auf den anderen von der Gemeinschaft ausgestoßen, aus der Heimat verjagt und in eine prekäre Zukunft entlassen werden kann. Es war wie ein sozialer Tod des V ­ aters. Als sich die Familie in Ulm wieder sammelte, meldete sich Hans Scholl freiwillig bei der Hitlerjugend. Er suchte sich wohl eine eigene Heimat und Gemeinschaft jenseits der Familie, kletterte dabei schnell in den Rängen hinauf, wurde ein harter Hund, der sich von Bäumen fallen ließ und katholische Jugendliche verprügelte. Auch die Kämpfe im Elternhaus wurden nun in aller Härte ausgefochten: Hans Scholl hängte ein Hitlerporträt in seinem Zimmer auf, der Vater nahm es von der Wand – nach Geschrei und Tränen kehrte es an seinen angestammten Platz zurück. Sophie Scholl war die Einzige ihres Jahrgangs in Ulm, die sich in der BDM-Uniform konfirmieren ließ, die größere Schwester Inge füllte ihr Tagebuch mit Lobeshymnen und verliebten Einträgen zu Adolf Hitler.14 Nicht nur Hans Scholl, auch die jüngere Sophie setzte ihren Willen durch, kämpfte um ihr Recht auf eigene Handlungsspielräume, auch auf dem Feld der Geschlechter­ rollenzuweisungen. Sophie Scholl, eher ein moderner, androgyner Typ, sagte von sich selbst, sie sei lieber intelligent als hübsch. Bei den außerhäuslichen Aktivitäten wollte sie ihren Brüdern nicht nachstehen, sie versuchte, 14  IfZ ED 474; zu Inge Scholls Hitlerschwärmerei siehe vor allem Bd. 2.

die Hausarbeit ihren Schwestern zu überlassen und übernahm stattdessen von ihrem Vater das Interesse für Politik und Philosophie. Ihren 19-jährigen Miriam Gebhardt  —  Die Weiße Rose

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Freund Fritz Hartnagel, den sie in ihrem 15. Lebensjahr erobert hatte, sensibilisierte sie intellektuell und politisch dergestalt, dass aus dem Berufssoldaten ein skrupulöser Pazifist wurde. Wir wissen nicht, ob sie später geheiratet hätten; jedoch ist die Unabhängigkeit, die Sophie Scholl in dieser Beziehung an den Tag legte, verglichen mit dem Geschlechtermodell ihrer Mutter, das um das Thema Familie und Fürsorge kreiste, bemerkenswert. Sophie Scholl boxte – in Kauf nehmend, dass sie ihre Familie immer wieder vor den Kopf stieß – einen eigenen Geschlechterentwurf durch. In der Adoleszenz der Geschwister kann also von Harmonie und schlichter Weitergabe der »guten Überzeugungen« in der ­Familie Scholl keine Rede sein. Der Fall Probst: Die Eltern waren schon bei seiner Geburt vorübergehend getrennt gewesen, als er in die Grundschule kam, trennten sie sich endgültig, fanden neue Partner, zogen immer wieder um und teilten die Kinder auf. Für den einzigen gemeinsamen Sohn brachte das fast im Jahresrhythmus Wohnort- und Schulwechsel mit sich. Er musste infolgedessen lernen, sich immer wieder in einer neuen Gemeinschaft zurechtzufinden. Doch die zerrüttete Kernfamilie und die Unbehaustheit waren nicht die einzige Belastungsprobe für seine Entwicklung. Vater Hermann Probst war psychisch krank – er litt wohl unter einer dissoziativen Persönlichkeits­ störung – und Christoph Probst musste sich immer wieder während der Krankheitsschübe um ihn kümmern. Als er 16 Jahre alt war, brachte sich sein Vater schließlich um: Hermann Probst stürzte sich am 29. Mai 1936, im Alter von fünfzig Jahren, in einer Privatklinik in Esslingen-Kennenburg aus dem Fenster. Laut ärztlichem Gutachten war er dort seit März wegen eines »psychotischen Erregungszustand[es] mit schizophrenem Einschlag« in Behandlung gewesen.15 Auf diese familiäre Katastrophe reagierte Christoph Probst mit extremer Anpassung. Er wurde ein besonders tüchtiger Schüler, idealisierte seinen Vater über dessen Tod hinaus, übernahm dessen Leidenschaft für die Astronomie. Nach dem Verlust fühlte er sich als sein Beauftragter, spendete in der Familie allen anderen Trost und kümmerte sich über alle Maßen liebevoll nicht nur um seine Mutter und seine Schwester, sondern auch um seine jüdische Stiefmutter, der er verlässlich beistand. Auch seine frühe Heirat und Familiengründung im Alter von 21 Jahren, mitten im Krieg, dürften in diesem Kontext zu sehen sein. Christoph Probst wurde zum Familienmenschen. Er war der Einzige der jungen Mitstreiter der Weißen Rose, der in den Widerstand ging, obwohl er eine Frau und drei kleine Kinder hatte – bei seiner Hinrichtung war sein jüngstes Kind erst wenige Wochen alt.

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15  Laut Krankenakte war er bei der Einlieferung in die Nervenklinik »meistens ekstatisch verzückt der Sonne zugewandt, um die Lichtkräfte in sich aufzunehmen. Von einer Menge von Ängsten gequält, Gott habe ihn verlassen.« Jakob Knab, Hermann Probst – der Vater. Familiäre Wurzeln von Christoph Probst, in: Christoph-Probst-Gymnasium (Hg.), … damit Deutschland weiterlebt! Christoph Probst (1919– 1943), Gilching 2000, S. 195.

Der Fall Schmorell: Auch bei Alexander Schmorell finden sich spezifische Ablösungs- und Identitätskrisen in der Adoleszenz. Er hatte mit nur zwei Jahren seine Mutter verloren und mit vier Jahren seine russische Heimat. Diese Verluste versuchte er durch eine glühende Idealisierung Russlands zu kompensieren. Es war eine Sehnsucht, die er gegen den Zeitgeist verteidigen musste, der von ihm verlangte, die Menschen, die er so schätzte, als »Untermenschen« zu sehen und gegen sie in den Krieg zu ziehen. Eine Weile versuchte auch Schmorell, mit dem Nationalsozialismus konform zu gehen, machte beim Jung-Stahlhelm, in der SA-Reiterschaft und in der HJ mit. Doch dann siegte seine eigentliche Liebe: Er versenkte sich in die russische Literatur, schwärmte für Kultur und Landschaft und die angeblich einfachen, gefühlvollen Menschen Russlands. Trotz seiner Wehrmachtsuniform zog es ihn magisch zu Land und Leuten des Kriegsgegners hin. Er wird später im Kreis der jungen Sanitätssoldaten aus München seinen Kameraden diese Liebe zu Russland vermitteln und sie dazu bringen, sich mit den Erzfeinden beim Lagerfeuer zu verbrüdern und Pläne zum Umsturz in Deutschland zu schmieden. Willi Graf schließlich wuchs in einem äußerlich intakten Familienverbund auf, distanzierte sich aber früh von seiner Familie. Als Erster in der Familie, der Abitur machen und studieren konnte, betrachtete er sein Herkunfts­m ilieu äußerst kritisch. Sein Vater galt ihm als Angsthase und Anpasser, weil der Miriam Gebhardt  —  Die Weiße Rose

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ihn drängte, aus Rücksicht auf seine Rolle als Großgastronom in die Hitlerjugend einzutreten. Willi Graf aber entschied sich für den gegenteiligen Weg: Er trat katholischen Jugendverbänden bei, die in deutlicher Opposition zum Dritten Reich standen; er stellte das Individuum über das Kollektivdenken und verteidigte sein Recht auf den eigenen Glauben, indem er mit seinen Kumpanen aus dem Grauen Orden Reformideen für die Amtskirche diskutierte, die er als opportunistisch und unglaubwürdig erkannte. Dieses Jugendmilieu einte eine anti-bürgerlichen Haltung, die sich in der Kritik des eigenen, lauwarmen, angepassten und formalreligiösen Elternhauses niederschlug. Folglich nahm Willi Graf in der Familie die Rolle des Provokateurs ein und entwickelte sich zum jähzornigen Gerechtigkeitsfanatiker. Sein Verhältnis zu seinen Eltern schilderte er einmal so: »Dort, wo Dich die meiste Liebe umgibt, fühlst Du Dich zuinnerst ganz allein und einsam.«16 Alle jungen Aktivisten der Weißen Rose verband eine problembeladene und äußerst krisenhafte Ablösungsphase vom Elternhaus. Die Konstellationen in den Familien waren konfliktträchtig. Dies gilt vor allem für die Beziehungen zu den Vätern, deren frühzeitigen sozialen wie tatsächlichen Tod sie erleben mussten, oder deren »Tod« sie, wie im Fall Grafs, durch die grundsätzliche Infragestellung ihres Lebens und ihrer Werte aktiv betrieben. An diesem Punkt entsteht ein Bild der psychosozialen Reifung der Weißen Rose, das der Weiße-Rose-Forschung, die allzu sehr auf Kontinuitäten und weniger auf die Brüche in der Entwicklung der jungen Leute gesetzt hat, bislang entgangen ist. Die Widerstandskämpfer der Weißen Rose waren eben nicht nur umsorgte und bürgerlich verfeinerte junge Menschen, die Goethe und die B ­ ibel lasen und daraufhin, quasi gesetzmäßig, in den Widerstand gingen, sondern Menschen, die in ihrer Jugend freiwillig und unfreiwillig um eigene Lebensentwürfe, um Autonomie und Abgrenzung gekämpft hatten. Die rechte Gesinnung wurde ihnen nicht beim Mittagessen mit der Schöpfkelle ausgeteilt, sondern sie haben sie eigenständig in harten Kämpfen im Elternhaus errungen. ERFAHRUNGEN PRODUKTIVER KONFLIKTLÖSUNGEN ALS ­FAMILIALE RESSOURCE Meine These lautet daher: Die jungen Kämpfer der Weißen Rose machten in ihrer Sozialisation eine für den persönlichen Reifeprozess entscheidende Erfahrung. Sie mussten sich von ihren Elternhäusern lösen, sich vorübergehend abwenden, sie mussten Identitätskonflikte ausfechten, aber sie besaßen zugleich große Anpassungsressourcen und konnten bei ihren Eltern auf bedingungsloses Zutrauen bauen.

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16  Anneliese Knoop-Graf, Willi Graf, ein Lebensbild (1964), in: Rolf-Ulrich Kunze u. Bernhard Schäfers (Hg.), Anneliese KnoopGraf. Ausgewählte Aufsätze, Konstanz 2006, S. 39–60, hier S. 39.

Psychologen würden heute sagen: Sie wurden autonom und blieben sicher gebunden. Dass sie in der Zeit täglicher Todesgefahr zu Hause regelrecht auftanken konnten – das ist aus ihrem engen Kontakt während der Widerstandsaktionen und aus ihren Abschiedsbriefen an die nahen Angehörigen ablesbar –, half ihnen später im Widerstand. Die Entwicklungskämpfe in der Pubertät bescherten den Jugendlichen nicht nur die Erfahrung der eigenen Wirksamkeit, der inneren Autonomie, sondern auch die der bleibenden Bindung – die Voraussetzung dafür ist, dass aus Autonomie nicht Anomie wird. Das enge und loyale Verhältnis der jungen Menschen zu ihren Angehörigen bis zum Schluss war dabei keine Selbstverständlichkeit. Vor allem dem Vater Willi Grafs hat das viel abverlangt. Mit der Weißen Rose eng verwandt zu sein, bedeutete immerhin unter Sippenhaft gestellt zu werden, mit Gefängnishaft und anderen gesellschaftlichen und ökonomischen Konsequenzen bestraft zu werden. Die Nachbarn, Freunde und Geschäftskollegen wandten sich von den Verwandten der Weißen Rose ab und fremde Leute steckten neugierig ihre Nase durch die Tür, um einmal einen Angehörigen eines Hochverräters aus nächster Nähe zu betrachten.17 Die spezifischen Bedingungen des Aufwachsens förderten in dieser Lesart der Geschichte der Weißen Rose die Entscheidung, einen Mittelweg zu suchen zwischen einem einsamen, nur vom Idealismus getragenen disruptiven Akt des Widerstandes – wofür etwa der Hitler-Attentäter Georg Elser ein Beispiel wäre – und einem gemeinschaftlichen, auf autonomer und freier Entscheidung basierenden Pakt eines studentischen Literaturzirkels, der zuvörderst aufklären und an das Gewissen der Deutschen appellieren wollte. Das ambivalente Verhältnis von Individualismus und Gemeinschaftsgeist konnte durch die Selbstbestimmung bei freiwilliger Gefolgschaft eines durch überlegenen Charakter und moralische Sensibilität ausgezeichneten Kreises überwunden werden. Hans Scholl mauserte sich in der Pubertät zu einem Anführer-Typ jenseits von Befehl und Gehorsam. Er lernte, andere zu prägen und die Richtung vorzugeben. Er hatte die Autorität seines Vaters herausgefordert, 17  Vgl. ebd., S. 142 f.; Clara Huber, Rückblick auf vier Jahrzehnte, in: Dies. (Hg.), Kurt Huber zum Gedächtnis. Bildnis eines Menschen, Denkers und Forschers. Dargestellt von seinen Freunden, ­Regensburg 1947, S. 11–24, hier S. 19; Inge Aicher-Scholl, Sippenhaft. Nachrichten und Botschaften der Familie in der Gestapo-Haft nach der Hinrichtung von Hans und Sophie Scholl, Frankfurt a. M. 1993, S. 25.

als verlässlich erfahren und dann eine eigene Qualität daraus abgeleitet. Willi Graf durch die katholische Jugend, Alexander Schmorell durch die Russlandbegeisterung und Christoph Probst durch die Fürsorge und Verantwortung in der Familie: Es scheint, als hätten alle jungen Mitstreiter der Weißen Rose eine produktive Lösung ihrer Adoleszenzkrisen, jenseits von bloßer Wiederholung der elterlichen Tradition bzw. der bloßen pubertären Verweigerung, gefunden. Es gelang ihnen, ihre persönlichen und familiären Konflikte zu integrieren, genauso wie ihre individuelle Erfahrung der Freiheitsbeschneidung und das kollektive Erlebnis der Entmündigung und moralischen Korruption. Miriam Gebhardt  —  Die Weiße Rose

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Alexander Schmorell schaffte es irgendwie, seine Russlandliebe und seine Pflicht, gegen Russland zu kämpfen, zusammenzubringen, indem er die Russlanderfahrung zur weiteren Politisierung seiner Kameraden nutzte. Christoph Probst kümmerte sich, wie erwähnt, intensiv um seine Herkunftsfamilie und gründete in jungen Jahren eine eigene Familie. Als er Hans Scholl kennenlernte, nahm er, der Familienvater, sich gründlich Zeit für die Entscheidung, im Widerstand mitzuarbeiten. Er kam zu einer reifen Entscheidung und beschloss, nicht trotz, sondern wegen seiner Kinder Hitlers Reich zu bekämpfen. Sein letzter erhaltener Brief an seine Stiefmutter Elise macht deutlich, dass er sich dem moralischen Dilemma zwischen dem individuellen und dem übergeordneten Glück stellte: »Das Leben des Einzelnen ist immer eingebettet in den Zustand der Welt, wenngleich es seine eigenen Gesetze und Strebungen hat. Was nun, wenn diese Welt immer tiefer ins Unheil gleitet. Diese Vorstellung ist mit der des jungen, blühenden Lebens nicht vereinbar. […] Und doch, das ist das Irrationale, erfüllt mich das in diese erschütterte Welt gesetzte neue Leben mit tiefer inbrünstiger Freude. Die Kinder werden geführt, geschützt und gesegnet und allein um ihretwillen wird die Welt genesen.«18 Wenn wir uns heute fragen, was beim Heranwachsen der Aktivisten der Weißen Rose richtig gelaufen ist, so waren diese sicher durch mehrere Bedingungen begünstigt, darunter ihre Bildung, Religiosität, ihre Nähe zu älteren Mentoren. Was ihre Entwicklung in der Adoleszenz anbelangt, scheinen mir folgende Faktoren besonders wichtig gewesen zu sein: Die Familien schufen

18  Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Nachlass Probst, Brief an Elise am 5.2.43, Bd. 15. 19  Nachlass Inge Scholl, IfZ Ed 474, Bd. 6.

in einer Mischung von autoritativen und reformpädagogischen Erziehungsstilen Rahmenbedingungen, in denen Reflexion, Selbstreflexion und Ressourcen wie Verantwortlichkeit und Empathiefähigkeit gedeihen konnten. Eine Besonderheit ihrer individuellen Entwicklungsverläufe stellen die erfolgreich abgeschlossenen Adoleszenzkrisen dar, welche entwicklungspsychologisch Reibungs- und Konfliktfähigkeit sowie die positive Bewältigungsmöglichkeit von Krisen bei dauerhafter Bindung an die Familien ermöglichten. Die Eltern und Geschwister der Weißen Rose waren ihre ersten und letzten Verbündeten im Leben. Sie kämpften durchaus nicht mit ihnen gemeinsam gegen Hitler – vielmehr hatten die Eltern hatten gar keine Ahnung davon, was die jungen Leute in aller Heimlichkeit trieben, aber sie waren zur Stelle, als die jungen Leute vor dem Volksgerichtshof angeklagt, abgeurteilt und hingerichtet wurden. In ihrem letzten Gespräch vor der Exekution wollte Mutter Lina Scholl ihrer Tochter Sophie Mut machen mit dem Verweis auf Jesus. Doch Sophie Scholl soll geantwortet haben: »Ja, aber du auch«19. Ich interpretiere diesen Satz als die Überlieferung einer Erfahrung von Erziehung zur Freiheit.

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Prof. Miriam Gebhardt  ist Historikerin und Journalistin. Sie lehrt als außerplanmäßige Professorin Geschichte an der Universität Konstanz. Zuletzt erschien von ihr: »Die weiße Rose. Wie aus ganz normalen Deutschen Widerstandskämpfer wurden« (DVA, München 2017); »Als die ­Soldaten kamen. Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkriegs« (DVA: München 2015).

WIDERSTAND IM DEMOKRATISCHEN VERFASSUNGSSTAAT DAS WIDERSTANDSRECHT DES GRUNDGESETZES ΞΞ Sebastian Ehricht

Die Frage ist so alt wie das soziale Zusammenleben in hierarchischen Strukturen und damit praktisch ebenso alt wie die Menschheit selbst: Wem schulden wir Gehorsam? Wann und unter welchen Umständen endet die Gehorsamspflicht, wann wendet sich diese in ein Widerstandsrecht oder gar eine Widerstandspflicht? Ob in den Königreichen und Republiken der Antike, den Dynastien des Mittelalters, der Ständegesellschaft der Frühen Neuzeit, dem mehr wie auch dem weniger aufgeklärten Absolutismus, den Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts oder dem liberalen, demokratischen Verfassungsstaat der Moderne: Über alle Systemwechsel hinweg blieb die Virulenz dieser Frage erhalten. HISTORISCHER HINTERGRUND Eines der ersten literarischen Zeugnisse des Widerstands in der Weltgeschichte findet sich in Sophokles’ Tragödie »Antigone«, in der diese sich mit der Begründung, kein Mensch könne das Recht der Götter begrenzen,1 weigert, dem Gesetz ihres Onkels Kreon, dem Herrscher von Theben, Folge zu leisten und es zu unterlassen, ihren im Kampf gegen die eigene Heimat gefallenen Bruder zu begraben. Hier wird bereits die Gretchenfrage des Widerstands ersichtlich: Wie weit reichen die Gestaltungsspielräume legitimer Herrschaft; wann ist ein Punkt erreicht, an dem Herrschaft ihren begründeten Anspruch verliert, von den Beherrschten Gehorsam einzufordern? Hier lohnt ein kurzer Blick auf die Kontraktualisten der Frühen Neuzeit, namentlich Thomas Hobbes und John Locke. Allgemein verbindet kontraktualistische Staatstheorien die Überlegung, dass ein (zumeist als hypothetisch 1 

Vgl. Sophokles, Antigone, Stuttgart 2007.

2  Vgl. Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates: Teil I und II, Berlin 2011.

gedachter) Konsens zwischen den Menschen besteht, wonach das Leben in einem staatlich verfassten Gemeinwesen dem, wie Hobbes es nennt, Naturzustand, in dem der Mensch dem Mensch ein Wolf ist,2 vorzuziehen sei. Um dieser permanenten Gefahr zu entgehen, entsagen die Menschen grundsätzlich dem eigenen Recht, Gewalt auszuüben, übertragen dem Leviathan, dem Staat, das Gewaltmonopol zum Vorteil aller und werden zu Bürgern.

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Während bei Hobbes praktisch jedes verfasste Gemeinwesen bis zur äußersten Grenze der Sicherung der eigenen physischen Existenz dem anarchischen Naturzustand vorzugswürdig ist, ist der Staat bei Locke dem Gemeinwohl verpflichtet, insbesondere dem Recht auf Leben, Freiheit und Eigentum (life, liberty and property)3. Gibt er diese Verpflichtung preis, erlischt auch die Pflicht der Untertanen zum Gehorsam und es erstarkt das Recht zum Widerstand. Begründet werden kann und wurde das Widerstandsrecht etwa theologisch als göttliches Recht, anthropologisch mit der menschlichen Natur oder säkular als Vernunftrecht. Gemein ist dem Widerstandsrecht in jedem dieser Fälle, dass es einer Quelle jenseits des positiven Rechts, jenseits der geltenden Verfassung entspringt und daher als Naturrecht bezeichnet wird. Es handelt sich folglich um Rechtssätze, die jenseits des geschriebenen, kodifizierten Rechts nicht nur gelten, sondern auch einen höheren Rang beanspruchen, denen dem geschriebenen Recht gegenüber also Vorrang zukommt. Nun ist dieser Gedanke unter der Regentschaft eines absoluten Herrschers oder gar eines tyrannischen Despoten leicht zu verdauen. Indes: Kann es auch im demokratischen Rechtstaat ein Widerstandsrecht geben, in dem »die Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk«4, wie Abraham Lincoln es in seiner berühmten »Gettysburg Address« so prägnant formulierte, die Herrschaftsgewalt innehat? Dieser ist (nicht notwendigerweise abschließend) gekennzeichnet durch Volkssouveränität (die Staatsgewalt geht vom Volke aus), Demokratie (freie Wahlen und Mehrheitsherrschaft), Gewaltenteilung – insbesondere eine unabhängige Justiz, an die sich jedermann im Falle staatlichen Unrechts wenden kann und die wirksame Abhilfe schafft – und Minderheitenschutz, insbesondere durch Grundrechte. Die Antwort kann eigentlich nur Nein lauten angesichts der genannten Annahme, dass gegen staatliches Unrecht wirksamer Rechtsschutz besteht; denn gerade das Versagen des Staates, seinem Zweck nachzukommen, ist es ja, das den Widerstandsfall auslöst. DAS WIDERSTANDSRECHT DES GRUNDGESETZES Vor dem Hintergrund dieser beiden Überlegungen – dass erstens das Widerstandsrecht seinem Charakter nach Naturrecht und nicht positives Recht ist und es zweitens auf den demokratischen Rechtsstaat nicht so recht zu passen scheint – wollen wir nun einen Blick auf die grundgesetzliche Ordnung werfen. Denn im Grundgesetz findet sich tatsächlich ein Widerstandsrecht positiviert, was bis heute für zahlreiche Missverständnisse sorgt und einen genaueren Blick verdient.

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3  Vgl. John Locke, The Second Treatise of Government, London 1689, XIV 168. 4  Eigene Übersetzung; das ­Originalzitat lautet: »government of the people, by the people, for the people«, Abraham Lincoln, The Gettysburg Address, in: Roy P. Basler (Hg.), The Collected Works of Abraham Lincoln, New Brunswick 1955, S. 19.

Der Standort des Widerstandsrechts im Grundgesetz könnte prominenter kaum sein: Im vierten Absatz des Artikels 20, also in dem zentralen Staatsstrukturartikel des Grundgesetzes direkt im Anschluss an die Grundrechte, heißt es: »Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.« Mit »dieser Ordnung« ist die freiheitlich-demokratische Grundordnung gemeint, deren wesentliche Merkmale in den vorangestellten Absätzen 1 bis 3 desselben Artikels beschrieben werden. Hier lohnt ein kurzer Blick auf die Entstehungsgeschichte dieser Norm. Denn die Vermutung liegt nahe, Art. 20 IV GG sei eine Reaktion auf die Art und Weise des Untergangs der Weimarer Republik. Schließlich wurde mit dem sogenannten Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 die Weimarer Demokratie pseudolegal und dennoch staatsstreichartig zu Grabe getragen. Art. 20 IV GG erfülle, so könnte man meinen, nun den Zweck, nachträglich, aber auch für einen gleichartig gelagerten Fall in der Zukunft, zu signalisieren, dass allen Deutschen dann ein Recht zum Widerstand zustände. Das ist sicher nicht falsch, steht aber in erstaunlichem Kontrast zu der Tatsache, dass das Widerstandsrecht erst nachträglich, nämlich im Jahre 1968, im Rahmen der sogenannten Notstandsverfassung Eingang in das Grundgesetz gefunden hat. Demgegenüber hatten sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat noch bewusst gegen ein kodifiziertes Widerstandsrecht entschieden, obwohl dieses in den Beratungen mehrfach zur Sprache gekommen war.5 Ein prominenter Gegner war Carlo Schmid (SPD), der auch zur Zeit der Notstandsverfassung noch dem Bundestag angehörte (insgesamt von 1949 bis 1972) und sich auch hier dagegen aussprach. Er argumentierte, dies könne als »Aufforderung zum Landfriedensbruch« missdeutet werden und erwecke den Eindruck, »als ob das persönliche Risiko des Widerstandes in irgendeiner Weise abgenommen werden könnte«.6 Was hat Art. 20 IV GG nun mit der Notstandsverfassung zu tun? Mit dieser Verfassungsreform wurde insbesondere ein vereinfachtes Gesetzgebungsverfahren für den Verteidigungsfall, also den bewaffneten Angriff auf das Bundesgebiet durch eine auswärtige Macht, und für mögliche Grund-

5  Siehe vertiefend und mit weiteren Nachweisen insbesondere der stenografischen Berichte aus dem Parlamentarischen Rat: Christoph Böckenförde, Die Kodifizierung des Widerstandsrechts im Grundgesetz, in: Juristenzeitung, 1970, S. 168–172, hier S. 169.

Ausnahmezustandes, die klar vor dem Hintergrund des Kalten Krieges zu

6  Ebd.

im Grundgesetz zu verankern: Wenn die Regierung schon umfangreiche

rechtseinschränkungen eingefügt, um die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung in einer existenziellen Krise zu erhalten. Diese Regelungen des lesen sind, stießen auf massive Kritik angesichts der negativen Erfahrungen mit den Notverordnungen in der Weimarer Republik. Die SPD schlug daher vor, das Widerstandsrecht als Kompensation

Sebastian Ehricht  —  Widerstand im demokratischen Verfassungsstaat

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Notstandsvollmachten erhält, wird im Gegenzug das Widerstandsrecht verankert, das greift, wenn die Regierung diese missbraucht. CDU/CSU lehnten zunächst ab, gaben aber schließlich vor dem Hintergrund der aufkeimenden Studentenunruhen nach. Die Studentenbewegung berief sich, angesichts von durch den Berliner Senat verhängten Demonstrationsverboten, auf ein in der Berliner Landesverfassung verankertes Widerstandsrecht. In der Union war man, wohl in zutreffender Weise, der Auffassung, dass es sich dabei keinesfalls um Widerstandsfälle im Sinne der Norm handelte, hatte aber angesichts dieser Eindrücke ein Interesse daran, klarzustellen, was das Widerstandsrecht eigentlich umfasste – und was gerade nicht. INHALT DES WIDERSTANDSRECHTS Normberechtigte sind zunächst alle Deutschen, weswegen das Widerstandsrecht treffend als grundrechtsgleiches Recht typisiert wurde, also als ein Recht, das den in Art. 1 bis 19 GG niedergelegten Grundrechten strukturell und funktional ähnelt. Gegner des Widerstandsrechts, also jene, die es unternehmen, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beseitigen, können sodann Teil des Staates selbst oder von diesem unabhängig sein. Unterschieden werden können hier mithin der »Staatsstreich von unten« und der »Staatsstreich von oben«.7 Ersterer findet seinen Ursprung außerhalb der Staatsgewalt. Beispiele sind etwa der gescheiterte Kapp-Putsch gegen die Weimarer Republik 1920 oder Fidel Castros Sturz der Batista-Regierung 1958/59. Der »Staatsstreich von oben« bezeichnet hingegen den Fall einer grundlegenden Änderung der staatlichen Ordnung aus dem System selbst heraus. Hier wäre etwa an die »Machtergreifung« der Nationalsozialisten zu denken oder an einen Militärputsch. Mit der Formulierung »gegen jeden« macht das Grundgesetz deutlich, dass hier keine Differenzierung getroffen werden soll. Den denkbaren Handlungsformen des Widerstands sind zunächst kaum Grenzen gesetzt, von bloßer inhaltlicher Opposition über zivilen Ungehorsam oder subversive Handlungen wie Sabotage bis hin zum Einsatz tödlicher Waffengewalt.8 Diese müssen sich aber am Maßstab der Verhältnismäßigkeit messen lassen. Sie müssen daher als notwendig – eingesetzt wird das mildeste zur Verfügung stehende Mittel – und in der Abwägung zwischen zu erreichendem Ziel und angewandtem Mittel als angemessen erscheinen. Zudem ist die Frage vorgelagert, ob andere Abhilfe noch möglich erscheint. Denn das Widerstandsrecht ist als ultimatives Reserverecht konstruiert. Solange der Staatsapparat des Grundgesetzes noch funktionstüchtig ist, solange insbesondere noch der Weg zum Bundesverfassungsgericht offensteht, ist das

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Widerstand und Dissidenz  —  Analyse

7  Josef Isensee, Widerstand im Grundgesetz, in: Birgit Enzmann (Hrsg.), Handbuch Politische Gewalt, Wiesbaden 2013, S. 143–162, hier S. 152. 8  Ausführlich zu den Tatbestandsvoraussetzungen und Rechtsfolgen: Stefanie Schmahl, Rechtsstaat und Widerstandsrecht, in: Peter Häberle (Hrsg.), Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Bd. 55, Tübingen 2007, S. 99–122.

Widerstandsrecht ausgeschlossen. Denn ist dieses noch erreichbar für Verfassungsbeschwerden, in denen Grundrechtsverletzungen geltend gemacht werden können, oder staatsorganisationsrechtliche Verfahren, in denen ein Machtmissbrauch der Regierung überprüft werden kann, besteht kein Raum für das Widerstandsrecht. Denn mit der Geltendmachung des Widerstandsrechts wird das Gewaltmonopol des Staates negiert und der Bürgerkrieg, die vorübergehende Rückkehr in den Naturzustand riskiert. In den Worten Josef Isensees: »Das Widerstandsrecht setzt private Gewalt frei, und es durchbricht die Bürgerpflicht zum Rechtsgehorsam zu dem Zweck, die Verfassung zu retten.«9 In zeitlicher Hinsicht dürfte die grundgesetzliche Formulierung »es unternehmen« fordern, dass der Angriff unmittelbar bevorsteht, also sich jenseits einer Idee befindet und bereits konkret nach außen tretende Vorbereitungshandlungen erfolgen, nicht aber, dass er bereits aktiv begonnen hat. Gleichzeitig darf er aber auch noch nicht abgeschlossen sein, da dann die grundgesetzliche Ordnung nicht mehr in Kraft wäre und daher nicht mehr als Rechtfertigung dienen könnte – es sei denn, die grundgesetzliche Ordnung wird sodann wiederhergestellt und das Vorliegen der Widerstandslage nachträglich anerkannt. Genau genommen bleibt also bloß ein schmaler zeitlicher Korridor »zwischen dem status civilis der staatlich befriedeten Ordnung und dem status naturalis der Bürgerkriegslage«. Und auch wenn es auf den ersten Blick anders erscheint: Aus der Tatsache, dass Art. 20 IV GG nachträglich in das Grundgesetz eingefügt worden ist, muss nach überzeugender Auffassung gefolgert werden, dass dieser nicht vom Schutz durch die sogenannte Ewigkeitsgarantie umfasst ist. Diese in Art. 79 III GG zu findende Vorschrift schützt durch den Verfassungs­geber (pouvoir constituant) die unabänderliche Kernordnung des Grundgesetzes und untersagt selbst dem verfassungsändernden Gesetzgeber (pouvoir ­constitué), also einer Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat, (unter anderem) »die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze« infrage zu stellen, also die Menschenwürde als zentralen Wert des Grundgesetzes und die 9 

Isensee, S. 148.

10  So auch Stefanie Schmahl, die zu Recht darauf hinweist, dass es hinsichtlich der Normklarheit für die Bürgerinnen und Bürger wünschenswert gewesen wäre, das Widerstandsrecht etwa in einem Art. 20a GG zu normieren; vgl. Schmahl, S. 109. 11 

Siehe BVerfGE 5, 85, 376 Rn. 1392 ff.

freiheitlich-demokratische Grundordnung. Wäre dem verfassungsändernden Gesetzgeber gestattet, diese Grundsätze inhaltlich zu erweitern oder einzuschränken, drohte die Gefahr einer schleichenden Aushöhlung.10 Interessanterweise hat sich das Bundesverfassungsgericht selbst bereits zu einem möglichen Widerstandsrecht geäußert, als dieses noch gar nicht in der Verfassung verankert war.11 Es hat also explizit diskutiert, ob ein solches ungeschriebenes, überpositives Recht existiert. Denn im Rahmen des Verbotsverfahrens gegen die KPD im Jahre 1956 behauptete diese Verstöße gegen die grundgesetzliche Ordnung durch die Adenauer-Regierung, aus Sebastian Ehricht  —  Widerstand im demokratischen Verfassungsstaat

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denen sich ein Recht zum Widerstand ergebe. Das Gericht ließ es im Ergebnis offen, schloss es also auch nicht aus, lehnte aber eine Berufung der KPD darauf mit den Argumenten ab, dass zum einen eine funktionierende

(Verfassungsgerichts-)Gerichtsbarkeit bestünde, um etwaige rechtswidrige Einzelakte des Staates anzugreifen, und ein solches Widerstandsrecht zum anderen lediglich im »konservierenden Sinne«12 bestehen könne, d. h. zum Erhalt der bestehenden Ordnung, nicht aber, um die Ordnung des Grundgesetzes durch eine andere, in diesem Falle eine kommunistische Ordnung, abzulösen. Auf diese Weise wird ein mögliches Widerstandsrecht ebenfalls in die Nähe des Konzepts der wehrhaften Demokratie, zu der freilich auch das Parteiverbotsverfahren zählt, gerückt. Abzugrenzen ist das Widerstandsrecht vom zivilen Ungehorsam. Der Umgang mit diesem spielte in der Bundesrepublik etwa in den 1980er Jahren eine große Rolle bei den Protesten gegen die Stationierung US-amerikanischer nuklearer Mittelstreckenraketen (»Pershing II«) infolge des »NATO-­ Doppelbeschlusses«. Mit gewaltlosen Mitteln wie Sitzblockaden versuchten die Mitglieder der Friedensbewegung, dies zu verhindern – und wurden reihenweise wegen Nötigung gemäß § 240 StGB verurteilt. Die Gemeinsamkeiten zum Widerstand im Sinne von Art. 20 IV GG sind offensichtlich: In beiden Fällen wird (zumindest partiell) der Gehorsam gegenüber der Rechtsordnung aufgekündigt; und in beiden Fällen geschieht dies aus Gewissensgründen – aus der tiefen Überzeugung, dass das eigene Gewissen unter den gegebenen Umständen dazu berechtigt, möglicherweise sogar dazu verpflichtet und diese Entscheidung jenseits der staatlichen Justiziabilität erfolgen muss. Gleichwohl sollten beide Konzepte klar voneinander getrennt werden. John Rawls definiert zivilen Ungehorsam in einer recht engen, aber anschaulichen Definition als eine öffentliche, gewaltlose, bewusste politische Handlung im Widerspruch zur Rechtsordnung, die mit dem Zweck ausgeführt wird, das als ungerecht empfundene geltende Recht oder die derzeitige Politik zu verändern.13 Wichtigster Unterschied ist also, dass es beim zivilen Ungehorsam um punktuelle Veränderungen (seien diese auch noch so fundamental wie im genannten Fall aufgrund der Angst vor einem nuklearen Holocaust) und nicht »ums Ganze« geht wie bei dem naturrechtlichen Widerstandsrecht gegen den Tyrannen oder dem grundgesetzlichen Widerstandsrecht zum Erhalt der Verfassungsordnung. Ziviler Ungehorsam ist zudem gewaltlos, denn andernfalls würde er seine eigene moralische Integrität unterminieren. Widerständler werden für sich hingegen zwar ebenfalls moralische Integrität beanspruchen; unter Umständen erscheinen aber auch gewaltsame Handlungen und selbst Tötungen als

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Widerstand und Dissidenz  —  Analyse

12  BVerfGE 5, 85, 376, Rn. 1395. 13  Vgl. John Rawls, A Theory of Justice. Revised Edition, Cambridge (Mass.) 1971/1999, S. 320 (eigene Übersetzung).

gerechtfertigt. Und schließlich ist ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal des zivilen Ungehorsams, jedenfalls nach hier vertretenem Verständnis, die Inkaufnahme von Strafe. Mehr noch als in der Gewaltlosigkeit drückt sich damit das Einstehen für die eigene Überzeugung, die Gewissensnot aus. Henry David Thoreau, Gandhi und Martin Luther King gingen für ihre Überzeugungen ins Gefängnis. 14 Ob ein souveräner, moderner Rechtsstaat es dann tatsächlich nötig hat, mit der ganzen Härte des Strafrechts zu reagieren, steht auf einem anderen Blatt. Wenn Jürgen Habermas angesichts der strafrechtlichen Verurteilungen in den Sitzblockade-Fällen etwas mehr Gelassenheit anmahnte und für ein Verständnis von zivilem Ungehorsam »als Ausdruck einer reifen politischen Kultur«15 warb, ist dazu eigentlich alles gesagt – allzumal auch der Nötigungsparagraf bei einer verfassungskonformen Auslegung des Gewaltbegriffs und mit seinem Erfordernis der positiv festzustellenden Verwerflichkeit der Nötigungshandlung den Gerichten genug Spielraum lässt, ohne allzu große dogmatische Verrenkungen zu anderen Ergebnissen zu kommen. Art. 20 IV GG hingegen, so fernliegend seine praktische Anwendung derzeit auch erscheinen mag, ist ein echter strafrechtlicher Rechtfertigungstatbestand von Verfassungsrang. Solange die Widerstandshandlungen (ex ante betrachtet) verhältnismäßig erscheinen, scheidet die Strafbarkeit aus – sofern der Widerstand erfolgreich war und die alte Ordnung wiederhergestellt werden konnte; denn ist das Grundgesetz durch eine neue Ordnung ersetzt worden, werden die Machthaber wohl kaum geneigt sein, den Widerständlern dieses Privileg zu gewähren. ANWENDBARKEIT DES WIDERSTANDSRECHTS Hier zeigt sich die Widersprüchlichkeit der praktischen Anwendung des 14  Thoreau begründete dies pathetisch mit folgenden Worten: »Under a government which imprisons any unjustly, the true place for a just man is also a prison«; Henry David Thoreau, Über die Pflicht zum Ungehorsam gegenüber dem Staat – On Civil Disobedience, Zürich, 2004, S. 103 (zuerst erschienen 1849).

Art. 20 IV GG besonders deutlich: Solange die verfassungsmäßige Ordnung noch besteht, ist kaum Raum für das Widerstandsrecht; ist sie bereits abgeschafft, gilt dies auch für Art. 20 IV GG. Es bedarf also einer ganzen Menge Phantasie, um sich ein geeignetes Szenario vorzustellen: Wenn etwa, ähnlich der Machtergreifung der Nationalsozialisten, eine neue »Reichstagsbrandverordnung«, welche die Grundrechte außer Kraft setzt, oder ein neues »Ermächtigungsgesetz« erlassen wird, das den Bundestag faktisch entmachtet und die legislative Gewalt in die Exekutive eingliedert, und wenn auch das

15  Jürgen Habermas, Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat, in: Ders., Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt a. M. 1985, S. 79–99, hier S. 81.

Bundesverfassungsgericht nicht mehr in der Lage ist, die bestehende Ordnung zu schützen (sei es, weil es gleichgeschaltet ist, oder sei es, weil seine Entscheidungen nicht mehr durchgesetzt werden können), dann etwa wäre ein Fall für Art. 20 IV GG gegeben. Dies würde dann selbstverständlich auch Sebastian Ehricht  —  Widerstand im demokratischen Verfassungsstaat

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Akte des zivilen Ungehorsams rechtfertigen. In den genannten Beispielen aus der Geschichte der Bundesrepublik scheidet eine Berufung auf das Widerstandrecht allerdings aus.16 Auch an anderer Stelle wird das Widerstandsrecht regelmäßig im öffentlichen Diskurs zu Unrecht angeführt. Die kruden Verschwörungstheorien der »Reichsbürger« oder der »Aufklärer« über die vermeintlichen Machenschaften der »BRD-GmbH« seien hier nur mit dem Nebensatz erwähnt, dass es doch stets überrascht und einer gewissen Ironie nicht entbehrt, wenn ausgerechnet jene, die meinen, Deutschland sei besetzt, noch im Kriegszustand mit den Alliierten und überhaupt gelte die Weimarer Reichverfassung (oder gar die Verfassung des Kaiserreichs) und nicht das Grundgesetz, die meinen Deutschland sei eine Firma, beherrscht von den Vereinigten Staaten oder dem »Weltjudentum«17 – wenn ausgerechnet diese sich dann auf das Grundgesetz berufen, um ein Recht zum Widerstand zu begründen. Ernster wird es allerdings, wenn im Rahmen der Europäischen Einigung hin und wieder die These vertreten wird, mit der Abgabe immer weiterer Kompetenzen an die Europäische Union »entstaatliche« Deutschland sich selbst. Von hier aus ist der Gedanke nicht mehr weit, dass diese Entstaatlichung, so sie denn tatsächlich und in hinreichendem Maße erfolgt, die Grundordnung des Art. 20 GG abschafft und demzufolge das Widerstandsrecht auslöst. Um dies zu verdeutlichen, sei nur erwähnt, dass selbst der Staatsrechtler und heutige Richter des Bundesverfassungsgerichts, Peter M. Huber, im Anschluss an die Gründung der Europäischen Union mit dem Vertrag von Maastricht 1993 seine Antrittsvorlesung an der Universität Jena unter dem provokanten Titel »Maastricht – ein Staatsstreich?«18 hielt und damit, zumindest auf den ersten Blick, begrifflich die deutsche Zustimmung in die Nähe des Verfassungsbruchs rückt. Er seziert darin die einzelnen Integrationsschritte und misst sie am Maßstab des Grundgesetzes. Zwar kommt er, ebenso wie ein halbes Jahr später das Bundesverfassungsgericht in seiner Maastricht-­ Entscheidung19, zu dem Ergebnis, dass damit die durch das Grundgesetz gezogenen Grenzen nicht überschritten worden seien,20 erklärt aber gleichsam, dass »wohl mit dem nächsten Integrationsschritt die durch Art. 79 III GG gezogene Grenze überschritten werden dürfte. Mit dem Maastrichter Vertrag haben die pouvoirs constitués des Grundgesetzes ihren Gestaltungsspielraum hinsichtlich der Integration Deutschlands in Europa praktisch ausgeschöpft«21.

16 

Vgl. Isensee, S. 151.

17  An dieser Stelle sei bewusst auf Quellenangaben verzichtet, da nichts davon einer wissenschaftlichen Überprüfung standhielte. Wer wirklich die Zeit und Muße hat, sich damit zu beschäftigen, wird im Internet unter den entsprechenden Stichworten rasch fündig werden. 18  Peter M. Huber, Maastricht – ein Staatsstreich, Weimar 1993. 19 

Siehe BVerfGE 89, 155.

