Poetischer Sinn: Essay über den Geist der Sprache und die Sinngeltungsfunktion des Todes 9783495999141, 9783495999134

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Poetischer Sinn: Essay über den Geist der Sprache und die Sinngeltungsfunktion des Todes
 9783495999141, 9783495999134

Table of contents :
Cover
Prolog: Zwischen Sinnerfüllung und Sinnentleerung
1. Lebendigkeit und Sprache (animal symbolicum)
2. Welt und Umwelt (homo absconditus)
3. Mitwelt und Sprache
4. Streben nach Vollendung
5. Sprache als System
6. Übergestalthafte Ganzheit und Laut
7. Laut und Bedeutung – Artikulation und Geltung
8. Sprechen (Verkörpern) und Hören (Entkörpern): Person
9. Sinndruck und Gesamtsinn – Sinnerwartung
10. Sich einen Reim machen können: Poesie
11. Menschliche Lebensform: Verbindung von Lebendigkeit und Gesamtsinn
12. Sinnvorwegnahme und Sinnbestimmung: das schöpferische Moment
13. Der Doppelprozess von Verkörperung und Entkörperung in der Sprache: die Metapher
14. Der Sinn-Überschuss der Metapher
15. Die Lebendigkeit von Laut und Klang
16. Sprecher und Hörer
17. Reziprozität und Gegenständlichkeit
18. Einheit von Klang und Bedeutung
19. Wissenschaftliche Sprache
20. Sprache lässt sehen
21. Die Funktion des Klanggesichts
22. Wortmagie
23. Das Lyrische, Epische, Dramatische
24. Deutung der poetischen Sprache
25. Evozierende Rede ergreift Übergegenständliches
26. Chiffren: Entleerung von gegenständlicher Anschauung
27. Sprache als Grenzgebiet
28. Zwischen Sprachvertrauen und Sprachskepsis
29. Hermeneutische Beziehung zwischen Sprache und Gesamtsinn
30. Sprachkritik und Wahrheit
31. Verhüllung des Sinns und Sinnvorwegnahme
32. Rekapitulation des Bisherigen – Korrelation von Leib und Gesamtsinn
33. Die Funktion des dualen Modus der Verkörperung von Sinn
34. Leib, Gesamtsinn und die Akkordanzen der Sprache
35. Sprache und Gespräch
36. Verkörperung des Gesamtsinns im Leib der Sprache
37. Verkörperung des Übergegenständlichen: Entkörperung
38. Der Gesamtsinn entzieht sich und ‚erscheint‘ als Moral
39. Expressivität und Gegenstandsbezug
40. Sachlichkeit der poetischen Sprache
41. Die Struktur der Dauer beim Sprechen
42. Das Werden und die Form
43. Sprache und Sprechen – Werden und Gewordenes
44. Die Sinngeltung der Würde
45. Zwei Bedeutungen von Würde
46. Sich verlieren, um sich zu gewinnen – Einheit des Sinns und Einheit des Selbst
47. Hermeneutische Bewegung
48. Die beiden Seiten der hermeneutischen Bewegung
49. Die Geistigkeit des Leibes
50. Drei Arten des (theatralischen) Rollenspiels
51. Der Schauspieler verkörpert und entkörpert zugleich
52. Sphäre der Geltung
53. Eine Analogie
54. Haltung als Angelegenheit des dualen Modus
55. Die Funktion von Klang, Rhythmus und Takt
56. Der Stellenwert von Poesie und Theater für die Selbstverständigung des Menschen
57. Der Quellgrund des Schöpferischen
58. Die übergestalthafte Ganzheit der Form von Sinn und Sprache
59. Die analoge (synthetische) Funktion von Klang und Tod
60. Das Nichts und die Freiheit des Anfangenkönnens
61. Sein und Geltung
62. Zur Analogie von Klang und Tod: Rhythmisierung der Zeit
63. Zeit, Raum und Haltung
64. Die Einheit des Selbst
65. Expressiver Stil zwischen Verdunkelung und Erhellung
66. Beispiel 1: aus Kleists Marquise von O…
67. Beispiel 2: aus Dickens‘ Oliver Twist
68. Beispiel 3: Chor aus Sophokles‘ Antigone
69. Gegen Missverständnisse 1: Humor und der Ernst des Lebens
70. Gegen Missverständnisse 2: Sprache zwischen Zweck und Sinn
71. Gegen Missverständnisse 3: Moral des Taktes versus Moralisieren
72. Entkörperte Form und reine Dauer
73. Die Rhythmik der sprachlichen und biologischen Syntax – Sinn und Moral
74. Unabschließbarkeit der hermeneutischen Bewegung
75. Haltung und Atmosphäre
76. Das Verhältnis von Leben und Tod
77. Die Syntax des Lebens
78. Das übergegenständliche Erfassen in der Poesie
79. Poesie schafft Freiraum für das ‚Erscheinen‘ des Sinns
80. ‚Einfache Formen‘ und ‚ innere Sprachform‘
81. Verborgener Sinn und moralische Entwicklung
82. Verkörperung durch ‚Selbstentzug‘ im Entkörpern des Selbst
83. Sprache und Sinn
84. Poesie wirkt befreiend
85. Sprache, Moral, Sinn und der Vorgang des Sichabhebens
86. Abhebungen in der Sprache
87. Sinn hebt sich ab vom Zweck – die Rolle der Poesie
88. Poetischer Sinn – die Einheit der Sinne und die Einheit des Sinns
89. Sinn verdichtet sich im Wort
90. Freier Anfang versus Sprachzwang
91. Das treffende Wort
92. Durch das Wort hindurch
93. Die Funktion der Leerformen
94. Leib und Sprache als Grenzübergänge
95. Die Funktion der Zeit als Dauer
96. Zeit verbindet Leben und Tod
97. Freiheit als Sinn menschlicher Lebendigkeit – Selbstentzug und Selbstoffenbarung
98. Sinnverständnishorizont und Norm der Wahrheit
99. Das Erleben der Dauer und die Funktion des Taktes
100. Technisierung des Lebens und Poetisierung seiner Selbstartikulation – der Geist der Sprache
Epilog: Das Beispiel Kafkas
Anmerkungen

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Richard Breun

Poetischer Sinn Essay über den Geist der Sprache und die Sinngeltungsfunktion des Todes

https://doi.org/10.5771/9783495999141 .

https://doi.org/10.5771/9783495999141 .

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Richard Breun

Poetischer Sinn Essay über den Geist der Sprache und die Sinngeltungsfunktion des Todes

https://doi.org/10.5771/9783495999141 .

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99913-4 (Print) ISBN 978-3-495-99914-1 (ePDF)

1. Auflage 2022 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2022. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de

https://doi.org/10.5771/9783495999141 .

Inhaltsverzeichnis

Prolog: Zwischen Sinnerfüllung und Sinnentleerung . . . . .

11

1.

Lebendigkeit und Sprache (animal symbolicum) . . . .

15

2.

Welt und Umwelt (homo absconditus) . . . . . . . . .

16

3.

Mitwelt und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

4.

Streben nach Vollendung . . . . . . . . . . . . . . . .

18

5.

Sprache als System . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20

6.

Übergestalthafte Ganzheit und Laut . . . . . . . . . .

21

7.

Laut und Bedeutung – Artikulation und Geltung

23

8.

Sprechen (Verkörpern) und Hören (Entkörpern): Person

25

9.

Sinndruck und Gesamtsinn – Sinnerwartung

. . . . .

27

10. Sich einen Reim machen können: Poesie . . . . . . . .

28

11. Menschliche Lebensform: Verbindung von Lebendigkeit und Gesamtsinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30

12. Sinnvorwegnahme und Sinnbestimmung: das schöpferische Moment . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

13. Der Doppelprozess von Verkörperung und Entkörperung in der Sprache: die Metapher . . . . . . . . . . . . . .

35

14. Der Sinn-Überschuss der Metapher . . . . . . . . . .

37

15. Die Lebendigkeit von Laut und Klang . . . . . . . . .

39

16. Sprecher und Hörer

. . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

17. Reziprozität und Gegenständlichkeit . . . . . . . . . .

42

18. Einheit von Klang und Bedeutung . . . . . . . . . . .

42

19. Wissenschaftliche Sprache . . . . . . . . . . . . . . .

44

20. Sprache lässt sehen

. . . . . . . . . . . . . . . . . .

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21. Die Funktion des Klanggesichts . . . . . . . . . . . .

47

. . .

5 https://doi.org/10.5771/9783495999141 .

Inhaltsverzeichnis

22. Wortmagie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

23. Das Lyrische, Epische, Dramatische . . . . . . . . . .

49

24. Deutung der poetischen Sprache . . . . . . . . . . . .

50

25. Evozierende Rede ergreift Übergegenständliches . . . .

52

26. Chiffren: Entleerung von gegenständlicher Anschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

27. Sprache als Grenzgebiet . . . . . . . . . . . . . . . .

55

28. Zwischen Sprachvertrauen und Sprachskepsis . . . . .

56

29. Hermeneutische Beziehung zwischen Sprache und Gesamtsinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

58

30. Sprachkritik und Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . .

59

31. Verhüllung des Sinns und Sinnvorwegnahme . . . . .

61

32. Rekapitulation des Bisherigen – Korrelation von Leib und Gesamtsinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

33. Die Funktion des dualen Modus der Verkörperung von Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

34. Leib, Gesamtsinn und die Akkordanzen der Sprache . .

67

35. Sprache und Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

36. Verkörperung des Gesamtsinns im Leib der Sprache . .

70

37. Verkörperung des Übergegenständlichen: Entkörperung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

38. Der Gesamtsinn entzieht sich und ‚erscheint‘ als Moral

74

39. Expressivität und Gegenstandsbezug . . . . . . . . . .

76

40. Sachlichkeit der poetischen Sprache . . . . . . . . . .

77

41. Die Struktur der Dauer beim Sprechen . . . . . . . . .

79

42. Das Werden und die Form . . . . . . . . . . . . . . .

81

43. Sprache und Sprechen – Werden und Gewordenes . . .

82

44. Die Sinngeltung der Würde

. . . . . . . . . . . . . .

83

45. Zwei Bedeutungen von Würde . . . . . . . . . . . . .

85

46. Sich verlieren, um sich zu gewinnen – Einheit des Sinns und Einheit des Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . .

88

6 https://doi.org/10.5771/9783495999141 .

Inhaltsverzeichnis

47. Hermeneutische Bewegung

. . . . . . . . . . . . . .

90

48. Die beiden Seiten der hermeneutischen Bewegung . . .

92

49. Die Geistigkeit des Leibes . . . . . . . . . . . . . . .

93

50. Drei Arten des (theatralischen) Rollenspiels . . . . . .

95

51. Der Schauspieler verkörpert und entkörpert zugleich

.

97

. . . . . . . . . . . . . . . . . .

98

53. Eine Analogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

54. Haltung als Angelegenheit des dualen Modus . . . . .

101

55. Die Funktion von Klang, Rhythmus und Takt . . . . .

103

56. Der Stellenwert von Poesie und Theater für die Selbstverständigung des Menschen . . . . . . . . . .

104

57. Der Quellgrund des Schöpferischen . . . . . . . . . .

106

58. Die übergestalthafte Ganzheit der Form von Sinn und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

108

59. Die analoge (synthetische) Funktion von Klang und Tod

110

60. Das Nichts und die Freiheit des Anfangenkönnens . . .

112

61. Sein und Geltung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

113

62. Zur Analogie von Klang und Tod: Rhythmisierung der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

114

63. Zeit, Raum und Haltung . . . . . . . . . . . . . . . .

116

64. Die Einheit des Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . .

118

65. Expressiver Stil zwischen Verdunkelung und Erhellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

119

66. Beispiel 1: aus Kleists Marquise von O…

. . . . . . .

121

67. Beispiel 2: aus Dickens‘ Oliver Twist . . . . . . . . . .

122

68. Beispiel 3: Chor aus Sophokles‘ Antigone . . . . . . .

123

69. Gegen Missverständnisse 1: Humor und der Ernst des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

125

70. Gegen Missverständnisse 2: Sprache zwischen Zweck und Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

127

71. Gegen Missverständnisse 3: Moral des Taktes versus Moralisieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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52. Sphäre der Geltung

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Inhaltsverzeichnis

72. Entkörperte Form und reine Dauer . . . . . . . . . . .

130

73. Die Rhythmik der sprachlichen und biologischen Syntax – Sinn und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

132

74. Unabschließbarkeit der hermeneutischen Bewegung . .

134

75. Haltung und Atmosphäre . . . . . . . . . . . . . . .

136

76. Das Verhältnis von Leben und Tod . . . . . . . . . . .

137

77. Die Syntax des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . .

139

78. Das übergegenständliche Erfassen in der Poesie . . . .

141

79. Poesie schafft Freiraum für das ‚Erscheinen‘ des Sinns

143

80. ‚Einfache Formen‘ und ‚ innere Sprachform‘

145

. . . . . .

81. Verborgener Sinn und moralische Entwicklung

. . . .

146

82. Verkörperung durch ‚Selbstentzug‘ im Entkörpern des Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

147

83. Sprache und Sinn

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

149

84. Poesie wirkt befreiend . . . . . . . . . . . . . . . . .

151

85. Sprache, Moral, Sinn und der Vorgang des Sichabhebens

153

86. Abhebungen in der Sprache . . . . . . . . . . . . . .

155

87. Sinn hebt sich ab vom Zweck – die Rolle der Poesie . .

156

88. Poetischer Sinn – die Einheit der Sinne und die Einheit des Sinns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

159

89. Sinn verdichtet sich im Wort . . . . . . . . . . . . . .

161

90. Freier Anfang versus Sprachzwang . . . . . . . . . . .

162

91. Das treffende Wort . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

164

92. Durch das Wort hindurch

165

. . . . . . . . . . . . . . .

93. Die Funktion der Leerformen

. . . . . . . . . . . . .

167

94. Leib und Sprache als Grenzübergänge . . . . . . . . .

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95. Die Funktion der Zeit als Dauer . . . . . . . . . . . .

170

96. Zeit verbindet Leben und Tod . . . . . . . . . . . . .

172

97. Freiheit als Sinn menschlicher Lebendigkeit – Selbstentzug und Selbstoffenbarung . . . . . . . . . .

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98. Sinnverständnishorizont und Norm der Wahrheit . . .

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Inhaltsverzeichnis

99. Das Erleben der Dauer und die Funktion des Taktes . .

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100. Technisierung des Lebens und Poetisierung seiner Selbstartikulation – der Geist der Sprache . . . . . . .

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Epilog: Das Beispiel Kafkas . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Prolog: Zwischen Sinnerfüllung und Sinnentleerung Mit jeder Aussage über das, was für den Menschen wesentlich ist, wagt man sich in den Sturm, der um Recht und Unrecht anthropologi­ scher Bestimmungen tobt. Unstrittig aber ist: jeder Mensch sucht eine Lebensführung und tägliche Lebensgestaltung zu vermeiden, die sich als sinnlos erweist. Niemand möchte dem Tod ins Auge blicken mit dem Gedanken, er habe mit all seinem Tun und Lassen das verfehlt, was allgemein als ‚Sinn des Lebens‘ bezeichnet wird, und niemand möchte sich abmühen, um dann eingestehen zu müssen, dass alle Anstrengung ‚umsonst‘, d.h. sinnlos war. Betrachtet man die beiden äußersten Pole auf einer Linie, die sich zwischen Sinn und Sinnlosigkeit ziehen lässt, dann findet man an dem einen Pol den in sprachlicher Artikulation explizit gestalteten Sinn in der Poesie, den Beginn und das Werden vollendeter (Sprach-) Form, am anderen das endgültige Verschwinden und Vergehen, das Eintreten von Stille, den Tod. Poesie folgt der Idee der Sinnerfüllung, Tod steht für Sinnentleerung, dort ist die Ausdrucksgestalt in der Sprache der Vollendung nahe-, hier zum finalen Schweigen gebracht. Poesie und Tod sind einander unendlich fern und doch in vertrauter, wenngleich nicht vertraulicher Nähe aufeinander bezogen: in der Poe­ sie wird der Tod als die ausgeprägteste (um nicht zu sagen, vollendete) Form der Entkörperung in die Verkörperung von Sinn aufgenommen, und so kann er die Funktion übernehmen, zur Sinnschöpfung in artikulierenden Akten anzuregen; das Nichts des Todes wird zum Katalysator der poetischen Form, insofern geradezu zum Sinnstifter. Und umgekehrt: die Poesie leuchtet in das Dunkel des Todes und reichert dessen gähnend-abgründige Leere mit Expressionen an; das gibt ihm Konturen, die den Abgrund als Urgrund – oder, mit einem Wort Böhmes und Schellings, Ungrund – des Sinns kenntlich machen. Wie ist dieses Verhältnis zu verstehen? Wie sind überhaupt die Verhältnisse zu verstehen, die im Formen und Verschwinden von Sinn in ein expressives Verhalten eingehen, beim Reden, Sprechen, Schweigen, Verstummen, beim Gebrauch von Sprache im Verhältnis zum Leben und zu dessen Ende im Tod? Es sind Verhältnisse, in denen sich Körper, Leib und Geist zur Welt mit dem, was sie ent­ hält und an Widerfahrnissen mit sich bringt, und zu sich selbst so verhalten, dass erstens Bedeutungen durch lautgebende Artikulation generiert werden; und zweitens treten die Bedeutungen in syntakti­ sche Beziehungen zueinander, so dass Sätze und ganze Äußerungen

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Prolog: Zwischen Sinnerfüllung und Sinnentleerung

Sinn ausdrücken; drittens weisen die verwendeten Wörter mit der Variabilität von Akzentuierung, Intonation und Klanggestalt über sich hinaus auf etwas, was sie nicht sind, auf den zu bezeichnenden und zu erfassenden Gegenstand, mehr noch: sie zeigen mehr an als das kontextuell-situativ Verlangte und scheinen ins Unendliche fort­ zuschreiten; sie fordern, durch sie hindurch auf die geistige Intention zu sehen, und sie lassen durch den Korpus der Sprache überhaupt hindurch einen Gesamtsinn ahnen, der in einer Art von Konkordanz zur Sprache selbst zu stehen scheint und sich in ihr, in den feinen Verästelungen ihrer phonetischen, morphologischen, semantischen und syntaktischen Beziehungen, festsetzt wie sprießendes Grün zwi­ schen Pflastersteinen. Man muss immer wieder auf die spezifische Differenz von Intelli­ genz und Geist hinweisen. Intelligenz wählt Mittel für Zwecke, taxiert die Bedingungen zum Erreichen von Zielen, vergleicht dabei Informa­ tionen und bezieht sie aufeinander; dazu verwendet sie die Sprache als Werkzeug. Geist ist auf Sinn hin angelegt. Sinn will ausgelegt sein und in der Sprache den ihm zugeeigneten Ausdruck finden. Sprache ist das Organ des Geistes, in das er hineinwächst, um Bedeutung und Sinn – ‚geistige Intentionen‘ – zu artikulieren, und das in ihn hineinwächst, um nicht bloß Instrument für die Weitergabe von Informationen zu sein, sondern das expressive Pendant zu einem Gesamtsinn zu werden, der sich vor ungeschützten Selbstdarstellungen scheut, sich expressiv zurück- und überhaupt im Verborgenen hält und aus dieser Schutzzone heraus zugleich dahin drängt, formgebend tätig zu sein: sich in einer Form wiederzufinden, die nicht so viel Material bietet, um zum Gegenstand von Beobachtung und theoretisierender Erkenntnis, aber genug Stoff, um ‚angeschaut‘ – vernommen, bildhaft vorgestellt, zum Ansatzpunkt von theoria als Schau – werden zu können. Sprache und Gesamtsinn sind Korrelate. Die folgenden Erkun­ dungen kreisen um diesen Zusammenhang. Der Erkundungsgang ist, eingerahmt von Prolog und Epilog, in nummerierte Abschnitte eingeteilt, die z.T. für sich stehen, aber immer aufeinander bezogen sind. Der Zufall wollte es, dass dabei die Zahl hundert voll geworden ist und der Gang sich dadurch gerundet hat. Jeder Abschnitt wurde mit einer Überschrift versehen, um als Wegmarken den jeweiligen Schwerpunkt der Gedankenführung anzudeuten, nicht aber, um eine theoretische Systematik vorzutäuschen. Sprache wird in den Blick genommen als jene Artikulationsform, in der sich Geistiges verkörpert. Sprache stellt sich dem Sinndruck,

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Prolog: Zwischen Sinnerfüllung und Sinnentleerung

der von einem Gesamtsinn ausgeht, der unerkennbar bleibt und gerade deshalb Sinnschöpfung und Sinngebung in artikulierten For­ men ermöglicht, an deren Spitze, als deren mögliche Vollendung und Vervollkommnung, die Poesie steht. Sprachlich gestaltete Poesie ist jene Form, in der sich der Idee nach der Druck ausübende Sinn so entfalten kann, dass er unerschöpflich bleibt und dennoch einen Rahmen bereitstellt für die Erfüllung artikulierten Sinns. ‚Den‘ Sinn gibt es nicht. Sinn ist eine Richtung, die einen Sog ausübt, dem man sich ausgesetzt und von dem man sich zugleich angezogen fühlt. Das lässt sich beim Sprechen bemerken, sobald man darauf Acht hat. Beim Sprechen gelangt das auf Sinn hin angelegte Verhalten auf eine Ebene, in der es explizit wird, d.h. in Ausdrücke mit Bedeutungen eingeht, die den Sinn des Gemeinten vorwegnehmen, wobei die Wörter allererst von diesem her ihre je präzise Bedeutung erhalten, die dennoch variabel bleibt. Der ganze Korpus der Sprache, der sich in viele Sprachen und Sprechweisen auseinanderlegt, impliziert die Richtung auf Sinn, der man sogar dann innewird, wenn man völlig fremde Sprachlaute vernimmt. Sprache als ‚System‘ und Gesamtsinn sind so aufeinander hin geordnet, dass Sinnvorwegnahme und Sinngebung möglich werden: dass Sinn sich erfüllen – oder verfehlt werden – kann. Die im Folgenden verwendeten Begriffe der Verkörperung und Entkörperung wurden von Helmuth Plessner in die philosophische Anthropologie eingeführt. Verkörperung meint die Versinnlichung von Geistigem (Gedanken, Ideen, Intentionen), Entkörperung ist der Gegenzug dazu, gleichsam der Negativabzug, in dem die verkörpern­ den Akte mit den versinnlichten Bedeutungen ihre Kraft verlieren und den entsprechenden Ausdrücken ihre anschauliche Bedeutung entzogen wird, um vom schaffenden Geist neu belichtet, d.h. in neu ansetzenden verkörpernden Akten artikulierend belebt werden zu können. Verkörperung und Entkörperung stehen in einem antagonis­ tischen Verhältnis zueinander, in dem sie sich zugleich, als Widerlager wechselseitig sich aneinander haltend, gegeneinander abarbeiten und in diesem Zugleich miteinander sinngebend fungieren; ohne das jeweilige Widerlager keine Erfüllung der Funktion. Verkörpern heißt Bedeutung und Sinn geben, Entkörpern heißt Bedeutung und Sinn entziehen. Deren Zugleich heißt: Geben durch und im Entziehen, Entziehen durch und im Geben. Diese Konstellation wird im Verlauf der Erkundungen exemplifiziert und präzisiert werden.

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Prolog: Zwischen Sinnerfüllung und Sinnentleerung

Die Modi der sinnlichen Verkörperung – der schematische (Sehen), thematische (Hören), syntagmatische (Zustandssinne) und der mit letzterem verknüpfte duale Modus – sind in Plessners Ästhe­ siologie ausgearbeitet worden. Sie werden im Folgenden in der Form verwendet, die ich bereits in meinen Monographien Scham und Würde und Entkörperungen erläutert habe. Ihre Funktion und ihr Zusammen­ schluss zum Konformitätssystem von Sinnlichkeit und Sinngebung werden nach und nach deutlich werden. Außerdem bilden die Sprachauffassungen von Wilhelm von Humboldt, Julius Stenzel, Karl Vossler und Georg Misch die Grundlage für die sprachphilosophischen Ansatzpunkte der folgenden Betrach­ tungen.

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1. Lebendigkeit und Sprache (animal symbolicum) Der Mensch lebt als animal symbolicum in einer geistigen Atmo­ sphäre, ob er will oder nicht. Seine Lebendigkeit ist eine geistig grundierte, auch dann, wenn er sich der Völlerei oder Trunksucht ergibt; weil er mehr ist als ein Lebewesen, das isst und trinkt, und davon zuviel des Guten tun kann, gilt solches Gebaren, gemessen an seiner geistigen Orientierung, als Missgriff, mit dem das ‚Wesentli­ che‘ verfehlt wird. Die Lebendigkeit des Menschen vollendet sich in der Sprache, sei es im Sprechen, Reden, Sagen oder Schweigen. Es ist aber nicht so, dass der Geist des Menschen nur in der Sprache lebendig wird, sondern bereits im Vor- und Außersprachli­ chen, in Mimik, Gestik und Haltung des Körperleibs wie auch im Wahrnehmen, Aufmerken und im Gefühlsleben. Denn der Mensch ist nicht hier geistig und dort nicht, gestern war er es und heute eher nicht, sondern ein geistiges Wesen ist er in seiner Ganzheit, und das Ganze steht in Wechselwirkung zu seinen Teilen; als Speerspitze geht es ihnen voraus und weist die Richtung. Jedoch kommt der Geist in der Sprache gleichsam zu sich, selbst und gerade dann, wenn das Reden in ein gehaltvolles Schweigen übergeht oder in einer mit Bedeutung aufgeladenen Stille endet. So ist auch die Sprache in einer näher zu bestimmenden Weise etwas Ganzes, und es ist eine der Aufgaben von Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie, die vielfältige inter­ dependente Beziehung zwischen diesem Ganzen und seinen Teilen aufzuzeigen, um daraus weitere Schlüsse ziehen zu können für das Ganze des Menschen in seiner geistigen Grundverfassung. Was den Menschen ausmacht, ist dem aufmerksamen Beobach­ ter und geschulten Auge in allen alltäglichen Verrichtungen, zur Gewohnheit gewordenen Bewegungen und Verhaltensweisen sowie in absichtsvollen und zielgerichteten Handlungen sichtbar. Auch wenn sich dies schwer in Worte bringen lässt, sind es doch ihrerseits die Worte, die, in ihrer Herausgehobenheit aus dem Lautgeschehen einem Relief gleich, das einen bedeutsamen Vorgang in Szene setzt und festhält, das Geistige inszenieren, und zwar in einem graduellen Spektrum von geistlos bis geistvoll. Im Gebrauch der Worte kann sich beides zeigen: Fülle und Mangel an Geist. Nicht ein Tier, ausschließ­ lich ein Mensch kann geistlos sein, weil er seinen ihm wesentlichen Anspruch momentan nicht erfüllt.

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2. Welt und Umwelt (homo absconditus)

2. Welt und Umwelt (homo absconditus) Zunächst jedoch: der Begriff des Geistes sollte nicht überstrapaziert werden, auch wenn es kein anderes Wort gibt, das der spezifischen Sphäre, in der der Mensch lebt, sich aufhält und lebendig wird, einen ihr angemessenen Namen gibt. Es ist die Sphäre, die, über die Umwelt des zoon hinaus, das also, was das Tier an seine ihm und seiner Ausstattung zukommende und zuträgliche Umgebung bindet, in die offene Welt hineinreicht und den Menschen zwingt, das ihm jeweils hier und jetzt Mögliche wirklich zu machen. Mit den Mitteln seiner Natur, seinen Sinnen, seiner Empfindungen und Gefühle, seines Den­ kens und seiner Vernunft, im Zusammenwirken von Auge und Hand, gestaltet er die unwirkliche, eigentlich ungreifbare und im Letzten unbegreifliche Welt um in etwas Griffiges: eine wirkliche Umwelt, in der sich leben lässt. Die Unhandlichkeit der Welt verwandelt er in eine handhabbare Umwelt, seine Natur verlangt nach Kultivierung und Kultur. Diese kann er begreifen, und was er begreift, ist letztlich das, was er selbst gemacht, ‚geschaffen‘ hat. Ob er sich selbst dadurch begreift, ist aber nicht ausgemacht, eher bleibt er sich ein homo absconditus. Hinter dem Spiegel seiner Werke, in dem er sich sieht, ist er sich selbst verborgen. Dennoch lässt sich zumindest sagen: Nicht mehr bzw. noch nicht zwischen den Zäunen einer geschlossenen Umgebung, wie ein Tier in der Koppel, festgestellt (Nietzsche), ist er ein Freigelassener der Schöpfung (Herder), der sich selbständig wohnlich einrichten muss, ohne sich in ein gemachtes Bett legen zu können. Er schafft sich eine Umgebung und grenzt sie so ein, dass er sich darin wohlfühlen und entfalten kann. Alles bekommt seinen Platz und wirkt so zusammen, dass Zeit und Raum Bedeutung und Sinn erhalten können – als Lebenszeit und Geschichte, als Lebens- und Wohnraum. Das Abfließen der Zeit wird gestaut, die Leere des Raums gefüllt, auch wenn sich die Zeit weiter in eine unbekannte Zukunft endlos hinein erstreckt und der Raum stetig seine Horizonte unbe­ grenzt verschiebt, so dass der Gesamtsinn letztlich unbestimmt bleibt. Diese Relation, das dem Menschen letztlich rätselhafte Verhältnis zwischen den endlichen Grenzen, die er zum Leben braucht, und den unendlichen Entgrenzungen der Zeiten und Räume, in die er sich gestellt sieht, ist es, die seiner geistigen ‚Natur‘ einen brüchigen Boden – genauer besehen: eine bodenlose Existenz – und nie versiegende Nahrung gibt. Mit ihr werden seine Expressivität, sein Ausdruck in

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3. Mitwelt und Sprache

allen Dimensionen seines Daseins und die Unzahl seiner möglichen Perspektiven gespeist.

3. Mitwelt und Sprache In Zusammenarbeit mit dem Auge als Distanz- und der Hand als Nähe-Organ und in der einzigartigen Verbindung zwischen dem Ohr, als Eingangstor für den Empfang von Lauten, und dem Mund (einschließlich Lippen, Zähne, Zunge, Gaumen, Stimmbänder) als Ausgangstor für produzierte Laute, geben Luft und Atem im Wechsel von Hemmung und Lösung, Anhalten und Freigeben, der geistigen Sphäre das, was sie braucht, um sich ausbreiten und dauerhaft ‚da sein‘ zu können: die Sprache als eine besondere, zu der körperleiblichen Expressivität hinzukommende, mit ihr zusammenspielende und diese steigernde Ausdrucksform, die mit ihrem Zug zur Vergegenständli­ chung, Objektivierung und Bezeichnung von Erlebtem, Empfunde­ nem, Wahrgenommenem, Gedachtem, Vorgestelltem u.a.m. Bedeu­ tung hervorbringt, indem sie artikulierend ordnet, was ansonsten im Subjektiven versänke und sich im Ungefähren des ‚bloß‘ Empfunde­ nen verflüchtigte. Das nicht nur graduell, sondern kategorial Neue in der Ausdrucksform der Sprache ist das Angebot, mit dem sie die Sphäre des Organischen auf eine neue Stufe hebt: sie offeriert, zugleich mit dem emotional gefärbten, aber auch je nach Situation und Gelegenheit neutralisierten Ausdruck, verständliche und nach­ prüfbare Bedeutungen für alle, die der Sprache mächtig sind, und zeichnet damit die Sphäre des Menschen als eine geistige, wahrhaft mitweltliche aus. Der Mensch ist frei geworden für das Sprechen; er hat etwas (über etwas) zu sagen und das Bedürfnis, (mit anderen) darüber zu reden. Zugleich bindet ihn diese Freiheit an das System ‚Sprache‘. Aber er bedient sich seiner in schöpferischer Weise, je einen neuen Anfang setzend, syntaktische Folgen variierend, Wörter in neue Kontexte stellend, den Klang anders färbend – und mit all dem Bedeutungen nuancierend und verändernd oder überhaupt erst sehen lassend. So gehört zum Ganzen des Menschen und seiner Welt wesentlich die Sprache. Denn mit ihr ‚erfasst‘, ‚schafft‘ oder, in phänomenologi­ scher Terminologie, ‚konstituiert‘ er seine Welt und sich darin. In der sprachlichen Artikulation gliedert und ordnet sich der uferlose Strom des in der Welt Vorfindlichen, der äußeren Ereignisse und

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4. Streben nach Vollendung

Widerfahrnisse, wie auch der inneren Erlebnisse; all das, was er mit sich führt, wird im Bett der Sprache gebändigt. So nimmt es nicht wunder, dass der Sprache magische Kraft zugesprochen wurde; was benannt werden oder in eine beschwörende Formel gefasst werden konnte, war in seiner gefahrvollen Macht gebannt. Mit Sprache und Rede selbst konnte Macht ausgeübt werden. Die antike Rhetorik zeugt davon, wie das Sprechen zu einem bewusst genutzten und wirkmächtigen Instrument verfeinert und ausgebaut wurde; Sprechen ist ein Handeln, und wie jedes Handeln kann die Intention erfüllt oder verfehlt werden, es kann gelingen oder im Misslingen gar das Gegenteil des Beabsichtigten herbeiführen. Die Sprechakttheorie hat diesen Gedanken wieder aufgenommen und in ihre Analysen über­ führt, in welchen sie die Sprechhandlung in unterscheidbare Teilakte mit einem je anderen Schwerpunkt zerlegt: in den lokutionären Akt mit der Sachhaltigkeit, den illokutionären mit der Sprecherintention, den perlokutionären mit der Redewirkung, z.B. Überzeugung des Hörers oder Befehlsanordnung.