Nun ist es kein Geheimnis, dass die Europäische Integration mit dem Vertrag von Maastricht nicht zum Stillstand gekommen ist, eher im Gegenteil: Mit den Verträgen von Amsterdam und Nizza wurden weitere Integrationsschritte unternommen. Der derzeit gültige Vertrag von Lissabon beinhaltet

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Widerstand und Dissidenz  —  Analyse

20  Siehe Huber, Maastricht, S. 48. 21  Ebd.

sogar weitestgehend die Bestimmungen des zuvor gescheiterten Verfassungsvertrages. Handelt es sich, an Hubers damaligen Aussagen gemessen, also um einen »Staatsstreich von oben«? Das könnte man allenfalls annehmen, wollte man das Bundesverfassungsgericht der Kollaboration bezichtigen. Denn, daran sei noch einmal erinnert, für das Widerstandsrecht darf andere Abhilfe nicht möglich sein. Diese bot das Bundesverfassungsgericht aber bei allen wesentlichen weiteren Integrationsschritten und stärkte mehrfach Rechte und Beteiligungsmöglichkeiten des Bundestages und der Länder, wies die Verfassungsbe22  Siehe BVerfGE 123, 267; 129, 124; 130, 318; 135, 317.

schwerden, die eine »Entstaatlichung der Bundesrepublik« rügten, jedoch ab.22 Im Rahmen des Lissabon-Urteils zeigte das Bundesverfassungsgericht auch abermals die letzte Grenze der mit dem Grundgesetz machbaren In-

23  Siehe BVerfGE 123, 267, 331 f., Rn. 179.

tegration, aber auch den Weg darüber hinaus, noch einmal auf: Sollte sich

24  Siehe BVerfGE 129, 124.

in einen Bundesstaat wandeln, bedürfte es einer neuen Verfassung.23 Denn,

die Europäische Union von einem Staatenverbund von souveränen Staaten

25  Vgl. Andreas Vosskuhle, »Mehr Europa lässt das Grundgesetz kaum zu«, in FAZ.net, 25.9.2011, URL: http://www.faz. net/aktuell/wirtschaft/eurokrise/ im-gespraech-andreas-vosskuhlemehr-europa-laesst-das-grundgesetz-kaum-zu-11369184.html [eingesehen am 05.12.2017].

so dessen Präsident Andreas Vosskuhle im Anschluss an das erste Verfahren zur sogenannten Eurorettung,24 das Grundgesetz gehe von der souveränen Staatlichkeit der Bundesrepublik aus.25 Diesmal war er es, der die Rolle ­Hubers (der übrigens zu dieser Zeit schon dem Bundesverfassungsgericht angehörte) einnahm und hinzufügte, »[f]ür eine Abgabe weiterer Kernkompetenzen an die Europäische Union dürfte nicht mehr viel Spielraum bestehen. Wollte man diese Grenze überschreiten, was politisch ja durchaus richtig und

26  Ebd.

gewollt sein kann, müsste Deutschland sich eine neue Verfassung geben«26,

27  So im Ergebnis auch Isensee, S. 151.

Volksabstimmung nötig würde. Es zeigt sich somit, dass das Gericht nach

wozu der verfassungsändernde Gesetzgeber nicht befugt ist, weswegen eine wie vor detailliert und behutsam die Grenzen der Integration absteckt. Von einem »Staatsstreich von oben« oder einem Widerstandsfall, der auch noch Evidenz erfordern würde, kann auch hier keine Rede sein.27 Was bleibt also von einer Verfassungsnorm, für die gezeigt wurde, dass sich bisher in der Bundesrepublik stets zu Unrecht auf sie berufen wurde, und deren praktische Relevanz nur mit gutem Willen als minimal bezeichnet werden kann? Handelt es sich um bloße Verfassungsprosa? Vielleicht. Aber was wäre eigentlich falsch daran, wenn sich die Verfassung dennoch dazu bekennt, dass ein Generalstreik im Anschluss an die »Machtergreifung« der NationalSebastian Ehricht, geb. 1984, hat Politikwissenschaft, Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre in Göttingen, San Diego und Jerusalem studiert und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter sowie Doktorand am Institut für Völkerrecht und Europarecht der Universität Göttingen.

sozialisten genauso wie die Mobilmachung des »Reichsbanners Schwarz-RotGold« gerechtfertigt gewesen wäre, dass die Stauffenberg-­Verschwörer und die Hitler-Attentäter im Grundsatz richtig gehandelt hatten? Jenseits der Verfassungsprosa und der Rolle als ein interessantes rechtstheoretisches Diskussionsobjekt bleibt dann nur noch die Hoffnung, dass es bei der praktischen Bedeutungslosigkeit auch zukünftig bleiben wird. Sebastian Ehricht  —  Widerstand im demokratischen Verfassungsstaat

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HANNAH ARENDT EIN ZUHAUSE FÜR DEN ZIVILEN UNGEHORSAM ΞΞ Wolfgang Heuer 1970 trug Hannah Arendt auf Einladung der New Yorker Anwaltsvereinigung auf einem Symposium zum Thema »Ist das Gesetz tot?« ihre Thesen zum zivilen Ungehorsam vor. Zu jener Zeit sah sich die Bevölkerung der USA der verfassungswidrigen Führung des Vietnamkriegs ausgesetzt, die

Bürgerrechtsbewegung, die nun schon seit 15 Jahren fortdauerte, war mittlerweile in die Antikriegsbewegung übergegangen und an den Universitäten rebellierten die Studierenden. Unter den verschiedenen reformerischen oder radikalen politischen Zielen dieser Bewegungen und den entsprechenden theoretischen Begründungen kursierte auch der Begriff des zivilen Ungehorsams, wie er von David Henry Thoreau geprägt worden war. Thoreau hatte sich 1846 geweigert, seine Steuern gegenüber dem Bundesstaat Massachusetts zu begleichen, um nicht die amerikanische Regierung und deren Duldung der Sklaverei und des expansiven Mexiko-Kriegs zu unterstützen. Seine Schrift, »Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat« beeinflusste libertär eingestellte Amerikaner in ihrer grundlegenden Abneigung gegenüber staatlicher Bevormundung ebenso wie den gewaltfreien Widerstand von Mahatma Gandhi und Martin Luther King. Im Bereich der neueren politischen Philosophie bedeutend war »Die Rechtfertigung des bürgerlichen Ungehorsams« von John Rawls im Jahr 1969, der nach den Gründen suchte, die ein solches Handeln in der konstitutionellen Demokratie rechtfertigen können. Nahezu zeitgleich entwickelte Arendt ihre Thesen eines zivilen Ungehorsams, der auf den Prinzipien des politischen Handelns basieren und nicht etwa mit persönlichen Gewissensentscheidungen gerechtfertigt werden sollte. Daran schlossen sich in den 1970er und 1980er Jahren Diskussionen an, unter denen in Deutschland der Aufsatz von Jürgen Habermas »Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat« hervorstach. Inzwischen gibt es im Zusammenhang mit nationalen und internationalen Protestbewegungen gegen die Auswirkungen der Globalisierung erneute Überlegungen zum zivilen Ungehorsam. Im Folgenden soll nicht der historische Gang der Diskussionen nachvollzogen werden, sondern Arendts Text als Ausdruck republikanischen Denkens in den Mittelpunkt gestellt und die Unterschiede zu den Überlegungen der Liberalen Rawls und Habermas sowie dem Radikaldemokraten Étienne

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Balibar betrachtet werden. Dabei bietet sich an, den Text Arendts nicht nur zu berücksichtigen, sondern ihn auch im Kontext ihres Denkens, besonders ihres Buches »Über die Revolution«, zu betrachten. Erst in diesem Zusammenhang werden die knappen Thesen ihres Aufsatzes in deren existenzphilosophischer und republikanischer Tragweite verständlich. FÜR GERECHTIGKEIT UND WIDER DEN AUTORITÄREN LEGALISMUS Die philosophische Beschäftigung von John Rawls mit dem zivilen Ungehorsam beruht auf zwei Voraussetzungen: der Akzeptanz einer liberal-konstitutionellen Gesellschaft, die sich zudem in einem fortgeschrittenen Zustand befinden soll, und der Konzentration auf die Gerechtigkeit als »der ersten Tugend sozialer Institutionen«1, die vergleichbar sei mit der Rolle, welche die Wahrheit bei Gedankensystemen spiele. Fortgeschritten heißt hier, dass es sich um eine »ziemlich gerechte« und demokratische Regierung in einem wohlhabenden Land handelt, deren Gesetzgebung so gerecht wie möglich ist. Der zivile Ungehorsam kommt laut Rawls ins Spiel, sobald Gesetze den üblichen Rahmen einer möglichst gerechten Ausgestaltung verlassen und ungerecht sind. Ziviler Ungehorsam kann dann als gerechtfertigt angesehen werden, wenn er sich »an den Gerechtigkeitssinn der Mehrheit richtet« und sich »auf Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich grundlegender Fragen der Innenpolitik«2 bezieht. Er ist eine politische Handlung, insofern »er durch moralische Prinzipien gerechtfertigt ist, die eine Auffassung der bürgerlichen Gesellschaft und des öffentlichen Wohls definieren«3. Ziviler Ungehorsam lässt sich dann durch die folgenden Charakteristiken bestimmen: Er ist »eine öffentliche und gewaltlose Handlung, die in Einklang mit dem Gewissen, aber in Widerspruch zum Gesetz steht und gewöhnlich mit der Absicht vollzogen wird, einen Wandel in den Maßnahmen oder Gesetzen der Regierung herbeizuführen«4. Voraussetzung eines solchen Handelns ist, dass alle legalen Änderungsmöglichkeiten auf demokratischem Wege durch die Institutionen, 1  John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1979, S. 19 f. 2  John Rawls, Die Recht­ fertigung bürgerlichen Ungehorsams, in: Ders., Gerechtigkeit als Fairness, hg. von Otfried Höffe, Freiburg 1977, S. 165 f. 3  Ebd., S. 176. 4  Ebd., S. 175 f.

die ja von der Mehrheit besetzt sind, scheitern, dass der zivile Ungehorsam auf wesentliche und deutliche Verstöße gegen die Gerechtigkeit – bspw. gegen die Chancengleichheit – beschränkt bleibt und dass schließlich auch anderen in ähnlichen Fällen dasselbe Recht zugestanden wird. Größere Gewissheit über die Gerechtigkeitsprinzipien der Verfassung und den Gerechtigkeitssinn einer demokratischen Bevölkerung zu erlangen, ist aus der Sicht von Rawls in einer offenen und freien Gesellschaft nicht möglich. In dieser Offenheit liegt die Verantwortung, aber auch Chance für Politik und Rechtsprechung begründet, angesichts deren jeweiligen Handlungsund Entscheidungsspielräumen konkrete Problemlagen bewerten zu können. Wolfgang Heuer  —  Hannah Arendt

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Bei aller Abstraktion liegt nun die Vermutung nahe, dass Rawls mit seinem Verweis auf ungerechte Gesetze und die Abwesenheit von Chancengleichheit auf die Forderungen der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre anspielt. Hier wird deutlich, dass sich eine Abstraktion von den konkreten Umständen zugunsten einer allgemeingültigen Definition nicht davon befreien kann, unter der Hand von undiskutierten Annahmen auszugehen. Nicht nur der Verweis auf die wohlhabende und weitgehend gerechte Gesellschaft, mit der offenbar die USA gemeint sind, bedürfte der kritischen Diskussion, sondern auch die Einschränkung auf ungerechte Gesetze, bei der ziviler Ungehorsam gegen Regierungshandeln unberücksichtigt bleibt. Auch ist die Verquickung von Politik und Moral durch die Behauptung fragwürdig, bürgerlicher Ungehorsam würde erst durch moralische Prinzipien politisch; und schließlich versucht Rawls, diese Form politischen Handelns in einem liberalen Repräsentationssystem mit der Erklärung in enge Schranken zu verweisen, ziviler Ungehorsam sei erst als letztes Mittel nach dem Scheitern üblicher Bemühungen auf institutionellem Weg legitim. Wie wir später sehen werden, hat Arendt in all diesen Fragen eine ganz andere Sichtweise. Schon anders lauten die Ausführungen von Jürgen Habermas. Sein Essay über den zivilen Ungehorsam und dessen Legitimität gegen einen autoritären Legalismus setzt sich mit den neuen sozialen Bewegungen Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre auseinander, in denen die Friedens-, die Umweltschutz- und die Frauenbewegung zusammenwirkten. Die Forderungen dieser Bewegungen richteten sich gegen Gesetze, vor allem aber auch gegen Regierungshandeln, wie im Fall der Bewegung gegen den Bau von Atomkraftwerken und später gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen. Zwar orientiert sich Habermas in seiner Charakterisierung des zivilen Ungehorsams ausdrücklich an der Definition von Rawls, doch geht es ihm vor allem um eine Öffnung von Politik und Justiz für Zivilcourage als politische Handlungsform. Unter den bundesrepublikanischen Verhältnissen jener Zeit stellte Zivilcourage, so Habermas, eine Provokation für die vorherrschende »Gesetz ist Gesetz«-Mentalität dar. Diese beruhe auf einem zwanghaften politischen Denken, das sich hinter juristischen Formeln verschanzte. Dagegen behauptet Habermas mit Rawls, bei zivilem Ungehorsam handle es sich um einen Prüfstein für das angemessene Verständnis der moralischen Grundlagen der Demokratie – er hebt ihn sogar in den Stand eines »Hüters der Legitimität«5. Damit stellt Habermas die für die Politik unabdingbare Pluralität und Meinungsfindung sowie die Erkenntnis in den Mittelpunkt, dass die Geschichte der modernen Demokratie einen keineswegs geradlinigen Entstehungsprozess

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5  Jürgen Habermas, Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat. Wider den autoritären Legalismus in der Bundesrepublik, in: Peter Glotz (Hg.), Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, Frankfurt a. M. 1983, S. 29–53, hier S. 41.

aufweist und auch nicht zwingend am Endpunkt ihrer Entwicklung angelangt sein muss, daher also mit zivilem Ungehorsam und dessen Hüterfunktion rechnen muss. Mit Kant erklärt er, »dass nur solche Normen gerechtfertigt sind, die ein verallgemeinerungsfähiges Interesse zum Ausdruck bringen und daher die wohlerwogene Zustimmung aller Betroffenen finden könnten«6. Dazu bedürfe es eines entsprechenden Verfahrens vernünftiger Willensbildung. Der Staat, der ständig auf Zustimmung angewiesen sei, benötige geradezu den zivilen Ungehorsam in der Schwebe zwischen Legalität und Legitimität als »unverzichtbaren Bestandteil einer reifen politischen Kultur«7; ja, der zivile Ungehorsam beziehe geradezu seine Würde aus dem hohen Legitimitätsanspruch des demokratischen Rechtsstaats – wer zivilen Ungehorsam leiste, sollte sich daher dem Verfassungskonsens (und nicht nur privaten Glaubensgewissheiten) verpflichtet fühlen. Dieses Plädoyer für eine Art von kommunikativem Legalismus hat einen positiven Einfluss auf die Rechtsprechung ausgeübt. Noch 1969 wurden Sitzblockaden gegen die Fahrpreiserhöhungen bei den Kölner Verkehrsbetrieben im sogenannten Laepple-Urteil als geistige Nötigung bezeichnet. Dementsprechend urteilte damals der 2. Strafsenat des Bundesgerichthofs unter dem Vorsitz eines durch seine Tätigkeiten während der NS-Zeit belasteten Richters: »Die Anerkennung eines Demonstrationsrechts in dem von der Strafkammer angenommenen Maße liefe auf die Legalisierung eines von militanten Minderheiten geübten Terrors hinaus.«8 Dagegen hat sich die Rechtsprechung von Sitzblockaden in den 1980er Jahren gegen die Raketenstationierung bis zu den Sitzblockaden heute gegen Neonazi-Aufmärsche zunehmend darum bemüht, gewaltfreie Aktionen zumindest teilweise mit dem Recht auf Meinungsäußerung zu vereinen. NIEMAND HAT DAS RECHT, ZU GEHORCHEN Arendt lehnt geläufige Argumente ihrer Zeit ab, die darauf hinauslaufen, den zivilen Ungehorsam einer liberalen Konstitution und Politik anzupassen: zum Beispiel die Forderung, zivile Gehorsamsverweigerer müssten die Strafe für die Verletzung von Gesetzen klaglos hinnehmen, eine moralische Begründung ihres politischen Handelns sei unumgänglich und die klassischen Fälle von Thoreau und Sokrates seien die entsprechenden Vorbilder eines moralischen Handelns. Damit wendet sich Arendt auch implizit gegen 6  Ebd., S. 37. 7 

Ebd., S. 43.

8  BGH, 8.8.1969–2 StR 171/69.

die Positionen von Rawls und Habermas. Arendt geht von einer entgegengesetzten Perspektive aus, nämlich von einer Verständigung darüber, was überhaupt Politik sei. In »Vita activa oder Vom tätigen Leben«, in den nachgelassenen Fragmenten »Was ist Politik?« und in »Über die Revolution« wird Wolfgang Heuer  —  Hannah Arendt

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Politik als plurales, öffentliches Handeln definiert und deutlich von Verhalten, Verwaltung und Herrschaft sowie von privaten Werten unterschieden.9 Daher lehnt Arendt die Verknüpfung von zivilem Ungehorsam und Gewissensentscheidungen ab. Die von ihr vehement vertretene Trennung von Politik und Moral findet sich in ihrem Werk mehrfach. Ihr geht es darum zu verhindern, dass moralische Erwägungen und Grundsätze die Politik bestimmen und dadurch deren Spielraum einschränken. Gleichzeitig trifft sie die grundlegende Unterscheidung zwischen einem Verweigern aus Gewissensgründen und einem

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9  Vgl. Wolfgang Heuer u. a. (Hg.), Arendt-Handbuch. Leben – Werk –Wirkung, Stuttgart 2011.

gemeinsamen widerständigen Handeln. Im ersten Fall handelt es sich um eine individuelle Entscheidung gemäß dem eigenen Gewissen, im zweiten um ein gemeinsames Handeln als Ergebnis einer Deliberation. Auf dem Gebiet der öffentlichen Meinungsbildung können individuelle Werte, religiöse oder Gewissensgründe keinen Vorrang vor den Gründen anderer haben; ihr Stellenwert ist der von Einzelmeinungen unter vielen. So ist die Pluralität der Handelnden dasjenige Phänomen, das den zivilen Ungehorsam als ein politisches Handeln auszeichnet: »Ihre abgestimmte Aktion entspringt einer wechselseitigen Übereinkunft, und gerade diese Übereinkunft verleiht ihrer Meinung Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft ganz gleich, auf welche Weise sie ursprünglich zu ihrem Standpunkt gelangt sein mochten. … moralische Imperative und Appelle an ein innerweltliches oder transzendentes ›höheres Gesetz‹ sind im Zusammenhang mit zivilem Ungehorsam unangemessen.«10 Sonst, so Arendt, würde der zivile Ungehorsam zu einer Philosophie der Subjektivität und jede Art von Missachtung der Gesetze möglich. Auch das Gewissen versucht Arendt so weit es geht aus seiner vorpolitischen Kommunikationslosigkeit zu lösen, wo sie sich mit den Bedingungen des Urteilens unter Verhältnissen befasst, die keine Pluralität und öffentliche Meinungsbildung zulassen. Das Gewissen kann dann noch ein Ort des inneren Zwiegesprächs bleiben und ein gewisses Maß an Orientierung bieten.11 Die dezidiert politische Orientierung der Gehorsamsverweigerung bedeutet für Arendt, dass der zivile Gehorsamsverweigerer im Namen einer Gruppe und um ihrer Anliegen willen handelt, und dass eine solche Gruppe als organisierte Minderheit nicht nur wegen ihrer Ziele, sondern auch wegen der Qualität ihrer Meinungen zu wichtig ist, als dass sie missachtet werden dürfte. Arendt legt Wert darauf, dass es sich um eine Pluralität von Handelnden handelt, nicht um Kollektive oder die Individualität der Beteiligten verschmelzende Bewegungen. Sie ermöglicht eine Meinungs- und Urteilsbildung, die sich von der Durchsetzung von Interessen unterscheidet, die zugunsten des eigenen Wohls Vorrang vor dem Gemeinwohl haben. Kann man da noch von Ungehorsam sprechen? Dieser Begriff stellt die 10  Hannah Arendt, Ziviler Ungehorsam, in: Dies., In der Gegenwart. Übungen im politischen Denken II, München 2000, S. 283–321, hier S. 287.

Gesetze und Gesetzestreue in den Mittelpunkt. Für Arendt aber steht im Mit-

11  Vgl. Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes. Bd. 1: Das Denken, München 1979, Kap. 18. Vgl. auch Dies., Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, München 2006, Kap. III, IV.

schiedenen Ebenen stattfindenden Verstöße gegen Recht und Verfassung: so

telpunkt ihrer Überlegungen das politische Handeln, das zu ihrer Zeit angesichts der vielfältigen Krisen der USA weniger gegen einzelne Gesetze oder einzelne Regierungsmaßnahmen gerichtet ist als vielmehr gegen die auf verder nicht erklärte Krieg in Vietnam, die wachsende Kontrolle öffentlicher Vorgänge durch die Geheimdienste, die offene Verletzung der verfassungsmäßig garantierten Grundrechte und die Einschränkung der Befugnisse des Senats Wolfgang Heuer  —  Hannah Arendt

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durch die Exekutive. Arendt sieht sich also keineswegs einer, wie Rawls zur gleichen Zeit meinte, fortgeschrittenen und ziemlich gerechten Gesellschaft, sondern ganz im Gegenteil auf alarmierende Weise einer politischen Oligarchie gegenübergestellt, deren Tätigkeit die Grundlagen des Rechtssystems bedroht. Arendt gesteht zu, dass ziviler Ungehorsam auf eine wünschenswerte Veränderung hinarbeiten kann; doch angesichts der akuten Bedrohung von Recht und Freiheit sieht sie seine Bedeutung in der Erhaltung und Wiederherstellung des Status quo, in der Verteidigung von Recht und Verfassung gegen die Regierung. So hält Arendt unausgesprochen aus zwei Gründen den Begriff des zivilen Ungehorsams für unzutreffend: erstens wegen der Tatsache, dass mündige StaatsbürgerInnen potenziell in der Lage sind, selber zu urteilen und frei zu handeln: »Es ist ja gerade sozusagen das extrem Umgekehrte des Gehorsams! Jeder ist Gesetzgeber. Kein Mensch hat bei Kant das Recht zu gehorchen.«12 Zweitens erweitert Arendt den Begriff des zivilen Ungehorsams durch den Begriff des Dissenses, den sie in einen existenzphilosophischen Zusammenhang stellt. Demzufolge bevölkern unsere Erde ständig neue Generationen, die Veränderungen mit sich bringen. »Veränderungen sind ein fester Bestandteil der ›condition humaine‹«, sie rufen zugleich aber auch Unsicherheit hervor, sodass beides gemeinsam existiert, »der Drang der Menschen nach Veränderung und sein Bedürfnis nach Stabilität«.13 Rechtsordnungen haben daher eine stabilisierende Aufgabe, doch sind sie zugleich auch von begrenzter Gültigkeit, denn »die Veränderungen an sich sind immer das Ergebnis von Handlungen außerrechtlicher Natur«14. Diese Begrenzung ist positiv, weil sie den Veränderungen Raum gibt. Als Beispiel nennt Arendt die gesamte Arbeitsgesetzgebung mit Tarif-, Organisations- und Streikrecht, die nur durch lange Auseinandersetzungen an die Stelle der bis dahin geltenden Gesetze getreten sei. DER GEIST DER GESETZE Dieser Verweis auf die Condition humaine veranlasste Arendt, nach einem entsprechenden Rechtsbegriff zu suchen. Sie fand ihn im Geist der amerikanischen Gesetze, der auf dem Konsens des auf Locke beruhenden horizontalen Gesellschaftsvertrags basiert. Dabei bedeutet Konsens nicht nur individuelle Zustimmung, sondern vor dem Hintergrund des Mayflower-Vertrags der ersten Siedler auch das gemeinsame wechselseitige Versprechen, das

12  Hannah Arendt u. a., Eichmann war von empörender Dummheit. Gespräche und Briefe (hg. von Ursula Ludz u. Thomas Wild), München 2011, S. 44.

deutlicher als im Locke’schen Gesellschaftsvertrag das aktive Handeln und mithin die republikanische Orientierung Arendts unterstreicht. Das bedeutet wiederum in existentieller Hinsicht, so Arendt, dass jeder Mensch in die Gemeinschaft hineingeboren und von ihr aufgenommen wird und somit nur in

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Widerstand und Dissidenz  —  Analyse

13  Arendt, Ziviler ­Ungehorsam, S. 302. 14 

Ebd., S. 304.

einem stillschweigenden Konsens leben und überleben kann. Jeglicher Dissens als Ausdruck der Suche nach Veränderung findet auf der Grundlage des Konsenses statt. Dieser Konsens bezieht sich auf die Verfassung, nicht auf die einzelnen Gesetze und erst recht nicht auf das Regierungshandeln. Die Verfassungskrise, die Arendt zur ihrer Zeit feststellte, besteht darin, dass bei der Bevölkerung das Vertrauen in die notwendige Verfassungsmäßigkeit des Regierungshandelns schwindet und ganz zu Recht Dissens hervorruft. Aus dieser Perspektive von Konsens-Dissens gerät fast zwangsläufig der stillschweigende Ausschluss der Schwarzen aus dem stillschweigenden Konsens der Gesellschaft in den Blick, was für Arendt ein ursprüngliches Verbrechen der politischen Gemeinschaft seit der Gründung ihrer Freiheit darstellt und nur durch eine ausdrückliche Erklärung der Inklusion überwunden werden kann. »Ein explizit, eigens an die Negerbevölkerung Amerikas gerichteter Verfassungszusatz hätte in den Augen dieser Menschen, die niemals willkommen geheißen worden waren, den großen Wandel eindrücklicher unterstrichen und endgültig besiegelt.«15 Für Arendt folgt aus dem Konsens-Dissens-Verhältnis, dass ein Recht auf Dissens im Rahmen des grundlegenden Konsenses existiert. Dieses Recht ist bedauerlicherweise nicht verfassungsmäßig verankert, obwohl es dem Geist der Gesetze entspricht und daher von grundlegender Bedeutung ist. »Es wäre ein Ereignis ersten Ranges, wenn man in der Verfassung für den zivilen Ungehorsam einen Ort ausmachen könnte – ein Ereignis, das vielleicht nicht weniger bedeutend wäre als die Gründung der ›constitutio libertatis‹«16, die ursprüngliche Verfassungsgebung. Diese vor dem Hintergrund der Ausführungen von Rawls und Habermas (und auch diesen selbst) paradox erscheinende Idee, dem Rechtsbruch einen rechtlichen Ort in der Verfassung zu geben, wirkt weniger widersprüchlich, wenn der Dissens als Normalität und Teil der politischen Partizipation verstanden wird. Die Gruppen der Gehorsamsverweigerung erinnern Arendt an die von Tocqueville gerühmten »politischen Vereinigungen« und die in den USA verbreitete »Kunst, sich zu assoziieren«. Im Hinblick auf sie erscheint

der zivile Ungehorsam für Arendt nur als die neueste Form dieser traditionellen »local associations«. Was wir heute als Bürgerinitiativen verstehen, kommt dem sehr nahe. Eine institutionelle Verankerung, so Arendt, wäre durch ihre verfassungsmäßige Anerkennung in Verbindung mit dem Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit möglich. 15 

Ebd., S. 312.

16 

Ebd., S. 306.

In ihrem bereits 1963 veröffentlichten Buch »Über die Revolution« geht Arendt ausführlich auf die Degeneration des Geistes der Gesetze und des Geistes der Revolution ein, der einmal das öffentliche Glück und Gemeinwohl Wolfgang Heuer  —  Hannah Arendt

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in das Zentrum des Handelns gestellt hatte. Da die Townhall-Versammlungen nicht als Ebene der Meinungs- und Machtbildung in das System der Gewaltenteilung aufgenommen wurden und Freiheit zunehmend als Gewährung bürgerlicher Rechte anstatt als Ausübung von politischer Freiheit verstanden wurde, blieb von der aktiven Teilhabe nur noch die gelegentliche Entstehung von Pressure-groups und zivilem Ungehorsam übrig – »eine traurige Verkümmerung und Deformation dessen, was es einmal hier wirklich gab«17. Nur eine weitgehende Föderation, zu der vor allem die von Jefferson so genannten kleinen Republiken gehören, kann statt einer zentralisierten demokratischen Volksherrschaft gerade umgekehrt die Vielen »aufbrechen« und die den Einzelnen zukommende Macht erhalten.18 Beeindruckend ist Arendts Feststellung, dass überall dort, wo sich Menschen zu politischem Handeln zusammentun und ihre Pluralität bewahren, Räte und Föderationen die natürlichen spontanen Organisationsformen sind.19 Arendt spart nicht mit Kritik an einer dergestalt verkümmerten Republik mit einem zu einer Oligarchie gewordenen Parteiensystem, Wahlen, bei denen nur diese Art von Elite kandidiert, und einer Form von Politik, die in einer Massen- und Überfluss­ gesellschaft zur Verwaltung degeneriert ist. Arendts Kritik am apolitischen Liberalismus und ihr Plädoyer für einen zivilgesellschaftlichen Republikanismus haben nichts Utopisches an sich, sondern sind es wert, in der gegenwärtigen »Postdemokratie« hinsichtlich einer möglichen Institutionalisierung diskutiert zu werden. Habermas hatte in seiner Lektüre von Arendts Buch »Über die Revolution« dieses Potenzial leider nicht zur Kenntnis genommen.20 DIE KOMMENDE GEMEINSCHAFT

17  Hannah Arendt, Über die Revolution, München 1963, S. 285. 18 

Zum Schluss noch ein Blick auf eine aktuelle Stellungnahme des französischen Politologen Étienne Balibar. Dieser versteht sich als Radikaldemokrat und erklärt den Dissens sowie das Widerständige zur Grundlage des Politischen, womit er das Interesse von Protestbewegungen weckt. Er hat wenig mit Rawls und Habermas gemein, mehr dafür mit Arendt aufgrund seiner Wertschätzung des politischen Handelns, der Betonung der Verantwortung der Bürger für ihr Handeln und des außerrechtlichen Orts des Handelns auf der Grundlage von Dissens. Balibar reiht die Phänomene

Siehe ebd., S. 325.

19  Vgl. Wolfgang Heuer, Föderationen – Hannah Arendts politisch Grammatik des Gründens, Hannover 2016. 20  Siehe Jürgen Habermas, Die Geschichte von den zwei Revolutionen. Rezension zu: Hannah Arendt, On Revolution; Hannah Arendt, Vita activa, in: Merkur, Jg. 46 (1966), H. 218, S. 479–482.

Widerstand, Aufstand und Ungehorsam in eine lange Liste von Ereignissen ein, zu denen auch Revolutionen, Staatsstreiche und Rebellionen gehören. Politik lässt sich nicht auf die Vollstreckung des Rechts reduzieren und 21

Bürger zeichnen sich nicht durch die Sanktionierung der Rechtsordnung qua passiver Zustimmung aus, sondern durch ihren Dissens, durch den sie eine

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21  Siehe Étienne Balibar, Widerstand Aufstand Ungehorsam, in: Andreas Braune (Hg.), Ziviler Ungehorsam. Texte von Thoreau bis Occupy, Stuttgart 2017, S. 282–304.

Gegenmacht in Form einer Gegen-Polis schaffen. Nicht der Konsens, wie bei Arendt, ist die Grundlage des Gemeinwesens, sondern der Dissens; der Bürger »ist seinem Wesen nach ein Rebell«; »die demokratische Staatsbürgerschaft ist also konfliktgeladen oder sie ist nicht«.22 Diese Konflikte sind struktureller Natur und entstehen aus der Konfrontation institutioneller Logiken und sozialer Kräfteverhältnisse. Ob Widerstand, Aufstand oder Ungehorsam: Immer handelt es sich um eine Art verlorenen Schatz des Anarchismus, der im Handeln der Bürger aufscheint. Diese GegenPolis ist bereit, in den Extremverhältnissen revolutionärer Episoden ihre Mitglieder dem Risiko der Zerstörung oder der Anarchie auszusetzen; sie weist ein »bestimmtes intrinsisches Verhältnis zum tatsächlichen oder möglichen Tod aus«23. Die hier umrissene politische Gemeinschaft ist aber nicht gegeben, sie »muss immer weiter ankommen oder erfunden werden«24. Spätestens hier wird deutlich, dass sich Balibars Polis-Konzept gänzlich von Arendts Republikanismus unterscheidet. Seine pauschale Kritik an oligar22  Ebd., S. 293 f. 23  Ebd., S. 294. 24  Ebd., S. 298.

chischen Herrschaftsverhältnissen in praktisch allen demokratischen Staaten und an ebenso pauschalen Überlegungen zu Widerstand und Ungehorsam enthebt ihn der Verantwortung für eine präzise Definition von Politik, Bürgerschaft, Macht und Recht. So definiert Balibar Politik in Gestalt der genannten Ereignisse nur von ihrem negativen Verhältnis zu Gesetz und Macht aus. Obwohl er betont, dass historische Ereignisse keiner Regelhaftigkeit unterworfen seien, spricht er von Notwendigkeiten und Gesetzmäßigkeiten der Entstehung einer Gegen-Polis und erklärt, dass eine winzige, kollektive Minderheit »objektiv im allgemeinen Interesse« handele. Das erinnert an marxistische Erklärungsweisen, bei denen regelmäßig die Pluralität der Handelnden und Urteilenden auf der Strecke bleibt. Ganz anders auch als Arendts Definition des zu institutionalisierenden Rechts, Rechte zu haben zum Schutz von Staatenlosen und Flüchtlingen, erklärt Balibar ein außergesetzliches, ominöses

Dr. Wolfgang Heuer  ist Privatdozent am Otto-Suhr-Institut für politische Wissenschaft der Freien Universität Berlin und Mit­herausgeber der Online-Zeitschrift HannahArendt.net. Journal für politisches Denken. Gegenwärtig arbeitet er vor allem zu den politisch-philosophischen Grundlagen des Föderalismus; Gastprofessuren in Kolumbien, Brasilien und Chile, Mitheraus­geber des »Arendt-Handbuch« (Stuttgart 2011), zuletzt auf Deutsch veröffentlicht: Föderationen – Hannah Arendts politische Grammatik des Gründens, ­Hannover 2016.

Recht auf Ungehorsam zu dem »eigentlichen Recht auf Rechte«. Schließlich sieht er auch keinen Unterschied zwischen Luthers moralischem »Hier stehe ich, ich kann nicht anders« des Gewissensverweigerers und einer politisch agierenden Gruppe von Wehrdienstverweigerern während des Algerienkriegs. Insgesamt handelt es sich um eine romantisch anmutende Erklärung von politischen Ereignissen, die pauschalisiert, das Politische entgrenzt, das Recht zur Disposition stellt und sich dabei zu Unrecht auf die Widerstandskämpfer René Char und Albert Camus beruft. Dieser Essay weist indirekt auf die Aktualität hin, die Arendts »Über die Revolution« nicht nur wegen des erwähnten Geistes der Gesetze hat, sondern auch wegen ihrer kritischen Auseinandersetzung mit den Gründen für das Scheitern der Französischen Revolution. Wolfgang Heuer  —  Hannah Arendt

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ENERGIEWENDE UND ­WIDERSTAND DIMENSIONEN LOKALER KONFLIKTE UM ­ENERGIEWENDEPROJEKTE ΞΞ Julia Zilles

»Stoppt den Windwahn«, »Keine Windräder in unseren Wäldern« oder »Keine Monstertrasse!«: Diese oder ähnliche Losungen finden sich immer wieder auf Plakaten von Bürgerinitiativen gegen Windkraftprojekte oder gegen den Bau von Stromtrassen. Lokalmedien berichten von Demonstrationen mit erstaunlich vielen TeilnehmerInnen vor Kreishäusern, zahlreiche Leserbriefe zeugen vielerorts von der Stärke des Unmuts der Betroffenen. Doch lassen sich solche Äußerungen von Protest schon als Widerstand verstehen? Ist Widerstand nicht eher verbunden mit gerichtetem Handeln gegen die staatliche Tyrannei in autoritären Systemen? Kann mithin der ­Widerstandsbegriff für Protestaktionen von Bürgerinitiativen, die sich gegen Projekte im Kontext der Energiewende gründen, überhaupt angewandt werden, analytisch wie deskriptiv? Dies sind Fragen, die sich aus Sicht der Protestierenden gar nicht stellen: Sprechen sie über sich und ihre Aktionen, verwenden sie den Begriff Widerstand ganz selbstverständlich. Lässt sich der Widerstandsbegriff letztlich vielleicht, im Anschluss an das Selbstverständnis lokalen Protestes im Zuge der Energiewende, um eine lokale ­Facette ­ergänzen? ERFOLGSMODELL ENERGIEWENDE? Im Ausland wird die deutsche Energiewende als Erfolgsmodell und Vorbild betrachtet.1 Bislang fokussieren sich die Bemühungen im Rahmen der Energiewende hierzulande jedoch vor allem auf die Stromwende. Dass die Sektoren Wärme und Verkehr ebenso viel Beachtung finden müssten – sofern die ehrgeizigen Ziele mit Blick auf Treibgasemissionen und -einsparungen bestehen bleiben sollen –, wird derzeit lediglich in Fachkreisen diskutiert. So ist der Begriff der Energiewende in Medien und Gesellschaft weiterhin eng mit Veränderungen im Stromsektor verbunden. Hierbei geht es vorrangig um den Ausbau erneuerbarer Energien, aber auch um den Bau neuer Stromleitungen, die Entwicklung von Speichertechnologien und – wie jüngst im Rahmen des Klimagipfels in Bonn deutlich wurde – um den Ausstieg aus

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1  Siehe Carol Hager u. Christoph H. Stefes (Hg.), Germany’s Energy Transition. A comparative Perspective, Palgrave 2016.

fossilen Kraftwerken. Dass diese Ziele mit dem Abbau alter und dem Aufbau neuer Strukturen einhergehen, ist nicht nur der Politik und den Energie­ konzernen bewusst. Spätestens seit den Protesten gegen den Bahnhofsumbau in Stuttgart gehen PlanerInnen und durchführende Unternehmen großer Infrastrukturprojekte bereits im Vorfeld davon aus, dass es in der Bevölkerung zu Widerstand gegen die geplanten Projekte kommen wird. Man möchte nach Möglichkeit tunlichst vermeiden, dass sich Proteste so weit hochschaukeln, wie dies in Stuttgart im September 2010 der Fall war.2 »Stuttgart 21« fungiert in politischen Debatten um Infrastrukturprojekte als Chiffre für die Angst vor Verzögerungen in der Projektdurchsetzung und einem massiven Widerstand in der Bevölkerung. PlanerInnen und PolitikerInnen möchten Bilder wie jene des »Schwarzen Donnerstags« bei der Räumung des Stuttgarter Schloss­ gartens unbedingt vermeiden. Jedoch konzentriert sich der Protest gegen Infrastrukturmaßnamen längst nicht mehr nur auf Großprojekte. Gerade im Zuge der vielen dezentralen Projekte im Kontext der Energiewende finden eine Verteilung von Protest und Widerstand in der Fläche und vor allem auch eine Diffusion auf ländliche Regionen statt. Hier ist im Vergleich zu Großstädten wie Berlin oder Hamburg Protest eher selten und es gibt weniger Protesterfahrungen, auf die sowohl die Protestierenden als auch die Gegenseite zurückgreifen können. DAS PROJEKT »BÜRGERPROTESTE IN ZEITEN DER ­E NERGIEWENDE« Vor diesem Hintergrund setzte sich das Projekt »Bürgerproteste in Zeiten der Energiewende«3 des Göttinger Instituts für Demokratieforschung zum Ziel, ausgehend von den lokalen Widerständen gegen die Errichtung von Wind2  Vgl. Frank Brettschneider u. Wolfgang Schuster (Hg.), Stuttgart 21. Ein Großprojekt zwischen Protest und Akzeptanz, ­Wiesbaden 2013.

kraftanlagen, den Bau von Stromtrassen und die Nutzung von Fracking, lo-

3  Das Projekt »Bürgerproteste in Zeiten der Energiewende« wurde von 2013 bis 2016 durch das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur gefördert. Sämtliche Ergebnisse sind veröffentlicht in: Christoph Hoeft u. a. (Hg.), Bürgerproteste in Zeiten der Energiewende. Lokale Konflikte um Windkraft, Stromtrassen und Fracking, Bielefeld 2017.

fassendes und vollständigeres Bild des Konflikts zu erhalten.

kale Dynamiken und Konfliktverläufe zu verstehen. Dabei standen nicht nur die Protestakteure – in diesen Fällen überwiegend in Bürgerinitiativen organisiert – im Fokus, sondern ebenso die Adressaten des Protests, um ein umLetztere sind PolitikerInnen und VerwaltungsvertreterInnen verschiedener Ebenen, etwa Ortsbürgermeister, Leiter von Genehmigungsbehörden oder Staatssekretäre auf Landesebene, da diese für die politischen und rechtlichen Entscheidungen mit Blick auf das umstrittene Projekt zuständig sind. Zudem kritisieren die Protestgruppen die durchführenden Unternehmen. Neben diesen aktiv handelnden Akteuren spielt auch die betroffene, aber inaktive Bevölkerung vor Ort eine wichtige Rolle – schließlich findet die lokale Julia Zilles  —  Energiewende und W ­ iderstand

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Auseinandersetzung quasi vor diesem Publikum statt. Sämtliche Kommunikation der Akteure richtet sich auch an diese Unbeteiligten. In dem qualitativen Forschungsprojekt wurden all diese Akteursgruppen untersucht. Zwischen Juli 2014 und Mai 2015 wurden insgesamt 45 Interviews mit den beteiligten Akteuren sowie sechs Fokusgruppen, also moderierte Gruppendiskussionen, mit je acht TeilnehmerInnen aus der betroffenen, aber nicht aktiven Bevölkerung durchgeführt und inhaltsanalytisch ausgewertet. So konnte in vier Fallstudien ein umfassendes Bild von lokalen Konflikten in Zeiten der Energiewende gezeichnet werden.4 In all diesen Konflikten beziehen sich die Protestgruppen selbst auf den Begriff des Widerstands. Daher werden im Folgenden drei Aspekte und Besonderheiten im Zusammenhang mit dem Topos des Widerstands genauer betrachtet: In Konflikten, die sich im Rahmen der Energiewende entzünden, spielt erstens der lokale Kontext eine zentrale Rolle; zweitens findet der ­Widerstand gegen Energiewendeprojekte vielfach im Spannungsfeld zwischen Natur- und Klimaschutz statt; und drittens geht es immer auch um die Verteidigung der Heimat. WIDERSTAND IM LOKALEN KONTEXT Proteste und soziale Bewegungen werden häufig in einem Atemzug genannt. Schließlich nutzen soziale Bewegungen Protest als Ausdrucksform ihres ­Widerspruches – und die Wirksamkeit von Protest etwa in Form von Demonstrationen scheint mit der Mobilisierung von großen Menschenmassen verbunden zu sein. Diese Logik der Massenmobilisierung hängt mit dem einseitigen Abhängigkeitsverhältnis zwischen Protestaktionen und Medienberichterstattung zusammen. Öffentliche Aufmerksamkeit ist für die Durchsetzung der Anliegen von Protestierenden sehr wichtig. Sollen Themen von der Straße in die politische Agenda aufgenommen werden, gilt es, Aufmerksamkeits-

4  Alle Fallstudien sowie ausführliche Analysen der Akteure finden sich in Hoeft u. a.

schwellen der Medien zu überwinden und ihrer Selektionslogik zu entsprechen. Bereits 1988 brachte dies Joachim Raschke auf den Punkt: »Eine Bewegung, über die nicht berichtet wird, findet nicht statt«5. Betrachtet man allerdings Protest im lokalen, ländlichen Kontext, fällt auf, dass in diesen Fällen Widerstand viel unmittelbarer funktioniert. Zwar spielen auch hier Lokalmedien und insbesondere Leserbriefe als Diskursforum eine wichtige Rolle6; die Ansprache von (Lokal-)PolitikerInnen erfolgt in der Regel jedoch direkter und persönlicher. Man kennt sich, ist in denselben Vereinen oder der Kirchengemeinde engagiert. Im lokalen Kontext organisiert sich Widerstand überwiegend in Form von Bürgerinitiativen (BI). Diese bestehen meist aus einem »harten Kern« von bis

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Widerstand und Dissidenz  —  Analyse

5  Joachim Raschke, Soziale Bewegungen. Ein historisch-­ systematischer Grundriss, Frankfurt a. M. 1988, S. 343. 6  Vgl. Julia Zilles, »Absolut ­einseitig orientiert« oder »Echo der Auseinandersetzung«. Die Rolle der Medien in lokalen Konflikten, in: Christoph Hoeft u. a. (Hg.), Bürgerproteste in Zeiten der Energiewende. Lokale Konflikte um Windkraft, Stromtrassen und Fracking, Bielefeld 2017, S. 195–205.

zu zwanzig Personen sowie einem weiteren Kreis von bis zu mehreren hundert unterstützenden Mitgliedern. Die Organisationsstruktur dieser Initiativen ist sehr unterschiedlich: Einige Gruppen gründen sich bewusst als Vereine mit festen Strukturen und Vorsitzenden, andere wiederum bevorzugen flachere Hierarchien und losere Strukturen. Schon frühere Studien zeigten, dass die Engagierten in der Regel überwiegend männlich und eher älter sind sowie über überdurchschnittliche Bildungsabschlüsse verfügen.7 Auf lokaler Ebene stellt Protest lediglich einen Aspekt des Handlungsrepertoires der Bürgerinitiativen dar. Zwar werden Protestaktionen als wichtiges Instrument zur Erregung von Aufmerksamkeit und als Mittel der Provokation wahrgenommen, doch setzen die Bürgerinitiativen auf eine weit größere Palette an Strategien, um ihre Ziele – in der Regel die Verhinderung eines konkreten Projekts – zu erreichen. So zählen sie bspw. ebenfalls die Aufklärung und Information der Bürgerinnen, aber auch die Beratung von in der Sachfrage als wenig kompetent wahrgenommenen PolitikerInnen zu ihren Aufgaben.8 Der direkte Kontakt zwischen protestierenden Bürgerinitiativen und lokalen Protestadressaten hat aber auch zur Folge, dass sich die politische und 7  Von 51 befragten Protestierenden einer vorausgegangenen Studie des Göttinger Instituts für Demokratieforschung sind achtzig Prozent über 45 Jahre alt und knapp fünfzig Prozent verfügen über einen Universitätsabschluss; vgl. Stine Marg u. a., »Wenn man was für die Natur machen will, stellt man da keine Masten hin«. Bürgerproteste gegen Bauprojekte im Zuge der Energiewende, in: Stine Marg u. a. (Hg.), Die neue Macht der Bürger. Was motiviert die Protestbewegungen, Reinbek bei Hamburg 2013, S. 94–138.

die persönliche Ebene von Auseinandersetzungen miteinander vermischen. Teilweise werden politische Streitpunkte derart in Familien, Nachbarschaften und Freundeskreise hineingetragen, dass es zu anhaltenden Spannungen innerhalb der Ortschaften kommen kann. Diese überdauern teilweise bei Weitem den eigentlichen Anlass des politischen Streits – so ist unter Umständen der umstrittene Windpark oder Strommast längst gebaut, das soziale Gefüge aber dauerhaft beeinträchtigt. Dies ist ein markanter Unterschied zu eher anonymen Protestaktionen in Großstädten. Wird etwa von der lokalen Bürgerinitiative ein verunglimpfender Brandbrief gegen den Bürgermeister geschrieben, so kann dies nie völlig anonym geschehen. Die am Widerstand gegen einzelne Energiewendeprojekte entzündeten Konflikte beeinflussen somit das Zusammenleben in den Dör-

8  Vgl. Julia Zilles u. Carolin Schwarz, Bürgerproteste gegen Windkraft in Deutschland. Organisation und Handlungsstrategien, in: Informationen zur Raumentwicklung, H. 6/2015, S. 669–679. 9  Vgl. Sören Messinger-­ Zimmer u. Julia Zilles, (De-)zentrale Energiewende und soziale Konflikte: Regionale Konflikte um die Vertretung des Gemeinwohls, in: Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung, Jg. 85 (2016), H. 4, S. 41–51.

fern und Kleinstädten stark. Dies wurde uns etwa auch im Forschungsprozess bei der Rekrutierung der TeilnehmerInnen für die Fokusgruppen bewusst: So wurde mehrfach eine Teilnahme abgelehnt mit der Begründung, dass man zu der umstrittenen Thematik nicht öffentlich Stellung beziehen wolle. Tendenziell lässt sich zudem eine Reaktivierung der Konfliktlinie zwischen Stadt und Land bzw. Zentrum und Peripherie beschreiben.9 Die in den Bürgerinitiativen Engagierten fühlen sich von der Stadtbevölkerung und den in ihren Augen ausschließlich an den dortigen WählerInnen orientierten PolitikerInnen ausgenutzt. Plausibel erscheint der Vorwurf, man produziere im ländlichen Raum den Strom, der dann in den städtischen Ballungsgebieten verbraucht Julia Zilles  —  Energiewende und W ­ iderstand

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werde, trage die Kosten dafür jedoch allein. Zudem sieht man sich strukturell benachteiligt, da die ländlichen Regionen schwächer besiedelt sind, weshalb zahlenmäßig mit geringerem Widerstand zu rechnen sei. Auf dieser Linie liegt der Vorwurf eines Stromtrassengegners im Konflikt um die Planung der Stromtrasse SuedLink,10 welcher der Betreiberfirma TenneT unterstellte, bewusst das Projekt in ländliche Regionen zu verlagern, um Protesten in der Größenordnung von »Stuttgart 21« aus dem Weg zu gehen: »Wenn Sie den Trassenverlauf sich mal angucken, die macht ’nen Riesenbogen um Hamburg, Riesenbogen um Hannover, Riesenbogen um Kassel, sonst hätten sie dreimal Stuttgart 21, is’ ganz klar.«11 WIDERSTAND IM SPANNUNGSFELD ZWISCHEN NATUR- UND KLIMASCHUTZ Betrachtet man die lokalen Bürgerinitiativen, die sich etwa gegen den Bau einer neuen Stromtrasse oder neuer Windparks engagieren, fällt auf, dass hier die Energiewende als solche überwiegend als Konsens betrachtet wird. Dies wird auch ganz explizit formuliert, etwa durch einen Gegner der Stromtrasse SuedLink: »Wir wollen natürlich die Energiewende, vollkommen klar, ja.« Der Widerspruch richtet sich eher gegen die konkrete Umsetzung der Energiewende. So wird je nach umkämpftem Projekt entweder der zentrale oder dezentrale Charakter der Energiewende kritisiert: »Ich bin für Energiewende, ja, aber doch net so.« So lehnen StromtrassengegnerInnen den starken Ausbau von Windkraftanlagen an der Küste und im Meer ab, da dieser dazu führe, dass größere Strommengen transportiert und folglich entsprechende Trassen gebaut werden müssten. WindkraftkritikerInnen im Binnenland fordern jedoch ebenjenen Ausbau dort, wo die Windhöffigkeit12 hoch ist und Anlagen auch wirklich wirtschaftlich betrieben werden können. Auffällig ist, welch große Rolle Naturschutzargumente in den Auseinandersetzungen um Energiewendeprojekte spielen. Den GegnerInnen geht es um den Schutz bedrohter Tierarten wie des Rotmilans und Schwarzstorches, von Fledermäusen oder Wildkatzen. Viele Aussagen in den Interviews beschreiben die emotionale Bindung zum Wald, verstanden als Refugium und Ort der Stille und Erholung. Dieser werde nun in ein »Industriegebiet« und eine »Baustelle« verwandelt. Gerade die Rodung von Wald wird als »Verletzung der eigenen Seele« beschrieben. Die GegnerInnen sehen sich vielfach zwischen Umwelt- und Naturschutz hin- und hergerissen. Sie leiden an diesem innerökologischen Zielkonflikt,

10  Hierbei handelt es sich um eine im Untersuchungszeitraum in der Öffentlichkeit diskutierte Stromtrasse, die über eine Länge von 800 Kilometern zwischen Schleswig-Holstein und Bayern verlaufen sollte. Umstritten war das Projekt auch, weil es sich um eine sogenannte Hochspannungsgleichstromübertragungsleitung (HGÜ) handeln sollte, die bis zu diesem Zeitpunkt noch nie in einer solchen Länge erprobt worden war. Inzwischen wird das Projekt aufgrund der Proteste neu und überwiegend mit Erdkabeln geplant. 11  Alle kursiv gesetzten Zitate entstammen dem empirischen Material aus dem Projekt.

der auch innerhalb von Naturschutzverbänden wie BUND oder Nabu kontrovers diskutiert wird, teilweise bis hin zu organisatorischen Spaltungen und Neugründungen.