4. Streben nach Vollendung Die Artikulationskraft der Sprache ist vielfach beschrieben und erör­ tert worden, von Herder über Humboldt bis hin zu den neueren Sprachphilosophen. Was aber bedeutet das für eine mögliche Rück­ wirkung der Sprache auf die Stellung des Menschen in der Welt und gegenüber dem, was über das Welthafte hinausweist, dem Unendli­ chen und Unbedingten, zu dem er sich doch irgendwie verhalten muss, sei es im Glauben, sei es im Ignorieren oder im Wissen des Nichtwissens und Nichtwissenkönnens? Was bedeutet sein Sprechen­ können für die Reflexion und Erkenntnis des Menschen über seine so merkwürdige, prekäre und rätselhafte Position, die er inmitten der Spannbreite zwischen dem, was früher ‚Scholle‘ hieß, heute noch ‚Hei­ mat‘ genannt wird, und seiner Verlorenheit im Universum einnimmt? Er stellt seine Häuslichkeit auf Dauer, weiß jedoch um sein Ende, kennt aber den Zeitpunkt nicht; er hat Zugang zum Unendlichen, auch zum Vollkommenen und Unbedingten, bis hin zur Schwelle, nicht aber den Schlüssel, mit dem er sich Eintritt verschaffen kann, so bleibt ihm alles unvollkommen, unvollendet und bedingt. Dennoch wird in philosophischen Betrachtungen immer wieder von Vollendung oder von Vervollständigung gesprochen, so auch

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4. Streben nach Vollendung

hier, wo es oben hieß, die geistige Lebendigkeit vollende sich in der Sprache. Schiller hat der Poesie den Rang als vollständigen Ausdruck der Menschheit gegeben; Hamann und Herder haben sie als Muttersprache des menschlichen Geschlechts eingestuft. Führt man einen Grundgedanken der philosophischen Anthropologie wei­ ter, so kann sie als vollendeter Ausdruck der Ausdrücklichkeit des Menschen bezeichnet werden, und sie prägt, einem Gedanken der philosophischen Biologie Portmanns folgend, das, was ein Lebewesen in seiner Erscheinung auszeichnet, seine Selbstdarstellung; denn Sprache macht die Expressivität des Menschen, die spezifische Aus­ drucksform seines Verhaltens, Gestaltens und Handelns, nicht zuletzt seiner Gefühle, zum Gegenstand von Ausdrücken (Plessner); und die Poesie führt diese Leistung der Sprache zu solchen Formen, in denen mit Mitteln des Rhythmus, der Metrik, des Klangs, des Reims, der Wortwahl und des syntaktischen Baus, einschließlich von Assonan­ zen, die inhalts- und gegenstandsbezogen in ein spannungsreiches Verhältnis gesetzt werden zum erwarteten Zusammenklang, eine Vervollkommnung des Ausdrucks angestrebt wird. Der Idee von Vollkommenheit, Vollendung und Vollständigkeit scheint sich der Mensch nicht entschlagen zu können; so versucht er ihr zumindest in den künstlerischen Formen, die den Verkörpe­ rungsmodi seiner Sinne entspringen, und auf der Metaebene seiner Expressivität, in der Sprache, gerecht zu werden und einen, wenn­ gleich inadäquaten, Ausdruck zu verschaffen. Das zeigt sich selbst da, wo er bewusst dem Anspruch von Vollkommenheit auszuweichen sucht und jeglicher ästhetischen Vorstellung von Geschlossenheit und Gleichmaß eine Absage erteilt. Noch die absichtlich gesuchte dissonante Verformung verweist auf die zu ihr in einer unauflöslichen Korrelation stehende Form, die ‚Verzerrung‘ auf das ‚Verzerrte‘, das ‚Hässliche‘ auf das ‚Schöne‘, die Grimasse auf das Antlitz; und im Moralischen können das Vermessene und Maßlose ohne das Maß­ volle und Gemessene, das Taktlose ohne den Takt, die Missachtung ohne die Achtung, die Demütigung ohne die Würdigung gar nicht bestimmt oder verstanden werden. Die Endlichkeit der Zeitspanne seines Lebens, die dem Menschen bewusst ist, zwingt ihm den Gedanken von der Unendlichkeit auf, das Unvollkommene und Unvollständige seines Tuns die Idee von Vollkommenheit und Vollständigkeit, die Unabschließbarkeit all sei­ nes Wirkens und seiner Entwicklung, gerade auch in moralischer Hinsicht, den Willen zu einem zufriedenstellenden Abschluss, das

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5. Sprache als System

Stückwerk seiner erreichten Resultate den Wunsch und das tiefe Bedürfnis nach Ganzheit. Die metaphysischen Fragen und Rätsel resultieren letztlich aus dem Bewusstsein des Fragmentarischen, des Mangels und Verfehlens, der Vergeblichkeit und Vergänglichkeit.

5. Sprache als System Das jeweilige Sprechen, Reden, Schreiben mögen fragmentarisch und verbesserungswürdig sein, es ist aber gerade die Sprache, die sprachwissenschaftlich zumeist als systematisches Ganzes beschrie­ ben wird. Die Relation zwischen Sprache und Sprechen mag in vielerlei Hinsicht deutbar sein, und die Sprache kann gar als irreal bezeichnet werden im Gegensatz zur Realität des konkret-aktuellen Sprechens; dennoch kann über Sprache als System gesagt werden (und viele Sprachforscher tun das), dass es mehr ist als die Summe seiner Teile, wie es schon bei Aristoteles zur Bestimmung des Gan­ zen heißt. Jedes Einzelne steht in Relation zu anderen Einzelnen, und alle zusammen stehen unter dem Prinzip des Ganzen, zu dem sie gehören; und das Ganze geht den Teilen insofern voraus, als diese in ihrem Zusammenwirken bei jenem ihren Ausgangspunkt haben. Umgekehrt wirkt jedes Teil in seiner Funktion auf die anderen Teile und das Ganze. Es herrscht eine Interdependenz zwischen den Teilen und dem Ganzen, deren Ausprägung als Gestalt bezeichnet werden kann. Bei Humboldt heißt es, es gebe nichts Einzelnes in der Sprache, denn jedes ihrer Elemente kündige sich als Teil eines Ganzen an. Die Elemente hängen nicht ungegliedert aneinander, sondern schließen sich zu einem gegliederten Ganzen zusammen und machen es damit zu einer Gestalt. Die Elemente sind ihrerseits Glieder und erhalten ihren Sinn vom Ganzen her. Dieses ist eine Mannigfaltigkeitseinheit, die weitere solcher Einheiten unter sich kennt, so etwa den Satz als Einheit von Wörtern, das Wort als Einheit von Morphemen und Phonemen etc. Die Frage ist nun, ob mit der Kennzeichnung als Gestalt das Wesentliche getroffen ist, oder ob es sich bei der Sprache und ihren Elementen nicht vielmehr um eine übergestalthafte Ganzheit handelt. Schon dass man begründet von einem systemhaften Ganzen sprechen kann, spricht für letzteres. Denn der Zusammenschluss aller Teile zum System ist dadurch gekennzeichnet, dass der ‚Punkt‘, an den

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6. Übergestalthafte Ganzheit und Laut

alles gebunden, in dem alles synthetisch verknüpft ist, um sich im gemeinsamen Wirken nicht voneinander zu entfernen, sondern sich stets aufeinander beziehen zu können, nicht im System selbst ‚verschwindet‘, sondern neben die ganze Einheit selbst, die Sprache also, und die Mannigfaltigkeitseinheiten tritt, die das Systemganze erzeugt, d.h. neben die Sätze, Wörter, Morpheme etc.

6. Übergestalthafte Ganzheit und Laut Betrachten wir den Satz. Er realisiert sich, wie auch die Silbe oder das Wort, ausschließlich im Laut bzw. in Lautfolgen (geschrieben in Buchstaben, Zeichen oder, Marcel Granet zufolge, den Schriftemble­ men, Symbolen, Bildern oder Ideogrammen des Chinesischen). Der Laut tritt insofern als Verknüpfungszentrum neben die Wörter und den Satz, als er selbständig für sich betrachtet werden kann. In der Variation der Klanggestalt zeigt sich, wie der Laut nicht einfach in der Mannigfaltigkeitseinheit des Satzes aufgeht, sondern diese insofern bestimmt, als er ihre Bedeutung konkretisiert und in der aktuellen Realisierung nuancieren, variieren oder verändern kann; zumal in der chinesischen monosyllabischen Sprache, in der die Bedeutung von dem konkreten Gebrauch des Tonems bzw. Klangemblems (Granet) in Verbindung mit Betonung, Rhythmus, Wortfolge und Kontext abhängt. Und so ist es, zusammen mit der Sukzession sowie deren rhythmus- und taktgebenden Akzentuierung, der Laut mit Ton und Klang, der die Bedeutung ‚trägt‘ und selbständig neben sie, d.h. neben den Gedanken, die Idee, das gegenständlich Gemeinte treten kann. Das geht so weit, dass durch Missklang wie auch durch Fehlakzentu­ ierung der versprachlichte Gedanke geradezu ins Gegenteil verkehrt werden kann, oder dass durch ständige Wiederholung eine Idee ihre Wirkkraft verliert und das ‚eigentlich‘ Gemeinte seinen Sinn einbüßt. Die Unterscheidung zwischen übersummenhafter Gestalt und übergestalthafter Ganzheit scheint in Bezug auf den Laut und die syntaktische Anordnung in Verbindung mit der Bedeutung relevant zu sein. Diese Unterscheidung stammt aus der philosophischen Anthropologie Plessners; sie dient dort dazu, die Kategorie des leben­ digen Körpers näher zu bestimmen als eines Selbst, das zusätzlich zum Inneren noch einen ‚tiefer innen‘ liegenden Kern hat, der nicht vollständig nach außen treten kann, sich aber im Lebendigsein des Körperleibs als wirksam erweist. Man kann den organischen Körper

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6. Übergestalthafte Ganzheit und Laut

sezieren, findet aber nicht das, was ihn ausmacht: sein Lebendigsein. Man kann den Laut phonetisch-phonologisch sezieren, findet aber nicht das, was ihn ausmacht: sein lebendiges, sinnvolles, Bedeutung tragendes Klingen. Wäre der Körperleib nicht übergestalthaft, gäbe es nicht das, was wir Geist nennen, keine Gedanken, Ideen, keine Sinnhaftigkeit der sinnlichen Leistungen. Wäre der Laut – stets ein­ geschlossen seine Relation zur syntaktischen Sukzession – mit seiner bedeutungstragenden Funktion nicht ein Signum der Übergestalthaf­ tigkeit, die er, zusätzlich neben die Summe der Bedeutungen tretend, mit seiner synthetischen Kraft zur Einheitsbildung gewährleistet, gäbe es nicht die Sprache, nicht die ihr innewohnenden Optionen zur Verfeinerung oder Nuancierung und schon gar keine Dichtung. Denn der Laut übersteigt noch das übersummenhafte Ganze der gegenstandsbezogenen Bedeutung von Wörtern und Sätzen, des je gemeinten und der Äußerung vorweglaufenden Sinnganzen als einer Mannigfaltigkeitseinheit, und bildet daneben eine selbständige Ein­ heit im Klang. So kann der Laut als variabler Klang dem Wort bzw. dem Satz eine neue, neugeschöpfte – z.T. symbolische – Bedeutung geben. Ohne das wäre etwa Ironie gar nicht möglich; sie verkörpert ihren Sinn im ironischen Ton. Genausowenig wie der ‚in ihm steckende‘ ‚Kern‘ des Körpers, der, nicht lokalisierbar, noch zusätzlich neben das synthetische Zentrum seiner übersummenhaften Gestalt tritt (die auch anorganische Körper wie Kristalle aufweisen), räumlich und damit naturwissenschaftlich erschlossen werden kann – er zeigt sich aber explizit in der raumhaftphänomenologisch beschreibbaren exzentrischen Position des Lebe­ wesens Mensch, so auch in seinem sich jeglicher Objektivierung entziehenden Ich, das sich, wie Fichte sagt, selbst setzt, und im Atmosphärischen einer lebendigen Erscheinung –, genauso ist es mit dem Laut als Bedeutungsträger: er ist nicht räumlich, aber raumhaft, er hat ein Volumen, sein Klang breitet sich aus, der Ton gewinnt Höhe oder Tiefe, und er schallt anders je nach der Beschaffenheit des Raums; seine sinnliche Wahrnehmbarkeit erschließt sich einem geistigen Sinn, der Laut ‚gibt‘ Sinn, er ‚hat‘ Sinn, und er schafft eine Atmosphäre, die mal mehr, mal weniger dem Verstehen zuträglich ist.

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7. Laut und Bedeutung – Artikulation und Geltung

7. Laut und Bedeutung – Artikulation und Geltung An dieser Stelle steht man vor dem Rätsel der Verbindung von Laut und Bedeutung. Grundbedingungen des Bedeutens sind: Unterschei­ dung und Abhebung, denn was eine Bedeutung bekommen soll, muss irgendwie gegenüber anderem lautlich hervorgehoben werden. Bühler verwendet dafür den Begriff der abstraktiven Relevanz; Por­ zig bezeichnet diese diakritische Valenz der Laute als ‚bedeutsame Auswahl‘, etwa wenn sich mit einer kleinen Lautveränderung die Bedeutung eines Wortes wandelt (wie i und u in ‚Tische‘ und ‚Tusche‘). Weitere Bedingungen des Bedeutens sind Bezugnahme der Laute aufeinander, systematisierbarer Zusammenhang mit Oppositions­ stellungen und Komplementaritäten. Man kann mit Bühler hier von einem Feldsystem sprechen. Das Feld der Sprache breitet sich aus auf dem Boden der Laute, die ihrerseits in jeder Sprache ein eigenes System bilden, und auf dem Feld lässt sich das Gebiet der Poesie abstecken; dieses ist gekennzeichnet durch Varianzen, die die Zeitlichkeit und Raumhaftigkeit des Spre­ chens nutzen. Die Sukzessivität trägt mit dem Aufeinanderfolgen der Laute und Tonlagen zur sinnvorwegnehmenden Erwartungshaltung bei, und die Voluminosität löst mit der erzeugten Atmosphäre eine Gestimmtheit aus. In diesem Rahmen entfaltet sich das Gebiet der Poesie in je bestimmter Weise, etwa durch betonte (starke) und unbetonte (schwache) Laute bzw. Lautfolgen einer Silbe, die man als Hebungen und Senkungen (die Silbenwucht im Deutschen) bezeich­ net; sodann gehören dazu: kurzer oder langer Silbenumfang (in der antiken Dichtung) sowie Silbenzahl (in der romanischen Dichtung), gebundener oder ungebundener Rhythmus, metrischer Bau in der Tonfolge sowie Taktarten im Wechsel von langen und kurzen Silben (z.B. in der Poetik der Antike: Jambus, Trochäus, Anapäst, Daktylus) bzw., im Deutschen, von betonten und unbetonten Silben (Steiger und Faller), außerdem Tempo, Pausen, Klangfarbe und Reim; hinzu kommen ganz allgemein der Tonfall und die Akzentuierung, wozu Sprechmelodie, Dynamik und Dauer in den Längenunterschieden der Silben gehören und, nicht zu vergessen, die Wortwahl. Einige dieser Mittel der poetischen Ordnung können auch das alltägliche Sprechen und die auf Überzeugung zielende Rede in ihrer Wirksamkeit und Sinngebungskraft stützen. Im Drama werden diese Mittel eingesetzt, und der poetisch reflektierte Prosa-Dichter wird sie ebenfalls nicht

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7. Laut und Bedeutung – Artikulation und Geltung

verschmähen. (Man denke etwa an Hölderlins Hyperion oder an Thomas Manns Der Erwählte.) Abhebung, Betonung, Rhythmus, Taktung sind die gängigen Mittel, Bedeutungen anzuzeigen, die bereits dem Körperleib inne­ wohnen, etwa in der Gestik, im Tanz, in jeder Art von Bewegung, die durch ihre Rhythmisierung der Zeit und die Nutzung des Raums nicht bloß sinnlich wahrgenommen, sondern mit einem Sinn belegt wird. Diese körperleiblichen Akte mit ihrem Wechsel von Bewegung und Ruhe setzen eine Distanz zwischen dem lebendigen Selbst und der Welt voraus, in der es sich ‚äußert‘, sowie eine Distanz zu sich selbst. Jegliche Art von Sinngebung und Sinnverstehen, auch die vorsprach­ liche bzw. ‚körpersprachliche‘, benötigt eine solche ‚doppelte‘ Distanz. Was kommt nun aber beim Sprechen noch hinzu? Im Sprechen werden Sinn und Bedeutung zwar auch ‚gezeigt‘, und es wird, zumal in deiktischen Ausdrücken, ‚hingewiesen‘ auf etwas mit Bedeutung, mehr aber noch: mit dem, was nicht ausschließlich sicht­ bar, sondern hörbar gemacht werden kann, erfolgt eine neue Form der ‚Einteilung‘, die Artikulation, eine Gliederung des Ganzen – und das heißt des Sinnganzen, der intendierten Bedeutung – in Elemente, die durch ihre, bestimmten Regeln folgende, Anordnung Sinn und Bedeutung in Laute übertragen (davon abgeleitet in Buchstaben oder ähnliche Symbole), schärfer noch: die Laute artikulieren allererst den Sinn oder die Bedeutung, die ohne solche Lautung nicht ‚in die Welt‘ treten könnten; erst ihre Artikulation in der lautlichen Äußerung vermag ihnen jenes, stets zu steigerndes, Maß an Klarheit und Deutlichkeit zu verschaffen, das sie brauchen, damit sie überhaupt als ‚Sinn‘ bzw. ‚Bedeutung‘ gelten können. Ihr Sein besteht geradezu in der Geltung, und ohne die Gliederung in einzelne Teile ist das Sinn­ ganze ebenso nicht, wie die Teile ohne das Ganze keine Bedeutung haben. Solche Geltung bezieht sich auf einen Gegenstand, dessen Gegenständlichkeit aus der Benennung, Bezeichnung, dem ‚Worten‘ (Weisgerber) in den Akten des sprachlich artikulierten Meinens und verstehenden Vernehmens resultiert. Auch wenn das Hören eindringlicher und unmittelbarer ist als das Sehen, und das Ohr als Sinnesorgan der Nähe gilt im Vergleich zum Auge als Organ der Distanz, ist es doch die Hörbarkeit und die Möglichkeit des Hörbarmachens, die jene doppelte Distanz zwischen Selbst und Welt in der Weise ausdrücklich macht, dass Bedeutungen ausgedrückt werden können. Es ist die Distanz, die Voraussetzung ist für das Wirkliche, das dem Selbst nicht bloß als eigen- und widerstän­

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8. Sprechen (Verkörpern) und Hören (Entkörpern): Person

dig entgegentritt, sondern als Sache aufgefasst, als Sache in Worte gefasst werden kann. Die Distanz zwischen dem lebendigen Selbst und der Wirklichkeit macht es dann möglich, dass die ‚wirklichen‘ Dinge, Sachverhalte, Ereignisse, Erlebnisse in Laute eingehen, ob in spontan-emotionaler ‚Veräußerung‘ oder in reflektierend-sachhal­ tiger, auf hörendes Vernehmen und Verstehen zielenden ‚Äußerung‘, und darin zu Gegenständen werden, von denen man sprechen und über die etwas gesagt werden kann, d.h. die Laute und Worte tragen Bedeutung, die Sätze haben Sinn. Das Selbst drückt ‚sich‘ aus ineins mit dem Finden eines Ausdrucks für die Sache. So ist der Ausdruck subjektiv und objektiv zugleich; Georg Misch spricht hier von einer ‚Verquickung‘ zwischen Wort und Ding bzw. Ereignis.

8. Sprechen (Verkörpern) und Hören (Entkörpern): Person Wer artikulierte Laute von sich gibt, rechnet auf deren Aufnahme durch andere, auf Gehört- und Verstandenwerden. Der Hörer ist zunächst jeder selbst, auch der, der gerade spricht. Diese einfache, jedoch in der Konkretisierung komplexe Konstellation ist maßgeblich für die Funktion des Bedeutens oder Sinngebens. Denn sie stellt den dafür notwendigen Bezug her zwischen dem Sprecher, dem Hörer und dem Gegenstand, um den es in der Lautgebung geht. Die Rollen des Sprechers und Hörers kommen dabei jeweils derselben Person zu, ob sie nun gerade spricht oder zuhört, also allen, die aktuell-situativ am Gespräch oder, allgemeiner gesagt, an der sprachlichen Interaktion beteiligt sind (denn nicht jede solche ist ein Gespräch). Die Rollen werden geteilt, und jede Rolle ergänzt die jeweils andere so, dass jede am Gelingen des sprachlichen Austauschs teilhat: es werden Bedeutungen vorgeschlagen und einer zunehmend differenzierten und vertieften Klärung ausgesetzt, und es entsteht ein Sinnganzes von dem, wovon die Rede ist. Das Teilen der Rollen und Miteinanderteilen des Gemeinten, das Mitteilenkönnen, macht Individuen allererst zu Personen, zu Gliedern und Trägern der Mitwelt. Worauf sich alle gemeinsam beziehen, ist der Gegenstand oder Sachverhalt, der jeweils zur Rede steht, und nur weil es beredet wird oder potenziell beredet werden kann, wird das in Sprachlaute Gefasste gegenständlich und zunehmend versachlicht, jedenfalls der Idee nach. So ist die Mitwelt auch Voraussetzung für die Gegenständlichkeit und das Erkennen der Realität der Gegenstände, von denen gesprochen wird.

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8. Sprechen (Verkörpern) und Hören (Entkörpern): Person

In seinem Organon-Modell versucht Karl Bühler, diese Kon­ stellation abzubilden. Um das Schallphänomen herum gruppieren sich Sender, Empfänger und Gegenstand bzw. Sachverhalt in der Weise, dass der Schall zum Lautzeichen wird, das den Gegenstand ‚symbolisiert‘. Entsprechend unterscheidet Bühler drei Leistungen der Sprache mit drei Funktionen des Sprachzeichens: dieses ist Symbol, weil es den Gegenstand darstellt; es ist Symptom, weil der Sender sich mit seiner ‚Innerlichkeit‘ darin ausdrückt; und es ist Signal, weil es an den Hörer und sein Verständnis mitsamt den möglichen daraus folgenden Verhaltensweisen oder Handlungen appelliert. (Folgt man Granet, ist die letztere die wesentliche Funktion der chinesischen Schriftzeichen.) In ähnlicher Weise unterscheidet man in der Sprech­ akttheorie, wie erwähnt, den lokutionären vom illokutionären und perlokutionären Akt, d.h. die Darstellung der Sache, den Ausdruck der auch affektiv unterfütterten Meinung und die tatsächlich ausgelöste Wirkung. Wichtig ist, dass das Sprechen bzw. Reden hier zurecht als ein Handeln verstanden wird. Man kann, wiederum mit Georg Misch, in der Rede eine schöpferische Vereinigung von Ausdrucksbewegung und Tun sehen, etwas, das in der Zeigegebärde bereits vorgeprägt ist und sich in einem geschichtlichen Prozess zur Sprache ausprägt. Nun ist es allerdings nicht so, dass sich die drei Funktionen, Leistungen oder Akte trennen ließen. Eine solche Analyse erfolgt immer nachträglich zu Modellierungszwecken, kann aber den Prozess des Sprechens selbst nicht adäquat erfassen. Im Modell löst er sich auf und wird unkenntlich. Wie lässt sich der Sprechprozess in seinem lebendigen Gang seinerseits sprachlich erfassen? Geht das überhaupt? Worin liegt hier die Schwierigkeit, und auf welche tieferliegende Struktur verweist sie? Der Schlüssel scheint in der Rollenteilung der Person zu liegen. Als Sprecher muss sie in der Lautgebung ‚etwas‘ und ‚sich‘ verkörpern, also, folgt man dem Organon-Modell, darstellen und ausdrücken und damit vom Gemeinten überzeugen wollen; als Hörer jedoch muss sie das Verlautete entkörpern, d.h. das Dargestellte und sachlich Gemeinte von den gehörten Sprachlauten und vom Ausdruck lösen, um es zu ‚verstehen‘, also der Sache in ihrer Bedeutung (gleichsam durch das Instrument der Verkörperung hindurch) gewahr zu werden und möglicherweise selbst mit weiteren Äußerungen daran anzuknüpfen, um gemeinsam den Sinn zu entfalten, der vielleicht noch nicht einmal dem Sprecher, der die Initiative ergriffen hatte, in seiner ganzen Fülle geläufig war. Diese Gleichzeitigkeit von Verkörpern und Entkörpern

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9. Sinndruck und Gesamtsinn – Sinnerwartung

im prozessualen Ablauf ist eigentlich eine ungeheure Zumutung. Was ist in ihr enthalten?

9. Sinndruck und Gesamtsinn – Sinnerwartung Zunächst ist festzustellen, dass das, was sich im Sprechen allmählich in der Lautfolge aufbaut, ein Gefüge ist. Phoneme, Morpheme, Silben, Wörter, Sätze fügen sich so zusammen, sind durch Flexionen (oder Tonhöhen und Klangvarianten) so ineinander verhakt, dass kein Ein­ zelnes losgelöst werden kann, ohne den gesamten Bau zu verändern. Sobald ein kleines Stück nicht dazu passt, richtet sich die Aufmerk­ samkeit darauf, und man möchte das passende Stück einfügen, was man in der Tat macht, ob unausgesprochen in Gedanken oder explizit korrigierend. Das geschieht vor dem Hintergrund des erwarteten und vom Gefüge nahegelegten Sinns der Äußerung mitsamt den Bedeu­ tungen der einzelnen Wörter, die dem Sinnganzen der Äußerung, dem Gemeinten, adäquat sind, zumal dieses als Angebot für das Verstehen gelten kann. Dieses Beispiel eines Bruchstücks oder Risses im Gefüge zeigt, dass dem verstehenden Entkörpern eine Sinnerwar­ tung vorausgeht, die sich überdies in grammatischen Strukturen und semantischen Funktionen, gerade auch solchen, die flektierend oder klanglich angezeigt werden, manifestiert. Für letzteres spricht etwa der Fall, dass etwas klanglich, ob durch unangemessene Betonung oder durch unfreiwilligen Missklang, selbst durch einen übermäßig ausgeschmückten Wohlklang, herausgehoben werden kann, damit zuviel Aufmerksamkeit erregt und der intendierte Sinn verschüttet oder verkannt wird. Wie dem auch sei: Der antizipierte Sinn der Äußerung übt auf Sprecher und Hörer einen Sinndruck aus, der Folgen hat nicht nur für die Auswahl von Phonetik, Syntax und Semantik der Äußerung, sondern auch für das Entkörpern dieser stofflichen Vorgabe. Lässt sich daraus schließen, dass dem Sprechen (und seinen Pausen sowie dem Schweigen und Verstummen) überhaupt ein Gesamtsinn vorausgeht bzw. zugrundeliegt, der auf ‚den‘ Menschen und ‚die‘ Sprache einen Druck ausübt mit bestimmten, zu erörtern­ den Folgen? In der Regel spricht man in diesem Zusammenhang von der Wahrheit. Die Vorstellung ist verbreitet, es ‚gebe‘ eine Wahrheit, die allem zugrundeliege; und so gebe es ein Leben in der Wahrheit oder

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10. Sich einen Reim machen können: Poesie

in der Unwahrheit, ein verfehltes Leben. Auch ist von der Wahrheit des Seins gesprochen werden, und es ist gängig zu sagen, ‚in Wahrheit‘ sei es doch so und so oder ganz anders, als man denke oder glaube. Wahrheit gilt überdies als logische Funktion, als Kriterium für die Bewertung von Behauptungen, Feststellungen, Aussagen, ist also eine auf dem Feld der Sprache in ihrer Verbindung mit dem Denken gewachsene Größe. Was hat es mit dem Gesamtsinn und der offensichtlich ihm zukommenden Wahrheit auf sich? Lässt sich das ermitteln, wenn man den Sinndruck, den jeder im Sprechen und für sein Leben in bestimm­ ten Abschnitten und zumal im ganzen zumindest andeutungsweise kennt, näher beschreibt? Woraus lässt er sich erschließen, und wie wirkt er sich aus? Allgemein lässt sich feststellen: der Sinndruck zwingt den Men­ schen zum Hörbarmachen dessen, was ‚in ihm‘, in seinem ‚Kopf‘, wie man sagt, vorgeht. Wäre es nicht so, würde er keine Laute artikulieren. Hinzu kommt, dass diese Lautgebung mit ihrer Artikuliertheit, die über das tierische Pfeifen, Trillern, Schreien, Summen und Brummen hinausgeht, nicht bloß expressiv, sondern in ihrem mehr oder weniger affektiven Ausdruck zugleich gegenständlich ist, d.h. es werden mit der lautlichen Artikulation Bedeutungen ‚gegeben‘, in welchen von einem Gegenstand etwas gesagt wird. Der Sinndruck sorgt dafür, dass das nicht regelmäßig ein Unsinn, nicht inhaltsleer ist, sondern einen gegenständlichen Gehalt hat, dass also der Sprecher von etwas spricht und darüber etwas sagt, worauf er einen Wahrheitsanspruch erheben kann und was er für wirklich hält, und selbst wenn es eine Fiktion ist, dann aber eine solche, zu der er wahrheitsgemäße Feststellungen macht oder die in seiner erlebten Wirklichkeit von Bedeutung war oder ist. Was kann es mit dieser Wahrheit auf sich haben, die sich einerseits so vordrängt, dass es ohne sie nicht zu gehen scheint, andererseits so zurückzieht, dass sie selbst nicht klar benannt werden kann? Wie hängen Wahrheit und Sinn, sprachliche Wahrheit und Sinndruck zusammen?

10. Sich einen Reim machen können: Poesie Es ist geradezu ein Kennzeichen der Poesie, dass sie Worte, Meta­ phern, Fügungen verwendet, um das in Anschauung zu fassen, was sich ‚eigentlich‘ nicht fassen lässt, weil der Gegenstand sich der

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10. Sich einen Reim machen können: Poesie

direkten Versprachlichung entzieht. Sie gibt Bilder für ‚Ideen‘, Gedan­ ken, Vorstellungen, Ahnungen, die ihren Zielpunkt jenseits dessen haben, was sich in propositionaler Rede vergegenständlichen lässt. Sie versucht, das Unartikulierbare zu artikulieren, ja das, was durch Arti­ kulation, Verwortung oder Wörtlichmachen seine Eigenart verlöre, dennoch in Worte zu setzen, mitunter auch durch ein Aufhalten der Wörterflut bis hin zu einem völligen Abebben, einem Schweigen, das für sich ‚spricht‘. Nimmt man die Poesie insgesamt als Menschenwerk, als eine menschheits- und kulturgeschichtlich in Werken geronnene und erforschbare Leistung mit bestimmten ‚Resultaten‘, so scheint auf ihr der Sinndruck zu lasten, der vom Gesamtsinn des Menschenlebens auf Erden in doch letztlich begrenzter Zeit ausgeht, und zumal der Sinndruck, der auf jeder sprachlichen Äußerung liegt und ihre Sukzes­ sion mal leicht-, mal schwergängig macht. Das trifft wohl auf jede Kunstform zu, die nicht bloß Künstelei und l’art pour l’art sein will; in der Sprache ist es jedoch der Ausdruck selbst, der dazu noch zum Gegenstand von Ausdrücken wird, und es ist die sprachliche Darstel­ lung, die das Darstellen selbst in den Fokus des expressiven Prozesses rückt, d.h. im Reden und Sprechen reflektiert sich die grundsätzliche Expressivität, in der sich der Mensch in der Welt, zur Welt und zu dem, was über die Welt hinausweist, verhält. Das lässt sich u.a. daran erkennen, wie man versucht, der Zeitlichkeit und Raumhaftigkeit des Sprechens gerecht zu werden, indem man die Worte im rechten Augenblick eintaktet, sie situations- und kontextgemäß variiert sowie in Klang und Betonung atmosphärisch dem Anlass gemäß gestaltet, auch daran, wie man lokale Präpositionen und Ortsadverbien unter Einsatz von Einbildungskraft und Phantasie für nichträumliche, aber raumhaft vorgestellte Beziehungen verwendet, oder nicht zuletzt daran, wie man sofort spürt, wenn eines der genannten Elemente nicht ‚passt‘. In der Poesie wird das reflektierte sprachliche Ausdrücken und Darstellen zur Kunstform erhoben. Poesie macht ihrer Intention nach anschaulich, was in keine Anschauung eingeht. Das gelingt (oder misslingt) ihr mit den oben (in Nr. 7) genannten Mitteln, sodann mit der Auswahl der Wörter und deren Anordnung, in der ein semanti­ sches Feld geschaffen wird, das auf das Gemeinte, Gedachte, die Idee, den Gedanken, das Erlebte oder die empfundene Stimmung verweist bzw. verweisen soll.

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11. Menschliche Lebensform: Verbindung von Lebendigkeit und Gesamtsinn

Am Ende geht es immer darum, sich, redensartlich gesprochen, einen Reim machen zu können. Worauf? Auf all das, was im Alltag begegnet, was als Frage auftaucht, was einem zunächst unverständ­ lich erscheint, was im Leben wichtig ist, was unvorhergesehen den Lauf der Dinge beeinflusst, was die Ordnung der Dinge überhaupt ausmacht, was das eigentlich alles soll – ‚alles‘, das trotz allen Bemü­ hens nicht bloß im Werden begriffen ist und zu einem ‚guten Ende‘ gebracht werden kann, sondern unangesehen unserer das Leben prägenden, gar lebensnotwendigen Bindung daran und diese geradezu verhöhnend, vergeht und verschwindet. Wie kann man sich darauf einen Reim machen? Sprechen und Reden zielen immer auf einen Sinn, wie aber auf den Gesamtsinn, der sich trotz allen Zwangs zur Sinnvorwegnahme im Sprechen und hörenden Verstehen entzieht, und dessen Inhalt unfassbar bleibt – und an den sich die Idee der Wahrheit bindet?