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Widerstand und Dissidenz  —  Analyse

12  Windhöffigkeit beschreibt die Eignung eines Gebiets für Windenergieanlagen.

Viele Engagierte sind vom Naturschutz bewegt. Ihnen wird aber auch vielfach vorgeworfen, Naturschutzargumente zu instrumentalisieren. Denn gerade bei der Thematik Windkraft im Wald eröffnet etwa die Existenz von Rotmilanhorsten die Möglichkeit, über Naturschutzverbände gegen Windkraftpläne zu klagen – als Privatpersonen steht diese Möglichkeit nur direkt Betroffenen offen, in Waldgebieten ist dies praktisch niemand. Neben dem eigenen Konflikt zwischen Natur- und Klimaschutz, den viele empfinden, kommt dieser Vorwurf von außen hinzu. Innerhalb der Protestgruppen gegen Energiewendeprojekte gibt es zudem einige Personen, die den Klimawandel leugnen und daher nicht in diesem Zielkonflikt stehen. Die von uns untersuchten Gruppen betonten jedoch, diese Positionen aus ihren Zusammenhängen auszuschließen, und bekannten sich zur Notwendigkeit des Klimaschutzes. WIDERSTAND ALS VERTEIDIGUNG DER HEIMAT Der lokale Widerstand der Protestgruppen wird auch als Verteidigung von Heimat verstanden.13 Die Bauprojekte werden als Veränderung der oft bewusst gewählten Heimat betrachtet, die es zu verhindern gilt. Auffällig ist, dass gerade jene Personen, die besonders aktiv sind, häufig »Zugezogene« oder wieder Zurückgekehrte sind, die sich bewusst für ein Leben auf dem Land und in unberührter Natur entschieden haben. In den Erzählungen der Protestierenden wird eine hohe Wertschätzung der unmittelbaren Umgebung und der als natürlich empfundenen Landschaft deutlich. So erzählte ein Aktivist von dem für einen Windpark gerodeten Waldabschnitt: »Das ist eine Örtlichkeit, die die Sommerfrische der Region war. Da ist man hochgegangen im Sommer und hat die Aussicht genossen. Das ist Heimat! Ja, das ist Heimat, an der sich dort auch ’ne Sozietät mit verbunden hat.« In den Augen der ProjektgegnerInnen handeln sowohl die durchführenden Unternehmen als auch die PolitikerInnen unverantwortlich: Poli­tikerInnen seien ausschließlich an Machterhalt und regionaler Wertschöpfung interessiert, die Unternehmen einzig an ökonomischen Interessen orientiert. Die Protestierenden beschreiben einen tiefgreifenden Vertrauensverlust in politische Eliten: »Ich kann einfach nicht mehr vertrauen«. In ihrer Wahrnehmung 13 

Vgl. Stine Marg, Heimat. Die Reaktivierung eines Kampfbegriffs, in: Christoph Hoeft u. a. (Hg.), Bürgerproteste in Zeiten der Energiewende. Lokale Konflikte um Windkraft, Stromtrassen und Fracking, Bielefeld 2017, S. 221–231.

kommt die Politik ihrer eigentlichen Aufgabe, die genuinen Interessen der Region zu vertreten, nicht mehr nach. Daraus entsteht in dieser Wahrnehmung ein »Verantwortungsvakuum«. Durch das Engagement und den Widerstand gegen das geplante Projekt übernehmen die BIs jene Verantwortung, die sie eigentlich in der Arena der Politik verorten. Deshalb reagieren die Protestierenden auch mit großem Julia Zilles  —  Energiewende und W ­ iderstand

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Unverständnis auf den Vorwurf, mit dem sie persönlich und medial häufig konfrontiert werden: dass sie egoistisch und im Sinne einer Not-in-my-­ Backyard-Haltung handeln würden. In ihrem Selbstverständnis jedoch agieren gerade sie nicht egoistisch, sondern verantwortungsvoll und stellvertretend für die aus ihrer Sicht ignorante und inkompetente Politik. So wird der eigene Widerstand mit dem Anspruch verbunden, das Gemeinwohl der Menschen der Region zu vertreten. LOKALER WIDERSTAND ALS DIENST AN DER ALLGEMEINHEIT Aus Sicht der Protestierenden ist die Sache eindeutig: Sie leisten berechtigten Widerstand gegen Projekte, die von außen in ihre Umgebung hineingetragen werden und die es abzuwehren gilt. Aus ihrer Sicht ist ihr Protest gegen Energie­wendeprojekte auch ein Widerstand gegen die aus ihrer Perspektive als entkoppelt empfundenen Entscheidungen der Eliten. Daher ist es aus ihrer persönlichen Wahrnehmung auch nicht vermessen, von Widerstand zu sprechen – zumal sie ihren Einsatz als Rettung der bedrohten Heimat und damit auch als Dienst an der Allgemeinheit empfinden. Im Übrigen sprechen auch die Protestadressaten von Widerstand. Sie verwenden den Begriff aber vielmehr im quasi-physikalischen Sinne – stoßen sie bei ihren Bemühungen, Energiewendeprojekte umzusetzen, doch auf­ ­Widerstände, die sie in zeitlicher und räumlicher Hinsicht behindern, die Projekte weiter voranzutreiben. So gerät der Protest der Bürgerinitiativen auch in dieser Konnotation zum Widerstand. Trotz der hohen gesamtgesellschaftlichen Zustimmung zur deutschen Energiewende und ihren Zielsetzungen bergen Projekte in diesem Kontext ein hohes Konfliktpotenzial.14 Gerade die lokale, ländliche Perspektive hat aber bislang in der Protest- und Bewegungsforschung vergleichsweise wenig Beachtung gefunden. Hier lohnen weitere Inspektionen lokaler Auseinandersetzungen.

Julia Zilles, geb. 1987, hat Politikwissenschaft, Philosophie und Germanistik studiert und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Dort erforscht sie lokale Konflikte im Kontext der Energiewende, insbesondere Bürgerproteste gegen Windkraftanlagen.

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Widerstand und Dissidenz  —  Analyse

14  Vgl. Fritz Reusswig u. a., Against the wind. Local o­ pposition to the German ›Energiewende‹, in: Utilities Policy, H. 41/2016, S. 214–227.

BODY POLITICS REVISITED FEMINISMUS UND WIDERSTAND ΞΞ Jana Günther Feminismus und feministischer Aktivismus ist neuerdings wieder in aller Munde. Er – wenngleich eben nicht von dem einen Feminismus oder dem feministischen Widerstand gesprochen werden kann1 – findet derzeit Eingang in die Debatten des bürgerlichen Feuilletons, in offizielle Parteipolitik sowie in ganz alltägliche Lebenspraxen. Dabei hat sich der Feminismus zu einer wiederentdeckten Galionsfigur für Geschlechtergleichberechtigung, sexuelle Freiheit und das Recht auf Selbstbestimmung, aber auch zum Feindbild à la »Gender-Ideologie« und zu einer – durchaus gut vermarktbaren – Lebens1  Vgl. Melanie Groß, ­Geschlecht und Widerstand, Königstein/Ts. 2008. 2  Vgl. Mirja Stöcker, Die Sache mit dem F-Wort, in: Dies. (Hg.), Das F-Wort. Feminismus ist sexy, Königstein/Ts. 2005, S. 9–14. 3  Carole Pateman, Der brüderliche Gesellschaftsvertrag, in: Kathrin Braun u. a. (Hg.), Feministische Perspektiven der Politikwissenschaft, München 2000, S. 20–49, hier S. 20. 4  Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, Stuttgart 1994, S. 156.

weise und Identifikationskategorie junger erfolgreicher westlicher Frauen der Mittel- und Oberschicht2 entwickelt. Doch was lässt sich zum Widerstandspotenzial und zur Mobilisierungsfähigkeit von Frauen bzw. für feministische Ideen generell sagen? Zunächst: Die Geschichte feministischen Widerstands ist lang. In ihr spiegeln sich kontinuierlich innere und äußere Konflikte, politisch-ideologische Widersprüche sowie das Spannungsverhältnis durch die Reproduktion gesellschaftlicher Machtverhältnisse in der Bewegung selbst wider. PATRIARCHAT UND BODY POLITIC Die Entstehungsgeschichte moderner Staatsvertragstheorien im 17. und 18. Jahrhundert, und damit einhergehend die Entwicklung westlicher bürger­ licher Gesellschaftsordnungen, ist gezeichnet von einer spezifischen Leerstelle: Ihre politischen Subjekte, die Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit

5  Siehe ebd., S. 5.

wurden stets durch die »Entgegensetzung zur weiblichen Natur und zur Pri-

6  Siehe Pateman, S. 25.

vatsphäre entlang patriarchaler Kategorien konstituiert«3. Die Trennung der öffentlichen zivilen Welt und der privaten, ehelichen bzw. familiären Sphäre

7  John Locke, The Second Treatise on Civil Government, 1986, S. 50. 8  Thomas Hobbes, Leviathan, or The Matter, Forme, & Power of a Common-Wealth Ecclesiasticall and Civill, London 1651, S. 8, S. 162, S. 194 u. S. 207. 9 

Rousseau, S. 174 [Hervorh. i. O.]

war dementsprechend für das moderne Staatswesen eine grundlegende: Die patriarchale Herrschaft der Könige und Väter gegenüber den Söhnen sollte abgelöst werden durch einen brüderlichen Gesellschaftsvertrag4, der die frei geborenen Söhne von ihren Ketten befreie5 und sie befähige, in einem Akt der Vernunft einen zivilen politischen Körper zu gebären6. Dieser eine Körper, der »one people one body politic under one supreme government«7 konstituiert, dieser »Artificial Man«8 oder ein »künstlicher Mensch«9 bildet in seiner Symbolhaftigkeit die Grundlage ebenjener

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Vorstellung einer bürgerlichen Gesellschaftsordnung, die zwar die patriarchal-feudale Ordnung auflöste, aber einen modernen Patriarchalismus10 auf Kosten von Frauen rekonstruierte. Die klassisch liberalen Bestrebungen machten aus Individuen dementsprechend Rechtssubjekte – aber eben nur männliche. »Frauen hatten sich auf die ›Privatsphäre‹, nämlich ›Bett‹ und ›Herd‹ zu beschränken«11. Die Verfügungsgewalt des männlichen Familienoberhauptes über die weiblichen Familienangehörigen ließe sich, wie Rousseau schon in seiner Schrift »Émile« ausführt, durch die natürlichen Eigenschaften der Geschlechter erklären: Frauen könnten eben nicht aus der eigenen Vernunft

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Widerstand und Dissidenz  —  Analyse

10  Die väterliche Version des Patriarchats, welche die Unterordnung des Sohnes unter den Vater vorsah, wurde durch eine »männliche Version (Gatte/Gattin)« in der liberalen bürgerlichen Gesellschaft bzw. Rousseaus partizipatorische Gesellschaftsordnung wurde demzufolge nur abgelöst; vgl. Pateman, S. 25.

11  Eva Kreisky, Der Stoff, aus dem die Staaten sind: Zur männerbündischen Fundierung politischer Ordnung, in: Regina Becker-Schmidt u. Gudrun-Axeli Knapp (Hg.), Das Geschlechterverhältnis in den Sozialwissenschaften, Frankfurt a. M. 1995, S. 85–124, hier S. 85. 12  Siehe Barbara Caine, English Feminism: 1780–1980, Oxford 1997, S. 17.

heraus handeln.12 Rousseaus Sophie ist daher ein Wesen des Heimes und der Familie, während Émile zum mündigen Citoyen erwächst. Der Staat war somit von Beginn an ein Gebilde, das durch Männer erschaffen wurde – so bereits die schwedische Schriftstellerin Selma Lagerlöf, die, ob der vielfältigen Mängel dieses staatlichen Gebildes, Frauen aufforderte, sich unbedingt in die Belange von Staatswesen und Politik einzumischen: »Ach, wir Frauen sind keine vollkommenen Wesen! Ihr Männer seid nicht vollkommener als wir sind. Wie können wir das, was groß und gut ist, erreichen, wenn wir uns nicht gegenseitig helfen? Wir glauben nicht, daß das Werk auf einmal

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zu erfüllen sei, aber wir glauben, daß es Torheit sein würde, unsere Hilfe zurückzuweisen.«13 Die Kritik der Frauen richtete sich in der Folge auf body politic(s), für die der Ausschluss weiblicher Subjekte konstitutiv war, und sie verlangten stattdessen, ein legitimer Teil des ›künstlichen Körpers‹ und somit der body politic zu werden. VON SANSCULOTTES, TRICOTEUSES UND HYÄNEN IN UNTERRÖCKEN Die Umwälzungen der Französischen Revolution, die das ›gottgegebene Staatswesen‹ im gesamten europäischen Raum erschütterte, beseitigten die feudale Gesellschaftsordnung des Ancien Régime. Selbstredend waren Frauen Teil jener rebellischen Massen, die den revolutionären Umsturz in Gang setzten und vorantrieben: Es waren schließlich Sansculottes, verächtlich auch Tricoteuses genannt, die »sich am 5. Oktober 1789 zusammenschlossen und nach Versailles marschierten; ihnen folgte am Nachmittag die Nationalgarde. […] Sie läuteten die Sturmglocke, schlugen die Trommeln in den Straßen von Paris, verhöhnten Behörden, rissen Passanten mit sich fort, drangen in Läden und Werkstätten ein, stiegen in den Häusern von Stockwerk zu Stockwerk, um zögernde Schwestern zu zwingen, mit ihnen zum Konvent zu marschieren, wo sie in wachsenden Mengen anlangten und wo schließlich auch bewaffnete Männer zu ihnen stießen. Sie spielten die Rolle der Brandstifterinnen, wie die Autoritäten später schreiben werden«14. Die »Déclaration des droits de l’homme et du citoyen« goss die gesellschaftsvertragliche Idee in eine Form, die auch das Recht von Frauen in den Mittelpunkt der politischen Aushandlung von Staat und Politik rückte.15 Ein Großteil der Versprechen der Französischen Revolution blieben jedoch uneingelöst, sodass Olympe de Gouges sich genötigt sah, 1791 ihre »Déclaration des droits de la femme et de la citoyenne« zu veröffentlichen, die Nationalversammlung mit Petitionen zu bestürmen und erste Frauenvereine zu gründen. Ihr gebühre der Ruhm, wie die deutsche sozialistische Frauenrechtlerin Lily Braun formulierte, »die Frauenbewegung zuerst organisiert und zu einem beachtenswerten Faktor im öffentlichen Leben gemacht zu haben«16. De Gouges aber bezahlte ihr Engagement mit dem Leben, denn die Revolutionäre nahmen Artikel X17 ihrer Schrift ernst und verurteilten sie zum Tod durch die Guillotine. In den deutschen Ländern war es vor allem Gottlieb Hippel, der den expliziten Ausschluss der Frauen von staatsbürgerlichen Rechten kritisierte; im Vereinigten Königreich avancierte derweil Mary Wollstonecraft zu einer wichtigen Inspirationsfigur der frühen Frauenbewegung. Wollstonecrafts Einwürfe fokussierten sich vor allem darauf, die Rousseau’sche Sophie aus der Enge des Heimes und von ihren »Fehlern«18 zu befreien, ihr die

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13  Selma Lagerlöf, Heim und Staat, Düsseldorf 1913, S. 85–124, hier S. 119. 14  Dominique Godineau, Töchter der Freiheit und revolutionäre Bürgerinnen, in: Geneviève Fraisse u. Michelle Perrot (Hg.), Geschichte der Frauen. 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2006, S. 25–44, hier S. 26. 15  Siehe Elisabeth G. Sledziewski, Die Französische Revolution als Wendepunkt, in: Geneviève Fraisse u. Michelle Perrot (Hg.), Geschichte der Frauen. 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2006, S. 45–62, hier S. 45. 16  Lily Braun, Die Frauenfrage, ihre geschichtliche Entwicklung und wirtschaftliche Seite, Leipzig 1901, S. 74. 17  Da die Frauen das Recht haben, »das Schafott zu besteigen«, müsse ihnen eben auch »das Recht zugestanden werden, eine Rednertribüne zu besteigen«; vgl. Olympe de Gouges, Erklärung der Rechte der Frau, in: Regula Wyss u. a. (Hg.), Erklärung der Rechte der Frau, Basel 1989, S. 42. 18  Mary Wollstonecraft, Eine Verteidigung der Rechte der Frau, Leipzig 1989, S. 304.

19  Gertrud Bäumer, Die Geschichte der englischen Frauenbewegung, in: Dies. u. Helene Lange, Handbuch der Frauenbewegung. I. Teil: Die Geschichte der Frauenbewegung in den Kulturländern, Berlin 1901, S. 225–288, hier S. 235.

gleiche Erziehung und die gleichen Rechte wie Émile zuzugestehen und sie damit zu einer mündigen Bürgerin zu machen. Wollstonecrafts kämpferische Kompromisslosigkeit und Kritik an Rousseau wurden zwar mit Häme quittiert – ihr Zeitgenosse Earl Horace Walpole verspottete sie als »Hyäne in Unterröcken«19 –, doch verhinderte dies nicht die bedeutsame Legitimationsfunktion ihrer Schriften für Frauenrechtler_innen in ganz Europa.

20  Theodor G. von Hippel, Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber, Berlin 1792, S. 251. 21  Sledziewski, S. 48. 22  Siehe Eva Maria Hinter­ huber u. Jana Günther, Der Kampf um Macht: Historische Frauenbewegungen in Russland und Großbritannien im Vergleich, in: Femina Politica, Jg. 26 (2017), H. 1, S. 24–39, hier S. 27 ff. 23  Anna Köbberling, Zwischen Liquidation und Wiedergeburt. Frauenbewegung in Rußland von 1917 bis heute, Frankfurt a. M. 1993, S. 14. 24  Siehe ebd. 25  Siehe ebd., S. 15. 26  Siehe Günther Stökl, Russische Geschichte, Stuttgart 1990, S. 596. 27  Zwar blickte auch die breitgefächerte britische Bewegung auf eine lange Tradition zurück, doch ein Teil der Bewegung griff Anfang des 20. Jahrhunderts zu neuen Mitteln, um endlich das Frauenstimmrecht zu erlangen. Mit der Gründung der Women’s Social and Political Union (WSPU) 1903 aus einem Kreis an aktiven Mitgliedern der Independent Labour Party wurden Widerstandsformen und Protestmethoden der aktiven Arbeiter_innenschaft in die Frauenbewegung übertragen. 28  Siehe Rebecca West, A Reed of Steel: Essay on Mrs Pankhurst from The Post-Victorians, 1933, in: Dies. u. Marcus, Jane (Hg.), A Reed of Steel: Writings of Rebecca West, 1911–17, New York 1982, S. 261.

Nahezu zeitgleich proklamierte Hippel im deutschsprachigem Raum, dass je »länger man sich nicht entblödet, den Weibern Stimme und Sitz in allem dem was, was Vaterlands- und Staatswürde betrift [!], so ungerecht zu nehmen; [!] je ärger wird dies Geschlecht ausschweifen, sobald die Zäume des Zwanges und der Sklaverei zerrissen sind«20. Jene Zögerlichkeit, die Frauenfrage in den sich langsam herausbildenden parlamentarischen Institutionen zu verhandeln, gab den Startschuss für die sich zunächst national konstituierenden Frauenbewegungen, dem die Organisation auf internationaler Ebene folgte. BODY POLITICS ALS VERKÖRPERUNG WIDERSTÄNDIGER: ­NIHILISTINNEN, MILITANTE, RADIKALE Hatte die Französische Revolution den Frauen demnach gezeigt, dass sie »keine Kinder sind«21, bildete sie erst den Auftakt für die Militanz und Streitbarkeit der Revolutionärinnen. Generationen von Frauenbewegten, wie bspw. die Suffragettenbewegung in Großbritannien, die Radikalen und Nihilistinnen in Russland22 oder die Radikalen Frauenrechtlerinnen im wilhelminischen Kaiserreich, folgten und trugen die Frauenfrage aus den Salons auf die Straße – und damit in eine größere Öffentlichkeit. Die russischen Nihilistinnen strebten bspw. eine »totale Freiheit im anarchistischen Sinne«23 an. Ihnen ging es um sexuelle Selbstbestimmung sowie gleiche Bildungschancen für Frauen und Männer – Ziele, die nicht nur politisch erreicht werden, sondern sich auch in progressiven Lebensformen widerspiegeln sollten.24 Auch unter den russischen Radikalen, die den Zarismus durch politischen Mord beenden wollten, fanden sich nachweislich zahlreiche prominente Frauen; dennoch wurde die Bewegung der Frauen nach dem gelungenen »Tyrannenmord« an Alexander II. 1881 weitgehend in die Illegalität gedrängt.25 Erst mit dem Beginn der Russischen Revolution 1905 trat die Frauenbewegung in Russland erneut in Erscheinung.26 Etwa zur gleichen Zeit machten in Großbritannien die militanten Suffragetten27 von sich reden. Prominente Anführerinnen der militanten britischen Stimmrechtsbewegung wie Emmeline Pankhurst28 identifizierten sich nachweislich mit den Zielen der Französischen Revolution und entlehnten Jana Günther  —  Body Politics Revisited

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Bewegungsinsignien und -symbole dem französischen Revolutionskontext29. Setzte die bis dato etablierte Frauenstimmrechtsbewegung auf althergebrachte Methoden wie Petitionen, Lobbyarbeit und sorgfältig geplante Versammlungen, griffen Suffragettenorganisationen wie die Women’s Social and Political

29  Vgl. Jana Günther, Die ­politische Inszenierung der Suffra­ getten in Großbritannien. Formen des Protests, der Gewalt und symbolische Politik einer Frauenbewegung, Freiburg 2006, S. 84 ff.

Union ( WSPU) auf öffentlichkeitswirksamere Protestaktionen zurück. Diese reichten von Akten zivilen Ungehorsams wie Steuerzahlungs- und Volkszählungsverweigerungen über repräsentative Großdemonstrationen30 bis hin zu militanten Akten gegen die Ordnungsmacht und, später, gezielten destruktiven Gewaltausschreitungen. Insbesondere das »spectacle du nombre«31 der Großdemonstrationen stellte sowohl die Größe und Wichtigkeit des Anliegens als auch der Frauenbewegung insgesamt heraus. Dabei sollte die Aneignung des öffentlichen Raumes durch Straßenprotest erstens ganz bewusst Frauen aus der für sie vorgesehenen, unpolitischen, privaten Sphäre führen und zweitens auch einen, dem männlichen Staatswesen entgegengesetzten, ›künstlichen Mensch‹ inszenieren, welcher der Einheit der politischen Forderung Nachdruck verlieh. Doch nicht nur die Verkörperung einer wehrhaften Suffragettenarmee32, die unter dem Motto »Deeds not Words«33 für das Frauenstimmrecht ins Feld zog, wurde bewusst inszeniert; auch der eigene Körper wurde zur politischen Ausdrucksform. Die neue Streitbarkeit der modernen Frau, die für ihre Rechte auch ihre körperliche Unversehrtheit – etwa durch Auseinandersetzungen mit der Polizei oder Hungerstreiks nach der Inhaftierung – aufs Spiel setzte, war ein politisches Statement. Die Anhängerinnenschaft ermutigte es, zumindest in den Anfangsjahren, zu neuen Taten und der stete öffentliche Skandalon bespielte die Klaviatur einer sich neu um die Jahrhundertwende konstituierten Medienökonomie34. Die Taktiken zivilen Ungehorsams und gezielten Widerstands gegen ein Parlament, das Frauen jegliche Mitbestimmungsmöglichkeit versagte, bildeten einen wichtigen Kristallisationspunkt für die Frauenbewegungen jenseits Großbritanniens. Im wilhelminischen Kaiserreich waren es etwa die Radikalen des bürgerlichen Frauenbewegungsflügels, welche die Suffragetten für ihre Opferbereitschaft und Streitbarkeit bewunderten und gemäßigtere Protestformen wie Demonstrationen zu übernehmen versuchten, der Überzeugung folgend: »Suffragetten sprechen aber nicht nur, sie handeln auch«35. BODY POLITICS ALS RECHT AUF SELBSTBESTIMMUNG VON FRAUEN: DAS PRIVATE WIRD POLITISCH Spätestens mit den 1968ern und dem Wiederaufleben der Frauenbewegung nach zwei Weltkriegen wurden alte Fäden wieder aufgenommen. So berichtet Gisela Bock, in den neuen feministischen Bewegungen seien »wir uns unserer

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30  Letztendlich galt es, die in der Presse und bei der liberalen Regierung geschürte Meinung, der weitaus größere Teil der weiblichen Bevölkerung wünsche gar kein Frauenstimmrecht, zu widerlegen. 31  Myriam Boussahba-Bravard, Vision et visibilité. La rhétorique visuelle des suffragistes et des suffragettes britanniques de 1907 à 1914 in: lisa, Jg. 1 (2003), H. 1, S. 48. 32  Vgl. Sophia A. van ­Wingerden, The Women’s Suffrage Movement in Britain, 1866– 1928, Basingstoke 1999, S. 81. 33  Suffragetten zerschlugen Fensterscheiben; vgl. Martin Pugh, The Pankhursts, London 2002, S. 192. Auf diese Weise entglasten sie ganze Einkaufspassagen; vgl. Andrew Rosen, Rise up, Women! The Militant Campaign of the Women’s Social and Political Union, 1903–1914, London 1974, S. 175. Besonders beliebte Ziele der Angriffe waren Orte mit symbolischer Bedeutung, Plätze der politischen Macht und damit der männlichen Öffentlichkeit. Auf Golfplätze wurde das Motto »Votes for Women« mit Säure geätzt und Tribünen wurden zerstört. Auch Privathäuser von Regierungspolitikern, Museen, Gemälde und Kirchen, prominente Orte wie Pavillons – bspw. das Orchideenhaus in den Kew Gardens oder die Schaukästen der Kronjuwelen im Tower of London – konnten zu Angriffszielen werden; vgl. Wingerden, S. 144. 34  Siehe Robert C. Ensor, England 1870–1914, Oxford 1936, S. 532. 35  Hedwig Weidemann, Propaganda und Suffragettes, in: Centralblatt, Jg. 12 (1910), H. 6, S. 42.

gesellschaftlichen Ohnmacht bewußt [geworden] und taten uns zusammen, sie zu bekämpfen; zweitens erkannten wir, daß wir anders sind, als die Gesellschaft uns haben will, definiert, zugerichtet, anders als das Bild, das man sich von uns macht«36. Zwar war das Wahlrecht erlangt worden, doch von einer realen Gleichberechtigung der Geschlechter war in vielerlei Hinsicht wenig zu spüren. War die Nachkriegszeit doch vor allem geprägt von einem rigiden Familismus, der in Westeuropa und den USA für Frauen nachteilige Ehe- und Scheidungsgesetze, Abtreibungsverbote usw. bereithielt und zugleich eine auf die Hausfrauenehe ausgerichtete Familien- und Sozialpolitik forcierte.37 Die Neue Frauenbewegung in der Bundesrepublik war aber auch ein 36  Gisela Bock, Feministische Wissenschaftskritik, in: Ingrid Kurz-Scherf u. a. (Hg.), Reader feministische Politik & Wissenschaft. Positionen, Perspektiven, Anregungen aus Geschichte und Gegenwart, Königstein/Ts. 2006, S. 138–141, hier S. 138. 37  Vgl. Gisela Notz, Kritik des Familismus, Stuttgart 2015, S. 80 ff. 38  Gisela Notz, Die letzte Schlacht gewinnen wir!, in: Elmar Altvater u. a. (Hg.), »Die letzte Schlacht gewinnen wir!« 40 Jahre 1968 – Bilanz und Perspektiven, Hamburg 2008, S. 12–20, hier S. 39. 39  Vgl. Helke Sander, Rede vom 13.09.1968 (aktionsrat der frauen), in: Ilse Lenz (Hg.), Die Neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Eine Quellensammlung, Wiesbaden 2008, S. 59–63, hier S. 60. 40  Ute Gerhard, Frauenbewegung und Feminismus. Eine Geschichte seit 1789, München 2009, S. 112. 41  Siehe Kathleen C. Berkeley, The Women’s Liberation Movement in America, Westport 1999, S. 65 ff. 42  Vgl. ebd., S. 112. 43  Siehe Notz, Kritik des Familismus, S. 114.

Ergebnis der »Geschlechtsblindheit der Studentenbewegung, deren ›Macher‹, die männlichen SDS-Mitglieder, die spezifische Ausbeutung der Frauen im privaten Bereich tabuisierten«38. Diese Macher verstanden sich zwar als revolutionär, waren aber selbst nur ein Spiegelbild gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse, insofern Familienarbeit weiterhin Frauensache blieb und damit den Männern den Verbleib in ihrer durch das Patriarchat stabilisierten Identität ermöglichte.39 Nicht zuletzt standen die länderübergreifend geführten Kampagnen gegen die strafrechtliche Ahndung von Schwangerschaftsabbrüchen in »allen neuen feministischen Bewegungen beispielhaft für die Kontrolle und Indienstnahme weiblicher Sexualität«40. Auch in den USA der 1970er Jahre standen ein ganzes Bündel an Themen – Kinderbetreuung, medizinische Versorgung von Frauen, Schwangerschaftsabbruch und Kampagnen gegen Gewalt an Frauen – auf dem Tapet.41 Body Politics so verstanden, rückten die Ausbeutung des weiblichen Körpers, die Forderung nach körperlicher Unversehrtheit und sexueller Freiheit ins Zentrum des feministischen Widerstands und stellte damit gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten infrage. Zugleich wurden Lösungsmöglichkeiten, die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung aufzulösen, etwa Hausarbeit aufzuwerten bzw. zu entlohnen42, gesucht. Der damit verbundene Slogan »Das Private ist Politisch« sollte die Grenzen zwischen der öffentlichen und privaten Sphäre neu justieren und entwerfen43. Er steht mithin Pate für diese Verschiebung der Vorstellung des Politischen. Der Kern der Neuen Frauenbewegung in Europa und des Women’s Liberation Movement im englischsprachigem Raum war demnach das vehemente Hinterfragen der Grenzen zwischen politischer/öffentlicher und privater Sphäre. Dieser Kern schuf denn auch den Möglichkeitsraum für body politics – zunächst identitätspolitisch gerahmt unter dem Credo Wir Frauen –, zu subjektivieren und von einem künstlichen Menschen unabhängig zu machen. Die Zugehörigkeit zu diesem war – wie für die gesamten 68er – vor dem Hintergrund zweier Weltkriege Jana Günther  —  Body Politics Revisited

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und des Nationalsozialismus ein kritischer Reflexionspunkt für diese Generation an Feministinnen, die sich als basisdemokratisch definierten und »Stellvertreterpolitik, erst recht ›Führerinnen‹«44 ablehnten. Vielmehr gründeten sich kleine, autonom organisierte Gruppen.45 Die Widerständigkeit dieses Protestmilieus drückte sich nicht nur über öffentlich demonstrativen Protest aus, sondern auch in offen gelebten, neuen alternativen Lebenspraxen: Neben Weiberräten und Frauengruppen gründeten die Aktivistinnen Frauen­ zentren, autonome Frauenräume sowie Kinderläden46, die das Bedürfnis nach Autonomie und individueller Selbstbestimmung widerspiegelten. So wurden die Frauengruppen als demokratische Foren konnotiert und die autonome Selbstorganisation als eine Abgrenzungsstrategie gegen zu hierarchische und männerdominierte staatliche Institutionen gewählt.47 BODY POLITICS ALS RECHT AUF KÖRPERLICHE ­S ELBSTBESTIMMTHEIT UND ÖFFENTLICHE INSZENIERUNG: FEMEN, PUSSY RIOT, WOMEN’S MARCH Besondere Spannungen bildeten seit jeher Herrschafts- und Machtverhältnisse, die sich in der Frauenbewegung selbst abbildeten und damit verdeutlichten, dass Frauen auf durchaus unterschiedliche Weise von Ausbeutungsverhältnissen und Ausschlüssen betroffen sein können.48 Die identitätspolitische Konstruktion »Wir Frauen« stößt seit jeher bei Themen wie Rassismus, Heteronormativität und Klassenstatus an ihre Grenzen – dies nicht erst mit dem Aufkommen der Neuen Frauenbewegung, dort aber in neuer Schärfe. Im feministischen Protestdiskurs wurden und werden jene Einsprüche jedenfalls von in der Frauenbewegung selbst marginalisierten Gruppen vehement hervorgebracht.49 Diese Widersprüchlichkeit wurde nicht zuletzt von Judith Butler Anfang der 1990er Jahre thematisiert und durch den Vorschlag aufgelöst, nicht von einer »›Einheit‹ der Kategorie ›Frauen‹« auszugehen, sondern vielmehr bestimmte Formen »anerkannter Fraktionsbildung« zu akzeptieren und damit Solidarität und Bündnispraxen zu erleichtern.50 Körper, und darauf weist Butler dezidiert hin, sind demnach nicht der Träger ganz bestimmter Identitäten51, die sich zu einem künstlichen Menschen oder künstlichen Körper – sei es ein Protestkörper wie bspw. bei den Suffragetten oder der künstliche Mensch des Nationalstaates – kollektivieren lassen. Vielmehr wird der Körper selbst durch performative Akte zu einem Zeichen, dem ganz unterschiedliche Werte beigemessen werden können. Dies eröffnet schließlich Gestaltungs- und Interpretationsspielräume, die durch das Selbst getragen werden. Body Politics als eigentliche Körperpolitik – und nicht als Metapher eines politischen zu konstituierenden Körpers und damit Staates – zu verstehen

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44  Gerhardt, S. 112. 45  Vgl. ebd. 46  Vgl. Notz, Die letzte Schlacht gewinnen wir!, S. 118. 47  Vgl. Eva Maria Hinterhuber u. Gabriele Wilde, Cherchez la Citoyenne! Eine Einführung in die Diskussion um »Bürger- und Zivilgesellschaft« aus geschlechterpolitischer Perspektive, in: Femina Politica, Jg. 16 (2007), H. 2, S. 9–18, hier S. 10. 48  In der frühen russischen Frauenbewegung kam es zwischen Sozialistinnen und Feministinnen zu unüberbrückbaren Konflikten; die Frauenbewegung im deutschen Kaiserreich spaltete sich an der Klassenfrage zwischen der gemäßigten, der radikalen und der proletarischen Frauenbewegung; und in Großbritannien kam es zu einer Spaltung in der Bewegung hinsichtlich der angewendeten Mittel zwischen militanten und konstitutionellen Bewegungsströmungen. Vgl. Hinterhuber u. Günther, S. 33 ff. 49  Als Beispiele seien das Bostoner Combahee River Collective und deren Manifest »A Black Feminist Statement« (1974) sowie die Einsprüche von Aktivistinnen der Black Liberation Movement wie Angela Davis in ihrem Buch »Women Culture and Politics« (1984) genannt. 50  Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M. 1991, S. 35. 51  Siehe ebd., S. 199 f.

und damit Subjekte nicht in ihrer Materialität, sondern ihrem Streben nach Freiheit wahrzunehmen, ist ein Anliegen, das sich in den (queer-)feministisch geprägten Bewegungen nach dem Fall des sozialistischen Ostblocks zeigt. Dabei koexistieren klassische feministische Anliegen, wie das Recht auf körperliche Unversehrtheit und gegen sexuelle Ausbeutung, vorgebracht durch FEMEN in der Ukraine, #metoo weltweit, Anti-rape protests in Indien, neben

Protestgruppen wie Pussy Riot und ihrem »feministischen Anti-Putinismus« in Russland oder die Women’s Marches anlässlich der Anti-Trump-Proteste in den USA , die generell aktuelle staatliche Politik angreifen und auf Demokratiedefizite, Heterosexismus und Rassismus aufmerksam machen. Dabei ist dem vielfältigen queer-feministischen Aktivismus der jüngeren Zeit zu verdanken, feministische Themen und Ziele für allgemein geschlechterpolitische Fragestellungen zu öffnen und gleichermaßen für intersektionale Ungleichheitsmechanismen zu sensibilisieren. Body Politics verweist aber nicht nur auf die politische Agenda (queer-)feministischen Protests; der Körper selbst avanciert zum symbolträchtigen Mittel der Zurschaustellung widerständigen Handelns. Insbesondere die Nacktproteste der FEMEN und die Kirchenbesetzungen durch die Punkrockband Pussy Riot52 erreichten durch ihre Aktionen und den konsequenten Körpereinsatz – ähnlich wie seinerzeit die Suffragetten-Proteste – besondere mediale Aufmerksamkeit. Zudem bewirkte das »spectacle du nombre«53 der weltweit organisierten Women’s ­Marches 2017 auch ein neues Bewusstsein hinsichtlich feministischen Wider52  Siehe Eva Maria Hinterhuber, »Pussy Riot«: Feministischer Widerstand gegen das System Putin, in: Femina Politica, Jg. 21 (2012), H. 2, S. 141–147. 53  Boussahba-Bravard, S. 48. 54  Butler, S. 35.

stands gegen bestehende Herrschaftsverhältnisse und politische Willkür und zeigte, dass politisches Handeln nicht einer Einheit bedarf, sondern dass ein »offenes Bündnis«, welches »Divergenzen, Brüche, Spaltungen und Splitterungen als Teil des oft gewundenen Demokratisierungsprozesses akzeptiert«54, nur durch dialogische Verständigung zu erreichen ist. Dieses besondere Spannungsfeld von Body Politics macht die Widersprüchlichkeit einerseits und die Kontinuität feministischen Widerstands andererseits aus.

Jana Günther, geb. 1978, promovierte Sozialwissenschaftlerin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Dresden am Lehrbereich Makrosoziologie. Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind soziale Bewegungen und Protestforschung, Sozialstrukturanalyse und soziale Ungleichheit sowie klassische feministische Theorie. Derzeit arbeitet sie an einem Projekt, das sich mit Frauen in der Kriegsindustrie auseinandersetzt.