11. Menschliche Lebensform: Verbindung von Lebendigkeit und Gesamtsinn Es ist in der Tat die Dichtung als Kulminationspunkt der Sprache und des Sprechens – wobei Sprache und Sprechen ihrerseits als Potenzierung der Ausdrücklichkeit der menschlichen Lebensform zu gelten haben –, die jenes ‚Zielen auf‘ in Angriff nimmt und der Richtung auf den Gesamtsinn folgt – mit den Mitteln des Reimens: Rhythmus und Klang im Verein mit der syntaktischen Sukzession. Die Dichtung macht dadurch objektiv, was anders im Nebel subjektiv bleibender Stimmung und Empfindung stecken bleibt, sie führt es ‚gegenständlich‘ vor Augen. Wenn es aber so ist, dass diese Möglich­ keit der Objektivierung des Ganzen bzw. Gesamtsinns, die ja auch die Philosophie für sich in Anspruch nimmt, auf Rhythmus und Klang als ihren Bedingungen ruht, was heißt das dann im Gegenzug für den per se nichtobjektivierbaren Gesamtsinn selbst? Die Philosophie nimmt für sich in Anspruch, das Übergestalthafte des Gesamtsinns ebenso objektiv zu fassen, hieß es gerade, aber sie neigt dazu, die Begriffe und Konzeptionen, die sie sich für diese Aufgabe erschließt, immer weiter zu zerlegen, um mit den daraus resultierenden Mosaiksteinen wieder ein Ganzes zusammenzubauen und dann festzustellen, dass dieses auf analytischer Basis konstruierte Ganze nicht dem Gesamtsinn entspricht, auf den sie sich einen Reim machen wollte. Angesichts des

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gewaltigen Sinndrucks, der vom verborgenen Gesamtsinn ausgeht, fällt das Kartenhaus der Begriffe in sich zusammen. Das hat zu den philosophisch neuen, begriffskritischen Ansätzen von Kierkegaard und Nietzsche geführt, deren philosophische Sprache sich der Dich­ tung nähert. Die Dichtung scheint nicht ein solches Kartenhaus zu sein, sie überzieht man eher mit dem Verdikt einer müßigen Spielerei, die dem Sinndruck lediglich ausweicht, wie das zum Wesen jeder Spielerei gehört; diese mag zwar entlasten, aber nur kurzzeitig und um den Preis einer sinnlosen Zeitverschwendung. Näher besehen ist ein solches Verdikt ausschließlich für misslungene dichterische Werke berechtigt. Diese lassen sich jedoch gerade dadurch aussondern, dass, im Gegensatz dazu, Poesie wie jede Art von Sprechen und Reden, die in einer geistigen Atmosphäre gedeihen bzw. die der Geistigkeit der menschlichen Lebensform entspringen, ja sich dieser, inhaltlich wie formal, allererst verdanken, den Sinndruck aufnimmt und in Rhythmus und Klang mit sukzessiver Ordnung ‚übersetzt‘. Mit anderen Worten: der Gesamtsinn selbst scheint ‚darauf zu warten‘, dass der Druck, den er notwendigerweise auslöst, ‚verteilt‘ wird, so dass er nicht länger auf einem einzigen Angriffspunkt lastet. Er drückt dann nicht mehr nieder, sondern setzt mit seiner im Kern – solange er nicht in ein Verhältnis zur Artikulation gesetzt wird – erstickenden und vernichtenden Kraft an dem an, was sich aufteilen lässt: an den ständig wechselnden und sich überlagernden wie durchdringenden Rollen der Person im Gespräch, an den unzähligen Gliedern der Mitwelt, die sich mit-teilen, nicht so aber, dass sie verlautbaren, laut werden, sich selbstbezogen Laut verschaffen, sondern so, dass sich die mitgeteilten Laute geordnet aufeinander folgend an Rhythmus und Klang binden. Muss aus diesem Grund nicht von Rhythmus und Klang (und was dazu gehört zum carmen rhythmicum als dem Inbegriff von Maß und Ordnung in der Artikulation, etwa Betonung, Wortwahl u.v.m.) als den Ausläufern oder den Insignien des Gesamtsinndrucks gesprochen werden? Der Gesamtsinn wäre demnach eine Größe, die regelrecht darauf angewiesen ist, sich rhythmisch und klanglich ‚Luft‘ zu verschaffen, sukzessiv-gliedernd in der Zeit und simultanatmosphärisch im Raum, und damit ‚nach außen‘ zu treten, sich ‚äußernd‘ zu ‚objektivieren‘, letztlich, um sich selbst als sinngebend zu beglaubigen, gerade auch dann, wenn die Sukzession in ein ‚artiku­ liertes‘ Schweigen, in eine durch Artikulation ausgelöste, die Lautund Wortfolge beschließende Stille übergeht, und der Raum von Leere ‚erfüllt‘ ist. Die in Anführungszeichen stehenden Worte zeigen

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11. Menschliche Lebensform: Verbindung von Lebendigkeit und Gesamtsinn

an, dass keine propositional-vergegenständlichende Rede den hier in Frage stehenden Vorgang erfassen kann. Es handelt sich hier lediglich um den Versuch, dem Poetischen als dem Inbegriff des Umgangs mit verborgenem, eigentlich unartikulierbarem Sinn nachzuspüren. Man denke u.a. an bestimmte Gedichte von Hölderlin, an Dramen und kurze Texte von Kleist oder an Prosa von Thomas Mann, in welchen die Auflösung des Sinndrucks in artikulierte Rede gelungen ist. Solche Beispiele sind getragen von dem Schöpferischen, das in die Werke eingegangen ist; es wird nicht aus dem Nichts geschöpft, sondern aus Quellen, derer man sich ‚bedient‘, um zu Neuschöpfungen zu gelangen, die das Signum der menschlichen Lebensform sind, einer Lebensform, die den Gesamtsinn, von dem sie für ihre Lebendigkeit zehrt, ja nicht selber schafft, sondern sich ihm gegenüber so zu verhalten hat, dass er sich objektivieren kann, ohne verdinglicht und damit starr zu werden. Jedoch erst durch den Beitrag solchen Verhaltens kann der Gesamtsinn jenes Profil gewinnen, dass er Halt und Orientierung zu bieten vermag. Die menschliche Lebensform ist von der unauflöslichen Verbindung zwischen ihrer spezifisch mitwelt­ lich-dialogischen, letztendlich auf Sprechen, Reden und Schweigen angewiesenen Lebendigkeit und dem Gesamtsinn geprägt; aus diesem Grund darf sie als geistig bezeichnet und ausgezeichnet werden. Das Kappen dieser Verbindung macht geistlos. Um drei Beispiele für das Neuschöpferische zu nennen: Hölder­ lin erweckt die antike Götterwelt der Griechen wieder zum Leben, um ein sinnvolles Verhältnis zum Widerpart des Lebens, dem Tod, zu gewinnen; Kleist dynamisiert den prosaischen Sprach- und drama­ tischen Sprechrhythmus u.a. durch originelle Interpunktion zu einer bedeutungsvollen Neueinteilung der Kola, d.h. Wortgruppen oder rhythmischen Sprecheinheiten, nicht um grammatischer oder poeti­ scher Neuerungen willen, sondern um die inhaltliche Veranschauli­ chung von Untiefen und Krisen des Lebens formal zu unterstützen und damit einem Verständnis näherzubringen; und Thomas Mann gewinnt eine Sinn gebende wie Sinn variierende Distanz durch feine Ironie und zuweilen zurückhaltend-spöttischen Zugriff, mit dem er einen Freiraum erschließt für die schöpferische Kraft auch des Lesers.

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12. Sinnvorwegnahme und Sinnbestimmung: das schöpferische Moment

12. Sinnvorwegnahme und Sinnbestimmung: das schöpferische Moment Was am Sprechen demnach am meisten ins Auge, besser gesagt, ins Ohr fällt, ist das schöpferische Moment, dem jeder Sprecher, sobald er anfängt, einerseits ausgeliefert ist – denn er weiß am Beginn noch nicht, wie er bzw. ‚es‘ endet –, das andererseits seinen vollen Einsatz erfordert. Es wird zwar mit der Zeit eine gewisse Routine eingeübt, ein handwerkliches Können stellt sich ein, das jedem Schaffensprozess eigen ist, und man kann sich dieser Routine unterwerfen, allerdings nur um den Preis eines Freiheitsverlusts, den jeder – einem Handwerker gleich, der gezwungen ist, stets die gleiche Hantierung vorzunehmen – schmerzlich spürt, wenn es gilt, sich außerhalb der alltäglichen, oft floskelhaft-stereotypischen Kommunikation zu äußern und, wie es heißt, ‚frei zu reden‘. ‚Voller Einsatz‘ heißt: die ganze Person selbst muss sich einbringen, ihre Verhaltenheit ablegen, die sich aus der Angst speist, nicht die rich­ tigen, der Sache und der Situation angemessenen Worte zu finden und dadurch Missverständnisse auszulösen oder sich gar der Lächer­ lichkeit preiszugeben. Umgekehrt ist es der Person aufgetragen, sich in ihrem Selbst zurückzunehmen, d.h. ihre eigene Bedeutung zu entkörpern, um sich in der Sprecherrolle, zugleich dabei die Hörerrolle einnehmend, der sprachlichen Verkörperung des Gedankens, des Gemeinten, des zu entwickelnden Satzsinns zu widmen. In einem echten Gespräch treten die Personen mit ihrem bedeutungsvollen Selbstsein hinter der Sache des Gesprächs zurück und gehen im Rollenspiel zwischen lautgebend-sinnschaffendem Verkörpern und hörend-vernehmendem Entkörpern auf, so aber, dass sie sich nicht verlieren, sondern in höchster und zugleich wohltuender Konzentra­ tion auf den gemeinsam zu erzeugenden, an die Sache gebundenen Sinn richten und diesem entsprechend sukzessiv Bedeutungen her­ vorbringen. Die Bedeutungen werden Wort für Wort aneinanderge­ reiht und stehen in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander, und die Reihung steht unter dem Druck des antizipierten Ganzen; zugleich zeichnet die allmählich sich aufbauende syntaktische Anordnung mit ihren internen paradigmatischen Wortfeldbeziehungen ihrerseits die Bahn für das Werden des Sinnganzen vor. Nochmals die Frage: Soll man daraus schließen, dass der Sinn geschaffen wird, oder dass er vielmehr gegeben ist? Diese merkwürdige Konstellation von Sinnvor­ wegnahme und sukzessiver Sinnbestimmung ist es, die das Verhältnis

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12. Sinnvorwegnahme und Sinnbestimmung: das schöpferische Moment

des Sprechens zum einen zur Sprache, zum anderen zur Sache – zu dem also, was nicht vollständig in der Sprache noch im aktuellen Reden aufgehen kann, so dass darin immer ein ‚überschießendes Plus‘ (Scheler, Plessner) mitgegeben ist, das stets auf weitere Rede wartet – in einer Weise vieldeutig macht, dass daraus jene großen Schwierigkeiten der Sprachwissenschaft und der Sprachphilosophie resultieren, die mit den Grundfragen der Freiheit und des Schöpfe­ rischen zusammenhängen. Es sind überdies jene Fragen, die das Verhältnis des Gesamtsinns zur Bedeutung einzelner Ereignisse und des biographisch-individuellen wie menschheitlichen Lebenssinns, zu Anfang und Ende des Lebens, zu dessen Krisen und Untiefen, zur Bodenlosigkeit der Existenz überhaupt betreffen. Aus dieser Konstellation speist sich die Poesie, letztlich das Spre­ chen überhaupt und mit ihm der Sinn jedes Satzes. Denn auch hinter einem unscheinbaren Satz wie „Heute morgen scheint die Sonne“ steht der Sinndruck, der den Satz beurteilbar macht dahingehend, ob er zutrifft, wahr ist, überflüssig, der Situation angemessen, in den aktuellen Verstehenshorizont passend usw.; man stelle sich etwa vor, ein Konferenzteilnehmer sagt den Satz zum Auftakt einer kon­ zentrierten Verhandlungsphase. Jeder wird den Sinndruck spüren, dem hier auf völlig falsche Weise Genüge getan zu werden versuchte, und der Druck wird nun verstärkt auf dem weiteren Verlauf der sprachlichen Interaktion lasten. Ein weiteres Beispiel ist das Grüßen und überhaupt jeder Einstieg in die sprachliche Kommunikation sowie deren Abschluss. Man muss nicht alle Dimensionen solcher Interak­ tionen – psychologische, soziologische, kulturelle, einzelsprachliche – analysieren, um festzustellen, dass Druck abgelassen wird, wenn die jeweilige Äußerung eine Erwiderung findet, die eine mühelose Fort­ setzung und damit gemeinsame Sinngebung ermöglicht. Die gesamte Sequenz orientiert sich dabei an einem Sinnverständnishorizont, in dem sich die Sprecher- und Hörerrollen dem Gesamtsinn einordnen lassen, der seinerseits nicht artikuliert wird – es sei denn, es handelt sich explizit um dessen Thematisierung, etwa in einem theologischen oder philosophischen Rahmen –, sondern dem Sachverhalt der Arti­ kulation überhaupt zugrundeliegt und seine jeweilige Realisierung motiviert. Motivation ist hier nicht als psychologische Größe zu verstehen, sondern als ein existenzieller Faktor: die Lebensform des Menschen steht in Relation zum Gesamtsinn, der sich in der Realisierung des Gesprächs, an dem alle Menschen teilhaben (Karl Vossler), mehr oder weniger deutlich manifestiert; der Gesamtsinn

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13. Der Doppelprozess von Verkörperung und Entkörperung in der Sprache: die Metapher

seinerseits entwickelt sich mit dem Gehalt jeglicher Verwirklichung von Gesprächen und enthüllt oder verhüllt sich deshalb historisch je verschieden. Er zieht sich völlig ins Dunkle zurück, wenn es der Sprache an geistiger Lebendigkeit mangelt, etwa wenn sie sich abgenutzter Phrasen bedient oder schlagwortartig eingesetzter wis­ senschaftlicher Termini.

13. Der Doppelprozess von Verkörperung und Entkörperung in der Sprache: die Metapher In der Sprache bzw. im Sprechen handelt es sich um Neuschöpfungen, die sich des Sprachbestands bedienen, sowohl des grammatischen als auch des literarischen und poetischen. So schließt Hölderlin an die antike Dichtung an, Kleist experimentiert mit der grammatisch gülti­ gen Syntax und Zeichensetzung, und Thomas Mann gewinnt seine Ironie in Distanz zu historisch-kulturell vorgegebenen Bedeutungen. Solche Sinn- und Bedeutungsvorgaben lassen sich erschließen, und ihnen wird in der literaturwissenschaftlichen Forschung bis ins letzte Detail nachgegangen. Wie aber steht es mit der Sinn- und Bedeutungsvorgabe, die sich in dem zuweilen unerträglichen, in ‚guten Zeiten‘ als leicht empfundenen, ja durch seine Widerständig­ keit die ‚Leichtigkeit des Seins‘ (Milan Kundera) wohl erst ermögli­ chenden Sinndruck niederschlägt, der vom Gesamtsinn ausgeht und jene melancholisch unterlegt? Geht man von der bisher erschlossenen Relation zwischen Sprache und Gesamtsinn aus, dann muss dieser selber mit dem Schöpferischen zu tun haben, dem Zugleich und dem Wechsel von Verkörperung und Entkörperung, wie es in der Sprache statthat. Man muss es wohl von dieser Seite sehen: Der Doppelprozess von Verkörpern und Entkörpern wohnt dem Sprechen und Reden inne, insbesondere auch der Poesie, eben aus dem Grunde, weil diese in einer internen Verbindung zum Gesamtsinn stehen. Und der Gesamtsinn macht für ein Lebewesen wie den Menschen die Poesie und deren Basis, das Sprechen, Reden und Schweigen, so notwen­ dig, wie der Wesenskern des Schöpferischen, nämlich die Freiheit als Anfangenkönnen, das, wovon die Initialzündung für jegliches Schaffen ihren Ausgang nimmt, auch für das Denken und Handeln notwendig vorauszusetzen ist.