Jana Günther  —  Body Politics Revisited

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VOM HYPE IN DIE ­BEDEUTUNGSLOSIGKEIT? DIE NUIT-DEBOUT-BEWEGUNG IN FRANKREICH ΞΞ Teresa Nentwig

Paris, 41. März 2016. Menschenmengen drängen sich am Nachmittag auf dem Platz der Republik. Moment: 41. März 2016? Ja, das Datum ist korrekt. Hier liegt kein Schreibfehler vor, denn die Bewegung Nuit debout (»Aufrecht in der Nacht«) wollte – wie schon die Revolutionäre des Jahres 1789 – eine neue Zeitrechnung einführen. Die erste Zusammenkunft der Bewegung hatte am 31. März 2016 am selben Ort stattgefunden. Bereits da hatten sich die Anwesenden entschieden, den Monat März einfach weiter zu zählen. Der 41. März 2016 war dem gregorianischen Kalender folgend somit der 10. April 2016. DIE REFORM DES ARBEITSRECHTS ALS KRISTALLISATIONSPUNKT Doch wer oder was ist diese Bewegung, die eine neue Zeitrechnung vornimmt? Am besagten 31. März 2016 fand in Paris eine Demonstration gegen die von der sozialistischen Regierung geplante Reform des Arbeitsrechts statt. Jene Reform sollte bspw. Abweichungen von der 35-Stunden-Woche durch Vereinbarungen auf Betriebs- statt wie bisher auf Branchenebene ermöglichen, geringere Ausgleichszahlungen bei Überstunden einführen und betriebsbedingte Kündigungen erleichtern. Studierende gaben dem geplanten Gesetz daher den Namen loi précarité 1 (»Prekaritätsgesetz«). Dieser geplante Einschnitt rief eine neue Form des Demonstrierens hervor: Die Teilnehmenden gingen nach der Demonstration am 31. März nicht nach Hause, im Gegenteil: Sie blieben und besetzten den Platz der Republik – jenen zentralen und symbolträchtigen Ort mit dem 1883 eingeweihten »Denkmal für die Republik«, das die Inschrift »Liberté, Égalité, Fraternité« trägt. Hier hatten sich die Franzosen schon Anfang 2015 nach den Anschlägen auf die Redaktion von Charlie Hebdo und auf einen jüdischen Supermarkt versammelt. Hier hatten sie getrauert, als die Nation im November 2015 durch das Attentat im »Bataclan« erschüttert worden war. Der Platz stand im Frühjahr 2016 somit als Sinnbild für die Bedeutung der Bürgerinnen und Bürger in der Republik. So wurde auf dem Platz der Republik an jenem 31. März die Basis für eine Bewegung gelegt, die schnell mit den spanischen Indignados (»Die Empörten«) oder mit Occupy Wall Street verglichen wurde. Denn hatten sich zu

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1  Zit. nach Adrien de Tricornot, Cours alternatifs et débats à Paris-­ VIII, in: Le Monde, 05.04.2016.

Beginn lediglich rund zwei- bis dreihundert junge Menschen auf dem Platz der Republik versammelt, so waren es am 3. April 2016 bereits tausend bis zweitausend Menschen. Rasch weitete sich die Bewegung, nicht zuletzt durch die Mobilisierung über die sozialen Netzwerke, auf weitere französische Städte wie etwa Lyon, Rennes und Toulouse aus. Inhaltlich ließ Nuit debout die Konzentration auf die Proteste gegen die Arbeitsmarktpolitik der Regierung schnell hinter sich. Die sogenannten Nachtschwärmer traten nun vielmehr für ein Gesellschaftsprojekt ein, das an sozialer und ökologischer Gerechtigkeit orientiert war. Mit dieser neuen, inhaltlich breiten Schwerpunktsetzung ging auch ein Wandel der Aktionsformen einher: Man stellte sich nicht einfach auf den Platz der Republik und hielt Plakate in die Luft, auf denen die eigenen Forderungen zu lesen waren. Vielmehr wurden commissions thématiques (»thematische Kommissionen«) und assemblées générales (»Vollversammlungen«) organisiert, deren Teilnehmende – je nach Belieben – standen oder auf Kissen, Isomatten bzw. Pappe auf dem Boden saßen – und dies allabendlich, bis in die tiefe Nacht hinein. Während Kommissionen zu unterschiedlichen Themen, bspw. zu »politischer Ökonomie«, »Klima/Ökologie« und »Grundeinkommen«, gebildet wurden, konnte bei den Vollversammlungen jeder beliebige Gegenstand aufgegriffen werden. Dies hatte zur Folge, dass sich in den Kommissionen Dialoge entwickelten, während sich in den Vollversammlungen ein Statement an das andere reihte, oft ohne jegliche Verbindung untereinander. Jeder, der wollte und konnte, meldete sich zu Wort. Doch jeder sprach in seinem eigenen Namen und nicht im Namen des Kollektivs. Nuit debout setzte damit das um, was sich die Bewegung auch für das gesamte politische System wünschte: dass die in einer Demokratie lebenden Menschen sichtbar werden. Es ging um mehr Mitspracherechte, um eine Form gemeinsamer Erfahrungen. Teilweise gab es auf dem Platz der Republik aber auch prominente Redebeiträge. So äußerten sich der Vorsitzende der Gewerkschaft CGT, Philippe Martinez, und der ehemalige griechische Finanzminister Yanis V ­ aroufakis. Wie groß das Interesse an dem, was sie und die »normalen« Bürgerinnen und Bürger sagten, war, zeigt sich daran, wie gut die Liveübertragungen im Internet angenommen wurden: Allein am 3. April 2016 waren bis zu 80.000 Menschen über die Videoplattform Periscope bei den Geschehnissen auf dem Platz der Republik dabei. Obwohl über die einzelnen Wortbeiträge per Handzeichen abgestimmt wurde, formulierte Nuit debout keine präzisen politischen Forderungen. Der Politologe Yves Sintomer begründete dies mit der »Idee, dass das Vertreten klar formulierter Forderungen bedeutet, sich in einem Spiel von Verhandlungen Teresa Nentwig — Vom Hype in die B ­ edeutungslosigkeit?

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und von Institutionalisierung zu engagieren, bei dem eine spontane Bewegung wie diese nur verlieren könne. Um Forderungen zu haben, für sie zu stehen und sie langfristig zu verhandeln, braucht man eine Organisation. Nuit debout drückt eher Werte aus, eine Vision, eine Utopie. Es handelt sich um Leute, die aus sehr unterschiedlichen Richtungen kommen und die der Tatsache, Entscheidungen in konsensueller Form zu treffen, eine ziemlich große Bedeutung beimessen. Sobald sich die Dinge in Gestalt von Forderungen präzisieren würden, gäbe es Brüche.«2 Nuit debout war aber nicht nur »ein authentischer und direkter politischer Ort«3, sondern bot darüber hinaus Unterhaltung und Ablenkung: Es gab Konzerte, Tanz-, Trommel- und Malgruppen sowie Meditationsworkshops; kleine Gärten wurden angelegt; an verschiedenen Ständen konnte man sich mit Essen und Trinken versorgen und mit anderen Besucherinnen und Besuchern ins Gespräch kommen. Die Geschehnisse auf dem Platz der Republik hätten »das Zeug zum selbstverwalteten Freizeitpark«4, spottete der Philosoph Guillaume Paoli. DIE PERSONEN IM HINTERGRUND Nuit debout lehnte Hierarchien und damit auch einen Sprecher bzw. Anführer ab. Dahinter stand die Sorge, von professionellen Aktivisten vereinnahmt und zu einer traditionellen Organisation mit Repräsentanten zu werden. In der Tat gab es niemanden, der als Organisator in den Vordergrund drängte. Doch neben den sogenannten strukturellen Kommissionen, in denen öffentlich über die Funktionsweise von Nuit debout verhandelt wurde, gab es natürlich hinter den Kulissen »Schlüsselfiguren«, die bspw. das Twitter-Konto 5

der Bewegung bedienten oder die Schlüssel für den Lkw besaßen, in dem das für die Veranstaltungen benötigte Equipment lagerte. Sie sorgten auch dafür, dass die Versammlungen und anderen Aktionen von Nuit debout täglich bei der Pariser Präfektur als Demonstrationen angemeldet wurden. Diese Personen, die sich in der Öffentlichkeit überwiegend lediglich mit ihrem Vor-

2  Zit. nach Raphaëlle Besse Desmoulières, »Un des enjeux du mouvement, c’est de sortir de l’entre-soi«, in: Le Monde, 10./11.04.2016. 3  Patrice Maniglier, Nuit debout: une expérience de pensée, in: Les Temps Modernes, Jg. 71 (2016), H. 5, S. 199–259, hier S. 240. 4  Guillaume Paoli, Der kommende Aufstand, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 01.05.2017.

namen zu Wort meldeten, hatten damit viel Einfluss – umso mehr, als dieser intransparent und infolgedessen nicht hinterfragbar war. Trotz der vielen fleißigen Helferinnen und Helfer bleibt Nuit debout vor allem mit zwei Namen verbunden. Zum einen mit dem Ökonomen, Philosophen

5  Valérie Gérard u. ­ athieu-Hô Simonpoli, Des M lieux et des liens, in: Les Temps Modernes, Jg. 71 (2016), H. 5, S. 6–24, hier S. 16.

und Soziologen Frédéric Lordon, der als »geistiger Vater« der Bewegung gilt. So prangert Lordon den Einfluss der Finanzmärkte auf die Staaten und die Prekarisierung der Arbeitswelt an, macht sich für den Ausstieg Frankreichs aus dem Euro sowie eine Abkehr vom Kapitalismus stark, womit er als Vertreter eines linken Souveränismus gilt.6

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Widerstand und Dissidenz  —  Analyse

6  Zu Lordon vgl. Valentin Ehkirch, Frédéric Lordon, le penseur de Nuit debout, in: M. Le magazine du Monde, 16.04.2016; Violaine Morin, Tribun debout, in: Idées. Le Monde, 23.04.2016.

Zum anderen fällt im Zusammenhang mit Nuit debout rasch der Name ­François Ruffin. Ruffin, Chefredakteur der linksalternativen Zeitung Fakir und Regisseur, hatte mit einigen Freunden am 23. Februar 2016 eine öffentliche Veranstaltung im Pariser Gewerkschaftshaus organisiert, die unter dem Motto »­Ihnen [der Elite, Anm. d.V.] Angst machen«7 (Leur faire peur) stand. Gezeigt wurde seine kapitalismuskritische Dokumentation »Merci Patron!«, die am darauffolgenden Tag in die Kinos kommen sollte. Die Anwesenden entschieden, sich fortan gemeinsam für die »Konvergenz der Kämpfe«8 einzusetzen: Unterschiedliche Gruppen, deren Engagement bislang noch unkoordiniert nebeneinander bestand, sollten ab sofort zusammen für ihre Anliegen eintreten, um diesen mehr Nachdruck zu verleihen. Beim anschließenden Ausklang in einer Bar beschloss eine kleine Gruppe, darunter Ruffin, die erste Kundgebung im Rahmen dieser »Konvergenz der Kämpfe« zu organisieren – es wurde der besagte 31. März auf dem Platz der Republik. »Merci Patron!« lief an diesem letzten Märzabend auf Großleinwand. Bereits vier Tage später hatte die Doku 220.000 Menschen in die Kinosäle der Republik gezogen; im Februar 2017 wurde sie mit dem »­César«, dem höchsten französischen Filmpreis, ausgezeichnet. Trotz ihres gesellschaftskritischen Engagements zogen sich der 42-jährige Ruffin und der 55-jährige Lordon rasch von Nuit debout zurück. Ruffin, dessen Ungeduld sich an der horizontalen Funktionsweise ohne klare Richtung und ohne Positionspapier stieß, schlug stattdessen einen anderen Weg ein: Mit Unterstützung der Grünen, der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF) sowie der Bewegungen La France insoumise (»Das unbeugsame Frankreich«) von Jean-Luc Mélenchon und Ensemble! (»Gemeinsam!«) von Clémentine Autain kandidierte er im Juni 2017 bei den Parlamentswahlen. Dem Rechtspopulismus 7 

Zit. nach Raphaëlle Besse Desmoulières, Nuit debout, histoire d’un ovni politique, in: Le Monde, 07.04.2016. 8  Zit. nach ebd.

des Front National (FN), der in seinem Wahlkreis einige seiner Hochburgen hat, stellte Ruffin erfolgreich einen kämpferischen Linkspopulismus entgegen. Mittlerweile gehört er, bei gleichzeitiger Distanzierung von ihr, der Nationalversammlung und damit der von ihm und Nuit debout kritisierten politischen Klasse an. Doch er leistet Widerstand: Vom Abgeordnetensalär

9  Zu Ruffin vgl. Florence Aubenas, Ruffin, Somme toute, in: Le Monde, 02.06.2017; Marie Campistron, François Ruffin veut faire sa révolution à l’Assemblée nationale, in: L’Obs, 19.06.2017; Martina Meister, Macrons härtester Gegner, in: Welt am Sonntag, 25.06.2017.

bspw. will er lediglich den Mindestlohn behalten und den Rest spenden.9 Gleichzeitig versteht sich Ruffin nicht als normaler Abgeordneter, sondern als »­député-reporter«10 (»Abgeordneter, der gleichzeitig Journalist ist«), mit einem Ziel: »[…] am Ende [meines Mandats, Anm. d.V.] werde ich einen Film machen, den ich ›Merci Macron‹ nennen werde«11. WER KAM ZU DEN VERANSTALTUNGEN VON NUIT DEBOUT?

10 

Zit. nach Aubenas. 11 

Zit. nach ebd.

Um mehr zum sozialen Hintergrund und zu den Motivationen der Teilnehmenden zu erfahren, teilten Wissenschaftler verschiedener französischer Teresa Nentwig — Vom Hype in die B ­ edeutungslosigkeit?

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Universitäten bei den Nuit-debout-Versammlungen Fragebögen aus. Ihr soziales Profil stellte sich dabei als disparat heraus. Es kamen Angestellte, Arbeiter (jeweils mit oder ohne Gewerkschaftszugehörigkeit), Gymnasiasten, Studierende, in prekären Verhältnissen lebende Bildungsbürger, Migranten und Arbeitslose. Nuit debout erreichte demnach junge und ältere Leute, Ärmere und gut Situierte – wobei viele ein hohes Bildungsniveau einte. Auch waren es überwiegend Männer, die auf dem Platz der Republik weilten.12 Die Motivation, bei den abendlichen Zusammenkünften dabei zu sein, hat einer der Teilnehmer prägnant beschrieben: »Wir spürten alle dasselbe Unwohlsein, ein nie dagewesenes Unbehagen gegenüber einem absurden, ungerechten und unterdrückenden ökonomischen System und einer politischen Klasse, die vollständig von unseren Leben gelöst ist. Und jetzt auf einmal haben wir uns erkannt, wir sprechen miteinander und wir wagen zu sagen, alle gemeinsam: Es reicht! Jetzt ist genug! Wir müssen wieder bei null beginnen.«13 Doch so friedlich, wie Nuit debout bislang wirkt, war es nicht immer. Wiederholt kam es am Rande der Zusammenkünfte zu Ausschreitungen: Polizisten wurden von Vermummten mit Wurfgeschossen attackiert, Schaufensterscheiben zerstört, Geschäfte geplündert, Mülleimer und Autos in Brand gesetzt. Die Polizei reagierte mit Tränengas, Schlagstöcken, Wasserwerfern sowie Blend- und Hartplastikgranaten – aus Sicht von Beteiligten derart unverhältnismäßig, dass sich das »Gefühl der Revolte«14 unter den Anwesenden nur noch verstärkte; im Chor skandierten sie: »und alle hassen die Polizei«15. Die Sorge vor fortgesetzten Ausschreitungen resultierte für die Bewegung im weiteren Verlauf in Auflagen durch die Pariser Polizeipräfektur. So durfte bspw. in den Nächten vom 7. bis zum 9. Mai 2016 weder Musik gespielt noch Alkohol getrunken werden. Zudem erhielten Mitte Mai 2016 rund vierzig Personen ein Verbot, an den Demonstrationen gegen die Reform des Arbeitsrechts und an den Versammlungen von Nuit debout teilzunehmen. DAS ENDE Auch im Mai 2016, einige Wochen nach der Entstehung von Nuit debout, kamen auf dem Platz der Republik noch immer jeden Abend Menschen zusammen, doch sie wurden immer weniger. Anfang Juli 2016 waren es nur noch einige Dutzend Personen, die sich – wenn es das Wetter erlaubte – zum Platz der Republik aufmachten. Die Vollversammlung existierte zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr; auch die Neugierigen, die einfach vorbeigekommen waren, gab es nicht mehr. Am 10. Juli 2016 fand schließlich die letzte Veranstaltung der Bewegung auf dem Platz der Republik statt.

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Widerstand und Dissidenz  —  Analyse

12  Vgl. Stéphane Baciocchi u. a., Sortons des clichés à propos de Nuit debout, in: Le Monde, 18.05.2016; Elvire Camus u. a., A Paris, des participants qui se ressemblent, in: Le Monde, 15.04.2016; Michel Kokoreff, Nuit debout sur place: petite ethnographie micropolitique, in: Les Temps Modernes, Jg. 71 (2016), H. 5, S. 157–176, hier S. 158 u. S. 162 f.; o.V., Le participant à Nuit debout est le plus souvent un trentenaire diplômé, in: Le Monde, 10.05.2016. 13  Zit. nach Annick Cojean, #NuitDebout: »Et voilà qu’on se parle, qu’on ose dire tous ensemble: ça suffit! Y en a marre!«, in: Le Monde, 05.04.2016. 14 

Kokoreff, S. 171.

15 

Zit. nach ebd., S. 172.

Die Ursachen für das Scheitern jener verheißungsvollen Bewegung sind vielfältig. Zahlreiche Teilnehmenden hatten den Eindruck, dass die Bewegung zu keinen Ergebnissen gekommen sei: Aus Sorge, auf diese Weise Spaltungen hervorzurufen, wurde kein kollektives Projekt entworfen. Stattdessen blieben Wortbeiträge häufig zusammenhangslos nebeneinander stehen; Abschweifungen waren die Regel. Auf diese Weise setzte bei vielen Besucherinnen und Besuchern ein Gefühl der Ermattung ein. Dass die ursprünglich beabsichtigte »Konvergenz der Kämpfe« nicht stattfand, ist darüber hinaus auf die fehlende Homogenität der Akteure zurückzuführen. Zwischen »­A narchos« und »Autonomen« auf der einen Seite, »Neomarxisten« und »Souveränisten« auf der anderen gab es nur wenige Gemeinsamkeiten. Die Biografien

Teresa Nentwig — Vom Hype in die B ­ edeutungslosigkeit?

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und die Protesterfahrungen der Teilnehmenden unterschieden sich zudem stark, ebenso ihre Haltung gegenüber potenzieller Gewaltanwendung. Und während die einen sich eine Allianz mit politischen Akteuren, etwa dem Linkspopulisten M ­ élenchon, vorstellen konnten, um auf Wahlen Einfluss zu nehmen, Nuit debout gar in eine Partei umwandeln wollten, waren anderen Urnengänge gleichgültig. Trotz – oder gerade wegen – dieser Heterogenität keimte gleichzeitig immer wieder die Vermutung auf, dass es noch eine weitere Entscheidungsebene oberhalb der Versammlungen gebe. Der Philosoph Patrice Maniglier spricht in diesem Zusammenhang auch von dem weitverbreiteten »Gefühl, dass irgendwo eine Macht ohne Gesicht existierte«, welche die »großen Orientierungen der Bewegung vorgab«.16 Auch der Verdacht der Unterwanderung und Manipulation kam auf – und wirkte abschreckend auf viele Bürgerinnen und Bürger, die ihr Engagement daraufhin stoppten. Weiter hängt das relativ schnelle Ende von Nuit debout damit zusammen, dass der Bewegung nicht gelang, sich vom Stadtzentrum auf die Problem­ vororte von Paris – und dort insbesondere auf die jungen Leute – auszudehnen. Zwar gab es unterschiedliche Versuche, die dortigen Bewohnerinnen und Bewohner anzusprechen; aber Nuit debout stieß vor allem auf die seit dreißig Jahren bestehende Schwierigkeit, eine Bewegung der Banlieues zu organisieren und adäquat auf die sozialen, moralischen und politischen Sorgen der dort lebenden Menschen zu antworten. Gerade weil Nuit debout keine Forderungen formulierte, fühlten sich die banlieusards nicht angesprochen. Letztlich blieben die besorgten oder deklassierten Mittelschichtsangehörigen unter sich – sowohl in Paris als auch in den anderen Städten, auf die sich Nuit debout ausweitete. Und nicht zuletzt hatte auch das regnerische und kalte Wetter seinen Anteil daran, dass immer weniger Menschen auf den Platz der Republik kamen. WAS BLEIBT? Wie auch schon die Indignados verstand sich Nuit debout als horizontale Bewegung, die den Politikern und jeder parteipolitischen Vereinnahmung Misstrauen entgegenbrachte und radikale Sozialkritik übte. Doch an die Zehntausende, welche die Indignados auf unterschiedlichen Plätzen versammelt hatten, reichte Nuit debout nicht heran. Anders als in Spanien und den Indignados erkannte sich in Frankreich die breite Mehrheit der Bevölkerung in Nuit debout nicht wieder. Schließlich konnte die Bewegung ihr wichtigstes Ziel – die Rücknahme der Arbeitsrechtsreform – nicht erreichen. Dennoch: In einer Zeit, in der bei vielen Menschen der Eindruck vorherrschte, mit einem blockierten politischen System konfrontiert zu sein, und

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Maniglier, S. 244 f.

in der sich bei nicht wenigen der Unmut über die Verschlechterung der sozialen und ökonomischen Lage in der Hinwendung zu rechts- oder linkspopulistischen Parteien und in Wahlenthaltung kanalisierte, zeugte Nuit debout – ganz im Kontrast dazu – von Lebensfreude, von einem neuen Wir-Gefühl, von dem Willen, sich nicht nur für das eigene Wohlsein, sondern für die Gesellschaft, für das Gemeinwohl einzusetzen. Diese Haltung steht im Gegensatz zu einem Diskurs, der vom wachsenden Individualismus und vom Desinteresse der jungen Leute für die Politik ausgeht. Sowohl jüngere als auch ältere Menschen sind im Frühjahr 2016 zum ersten Mal in ihrem Leben auf die Straße gegangen, haben neue demokratische Praktiken kennengelernt und ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass Erneuerung von unten her angestoßen werden kann. Nicht zu unterschätzen ist zudem, dass durch Nuit debout Aktivisten-Netz17  Zit. nach Catherine Vincent, Toujours debout?, in: Idées. Le Monde, 01.04.2017. 18 

Zit. nach ebd.

werke wieder zum Leben erweckt oder neue geschaffen wurden. Die Nuit-­ debout-Gruppe in Rennes bspw. engagiert sich noch immer auf unterschiedlichen Ebenen, etwa in der Flüchtlingshilfe oder bei Demonstrationen gegen Polizeigewalt. Sie hat eine Plattform geschaffen, die den Mitwirkenden ermöglicht, »in jedem Moment einsatzbereit zu sein«, wie es die Politikwissen-

19 

So die Politikwissenschaftlerin Christine Guionnet, zit. nach ebd.

schaftlerin Christine Guionnet ausgedrückt hat;17 sie charakterisiert diesen Prozess als »Rhizom-Engagement«18: Nach dem Muster eines unter der Erde oder dicht über dem Boden wachsenden Sprosses sei die Bewegung wenig sichtbar, tauche aber punktuell, der politischen Aktualität entsprechend, immer wieder auf. Wie kann damit das Fazit lauten? Zuletzt sind in Frankreich alle Versuche, die politische Repräsentation der Gesellschaft zu erneuern, von dieser selbst ausgegangen. Ob 2012/13 die Manif pour tous (»Demo für alle«) als konservativ-­katholische, gegen die »Ehe für alle« kämpfende Bewegung, 2013/14 die Bonnets rouges (»Rotmützen«) als überparteiliche Bewegung gegen die Steuerpolitik der französischen Regierung, seit 2008 die zadistes als Besetzer von durch Großprojekte bedrohten Gebieten oder eben Nuit debout – diese und einige weitere Bewegungen waren sehr unterschiedlicher Natur.

Dr. Teresa Nentwig, geb. 1982, hat Politik und Französisch in Göttingen und Genf studiert. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die gesellschaftliche und politische Entwicklung in Frankreich, die niedersächsische Landesgeschichte und -politik, das Thema Pädo­ sexualität sowie politische Skandale. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung.

Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sie es nicht geschafft haben, an Reichweite zu gewinnen. Doch auch wenn Nuit debout keine dauerhafte Organisation hervorgebracht hat, kann die Bewegung als ein Zeichen gesehen werden, dass es möglicherweise eine neue Generation von Bürgern gibt, die gewillt sind, aktiv, aber ohne Parteimitgliedschaft an der Politik mitzuwirken. Die Zeit könnte reif sein für »eine Art von iterativer Demokratie«19, bei der es darum geht, dass die Bürgerinnen und Bürger regelmäßig zu einem Thema ihre Vorschläge äußern. Teresa Nentwig — Vom Hype in die B ­ edeutungslosigkeit?

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ZWEIFEL, KRITIK UND DIALOG DIE DEMOKRATIE ALS REVOLTE1 ΞΞ Markus Pausch In Zeiten der Krise und des Vertrauensverlusts in die Institutionen und Akteure der repräsentativen Demokratie ist es nötig, an den Kern des demokratischen Gedankens zu erinnern. Denn die Demokratie ist nicht nur eine Staats- oder Regierungsform, sondern auch eine Lebens- und Interaktionsform. Sie ist untrennbar mit der Idee des Widerstands und der gewaltfreien Revolte verbunden und beginnt dort, wo sich Menschen gegen Ungerechtigkeit und Zwang auflehnen. Nein sagen zu können, ohne sanktioniert zu werden, ist eines ihrer Grundprinzipien. In der öffentlichen Wahrnehmung wird der Begriff der Demokratie trotz vieler gegenteiliger Beteuerungen meist jedoch auf jene mehrheitsorientierte Staatsform reduziert, in der Parteien in möglichst freien und gleichen Wahlen in regelmäßigen Abständen um die Gunst der Bürgerinnen und Bürger buhlen. Dieses kompetitive Verständnis von Demokratie, das der Ökonom Joseph Schumpeter mit den Prozessen des freien Marktes verglich, betont den Wettbewerbscharakter und die Marketing-Orientierung der Parteien­ demokratie. Es unterschlägt allerdings, dass die Demokratie viel mehr ist als das: nämlich die Verwirklichung eines menschlichen Grundbedürfnisses nach Individualität und Freiheit, die stets einer Revolte bedarf – und zwar nicht nur im Politischen, sondern in allen Lebensbelangen. FREIHEIT UND REVOLTE Der Zusammenhang zwischen Demokratie, Freiheit und Revolte ist der menschlichen Existenz von Beginn an eingeschrieben. Schon die Geburt kann als eine Revolte gegen die Einengung des Ungeborenen im Mutterleib, als ein In-die-Freiheit-Streben interpretiert werden. Die Mutter lässt diese Revolte zu und ermöglicht damit Leben und Freiheit des Kindes. Der Mensch ist demzufolge nicht gegen seinen Willen in die Welt geworfen. Wer leben will, muss revoltieren – gegen Zwang, Unterdrückung, aber auch gegen die Absurdität einer Welt, die keine objektive Antwort auf den Sinn des Lebens zulässt und die Einsamkeit der Individuen vor den letzten Fragen schonungslos offenlegt. Albert Camus hat den Protest gegen diese Absurdität als Sinnbild für die unabschließbare Revolte erachtet und dies auf die einprägsame Formel gebracht: »Ich revoltiere, also bin ich.«2

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1  Der vorliegende Beitrag basiert auf Markus Pausch, Demokratie als Revolte. Zwischen Alltagsdiktatur und Globalisierung, Baden-Baden 2017 und fasst die Grundthesen des Buchs zusammen. 2  Albert Camus, Der Mensch in der Revolte, Paris 1997, S. 30.

Schon die erste, durch die Revolte errungene Freiheit ist ein Symbol für die Demokratie. Der Widerstand, der Protest gegen Zwang, wird in einer Demokratie nicht unterdrückt. Befreiung und Emanzipation werden vielmehr unterstützt und bilden den Kern der Demokratie. Ist der Mensch einmal geboren, bleibt ihm das Bedürfnis nach Freiheit und Autonomie erhalten. Er hat es nie auf ewig befriedigt. Immer wieder muss er revoltieren, wenn er frei bleiben oder werden will. Die Revolte ist eine Sisyphos-Aufgabe, die immer neu beginnt. Das gilt folgerichtig auch für die Demokratie. Denn der Mensch hat neben seinem Wunsch nach Individualität und Autonomie auch ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Konformität, das potenziell die Freiheit bedroht. Erich Fromm hat diese widersprüchliche Bedürfnislage entwicklungspsychologisch beschrieben und auf das Politische übertragen3. Diktaturen und autoritäre Systeme stellen stets die Sicherheit und Zugehörigkeit in den Mittelpunkt, während die individuelle Freiheit unterdrückt wird. Das identitätsstiftende Narrativ bezieht sich dabei meist auf ein gemeinsames Volk, eine Nation oder eine Religion. Entweder man gehört dazu oder nicht. Die Freiheit der Individuen ist nicht vorgesehen. Anders in der Demokratie: Sie ist die einzige Staatsform, in der das Bedürfnis nach Freiheit Berücksichtigung findet und sogar ein zentrales Prinzip darstellt. Dabei geht es selbstverständlich nicht nur um die Freiheit einiger weniger, sondern um die gleiche Freiheit aller. Die Freiheit zu ertragen, sich nicht vor ihr zu fürchten, erfordert Mut. Die Sehnsucht nach Zugehörigkeit beruht hingegen auf einem Gefühl des Verlassenseins, der Einsamkeit und der Angst. Nur reife Persönlichkeiten haben gelernt, diese beiden Bedürfnisse in Einklang zu bringen, während autoritäre Charaktere ihre Angst vor der Freiheit durch eine übersteigerte Zugehörigkeit – zu einer Nation, einer Religion o. a. zu übertünchen versuchen. Hier zeigt sich ein für die heutigen Verhältnisse hoch relevanter Zusammenhang zwischen der Reife der BürgerInnen und der Stabilität einer Demokratie. Der aufkeimende Autoritarismus, den wir seit einigen Jahren in Europa und weiten Teilen der Welt beobachten können, hat mit der Angst vor der Freiheit und einer Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Sicherheit zu tun. Bekämpft werden kann er u. a. durch Demokratiebildung, angelegt als lebenslanges Lernen von der Schule bis in die Erwachsenenbildung. DIALOG UND ZWEIFEL Zur Demokratie als Revolte gehören also Menschen, die Nein sagen, wenn das Bedürfnis nach Freiheit unterdrückt wird. Dieses Nein ist immer ein Wi3  Vgl. Erich Fromm, Escape from Freedom, New York 1941.

derspruch gegen Dogmen oder absolut gesetzte Wahrheiten. Nicht umsonst ist die Demokratie historisch durch das Nein gegen die Behauptung einer Markus Pausch  —  Zweifel, Kritik und Dialog

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gott- oder naturgegebenen Hierarchie entstanden. Ausgangspunkt dieses Neins gegenüber Dogmen ist der Zweifel an diesen und an absoluten Wahrheiten. Und die Konsequenz dieses Neins ist der Dialog, der nur möglich ist, wenn Dogmen über Bord geworfen und andere Meinungen als legitim und diskussionswürdig erachtet werden. Albert Camus, der auch als Dramatiker und Theaterregisseur erfolgreich war, hat dies in der Formulierung zusammengefasst, dass auf der Bühne wie im Leben der Monolog dem Tod vorausgehe. Die Formen des Monologs, die uns in der Gegenwart begegnen, sind vielfältig. Sie zeigen sich in den Fernseh-Ansprachen von autoritären Führern wie dem philippinischen Präsidenten Rodrigo Duterte oder dem venezolanischen Präsidenten Nicolás Maduro, in denen kein Widerspruch möglich ist; in als Bürgersprechstunden getarnten Propaganda-Veranstaltungen wie jenen des russischen Staatsfernsehens, in denen die Fragen an Wladimir Putin vorab ausgewählt werden; aber auch – in abgeschwächter Form – in den Twitter-­ Meldungen von Donald Trump oder den vorbereiteten und mit NLP-Methoden4 einstudierten Statements europäischer PolitikerInnen in Interviews und Wahlkampagnen, Werbespots und gesponserten Facebook-Postings. Überall dort ersetzt mehr oder weniger subtil der Monolog den Dialog. Die Formate, in denen Zeit und Raum für dialogische Kommunikation und echte Debatten bestehen, sind selbst in funktionierenden Demokratien durch Beschleunigung und mediale Inszenierung eingeschränkt. Und in den ökonomisch geprägten Lebenswelten der Menschen gehören auf den Monolog geeichte Werbe-Einschaltungen im Rundfunk, im TV, in Sozialen Medien, auf Plakaten und im Briefkasten zum selbstverständlichen Alltag. Das, was wir seit den 1990er Jahren als globalisierte und neoliberal geprägte Weltwirtschaft bezeichnen, hat viele Facetten – eine davon ist die Zunahme von Slogans, Kurznachrichten und Marketing, die allesamt auf Monologen beruhen. Zweifel, Kritik und Dialog – die unabdingbaren Zutaten von Demokratie und Revolte – benötigen Zeit, die offenbar zu einer knappen Ressource geworden ist. Wo das Nein keinen Platz hat, der Zweifel übergangen wird, der Dialog dem Monolog weichen muss, ist die Demokratie am Ende. Dort aber, wo sich Menschen gegen diese Entwicklungen wehren und revoltieren, entsteht sie neu. DIE FORMEN DES WIDERSTANDS Der Widerstand gegen die zahlreichen Formen des Monologs und des Autoritarismus kann seinerseits viele verschiedene Formen annehmen. Albert ­Camus nennt den offenen Aufstand, das Nein eines Sklaven oder den Streik der ArbeiterInnen, aber er geht darüber hinaus. Auch die Arbeit von herrschaftskritischen KünstlerInnen, die durch ihr Werk eine neue Welt erschaffen,

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4  Neuro-Linguistisches ­Programmieren.

zählt er dazu, die fragenden und hinterfragenden JournalistInnen und nicht zuletzt Satire und Ironie. Zu ergänzen wären der zivile Ungehorsam oder die klandestine Unterlaufung autoritärer Herrschaft sowie eine Reihe weiterer widerständiger Ausdrucksformen. Für die demokratische Revolte im Verständnis von Camus ist der Verzicht auf Gewalt jedenfalls ein entscheidendes Kriterium. Denn Revolte und Waffen vertragen sich nicht – auch wenn es historische Situationen geben kann, in denen die Vermeidung noch schlimmeren Unheils bzw. die Selbstverteidigung zu drastischen Maßnahmen verpflichtet. Für die Anwendung von Gewalt gelten jedoch Prinzipien, die nicht leichtfertig über Bord geworfen werden können, wenn man sich der demokratischen Revolte verpflichtet fühlt. Rodion Ebbighausen leitet aus Camus’ Schriften vier Kriterien ab: die Unvermeidbarkeit der Gewalt als Akt der (Selbst-)Verteidigung, das Bewusstsein über das Dilemma der Gewaltanwendung, die Bereitschaft zur Sühne sowie in allen Fällen die Verschonung von Unschuldigen und die Achtung des Gegners als Mensch.5 SOLIDARITÄT ALS UNIVERSELLES PRINZIP Die Demokratie als Revolte definiert sich also über den Widerstand gegen Autoritarismus, Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Es geht nicht bloß um die Befreiung eines oder einer Einzelnen, sondern um die Befreiung aller. Für Camus ist der Mensch zuerst fremd und einsam (solitaire), weil die Welt sein Fragen nach dem Sinn des Lebens unbeantwortet lässt; aber aus dieser von allen geteilten Einsamkeit und der zuerst individuellen Revolte, die zum Leben und zur Freiheit führt, leitet er eine Solidarität ab, die alle in ihrer gemeinsamen existenziellen Erfahrung vereint. Wer das Gefühl der Einsamkeit und des Fremdseins am eigenen Leib erfahren hat, gebiert daraus die Solidarität zu allen anderen. Die Solidarität, die Camus meint, entsteht also gegen die Absurdität der Welt, gegen Unterdrückung, Zwang, Unfreiheit. Doch diese existenziell angelegte Solidarität muss sich wie die Revolte stets erneuern. Sie ist nie ein für alle Mal errungen und benötigt gleichberechtigte Kommunikation und Dialog. Die dialogisch angelegte Demokratie als Revolte ist daher gut mit den demokratie- und diskurstheoretischen Argumenten von Jürgen Habermas in Einklang zu bringen, wie sie insgesamt eine Nähe zur Tradition der Frankfurter Schule aufweist. In Anlehnung an die bereits genannten Entwicklungen hin zum Monolog in unserer Gesellschaft erklärt sich mit der Schwächung des Dialogischen 5  Rodion Ebbighausen, Camus und der Terrorismus, in: Willi Jung (Hg.), Albert Camus oder der glückliche Sisyphos, Bonn 2013, S. 15–41.

auch ein Solidaritätsverlust, der sich in einer Vergrößerung der Einkommensund Vermögensschere zwischen Arm und Reich empirisch niederschlägt. Camus hat sich stets über die Ungleichverteilung in der Welt empört und gegen sie als Journalist und Intellektueller revoltiert. Die Armut der Berber Markus Pausch  —  Zweifel, Kritik und Dialog

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und den Hochmut der französischen Kolonialisten beklagte er ebenso wie die Ausbeutung der ArbeiterInnen im Kapitalismus. Aber auch die Gräuel des Realsozialismus in Stalins UdSSR stellte er an den Pranger. Dabei verwehrte er sich stets gegen jene, die Freiheit und Gerechtigkeit gegeneinander ausspielen wollten. Die Revolte dürfe weder auf Freiheit noch auf Gerechtigkeit verzichten. Er war überzeugt, dass die Unterdrückten nicht nur von ihrem Hunger befreit sein wollen, sondern auch von ihren Ketten. Diese Annahmen sind für die Demokratie als Revolte zentral. Der Mensch in der Revolte empört sich über die Unfreiheit ebenso wie über die Ungerechtigkeit und entsagt somit den einfachen Ideen einer vorübergehenden Knechtung zur eventuellen Erreichung eines künftigen Heils. Gerechtigkeit und Freiheit werden gemeinsam gedacht und angestrebt. Sie machen auch nicht an den Grenzen von Nationalstaaten halt, sondern gelten als universelle Prinzipien. Camus hat dies bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit betont und viele inspiriert, etwa Rupert Neudeck, den Gründer der Flüchtlingshilfsorganisation Cap Anamur. Seither ist die Globalisierung rasch vorangeschritten und hat die Notwendigkeit internationaler Solidarität verstärkt. DIE NATIONALSTAATLICHE INSTITUTIONALISIERUNG DER REVOLTE UND IHRE KRISE Die Demokratie als Revolte mit ihren Prinzipien des Widerspruchs, des Zweifels und des Dialogs ist nicht bloß ein politikphilosophisches Konstrukt. Sie wurde über die repräsentative Demokratie und den Parlamentarismus zumindest teilweise institutionalisiert. So sind heute die Möglichkeit des Neinsagens, die Kritik an den Herrschenden und die Rechte der Opposition ganz wesentliche Prinzipien in allen demokratischen Staaten. Auch wenn der Weg dorthin historisch betrachtet sehr lang und steinig war und nie ganz zu Ende gegangen werden kann, so sind doch bedeutende Annäherungen an die Ideale der Demokratie als Revolte gelungen. Doch gerade in den letzten Jahren gibt es in vielen an sich stabilen demokratischen Staaten Rückschläge. Der Autoritarismus von demokratisch gewählten Regierungsvertretern wie Trump, Orbán oder Erdoğan tendiert dazu, Revolten zu unterdrücken und keinen Widerspruch zu dulden. Institutionen werden zu Herrschaftszwecken umgebaut, Medien werden bedroht und dem Dialog wird der institutionelle Rahmen entzogen. Obwohl es kaum jemals zuvor so viele demokratische Staaten gegeben hat wie heute, sind also die Gefahren eines Rückfalls in autoritäre Strukturen nie dauerhaft gebannt. Denn die Ängste der Menschen, die dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit zugrunde liegen, können kollektiv auftreten und dann dem Bedürfnis nach Freiheit und seiner institutionalisierten

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Ausprägung rasch gefährlich werden. Der Aufstieg rechtsextremer Parteien und autoritärer Führungspersonen, die Zunahme an Xenophobie und Fremdenfeindlichkeit sowie die erodierende Solidarität sind Konsequenzen einer gesellschaftlichen Verängstigung, die durch ökonomische Krisen, Terror­ attacken und neue Technologien entsteht und von manchen Akteuren bewusst geschürt wird. Für die Demokratie als Revolte sind sie höchst problematisch. Die von Erich Fromm beschriebene Furcht vor der Freiheit nimmt überhand und erstickt den lebensnotwendigen Widerstand. Dennoch gibt es viele, die sich dagegen wehren und revoltieren. Zivilgesellschaftliche Akteure, die Frauenbewegung, herrschaftskritische NGOs und Medien werden dort zu den Trägern der Demokratie, wo sich die Berufspolitik als deren Gegner erweist. Die nationalstaatliche Demokratie hat auch ihre Schwächen, wenn es um die Frage der Staatsbürgerschaft geht. In pluralistischen Zuwanderungsgesellschaften nimmt der Anteil der Menschen ohne Wahlrecht prozentual ab, wenn ImmigrantInnen einen erschwerten Zugang zur Staatsbürgerschaft haben. Das unterminiert und delegitimiert die Demokratie. Die Beteiligung an Wahlen ist aber auch sozioökonomisch geprägt: So nehmen ärmere und arbeitslose Menschen ihr Wahlrecht seltener wahr als Wohlhabende, was den Zusammenhang zwischen den Lebensbedingungen und der politischen Partizipation untermauert und die Problematik der sozialen Ungleichheit aufzeigt. GLOBALE DEMOKRATIE Schließlich ist die auf nationale Territorien reduzierte Demokratie insgesamt als historisch gewachsenes Ordnungsmuster für eine inklusive Demokratie als Revolte defizitär, da sie Zugehörigkeiten eben in engen nationalstaatlichen Grenzen versteht und dem universalen Charakter niemals ganz gerecht wird. Um das zu erreichen, bräuchte es in der Tat eine kosmopolitische Demokratie, die freilich föderalistisch organisiert sein müsste. Die Europäische Union ist ein erster Schritt in diese Richtung, auch wenn sie aus demokratietheoretischer Perspektive nach wie vor beträchtliche Defizite aufweist. Noch weit größer sind diese Defizite in globalen Regierungsorganisationen. Camus hatte bereits im Zuge der Gründung der UNO 1948 kritisiert, dass diese nicht als demokratisch gewählte Institution mit einem Weltparlament, sondern als intergouvernementale Vereinigung von Regierungen konzipiert wurde6. Eine Organisation der Exekutiven ohne eine vom Volk legitimierte gesetzgebende Gewalt, also ohne Legislative und ohne parlamentarische und außerparlamentarische Kontroll- und Oppositionsmechanismen, war und ist keine internatio6  Vgl. Albert Camus, Carnets III, mars 1951 – ­décembre 1959, Paris 1989.

nale Demokratie. Noch viel weniger demokratisch aufgestellt sind die so wirkmächtige Welthandelsorganisation ( WTO) und diverse Freihandelsabkommen. Markus Pausch  —  Zweifel, Kritik und Dialog

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Insgesamt haben die demokratisch legitimierten Nationalstaaten in den letzten Jahrzehnten freiwillig das Primat der Politik aufgegeben und sich von ökonomischen Akteuren teilweise erpressen lassen. Diese Tatsache ist einer der Gründe, warum die Individuen das Vertrauen auf ihre politische Selbstwirksamkeit und jenes in ihre gewählten RepräsentantInnen zunehmend verlieren. Die Möglichkeit, zu revoltieren, Nein zu sagen zu einer ungerechten Verteilung in einer ungerechten Weltwirtschaft, ist auf globaler Ebene kaum möglich und führt auf nationaler nicht zum Erfolg. Die Fahne der Revolte halten auch hier zivilgesellschaftliche Akteure und Einzelpersonen hoch. Der individuelle Protest kann sich in Produktboykotts und bewussten Kaufentscheidungen äußern. DIKTATURERFAHRUNGEN PRÄGEN DAS ALLTAGSLEBEN Die Demokratie ist auf nationalstaatlicher Ebene also in Bedrängnis geraten, steckt auf supranationaler Ebene noch in den Kinderschuhen und ist auf globaler Ebene inexistent. Ebenso wenig finden wir sie in den Organisationen unseres Alltags verwirklicht. Denn diese sind nach wie vor überwiegend streng hierarchisch konzipiert und lassen wenig Raum für Widerspruch gegen die Herrschenden. Ein Blick auf Bildungseinrichtungen und Arbeitswelt genügt, um dies bestätigt zu finden. Das Kind, das nur durch einen Akt der Revolte ins Leben kommt und sich die Freiheit erkämpft, wird spätestens im Schulalltag mit sozialem Druck und strengen räumlichen und zeitlichen Zwängen konfrontiert. Auch wenn die emanzipatorische Wirkung der Schulpflicht in historischer Perspektive unbestritten bleibt, erscheinen Schul-Hierarchien und -strukturen gegenwärtig eher als Emanzipationshindernis. Die genaue Parzellierung der Zeit, die räumliche Bindung an ein Klassenzimmer oder gar einen konkreten Sitzplatz, die Sanktionsmöglichkeiten von SchulleiterInnen oder LehrerInnen und die diversen Formen der Leistungsbeurteilung führen zu einem Machtungleichgewicht, das die Chancen auf eine Revolte gegen Ungerechtigkeit und Unfreiheit minimiert. Zweifel und Dialog werden häufig als lästig und zeitraubend abgetan. Hinzu kommt ein neuer Leistungsdruck, der dem Wettbewerb am kapitalistischen Arbeitsmarkt entspricht. Dieser Arbeitsmarkt besteht aus Jobs, in denen Ausbeutung und zwangsweise Selbstausbeutung auch in etablierten Demokratien immer noch vorkommen. Die inneren Strukturen und Prozesse von Unternehmen haben dann rein gar nichts mehr mit Demokratie zu tun. Die wesentlichen Entscheidungen werden von einer oder wenigen Personen getroffen. Möglichkeiten der Mitsprache enden dort, wo es um harte Fragen wie Einkommen oder Entlassung geht. Widerstand gegen Führungsentscheidungen mündet in der Regel in der härtesten Sanktion. Daran haben auch die wichtigen Errungenschaften der

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Gewerkschaften oder die unternehmensinternen Betriebsratsgremien wenig geändert. Die diktatorischen Verhältnisse werden in vielen Fällen durch Verunsicherung der Herrschaftsunterworfenen – in diesem Fall der MitarbeiterInnen – zementiert. Das gelingt über befristete Verträge und über Leistungsdruck. Wer nicht gehorsam ist, kann rasch durch eine auf dem Arbeitsmarkt bereits wartende Person ersetzt werden. All dies gilt für westeuropäische Demokratien. Dass in anderen Teilen der Welt bis heute sklavenartige Arbeitsverhältnisse, Kinderarbeit und andere Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind, ist überdies ein unerträglicher Skandal, der von den etablierten Demokratien hingenommen bzw. nicht ausreichend bekämpft wird. BESCHLEUNIGUNG Die bereits erwähnte Beschleunigung durch neue Technologien und eine weltweite Vernetzung bringt für die Demokratie zusätzliche Herausforderungen mit sich. Nicht nur, dass auf der nationalstaatlichen Ebene die Abgeordneten der Legislative weniger Zeit haben, sich mit komplexen Materien gründlich zu beschäftigen, haben auch die globalen Finanztransaktionen und Kapital7  Hartmut Rosa, Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik, ­Frankfurt  a.  M.2013.

flüsse eine rasante Geschwindigkeit erreicht, was Transparenz und Kontrolle erschwert. Zudem nimmt die verfügbare Zeit im Alltagsleben ab, um allen beruflichen und sozialen Verpflichtungen gerecht zu werden und dann auch noch gegen Ungerechtigkeiten oder Freiheitseinschränkungen revoltieren zu können. Wie Hartmut Rosa zeigt, verändert sich mit der Beschleunigung des Lebens auch die Zeittoleranz, d. h., Entscheidungen werden in immer kürzeren Fristen erwartet, obwohl sie ihrer Komplexität und Tragweite entsprechend und unter Anwendung von demokratisch-partizipativen Methoden eigentlich eher eine längere Dauer benötigen.7 Für die Revolte wird somit im Politischen, Ökonomischen und Sozialen die Zeit sehr knapp. DEMOKRATIE ALS TÄGLICHE SISYPHOS-AUFGABE

Prof. (FH) Dr. Markus Pausch, geboren 1974, studierte Politikwissenschaft, Geschichte und Soziologie in Salzburg und Lyon, arbeitete anschließend an der Universität Salzburg, dem Lycée Faidherbe Lille sowie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien, ehe er 2007 an die FH Salzburg wechselte. Dort ist er als Politikwissenschaftler u. a. in EU-Projekten zu Fragen der Demokratie und Demokratiebildung in Europa sowie der Sozialen Innovation tätig.