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13. Der Doppelprozess von Verkörperung und Entkörperung in der Sprache: die Metapher

Das Schöpferische in der Sprache erkennt man etwa daran, dass (1) durch unablässige Wiederholung die Worte ihre Bedeutung verlieren, (2) durch stete Verwendung Reime abgenutzt werden, (3) durch die lange Dauer ihres Einsatzes Metaphern verblassen; (4) auch daran, dass man nicht ernst genommen wird, wenn man immer das­ selbe sagt, selbst wenn es inhaltlich zutreffen sollte. Und umgekehrt: (1) man sucht nach Varianten auch für gleiche oder vergleichbare Bedeutungsintentionen, (2) der Dichter vermeidet geläufige Reime oder lässt sie, aus Überdruss am Gleichklang, ganz weg, (3) Meta­ phern werden in einen neuen Kontext gesetzt oder neu ‚erfunden‘; (4) der treffend gewählte, sich vom Üblichen abhebende Ausdruck weckt ernsthaftes Interesse, es sei denn, er wirkt affektiert, gesucht und manieriert. Ohne dieses schöpferische Wesenselement gäbe es keine Wand­ lung in der Sprache. Man würde sie lernen und anwenden wie das Einmaleins. Es ist aber so, dass man den gelernten Stoff, die phonetischen, morphologischen, syntaktischen und semantischen Grundlagen des Sprechens, stets auf neue Weise überwindet und übertrifft. Gerade durch die eingeübte Gebundenheit an eine Sprache ist man befähigt, etwas zu sagen, was vorher noch nie auf diese Weise gesagt worden ist. Man beherrscht die Sprache, wenn man sie nicht zwanghaft gebraucht, sondern Neues in und mit ihr zu schaf­ fen vermag. Der Sprachforscher Eugenio Coseriu hat hier geradezu von einer poetischen, schöpferischen Betätigung gesprochen. Das schließt sowohl Laut und Klang als auch die Semantik ein. In diesem Schaffensprozess wird das sprachliche Gefüge in Teilen abgebaut und zugleich wieder aufgebaut, Fugen werden versetzt und erneuert. Eine Bedeutung wird erfüllt gerade dadurch, dass eine Bedeutung entleert wird, das Verkörpern erfolgt im Entkörpern. So wird etwa in einer Metapher die ‚eigentliche‘, ‚wörtliche‘ Bedeutung abgebaut, und eine neue, häufig in einem Kompositum, entsteht. Karl Bühler verwendet zur Erläuterung des Vorgangs Begriffe aus der Gestalttheorie. Man könne in der ‚prägnanten Metapher‘, die als Kompositum von Nomina aus zwei verschiedenen Sphären auftritt, ein Zugleich von Übersummativität und Untersummativität in den Gefügen bzw. Komposita feststellen; in ihnen finde eine ‚Sphärenmischung‘ statt, wobei es zugleich zu einer ‚Sphärendeckung‘ mit selektiver Wirkung komme, etwa in der Metapher ‚Salonlöwe‘: durch ‚Salon‘ werde alles abgedeckt, also übermalt oder verhüllt, was man mit einem ‚Löwen‘ ansonsten verbinde, ausgewählt (selegiert)

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14. Der Sinn-Überschuss der Metapher

wird lediglich die Vorstellung von einem sich großartig dünkenden Individuum, das – in Verbindung mit ‚Salon‘ ineins mit einer Bedeu­ tungsentleerung (Entkörperung) von ‚Löwe‘ – sich wichtig macht und recht eigentlich aufplustert. Man kann hier allgemein, wie bei der Wahrnehmung von Gestalten, zum einen von ‚Abdeckung‘, zum anderen von der Differenz zwischen Figur und Grund reden: das eine (die Figur) deckt das andere (den Grund) ab, und das so Dargebotene kann umkippen: der Grund tritt nach vorne und deckt die Figur ab. In ein und demselben Bedeutungsgefüge wird hinzugefügt (verkör­ pert) und abgestrichen (entkörpert). Weitere Beispiele Bühlers sind Komposita wie ‚Hausvater‘ und ‚Hausschlüssel‘: die Spezifikation der jeweils gedachten Beziehung sei hinzugedacht, also übersummativ. Alles daran Unverträgliche ‚falle aus‘ (es wird entkörpert), so etwa, dass der Vater der Erzeuger dessen ist, was ihn zusätzlich spezifiziert (des Sohnes oder der Tochter), nicht aber des Hauses; auch kommt das Haus nicht dem Schließmechanismus des Schlosses gleich, in den der Schlüssel passt. Deutlicher noch: im Kompositum ‚Wachszündholz‘ fällt die Zusatzbestimmung ‚aus Holz‘ vollständig aus.

14. Der Sinn-Überschuss der Metapher Die Sprache ist voller Metaphern, die man häufig gar nicht mehr als solche wahrnimmt. Sie sind notwendig, weil die Sprache einerseits im Verhältnis steht zur Sache, die in ihr verhandelt wird, andererseits ein Feld ausweitet und dieses selbst, in Abhängigkeit von eben jenem Verhältnis, begrenzt, ein Sprachfeld, in dem sich intern vielfältige Beziehungen zwischen den sprachlichen Elementen sowohl syntag­ matischer als auch paradigmatischer Art ausbilden, etwa in Wortfel­ dern oder in der phonologischen Systematik. Metaphern bewegen sich in diesem Feld und leben von der Sache, auf die sie ‚zeigen‘, die aber über sie und damit über das Feld hinausführt. Und es ist genau diese Konstellation, in der die Möglichkeit sprachlicher Sinngebung mit Bezug auf den Gesamtsinn wurzelt. Das lässt sich aus Folgendem ersehen. Gelungene Metaphern führen, hierin der perspektivischen Wahrnehmung ähnlich, das ‚über­ schießende Plus‘ mit sich, das, trotz seiner ‚Aufgehobenheit‘ in der Sprache, mehr ist als Sprache; es kommt der Sache selbst zu, und zwar so, dass es nicht direkt artikulierbar ist, aber von dem her, was gemeint ist, der Sache nämlich, einen Horizont um den metaphori­

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14. Der Sinn-Überschuss der Metapher

schen Ausdruck legt, der für Sprecher und Hörer zum gemeinsamen, stets erweiterbaren Sinn- und Verständnishorizont wird und in letzter Linie den Gesamtsinn, zumindest der Intention nach, einschließt bzw. von diesem umgriffen wird. Metaphern zeigen mit dem Überschuss einerseits ihre eigene Begrenztheit an, andererseits ihr Potenzial, dem ‚Plus‘ gerade mit ihrer bildhaften Semantik nahezukommen. Sie eröffnen eine Perspektive für die immerhin bildhafte Versprachli­ chung dessen, was uns nur abgeschattet zugänglich ist, sich abfärbend auf das, was unter dem ‚alltäglichen‘ Sinndruck hervorgebracht wird. Zwar wird der Gesamtsinn zumeist negativ umschrieben – man denke an die negative Theologie –, dennoch sind an ihn bildhafte Vorstellungen geknüpft, mit welchen das endliche, unvollkommene Subjekt von seiner standortabhängigen Perspektive aus das Unend­ liche und Vollkommene in den Blick zu nehmen versucht, mehr oder weniger deutliche Vorstellungen, die den Hintergrund bilden für den Sinndruck. In ähnlicher Weise ist das Wahrnehmen perspektivisch: den Schatten, den das ‚abgeschattete‘ Wahrnehmungsobjekt (Husserl) wirft, ‚ergänzen‘ wir mit dem ganzen Ding, das den Schatten wirft, mittels der Einbildungskraft oder Phantasie (Palagyi). Das lediglich in eingeschränkter Perspektive zu habende Etwas, der Schattenwurf des Dings selbst, verkörpert trotz oder wegen der Aspekthaftigkeit seiner Erscheinung das ganze Ding, und im Wahrnehmen entkörpern wir den Teilaspekt, das erscheinende Bild, um uns das ganze Ding zu vergegenwärtigen. Es scheint eine der wesentlichen Funktionen der Einbildungskraft, dieses so schwer in seiner Arbeitsweise zu durchschauenden Vermögens, zu sein, mit den Verkörperungen und Entkörperungen in einer Weise umzugehen, dass Sinngebung und Sinnverstehen möglich werden, und zwar gerade auf der Grundlage von Aspektivität des Erscheinens bzw. Meinens und Perspektivität des Wahrnehmens bzw. Verstehens. Auch in einer anderen Hinsicht lässt sich der Doppelprozess von Verkörpern und Entkörpern in der sprachlichen Metaphorik ausmachen. Im alltäglichen Sprechen verwendete verblasste und gar nicht mehr als solche bewusste Metaphern (Jean Paul nennt sie ‚vergilbt‘) sind in ihrer ‚eigentlichen‘ Bedeutung von der ‚ursprüngli­ chen‘ Anschauung entleert, d.h. entkörpert, und zugleich von einer neuen Bedeutung erfüllt, sie verkörpern auf dem Humus der alten Bedeutung eine neue.

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15. Die Lebendigkeit von Laut und Klang

Es liegt im sprachlich artikulierten Meinen selbst beschlossen, dass ausdruckshaft verkörpert und wieder entkörpert werden muss und sich Bedeutungen von Wörtern dergestalt wandeln, dass sie in immer neue Worte gefasst, in andere semantische Umgebungen gestellt oder auch beschwiegen und im Schweigen angezeigt werden müssen, um ihre durch ständigen Gebrauch gewobene Verhüllung wieder wegzuziehen und ihren Sinn auf neue Weise zu entbergen. Den Sinn- und Verständnishorizont in dieser Weise stets neu ‚bestim­ men‘ zu müssen, wenngleich bloß mit unfertigen, vorläufigen Stri­ chen andeuten zu können, ist eine Folge des Sinndrucks, der vom Gesamtsinn ausgeht. Dieser lässt sich dem Zwang zur direkten, mate­ rial gebundenen Artikulation nicht aussetzen, sondern drängt gera­ dezu zur Loslösung vom Stofflich-Anschaulichen, das immer aspekt­ haft ist. Das macht den metaphorischen Sprachgebrauch erforderlich: in ihm werden Bilder genutzt, die die Einbildungskraft anregen, ohne ihr mit dem verwendeten Bildmaterial den Blick zu verstellen: der Aspekt des Bildes soll, der Idee nach, das Sinnganze verkörpern, und zwar so, dass der Aspekt sich als solcher dazu anbietet, entkörpert zu werden, um das Blickfeld zu öffnen und zu weiten. Und so gibt es auch Bilder für den Gesamtsinn, die je unterschiedliche Aspekte seiner übergestalthaften Ganzheit aus der Perspektive des Menschen in eine unvollkommene ‚Gestalt‘ zu bringen versuchen. Es sind die Bilder der Mythen und Religionen, der Träume und der Phantasie; sie sind, neben anderen, der ‚Stoff‘ der Poesie.

15. Die Lebendigkeit von Laut und Klang Ausgangspunkt der vorliegenden Betrachtungen war der Zusammen­ hang zwischen der spezifisch menschlichen Lebendigkeit, die offen­ sichtlich eine expressive und geistig durchdrungene ist, und der sprachlichen Artikulation als Potenzierung der Expressivität. Es ist bislang deutlich geworden, dass der Gesamtsinn das Ganze ist, das abgeschattet in der Artikulation eines Gefüges von Sinneinheiten und Einzelbedeutungen erscheint und auf diese Artikulation jenen Druck ausübt, der zum einen auf jeder Rede lastet, zum anderen die Poesie als Inbegriff der Verfeinerung und Vertiefung des Ausdrucks von Sinn und Bedeutung ermöglicht, letztlich mit dem Ziel, das unartikulierbare Ganze doch ‚irgendwie‘ zu erfassen.

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15. Die Lebendigkeit von Laut und Klang

Folgende Fragen drängen sich auf: Was bedeuten die oben (Nr. 13) beschriebenen Vorgänge – des ‚Hinzufügens‘ und ‚Abstrei­ chens‘, des Hervortretens und Abdeckens sowie der ‚gedachten Bezie­ hung‘ im ‚Bedeutungsgefüge‘ von Metaphern, allgemeiner: des Ver­ körperns und Entkörperns – für das lebendige Wirken des Geistes? Worauf zielen sie? Welcher Art ist der Sinnhorizont (der Gesamtsinn), der sich damit aufspannt, öffnet und zugleich begrenzt? Methodisch ist es angezeigt, einige Schritte zurückzugehen und sich jenes Element näher anzusehen, in dem sich alle anderen Momente zusammenschließen, den Laut. Denn die Lebendigkeit, Beweglichkeit und Plastizität, die dem hier in Ansätzen erläuterten Schaffensprozess der sprachlichen Arti­ kulation von Bedeutung und Sinn unter letzthinniger Leitung des Gesamtsinns bzw. der mehr oder weniger bewussten, zumeist jedoch völlig unbewusst bleibenden Orientierung an ihm, eigen ist, kommt vornehmlich vom Laut als dem basalen Sprachelement und insbe­ sondere dem Klang, seinen Variationen, dem Klangbild und den Klanggesichtern der Wörter (man denke an den akzentsetzenden Unterschied etwa zwischen übersétzen und übersetzen, dúrchbrechen und durchbréchen) sowie dem Klang der Stimme und den Klangfarben der Sprecher. Laut und Klang sind die unabdingbaren Voraussetzun­ gen für die oben erläuterten Prozesse der geistigen Verlebendigung. Sie sind eine Art von Gewährleistung des lebendigen Geistes, auch wenn sie ausbleiben, fehlgehen, ganz fehlen oder beim Sprechen an ein Ende gelangen. Der Laut vereinigt Möglichkeiten in sich, die ihn wie kein ande­ res leibliches Medium dazu disponieren, ein bedeutungsstiftendes Symbolsystem zu fundieren und zugleich der spezifischen Form der menschlichen Lebendigkeit Ausdruck zu verschaffen, da es nur mit ihm gelingt, die Expressivität auf eine höhere Stufe zu führen. Der Leib als sensus communis insgesamt ist es zwar, der sich auf den Gesamtsinn hin ausrichtet und von diesem her seine symbolische Kraft erhält – daraus resultieren die Möglichkeiten von Meditation, Askese, Erotik u.a.m. sowie die Ideen von der Überwindung des Todes, sei es durch Auferstehung im ‚ewigen Leben‘ oder durch das Verlassen des Kreislaufes von Leben und Tod –, jedoch ist es ausschließlich der Sprache gestattet, sich artikulierend Distanz dazu zu verschaffen, um der Relation zwischen Leib und Sinn Ausdruck zu geben und die Expressivität, die der menschlichen Lebensform eignet, in ihrer geistigen Intention explizit zu machen.

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16. Sprecher und Hörer

Es ist eine Fülle von Merkmalen, die Laut und Klang dazu prädestinieren; das sollen die nächsten vier Abschnitte zeigen.

16. Sprecher und Hörer Der Laut umschließt und vereinigt die Sprecher- und Hörerrollen raumhaft und schafft damit eine ‚mediale‘ Sphäre, die aufgrund des klanglich sich manifestierenden affektiven Anteils beim Sprechen immer auch atmosphärisch wirkt. Der Modus der Lautgebung in Akzentuierung, Rhythmus und Takt ist der Prüfstein der Verständ­ lichkeit und des gelingenden Verstehbarmachens. Der Sprecher hört sich zugleich, wie er spricht, es klingt für ihn jedoch anders als für den Hörer, denn jener hat auf die Artikulationsweise zu achten, die ja eine geistige Bedeutung zu verkörpern hat; gleichzeitig darf er beim Hören seiner eigenen Laute nicht vernachlässigen, ob diese in der Weise abbaubar sind, dass das Gemeinte verstanden werden kann. Dem Hörer muss es möglich gemacht werden, die Lautfolge ihrer Stofflichkeit entkleiden, diese so entkörpern zu können, dass die Bedeutung hervortritt. Das gelingt nicht, wenn sich das Lautmaterial in den Vordergrund drängt oder die Wortsequenz bloß mechanisch aneinandergereiht ist, ohne vom Sprecher wirklich verstanden und das heißt auch, von ihm, zugleich mit dem Vorgang des sprachlichen Verkörperns, entkörpert worden zu sein. Kann sich der Sprecher nicht zugleich in die Rolle des Hörers hineindenken und -fühlen, dann misslingt dieser hochkomplexe Vorgang der sprachlichen Artikulation mit seiner Orientierung an Verständigung über eine Sache. Der Hörer folgt dem Sprecher, so aber, dass er jederzeit die Sprecherrolle übernehmen kann; er muss also im Akt des stetigen Entkörperns zur Freilegung der Bedeutung einsatzbereit sein für den Akt des Verkörperns, so dass auch in ihm die Bedeutungen, welche er gerade ‚entstofflicht‘ hat, mit neuem Material an Lauten und Worten versehen werden. Der Sprecher prüft an der Reaktion und Aktion des Hörers, an der Resonanz, die Verständlichkeit des Gesagten und sagt es idealiter deshalb so, als ob er selbst dieser Hörer wäre. In der Regel ist es seine Absicht, nicht zu nuscheln, keine Silben zu verschlucken, obwohl es ihm vielleicht nicht schnell genug gehen kann, sondern zu sprechen, als ob er es sich selbst verständlich machen müsste, was ja meistens der Fall ist. Der Hörer ergänzt bei Bedarf das akustisch eventuell

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18. Einheit von Klang und Bedeutung

nur halbwegs Vernommene mit Lauten, Silben und Wörtern, die ihm geeignet scheinen, den gemeinten Sinn darzustellen. In dieser Weise konstituiert sich die geistige Sphäre der Mitwelt mit den Personen als ihren Gliedern in ihrer explizit-sprachlichen Form, ineins mit der Welt der Gegenstände und Sachverhalte, d.h. der Wirklichkeit, um die es der geistigen Intention geht. Mitweltliche Geltung kann auf Dauer nicht erlangen, was sich als unwirklich (‚bloß‘ ausgedacht oder zusammengesponnen) oder unwahr (‚erfun­ den‘, geschwindelt oder erlogen) herausstellt.