Aus den theoretischen Grundannahmen und der empirischen Skizze folgt, dass die Demokratie als Revolte als eine tägliche Sisyphos-Aufgabe verstanden werden muss – und zwar auf allen genannten Ebenen: in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen, in den Organisationen unserer Lebenswelt, in Schule und Beruf, in der nationalstaatlichen Demokratie, in der Europäischen Union und schließlich in der globalen Politik und Wirtschaft. Nur wenn in all diesen Bereichen konsequenter Widerstand gegen Ungerechtigkeit und Unfreiheit geleistet wird, kann sich die Demokratie ihrem Ideal annähern. Ansonsten besteht die Gefahr, dass der aufkeimende Autoritarismus unsere Revolten im Keim erstickt. Markus Pausch  —  Zweifel, Kritik und Dialog

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PORTRÄT

TÖDLICHE SCHÜSSE IM NOBELRESTAURANT DAS ATTENTAT DES SOZIALDEMOKRATEN FRIEDRICH ADLER ΞΞ Franz Walter

»Links und Gewaltanwendung schließt sich gegenseitig aus.«1 Dieses Statement gab der sozialdemokratische Kanzlerkandidat Martin Schulz nach dem G-20-Gipfel im Juli 2017 in Hamburg ab, als ihn ein Reporter des ZDF auf die Krawalle im »Schanzenviertel« der Hansestadt ansprach. In den T ­ agen danach sprang ihm sein Stellvertreter im Parteivorsitz, Ralf Stegner, durch allerlei Twitter-Botschaften und Zeitungskommentare bei: »Gewalt ist nicht links«, denn »Links-Sein bedeutet«, so Stegner, gegen Gewalt »zu streiten«.2 Wohlweislich pochte der Mann aus Schleswig-­Holstein zugleich darauf, dass er »Links-Sein« allein dem Spektrum des demokratischen Sozialismus, nur der politischen Repräsentanz der sozialen Demokratie zubilligte. Akzeptierte man diese einschränkende Verortung veritablen Links-Seins, dann schien auch die Folgerung von Schulz und Stegner nicht abwegig. Denn wer konnte sich schon die Sozialdemokraten, wie man sie in der Bundesrepublik kennengelernt hatte, mit militantem Gepäck auf einer Barrikade vorstellen? Wer dächte an Erich Ollenhauer, Helmut Schmidt, Kurt Beck oder eben Martin Schulz, wenn von Traditionen marodierenden Aufruhrs die Rede gewesen wäre? Nur: Die Geschichte der sozialen Demokratie begann nicht mit Ollenhauer, auch nicht mit Otto Wels oder Friedrich Ebert, sondern schon ein bisschen früher, nämlich mit dem das tödliche Pistolenduell ohne große Skrupel einfordernden Ferdinand Lassalle. Nun hat einst die für die sozialdemokratische Geschichtsschreibung höchst einflussreiche Historikerin Helga Grebing darauf insistiert, dass im Werk der anderen Urväter des Sozialismus, bei Karl Marx und Friedrich Engels also, »keine Stelle« zu finden sei, »die sich als Parteinahme für oder Legitimierung von Terror auslegen ließe«.3 Dabei lassen sich unschwer Passagen finden,

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1  Martin Schulz im Interview mit Bettina Schausten, in: Berlin direkt, 09.07.2017, URL: https:// www.zdf.de/politik/berlin-direkt/ berlin-direkt-clip-4–158.html [eingesehen am 16.11.2017]. 2  Ralf Stegner, Gewalt ist nicht links, in: Frankfurter Rundschau, 17.07.2017. 3  Helga Grebing, Arbeiterbewegung und Gewalt, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Jg. 29 (1978), H. 2, S. 65–77, hier S. 66.

die das Gegenteil belegen. Als im Verlauf der europäischen Revolutionen 1848/49 die Kräfte der Gegenrevolution erkennbar an Boden zurückgewannen, postulierte der tief enttäuschte, denkbar frustrierte Karl Marx zornig den »revolutionären Terrorismus«. In ihm sah er nun das einzige Mittel, um »die mörderischen Todeswehen der alten Gesellschaft« abzukürzen.4 Mit einiger Begeisterung applaudierten Marx und Engels drei Jahrzehnte später auch den Aktionen des russischen Terrorismus gegen den Zarismus, der in 4  Vgl. Benjamin Zeitler, Terrorismus als Revolutionshindernis: Karl Marx und Friedrich Engels, in: Alexander Straßner (Hg.), Sozialrevolutionärer Terrorismus, Wiesbaden 2008, S. 37–46, S. 41.

der Tat legale Räume für oppositionelle, ja eigenständige politische Äußerungsformen nicht duldete. Der große Theoretiker jener oft als heroisch und siegreich besungenen Jahrzehnte der Sozialdemokratie in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg Franz Walter  —  Tödliche Schüsse im Nobelrestaurant

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war bekanntlich Karl Kautsky. Auf dem Höhepunkt des Revisionismusstreits in der Sozialdemokratie mokierte er sich über die neue Rechte in seiner Partei um (seinen früheren Freund) Eduard Bernstein, die von friedlichen Wegen zum Sozialismus schwärmte und aller politischen Gewalt abschwor. »Wer aber auf Gewalt verzichtet«, schrieb Kautsky dazu höhnisch, »was bleiben ihm für Methoden übrig, unsere Sache zum Siege zu führen als die der Diplomatenschlauheit, die die kapitalistische Gesellschaft zum Sozialismus bringen will, ohne daß diese es merkt«?5 Diese Zeilen verfasste Kautsky im Juni 1902 in einem Brief an den Führer der österreichischen Sozialdemokraten, Victor Adler, der im deutschen Revisionismusstreit eine Art ihm zugewachsener Mittlerrolle einzunehmen versuchte, da er sich mit Eduard Bernstein wie mit Karl Kautsky gleichermaßen gut vertrug. Auf die Palme brachte den Wiener Sozialisten Adler dagegen Rosa Luxemburg, deren »großmäulige Illusionen« und »Quatschereien« vom Segen der »Gewalt« er nicht ertragen konnte, sondern für hochgefährlich hielt, was eben Karl Kautsky, in diesem Punkt nahe bei »der Rosa« inklusive ihrer Abneigung gegen den »parlamentarischen Kretinismus«, zu seiner brieflichen Gegenrede veranlasst hatte.6 Vierzehn Jahre später hatte ausgerechnet Victor Adler, der hartnäckige Kämpfer gegen den Anarchismus in der für diese Strömung zunächst anfälligen österreichischen Arbeiterbewegung, Probleme mit politischer Gewalt in der eigenen Familie. Denn sein ältester Sohn, ebenfalls ein zeitlebens guter und aufrechter Sozialdemokrat, hatte ein Attentat mit tödlichem Ausgang auf einen Repräsentanten der Staatsmacht verübt, was ihn keineswegs zur verbannten und geschmähten, sondern in der europäischen Sozialdemokratie für mehrere Jahre ganz im Gegenteil zur bewunderten Gestalt machte. DER ANSCHLAG IM »MEISSL & SCHADN« UND DIE FAMILIE ADLER Es geschah am 21. Oktober 1916, einem sonnigen Herbstsamstag in Wien. Um ca. 13.00 Uhr hatte der 37-Jährige Sohn Victor Adlers, Friedrich (Fritz), das Restaurant des noblen, am Neuen Markt gelegenen Hotels »Meißl & Schadn« aufgesucht. Dessen Restaurantküche war weithin berühmt und wurde wegen seiner vorzüglichen Rindfleischspeisen – vor dem Krieg konnten die geneigten und zahlungskräftigen Gäste zwischen 24 Sorten gesottenen Rindfleischs auswählen – gepriesen. Bekannt war, dass auch Karl Reichsgraf von Stürgkh, seit 1911 Ministerpräsident der österreichischen Hälfte des Habsburger Reichs, hier bevorzugt zu speisen pflegte. Ihn hatte der junge Adler im Visier, als er bei »Meißl & Schadn« einkehrte, ihn wollte er mit seiner Browning, die er sich

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5  Siehe die Briefe von Adler und Kautsky vom 6. und 9. Juni 1902 in: Victor Adler, Briefwechsel mit August Bebel und Karl Kautsky, gesammelt und erläutert von Friedrich Adler, Wien 1954, S. 403–405. 6  Ebd.

bereits im Jahr zuvor in Zürich berschafft hatte, liquidieren.7 Doch erst nahm auch er ein Essen ein, ein dreigängiges Menü aus geriebener Gerstelsuppe, Rindfleisch mit Kohl und schließlich einem Stückchen Pflaumenkuchen, um seine Nerven zu beruhigen, wie er später aussagte. Er schloss das Mahl mit einer Tasse Kaffee, rührte darin lange mit einem Löffel, wie sich die Kellner später erinnerten. Denn zunächst konnte er zur Tat noch nicht schreiten, da am Tisch hinter Stürgkh eine Dame saß, die er keinesfalls gefährden wollte, wofür sich die Frau einige Monate später in einem Brief an den inhaftierten Adler, der »so edel« gewesen sei, sie »zu schonen«8, ausdrücklich bedankte. Als diese sich aber erhob und den Raum verließ, bezahlte Adler, der keinesfalls als Zechpreller gelten wollte, und zog – inzwischen seit gut eineinhalb Stunden im Restaurant verweilend – seinen bereits entsicherten Revolver, stürzte hastigen Schritts an den Tisch des Ministerpräsidenten und feuerte aus unmittelbarer Nähe vier Schüsse ab, von denen drei den Kopf trafen und das Opfer sofort tödlich niederstreckten. Ein im Ringkampf geschulter Zahlkellner warf den Täter mithilfe anderer anwesender nahkampferfahrener Offiziere der habsburgischen Armee zu Boden.9 Der Delinquent rief, wohl um die Erregung von Hotelgästen und -personal nicht in Lynchaktivitäten übersprudeln zu lassen, laut aus: »Ich stelle mich dem Gerichte, ich heiße Dr. Adler!«10 Der Regierungschef in Österreich mitten im großen Krieg beim Mittagsmenü vom Sohn des Anführers der Sozialisten, die seit 1911 die stärkste Frak7  Etwa Gerhard Strejcek, Ein Pazifist als Mörder, in: Wiener Zeitung, 21.10.2016.

tion im Parlament bildeten, erschossen – das war auch in jenen Wochen, als Tag für Tag tausende von Menschen auf den europäischen Schlachtfeldern zu Tode gemetzelt wurden, eine politisch höchst erregende Meldung. Handelte

8  Zit. nach Ilse Reiter, Gustav Harpner (1864–1924), Vom Anarchistenverteidiger zum Anwalt der Republik, Wien 2008, S. 254. 9  Vgl. Lucian O. Meysels, Victor Adler. Die Biografie, Wien 1997, S. 226. 10  Siehe Wolfgang Maderthaner, Friedrich Adler und Graf Stürgkh. Zur Psychopathologie eines Attentats, in: Michael Gehler u. Hubert Sickinger (Hg.), Politische Affären und Skandale in Österreich, Innsbruck 2007, S. 128–147, hier S. 133. 11  Zu Victor Adler siehe Robert Misik, Ein seltsamer Held. Der grandiose, unbekannte Victor Adler, Wien 2016.

es sich etwa um das Signal zum roten Aufstand? Oder hatte hier lediglich ein isolierter Einzelner in geistiger Verwirrung zur Waffe gegriffen? Letztere Vermutung schien den meisten Interpreten die wahrscheinliche. Denn zumindest der Vater des Attentäters war nicht als heißsporniger, mit der Gewalt liebäugelnder Mann bekannt.11 Im Gegenteil: Er hatte in den eigenen Reihen die Anarchisten stets zielstrebig bekämpft und dann von der Partei fortgehalten. Das Pathos des linken Radikalismus, die Romantik von Pulver und Patrone waren ihm ein Gräuel; Rosa Luxemburg und ihre feurigen Werbezüge für revolutionäre Massenaktionen verspottete er genervt als Inkarnation des »hysterischen Materialismus«. Die Wiener Arbeiter verehrten Victor Adler, ihren »Herrn Doktor«, wie er von ihnen und seinen Genossen genannt und angesprochen wurde. Er stammte aus einer wohlhabenden jüdischen Familie, hatte Medizin studiert und sich zunächst als Nervenarzt – in der Berggasse 19, wo hernach Sigmund Freud seine Patienten auf der Couch platzierte – niedergelassen. Adler Franz Walter  —  Tödliche Schüsse im Nobelrestaurant

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schlüpfte ungern und selten in die Rolle des Tribuns, donnernde Ansprachen lagen ihm weniger als die unermüdliche Vermittlung zwischen den Parteiflügeln. Die theoretische Attitüde ging ihm ab, an konkreten Beispielen entwickelte er anschauliche Reden und Argumente.12 Materiell schlecht gestellte Patienten, die in seine Praxis kamen, therapierte er meist ohne Entgelt. Dadurch aber dezimierte sich die eigentlich nicht unbeträchtliche Erbschaft, die ihm seine Eltern hinterlassen hatten. Da ­Adler noch dazu viel Geld in die chronisch klammen Parteikassen hineingab, wurde die Familie seit den frühen 1890er Jahren selbst zahlungsunfähig, belastet von Schulden, angewiesen auf Zuwendungen von Friedrich Engels und August Bebel13, was Adlers Ehefrau in schlimme, mehrere Jahre währende psychische Krisen trieb und ihn selbst zu einem zunehmend kranken, früh alternden Mann machte.14 Das Wohlergehen war auch dadurch erheblich beeinträchtigt, dass Victor Adler, aus jeweils unterschiedlichen Gründen, beträchtliche Sorgen um seine drei Kinder plagten.15 Sein ältester Sohn, Friedrich, war unzweifelhaft sehr

12  Ernst Hanisch, Der große Illusionist. Otto Bauer (1881–1938), Wien 2011, S. 121. 13  Vgl. Christina Morina, Die Erfindung des Marxismus, München 2017, S. 232. 14 

Meysels, S. 92 ff.

begabt, überaus intelligent und ehrgeizig. Doch der Vater fürchtete, dass der Sohn mit diesen Eigenschaften geradezu überreichlich ausgestattet war. Mit einigem Kummer und Argwohn beobachtete er, wie sein Sohn Fritz kaum einmal lachte, sich durchweg ernst verhielt, fortwährend grübelte, ständig arbeitete, ohne hinreichend Pausen einzulegen, die Bedeutung von Ferien oder Urlaub nicht anerkannte.16 Er trank nicht, er rauchte nicht, er las keine Belletristik, die lediglich unterhalten wollte.

15  Hierzu und im folgenden Rudolf G. Ardelt, Friedrich Adler: Probleme der Identitätsbildung, in: Gerhard Botz u. a. (Hg.), Bewegung und Klasse. Studien zur österreichischen Arbeitergeschichte, Wien 1978, S. 63–88. 16 

Maderthaner, S. 20.

Fritz Adler war ein bekennender, eigenbrötlerischer Asket, der Zeit nicht für Unnützes, Zerstreuendes oder Ablenkendes verschwenden mochte.17 Seine Freunde und Kollegen nannten ihn, den »scheuen Stubengelehrten«18, den »Logiker«. Die mathematische Beweisführung hatte es ihm angetan. Ihr folgte er rigide, auch und besonders, wenn es – was ihm das Höchste überhaupt war – um die »politische Sache« ging: den Sozialismus, den historisch notwendigen Auftrag der Arbeiterklasse. Hier konnte es keinen Kompromiss geben, genauso wenig wie im Mathematischen.19 Alles hatte eine streng wissenschaftlich zu ergründende Auf- und Erlösung zu haben. Victor Adler, der lebenserfahrene Nervenarzt, der eine Art Dauernervo­sität

17  Siehe Julius Braunthal, Victor und Friedrich Adler. Zwei Generationen Arbeiterbewegung, Wien 1965, S. 298 f. 18  Friedrich Adler vor dem Ausnahmegericht. Herausgegeben und eingeleitet von J.W. Brügel, Wien 1967, S. 7. 19  Karl Sigmund, Ein Fall von Exzess des Mathematischen, in: Der Standard, 21.10.2016.

beim Sohn bemerkte, wollte um alles in der Welt vermeiden, dass F ­ riedrich seiner Neigung zur extremen Übertragung des Mathematischen auf das Feld der realen Politik nachkam. Das konnte schließlich weder die Politik aushalten noch ein sensibler Jüngling ernsthaft ertragen, ohne bitter enttäuscht zu werden. Insofern unternahm Victor Adler alle Anstrengungen, um seinen »Steinesel von Sohn«20 von der österreichischen Arbeiterbewegung fernzuhalten21,

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20  Zit. nach Martina Siems, Sofie Lazarsfeld: Die Wiederentdeckung einer individualpsychologischen Pionierin, Göttingen 2015, S. 46. 21  Maderthaner, S. 129.

ihn auch nicht in Berührung mit der ungewöhnlich politisierten Wiener Universität und den durch linke Intellektuelle bevölkerten Kaffee­häusern der Stadt kommen zu lassen. Also schickte der Vater ihn nach der Matura 1897 fort nach Zürich, wo Friedrich Mathematik, Chemie und schließlich Physik studierte. Seine Promotion in Physik legte er 1904 ab, die Habilitation folgte drei Jahre später. Mit einer russischen Sozialistin und Studentin schloss er 1903 die Ehe; das Paar bekam in den folgenden Züricher Jahren drei Kinder. Fast sah es so aus, als könnte das Kalkül von Victor Adler aufgehen, der sich für seinen Sohn das warme Nest einer Familie und eine glänzende akademische Karriere weit von der Politik entfernt wünschte. Im Jahr 1910 schien eine Professur für Physik an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich zu winken. Doch am Ende fiel die Berufung auf Adlers gleichaltrigen und guten Freund Albert Einstein. Jetzt wandte sich Fritz Adler final und zum gelinden Entsetzen des Vaters der Politik zu, leitete in Zürich die sozialdemokratische Zeitung Volksrecht und schrieb für die Theorieorgane der Sozialdemokratien in Deutschland und Österreich, Die Neue Zeit und Der Kampf. 1911 kehrte Adler nach 14-jähriger Abwesenheit wieder in seine Wiener Heimatstadt zurück, wo er nun als vierter Parteisekretär für die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutsch­ österreichs (SDAP) hauptamtlich Politik organisierte. TIEF ENTTÄUSCHT VOM SCHEITERN DER INTERNATIONALE Doch dann, im Sommer 1914, geriet das Leben des Friedrich Adler durch die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts aus den Fugen. Auf ihren internationalen Konferenzen hatten die Sozialdemokraten zuvor kräftig formulierte antimilitaristische Bekenntnisse und Willenserklärungen zu Papier gebracht und deren Wortlaut auf unzähligen Versammlungen vor Ort mit großer Geste deklamiert. Drohe der Ausbruch eines Krieges, so hatten die Delegierten der II. Internationale auf dem Stuttgarter Kongress 1907 verkündet, dann hätten die Proletarier und ihre politischen Repräsentanten unter Koordination des Internationalen Sozialistischen Büros »alles aufzubieten, um durch die Anwendung der ihnen zweckdienlich erscheinenden Mittel den Ausbruch des Krieges zu verhindern«. Falls der Krieg gleichwohl ausbrechen sollte, dann käme der Arbeiterbewe22  Zit. nach Agnes Blänsdorf, Die zweite Internationale (1889 bis 1924), in: Thomas Meyer u. a. (Hg.), Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung: Lern- und Arbeitsbuch. Darstellung, Chronologien, Dokumente, Bd. 1, Bonn 1984, S. 261–282, hier S. 275.

gung die Pflicht zu, »für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen«22. Friedrich Adler hatte fest an die Ernsthaftigkeit dieser Prinzipien und Handlungsmaximen geglaubt. Doch galt nichts davon, als es Ende Juli/Anfang Franz Walter  —  Tödliche Schüsse im Nobelrestaurant

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August zum Schwur kam. Der zur Hymne vertonte Internationalismus des Sozialismus war, als er sich zu bewähren hatte, nichts wert. Hiermit wohl begann der große Glaubwürdigkeitsverlust der Sozialdemokratie bei ihren in den Jahrzehnten zuvor noch so gläubigen Anhängern. In ihrer großen Mehrheit fügten sich die nationalen Sozialdemokratien den Kriegskursen ihrer jeweiligen Staatsführungen. Das traf auch auf die österreichische Partei zu, die schon Ende Juli 1914 die Arbeiter »vor Fahnenflucht« warnte und die Kriegshandlungen der eigenen Regierung mit der Gefahr des reaktionären Zarismus legitimierte.23 Alle Erwägungen der Parteileitung konzentrierten sich auf den Erhalt der eigenen Organisationen, nicht auf mögliche Obstruktionen der Kriegsmaschinerien. Berüchtigt wurde der Leitartikel des Chefredakteurs der zentralen Arbeiter-Zeitung, Friedrich Austerlitz, eines guten Freundes der Familie Adler, der unter dem Titel »Der Tag der deutschen Nation« am 5. August 1914 geradezu eine Ode auf die am Vortag erfolgte Zustimmung der sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten in Deutschland zu den Kriegskrediten und der Burgfriedenspolitik anstimmte, überhaupt das »kraftvolle bewegte« deutsche Volk pries, welches den »Schacherkoalitionen, denen jede sittliche Idee fehlt«, auf dem Schlachtfeld mutig entgegentrete.24 Die österreichischen Sozialdemokraten bekamen im August 1914 keine Gelegenheit, Kriegsanleihen für das nationale Heer im Reichsrat durch das Votum ihrer Abgeordneten zu billigen, da Ministerpräsident Stürgkh das Parlament bereits seit März 1914 nicht mehr zusammenkommen ließ und mit Notverordnungen in »einer Art administrativem Absolutismus25« regierte. Die Parteiführung hatte sich in den Jahren danach deshalb auch weniger den Vorwürfen einer radikalisierten Linken zu erwehren, die in Deutschland in einem hohen Maße als Folge des 4. Augusts parteibildende Kraft erlangte und die zuvor ge-

23  Hanisch, S. 81.

schlossene Arbeiterbewegung auf lange Zeit spaltete. Allerdings verhehlte Victor Adler, wenngleich lediglich in kleinen intimen Kreisen, später nicht, dass sich die SDAP, wäre der Reichsrat in Wien zur Entscheidung herangezogen worden, nicht anders verhalten hätte als die Genossen im Deutschen Reich.26 Für Friedrich Adler brach eine Welt zusammen. Gerade Internationalismus und Antimilitarismus waren ihm wichtig; für ihn waren all die Friedens­ manifestationen auf den unzähligen Veranstaltungen zwischen Berlin und Pa-

24  Zit. nach Norbert Leser, Zwischen Reformismus und Bolschewismus. Der Austromarxismus, Wien 1968, S. 269. 25  Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013, S. 104.

ris, von Wien bis London, in Budapest oder Rom mit heiligem Ernst verfasste und gewissermaßen dem proletarischen Eid verpflichtete Willenserklärungen, nicht lediglich tagespolitische oder taktische Formeln, nicht einfach zwischenzeitlich und punktuell opportune Verlautbarungen. Immer wieder hatten die Sozialisten eindringlich erzählt, dass die Arbeiter aller Länder sich vereinen

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26  Siehe hierzu Hans Hautmann, Die österreichische Sozialdemokratie und der imperialistische Krieg, in: GeschichtsKorrespondenz, Jg. 18 (2012), H. 4 (Oktober/November), S. 45.

sollten, ja mussten, dass der österreichische Arbeiter mit dem französischen Proletarier mehr gemeinsam habe als mit dem B ­ ourgeois im eigenen Land. Nichts davon hatte in den heißen Augusttagen 1914 plötzlich noch Bestand. Und sein bewunderter, von ihm als junger Mann allein in der Familie zuweilen heftig kritisierter, aber doch – wie er wieder und wieder zeitlebens betonte – zutiefst geliebter Vater Victor machte bei diesem üblen Treiben mit, was den Sohn zur Verzweiflung brachte, ihn seine heillose Einsamkeit erst recht schmerzhaft spüren ließ.27 Denn isoliert und unverstanden fühlte sich Fritz Adler in den beiden ersten Kriegsjahren. Man mag dies, die Vereinzelung 27  Vgl. Adolf Sturmthal, Zwei Leben. Erinnerungen eines sozialistischen Internationalisten zwischen Österreich und den USA, Wien 1989, S. 39. 28  Siehe hierzu auch Manfred Schneider, Das Attentat. Kritik der paranoischen Vernunft, Berlin 2010, S. 7 u. S. 18. 29  Zit. nach Michaela Maier u. Georg Spitaler (Hg.), Friedrich Adler. Vor dem Ausnahmegericht, Wien 2016, S. 57. 30  John Zimmermann, »Von der Bluttat eines Unseligen«. Das Attentat Friedrich Adlers und seine Rezeption in der sozialdemokratischen Presse, Hamburg 2000, S. 58. 31  Vgl. Norbert Leser, Der Sturz des Adlers. 120 Jahre österreichische Sozialdemokratie, Wien 2008, S. 37.

und Verkapselung, als die klassische Voraussetzung etlicher politisch motivierter Attentäter verstehen.28 »Keiner war da«, klagte Fritz Adler im Verhör nach seiner Verhaftung, »mit dem ich meine Auffassung in allen ihren Konsequenzen auch nur besprechen hätte können. Ich stand tatsächlich ganz allein.«29 Adler gab seine offiziellen Funktionen in der Partei auf, bildete einen kleinen »Verein Karl Marx«, um dort die verbliebenen linksoppositionellen Kritiker am Kriegskurs der Parteileitung zusammenzufassen.30 Aber es blieb ein minoritärer, zur Aktion nicht fähiger, daher ohnmächtiger Zirkel. Diejenigen, die dazugehörten, schrieben Artikel, hielten Reden, verfassten Resolutionen und stellten Anträge auf den beiden Reichskonferenzen, die bis zum Herbst 1916 als Ersatz für Parteitage noch stattfanden.31 Aber die übergroße Mehrheit dort wies die frondierende Minderheit brüsk zurück, beschimpfte sie – und dabei vor allem Friedrich Adler – als Spinner und Parteischädlinge.32 Schon seit dem Frühjahr 1915 war Adler mit dem Gedanken schwanger gegangen, eine Symbolfigur des neuen österreichischen Kriegsabsolutismus zu töten, um die Massen aufzurütteln, die Partei zur Umkehr zu bewegen. Anfangs dachte er, beim Nachsinnen über das geeignete Opfer, an den Außenminister, auch an den hauptverantwortlichen Staatsanwalt für die Zensurmaßnahmen, dann an den Justizminister, zwischenzeitlich ebenfalls an den mächtigen, Attentäter geradezu anziehenden ungarischen Ministerpräsidenten

32  Siehe bspw. Maier u. Spitaler, S. 12.

István Tisza.33 Am Ende aber entschied er sich, die Kugeln seiner Browning

33  Siehe etwa Braunthal, S. 228.

wenn die Sozialdemokraten dessen politisches Gewicht in den Jahren zuvor

34  John Zimmermann, Karl Reichsgraf Stürgkh. Wien, 21. Oktober 1916, in: Michael Sommer (Hg.), Politische Morde. Vom Altertum bis zur Gegenwart, Darmstadt 2005, S. 183–191, hier S. 186. 35  Maier u. Spitaler, S. 24.

auf den cisleithanischen Regierungschef Karl Graf Stürgkh abzufeuern – auch als eher gering eingeschätzt, ihn süffisant als »Nuller« etikettiert hatten.34 Die Nachricht von den Schüssen verbreitete sich in Windeseile. Die Eltern von Fritz Adler waren tief bestürzt, begriffen die Handlung ihres Sohnes nicht, fürchteten nun um sein Leben.35 Die meisten prominenten Sozialdemokraten dachten, als sie vom Anschlag erfuhren, zunächst an den Vater: »Der arme Victor Adler«, notierte am 22. Oktober 1916 der Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten im Deutschen Reichstag, Hermann Molkenbuhr, in seinem Franz Walter  —  Tödliche Schüsse im Nobelrestaurant

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Tagebuch. Molkenbuhr hoffte, dass die Tötung des Ministerpräsidenten »allseitig als Tat eines Irrsinnigen behandelt« werde, denn »dann kann es gutgehen«.36 Schließlich musste man fürchten, dass ansonsten die antisozialistische Hatz auf linke Staatsfeinde erneut losgehen würde. Deshalb beeilte sich der Chefredakteur der österreichischen Arbeiter-Zeitung, Friedrich Austerlitz, in der Sonntagsausgabe des Periodikums die »unbeugsame Verurteilung« von Gewalttat und Mord unmissverständlich zu versichern.37 Auch Wladimir ­Iljitsch Lenin schüttelte über die »Verzweiflungstat eines Kautskyaners«38 den Kopf; nicht weil er prinzipielle Bedenken gegen den politischen Mord besaß, sondern weil ihn der individuelle Terror als unzweckmäßig, gar schädlich für die revolutionäre Taktik dünkte. Leo Trotzki erinnerte sich später, dass ihn ausgerechnet Friedrich Adler im Jahr 1911 zu einem Artikel über den Terrorismus ermuntert habe. Trotzkis Argumentation war seinerzeit eindeutig: »Der individuelle Terrorismus ist in unseren Augen besonders unzulässig, weil er die Masse in ihrem eigenen Bewusstsein erniedrigt, weil er sie mit ihrer Ohnmacht versöhnt und ihre Blicke und Hoffnungen auf den großen Rächer und Befreier richtet.«39 Fünf Jahre vor seinem Attentat hatte sich Adler, so Trotzki, mit dieser Gedankenführung »noch ganz einverstanden erklärt«. Was also war mit Friedrich Adler im Herbst 1916 nur los? Hatte er am Ende einfach die Nerven verloren? Musste man gar von einer Art Geisteskrankheit ausgehen? Auf dieser Linie zumindest bewegten sich die Kommentare in den sozialdemokratischen Zeitungen besonders in Deutschland.40 Die linkssozialdemokratische Leipziger Volkszeitung bezeichnete Adlers »Schreckenstat« als »Ausgeburt des Wahnsinns«. Der Chefredakteur des Vorwärts, Friedrich Stampfer, betitelte seinen Meinungsartikel mit »Der Täter – V ­ ictor

36  Bernd Braun u. Joachim Eichler (Hg.), Arbeiterführer, Parlamentarier, Parteiveteran. Die Tagebücher des Sozialdemokraten Hermann Molkenbuhr 1905 bis 1927, München 2000, S. 295. 37  Friedrich Austerlitz, Attentat auf den Grafen Stürgkh, in: Arbeiter-Zeitung, 22.10.1916.

Adlers Sohn – irrsinnig!«. In einem weiteren Kommentar am Tag darauf wählte Stampfer als Überschrift »Politik als Irrsinn«. Für den Chefredakteur des SPD-Organs bestand kein Zweifel an der psychischen »Anomalie« Friedrich Adlers. Und wie mehrere andere, die aus unterschiedlichen Gründen von der Politisierung zur Pathologisierung des Tatmotivs übergehen wollten, wies auch Stampfer darauf hin, dass Nervenkrankheiten in der Familie A ­ dler bedauerlicherweise eine Vorgeschichte hätten. Unbegründet war ein solcher Rekurs auf belastende Erbfaktoren nicht. Vater Victor und Mutter Emma entstammten Familien, in denen sich Hochbegabung mit heftigsten psychischen Erkrankungen paarte.41 Die Mutter selbst hatte in den frühen 1890er Jahren viele Monate wegen Depressionen in Heilanstalten verbracht, die Schwester wurde mit 16 Jahren ebenfalls aufgrund von Depressionen, zu denen sich noch schwere Wahnvorstellungen

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38  Zit. nach Hautmann, S. 48. 39  Leo Trotzki, Über Terrorismus, in: Das Banner. Organ der internationalen Kommunisten in der ČSR, H. 3/4 (Oktober 1936), S. 14 f. 40  Hierzu Kurt Koszyk, »Das furchtbare und schwer erklärbare Vorgehen«, in: Gerhard Botz u. a. (Hg.), Bewegung und Klasse. Studien zur österreichischen Arbeitergeschichte, Wien 1978, S. 63–88. 41  Maderthaner, S. 138 f.

gesellten, in die »Landesirrenanstalt«, wie man die Einrichtung seinerzeit bezeichnete, eingeliefert, wo sie bis zu ihrem Lebensende eingesperrt blieb. Victor Adler, der gelernte Nervenarzt, durfte in der Tat von psychopathologischen Schüben und Krisen bei seinem Sohn ausgegangen sein, wohl auch aufrichtig den Anschlag auf die Virulenz der Störung zurückgeführt haben. Zumindest setzte er verteidigungsstrategisch mit aller Kraft darauf, Atteste zu erbringen, dass der Sohn unter »hereditären manischen Depressionen« leide, zur Zeit der Tat dadurch unzurechnungsfähig gewesen sei und somit strafrechtlich nicht als Mörder zu gelten habe. Auf diese Weise versuchte der Vater, seinen Sohn vor dem Galgen zu bewahren. Auf Initiative von Victor Adler erging auch an die Wiener medizinische Fakultät die Aufforderung, den Angeklagten auf psychische Krankheiten zu untersuchen und den Befund der Rechtsprechung zu übereignen. Sohn Friedrich begegnete seinem Vater daraufhin mit bitterbösen Vorwürfen. Er wollte nicht mit psychiatrischer Hilfe aus der Haft entlassen und womöglich einer Nervenheilanstalt zugeführt werden. Er wollte den Prozess, die Bühne des Gerichtssaals, auf der er öffentlich darlegen konnte, was ihn zur Tat getrieben, was er alles kritisch zur Politik des Landes zu sagen hatte. Die Entlastungsabsichten des Vaters aber nahmen der Tat und dem Opfer allen Sinn.42 Doch fanden die Gutachter in der Gefängniszelle keinen depressiven Menschen vor, sondern einen zufriedenen, ausgeglichen wirkenden Mann, der in den Monaten seiner Inhaftierung – »die glücklichste Phase meines Lebens«, wie er seinem Vater in einem Brief schrieb – mit Verve diffizile physikalische Berechnungen anstellte.43 Auf einen Schwachsinnigen also trafen die Universitätsmediziner nicht. Daher lief ihr Urteil darauf hinaus, Fritz Adler die Zurechnungsfähigkeit für seine Handlungen zu bescheinigen. An den wiederholt aufwallenden Depressionszuständen wollten sie nicht zweifeln, aber einen Konnex zum Attentat auf den Ministerpräsidenten konnten sie nicht diagnostizieren. Den tieferen Grund für den Anschlag sahen die Ärzte im fanatischen Wesenszug von Friedrich Adler. Indes, so die bemerkenswerte Feststellung der 42  Braunthal, S. 233. 43  Ebd., S. 234.

Verfasser des Gutachtens: »Der Fanatiker und der Geisteskranke sind Sprossen desselben Stammes. Man wird sich aber hüten müssen, die beiden in ihrer sozialen Bewertung und daher auch hinsichtlich ihrer Verantwortlich-

44  Zit. nach Rudolf G. Ardelt, Der Prozess gegen Friedrich ­Adler, in: Karl R. Stadler (Hg.), Sozialistenprozesse. Politische Justiz in Österreich 1870–1936, Wien 1986, S. 181–234, hier S. 192.

keit auf dieselbe Stufe zu stellen. Denn es hat Fanatiker gegeben, die hohe Kulturwerte geschaffen haben. Vom ethischen Standpunkte ist A.s Tat weniger verwerflich, als zum Beispiel die eines Menschen, der zur Wiederherstellung seiner verletzten Ehre einen anderen kaltblütig tötet.«44 Franz Walter  —  Tödliche Schüsse im Nobelrestaurant

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GERICHTSVERFAHREN IM STIMMUNGSWECHSEL DER ­Ö STERREICHISCHEN GESELLSCHAFT Im Verlauf der Monate, die bis zum Prozess vergingen, veränderte sich in der Öffentlichkeit, insbesondere in sozialdemokratischen Kreisen, allmählich die Bewertung von Adlers Tötungsdelikt. Nicht allein Irrsinn und Nervenprobleme standen nun im Zentrum der Betrachtungen, sondern – nach der Art des universitären Gutachtens – die ethischen Beweggründe, die politischen Absichten des Angeklagten, der in der Rezeption der Parteibasis nunmehr zum Helden erwuchs, welcher »einsam heroisch handelte, als alle anderen noch verirrt waren«45. Denn auch die gesellschaftlichen und politischen Umstände hatten sich in dem guten halben Jahr zwischen den Schüssen im Oktober 1916 und dem Gerichtsverfahren im Mai 1917 kräftig verändert.46 Die Versorgungsprobleme verschlimmerten sich; die wachsende Zahl der Toten verschärfte die Bitterkeit über den Krieg; der zähe Stellungskrieg mit all den täglichen Opfern und dem Grauen an der Westfront zermürbte; das Ansehen und die Stabilität der Monarchie bröckelten, als vier Wochen nach Adlers Schüssen auch der greise Kaiser Franz Josef, der nahezu 68 Jahre auf dem Thron ausgeharrt hatte, starb und sein in Regierungsangelegenheiten unerfahrener Großneffe Karl ihm nachfolgte. Im März 1917 gingen dann neue Energieströme durch die Viertel der Industriearbeiterschaft im Habsburgerreich, da Massenstreiks und Aufstände in St. Petersburg der drei Jahrhunderte währenden Herrschaft der Romanows und damit dem Zarismus den Garaus machten.47 Monarchische Herrschaft war nicht gottgewollt und ehern, so konnte man die Nachricht aus Russland auffassen und damit auch die Tat Adlers wohlwollender deuten als noch im Herbst des vorangegangen Jahres. In diesem Stimmungswechsel fand der Prozess vor dem Wiener Schwurgericht statt. Der Angeklagte nutzte die Gelegenheit, sich zu rechtfertigen, in unzweifelhaft glänzender Manier, mit einer ciceronischen Rede, die nicht weniger als sechs Stunden dauerte. Dieser Zeitrahmen wurde Friedrich ­Adler auch von der Justiz mit penibler Fairness gewährt, was insofern verblüffte, als der Sozialist ja sein Tun damit zu legitimieren versuchte, dass andere Mittel als das, zu dem er gegriffen hatte, im Kriegsabsolutismus, der alle Rechte und Freiheiten beschnitten habe, nicht hätten angewandt werden können.48 Auch über den Verlauf seiner Verhandlung konnte Adler sich nicht beschweren. Der vorsitzende Richter und der Staatsanwalt behandelten ihn mit vorzüglicher Hochachtung, ließen die härtesten Vorwürfe gegen das bestehende System zu, versäumten auch nicht, den Angeklagten respektvoll mit »Herrn ­Doktor« anzusprechen.

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45  Misik, S. 110. 46  Maderthaner, S. 142; Fritz Kaufmann, Sozialdemokratie in Österreich, Wien 1978, S. 63. 47  Meysels, S. 234 f. 48  Tatsächlich zur Abwertung von Parlament, Zivilregierung und auch Monarchie durch das »neue Geflecht militärisch dominierter Institutionen« siehe Jörn Leonard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014, S. 209.

Adler nahm seine Chance wahr. In seinem Auftritt verknüpften sich seine beiden Wesenszüge, der rigorose ethische Imperativ mit seiner mathematischen Gründlichkeit, auf für ihn vortreffliche Weise. Das Publikum im gefüllten Saal folgte seiner langen Ansprache mit gebannter Spannung und erkennbarer Sympathie. In keinem Moment akzeptierte Adler die Rolle des defensiven Verteidigers seiner selbst.49 Er klagte stattdessen seinerseits an: die Politik in Österreich, die Mentalität im Land – und die Fügsamkeit seiner eigenen Partei. Schon der Auftakt war deutlich. Auf die Eingangsfrage des Gerichtspräsidenten, ob er sich schuldig bekenne, antwortete er: »Ich bin schuldig in demselben Maße, wie jeder Offizier, der im Krieg getötet oder Auftrag zum Töten gegeben hat, um nichts weniger, aber auch um nichts mehr.«50 Auf den Satz aus der Anklageschrift, bei gesitteten Menschen bedürfe es keiner weiteren Erörterung, dass »in einem geordneten Staatswesen« Mord als politisches Kampfmittel unbedingt verwerflich sei, entgegnete er: »Ich bin mit dem Herrn Staatsanwalt ganz einverstanden, daß in einem geordneten Staatswesen wirklich der Mord kein politisches Kampfmittel sein kann. Ich bin vollständig derselben Meinung. Die Voraussetzung aber, die hier zu prüfen ist, ist die Frage, ob wir in einem geordneten Staatswesen leben. Und dann bekommt die ganze Frage einen anderen Charakter. Ich will nicht auf den allgemeinen Begriff ›Gesitteter‹ eingehen. Ob unsere Herrschenden ›Gesittete‹ sind, ist ein moralisches Urteil. Sondern ich will die ganz konkrete Frage erörtern, ob wir uns ›in einem geordneten Staatswesen‹ befinden. Und aus dieser Frage resultiert für mich die moralische Rechtfertigung, den Mord als politisches Kampfmittel zu verwenden.«51 Adler zeigte nun an etlichen Beispielen auf, wo überall Recht und Verfassung, also die Ordnung des Staatswesens, von den Regenten selbst missachtet wurden, von der Ausschaltung des Parlaments, der ausufernden Pressezensur, der extremen Beschneidung der Versammlungsfreiheit, der Sistierung der Schwurgerichtsbarkeit – und so weiter. Daraus folgerte er:

49  Auch Ardelt, S. 184 ff.

»Berechtigt zur Gewalt ist nach meiner Meinung, wenn das Gesetz zertreten ist, ein

50  Maier u. Spitaler, S. 59.

des Notstandes, den die Regierung verschuldet hat. Ja, jeder Staatsbürger hat nicht

51  Ebd., S. 62. 52  Ebd., S. 74.

jeder Staatsbürger, jeder ist berechtigt, sich sein Recht selbst zu verschaffen auf Grund nur das Recht zur Gewalt, sondern meiner Überzeugung nach auch die Pflicht, sich einzusetzen in dem Moment, wo alle verfassungsmäßigen Instanzen fehlen, wo es kein Parlament gibt, wo alle Rechtsgarantien, die wir sonst haben, beseitigt sind.«52 Franz Walter  —  Tödliche Schüsse im Nobelrestaurant

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Adler gestand ein, dass ihm das Gebot der christlichen Botschaft – Du sollst nicht töten! – eigentlich lieber wäre. Nur: »Wenn man aber zur historischen Erkenntnis kommt, daß man noch kein wirklicher Christ sein kann und darf in der Zeit der Barbarei, in der Zeit der Untermenschlichkeit, in der Zeit der Unkultur, in der wir leben, dann gibt es nur einen konsequenten Standpunkt; wenn wir wirklich noch töten müssen und getötet werden, dann kann der Mord kein Privilegium der Herrschenden sein, dann sind auch wir zu den Mitteln der Gewalt berechtigt. Wenn es wahr ist, daß die Zeit der Menschlichkeit noch nicht gekommen ist, dann wollen wir Gewalt wenigstens nur üben im Dienst der Idee der Menschheit.«53 FEUER GEGEN DEN »ÖSTERREICHISCHEN GEIST« UND DR. KARL RENNER Die innere Logik von Adlers apologetischen Ausführungen zur ethisch-rechtlich fundierten Begründung seiner Tat war in dieser Perspektive schwer zu bestreiten. Selbst der Wiener Korrespondent der Frankfurter Zeitung schrieb über Adlers Rede und den Eindruck, den sie im Saal hinterließ: »Als Zuhörer hatte man das Gefühl, man müsse sich rechtfertigen, daß man’s nicht selber getan habe.«54 Diese Bewertung hat sich so oder ähnlich auch beim Gros der Historiker gehalten. Doch ganz so zwingend rational, mathematisch konsistent, scharf logisch durchargumentiert, wie es zeitgenössisch und in der Retrospektive meist hieß, war Adlers Sechsstunden-Beitrag vor Gericht allerdings nicht. Denn in seinem Vortrag ging es nicht nur um den im Weltkrieg verschärf­ ten Absolutismus des politischen Regimes, dessen Auswüchse den Anschlag auf den »Tyrannen« rechtfertigen mochten. Vielmehr sollten seine Schüsse auf Stürgkh, wie Adler eifrig darlegte, auch ein »Attentat gegen die österreichische Moral«55 gewesen sein. Hier aber gingen, über den ethischen Rigorismus und den »Exzeß des Mathematischen«56 hinaus, Emotionen und Affekte

53  Maier u. Spitaler, S. 233.

mit ihm durch; dabei obsiegte gleichsam der nicht seltene Hochmut geistiger Eliten gegen den Rest des Volkes, das als tumb, manipulierbar, konditioniert, allein mit niederen Instinkten a­ usgestattet verachtet wird. Adler bekannte sich zu seinem »tiefsten Haß« gegenüber dem »österreichischen Geist«, der »biederen Verlogenheit«, der »Prinzipienlosigkeit«, der »Kameraderie im politischen Gewerbe«.57 Unbehagen und Abscheu über Mentalitäten solcher Art mochten charakterlich löblich sein; aber rechtfertigten sie den politischen Mord? Besonders merkwürdig – und wenig logisch – war, dass Adler dann ausgerechnet sein Opfer, den Ministerpräsidenten Graf

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54  Vgl. o.V., Todesstrafe für Stürgkh-Attentäter, in: Frankfurter Zeitung, 23.05.1917. 55  Maier u. Spitaler, S. 127 f. 56  Victor Adler vor Gericht über die Tat seines Sohnes, in: Maier u. Spitaler, S. 163. 57  Ebd., S. 83.

Stürgkh, von diesen ihm widerwärtigen Charaktereigenschaften des Österreichischen ausnahm. Stürgkh sei nicht von der »österreichischen Immoral gekränkelt« gewesen, ihn hätte man »achten« können, er sei zwar ein »unerbittlich« zu bekämpfender Gegner gewesen, aber doch ein Mann, »dessen Charakter ich in gewisser Weise die Achtung nicht versagen konnte«, »kein österreichischer Lehmpatzen, wie sie sonst üblich sind«.58 Warum aber hatte Adler dann ausgerechnet einen Politiker eliminiert, der gerade nicht das repräsentierte – die »österreichische Moral« –, was der Todesschütze mit seinen Kugeln doch zumindest symbolisch z­ uvörderst treffen wollte?59 Wahrscheinlich ging es Adler gar nicht um den Grafen und Ministerpräsidenten. Vermutlich ging es ihm auch nicht zuallererst um den »österreichischen Geist« opportunistischer Geschmeidigkeit im Allgemeinen. Ausgangspunkt und Adressat der tödlichen Handlungsweise war die eigene Partei, mit seinem Vater an der Spitze. Deren Haltung hatte ihn in Zorn, Anspannung und Ohnmacht versetzt, hatte ihn zum Kauf des Revolvers bewogen, zum Attentat getrieben. Dieses Motiv allerdings war nicht leicht mit dem entlastenden Legitimationszertifikat des »Tyrannenmordes« zu salvieren. Daher wurde es zuweilen in der mit Adler sympathisierenden Geschichtsschreibung heruntergespielt. Aber Adler selbst ließ schon vor Gericht keinen Zweifel daran, dass ihn seine tiefe Enttäuschung über die ihm verheerend erscheinende Rolle der Sozialdemokratie für Einstellungen und Verhalten der proletarischen Massen zur Tat veranlasst hatte: »›Wenn Sie verstehen wollen‹ rief er in seiner Attacke auf die ›österreichische Moral‹ vor der Richterbank aus, ›was mich hierher geführt hat, dann ist es die Tatsache, daß dieser Geist der biederen Verlogenheit in meine Partei, in die Sozialdemokratie, Eingang gefunden hat, daß er in ihr repräsentiert ist durch diesen Doktor Karl Renner, der nichts anderes darstellt als einen Lueger in der Sozialdemokratie, der den Geist der Prinzipienlosigkeit, den Geist der Gaukelei 58  Ebd., S. 128. 59  Die Frankfurter Zeitung allerdings attestierte Stürgkh, anders als Adler, »Verschlagenheit« und »wenig Charakter«; er sei als Ministerpräsident ein politischer »Fortwursteler« gewesen; vgl. Zitate in Koszyk, S. 424. 60  Maier u.Spitaler, S. 83. 61  Ebd., S. 103.

in unsere Partei gebracht hat, daß man sich immer schämen muß, das auf sich sitzen zu lassen. […] Das müssen Sie verstehen. Das ist die wirkliche Quelle, der wirkliche Zusammenhang meiner Tat‹«.60 Die zutiefst schändliche »österreichische Moral« – sie sammelte sich für ­Adler mithin auf geradezu fatale Weise ganz besonders in der organisierten Arbeiterbewegung. Diese war dadurch nationalistisch geworden, verkleinbürgerlicht, ja: eine »konterrevolutionäre Instanz«61. Interessanterweise ließ sich Adler in seiner wüsten Philippika, die kaum noch als kühl und rational zu bezeichnen war, von den militärischen Phrasen seiner Zeit, die ihm doch Franz Walter  —  Tödliche Schüsse im Nobelrestaurant

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zuwider waren, mitreißen. Die Sozialdemokratie sei in »der langen Friedenszeit von 45 Jahren« ideologisch und kämpferisch erschlafft; nun würden dort Apparatschiks, Schriftsteller, Abgeordnete, Lehrer dominieren – kurz: »eine ganze Zivilverwaltung, aber keine Offiziere mehr«, die noch in der Lage wären, »unter gewissen Umständen mit Gewalt vorzugehen«.62 Eine Partei von Parvenüs sei aus der SDAP geworden; und der Allerübelste unter diesen Verrätern und Geschäftemachern sei – wie Adler wieder und wieder bekräftigte – Dr. Karl Renner, später sozialdemokratischer Staatskanzler zu Beginn der Ersten und Bundespräsident anfangs der Zweiten Österreichischen Republik.63 Aber legitimierte dergleichen Furor gegen mediokre Bürokraten, Lehrer und Aufsteiger in einer Partei, die vor revolutionären Massenaktionen zurückschreckte und auch rhetorisch zurückhaltend mit dem Jargon des Umsturzes umging, einen Mord? VOM GEISTESKRANKEN ZUR POLITISCHEN IKONE Natürlich nicht, dürften die meisten Leser auf diese zugegebenermaßen suggestiv formulierte Frage wohl antworten. Wäre es anders, müsste die gesamte politische Klasse in den modernen Demokratien täglich mit einem terroristischen Anschlag (gar aus den eigenen Reihen) rechnen. Aber 1917 ff., inmitten des Krieges und danach, sah das ein wachsender Teil der sozialdemokratischen Linken anders. Am Ende des Prozesses – an dem das Todesurteil stand – feierten die Zuhörer im Saal und auf der Galerie ihren neuen Helden: Friedrich Adler. Selbst die bürgerlich-liberale Frankfurter Zeitung geriet ins Schwärmen: »Ein ›Held‹ von hervorragenden seelischen und geistigen Eigenschaften, ein Charakter wie nur je ein Brutus der Weltgeschichte, von einer Selbstlosigkeit, die ans Unpersönliche grenzt, erfüllt von einem Fanatismus für das öffentliche Wohl, der Selbstaufopferung im gegebenen Fall als geradezu selbstverständliche Pflicht ansieht, kommt in eine Lage, in der ihm der Schmerz über die Leiden der Welt und die Erbitterung über die vermeintliche Versumpfung seiner eigenen Partei nach seinem Gefühl keinen anderen Ausweg offen läßt als durch eine selbst aufopfernde Tat das Gewissen der Zeitgenossen wachzurütteln. Mit klarerem Märtyrerwillen ist nie ein Verbrechen begangen worden.«64 Auch die russischen Bolschewiki sparten, zumal im Anschluss an die erfolgreiche Oktoberrevolution, nach dem anfänglichen Spott nicht mit Ehrerbietungen gegenüber Adler. Trotzki stellte den Antrag, den österreichischen Genossen zum Ehrenmitglied des Arbeiter- und Soldatenrates von Petrograd zu

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62  Maier u. Spitaler, S. 104. 63  Zu Renner vgl. Richard Saage, Der erste Präsident. Karl Renner – eine politische Biografie, Wien 2016. 64  O.V., Der Prozeß Adler, in: Frankfurter Zeitung, 23.05.1917.

ernennen; Lenin organisierte Solidaritätsveranstaltungen für den gefangenen Österreicher, ließ Hunderttausende von Ansichtskarten mit dem Konterfei des Austrosozialisten drucken; der Platz vor dem Kreml hieß in dieser frühen Zeit der Sowjetrepublik Friedrich-Adler-Platz, mehrere andere Straßen und Schulen trugen ebenfalls den Namen von Adler, der zudem zum Ehrenkommandanten der Roten Armee und zum Ehrenvorsitzenden des Obersten Sowjets ernannt wurde.65 Doch der Kult um Friedrich Adler beschränkte sich seit dem Mai 1917 nicht auf den kommunistischen, gewissermaßen den nicht-demokratischen Teil der Arbeiterbewegung. Die Ikonisierung Adlers, der eigentlich ja eher ein timider, gehemmter und introvertierter Mann war, zur unbeugsamen Märtyrergestalt und zum Vorbild für unkorrumpierbare Kampfgesinnung erfolgte ähnlich und mit längerer Dauer in den Reihen der Sozialdemokratie, nicht nur Österreichs. Aus Deutschland sandten u. a. Hugo Haase und Wilhelm Dittmann sechs Tage nach dem Prozess (für die Parteileitung der neuen USPD) Grüße mit dem »wärmsten Ausdruck der Verehrung«66 ins Gefängnis. Haase und Dittmann waren nicht irgendwelche unbedeutenden Randfiguren der deutschen Sozialdemokratie: Haase hatte von 1911 bis 1916 den Vorsitz der SPD inne, ab 1913 stand er zugleich an der Spitze der Reichstagsfraktion seiner Partei; Dittmann, Abgeordneter im Reichstag von 1912 bis 1933, bekleidete von 1922 bis 1933 die Funktion des geschäftsführenden Vorsitzenden der sozialdemokratischen Parlamentsfraktion. Und auch in der österreichischen Partei begann die eifrige Re-Integration des zuvor noch verlorenen Sohnes. Friedrich Austerlitz, der Chefredakteur der Arbeiter-Zeitung, begrüßte ihn jetzt wieder als »Genosse«, hielt ihm nicht mehr wie noch im Oktober 1916 die »unselige Tat« vor, sondern pries ihn als »Helden und Märtyrer«, als »Symbol des Befreiungskampfes«.67 Das Todesurteil gegen Adler wurde nicht vollstreckt, sondern zunächst 65  So bei Sturmthal, S. 44. 66  Dokumentiert in: Maier u. Spitaler, S. 29. 67  Leser, Der Sturz des Adlers, S. 38; Zimmermann, Stürgkh, S. 188. 68  Reiter, S. 269.

in eine 18-jährige Haft umgewandelt. Stürgkhs Nachfolger und Friedrichs Vater Victor kannten und schätzten einander.68 Die von Friedrich Adler ätzend angeprangerte »österreichische Moral« mochte ihm so den Hals gerettet haben. Zudem bescherte diese Moral ihm eine, wie er selbst mehrere Male äußerte, recht angenehme Haftzeit mit Vorzugsbehandlungen in der Strafanstalt Stein an der Donau.69 Auch hier bewirkten mancherlei Mauscheleien, dass er mit dem privilegierenden Vorzug persönlicher Verpflegung, eigener Kleidung, Befreiung von Sträflingsarbeit ausgestattet war, über Bücher und Zeitungen seiner Wahl verfügen konnte und sich in aller Ruhe den wissen-

69  Hierzu ebd., S. 273. 70 

Maderthaner, S. 144; Siems, S. 47.

schaftlichen Studien hingeben durfte.70 Anfang November 1918 amnestierte Kaiser Karl ihn in einer seiner letzten Amtshandlungen der Habsburgischen Monarchie dann vollends. Am Franz Walter  —  Tödliche Schüsse im Nobelrestaurant

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2. November konnte Adler als freier Bürger nach Wien zurückkehren. Die österreichische Linke hatte nun ihr Idol, ja: ihren »Heiligen des Sozialismus«71, den starken Heros, der den Mut zur Tat hatte, als alle anderen kleinmütig verzagten oder gar im Chor von Bourgeoisie und Adel mitsangen.72 Schon am Tag seiner Haftentlassung hatte ihn der Parteitag der SDAP unter frenetischem Jubel der Delegierten in den Parteivorstand gewählt. Adler erhielt sein Amt als Parteisekretär, auch seinen Redakteursposten im Theorieorgan Der Kampf zurück. 1919/20 gehörte er als sozialdemokratischer Parlamentarier der österreichischen Nationalversammlung, danach für einige Jahre dem Nationalrat an. Auch die Räterevolutionäre hatten ihn 1919 sogleich an die Spitze ihres Reichsvollzugsausschusses gewählt. Die neu gegründete Kommunistische Partei bemühte sich, ihn zum Parteiwechsel und zur Übernahme des Vorsitzes in der KP zu bewegen.73 Als Adler dieses Ansinnen ablehnte, wodurch er seiner SDAP die schmerzliche deutsche Erfahrung einer zunehmend antagonistisch gepaltenen Arbeiterbewegung in zwei gewichtige Formationen wohl erspart haben dürfte,74 fand die ­Adler-Begeisterung im kommunistischen Weltlager allerdings sogleich ein abruptes Ende: Fortan schmähte man ihn wieder als »Arbeiterverräter« und »Konterrevolutionär«.75 Friedrich-Adler-Feiern führten hingegen die Jugendorganisationen des ­demokratischen Sozialismus in den 1920er Jahren durch. Adler, »der für seine Tat sterben wollte, erfüllte eine ganze Generation mit Enthusiasmus und dem Vorsatz, sich einer edlen Sache zu widmen«.76 Als sich die durch den Weltkrieg auseinanderdividierten Sozialdemokraten verschiedener Länder 1923 wieder zur II. Sozialistischen Internationale zusammenfügten, leitete Friedrich Adler das Generalsekretariat dieser transnationalen Organisation, zunächst von London, dann von Zürich, schließlich bis 1939 von Brüssel aus. Als die Wehrmacht einrückte, floh er 1940 zunächst nach Frankreich, um dann über Spanien und Portugal in die USA zu emigrieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte er nach Europa zurück, mied aber – mit Ausnahme eines einzigen Besuchs – Wien. Bis zu seinem Tod 1960 fand er ein neuerli-

71  So die niederländische Sozialistin Henriette Roland Holst, zit. nach Maier u. Spitaler, S. 30. 72 

Braunthal, S. 242.

73 

Ebd., S. 280.

74 

Hautmann, S. 48.

75 

Maderthaner, S. 22.

76 

Sturmthal, S. 42.

77 

Ebd., S. 192.

ches Zuhause in Zürich, wo er sich fortan von der Tagespolitik fernhielt. »In der österreichischen Partei war Adler nach dem Krieg offensichtlich unwillkommen. […] Die Partei war sehr auf Würde und Anstand bedacht, und da passte ein ›Mörder‹ nicht hinein.«77 Das eingangs dieses Aufsatzes vorgestellte Links-Sein des demokratischen Sozialismus ging also stets überaus elastisch mit der Interpretation der eigenen Geschichte und der Bewertung ihrer Akteure um – dabei durchweg im Gestus einer zu jeder Zeit immer anständig und ihren Idealen treu gebliebenen Partei.

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Widerstand und Dissidenz  —  Porträt

Fritz Adler selbst blieb eine prominente Figur des demokratischen Sozialismus in Europa, auch wenn er sich nicht gescheut hatte, einen Repräsentanten der politischen Gegenseite, der Staatsmacht, zu töten. Das blieb in Rezeption und Instrumentalisierung keine lediglich auf ihn beschränkte Marginalie der sozialen Demokratie, da Adler gerade aufgrund dieser Tat in einer der organisationsstärksten, programmatisch führenden Arbeiterparteien der Welt in den Hochämtern der sozialistischen Großgemeinde über Jahre als Held verehrt wurde.78 Auch das war nicht nebensächlich, gerade für Formationen des Sozialismus in ihren fundamental-oppositionellen Zeiten mit den damals virulenten Erlösungsbedürfnissen und -visionen. Historische Bewegungen dieser Art speisen sich aus ikonischen Bildern, Märtyrerfiguren, aus dem Ritus tradierfähiger Folklore von kühnen Schrittmachern, die in düsteren Zeiten die leidenden Massen durch Tatkraft und Mut aus dem Elend in das gelobte Land führen. Dergleichen biblische Muster durchzogen die sozialistische Liturgie durchweg. Sie gaben auch den organisierten Arbeitern Halt, Kraft und Energien, nährten die Imagination von einem befreiten Ort der Zukunft. Große, chronisch übersteigerte Erwartungen wurden auf diese Weise geschürt und allzu häufig elementar enttäuscht. ­Adler selbst war im Grunde ein Opfer solcher vor dem Ersten Weltkrieg durch Marxismus und II. Internationale in die Welt gesetzter Erwartungsperspektiven, die er gleichwohl durch seine Tat 1916 bzw. durch ihre nachträgliche propagandistische Verwertung neu öffnete und weitete.79 ATTENTÄTER AUS OHNMACHT Historiker und Soziologen des Terrorismus haben oft darauf hingewiesen, dass der individualterroristische Anschlag im Kern symbolisch wirken soll.80 Ebendas hat die österreichische Sozialdemokratie nach anfänglichen Monaten der Distanzierung von Adler dann in den Jahren, als es aus allerlei Gründen opportun erschien, weidlich genutzt. Die SDAP war eine durch Symbolik, Rituale, Narrationen epischen Anspruchs übervolle Partei. In den unruhigen Jahren 1917 bis 1920 benutzte die SDAP die Ikone Adler nach allen Regeln der agitatorischen Kunst, um die sich radikalisierenden Teile der Industriearbeiterschaft nicht durch Konversion in Richtung Kom78 

79 

Zimmermann, Bluttat, S. 138 f. Scharfsinnig dazu Leser, Reformismus, S. 279.

80  Sommer, Politische Morde, S. 19.

munismus zu verlieren. Adler verschaffte seiner Partei die sonst kaum verfügbare Aura von festen Prinzipien, unerschütterlicher Friedensgesinnung, unbedingter Standfestigkeit im Kampf gegen Kapitalismus, Monarchie und Imperialismus. Das symbolische Kapital, das aus dem Attentat zu gewinnen war, hatte der demokratische Sozialismus in der brodelnd revolutionären Nachkriegszeit ohne Franz Walter  —  Tödliche Schüsse im Nobelrestaurant

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große Scham mitgenommen und in die Stabilisierung des eigenen Organisationskosmos investiert. Nur: Widersprach das nicht exakt den Absichten Adlers vom Herbst 1916? Instrumentalisierte seine Partei ihn nicht derart, wie er es 1917 im Gerichtsprozess als schändlichen Opportunismus denkbar harsch gebrandmarkt und als einen wesentlichen Beweggrund für seine Aktion herausgestellt hatte? Doch was war dann der historische Sinn, was die Wirkung davon, dass ­Adler, der Mathematiker des Völkerfriedens, den grauenhaften Beschluss fasste, einem Menschen nach eigenem Recht das Leben auszulöschen? Das Habsburgische Reich ging nicht durch diese Schüsse unter. Das Kriegsende rückte dadurch nicht näher. Die Arbeiter Wiens folgten nicht dem Zeichen, das der Attentäter setzen wollte, folgten nicht dem Beispiel ihrer Klassengenossen in Petrograd. Das zog schon im November 1916 den Spott von Maximilian Harden auf sich: Adler »schießt, Graf Stürgkh verröchelt. Und Österreich ist am Abend, wie es am Morgen war.«81 Und à la longue? Als Generalsekretär der erneuerten II. Internationale musste Adler, der nun gut 15 Jahre im Zentrum dieses Zusammenschlusses walten konnte, Ende der 1930er Jahre ein zweites Mal den Kollaps des linken Internationalismus erleben. Wieder war der Krieg nicht zu verhindern gewesen. Wieder hatten die internationalen Sozialisten den politischen Kampf gegen Bewegungen und Parteien des aggressiven Nationalismus verloren. Natürlich war dieses neuerliche und noch verheerendere Scheitern des Sozialismus nicht auf Tun oder Unterlassen eines Einzelnen zurückzuführen. Darin bestand ja das Dilemma, man mag auch sagen, die Tragik im Leben des auf den politischen (vielleicht gar familiären) Absolutismus fixierten Friedrich Adler: in der Ohnmacht einzelner Personen inmitten der die Moderne kennzeichnenden anonymen Wucht und Prägekraft kollektiver, überindividueller Strömungen, Strukturen und Institutionen. Man legte als Einzelner, allein mit dem Revolver in der Jackentasche, nicht die Schalter der Weltgeschichte um, wenn man einen anderen Einzelnen aus den Zusammenhängen von Märkten, Staaten, Bürokratien, Interessenlagen, sozialen Klassen, Finanzflüssen und Rechtssystemen mit Gewalt entfernte.82 Zum Terroristen wurde der Sozialist, typischerweise in der Regel während des 19. Jahrhunderts fernab industriegesellschaftlicher Zentren, wenn er sich von niemandem verstanden fühlte, wenn er ohne massenhaften Anhang geblieben war, einsam und allein in einer Welt von Unkenntnis und Verblendung zu leben meinte. Dann versuchte er es auf eigene Faust, dann durfte er sich nicht damit begnügen, lediglich zu lesen, zu schreiben, zu schwatzen, zu verhandeln; jetzt galt nur die Tat, die alle aufrüttelte, aus Lethargie und

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Widerstand und Dissidenz  —  Porträt

81  Maximilian Harden, Die sieben Tage, in: Die Zukunft, Jg. 25 (1916), Bd. 97, S. 119 f., zit. nach Koszyk, S. 421. 82  Auch Zimmermann, Bluttat, S. 21 f.

Dämmerschlaf riss, die bisher Schwachen und Mutlosen ergriff und ihrerseits zur Aktion anstachelte. Die terroristische Tat war so verlässlich der verzweifelte Ausbruch der Ohnmächtigen.83 Die SDAP war im 20. Jahrhundert eine organisationskräftige Formation mit einer exklusiven Welt an Vereinen, Verbänden und – besonders in Wien – kommunaler Eigenkultur. Terroristische Neigungen entstanden dort nach dem Ersten Weltkrieg nicht. Doch von der politischen, der staatlichen Macht war sie in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts weit entfernt. Insofern rekurrierte die Partei zum Ausgleich gern auf radikale Symbolik und Aktivitäten. Sie camouflierte damit ihre reale Schwäche, simulierte ihren Anhängern eine Scheinwelt höchster proletarischer Potenz, gerüstet selbst für eine mögliche finale Auseinandersetzung im Klassenkampf mit Mitteln der Gewalt.84 Das gehörte ebenfalls zur »österreichischen Moral«, die Adler als Mentalität von Doppeldeutigkeiten, von augenzwinkerndem Trug und Selbstbetrug angeklagt und mit seiner Browning gleichsam zu zerschießen versucht hatte. Nach 1945 spielten gerade die österreichischen Sozialdemokraten virtuos auf der Klaviatur des österreichischen Geistes. Die SPÖ war bald primär daran beteiligt, die von Adler gegeißelten Arrangements systematisch auszubauen und 83  Siehe auch Schneider, S. 5 ff.; Michael Sommer, Attentate in der Weltgeschichte: Was haben sie bewirkt?, in: Aus Parlament und Zeitgeschichte, H. 45–46/2013, S. 3–9, hier S. 8 f. 84  Leser, Der Sturz des Adlers, S. 93. 85  Matthias Micus, Die Macht der Autosuggestion. Reale Krise und gefühlte Stärke bei der österreichischen Sozialdemokratie, in: Felix Butzlaff u. a. (Hg.), Genossen in der Krise? Europas Sozialdemokratie auf dem Prüfstand, Göttingen 2011, S. 31–48. 86  Vgl. Reiter, S. 275. 87  Sturmthal, S. 192.

für eigene Zwecke zu stabilisieren: »Ihr Geist ist das Denken in Gleichgewichten und Äquivalenten, eine jede Seite kann nur dann etwas gewinnen, wenn die Gegenseite eine gleichwerte Kompensation erhält. Die Sozialpartnerschaft hat daher die Herausbildung einer elitären Kameraderie begünstigt, sie hat elitäre Eigeninteressen entstehen lassen und dadurch die Formation einer geschlossenen, klassen- und interessenübergreifenden Führungsschicht gefördert.«85 *** Adlers Mutter übrigens konnte ihrem Sohn die Tat bis zum Ende ihres Lebens wohl nicht verzeihen.86 Friedrich Adler selbst hatte über Jahrzehnte Regungen von Reue, Schuldgefühlen, moralischen Zweifeln nach außen nicht zu erkennen gegeben. Erst spät hatte er gegenüber seinem langjährigen Sekretär im Büro der Internationale, Adolph Sturmthal, ohne es noch näher zu vertiefen, von der »großen Dummheit in seinem Leben«87, dem Attentat vom Oktober 1916, gesprochen.

Prof. Dr. Franz Walter, geb. 1956, war Professor für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen.

Franz Walter  —  Tödliche Schüsse im Nobelrestaurant

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INTERVIEW

»DER MENSCH KLAMMERT SICH AN HOFFNUNGEN« ΞΞ Interview mit Fritz Heine über die Schwäche der Weimarer ­Arbeiterbewegung, den sozialdemokratischen Widerstand und die Zeit des Nationalsozialismus

Das folgende Interview mit Fritz Heine ist bereits im Jahr 1981 geführt worden, damals aus Anlass eines Sammelbandes mit Zeitzeugeninterviews zum Thema des sozialdemokratischen Widerstandes gegen den Nationalsozialis­ mus. Das Interview ist seinerzeit transkribiert und von Heine zum Abdruck freigegeben worden, das geplante Buch aber ist nie erschienen. Bei dem hier publizierten Interview handelt es sich mithin um den Erstabdruck eines Textes, der insofern zwar etwas in die Jahre gekommen, mit Blick auf den Schwerpunkt »Widerstand und Dissidenz« aber nichtsdestotrotz hochaktuell ist. Herr Heine, wie konnte es passieren, dass diese große Organisation der Arbeiterbewegung so fulminant scheiterte, wie das 1932/33 geschehen ist? Vielfach wurde gesagt, dass das Ende der sozialistischen Bewegung und der Republik bereits mit dem Preußenschlag 1 fixiert gewesen sei, weil man den aktiven Widerstand versäumt habe. Während die einen behaupten, das Reichsbanner bzw. die Eiserne Front hätten Gewehr bei Fuß gestanden, besagt eine gegensätzliche Auffassung, es habe überhaupt keine Möglichkeit zum Widerstand gegeben. Wie haben Sie das damals als junger Mann, der beim Parteivorstand angestellt war, empfunden? Na ja, soweit das noch in den Erinnerungen steckt, das ist ja nun viele Jahrzehnte her, waren wir jüngeren Leute an diesem Tage außerordentlich bedrückt, entrüstet, verwirrt, erbost, verärgert. Wir hatten natürlich gehofft, dass sich Widerstand gegen den Papen-Putsch formieren würde, obwohl klar war, dass bei der Millionenzahl von Arbeitslosen und bei der Machtkonstellation gegen die Preußenregierung, also gegen uns, schwerlich etwas zu machen war. Aber so rein impulsiv und vom Herzen her waren wir der Meinung, dass Widerstand geleistet werden müsste. In der Erinnerung sieht das anders aus. Ich sehe von heute her keine Möglichkeit, dass wir erfolgreich

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1  Durch eine Notverordnung des Reichspräsidenten wurde am 20. Juli 1932 die preußische Regierung unter Ministerpräsident Otto Braun (SPD) abgesetzt und Reichskanzler Franz von Papen zum Reichskommissar ernannt. Eine weitere Verordnung schränkte die Grundrechte erheblich ein und stellte jeden ernsthaften Widerstand gegen den Staatsstreich – von Heine im Folgenden »Papen-Putsch« genannt – unter hohe Strafen.

gegen den Papen-Putsch hätten angehen können. Die Stimmung damals war zwar deprimiert, auch voller Wut. Aber irgendwelche konkreten Reaktionsstrategien lagen nicht vor. Wir hatten darüber beim Parteivorstand in der Lindenstraße2 natürlich unmittelbar nachgedacht, waren auf die Straße gegangen, hingen am Telefon; es hat aber offensichtlich keine Möglichkeiten gegeben. Wir erfuhren am nächsten Tag einiges über die Hintergründe der Passivität und über die Gespräche, die es zwischen der Parteispitze und den Gewerkschaften gegeben hatte. Ich glaube, dass die Stimmung, die uns erfasst hatte, also uns Jüngere, der Stimmung der meisten anderen Sozialdemokraten entsprach; aber es kam nichts an konkretem Widerstand heraus außer Kundgebungen, außer Erklärungen. Was hieß das eigentlich konkret, wenn in diesem Zusammenhang immer wieder davon die Rede war, das Reichsbanner und andere sozialdemokratische Organisationen hätten »Gewehr bei Fuß« gestanden und seien bereit gewesen zu kämpfen? Das ist schwer zu sagen. »Gewehr bei Fuß«, dabei fängt es schon an. Das Reichsbanner war vom Standpunkt der Gegenwehr aus denkbar schlecht ausgerüstet. Es hätte militärisch überhaupt keine Möglichkeit gehabt, sich gegen die Reichswehr oder die Polizei, von der SA und SS ganz zu schweigen, durchzusetzen. Die tatsächliche Bewaffnung des Reichsbanners war so minimal, dass man hinterher nur erschrocken sein konnte. Ein Beispiel dafür: Wir jüngeren Leute im Parteivorstand hatten mit Zustimmung und Hilfe des Vorstandes ein Waffenarsenal zur Verteidigung des Vorwärts angelegt und hatten da also Waffen – Maschinengewehr, Pistolen, Maschinenpistolen und 2  In dem Gebäudekomplex Lindenstraße 2–4 hatten bis zum Verbot der SPD im Jahr 1933 der Parteivorstand der SPD, die Parteischule, das Parteiarchiv sowie Verlag, Buchhandlung und Druckerei des Parteiorgans Vorwärts ihren Sitz. 3  Karl Höltermann, 1894 in Pirmasens geboren und 1955 in der Nähe von London gestorben, war Chefredakteur der sozialdemokratischen Tageszeitung Magdeburger Volksstimme und ab Dezember 1931 zunächst kommissarischer, seit April 1932 sodann gewählter Bundesvorsitzender des Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold; er amtierte bis zum Verbot des Verbandes im März 1933.

Gewehre – gesammelt. Ich erinnere mich nun, dass 1932 Höltermann3 mit der Frage zu uns kam, ob wir ihm nicht aus unserem Vorrat Waffen für das Reichsbanner abtreten könnten. Für uns war das eine groteske Vorstellung, dass das riesengroße Reichsbanner auf unsere paar hundert Waffen, die wir insgesamt hatten, angewiesen sein könnte und dass da also eine Notwendigkeit bestehen könnte, von uns Waffen anzufordern. Militärisch, waffenmäßig gab es überhaupt keine Chance zum »Gewehr bei Fuß«. Es hätte natürlich zu Streiks kommen können. Aber streiken Sie mal, wenn Sie wissen, dass sechs Millionen Arbeitslose nur auf Arbeit warten und gern jeden Platz besetzen würden, den ein Streikender freimacht. Hinzu kommt die Spaltung der Arbeiterschaft. Sie wissen, dass die Kommunisten mit den Nazis gelegentlich gemeinsame Streikaktionen gegen die Sozialdemokraten und die Freien Gewerkschaften gemacht haben – und eine gespaltene, geschwächte Arbeiterbewegung mit einem Millionenheer von Arbeitslosen ist nicht in der Lage, erfolgreiche Kämpfe oder Streiks durchzuführen. Interview mit Fritz Heine  —  »Der Mensch klammert sich an Hoffnungen«

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Andererseits wirkte das Ausbleiben irgendwelcher Gegenwehr zutiefst deprimierend und lähmend auf viele Mitglieder und Anhänger der Sozialdemokratie und darüber hinaus womöglich ermutigend für die zu diesem Zeitpunkt ebenfalls mit Problemen konfrontierten Nationalsozialisten. Das ist ganz ohne Zweifel richtig. Dass dieses Ereignis, der Papen-Putsch, außerordentlich lähmend auf die Arbeiterbewegung gewirkt hat, steht außer Zweifel. Psychologisch und praktisch war dies der schwerste Schlag, den die freie Arbeiterbewegung seit dem Kapp-Putsch erhalten hatte. Darüber gibt es überhaupt keine Meinungsverschiedenheit. Sie sagten gerade, dass Sie vom Parteivorstand ein kleines Waffenarsenal zur Verteidigung des Vorwärts angelegt hatten. Wo sah man eigentlich 1932, als man solche Pläne entwarf, die größte Gefahr: in einer autoritären Regierung Papen, die möglicherweise das Vorwärts-Gebäude besetzen würde, oder im Faschismus? Sie kennen den Spruch, dass die Generäle einen neuen Krieg immer mit den Ideen und Waffen vom letzten Krieg führen. Im Grunde genommen ging es uns auch so. Die Partei hatte ja schon einmal einen Sturm auf das Vorwärts-­ Gebäude und die Parteizentrale erlebt – durch die Kommunisten im Jahr 1919. Im Grunde genommen sind wir bei unseren Verteidigungsvorstellungen immer davon ausgegangen, dass sich etwas Ähnliches durch die Nazis in Bezug auf die Parteizentrale ergeben würde. Das war auch durchaus logisch zu begründen: Es sind in den Jahren 1931/32 ja Dutzende und Aberdutzende von P ­ artei-­ und Gewerkschaftshäusern durch Stoßtrupps der Nazis überfallen worden. Wir rechneten also damit, dass die Nazis an irgendeinem Tage uns mit ihrer SA und SS überfallen und dass sie in das Parteihaus eindringen würden. Dagegen wollten wir uns wehren in der Vorstellung: Wenn dieser Trupp kommt, dann werden wir ihn zurückschlagen und zurückschlagen können. Das hätten wir sicher gekonnt und das Haus verteidigt bis zu dem Zeitpunkt, da Polizei oder wer auch immer eingegriffen hätte, um Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Das war, wie gesagt, an sich ein logischer Gedanke, aufbauend auf den früheren Erfahrungen. Er hatte den Nachteil, dass er nicht stimmte, weil erstens die Nazis einen solchen Angriff nicht gemacht haben; und zweitens, als die Besetzung des Vorwärts-Hauses kam, da war die Hitler-Regierung schon da. Aber unter der Voraussetzung, dass es so gekommen wäre, dass unter einer reaktionären Regierung die Nazis frecher geworden wären und das Haus überfallen hätten, hätten wir erfolgreich Widerstand leisten können. Dazu haben wir nicht nur die Waffen angeschafft, sondern auch die Verbindungen mit den 33 Bezirken über eine illegale Sende- und Empfangsstation organisiert. Aber das ging eben von Voraussetzungen aus, die nicht eintrafen.

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Widerstand und Dissidenz  —  Interview

Dennoch markiert die Ausstattung mit Waffen, wenn man sich das Reichsbanner bis 1929/30 anschaut, einen Wandel. Bis in die 1930er Jahre war das Reichs­ banner ein recht biederer Saalschutz, der die Reden auf Versammlungen halbwegs sichern sollte, aber der Gedanke an Waffen existierte noch nicht. Wann und wie ist denn dieser Gedanke, sich möglicherweise mit Waffen gegen diese frechen Banden, wie Sie es genannt haben, verteidigen zu müssen, überhaupt aufgekommen? Das hat sich entwickelt. Wahrscheinlich 1930/31 begannen die Terrorakte der Nazis stärker zu werden. Die Nazis bewaffneten sich. Ich glaube, es war im Juli 1932, da hat es über 150 Tote bei Wahlschlachten gegeben. Das heißt also, es gab eine zunehmende Brutalisierung und eine zunehmende Bewaffnung aufseiten der Nazis. Das hatte zur Folge, dass wir zur Gegenwehr griffen; denn solange der Gegner mit Schlagstöcken arbeitete, konnte man mit Schlagstöcken dagegen angehen. Aber sobald die Nazis mit Pistolen ankamen, mussten wir natürlich auch Pistolen haben, um uns zur Wehr zu setzen, um unsere Versammlungen zu schützen, unsere Vereinslokale zu sichern. Also, das war ein Sich-Steigern in der Potenz der Brutalität und der Auseinandersetzungen und so kam eins zum anderen und führte dann im Falle des Parteihauses zu dieser Waffenansammlung und zu den Übungen und alldem, was dazugehörte. 4  Die Eiserne Front wurde im Dezember 1931 auf Initiative des Reichsbanners als Gegengewicht zur Harzburger Front der faschistischen und autoritären Rechten gegründet. Auch die Bünde der freien Gewerkschaften, ADGB und Afa-Bund, sowie die SPD gehörten der Eisernen Front an. Ikonisch wurde der von Sergei Tschachotin gestaltete Dreipfeil, der auf Plakaten, Abzeichen und auf den Massenkundgebungen der Organisation gezeigt wurde. 5  Otto Hörsing, 1874 in Groß-Schilleningken geboren und 1937 in Berlin gestorben, war zwischen 1920 und 1927 Oberpräsident der preußischen Provinz Sachsen. Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold gründete Hörsing 1924 nach österreichischen Vorbild. Nach seiner Ablösung durch Höltermann im Dezember 1931 und dem Parteiausschluss im Juli 1932 gründete er die bei Wahlen erfolglose Kleinpartei Sozial-Republikanische Partei Deutschlands (SRPD).