17. Reziprozität und Gegenständlichkeit Selbst die Laute in der Tierwelt sind auf Resonanz angelegt; das Revier soll respektiert, ein Partner soll angelockt, ein Feind vertrieben, andere sollen gewarnt werden. In der Menschenwelt dagegen wird außerdem eine Sache angesprochen, auf die sich die erwartete Resonanz richten soll, und das Verlautete, das in Wörter Gefasste, wird seinerseits zum Gegenstand, auf den man sich bezieht bzw. je nach Bedarf beziehen kann; das gilt selbst für ausschließlich affektiv gebrauchte Laute wie Rufe des Erstaunens oder des Schmerzes. Die der sprachlichen Artikulation inhärente, intendierte und die Interaktion fundierende Reziprozität ist nicht bloß affektiv – ein höfliches Ansprechen löst in der Regel eine ebenso geartete Antwort aus, kann aber auch, negativreziprok, zum Gegenteil führen –, sondern gegenständlich orientiert: eine gemeinsame und deshalb kritisch überprüfbare Bedeutung wird erzeugt, es wird an einem interpersonalen Sinn ‚gearbeitet‘, und die lautlich-sprachliche Sphäre ist aus diesem Grund eine sinngeladene Atmosphäre mit einem je verschieden gestimmten, affektiven Index, der auch den sachlichen Gehalt färbt, oder umgekehrt: dieser gibt dem Ausdruck seine sachliche Tönung. Vor diesem Hintergrund können auch Widersinn oder Unsinn hervorgebracht werden, welche allerdings immer bloß in Relation zu einem intendierten Sinn als solche eingeschätzt werden können. Das Gleiche gilt für sinnloses Sprechen und Reden.

18. Einheit von Klang und Bedeutung Laut bzw. Klang und Bedeutung bzw. Sinn bilden in der menschlichen Sprache, genauer: beim Sprechen und Reden, eine merkwürdige,

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18. Einheit von Klang und Bedeutung

auf Gegenstände und Sachverhalte bezogene, Wirkliches und Wah­ res intendierende Einheit, die zu mancherlei Reflexionen angeregt hat, nicht nur bei Kleist in seinem Brief eines Dichters an einen anderen, sondern überhaupt in literaturwissenschaftlichen, sprach­ wissenschaftlichen und philosophischen Betrachtungen zur Poesie und Poetik. Geläufig ist inzwischen die Kennzeichnung des Sprach­ lauts als verkörperter Sinn. In der Lyrik kommt die synthetische Einheit von Klang und Bedeutung am ‚sinnfälligsten‘ und deutlichsten zum Vorschein. Sie kann nur nachträglich zu analytischen Zwecken gelöst werden, was dann allerdings an einem echten Verständnis des jeweiligen von einer solchen Einheit geprägten Gedichts vorbeizielt. Aber nicht nur im Bereich der Lyrik oder auch des Epischen – man denke an Homer und andere, auch wegen ihres Ursprungs in der mündlichen Überlieferung, in parataktischen Hexametern verfassten Epen oder an Hölderlins Hyperion – und zumal in der dramatischen Gestaltung eines ‚Stoffs‘ ist das Sinnganze eng an den Klang, an Takt und Rhyth­ mus geknüpft und ein tiefergehendes Verstehen von diesen abhängig, sondern auch in der Alltagsrede und selbst in der auf den sachlichen Gehalt ausgerichteten Rede, ob in politischer, wissenschaftlicher oder anderweitiger Hinsicht. Man kann z.B. eine schriftlich verfasste Abhandlung nicht ohne Verlust an Verständlichkeit als Vortrag ver­ wenden. Dabei hat der Klang eine zentrale Stellung nicht lediglich in perlokutionärer Absicht – wenn es um die tatsächliche Wirkung auf den Zuhörer, um Überzeugung und Überredung geht –, sondern auch im lokutionären Akt, beim Sprechen von etwas und darüber etwas Sagen, sowie im illokutionären Akt, der das konkrete Meinen zum Ausdruck bringt. Denn weder der sachliche Gehalt noch die Intention werden deutlich, wenn jemand völlig monoton spricht, Phrasen von sich gibt oder mechanisch von einem Manuskript abliest. Und gerade hier lässt sich erkennen, wie diese Akte nicht nacheinander oder nebeneinander herlaufen, sondern zusammen ineins an die Lautge­ bung, insbesondere an Klang und Akzentuierung, gebunden sind. Es ist ein Akt des Redens, Sprechens oder Sagens, der mittels Klang und Rhythmus (wozu Pausen und Schweigen zu zählen sind) Sinn gibt, diesen in einzelne Bedeutungen gliedert und verständlich machen kann. (Im Chinesischen erfüllt, Granet zufolge, der Rhythmus über­ dies die gleichen Funktionen wie die Syntax mit ihren Möglichkeiten der Umstellung, genaueren Kennzeichnung und Betonung.)

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19. Wissenschaftliche Sprache

Wie jede synthetische Einheit bilden Klang und Bedeutung eine Einheit von selbständigen Größen, die gar in Widerspruch zueinander stehen, da doch der Klang etwas Materielles ist, Bedeutung etwas Geistiges, und doch ist der Klang geistig wirksam und die Bedeutung an den ‚Stoff‘ der (phänomenologisch erschließbaren) Anschauung gebunden, in der sie sich ‚erfüllt‘. Beide Momente der synthetischen Einheit ergänzen einander gerade wegen ihrer Widersprüchlichkeit. Der Klang wird zwar, mal wohlgefällig, mal unangenehm berührend, vernommen, die Bedeu­ tung kann jedoch allererst durch das Abziehen der Aufmerksamkeit auf den Klang aufgefasst werden – so aber, dass dieser nicht völlig außer Betracht kommt, da er doch als Melodie des Sprechens die Bedeutung trägt gleich einer Säule, ohne deren Tragfähigkeit das ganze Gebäude einstürzt; so etwa die ironische ‚Melodie‘, die den verwendeten Wörtern und Sätzen einen geradezu gegensätzlichen Sinn verleiht.

19. Wissenschaftliche Sprache Die wissenschaftliche Sprache ist wohl das prägnanteste Beispiel dafür, wie man den Klang, das ‚bloß‘ Affektiv-Pathetische, jedoch auch Gestaltbare, weitestgehend zu neutralisieren sucht, um die ‚reine‘ Bedeutung zu erhalten. Sie versucht dies durch den Entzug der Mehr­ deutigkeit im Wort und der eindeutigen Abgrenzung, d.h. Definition im Begriff, zu erreichen. Das geht bis hin zur Forderung nach einer for­ malen Sprache, die von jeder Zweideutigkeit und affektiven Beigabe gereinigt ist. Im Gegensatz dazu ist die Lyrik exemplarisch dafür, wie der Klang (im Verein mit Takt und Rhythmus) die Bedeutung nicht in ‚Termini‘ fasst, sondern ein gemeintes Sinnganzes impliziert und verkörpert, um von daher den Wörtern ihre Bedeutung zu geben, die auf das Sinnganze und weitergehend auf den – das mögliche Meinen überhaupt bedingenden – Gesamtsinn ausgerichtet ist, und diesem damit eine gewisse Präsenz zu verschaffen. Die Sprache der Wissenschaft ist nicht darauf aus, Sinn zu prä­ sentieren, sondern im zugleich analytischen und synthetischen Urteil Zusammenhänge zwischen Größen aufzuweisen. Das mag als Sinn­ zusammenhang beansprucht werden, ist aber eher eine Konzeption von Bedeutungsrelationen, der es gar nicht um den ‚Sinn des Ganzen‘ geht, sondern um die zutreffende Erklärung kausaler Folgen und

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19. Wissenschaftliche Sprache

Wechselwirkungen zwischen analytisch erschlossenen Elementen. Das Urteilen ist ja ein Akt des Zerteilens und Zusammensetzens im Feststellen, Behaupten, Aussagen. Das wissenschaftliche Urteil benötigt dazu die Einheit des Gegenstandes und den systematischen Zusammenhang, in den die Begriffe und Gegenstände ‚terminolo­ gisch‘ gestellt werden können. Für eine solche Kohärenz und Konsis­ tenz der Bedeutungen von Wörtern und Wortverknüpfungen im Satz, die zu Begriffen geronnen sind, ist es jedoch wiederum von nicht geringer Wichtigkeit, mit dem Sprechrhythmus der zu vermittelnden Sache gerecht zu werden oder beim Schreiben auf die Verständlichkeit von Wortwahl und Syntax sowie auf sachgerechte Kola zu achten, um der ‚abstrakten‘ Kohärenz nicht den letzten Rest von rhythmisch induzierter Anschaulichkeit zu nehmen, sondern die Bedeutungen und Konzepte nachvollziehbar zu machen. Das ist zumindest ein Indiz dafür, dass sich auch die Wissenschaft unter dem Zwang, ausdrücklich zu werden, nicht ohne eine, dem flüchtigen Blick verborgene oder lediglich als Seitenblick zugelassene, Hinwendung zu einem Sinngan­ zen und, nimmt man Wissenschaftlichkeit und Erkenntnis überhaupt, zum Gesamtsinn artikulieren kann. Ein Beleg für diese Verbindung von äußerer Form und Inhalt, von Materialisierung und Sinngehalt ist der Vortragsstil. Dient ein schriftlich verfasster wissenschaftlicher Text als Vorlage, die lediglich heruntergelesen wird, kann der Zuhörer dem Gesagten nicht folgen. Klang und Rhythmus bieten keinen Halt für das verstehende Hören. Und umgekehrt: Bietet der Text in der Sukzession der Wörter, Satz­ teile und Satzfolgen keine Abwechslung in der parataktischen und hypotaktischen Gestalt, keine Zäsuren durch sinngemäße Interpunk­ tion und abschnittsweise Gliederung, und fehlt es an einer geschickten anaphorischen Verwendung von Demonstrativa und anderen Wör­ tern oder Wortgruppen, die vor- und zurückverweisen, dann verliert der Leser die Übersicht, ohne die kein Sinnverstehen möglich ist. Außerdem ist dieses Defizit an ‚Stil‘, an bewusster Gestaltung des sprachlichen Korpus, ein Indiz für eine mangelhafte Durchdringung der Thematik, sowohl des Sachgehalts, der in das Meinen und die Bedeutung der Wörter eingeht, als auch des thematischen Sinns, der in Klang und Rhythmus seinen Ausdruck findet – in der Musik in ‚reinster‘ Form durch die tonale Artikulation, ohne das Beiwerk von Sachbedeutungen, in der Sprache im Zusammenspiel mit der Gegenständlichkeit des Ausdrucks im Rahmen der Artikulation von Wörtern, Sätzen und Satzgefügen; wie sich herausgestellt hat, ist der

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20. Sprache lässt sehen

Ausdruck ja nicht nur ein solcher der Person, so dass man ihn als bloß subjektives Moment abtun könnte, sondern immer auch Ausdruck der Sache, um die es geht. Dieses objektive Moment mag unter pathologischen Bedingungen verschüttet werden oder verlorengehen, aber das fällt auf und fordert bestimmte Reaktionen heraus, z.B. therapeutischer Art. Syntagmatische Sinngebung in der syntaktischrhythmischen Gliederung und thematisches Sinnverstehen korrelie­ ren miteinander. Überdies gilt das auch für das schematische Erklären und entsprechende Begreifen in der Wissenschaft.

20. Sprache lässt sehen Sowohl die Subjektivität der Lyrik als auch die Objektivität der Wissenschaft unterliegen – wie alle Sprech-, Rede- und Schreibwei­ sen, die sich explizit machen, um Resonanz auslösen und in einen Dialog eintreten zu können, sei es das ‚Zwiegespräch‘ zwischen Autor und Leser oder die szientifische Debatte – den Bedingungen der mitweltlich-geistigen Sphäre, in der die Sprecher- bzw. Dichter- oder Wissenschaftlerrolle immer zugleich die Hörer- bzw. Leser- oder Rezipientenrolle einbezieht. Das sich artikulierende Ich ist immer auch das angesprochene Du; reales Ich und reales Du verkörpern geradezu den Geist, der sich ausschließlich in ihnen und in dem, was sie hervorbringen, in der energeia des schöpferischen Tätigseins und im ergon des Produktes, verlebendigen und manifestieren kann. Aus diesem Grund kann der Geist mit der Wir-Sphäre gleichgesetzt werden, wie das z.B. in Plessners philosophischer Anthropologie der Fall ist. Wirklichkeit ist geradezu Verkörperung, das zur Erschei­ nung Gebrachte oder das in den Erscheinungen noch Verborgene, das verkörpert werden kann bzw. könnte; und so arbeitet der Geist an dem, was Wirklichkeit ist und werden soll. Das ist der Grund dafür, dass Sprache sehen lässt, sofern sie gestaltet wird, und die Poesie ist jene von Hast und Nachlässigkeit dekontaminierte Form, die den Ausdruckscharakter der Sprache am reinsten bewahrt; sie ist weder nachlässig wie die Alltagssprache noch blutarm wie die Wissenschaftssprache. Folgt daraus, dass sie keinen Gegenstand hat, dass ihre Worte nicht gegenständlich gemeint sind? Wie verhält sich die Poesie zu Darstellung und Begriff als den gegenständ­ lichen Funktionen der Sprache? Wie kann ein Sinnganzes und gar der Gesamtsinn zum Gegenstand werden, wenn doch jede Versprachlichung

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21. Die Funktion des Klanggesichts

sukzessiv-gliedernd, d.h. diskursiv, vorgehen muss, selbst diejenige, die die Sache selbst ‚unmittelbar‘ evozieren möchte?

21. Die Funktion des Klanggesichts Cassirer hat eine Stufenfolge der Sprachentwicklung beschrieben, zu der es gehört, dass frühere Stufen in den späteren ‚aufgehoben‘ sind. Dabei unterscheidet er die Entwicklung des Ausdrucks und den Aufbau der symbolischen Funktionen. In beiden prozesshaften Linien geht es nun darum, dass die Rela­ tion zwischen dem Sinnlichen und der Sinngebung sich gleichsam steigert, und zwar in der sprachlichen Artikulation dahingehend, dass der Laut zunächst noch ‚am Körper klebt‘ und dessen Dasein mimisch mitvollzieht, z.B. in der Onomatopoesie, um sich dann in einem zweiten Schritt dem ‚Material‘ zwar gegenüberzustellen, aber es ana­ logisch widerzuspiegeln, so in der pluralbildenden Reduplikation von Silben, und schließlich, drittens, sich vom Sinnlich-Gegenständlichen zu befreien: der Laut wird symbolisch verwendet, etwa als sprachliche Formel oder mathematisches Zeichen mit einer ‚reinen‘, von sinnlicher Konkretion unabhängigen Bedeutung. Entsprechend kennt Cassirer drei symbolische Funktionen, d.h. hier Leistungen der sprachlichen Lautgebung: der aus dem Erleben quillende und dieses direkt wiedergebende Ausdruck, wie man ihn u.a. in urtümlichen Dialekten kennt; die spezifisch der Sprache zukom­ mende Leistung der Darstellung eines Geschehens, Sachverhalts etc.; die reine Bedeutung etwa von Relationen, die in Zahlwörter eingehen, oder von wissenschaftlichen Begriffen, d.h. präzis definierten sprach­ lichen Symbolen. Nun besitzen aber alle Wörter ein Klanggesicht oder Klangbild (Bühler). Es dient dem Wiedererkennen, wirkt aber auch in anderer, häufig genug überraschender Weise. Denn nicht nur der mimische Ausdruck, sondern auch der analogische und selbst noch der symbo­ lische fungieren irgendwie physiognomisch, als ob ihre expressive Kraft mit dem anzuzeigenden, zu bezeichnenden, darzustellenden oder zu symbolisierenden Gegenstand verbunden wäre. In Magie und Mythos leuchtet das unmittelbar ein: das Wort hat für den Gegen­ stand einzutreten; die Verwendung des Wortes soll im magischen Zauber kausale Folgen auslösen, als ob der Gegenstand bewegt oder eine Kraft auf ihn ausgeübt worden wäre, und diese kann leibliche

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22. Wortmagie

Auswirkungen haben, indem sie Zustände hervorruft und ausdrückt, leibliche Zustände, die man gerne auch als solche des Gemüts bezeich­ net. Viele sehen darin die ‚Funktion‘ bzw. das eigentliche Wesen der Poesie, insbesondere der Lyrik, so etwa Hugo von Hofmannsthal in seinem Gespräch über Gedichte.