Gab es in dieser Frage eigentlich Disharmonien zwischen bspw. dem Parteivorstand der Sozialdemokratie und der Eisernen Front 4, weil deren Aktivitäten dem Parteivorstand zu weit gingen? Oder war der Parteivorstand einig mit den Bestrebungen der Schutzformationen? Ich glaube nicht, dass es Differenzen gegeben hat. Der Kontakt zwischen Höltermann und dem Parteivorsitzenden Otto Wels, mithin den beiden Spitzenleuten, war gut. Sie wissen, dass es da eine Periode Hörsing5 gegeben hat. Nachdem Hörsing wiederholt die eigene Partei verbal attackiert hatte, wurde er im Juli 1932 aus der Partei ausgeschlossen und schon zuvor, im Dezember 1931, an der Spitze des Reichsbanners durch Höltermann ersetzt. Höltermann war im Übrigen der Vorschlag von Wels gewesen, sodass es seither meines Wissens nach keine wesentlichen Meinungsverschiedenheiten zwischen den Führungen von Reichsbanner und SPD mehr gegeben hat. Hat es denn bei der jüngeren Generation in der Sozialdemokratie, der ja auch Sie angehörten, so etwas wie warnende Stimmen, Vorschläge oder gar Pläne gegeben, dass man sich auf eine Phase der Illegalität einzurichten habe? Ich kann mich nicht erinnern, dass man sich auf eine Illegalität, so wie sie dann gekommen ist, eingestellt hat. Wir waren 1931/32 von der Vorstellung Interview mit Fritz Heine  —  »Der Mensch klammert sich an Hoffnungen«

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ausgegangen, dass, falls es zum Nazi-Putsch kommen könnte oder kommen würde, dass dieser Nazi-Putsch aber niedergeschlagen werden würde. Von wem sollte er niedergeschlagen werden? 1931/32 noch durch die Reichswehr und die Polizei. Es schien damals so, als wenn die Reichswehr trotz ihres reaktionären Charakters, der ja nicht verborgen war, aber doch von ihrem »Ruhe und Ordnung«-Standpunkt aus einen wirklichen Putsch im Sinne der Nazis entweder verhindern oder niederschlagen würde. Darüber gibt es wahrscheinlich auch bei den Historikern keine großen Zweifel. Nur hat sich das eben anders zugetragen. Die ganzen Voraussetzungen, Vorhersagen, Überlegungen, die wir und andere angestellt haben, basierten auf der letztlich falschen Annahme eines Putsches und der Niederschlagung eines Putsches und damit der Niederringung der Nazis. Aber es hat doch innerhalb der Sozialdemokratie, man kann zumindest sagen: am Rande der Partei oder unter den Mitgliedern, die ehemals der Partei angehört haben – ich denke da an die SAP oder die Gruppe »Neu Beginnen«, denen Mitglieder angehörten, die nach 1945 dann eine große Rolle in der Sozialdemokratischen Partei gespielt haben –, schon 1930/31 relativ genaue Tendenzprognosen gegeben. Mit dem Ergebnis, dass man von dieser Seite auf die Einübung einer illegalen Praxis drängte und z. T. schon konspirative Organisationen bildete, zum Beispiel eben Neu Beginnen oder auch die Roten Kämpfer. Bei der SAP und bei Neu Beginnen war es klar, dass beide Gruppierungen von unterschiedlicher Stärke und unterschiedlicher Potenz in einem Gegensatz zur SPD standen und dass Aussagen von ihnen nicht unbedingt Heilslehren für die SPD sein konnten. Was Neu Beginnen betrifft, so war die ursprüngliche Vorstellung dieser Gruppe, eine Zusammenfassung von KPD und SPD unter der Führung von Neu Beginnen zu bewerkstelligen, was völlig illusorisch war. Übrig blieb eigentlich nur die versuchte Integration in die KPD und eine gewisse Integration in die SPD – wobei man auch das nicht überbewerten darf. Ich glaube, von den 100 Ortsvereinen der SPD in Berlin hatte Neu Beginnen in drei oder vier Vorstandsmitglieder. Es war also eine kleine, durchaus konspirative Gruppe, aber in einer Größenordnung, die nicht ausschlaggebend war. Ja, das ist mir klar. Aber es hat doch in der Gruppe Neu Beginnen nicht nur Gedankenspielereien gegeben, sondern eben auch eine nicht unerhebliche Praxis. Und immerhin hat sie in Berlin einen dominierenden Einfluss in der ca. 3.000 Mitglieder umfassenden Sozialistischen Arbeiterjugend besessen. Hat es denn in solchen Bezirken, wie zum Beispiel Sachsen, die ja traditionell zur Parteilinken gehörten,

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Widerstand und Dissidenz  —  Interview

eher Vorbereitungen auf eine mögliche Illegalität oder den Widerstand gegeben, als das in jenen Bezirken der Fall war, die sich eng an der vorgegebenen Politik des Parteivorstandes orientierten? Nein! Der Parteivorstand hatte die Absicht, am 6. März 1933 eine Parteiausschusssitzung einzuberufen. Er war sich klar darüber, dass man das nicht mehr in Berlin machen konnte unter den Umständen, die dort gegeben waren. Alfred Nau6 und ich wurden deshalb beauftragt, nach Leipzig zu fahren, um im Leipziger Volkshaus die Vorbereitungen für die Parteiausschusssitzung zu betreiben. Wir haben mit den Leipziger Sekretariatsleuten und den anderen darüber gesprochen und die Voraussetzungen zu schaffen versucht. Als wir noch im Volkshaus waren, kurz vor unserer Rückfahrt, besetzte die SA das Volkshaus. Während wir am Vormittag noch mit unseren Leipziger Freunden darüber gesprochen hatten, wie man das alles machen sollte mit der Organisation der Sitzung, wurden sie von der Besetzung des Volkshauses völlig überrascht, genauso wie wir. Das Volkshaus in Leipzig war nicht irgendein Gebäude, sondern ein Symbol der sächsischen Arbeiterbewegung. Ich fürchte daher, dass man in der ganzen Partei sehr wenig auf die Illegalität vorbereitet war. Wir in der Zentrale vielleicht noch etwas mehr als andere. Aber eine Partei, die fünfzig Jahre in der Legalität gearbeitet hat und in der es praktisch niemanden mehr gab, der die erste, verhältnismäßig harmlose Illegalität der Partei von 1878–90 erlebt hatte – davon war niemand mehr da, wenigstens nicht mehr aktiv –, eine solche Partei, die so lange legal gelebt hat, tut sich außerordentlich schwer, sich praktische Vorstellungen von der Illegalität zu machen. Das klingt heute ahnungslos, nach den Erfahrungen, die wir später machen mussten; aber man muss sich in die Lage der Leute versetzen, die damals in der Führung oder überhaupt in der Partei waren. Haben Sie noch Erinnerungen daran, wie die Auffassung der Mitglieder in den ersten Tagen des Februars 1933 war? War man der Meinung, das wird so ähnlich, wie es der Partei unter dem Sozialistengesetz ergangen war: Also es lässt 6  Alfred Nau, geboren 1906 in Barmen und 1983 in Bonn gestorben, war 1928 als Volontär zum Parteivorstand der SPD gekommen und wurde dort Assistent des Hauptkassierers Emil Ludwig. Nach 1933 nutzte Nau seine Netzwerke als Bezirksleiter einer Versicherung, um sozialdemokratische Widerstandskontakte aufrechtzuerhalten. Nau wurde 1946 Parteikassierer der SPD – ein Amt, dessen Inhaber später als Bundesschatzmeister firmierte.

sich halbwegs durchstehen? Glaubte man, der Hitler werde schnell abwirtschaften? Oder gab es auch Stimmen, die gesagt haben: »Es hat viel Kraft gekostet, den Hitler von der Macht fernzuhalten, was wir nach Jahren des Erfolgs dann letztlich doch nicht geschafft haben; es wird demnach noch mehr Kraft kosten, ihn wieder von der Macht wegzukriegen«? Es hat unterschiedliche Meinungen gegeben. Es ist klar, dass eine ganze Reihe von Leuten entweder geglaubt hat oder sich Glauben gemacht hat, es handele sich um einen Spuk, der schon vorübergehen oder es jedenfalls nicht zum Äußersten kommen lassen würde, der also auch eine legale Interview mit Fritz Heine  —  »Der Mensch klammert sich an Hoffnungen«

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Sozialdemokratie weiterhin ermöglichen würde. Solche Illusionen hat es ja selbst bis zum Tod der Partei gegeben. Denken Sie an die Sitzung der Reichstagsfraktion vom 17. Mai 1933; denken Sie an die Gründung des inneren Parteivorstandes durch Paul Löbe7; denken Sie an die Reisen, die Vorstandsmitglieder ins Ausland gemacht haben, um zu beruhigen. All das ging von der Vorstellung aus, es gebe noch eine legale, eine sehr eingeschränkte, aber legale Überlebenschance für die SPD. Es gab auch andere Stimmen und es war klar, dass wir Jüngeren, wir jüngeren Angestellten im Parteivorstand, aber auch einige Vorstandsmitglieder da skeptischer waren. Wir haben im Februar begonnen, illegal zu leben, waren ab dieser Zeit also nicht mehr in unseren Wohnungen. Wir haben das, was wir irgendwie vernichten konnten, vernichtet und die Waffen, die nicht mehr zu verwenden waren, vergraben. Wir haben Geldschränke geleert, Konten in Sicherheit gebracht und Ähnliches mehr, was so dazu gehörte. Aber eine Partei, die so legal gelebt hat wie die SPD, die sich als so wesentlicher Teil der Republik betrachtet hat, der fällt das – noch einmal – furchtbar schwer, sich von heute auf morgen auf die Untergrundarbeit einzustellen. Das kann man mit einer kleinen Gruppe wie Neu Beginnen, mit zwanzig oder dreißig Mann, sehr viel leichter machen als mit einer Partei, die eine Million Mitglieder hat und die überall in den Institutionen sitzt. Mit Blick auf die Stimmung, die im Februar/März 1933 herrschte: Gab es damals bei sozialdemokratischen Mitgliedern noch so etwas wie Hoffnung, dass vielleicht doch noch das Signal zum Generalstreik oder Ähnliches kommt, oder überwog die Resignation? Es hat ja noch in Berlin im Februar eine große, wuchtige Kundgebung stattgefunden mit der Parole »Berlin bleibt rot«. Drückte das so etwas wie Trotz und Hoffnung aus? Oder war das schon Resignation? Selbstverständlich hat es bei sehr vielen Menschen die Vorstellung und die Hoffnung gegeben, dass ein Generalstreik oder ein Aufstand erfolgen würde. Nach dem 2. Mai und dem nicht gerade ruhmreichen Verhalten der Gewerkschaften war das noch mehr eine Illusion, als es das zuvor gewesen war. Der Mensch klammert sich an solche Hoffnungen auch dann, wenn die Aussichtslosigkeit ihm sozusagen ins Gesicht geschrieben steht. Dass Hoffnungen solcher Art vorhanden waren, ist zweifelsfrei; dass sie bei den führenden Leuten hingegen kaum noch vorhanden waren, steht ebenso fest. Wie sah denn die Parole des Parteivorstandes aus? Wie sollten sich die Mitglieder verhalten, wie sah die Richtschnur aus, welche die Sozialdemokratie in dieser mehr als heiklen Situation proklamierte?

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Widerstand und Dissidenz  —  Interview

7  Paul Löbe, geboren 1875 in Liegnitz und 1967 in Bonn gestorben, war 1919 Vizepräsident der Weimarer Nationalversammlung, anschließend von 1920 bis 1933 Mitglied des Reichstags und mit kurzer Unterbrechung bis 1932 Präsident des Reichstags, danach dessen Vizepräsident.

Die Tendenz war, sich so zu verhalten, dass einerseits keine zu große Gefahr für Leben und Gesundheit eingegangen und andererseits die Organisation geschützt würde. Soweit die zentralen Dinge in Betracht kamen, war man der Meinung, alles beiseitezuschaffen, was den Nazis in die Hände fallen könnte – entweder an Dokumenten oder Wertsachen. Die Kommunikation zwischen der Parteizentrale und den Bezirken war ja praktisch unterbunden; es gab zwar noch Kontakte, aber von einer normalen Verbindung konnte keine Rede mehr sein. Also von einem normalen Parteileben mit Mitgliederversammlungen auch nicht mehr? Nein, natürlich nicht. Es hat sicher noch Orte gegeben, wo man sich treffen konnte, unter einem Deckmantel, bspw. im Gesangverein oder sonst dergleichen. Das hat es gegeben, auch in späterer Zeit noch; aber offizielle Versammlungen waren schon ab Mai 1933 vollkommen unmöglich. Ich finde es erstaunlich, dass es auf der Reichskonferenz Ende April noch möglich war, einen neuen Parteivorstand zu wählen. Wie ist diese Reichskonferenz abgelaufen? War sie schon halb illegal oder war sie noch offiziell bekannt? Sie fand sozusagen noch im Schutz der Immunität des Reichstages statt. Sie war aber bereits nicht mehr zu vergleichen mit anderen Veranstaltungen. Der Schatten der Illegalität war schon deutlich sichtbar. Aber auch da klammerten sich viele noch an die Hoffnung, dass man doch überwintern könne, dass man doch die Organisation – wenn auch unter Schwierigkeiten – über eine schlimme Zeit hinwegbringen könnte. Es gab ja immer noch die Vorstellung, dass im Kabinett von elf Leuten nur drei Nazis seien, die anderen deutschnational oder parteilos. Es wurden Illusionen gehegt und geweckt, die sich nicht erfüllten. Hat es denn in diesen Monaten, aber auch schon angefangen 1932, eine ernsthafte Debatte gegeben, ob man in dieser Situation doch vielleicht eine Einheitsfront mit den Kommunisten gestalten sollte? Dazu waren die Voraussetzungen überhaupt nicht gegeben. Wenn die Kommunisten uns mehr oder minder täglich in der Roten Fahne als Sozialfaschisten beschimpften, wenn sie mit den Nazis gemeinsamen Streik machten, wie sie das im Berliner Straßenbahnerstreik gegen die freien Gewerkschaften und die SPD gemacht hatten, dann verbot sich für die Mehrzahl der Sozialdemokraten,

vielleicht für fast alle Sozialdemokraten der Gedanke an eine Einheitsfront mit Kommunisten von vornherein. Es lag keine Chance darin. Die Vorstellungen der Kommunisten, die davon ausgingen, wir müssten durch den Faschismus durch, um zum Siege zu kommen, und jene der Sozialdemokratie, unter keinen Interview mit Fritz Heine  —  »Der Mensch klammert sich an Hoffnungen«

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Umständen zuzulassen, dass es zu einer faschistischen Diktatur kommen dürfe, waren so diametral entgegengesetzt, dass vom Grundsätzlichen wie vom Taktischen her keine Möglichkeit eines Zusammengehens bestand. Und was sich in den vorangegangenen zwölf Jahren an politischen, organisatorischen, ideologischen und sonstigen Differenzen zwischen KPD und SPD ergeben hatte, das ließ sich auch nicht ausschalten, auch nicht angesichts der faschistischen Gefahr, die ja im Übrigen völlig unterschiedlich von beiden Parteien beurteilt wurde. Es gibt einen bekannten Artikel von Stampfer 8 im Vorwärts, in dem er eine Arbeitslosendemonstration der Kommunisten sehr wohlwollend beschreibt und der zu einer Kontroverse im Parteiausschuss geführt hat. Stampfer schreibt darin, dass die Leute, die in kilometerlangen Schlangen erbarmungswürdig, kaum was an den Füßen, mit zerrissenen Jacken durch den kalten Januartag marschieren, dass das wertvolle Menschen seien, welche die Sozialdemokratie nicht ignorieren dürfe. Das hat im Parteiausschuss zu der Debatte geführt, ob dies eine offizielle Einheitsfrontaktion mit den Kommunisten meine. Man muss zwischen den Menschen, die geführt wurden, und den Drahtziehern dieser Organisation unterscheiden. Insofern war Stampfer durchaus im Recht, dass er an die Menschen dachte, die in Elend waren. Und das Elend war ja entsetzlich. Das ist überhaupt nicht vergleichbar mit irgendeiner Situation heute. Noch einmal zurück zur Frage der Strategie der Partei und der Illegalität: Ist es überspitzt ausgedrückt, wenn man sagt, dass illegale oder konspirative Arbeit nur in den seltensten Fällen stattfand? Das würde ich für überspitzt halten. Es hat doch sehr viele kleine und größere Zusammenschlüsse von Sozialdemokraten und Gewerkschaftern und Reichsbannerleuten gegeben, die auf ihre Weise illegal zusammengearbeitet haben. Das weisen ja im Grunde genommen auch die Prozesse nach, die glücklicherweise nur einen Teil der illegalen Arbeit aufdecken konnten. Die »Grünen Berichte« etwa enthalten Tausende von Einzelinformationen, die wir von Freunden in Deutschland bekommen haben, und jeder einzelne Bericht bedeutete eine illegale Arbeit. Dass der Widerstand sich in anderen Formen vollzog, als das im Lehrbuch stand oder vorgesehen war, ist eine andere Sache. Könnten Sie vielleicht einige Formen dieses Widerstandes noch näher charakterisieren? Ich habe dieser Tage eine alte Anklageschrift gegen Markwitz9 und Genossen durchgesehen – das war eine sozialdemokratische Widerstandsgruppe

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8  Friedrich Stampfer, geboren 1874 in Brünn und 1957 in Kronberg gestorben, wurde 1916, nach seiner Rückkehr aus dem Krieg, Chefredakteur des Vorwärts, für den er zuvor jahrelang geschrieben hatte. Von 1920 bis 1933 war er Mitglied des Reichstags, von 1925 bis 1928 Mitglied des Parteivorstands. Stampfer war seit Ende 1931 ein Anhänger einer Zusammenarbeit mit der KPD gegen den drohenden Nazifaschismus und führte Gespräche mit offiziellen sowjetischen Vertretern. Nach 1933 gehörte er dem Exilvorstand der SPD in Prag an. 9  Alfred Markwitz war Kreisleiter der SPD in Berlin-Lichtenberg und plante mit seiner Widerstandsgruppe ein Attentat auf Adolf Hitler. Die Gruppe scheiterte, auch weil die Gestapo Spitzel im Markwitz-Kreis hatte.

in Berlin und Breslau, die dann zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt wurde. Das waren etwa ein Dutzend Genossen, die ich fast alle kannte, die ich auch wiederholt bis zu ihrer Verhaftung und ihrem Prozess 1934 in Berlin aufgesucht habe. Die haben sich getroffen und Material empfangen, Material, das aus Prag kam und das sie verbreitet haben. Sie haben versucht, in ihrem Kreis Propaganda zu machen und den sozialdemokratischen Standpunkt zu vertreten, sind dann aber – wie viele Gruppen – an irgendeinem Ende aufgeribbelt worden und danach durch entsprechende Behandlung der Gestapo zusammengebrochen. Ähnliches hat es in fast allen Städten gegeben. Wenn sie sich die Berichte darüber durchsehen, dann werden sie immer wieder das fast einheitliche Muster finden, dass einige Leute angefangen haben, einen Kreis von Freunden um sich zu versammeln, und unter allen möglichen Tarnungen zusammengekommen sind und ihre Auffassungen vertreten haben. Diese Kreise waren jeweils sehr, sehr klein, um nicht Gefahr zu laufen, entdeckt zu werden. Die größte Gruppe umfasste, glaube ich, 160 Sozialdemokraten. Das aber war völlig leichtsinnig unter den dann gegebenen Umständen. Am besten war es, wenn es ganz kleine Zirkel waren. Sie wissen, dass wir rings um Deutschland zehn Sekretariate hatten, die Grenzsekretäre, und dass die Grenzsekretäre, die ungefähr zehn, zwanzig, fünfzig Kilometer von der Grenze entfernt saßen, ihrerseits dann wieder Grenzvertrauensleute hatten, die direkt an der Grenze saßen, und dass bis 1936 ein ständiger Kontakt über die Grenze hinweg bestand. Sozialdemokraten kamen, sprachen mit den Grenzvertrauensleuten, gaben Informationen, mündlich oder schriftlich, nahmen Materialien in Empfang und mit herüber. Rinner10 und ich sind jedes Wochenende in all den Jahren an der Grenze gewesen. Entweder habe ich die Vertrauensleute, die von Deutschland kamen, über die Grenze geholt und wir haben dann unterhalb der Grenze – in der Regel im Riesengebirge, manchmal aber auch im Isargebirge – mehrere 10  Erich Rinner, geboren 1902 in Berlin und 1982 in Washington, D.C. gestorben, war promovierter Volkswirt und arbeitete bereits während seines Studiums für die SPD-Reichstagsfraktion sowie für Abgeordnete und Minister; 1933 war er kurzzeitig besoldetes Mitglied des Parteivorstands. Im Prager Exil stellte Rinner die berühmten »Deutschland-Berichte der Sopade« zusammen. Nach seiner Emigration in die USA arbeitete Rinner zunächst weiter politisch, wurde aber schließlich Investmentbanker und kehrte nicht nach Deutschland zurück.

Stunden zusammengesessen und Rinner hat mit seinem berühmten Fragebogen eine Vielzahl von Fragen gestellt, weil die Leute ja in der Regel nicht wussten, was sie alles wissen und welche Informationen nützlich und erforderlich waren. Es hat eine ganze Reihe von Kurieren gegeben, die nach Prag und anderen Stellen gegangen sind, und ich bin ein Dutzend Mal in Deutschland gewesen, um Kontakte aufzunehmen und Nachrichten zu erhalten. All solche Dinge hat es gegeben. Haben denn diese kleinen Zirkel jeweils immer einen Kontaktmann gehabt, mit dem man mit den anderen Zirkeln verkehrte bzw. mit der Emigrationsleitung, oder wie sah dieses Netz aus? Interview mit Fritz Heine  —  »Der Mensch klammert sich an Hoffnungen«

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In der Regel war jeder Zirkel für sich. Es wäre gefährlich gewesen, hätten die Zirkel miteinander Kontakt gehabt. Dort, wo es der Fall war, wo dann ein Kreis aufgeschmissen und verhaftet wurde, war es dann fast zwangsläufig, dass im Laufe der Untersuchung dann auch die Verbindungen zu anderen Kreisen bekannt und die anderen auch ausgehoben wurden. Von vornherein war also unsere Vorstellung, unsere Anregung, unser Wunsch, dass jede Gruppe für sich und ohne Kontakt mit anderen bleiben sollte. Was natürlich die Arbeit, die Informationen und die Möglichkeiten des Kontakts nach draußen erschwerte. Wie wurde er dann überhaupt hergestellt? Es wusste praktisch jeder schon durch die Information der Nazis, dass in Prag die Zentrale des SPD-Vorstandes saß. Das war also kein Geheimnis. Diese Gelegenheit nutzen konnten vor allen Dingen natürlich diejenigen, die mehr oder weniger in Grenznähe saßen, also fünfzig oder sechzig Kilometer von der Grenze entfernt. Wenn Sie in Prag so wichtige Zentren der Arbeiterbewegung wie Hannover, Frankfurt oder die Städte des Ruhrgebiets mit Informationen beliefern wollten, wie haben Sie das bewerkstelligt? Das wurde in der Regel nicht von uns, sondern von den Grenzsekretariaten aus gemacht. Wir haben kaum direkte Beziehungen zu den Gruppen gehabt, sondern das den Grenzsekretariaten, den Vertrauensmännern und Verbindungsleuten überlassen, die es im Reich gab. Es wäre bei der Gefährdung, welche die Leute hatten, wenn sie bis Prag kamen, zu risikoreich gewesen, noch einmal über die Grenze zu gehen. Drei Kilometer ins nächste sudentendeutsche Dorf zu gehen, das war eine Sache. Aber eine Fahrt nach Prag zu machen, mit Grenzbeamten zu tun zu haben, war eine ganz andere Sache. Wie sah denn im Wesentlichen das Material aus, das Sie nach Deutschland reingebracht haben? Und wie haben das die Grenzsekretäre weitervermittelt? Wurde das wie während des Sozialistengesetzes trickreich verpackt – oder wie sah es aus? Sehr unterschiedlich, es hat sehr viele Möglichkeiten gegeben. Durch Kontakte zum Beispiel zu den Eisenbahnern war es zumindest in den ersten zwei Jahren teilweise durchaus möglich, auch etwas größere Pakete zu schmuggeln. Sonst wurde es in der Regel durch Boten transportiert, die es in Verstecken mitnahmen, im Fahrrad oder Koffer oder auf sonstige Weise. Wir haben zum Beispiel Sardinenbüchsen verpackt, in denen zwei oder drei Tarnausgaben der Sozialistischen Aktion waren. Wir nutzten auch Geheimfächer

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und Geheimmittel, die in jener Zeit entwickelt und von anderen Emigrantengruppen übernommen wurden. Zudem waren wir durch den glücklichen Zufall, dass zwei unserer Mitarbeiter in Prag technisch hochbegabt waren, in der Lage, eine Schreibmaschinenseite auf Daumengröße herunter zu fotografieren. Auf diese Weise konnten wir vertrauliche Informationen verbreiten. Waren die Möglichkeiten illegaler Arbeit von 1933 bis 1939 kontinuierlich gleich gut oder gab es für die widerstandsleistenden Gruppen tiefe Einbrüche? Nein, die Möglichkeiten waren absolut nicht immer gleich gut. Man kann vielleicht ganz grob gesehen so sagen: 1933 eine schreckliche Niedergeschlagenheit und bei der Mehrzahl der Parteimitglieder keinerlei Aktivität; Wiederaufnahme der illegalen Arbeit etwa Ende 1933 mit einem Höhepunkt 1934, besonders nach dem Röhm-Putsch, der illusionäre Hoffnungen weckte, bis etwa 1935; dann sehr viel wirksamere Gegenstöße der Nazis, deutlich verbesserte Arbeit der Gestapo. Ich fürchte, dass man sagen kann, ab 1936 war kaum noch organisierte Widerstandsarbeit möglich – das bezieht sich nicht nur auf die sozialdemokratischen, sondern wahrscheinlich auch auf die meisten anderen Gruppen. Individuelle Opposition, individueller Widerstand, individuelle Berichterstattung noch bis 1939, bis praktisch zum Kriegsausbruch, aber in stetig vermindertem Umfang, allerdings auch deshalb vermindert, weil ab 1938 mit der Besetzung der Tschechoslowakei durch die Deutschen die großen Grenzsekretariate wegfielen. Dann die Erschwernisse, die es in den Niederlanden gab mit dem Verbot der illegalen Arbeit und der Ausweisung unseres Grenzsekretärs. Es war also eine stark sich neigende Kurve. Praktisch hörte mit dem Kriegsausbruch der direkte Kontakt auf. Es gab dann nur noch über neutrale Länder, über Seeleute, über Schweden bloß sporadischen Kontakt. Das drückt sich auch in den Berichten selbst aus. Bei den Kommunisten gab es ein starkes Problem mit Spitzeln. Hatten die Sozialdemokraten damit auch ihre Schwierigkeiten? Es hat auch einige Spitzel bei den Sozialdemokraten gegeben. Ein mir bekannter war Reinhold Schwabe, der vor 1933 der technische Leiter des Arbeiter-Radio-Bundes gewesen war. Ein Mann, der auch eine Zeit lang in Prag tätig gewesen war und der über Frauengeschichten dann zum Nazi-Spitzel wurde. Hat es in diesen ersten Jahren des Faschismus irgendwelche Querverbindungen gegeben zwischen dem sozialdemokratischen Widerstand und Gruppen, die wir schon einmal genannt haben, also Neu Beginnen, SAP, Rote Kämpfer, Roter Stoßtrupp oder gar zu den Kommunisten? Interview mit Fritz Heine  —  »Der Mensch klammert sich an Hoffnungen«

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Das kann ich nicht sagen, ob es zu den Kommunisten innerhalb Deutsch-

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lands Kontakte gegeben hat. Es ist aber wenig wahrscheinlich, aus beiderseitigem Interesse wenig wahrscheinlich. Zwischen uns und den Kommunisten in Prag hat es zwei oder drei Besprechungen gegeben, bei denen wir dann den Austausch von Spitzel-Listen verabredet, aber keine weitere Zusammenarbeit begründet haben. Erstens aus den bekannten politischen Gründen, aber auch, weil wir überzeugt waren, wie sich leider zu Recht herausstellte, dass die Kommunisten noch außerordentlich stark von Spitzeln durchsetzt waren. Es hat auf der mittleren Ebene Kontakte mit einer Reihe von Gruppen gegeben. Das erklärt sich schon daraus, dass unser Grenzsekretär in Karlsbad, Willi Lange, Mitarbeiter der Gruppe »Revolutionäre Sozialisten« war. Die Berichte, die er bekam, wurden uns übermittelt. Aber auch Böchel11 wäre hier zu nennen oder Waldemar von Knoeringen12, der einer der besten Grenzsekretäre war und für Neu Beginnen votierte, also sowohl uns wie auch Neu Beginnen berichtete. Ähnliches gilt hinterher für Erwin Schöttle13 in der Schweiz. Auf dieser Ebene ergaben sich also Kontakte.

11  Karl Böchel, geboren 1884 in Koblenz und 1946 in Fjellhamar gestorben, war in der Weimarer Republik Chefredakteur der Chemnitzer Volksstimme. Im Dresdner Landtag war er nach der Abspaltung des rechten Parteiflügels zur Alten Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (ASPD) Fraktionsvorsitzender der verbliebenen SPD-Landtagsfraktion. In Prag gehörte er dem Exilvorstand der SPD an, war Grenzsekretär in Karlsbad, brach aber 1935 mit der Sopade und gründete zusammen mit Siegfried Aufhäuser die Revolutionären Sozialisten Deutschlands (RSD). 1938 emigrierte er nach Norwegen und starb dort, schwer erkrankt, 1946. 12  Waldemar von Knoeringen, geboren 1906 in Rechetsberg und 1971 in Bernried gestorben, war vor 1933 SAJ-Funktionär in München. Der »rote Baron«, wie er aufgrund seiner adeligen Herkunft genannt wurde, war nach 1933 in mehreren europäischen Ländern im Widerstand gegen den Nazifaschismus aktiv. So leitete er in Neuern (CSR) ein Sopade-Grenzsekretariat. Nach dem Krieg war er lange Jahre Vorsitzender der bayerischen SPD und Mitglied des SPD-Parteivorstands. 13  Erwin Schöttle, geboren 1899 in Leonberg und 1976 in Baden-Baden gestorben, war vor 1933 Parteisekretär in Stuttgart, nach 1933 Sopade-Grenzsekretär in St. Gallen und emigrierte 1939 nach London, wo er der dortigen Gruppe von Neu Beginnen vorstand. Zwischen 1949 und 1972 war Schöttle Mitglied des Deutschen Bundestages für den Wahlkreis Stuttgart.

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Vielleicht noch einmal zu den Kommunisten: Im Prager Manifest der Sopade von 1934 sind einige recht radikal formulierte Passagen drin, u. a. die Maxime nach der Einheit der Arbeiterklasse. 1935 sind dann die Kommunisten offiziell von der sogenannten Sozialfaschismustheorie abgerückt und proklamierten nun die Volksfront. Hat diese neue Orientierung der Kommunisten beim emigrierten Parteivorstand der SPD zu einer neuen Diskussion über das Verhältnis zu den Kommunisten geführt, zumal ja damals auch noch eher linksorientierte Leute wie Böchel und Aufhäuser 14 im Sopade-Vorstand vertreten waren oder auch Paul Hertz 15? Es hat in diesen ersten Jahren im Parteivorstand heftige Diskussionen über die Frage sowohl der künftigen Gestaltung der Programmatik wie auch der künftigen Arbeit gegeben, auch die Frage der Zusammenarbeit mit anderen Gruppen. Dabei hat es natürlich Meinungsverschiedenheiten gegeben. Aber 14  Siegfried Aufhäuser, geboren 1884 in Augsburg und 1969 in Berlin gestorben, war bereits im späten Kaiserreich ein führender Gewerkschafter. Von 1921 bis 1933 war er Vorsitzender des Allgemeinen freien Angestelltenbundes (Afa-Bund), des zweiten großen freien Gewerkschaftsverbandes der Weimarer Republik. Nach 1933 wirkte er für die Sopade in Prag, bevor er gemeinsam mit Karl Böchel (s. o.) die Revolutionären Sozialisten Deutschlands (RSD) begründete. Über Paris, wo er dem Lutetia-Kreis angehörte, emigrierte er schließlich 1939 nach New York. 1951 kehrte er nach Deutschland zurück und wurde Vorsitzender der Deutschen Angestellten-­ Gewerkschaft (DAG).

zu keinem Zeitpunkt hat es eine Mehrheit für die Zusammenarbeit mit den Kommunisten gegeben. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob Böchel und Aufhäuser sich für eine solche Zusammenarbeit eingesetzt haben – ich glaube

15  Paul Hertz, geboren 1888 in Worms und 1961 in West-Berlin gestorben, war von 1928 bis 1933 Mitglied des Reichstags für den Wahlkreis Merseburg. Nach 1933 war er Mitglied des SPD-Exilvorstands in Prag, überwarf sich als Neu-Beginnen-Mitglied aber mit der Sopade und emigrierte in die USA. 1949 wurde er von Ernst Reuter in die Berliner Magistratsverwaltung berufen und war u. a. von 1951 bis 1953 Senator für den Marshall-­ Plan und das Kreditwesen.

Interview mit Fritz Heine  —  »Der Mensch klammert sich an Hoffnungen«

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16  Rudolf Breitscheid, geboren 1874 in Köln und 1944 im KZ Buchenwald gestorben, war promovierter Nationalökonom und 1918/19 preußischer Innenminister, damals noch für die USPD. Er gehörte dem Reichstag seit 1920 an, zunächst für die USPD, nach der Wiedervereinigung 1922 für die SPD. Breitscheid war ein früher Warner vor dem Faschismus, emigrierte im März 1933 nach Frankreich und gehörte später in Paris dem Lutetia-Kreis an. Nach der Okkupation Frankreichs 1940 tauchte er unter, wurde aber schließlich verraten und nach Deutschland verschleppt, wo er 1944 im KZ starb. 17  Wilhelm Hoegner, geboren 1887 in München und 1980 ebendort gestorben, war Jurist und seit 1929 Staatsanwalt in München. Für die SPD war er Mitglied des Bayerischen Landtags von 1924 bis 1930, danach Mitglied des Reichstags von 1930 bis 1933. Nach seiner Entlassung aus dem Staatsdienst und der Flucht nach Österreich war er für wenige Monate Parteisekretär in Innsbruck und emigrierte nach der Errichtung des Dollfuß-­ Regimes in die Schweiz. Dort schrieb er, der bereits vorher ein brillanter Publizist gewesen war, einen satirischen Roman, entwarf aber auch Pläne für die Verfassungsordnung eines demokratischen Deutschland nach dem Nazifaschismus. Hoegner war 1945/46 erster bayerischer Ministerpräsident und später noch einmal Ministerpräsident der sogenannten Viererkoalition zwischen 1954 und 1957.

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es nicht, kann das aber aus der Erinnerung nicht mehr sicher sagen. Aus den Gesprächen, die ich mit Böchel geführt und die ich noch in Erinnerung habe, würde sich das eigentlich nicht ergeben. Zur »Einheit der Arbeiter­ bewegung«: Dass es immer ein Ziel war, die Einheit der Arbeiterbewegung herzustellen, wobei natürlich jeder daran dachte, dass die andere Partei dann zu verschwinden habe, ist klar. Das ist ein Grundmotiv der Arbeiterbewegung seit ihrer Gründung gewesen. Wie hat denn der Prager Sopade-Vorstand diese Gespräche gesehen und beurteilt, die in Paris über die Gründung einer Deutschen Volksfront geführt wurden, zumal an diesen Gesprächen ja auch Breitscheid 16 teilnahm, der jahrelang ein außerordentlich prominenter Sozialdemokrat gewesen war? Wir sind von vornherein gegen diese Volksfront-Vorstellung gewesen und 18  Rudolf Hilferding, geboren 1877 in Wien und 1941 in Paris gestorben, war Mediziner und als Nationalökonom Verfasser des Werkes »Das Finanzkapital«. Der Vorwärts-Redakteur wechselte 1917 zur USPD und wurde dort Schriftleiter des Parteiorgans Freiheit. Nach der Vereinigung zur MSPD war er zweimal Reichsfinanzminister in der Weimarer Republik; zugleich war er Mitglied des Reichstags von 1924 bis 1933. Auch Hilferding war nach 1933 für die Sopade in Prag tätig und emigrierte 1938 weiter nach Frankreich. Er starb 1941 in der Auslieferungshaft in einem Gestapo-­Gefängnis, nachdem er zuvor schwer gefoltert worden war. 19  Johannes Stelling, geboren 1877 in Hamburg und 1933 in Berlin gestorben, war von 1921 bis 1924 Ministerpräsident von Mecklenburg-Schwerin. Zudem war er Mitglied der Nationalversammlung und nach 1920 mit lediglich kurzer Unterbrechung bis 1933 Mitglied des Reichstags. Stelling, der seit 1924 dem Parteivorstand angehörte, trat nach dem Reichstagsbrand vehement mit der These auf, es habe sich hierbei um eine bewusste Provokation seitens der Nazis gehandelt. Stelling wurde in der Nacht vom 21. auf den 22. Juni verhaftet und wenig später ermordet.

es hat heftige Auseinandersetzungen mit Breitscheid darüber gegeben, es hat auch Auseinandersetzungen mit Wilhelm Hoegner17 gegeben. Die Auseinandersetzungen haben sich erst gelegt, als auch Breitscheid klar war, dass die Volksfront-Aktion der Kommunisten eben ein Volksfrontmanöver war. Breitscheid hat sich dann zurückgezogen von diesen Aktivitäten und als wir 1938 nach Paris übersiedeln mussten, haben Breitscheid sowie auch Hilferding18 wieder regelmäßig an Parteivorstandssitzungen teilgenommen und es hat da keine wesentlichen Differenzen mehr über diese Frage gegeben. Breitscheid hat seinen Standpunkt für die Vergangenheit aufrechterhalten, aber er hat akzeptiert, dass das für die Zukunft kein gangbarer Weg sei. Sie haben jetzt angedeutet, dass die Beziehungen des Prager Parteivorstandes zu früheren Parteivorstandsmitgliedern, deren Emigrationsland nicht die Tschechoslowakei war, sich nicht ganz ohne Spannungen gestalteten. Aber wie sah das in den ersten Monaten nach der Machtübernahme Hitlers aus, als Otto Wels u. a. schon in Prag gewesen waren und den Exilvorstand dort gebildet hatten, während in Berlin gleichzeitig noch Vorstandsmitglieder wie Löbe oder Johannes Stelling 19 waren, die ja auch einen gewissen Führungsanspruch reklamieren konnten? Wie hat da das Verhältnis ausgesehen? Das war angespannt. Was Stelling betrifft – er wurde ja dann sehr früh erschlagen und in einen Sack gesteckt und in einen Fluss geworfen –: Stelling war ein wunderbarer Mann, ich habe viele Jahre unter ihm gearbeitet. Die Vorstellungen, die Löbe und seine Freunde hatten, deckten sich dagegen absolut nicht mit den Sorgen, die wir über die künftige Entwicklung hatten. Löbe ging von der Hoffnung aus, dass eine Sozialdemokratie, wenn sie sich nur entsprechend verhalte, auch über die Nazi-Zeit legal Interview mit Fritz Heine  —  »Der Mensch klammert sich an Hoffnungen«

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gerettet werden könnte. Das hielten wir im Mai/Juni 1933 für eine völlige Illusion. Wir haben leider recht behalten. Es hat Meinungsverschiedenheiten noch bis zum Herbst gegeben. Ich erinnere mich an eine Besprechung zwischen Max Westphal20 und Erich Ollenhauer21. In dieser stundenlangen Besprechung zwischen diesen beiden wirklich intimen Freunden hat es keine Übereinstimmung gegeben, obwohl beide keine Kampfhähne, sondern beide sehr ruhige, abwägende Leute waren. Aber in der Einschätzung der Situation waren sie so unterschiedlich, dass eine Verständigung nicht möglich war.

20  Max Westphal, geboren 1895 in Hamburg und 1942 in Berlin gestorben, war von 1922 bis 1927 SAJ-Vorsitzender. Von 1927 bis 1933 gehörte er dem Parteivorstand an. Er ging nicht in die Emigration, sondern hielt als Leiter einer Sterbekasse die Verbindung zu den Genossen aufrecht. 1942 starb er entkräftet, nach mehrfacher Verhaftung und einer Anklage wegen »Vorbereitung zum Hochverrat«.

Kann man sagen, je weiter man von Deutschland entfernt war, desto nüchterner sah man die Realitäten? Das würde ich nicht sagen, denn Leute, die nach Amerika gegangen waren, waren über die Entwicklung in Deutschland vielleicht zu einem Teil optimistischer als die, die in Prag saßen, oder die, die in Paris saßen. Ich würde eher sagen: Die Realitäten, denen die Leute rings um Deutschland begegneten – nicht nur in Prag, sondern auch in Kopenhagen, Amsterdam, Straßburg –, diese Realitäten, denen diese Menschen in diesen Orten und Ländern täglich begegneten, die waren so eindrucksvoll, dass sie ein klareres Bild schufen, als man es in Deutschland oder in Übersee haben konnte; besonders in Übersee, wo man sowieso andere Probleme hatte. Wir beschäftigten uns ja nur mit der Situation in Deutschland. Jemand, der auf Madeira oder in New York lebte, hatte um seine Existenz zu kämpfen und hatte erst mal sein Le-

21  Erich Ollenhauer, geboren 1901 in Magdeburg und 1963 in Bonn gestorben, war SAJ-Funktionär und folgte Max Westphal 1928 im Reichsvorsitz nach. Kurz vor dem Verbot der SPD wurde er Mitglied des Parteivorstands, sodann des Exilvorstands in Prag. 1937 emigrierte er mit seiner Familie über Polen und Dänemark nach Frankreich, schließlich nach London. Nach seiner Rückkehr 1946 wurde er Sekretär beim Parteivorstand in Hannover (Büro Schumacher), zog 1949 in den Deutschen Bundestag ein und wurde nach Schumachers Tod 1952 Parteivorsitzender der SPD. Er verstarb im Amt 1963.

ben. Das war eine ganz andere Situation. Wie waren denn eigentlich die Bedingungen für politische Arbeit namentlich in Prag? Zunächst von der materiellen Ausstattung her, sodann mit Blick auf die Frage, wie man die Familie durchbringt, und in dem Sinne, dass man Mittel hat, politische Informationen wirksam verbreiten zu können. Schließlich: Wie sahen die politischen Bedingungen im Gastland aus? Haben die das toleriert, dass bei ihnen ein Exil-Vorstand einer großen Partei war? Das war eine außerordentlich entgegenkommende Haltung von der tschechoslowakischen Regierung, wobei sicher sehr stark der Einfluss des Ministers Dr. Ludwig Czech22 wog, der einen tschechischen Namen hatte, aber ein sudentendeutscher Sozialdemokrat war, und des Generalsekretärs der sudentendeutschen Sozialdemokratie, Siegfried Taub23, der ein außerordentlich einflussreicher Mann in der Prager Politik war. Es kam hinzu, dass sehr viele persönliche Beziehungen zwischen sudentendeutschen Sozialdemokraten und unseren Leuten bestanden, etwa von Ollenhauer zu Ernst Paul24,

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22  Ludwig Czech, geboren 1870 in Lemberg und 1942 in Theresienstadt gestorben, war Rechtsanwalt in Brünn und seit 1920 Vorsitzender der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der Tschechoslowakischen Repubik (DSAP). Er war Minister in mehreren Regierungen des jungen Vielvölkersaates. Czech, der Jude war, wurde von den Nazis in das Ghetto Theresienstadt verschleppt, wo er 1942 verstarb. 23  Siegfried Taub, geboren 1876 in Teltsch und 1946 in New York gestorben, war seit 1924 Generalsekretär der DSAP und Vizepräsident der Abgeordnetenkammer. Er emigrierte zunächst nach Schweden und dann weiter in die USA, wo er 1941 starb.

24  Ernst Paul, geboren 1897 in Steinsdorf und 1978 in Esslingen gestorben, war in der Tschechoslowakischen Republik Vorsitzender des Jugendverbandes der DSAP. Nach der Zeit der Emigration war er von 1949 bis 1969 Mitglied des Deutschen Bundestags. 25  Hans Vogel, geboren 1881 in Oberartelshofen und 1945 in London gestorben, arbeitete als sozialdemokratischer Parteifunktionär und war von 1912 bis 1918 Mitglied der Zweiten Kammer des Bayerischen Landtags. Er war 1919 Mitglied der Nationalversammlung und danach bis 1933 durchgehend Mitglied des Reichstags. 1927 wurde er Mitglied des Parteivorstands, 1931 Parteivorsitzender (gemeinsam mit Otto Wels und Arthur C ­ rispien). Vogel führte die Exil-SPD in Prag und Paris und bemühte sich auch in London um eine Sammlung der emigrierten deutschen ­demokratischen Sozialisten. 26  Wenzel Jaksch, geboren 1896 in Langstrobnitz und 1966 in Wiesbaden gestorben, war Redakteur der DSAP-Zeitung Sozialdemokrat in Prag und seit 1924 Mitglied des Parteivorstands. Jaksch war als Anführer des rechtsnationalen Flügels der DSAP ein Opponent Czechs. Nach der Emigrationszeit in London wurde er Flüchtlingspolitiker für die SPD, Vorsitzender der Seliger-Gemeinde und von 1964 bis zu seinem Unfalltod zwei Jahre später Vorsitzender des Bundes der Vertriebenen. 27  Wilhelm Sander, geboren 1895 in Dresden und 1978 in Bonn gestorben, war Funktionär der SPD und des Metallarbeiterverbandes. Im Mai 1933 emigrierte er in die Tschechoslowakei und war dort für die Unterbringung sozialdemokratischer Emigranten zuständig. Auch in Schweden, später in England, kümmerte er sich um die Versorgung verfolgter Genossen. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland wurde er Mitarbeiter der SPD-Bundestagsfraktion in Bonn, wo er auch zeitweise Mitglied der Stadtverordnetenversammlung war.

Hans Vogel25 zu Wenzel Jaksch26, Ludwig Czech und Taub. Die sudentendeutschen Sozialdemokraten haben uns ganz außerordentlich geholfen – es war eine kleine, schwache Partei und sie hat das Menschenmögliche getan, was finanziell, menschlich und organisatorisch zu tun war. Ich kenne keine Partei in der Welt, die uns auch nur annähernd in ähnlichem Maße zur Seite gestanden hat wie die sudetendeutschen Sozialdemokraten. Dies im Gegensatz zu den tschechischen Sozialdemokraten, welche die viel stärkere Partei waren, auch finanziell, die uns gegenüber aber sehr zurückhaltend und kritisch waren, was sich erst nach einiger Zeit ein wenig legte. Hier wirkte sich der Gegensatz nicht nur zwischen den tschechischen Sozialdemokraten und deutschen Sozialdemokraten in ideologischer und sonstiger Hinsicht aus, sondern auch derjenige zwischen Tschechen und Deutschen. Die tschechischen Sozialdemokraten waren in erster Linie Tschechen und sahen uns als Deutsche – das war der alte deutsch-tschechische Nationalitätenkonflikt aus den vorangegangenen Jahrhunderten. Durch die sudentendeutschen Sozialdemokraten hatten wir es leichter als emigrierte Sozialdemokraten in anderen Ländern, auch weil wir sprachlich in Prag mit Deutsch durchkamen. Die sudentendeutschen Sozialdemokraten nahmen uns den größten Teil der Sorge um die sozialdemokratischen Flüchtlinge ab, in organisatorischer und finanzieller Hinsicht. Wir stellten den Sekretär für die Flüchtlingsfragen, Wilhelm Sander27, der alles machte, aber die Sudetendeutschen stellten Räume und finanzielle Hilfsmittel zu Verfügung, 100 bis 150 Tschechenkronen pro Monat und Flüchtling. Das reichte gerade eben aus, um essen zu können, nicht mehr. Der Parteivorstand hatte Geld aus dem Reichsgebiet mitgebracht. Wir hatten rechtzeitig von Januar bis Mai 1933 versucht, möglichst viele der Mittel, die wir noch zur Verfügung hatten, frei zu machen und ins Ausland zu bringen, was nicht so einfach war und Schwierigkeiten machte; aber wir haben doch so viele Mittel gerettet, dass wir mit sehr bescheidenen Möglichkeiten bis 1939 auf immer geringer werdender Basis auskommen konnten. Die Mitglieder des Parteivorstandes und die Mitarbeiter des Parteivorstandes bekamen kleine Gehälter, die gerade halfen, den Lebensunterhalt zu fristen. Das war nicht viel – ich habe im Büro gewohnt und sparte dadurch Miete. Die anderen hatten kleine, billige Wohnungen. Prag war damals ein sehr billiger Wohnort, Lebensmittel waren sehr billig. Wir versuchten uns Einnahmen zu verschaffen durch den Verkauf der Exemplare des Neuen Vorwärts und der »Grünen Berichte«. Die »Grünen Berichte« und der Vorwärts haben sich nicht völlig selbst getragen, aber immerhin doch einen sehr wesentlichen Teil der Kosten einbringen können. Gott, es war eine Emigrantenexistenz, dürftig, aber das war nicht das Interview mit Fritz Heine  —  »Der Mensch klammert sich an Hoffnungen«

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Problem. Das Problem war die politische Situation und die politische Arbeit. Da stellte man alles zurück. Sie sagten vorhin, dass ab 1936/37 die illegalen Zirkel in Deutschland ziemlich zerschlagen gewesen seien. Als was hat sich dann der Parteivorstand, der zunächst in Prag, dann in Paris und hinterher in London gewesen ist, eigentlich verstanden, da ja die Brücke zu den Widerstandsgruppen in Deutschland so gut wie nicht mehr bestand? Sah er sich als ein Organ, das politische Grundsätze ausarbeitet für die Zeit nach Hitler? Wir hatten mehrere Aufgaben gleichzeitig: zunächst einmal die Fortexistenz der Sozialdemokratischen Partei als solche zu dokumentieren und darzustellen; dann den Versuch zu machen, aufgrund der neuen Erfahrungen durch den Faschismus Lehren für die künftige Programmatik zu ziehen. Außerdem mussten wir die Aufmerksamkeit der Welt auf die Zustände in Deutschland, den Terror, die Unterdrückung richten, vor den Nazis und ihrem kriegslüsternen Gehabe warnen und, soweit es möglich war, Hilfe leisten für die Menschen in Deutschland, die Sozialdemokraten waren und verurteilt oder in den Gefängnissen und Konzentrationslagern saßen. Ferner war die illegale Arbeit zu unterstützen, zu leiten bzw. anzuregen und gegenüber der Internationale und der allgemeinen Welt der Anspruch zu vertreten, dass da nicht nur eine Sozialdemokratie, sondern eine, wie wir meinten, Mehrheit des deutschen Volkes sei, die es verdiene, nicht mit den Nazis gleichgesetzt und in den Abgrund geschmissen zu werden. Zu guter Letzt kümmerten wir uns um die Emigranten und unternahmen den Versuch, den schließlich geglückten Versuch, die zersplitterten sozialdemokratischen Gruppierungen wieder unter einen Hut zu bringen, und fungierten als Treuhänder, nicht als Vorstand, sondern als Treuhänder der dereinst wieder zu gründenden Sozialdemokratie. Es hat eine Debatte darüber gegeben, die Zersplitterung der unterschiedlichen sozialdemokratischen Gruppierungen zu beenden, um zu einer Konzentration der Kräfte zu kommen und eine Art Kartell bilden zu können – schon in Prag, dann in Paris, ohne dass man in dieser Zeit schon zu einem von allen sozialistischen Kräften getragenen Ergebnis gekommen wäre. Wie sind die lange Zeit starken Vorbehalte der kleinen linkssozialistischen Gruppen gegenüber der traditionellen Partei zu erklären und wie die grundlegende Wende in den Beziehungen dann in London? Es hat zunächst Aversionen, Widerstände, Zurückhaltung, Kritik gegeben, bis 1940. Es gab im Grunde genommen bis zu diesem Zeitpunkt noch keine Chance, die verschiedenen Meinungsgruppierungen wieder

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Widerstand und Dissidenz  —  Interview

zusammenzuführen. Es gab auch zwischen den einzelnen Persönlichkeiten keine ausreichenden Kontakte, um eine Wiederzusammenführung zu ermöglichen. Das hat es erst nach 1940 gegeben, dank der vernünftigen Haltung vor allen Dingen von Vogel, Ollenhauer, Knoeringen, Eichler28, Schöttle. Hat es denn auch eine programmatische Annäherung gegeben? Oh ja! Weil Sie ja auch sagten, man habe im Emigrationsvorstand versucht, Lehren, programmatische Lehren, aus den Erfahrungen der letzten Jahre zu ziehen? Wir haben in London in der Arbeitsgemeinschaft … … die all diese Gruppen umfasste, also die Sozialdemokratie und die links­ sozialistischen Splitter … … die vier Gruppen umfasste … Welche vier Gruppen? SPD, Neu Beginnen, SAP und ISK. Wir haben in den Jahren von 1941 an

bis praktisch 1945/46 in verschiedenen Arbeitsgemeinschaften versucht und z. T. auch mit Erfolg versucht, Überlegungen auf den verschiedenen Gebieten anzustellen, wie wir uns ein künftiges Deutschland und eine künftige Sozialdemokratie programmatisch und in einzelnen Arbeitsgebieten vorstellen. Mein Gebiet waren Pressefragen. Wir haben sowohl, wenn man es so nennen will, ein Gesamtprogramm wie auch Einzelausarbeitungen vorgelegt, z. T. mit den emigrierten Gewerkschaftern, mit denen wir zusammengearbeitet haben, und insoweit gewerkschaftliche Fragen in Betracht kamen. Das war 28  Willi Eichler, geboren 1896 in Berlin und 1971 in Bonn gestorben, war Mitarbeiter des Göttinger Philosophen Leonard Nelson, dem er nach dessen Tod 1927 im Vorsitz des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK) nachfolgte. 1933 emigrierte er nach Paris und wirkte dort im Lutetia-Kreis mit. 1939 floh er nach London, wo er sich der SPD wieder annäherte. Eichler war von 1946 bis 1968 Mitglied des Parteivorstands und Herausgeber mehrerer sozialistischer Zeitungen, bspw. Geist und Tat. Von 1949 bis 1953 war er außerdem Mitglied des Deutschen Bundestags.

eine sehr harmonische Zusammenarbeit, die es von 1941 an gegeben hat, auch im persönlichen Bereich sehr verständnisvoll, von allen Seiten. Das hat sich hinterher in Deutschland insofern bezahlt gemacht, als alle ehemaligen Gruppierungen sich zusammenfanden und überhaupt keine Rede mehr von den einstigen Differenzen war. Aber was haben denn die Gruppen und die SPD programmatisch korrigiert? Es klaffte ja eine Welt etwa zwischen der SAP, die seit 1932 für die »Diktatur des Proletariats« eintrat und auch durchaus positiv zur Sowjetunion stand, oder auch der Gruppe Neu Beginnen, die sich als Führerin der gesamten Arbeiterklasse sah, auf der einen und der Sozialdemokratie auf der anderen Seite, die in den Augen dieser Gruppierungen zu Zeiten der Weimarer Republik versagt hatte und mit ihrem legalistischen Kurs eine Mitschuld am Sieg des Faschismus trug. Interview mit Fritz Heine  —  »Der Mensch klammert sich an Hoffnungen«

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Vielleicht haben dazu einige Tatsachen beigetragen, die sowohl im Sachlichen wie im Personellen liegen. Fangen wir bei der SAP an. Die ehemals maßgebenden Leute der SAP waren praktisch verstummt. Entweder waren sie tot oder in anderen Länder, sie meldeten sich nicht mehr zu Wort, ich denke bspw. an Seydewitz29, der nicht mehr aktiv beteiligt war am weiteren Geschehen. Die in England befindlichen SAP-Mitglieder waren im Grunde genommen ehemalige alte Sozialdemokraten, wie die meisten anderen ja auch, die nicht solche intellektuellen Koryphäen waren wie Eichler, Loewen­ heim30 oder Löwenthal31. Die SAP war im Grunde genommen die ideologisch schwächste, geistig schwächste, auch organisatorisch schwächste der vier Gruppen. Von daher war ihre Einfügung in die gemeinsame Gruppenarbeit kein Problem. Beim ISK , obwohl ich vom ISK nichts verstand, war ich doch fasziniert von den Menschen, von der menschlichen Qualität der ISK-Leute, und ich war von unserem Exil-Rest-Parteivorstand derjenige – wir waren ja zunächst vier und dann drei, als Geyer ausschied –, der den privaten, persönlichen, menschlichen Kontakt mit den ISK-Leuten sehr intensiv gepflegt hat, während Eichler die politischen Überlegungen mit Vogel und Ollenhauer abstimmte. Eichler war ein Mann, der immer verständigungsbereit war, sehr klug, sehr gescheit, sehr liberal. Ich fand das persönliche, menschliche Klima bei den ISK-Leuten beeindruckend, sodass ich mich auch für die Zusammenarbeit mit den ISK-Leuten sehr begeistern konnte. Zu Neu Beginnen: Waldemar von Knoeringen und Rix Löwenthal und Erwin Schöttle waren die drei wirklich Aktivsten, Löwenheim war mehr im Hintergrund. Schöttle war ein alter SAJ-Funktionär und Sekretär der Partei und Waldemar von Knoeringen jahrelang unser Grenzsekretär gewesen. Rix Löwenthal war eigentlich der einzige, der nicht so in der Parteiarbeit gesteckt hat, der mehr von draußen hereinkam. Man verständigte sich sehr rasch. Das heißt, man diskutierte sehr lange, abendelang, wochenlang, aber nie in einer Konfrontationsatmosphäre. Alle, aber auch wirklich alle teilten das Ziel, zusammenzukommen und ein Fundament für die Parteineugründung in Deutschland zu schaffen. Dabei erleichterte die Arbeit, dass keiner von uns mit dem Gedanken spielte, dass er nun eine Führungsposition oder gar die zentrale Führungsposition in Deutschland qua Emigrationsstatus beanspruchen würde. Vielmehr waren wir überzeugt, dass sich in der Partei in Deutschland, aus den Resten der Partei, aus den Widerstandsgruppen Menschen finden würden, die, von der Öffentlichkeit anerkannt, die Leitung der Partei übernehmen würden. Ich glaube, es hat nirgendwo in den Emigrationen eine solch reibungslose Übereinstimmung und Einfügung gegeben wie in London. Das finde ich eine ganz außerordentliche Leistung und einen erfreulichen Erfolg.

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Widerstand und Dissidenz  —  Interview

29  Max Seydewitz, geboren 1892 in Forst und 1987 in Dresden gestorben, war von 1920 bis 1931 Redakteur des Sächsischen Volksblatts und seit 1924 Mitglied des Reichstags. 1931 gründete er nach seinem Parteiausschluss mit anderen bisherigen Vertretern des Linken Flügels der SPD die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD). In der Emigrationszeit in verschiedenen Ländern näherte sich Seydewitz immer mehr der KPD an. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er als Mitglied der SED sächsischer Ministerpräsident (bis 1952). Bis zu seinem Tod war er Mitglied der Volkskammer der DDR. 30  Walter Loewenheim, geboren 1896 in Berlin und 1977 in London gestorben, war bereits in der Novemberrevolution Spartakist geworden. Er galt als klar denkender theoretischer Kopf, der 1927 die KPD verließ und der SPD beitrat. Aus seiner winzigen klandestinen Leninistischen Organisation (ORG) entstand schließlich die Gruppe Neu Beginnen, deren Gründungsmanifest er verfasste. Er emigrierte zunächst in die Tschechoslowakei, dann nach London und kehrte nicht wieder nach Deutschland zurück. 31  Richard Löwenthal, geboren 1908 in Charlottenburg und 1991 in Berlin gestorben, war Nationalökonom und Soziologe. Er wechselte ebenfalls von der kommunistischen Jugendbewegung zu Neu Beginnen, für die er in Prag, London und Paris tätig war. Er kehrte 1945 nach Deutschland zurück und arbeitete als Korrespondent für den Observer und die Nachrichtenagentur Reuters. Löwenthal wurde 1961 Professor für Politikwissenschaft an der FU Berlin und war lange Zeit Mitglied der Programmkommission des SPD-Parteivorstands.

Es gibt ja häufig das Resümee, dass der Widerstand erstens nicht erfolgreich gewesen sei, da man von den Alliierten befreit wurde; und zweitens, dass der Widerstand zu viele Opfer gekostet habe. Wo würden Sie den bleibenden politischen Wert des Widerstands sehen? Wenn Sie einmal andersherum fragen und sagen, wenn niemand in Deutschland, von Sozialdemokraten und von anderer Seite, Widerstand gegen das Regime geleistet hätte, wo ständen wir dann moralisch und praktisch heute? Ich glaube, die Tatsache, dass es relativ viele Leute gegeben hat, die Widerstand gegen das Nazi-Regime geleistet haben, ist eine Rechtfertigung für unseren Anspruch, ein neues Deutschland zu repräsentieren und die Verbrechen der Nazis zwar nicht vergessen zu machen, aber doch zu zeigen, dass nur eine Minderheit der Deutschen verbrecherisch war, während die große Mehrheit sich politisch hat treiben lassen. Und dieser verbrecherischen Minderheit, und das ist das Entscheidende, stand zudem eine, wahrscheinlich zahlenmäßig etwas kleinere, Widerstandsbewegung entgegen, die sich für Recht und Gerechtigkeit und für all das, was uns als Menschen Wert erscheint, eingesetzt hat. Das Interview führte Franz Walter.

Fritz Heine, geb. 1904 in H ­ annover und 2002 in Zülpich gestorben, trat 1922 in die SPD ein und baute seit 1928 die Propaganda-­ Abteilung der Partei auf. 1933 flüchtete er mit einem Großteil des Barvermögens der Partei nach Prag, von wo aus er an der Widerstandsarbeit gegen die Nazis beteiligt war. 1938 emigrierte Heine nach Paris und übernahm dort die Verlagsleitung der Parteizeitung ­Neuer Vorwärts. Nach der Besetzung Frankreichs durch die ­Nazis organisierte Heine bis zu seiner Flucht nach London 1941 von Marseille aus die Rettung hunderter deutsch-­jüdischer Flüchtlinge. 1946 kehrte Heine nach Westdeutschland zurück, wurde zum hauptamtlichen Vorstandsmitglied der SPD gewählt, zählte zu den engsten Vertrauten Kurt Schumachers ebenso wie Erich Ollenhauers und war zuständig für die Führung der sozialdemokratischen Bundestagswahlkämpfe 1949, 1953 und 1957. Auf dem Stuttgarter Reform­parteitag 1958 nicht mehr in den Vorstand gewählt, war Heine in den folgenden Jahren Geschäftsführer der in der Konzentration GmbH zusammengeschlossenen SPD-eigenen Verlags- und Wirtschaftsunternehmen.

Interview mit Fritz Heine  —  »Der Mensch klammert sich an Hoffnungen«

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PERSPEKTIVEN

ANALYSE

RECHTSEXTREME DEMOKRATEN? DAS BEISPIEL DES HOLOCAUST IN FRANKREICH ΞΞ Michael Mayer

Der französische Polizeichef René Bousquet horchte auf. Soeben hatte sein deutscher Gesprächspartner, der Chef des Reichssicherheitshauptamtes ( RSHA), Reinhard Heydrich, davon gesprochen, dass ihm Züge zur Verfügung stünden. Mit diesen wollten die Deutschen staatenlose Juden, die im Konzentrationslager Drancy bei Paris interniert waren, »nach Osten zwecks Arbeitseinsatz« abtransportieren. Dem Franzosen erschien dies eine besonders günstige Gelegenheit. Als Polizeichef hatte er, nachdem deutsche Truppen Frankreich überfallen hatten, in Eigenregie ausländische und staatenlose Juden in der von Deutschland unbesetzten Zone im Süden des Landes in Lagern interniert. Diese wollte er nun irgendwie loswerden, wobei ihm ­Heydrichs Äußerungen wie gerufen kamen. Bousquet fragte daraufhin ­Heydrich, »ob nicht auch die über eineinhalb Jahre im unbesetzten Gebiet internierten Juden mit abtransportiert werden könnten«1. Dieses denkwürdige Gespräch fand im Mai 1942 statt, als der von Deutschland verantwortete Holocaust bereits in vollem Gange war. Dabei traf der Nationalsozialist Heydrich auf den kooperationswilligen linksliberalen Republikaner Bousquet. Aus dem Beispiel des Holocaust in Frankreich lässt sich somit die Frage ableiten, weshalb die Repräsentanten des französischen Staats zu aktiven Mittätern dieses Menschheitsverbrechens werden konnten? Wie autoritär agieren also Demokraten in Krisensituationen? Demokratien, so belegt das gewählte Beispiel, können erstaunlich leicht 1  Drahtbericht des Gesandten an der Deutschen Botschaft Paris, Rudolf Schleier, vom 11.9.1942 an das Auswärtige Amt, in: ­Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, R 100.867, Bl. 34 (im Folgenden: PA/AA).

in einer Weise deformiert werden, dass brutale Menschenrechtsverletzungen möglich sind – eine Gefahr, die heute erneut brandaktuell ist. Zugleich ist die Trennschärfe zwischen einer Demokratie und einer Autokratie, wie der Fall Französische Republik/Vichy-Regime belegen wird, keinesfalls so klar gegeben, wie wir uns das wünschen würden. Doch wie weit gehen

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derartige Autokratien? Kommt es zu einem ungebremsten Radikalisierungsprozess oder können rote Linien ausgemacht werden, die nicht überschritten werden? Bevor grundsätzliche Antworten gegeben werden können, sollen in einem ersten Schritt die Hintergründe des Holocaust in Frankreich dargestellt werden: Im Sommer 1942 kam es zu einem schrecklichen Tauschhandel zwischen Franzosen und Deutschen. Nach verschiedenen Gesprächsrunden einigten sich beide Seiten darauf, dass Frankreich etwa 10.000 Juden aus der unbesetzten Zone zur Deportation in den Osten an Deutschland überstellen durfte. Im Gegenzug sollte die französische Polizei 22.000 staatenlose oder ausländische Juden in der von Deutschland besetzten Zone Frankreichs, insbesondere im Raum Paris, verhaften und der Besatzungsmacht übergeben. Die Deutschen waren dabei auf die Franzosen angewiesen, verfügten sie doch nur über wenige Polizeikräfte und waren deshalb nicht in der Lage, eigenständig Massenverhaftungen in der besetzten Zone durchzuführen. Vor 75 Jahren, am 16./17. Juli 1942, wurde Paris deshalb zum Schauplatz umfassender Razzien, ausgeführt von mehr als 7.000 französischen Polizeibeamten. Ein Teil der betroffenen Juden wurde in Paris provisorisch in einer ehemaligen Radrennbahn am Eiffelturm, dem Vélodrome d’Hiver, untergebracht. Innerhalb weniger Stunden schwoll der Menschenstrom auf 8.160 Personen an, darunter ein Drittel Kinder. Die Versorgungslage war katastrophal: Es gab nur eine Wasserstelle, Lebensmittel und Medikamente waren überhaupt nicht vorhanden. In diesen Verhältnissen brüteten die Menschen fünf lange Tage in der Julihitze. Mehr als 100 Juden begingen Selbstmord, einige versuchten zu fliehen, wurden aber von französischen Sicherheitskräften erschossen. Die verbleibenden Menschen wurden schließlich aus dem Vélodrome gemeinsam mit weiteren etwa 5.000 verhafteten Juden in die unter französischem Kommando stehenden Lager Drancy im Norden von Paris sowie Beaune-la-Rolande und Pithiviers südlich der Hauptstadt verbracht. Seit dem 17. Juli 1942 rollten wöchentlich drei Züge mit jeweils 1.000 Juden vor allem Richtung Auschwitz. Bis Anfang September wurden auf diese Weise 23.000 ausländische und staatenlose Juden deportiert und bei der Ankunft zumeist sofort ermordet. Weshalb beteiligte sich die Vichy-Regierung so bereitwillig am Holocaust – zumindest solange keine französischen Staatsangehörigen davon betroffen waren? Hierzu muss auf eine lange Geschichte der Judenfeindschaft in Frankreich zurückgeblickt werden, die insbesondere in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg einen neuen Höhepunkt erreichte. Im Kontext der Weltwirtschaftskrise sowie der Flucht von Juden aus Deutschland begann die französische

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Perspektiven — Analyse

Regierung 1933, Maßnahmen gegen ausländische Juden zu ergreifen. So wurde etwa schon im April 1933 nach einer Protestwelle an den medizinischen und juristischen Fakultäten der französischen Universitäten verfügt, dass nur Franzosen, keinesfalls aber Ausländer, in Frankreich als Arzt praktizieren durften. Im Juli 1934 folgte ein Gesetz, wonach zehn Jahre im Anschluss an eine Einbürgerung verstrichen sein mussten, bevor eine Person im Staatsdienst oder als Anwalt tätig werden konnte. Die Zielrichtung gegen jüdische Flüchtlinge, insbesondere Mediziner und Juristen, ist dabei offensichtlich; sie wurden von Franzosen als unliebsame Konkurrenten wahrgenommen. Nach der Schließung der französischen Grenzen für beinahe alle jüdischen Einwanderer im Jahr 1937 wurden ab Mai 1938 illegale Immigranten in ihre Herkunftsländer abgeschoben. Juden, die nicht ausgewiesen werden konnten, wurde von Staatswegen eine résidence assignée, ein Zwangsaufenthaltsort, zugeteilt. Bei dieser »milderen« Form der Internierung hatten die Menschen in angemieteten Hotels zu leben, die sie bei Strafandrohung nur mit einem Erlaubnisschein verlassen durften. Doch schon kurze Zeit später folgten veritable Lager: Wenige Tage nach dem antisemitischen Pogrom in Deutschland, der eine neue Fluchtwelle von Juden nach Frankreich auslöste, wurde von der Französischen Republik am 12. November 1938 die Errichtung von Internierungslagern für staatenlose Flüchtlinge beschlossen. Betroffen waren von dieser Maßnahme jedoch nicht nur Juden, sondern auch Menschen, die vor dem spanischen Bürgerkrieg geflohen waren. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, beinahe acht Monate vor der deutschen Invasion, begannen die Säuberungen der französischen Verwaltung. Dies betraf erst einmal (wegen des Hitler-Stalin-Paktes) nur Kommunisten. Ab Oktober 1939 aber wurden auf Anweisung des Innenministeriums alle Personen, »deren Einstellung oder Handeln die Entfernung von ihrem Posten erfordert«, aus dem Staatsdienst entlassen. Bis April 1940, wenige Wochen vor dem deutschen Einmarsch, wurden mittels dieser carte blanche bereits mehr als 1.000 Beamte und Angestellte geschasst – darunter auch eine größere Anzahl Juden. Doch damit nicht genug: Am 5. April 1940 wies Innenminister Henri Roy die französischen Präfekten an, die Säuberung der Verwaltung noch weiter zu intensivieren. Betroffen waren nun alle »Individuen, die für die Verteidigung des Landes von Gefahr sein könnten«2. 2  Zit. nach Michael Mayer, Staaten als Täter. Ministerial­ bürokratie und »­Judenpolitik« in NS-Deutschland und VichyFrankreich. Ein ­Vergleich, München 2010, S. 88.

Die Niederlage gegen die deutschen Armeen im Mai/Juni 1940 führte in Frankreich zu keinem umfassenden Revirement. Der bisherige Ministerpräsident, Philippe Pétain, erhielt nach Abschluss des Waffenstillstandes mit Deutschland am 10. Juli 1940 vom französischen Parlament mit einer Mehrheit Michael Mayer  —  Rechtsextreme Demokraten?

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von 569 zu 80 Stimmen eine umfassende Ermächtigung (»plein ­pouvoirs«), um Frankreich durch die zu erwartenden dunklen Jahre der Besatzung zu führen. Somit bestimmte das französische Parlament, das aus den freien Wahlen von 1936 hervorgegangen war, einen autokratischen Herrscher und löste sich anschließend selbst auf. Die Abschaffung der Demokratie fand auf demokratischem Wege statt. Anders als in allen anderen besetzten Staaten stand den Nationalsozialisten in Frankreich damit eine legitime Regierung gegenüber, die sich zudem noch auf eine überwältigende Zustimmung der Bevölkerung für den Helden von Verdun, Pétain, stützen konnte. General Charles de Gaulle war zu diesem Zeitpunkt in Frankreich weitgehend unbekannt. Seit Mitte Juli 1940 überlegte die französische Regierung, wie Frankreich nach dem Vorbild Preußens während der napoleonischen Kriege wieder zu nationaler Größe kommen könnte. Um dies zu erreichen, setzte die Regierung in den folgenden Monaten ein umfassendes innenpolitisches Reformprogramm um. Ein Teil dieser Reformen bestand darin, den vermeintlich Schuldigen an den verlorenen Schlachten – man machte neben Kommunisten und Freimaurern vor allem Juden aus – jegliche politische und soziale Einflussmöglichkeit im Staat zu nehmen. Als erste Maßnahme gegen Juden verschärfte die Regierung, die nunmehr in der Stadt Vichy in der unbesetzten Zone residierte, deshalb die Berufsverbote für Juden aus der Vorkriegszeit. In diesem Kontext wurden im Juli 1940 auch die Juden aus der Stadt Vichy vertrieben. Zudem initiierte die französische Regierung im Sommer 1940 eine umfassende Segregation der französischen Juden, die am 3. Oktober 1940 im berüchtigten »Judenstatut« gipfelte, das zum Auslöser einer weitgehenden Säuberung der französischen Verwaltung von jüdischen Beamten und Angestellten wurde. Auf diese Weise wollte man sicherstellen, dass »Fremde« keinen Einfluss in Frankreich haben könnten. In einer Propagandaschrift des französischen Informationsministeriums hieß es deshalb auch, das »Judenstatut« stelle einen »erneuten Beweis der Regierung dar, ›Frankreich den Franzosen‹ zurückzugeben«.3 Doch nicht nur gegen französische Juden richtete sich die Regierungspolitik, ausländische Juden waren davon sogar noch härter betroffen. Am 4. Oktober 1940 erließ Vichy ein Gesetz, um »Ausländer jüdischer Rasse« per Präfektendekret internieren zu können. Langfristig plante die Regierung die Ausweisung aller ausländischen Juden, während die französischen Juden als Minderheit mit deutlich beschränkten Rechten weiter im Lande leben durften. Die deutsche Besatzungsmacht hatte angesichts des französischen Aktionismus den Eindruck, dass es gar nicht nötig sei, in der »Judenfrage« auf die Vichy-Regierung einzuwirken. Der Vertreter des Auswärtigen Amts in Paris,

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Perspektiven — Analyse

3  L’Œuvre du Maréchal Pétain, chef de l’État Français. Six mois de Révolution Nationale, juin– décembre 1940, Lyon 1941, S. 24.

Otto Abetz, stellte dazu am 30. Juli 1940 befriedigt fest: »Die antisemitische Strömung im französischen Volke ist so stark, dass sie von unserer Seite keiner Förderung mehr bedürfe.«4 Doch initiierte die deutsche Militärverwaltung parallel zur französischen Regierung im besetzten Teil Frankreichs im Sommer/Herbst 1940 eine eigene »Judenpolitik«, die aber eher eine sicherheitspolizeiliche und wirtschaftliche Stoßrichtung besaß: Juden und jüdisches Eigentum wurden umfassend registriert und scharf überwacht. Ganz anders die französische Politik, die vor allem auf eine politische und soziale Segregation der Juden ausgerichtet war und erst später auch wirtschaftliche Maßnahmen ergriff. Seit Herbst 1940 kann man jedoch einen immer deutlicheren Interaktionszusammenhang zwischen deutscher und französischer antisemitischer Politik feststellen. Die Razzien im Sommer 1942 waren insgesamt Kulminationspunkt einer französischen antijüdischen Politik, die zu diesem Zeitpunkt begrenzte Interessensübereinstimmungen mit den deutschen Zielsetzungen bei der Umsetzung des Völkermords an den Juden aufwies. Berlin ging es dabei vorrangig darum, den Holocaust auch in Frankreich voranzutreiben. Auf der Wannsee-Konferenz erklärte der Chef des RSHA Heydrich im Januar 1942 mit Blick auf Frankreich, dass dort der Holocaust »aller Wahrscheinlichkeit nach ohne große Schwierigkeiten vor sich gehen«5 würde. Ende Februar 1942 berichtete zudem der deutsche Generalkonsul in Vichy, Roland Krug von Nidda, dass er nach Sondierungsgesprächen mit hohen Regierungsvertretern den Eindruck habe, »dass die Französische Regierung froh wäre, wenn sie die Juden auf irgendeine Weise los würde, ohne dass es allzuviel Aufsehen macht«6. Die beiderseitigen Interessen ergänzten sich also in diesem Schlüsselmoment der Geschichte in erschreckender Weise. Die deutsch-französische Zusammenarbeit im Rahmen des Holocaust, aber auch die Diskriminierung von Juden in der Republikzeit der 1930er Jahre, 4  Ministère des Affaires Étrangères, Paris, Les Papiers 1940/Papiers Abetz, Bd. 2, Bl. 121. 5  Protokoll der »Wannsee-­ Konferenz« vom 20.1.1942, in: PA/AA, R 100.857, Bl. 166–180, hier Bl. 174.

wirft ein bezeichnendes Licht auf das Verhältnis von Demokratie und Autokratie. Auch wenn wir gerne eindeutige Etikettierungen vornehmen möchten, zeigt das französische Beispiel, dass hier nicht mit einfachen Erklärungsmodellen verfahren werden kann. Die französische republikanische Verwaltung der Vorkriegszeit segregierte während der Vichy-Autokratie nach 1940 bedenkenlos die jüdische Bevölkerung und organisierte in Kooperation mit den Deutschen Verhaftungen von Juden, die als unerwünscht angesehen wurden.

6  Aufzeichnung des Legationsrats an der Deutschen Botschaft in Paris, Carl Theo Zeitschel, vom 23.2.1942, in: Centre de Documentation Juive Contemporaine, Paris, LXXI-84.

Es waren dieselben Beamten, die in der Folge bis in die 1970er Jahre hinein in leitender Funktion für die Französische Republik tätig blieben. Damit wird insgesamt deutlich, dass die These einer einheitlichen Wertegemeinschaft des »Westens« seit dem 19. Jahrhundert, die durch unveräußerliche Michael Mayer  —  Rechtsextreme Demokraten?

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Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie charakterisiert sei, deutlich zu kurz greift.7 Frankreich, ein Mutterland der Demokratie, gerierte sich zeitweilig eindeutig antidemokratisch und war damit in der Praxis widersprüchlicher, als dies hegelianisch inspirierte Teleologien annehmen. Der Westen war also keineswegs immer einheitlich demokratisch und rechtsstaatlich ausgerichtet. Man denke nur an die Frage des Wahlrechts für Afroamerikaner in den USA , das seit dem späten 19. Jahrhundert weitgehend ausgehöhlt worden war. Erst mit dem »Voting Rights Act« des Jahres 1965 ist dieses grundlegende demokratische Recht (zumindest de jure) wiederhergestellt worden. Selbst die älteste moderne Demokratie kann also für die längste Dauer ihres Bestehens bloß als beschränkt demokratisch strukturiert angesehen werden – und aktuell wohnen wir einem erneuten Deformationsprozess in den USA bei, der schaudern lässt. Bezieht man nun das Beispiel des Vichy-Regimes ein, so zeigt sich, dass die einheitliche westliche Wertegemeinschaft zumindest bis 1945 mehr einer Chimäre als der Realität entsprach. Für einen derartigen Befund würde eigentlich schon genügen, sich die europäische oder amerikanische Kolonialpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts zu vergegenwärtigen. Das französische Exempel belegt darüber hinaus, dass sich republikanisch verfasste Verwaltungen und Gesellschaften in Krisenzeiten scheinbar mühelos in autoritäre Systeme wandeln können, um sich nach einer gewissen Übergangszeit wieder zu demokratisieren. Derartige Brüche und Transformationen lassen sich jedoch nur dann zufriedenstellend erklären, wenn man nicht von idealtypisch voneinander zu trennenden Gesellschaftsverfassungen ausgeht, die entweder als vollends demokratisch oder als vollkommen autoritär anzusehen sind. Vielmehr muss von einer Gleichzeitigkeit von demokratischen und autoritären Elementen in der jüngsten europäischen Geschichte ausgegangen werden – wobei zumindest seit 1945 die autoritären Elemente weniger deutlich sichtbar sind. Die aktuelle Entwicklung in Europa wirft dabei aber die Frage auf, ob nicht derzeit wieder überkommen geglaubte Autoritarismen auf dem Vormarsch sind. Die französische Gesellschaft der Zwischenkriegszeit war insgesamt trotz republikanischer Staatsform keineswegs so umfassend demokratisiert, wie wir uns dies ex post vorstellen. So erklärt sich auch die relativ rasche Einführung verschiedener Gesetze seit 1933, die faktisch Berufsverbote für ausländische Juden darstellten. Zugleich kann der Terminus Demokratie für die Dritte Republik nur mit gewissen Einschränkungen verwendet werden, da die weibliche Hälfte des Demos bis 1944 kein Wahlrecht besaß. Bezieht man zusätzlich noch den Weg Frankreichs in die Dritte Republik ein,

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Perspektiven — Analyse

7  Vgl. etwa Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens, Bd. 1, München 2009, S. 21.

so zeigt sich ein Changieren zwischen demokratischeren und autoritäreren Elementen im Regierungssystem: Das Land schwankte nach 1871 für viele Jahre zwischen der Wiedereinführung der Monarchie und der Etablierung der Republik. Letztlich brach dieser Konflikt in der Krisensituation des Jahres 1940 erneut auf, wobei nun die Entscheidung sehr rasch zugunsten der Autokratie unter dem monarchengleichen Herrscher Pétain fiel. Bezeichnenderweise wurde dieses autoritäre System von den USA unterstützt: Präsident ­Franklin D. ­Roosevelt ging lange davon aus, dass ein Nachkriegsfrankreich nur unter der Herrschaft des auch 1944 noch sehr populären Pétain möglich sein würde. Erst im Oktober 1944, zwei Monate nach der Befreiung von Paris, brachen die USA die diplomatischen Beziehungen zu Vichy-Frankreich ab und erkannten erstmals das Freie Frankreich des Generals de Gaulle an. Zuvor waren im amerikanisch besetzen Nordafrika die französischen antisemitischen Gesetze noch monatelang weiter in Kraft geblieben. Die »Judenpolitik« des V ­ ichy-Regimes wurde also auch von den USA nicht behindert, und die westliche Werte­gemeinschaft war somit im Falle Pétain definitiv nicht von dem gemeinsamen Wunsch nach Demokratie getragen. Die Richtungsentscheidung zugunsten der Republik fiel erst nach dem Zweiten Weltkrieg – nach einer unsicheren Phase der Nachkriegszeit, als eine Sowjetisierung Frankreichs drohend im Raum stand. Doch auch hier kam es mit der Gründung der Fünften Republik durch de Gaulle 1958 zu einer relativen Rückkehr zumindest einiger monarchischer Elemente. Einer sehr dominanten Exekutive steht dabei bis heute eine stark geschwächte Legislative gegenüber. Seit etwa 2000 ist wiederum der rechtsextreme Front National zu einem dominierenden Faktor in der französischen Politik geworden, was die französische Demokratie deutlichen Deformationskräften aussetzt. Die Mängel der französischen Demokratie zeigten sich eindrücklich im Frühjahr 2017, als dem nunmehrigen Präsidenten Emmanuel Macron gelang, innerhalb kürzester Zeit das französische Parteiensystem zu zerstören. Was dies für die französische Demokratie bedeutet, bleibt abzuwarten. Sicher ist in jedem Falle eines: Das Konstrukt der Demokratie ist nicht als überzeitlich anzusehen, sondern ist in seiner jeweiligen Ausprägung Ausdrucksform des aktuellen gesellschaftlichen Seins. Zugleich sind Demokratien beständigen Transformationen, ja selbst Rückentwicklungen ausgesetzt. Letztlich wird in Frankreich – vergleichbar etwa mit den USA – der positiv besetzte Topos Demokratie dazu missbraucht, eine Meistererzählung zu kreieren, die allein nationalheroischen Zwecken dient. Dieses Metanarrativ besteht darin, eine demokratisch verfasste Gesellschaftsordnung zu suggerieren, die scheinbar bruchlos mindestens seit dem 19. Jahrhundert vorherrschend war. Michael Mayer  —  Rechtsextreme Demokraten?

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So gelingt es, die negativen Auswüchse der eigenen Geschichte als kleinere Irrtümer abzutun. Eine Auseinandersetzung bspw. mit dem Kolonialismus oder der Rolle des Antisemitismus im eigenen Land wird dadurch weitgehend erschwert. Ganz anders in der Bundesrepublik, wo ein nationalheroisches Narrativ ex negativo verfochten wird: So habe sich das Land aus dem Dunkel der Geschichte nach 1945 letztlich heldenhaft der Demokratie zugewandt – auch diese Erzählung ist grob vereinfachend. Doch ist der Wunsch, endlich einmal zu den (narrativen) Gewinnern der Geschichte zu zählen, einfach zu übermächtig. Für Frankreich (ähnlich in den USA) kommt erschwerend hinzu, dass hier selbst rechtsextreme Kreise der beschriebenen Meistererzählung folg(t)en, wenn auch in einer verzerrten Form. So existieren im französischen Rechtsextremismus traditionell zwei Denkschulen: Im ausgehenden 19. Jahrhundert formierte sich eine antidemokratische, antisemitische, antigermanische Schule, als deren wichtigster Vertreter Charles Maurras angesehen werden kann. Maurras sah in der Französischen Revolution den Beginn allen Übels im modernen Frankreich.8 Ihm schlossen sich weite Teile der traditionellen französischen Rechtsextremen an. Modernere Rechtsextreme der Zwischenkriegszeit, die sich zwar ebenso antidemokratisch und antisemitisch, dafür aber seit 1933 deutlich germanophiler gerierten, stellten sich hingegen positiv in eine Traditionslinie mit der Französischen Revolution und verkörpern damit eine zweite Denkschule. Der republikanische Diskurs wurde somit langfristig auch von Teilen der Rechtsextremen adaptiert und dabei zugleich transformiert. Insbesondere die französischen Faschisten, so etwa der Gründer der Faisceau, Georges Valois, sahen den Jakobinismus als den eigentlichen Vorläufer des Faschismus in Frankreich an.9 Der einflussreiche Faschist Marcel Déat erklärte sogar, dass alle politischen Ideen Hitlers ihren Ursprung in der Aufklärung hätten.10 Doch fanden sich derartige (Neu-)Interpretationen der Französischen Revolution und der Aufklärung nicht nur unter den Faschisten. Auch in den traditionellen rechtsextremen Bewegungen, die sich nach dem Ersten Weltkrieg »modernisiert« hatten, dominierten vielfach derartige Positionen. Als Beispiel sei nur die bedeutendste politische Partei der ausgehenden Dritten Republik, die Parti Social Français, genannt, die größer war als Sozialisten und Kommunisten zusammen. Diese rechtsextreme Bewegung sah sich in einer antidemokratisch fundierten Tradition zur Französischen Revolution. Insbesondere das jakobinische Diktum, wonach sich ein Volk erheben solle, wenn die Regierung seine Rechte verletze, wurde im Kampf gegen die Republik enthusiastisch begrüßt.11 Heute dominiert diese »modernere« Interpretationslinie, die sich in einer Kontinuität zur Französischen Revolution sieht, sogar den Rechtsextremismus

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Perspektiven — Analyse

8  Vgl. Charles Maurras, Mes idées politiques, Paris 1937, insbesondere S. 227 f. 9  Vgl. Jean-Yves Camus u. Nicolas Lebourg, Far-Right Politics in Europe, Cambridge (Mass.) 2017, S. 20. 10  Vgl. etwa Marcel Deat, Révolution française et révolution allemande, Paris 1943, S. 123. 11  Vgl. William D. Irvine, ­Beyond Left and Right. Rethink­ ing Political Boundaries in 1930s France, in: Samuel Kalman u. Sean Kennedy (Hg.), The French Right between the Wars. Political and Intellectual Movements from Conservativism to Fascism, New York 2016, S. 227–239, hier S. 228.

in Frankreich, insbesondere den Front National. So rief etwa dessen Parteichefin Marine Le Pen während des Präsidentschaftswahlkampfes 2012 offensiv die Massen zu einer »patriotischen, friedlichen und demokratischen Revolution« auf und ergänzte im Hinblick auf den 4. August 1789, als die verfassunggebende Nationalversammlung in Paris die Abschaffung aller adeliger Privilegien beschloss: »Es muss eine neue Nacht des 4. August geben«12. Damit zeigt sich, dass sich auch rechtsextreme Parteien der französischen Metaerzählung anschließen können, wonach es mit der Französischen Revolution zum Beginn einer Ära der Volkssouveränität gekommen sei. Während die Rechtsextremen dabei aber vor 1945 noch klar antidemokratisch ausgerichtet waren, kam es nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Übernahme und Umdeutung des Demokratiebegriffs, der heute dazu verwendet wird, die »Rechte« der Bevölkerungsmehrheit zu betonen – von Minderheitenrechten keine Spur. Der Topos Demokratie wird also heute von den Rechtsextremen als Verteidiger des »wahren Volkswillens« dazu missbraucht, die Stimme der »schweigenden Mehrheit« in Richtung auf Antisemitismus, Antiislamismus und Xenophobie zu lenken. Rousseaus »Volonté générale« feiert damit neue Urstände. Grundsätzlich sollte man deshalb Vorsicht gegenüber nationalheroischen Meistererzählungen walten lassen, die eine einfache, allzu glatte Geschichte der Demokratie suggerieren. Derartige Heroisierungen, auch wenn sie einen demokratischen Mantel tragen, kommen nämlich gerade den Rechtsextremen entgegen, die vereinfachend Gut und Böse einander gegenüberstellen möchten. Der Schritt von der Heldensaga der Demokratie hin zum Mythos des wahren Volkswillens, der sich todesmutig gegen alles Fremde stellt, ist bedauerlich kurz. Die Mär um Charlotte Corday, die 1793 Jean Paul Marat ermordete, ist dafür ein eindrückliches Beispiel. Das Narrativ Corday als einstige Verteidigerin der (liberalen) Freiheit wandelte sich während des ­Vichy-Regimes durch ihren Mord am »orientalisch-jüdisch-femininen« Marat zu einer Protektorin der »rassischen Freiheit«. Ähnlich geriet zeitgleich auch etwa Jeanne d’Arc urplötzlich zu einer Schützerin der französischen Rasse gegen fremde Eindringlinge. Dennoch sind Demokratien/temporäre Autokratien auch in Krisenzeiten 12  Zit. nach o.V., Marine Le Pen fait référence à la Révolution française, in: France-Soir, 11.12.2011, in: URL: http://archive. francesoir.fr/actualite/politique/ marine-pen-fait-reference-revolution-francaise-164955.html [eingesehen am 06.10.2017].

nicht unbegrenzt deformierbar. Nachdem Vichy im Sommer 1942 die ausländischen juifs indésirables losgeworden war – wohl wissend, dass diese wohl kaum länger überleben würden –, hatte sich der französische Wille zur Kooperation am Holocaust weitgehend erschöpft. Die von deutscher Seite nunmehr immer lauter werdenden Forderungen, auch französische Juden in die Deportationen einzubeziehen, wurden von Vichy abschlägig beschieden. Michael Mayer  —  Rechtsextreme Demokraten?

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Zwar diskriminierte die Regierung die französischen Juden umfassend; doch wollte Vichy auf keinen Fall zulassen, dass sich die Deutschen der eigenen Staatsbürger bemächtigten. Doch nicht Philosemitismus war hier ausschlaggebend, sondern eher der Drang nach Wahrung der eigenen Souveränität, die in der Besatzungssituation bereits weitgehend beeinträchtigt schien. Dennoch: Ein unbegrenzter Radikalisierungsprozess fand nicht statt. Die rote Linie – eine Gemengelage aus rationalen, pragmatischen, nationalegoistischen und zu einem viel zu geringen Teil auch humanitären Überlegungen – wurde nicht überschritten. Die französische Regierung versuchte insgesamt auf Zeit zu spielen, war jedoch letztlich erpressbar: Im Herbst 1942 kündigten die Deutschen an, 1.300 französische Juden, die in der besetzten Zone in Lagern festgehalten wurden, nach Auschwitz zu deportieren. Dies wollte die französische Regierung in jedem Falle verhindern. Zuerst versuchte sie es mit einem Bluff: Der französische Polizeichef Bousquet erklärte, »man könne diese Juden abtransportieren, doch würde die französische Polizei zur Durchführung nicht bereit stehen«. Dies beeindruckte die Deutschen aber wenig. Daraufhin verhaftete die französische Polizei in Eigenregie 1.300 ausländische Juden. Bousquet übergab diese Menschen sogleich der deutschen Seite »mit dem Hinweis, diese an Stelle der Juden französischer Staatsangehörigkeit abzutransportieren«. Trocken kabelte der Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD in Frankreich, Helmut Knochen, im Februar 1943 nach Berlin: »Es ist klar, daß beide Kategorien von Juden in diesem Falle abtransportiert wurden«13.

Dr. Michael Mayer, geb. 1974, ist zuständig für den Arbeitsbereich Zeitgeschichte an der Akademie für Politische Bildung, Tutzing; zudem ist er Lehrbeauftragter an der Universität der Bundeswehr München und Mitglied im Wissenschaftsrat des französischen Nationalarchivs. 2010 erschien sein Buch »Staaten als Täter. Ministerialbürokratie und ›Judenpolitik› in NS-Deutschland und Vichy-Frankreich«. Derzeit arbeitet er an einem Habilitationsprojekt zur »Demokratisierung der Demokratie in der Bundesrepublik, Großbritannien und den USA«, in dem er sich der Frage widmet, wie demokratisch eigentlich Demokratien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren und welchen kontinuierlichen Transformationsprozessen sie unterworfen sind.

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Perspektiven — Analyse

13  Schreiben Knochens vom 12.2.1943 an das RSHA, in: Archives Nationales, Paris, F7 15337.

INDES ZEITSCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT Herausgegeben durch das Institut für Demokratieforschung der Georg-August-Universität Göttingen. Redaktion: Dr. Felix Butzlaff, Alexander Deycke, Dr. Lars Geiges, Jens Gmeiner, Julia Bleckmann, Jöran Klatt, Danny Michelsen, Dr. Robert Lorenz, Dr. Torben Lütjen. Konzeption dieser Ausgabe: Marika Przybilla-Voß. Redaktionsleitung: Dr. Matthias Micus (verantw. i. S. des niedersächs. Pressegesetzes), Michael Lühmann, Marika Przybilla-Voß.

BEBILDERUNG Die in dieser Ausgabe gezeigten unterschiedlichen Fotografien eint das Thema des Widerstands. So zeigen sie Personen, die aktiv Widerstand leisten oder sich mit diesem Komplex theoretisch auseinandersetzen. So mannigfaltig die gezeigten Szenarien sind, so breit und perspektivenreich kann auch Widerstand sein. Ein Grundelement des Widerstands sticht jedoch aus allen Fotografien hervor: die Personen. Sie braucht es, um Widerstand zu leisten, ohne sie wäre Widerstand nicht möglich – ja, geradezu undenkbar.

Redaktionsanschrift: Redaktion INDES c/o Göttinger Institut für Demokratieforschung Weender Landstraße 14, 37073 Göttingen, [email protected] Online-Auftritt: www.indes-online.de

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