22. Wortmagie Mag sein, dass das Magische in seiner lebensgestaltenden Grund­ funktion der Vergangenheit angehört; aber selbst in neuerer und neuester Zeit ist von Wortmagie auch abseits der Poesie manches zu spüren, und sei es in selbstironischer Distanz. Eigennamen etwa gesteht man dies zu. Man traut sich nicht, den Namen eines Wider­ sachers auszusprechen, man befürchtet, den Teufel herbeizurufen, sobald man ihn nennt, oder man stellt sich unversehens jemanden konkret vor, dessen Namen man hört: eine Erna sieht wohl anders aus als eine Susi, ein Ottokar anders als ein Wendelin. Namen lösen gar, je nachdem, was man mit ihnen verbindet, bestimmte Zustände aus und rufen Erinnerungen hervor. Traumatisierte Menschen können ein garstig‘ Lied davon singen. Für sie kann das Vergangene, das sie eigentlich der Vergessenheit anheim geben möchten, zur realen Gegenwart werden. In Ritualen, insbesondere religiösen, hat die Lautgebung zum einen darstellenden Charakter, zum anderen vergegenwärtigt sie wiederholend oder nachahmend Personen, Götter, Ereignisse, Taten bzw. macht das ‚Einst‘, ‚illud tempus‘, zum immerwährenden oder immer wieder erneuerten ‚Jetzt‘, das so sein solle wie es ehedem, in illo tempore, war: gut und heilsam oder stark und mächtig. Liturgie, Formeln, Gesang rufen herbei, zumindest eine sakrale Stimmung, eine numinose Atmosphäre, und sie rufen hervor, was als heilig gilt. Überhaupt kommt es auch im darstellenden Ausdruck nicht bloß in religiöser Hinsicht darauf an, dass die Darstellung mit ihrer Form vom Inhalt überzeugt. Selbst das Gerichtswesen ist darauf angewiesen, neben dem rein sachlichen Gehalt von Aussagen den Modus der Rede wahrzunehmen, in dem die Sache vorgetragen wird, um sich ein Urteil bilden zu können über die Glaubwürdigkeit des Sprechers und die Wahrheit des Gesagten. Die Rhetorik ist kein Beiwerk, sondern transportiert mit ihrer syntagmatischen Struktur und Klanggestalt sachliche Bedeutung und Sinn. Sprechen ist Handeln und löst, hier der

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23. Das Lyrische, Epische, Dramatische

magischen Kausalität verwandt, Handlungen aus. Aus diesem Grund ist die Rhetorik zu einer kanonischen und historisch immer wieder neu behandelten Lehre ausgebaut worden, deren Verhältnis zur Sach­ angemessenheit und Wahrheit stets neu kritisch diskutiert wird. Ähnliches gilt für den symbolischen Ausdruck in der wissen­ schaftlich-rationalen Sprache. Seine ‚reine‘ Bedeutung kann sich nur erschließen, wenn mit den Termini, Formeln, Zeichen eine Sprechoder Schreibweise verbunden wird, die über das symbolische Bedeu­ ten hinaus einer unterschwellig wirksamen physiognomischen Funk­ tion gerecht werden kann, sei es mimisch oder analogisch. Das Sprachsymbol, so sehr es sich von Stoff und Anschauung löst und davon abhebt, übernimmt deren Aufgabe, Bilder und Vorstellungen hervorzurufen, mit denen ein Sinn verknüpft werden kann, wie er in jeder Arbeit mit und an den Sinnen schlummert und erweckt werden will. Das heißt: das sprachliche Symbol mit sogenannter ‚reiner Bedeutung‘ vertritt die sinnliche Anschauung und die angeschaute Sache selbst. Es hebt sich von dieser und zumal vom konkreten Körper ab – je formaler die Wissenschaft, desto mehr –, aber es lässt das, was die Sinne zu leisten haben, in sich eingehen, und zwar so, dass die Einbildungskraft die Gelegenheit bekommt, das symbolisch Artikulierte zu versinnlichen – in einer Anschauung, in der sich dessen Bedeutung erfüllen kann. Man denke etwa an die Mathematik, in der man stets versucht oder sich gezwungen sieht, das formelhaft Erzeugte mit gewissen Vorstellungen zu verbinden. In der Poetik ist die Verbindung zwischen den internen Bezie­ hungen des Sprachfelds, dem in der sprachlichen Artikulation mitge­ gebenen ‚überschießenden Plus‘ und dem Gegenstandsbezug immer wieder thematisiert worden. Die Frage wurde gestellt, welche Rolle die sprachlichen Symbole spielen, und welche Stellung die symbolischchiffrenhafte Sprache der Poesie hat in bezug auf einen möglichen sachlichen Gehalt, den antizipierten Sinn des jeweiligen poetischen Korpus sowie den Gesamtsinn, der mit seinem Sinndruck auf der dichterischen wie überhaupt jeglicher sprachlichen Tätigkeit lastet.

23. Das Lyrische, Epische, Dramatische Emil Staiger parallelisiert in seinen Grundbegriffen der Poetik Cassirers drei Stadien des Ausdrucks mit den poetischen Sparten der Lyrik, des Epos und des Dramas bzw., wie er zu unterscheiden betont, dem Lyri­

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24. Deutung der poetischen Sprache

schen, Epischen und Dramatischen, denn jede poetische Form kann, je anders, an den drei adjektivisch ausgedrückten Wesensmerkmalen von Sprachkunstwerken teilhaben. Diese Entsprechung wirkt etwas konstruiert, zumal er dann noch Heidegger hinzuzieht und die drei Ekstasen der Zeit in eine zusätzliche Parallele bringt. Dennoch: sie kann zu einer weiteren Erhellung beitragen. Denn die drei poetischen Formen stehen ja selten rein da, sondern durchdringen sich und verweisen aufeinander, wie Staiger selbst herausarbeitet, genauso wie in Cassirers Stadien die logisch (und historisch) vorausgehende in die folgende eingeht und darin ‚aufgehoben‘ bleibt. Das zeigt, wie das Sinnganze eines poetischen Korpus das Affektive, Darstellende und Symbolisch-Bedeutende benötigt, um artikuliert zu werden; das muss auch für den Gesamtsinn zutreffen, sofern er explizit in die Artikulation in irgendeiner Weise mit aufgenommen wird oder implizit der Artikulation die Richtung weist. Wie das Lyrische, Epische und Dramatische sind das Mimische, Analogische und Symbolische ineinander verzahnt. Das affektive, wiedergebende und rein diskursive Sprechen, das ausdrucksmäßige, darstellende und rein-bedeutende Artikulieren wirken in- und auf­ einander. Was folgt daraus für das Erfassen und ‚Aussprechen‘ des Gesamtsinns, was für dessen ‚Sichzeigen‘ bzw. ‚Sichverbergen‘?

24. Deutung der poetischen Sprache Hugo von Hofmannsthal hat in seinem Gespräch über Gedichte eine Deutung der poetischen Sprache versucht. Er versichert, es sei gerade die Poesie, die ‚die Sache selbst setzt‘. Sie setze nicht wie Alltagsoder Wissenschaftssprache etwas für etwas anderes, ein sprachliches Zeichen für eine Sache, so dass sie um diese herum redet (philoso­ phisch gesprochen eine cognitio circa rem), sondern sie nähre sich von dem ‚Mark der Dinge‘ (cognitio rei). In der Fortsetzung des fiktiven Gesprächs darüber, ob benannte Dinge wie z. B. ‚Schwäne‘ in einem Gedicht Symbole seien, im Beispielgedicht Sie sehn sich nicht wieder von Friedrich Hebbel Symbole für Lebenslust und Tod, also Vergänglichkeit, heißt es dann, sie bedeuteten nichts als sich selber. Das Wort ‚Symbol‘ aber sei abgenutzt, man müsse von ‚Chif­ fern‘ sprechen, ‚mit denen Gott unaussprechliche Dinge in die Welt geschrieben‘ habe; der Dichter verwebe ‚diese göttlichen Chiffern‘ – die Tiere seien die ‚eigentlichen Hieroglyphen‘ – ‚in seine Schrift‘, die

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24. Deutung der poetischen Sprache

Sprache aber sei ohnmächtig, sie aufzulösen, d.h. ihre Bedeutung zu klären. Die Verwendung der Naturdinge als Chiffren in der poetischen Sprache aber sei möglich, weil die Natur ‚der Inbegriff der Symbole‘ sei (Hofmannsthal benutzt das verschmähte Wort dann doch), ‚die uns bezwingen‘; denn die Natur und unser Leib seien eins (wörtlich: „Sie ist, was unser Leib ist, und unser Leib ist, was sie ist“). In diesem Ineinander, einer Verschränkung von Leibselbst und Natur bzw. Welt (man denke an Merleau-Pontys Wort vom Leib als Symbol der Welt), liege die Quelle der magischen Kraft der Worte: sie rührten unseren Leib, und sie verwandelten uns ‚unaufhörlich‘. Man denkt bei dieser magischen Kraft an die Religion, und so kann Hofmannsthal einen Vergleich zum Tieropfer ziehen; statt sich selbst oder den Erstgeborenen bringe der Mensch das Tier zum Opfer, identifiziere sich mit ihm und setze es an seine Stelle. Wir lösten uns auf in solchen Symbolen; das gelinge, weil ‚wir und die Welt nichts Verschiedenes‘ seien. So seien wir, unser Selbst, unser Inneres, mit dem, was außer uns ist, einer Landschaft, den Steinen, dem Wasser, ‚verflochten‘. Unsere Stimmung sei zugleich die der Landschaft, ihre Atmosphäre, und die Kunst, speziell die Poesie, bringe dies zum Ausdruck, d.h. sie drücke einen Gemütszustand aus. Die ‚Landschaften der Seele‘ (des Gemüts) und die Landschaften außer uns (die der Natur und des Himmels), je beide unermesslich in Raum und Zeit, stehen in einem innigen Verhältnis zueinander, sie sind aufeinander hingeordnet, und was das ‚vollkommene‘ Gedicht, von denen es wenige gebe, obwohl die Möglichkeiten dafür unendlich viele seien, in Worte fasst, ist das, was diesen Landschaften ihr Aussehen im Auf und Ab, ihre Höhen, Ebenen und Niederungen, ihre Färbung und Tönung verleiht: Werden, Vergehen, Leben, Tod, Vergänglichkeit. Damit ist der thematische Sinn des Dichtens angesprochen, von dem her die in Worte und Wortfolgen, Verse, Strophen, Dialoge, in epische und erzählende Texte eingehenden Bilder, Symbole, Allegorien, Chiffren ihre je realisierte Bedeutung erhalten, um das Sinnganze der poetischen Form in eine sprachliche Gestalt gießen zu können. Bedeutung und Sinn werden zum Klingen gebracht, der thematisch-inhaltliche Sinn wird für jenes Sinnesorgan, das Gehör, zubereitet, das ihm formal entspricht: mit seiner die Zeit rhythmisch-gliedernden, voluminösraumhaften, atmosphärisch-dichten, tonal-diakritischen, klanglich unendlich variablen und expressiv-dialogischen Struktur.

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25. Evozierende Rede ergreift Übergegenständliches

25. Evozierende Rede ergreift Übergegenständliches Hofmannsthal beschreibt hier den dualen Modus der Verkörperung, der ästhesiologisch im sensus communis, dem gesamten Leib mit seiner Selbst- und Weltbeziehung, wurzelt, den optisch-schemati­ schen und den akustisch-thematischen Modus überwölbt, sich als syntagmatischer, gliedernd-artikulierender Modus ins Werk setzt und in Sprache eingeht. Diesem Modus wird von Grund auf alles zum ausdrucksvollen Leib, so auch die Welt zum Weltleib, und alles in ihr strahlt leiblich aus. Im dualen Modus ist das Ich zugleich das Du und umgekehrt, und – ob Rede, Monolog, Gespräch oder Text – er hat sich gliedernd zu inszenieren: er muss sukzessiv und diskursiv, Schritt für Schritt, Wort auf Wort folgend, vorgehen. Jedoch kann er sich, wie Misch im Anschluss an Dilthey gezeigt hat, rein diskursiv, insbeson­ dere in der Wissenschaft, oder evozierend äußern; Misch selbst bringt hier Beispiele aus der Lyrik. Das ‚Worten der Welt‘ (Weisgerber) kann gegenständlich-erkenntnismäßig und schlussfolgernd ins Werk gesetzt werden, d.h. theoretisierend bis hin zur Logik, oder es ergreift das Gemeinte ‚übergegenständlich‘; damit ist gemeint, dass erst durch das in rechter, treffender und erhellender Weise gesprochene Wort die Sache selbst ‚zum Erzittern‘ komme und ‚vernehmlich‘ werde, das enthüllend, was in der theoretischen Einstellung gar nicht in den Blick kommt, weil es unergründlich ist wie das Leben selbst, deshalb nicht in eine Aussage überführt werden kann, aber in eine Form des Sprechens, die dieses Unaussagbare aus dem Dunkel ans Licht bringt, so dass Misch auch dieses nicht-propositionale Sprechen in der Logik verankern möchte. Der Lichtstrahl, der das Dunkel erhellt, geht dabei von der Luzidität der verwendeten Sprache aus, von den Worten und Wortfolgen, dem Rhythmus und Klang einschließlich der Stille, die dem Abklingen und Verklingen folgt. Evozierende Rede findet sich, außer in der Lyrik, vor allem im Kontext der Religionen (exemplarisch das Om als Sanskrit-Ausdruck für das Unendliche, religionswissenschaftlich der Versuch Rudolf Ottos, das Numinose mitvollziehend zu erfassen) und in der Metaphysik. In beiden geht es nicht um theoretisches Wissen, sondern um ein Wissen, das durch das Innesein im Leben selbst, von diesem ‚fortgezogen werdend‘ (Dilthey) und mit diesem mitgehend, sich ‚realisierend vergegenwärtigt‘, ein Wissen, das nicht durch theoretisierende Vergegenständlichung zu haben ist, sondern seine Gegenstände im Vollzug hervorruft, evoziert, ‚schafft‘ – wie überhaupt für geistige Akte gilt, dass wir sie nur im

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26. Chiffren: Entleerung von gegenständlicher Anschauung

Vollzug ‚haben‘; sie verschwinden, sobald wir sie theoretisch verge­ genständlichen wollen; auch ‚haben‘ wir uns selbst, unser ‚Selbst‘, nur in einem sinnvollen Tun, im Vollziehen von Tätigkeiten, die uns sinnvoll erscheinen, nicht jedoch, wenn wir es gegenständlich zu beschreiben und mit Eigenschaften belegen wollen.

26. Chiffren: Entleerung von gegenständlicher Anschauung Ob Symbol, Chiffre, Hieroglyphe, göttliche Schrift: stets wird mit sol­ chen Bezeichnungen auf ihre Funktion verwiesen, durch ihre Vermitt­ lung unmittelbar das ‚aufscheinen‘ zu lassen, wofür sie stehen, worauf sie zeigen, was durch sie hindurch und von ihnen absehend sichtbar wird. Die Voraussetzung dafür, dass solche ‚Zeichen‘ dieses leisten, ist die Position der Sprecher und Hörer innerhalb und außerhalb dessen, was sprachlich artikuliert werden kann, das Darinnensein in Leben und Welt (Dilthey), innerhalb des unbegrenzten, aber begrenzbaren Horizonts, zugleich jedoch das außerhalb von Leben und Welt Stehen, selbst gegenüber dem, was darüber hinaus geht, jenseits des von dem behausten Dasein aus zu gewärtigenden Horizonts. Dasselbe gilt selbst noch für die Stellung zur Sprache: wir sind in ihr, wie der Fisch im Wasser, und außer ihr, ihr gegenüber und sie mit fremden Augen betrachtend, auch mit ihr kämpfend und uns ihrem Zwang entgegenstemmend. Ohne diese brüchige Position in der Grenzregion von Innen und Außen wäre es nicht möglich, in eine Ebene des Ausdrucks einzutreten, in der verschiedene ineinander verschränkte und auf­ einander aufbauende Verhältnisse zum einen unterschwellig die expressive Lebensform tragen, zum anderen ihrerseits wiederum zum Gegenstand von Ausdrücken werden können: das Verhältnis des je Lebendigen zu seinem Standpunkt und von diesem aus zu allem, worauf es sich beziehen, wozu es sich seinerseits ins Verhältnis setzen, wovon es sich bestimmt sehen und bestimmen lassen sowie was es selbst durch fortlaufende Begrenzungen und beharrliche Versuche der Entgrenzung zu seinem Horizont machen kann, der überdies das Diesseits des Darinnenseins stets in ein Verhältnis bringt zum Jenseits des Außerhalbstehens. Diese verwickelten Knoten werden geknüpft durch die syntagmatischen und paradigmatischen Formen der Sprache, und gelöst, manchmal durchgehauen durch die schöpferi­

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26. Chiffren: Entleerung von gegenständlicher Anschauung

sche Tätigkeit der Sprecher, die bis hin zu den luziden Formen der poe­ tischen Rede reicht, ob sie nun lyrischer, epischer oder dramatischer Art sind oder Raum schaffen und Zeit geben für ein bedeutungsvolles und sinngeladenes Schweigen. Woraus resultiert die Leistung einer vermittelt-unmittelbaren Bedeutung und Sinngebung? Das Wort ‚Chiffre‘ impliziert zum einen die Kondensierung und Verkürzung von etwas, über das man sich eigentlich lang und breit, dennoch in ungenügender Weise, auslassen müsste, auch die Verschlüsselung von etwas, das für uns ein Geheimnis bleibt, weil wir es nicht erkenntnismäßig-propositional ausdrücken können, zum anderen aber auch Entleerung (Chiffre stammt von dem arabischen cifre für null). Es verkörpert eine unaussagbare Bedeutung, indem es ausspricht, was nicht propositional gesagt werden kann, und es entleert das verwendete Wort zugleich von der in propositionaler Rede gemeinten Bedeutung. Es verkörpert also, indem es entkörpert. So kann Hofmannsthal sagen, dass die Worte zwar Chiffren oder Symbole, zugleich aber doch die Sache selbst sind, die sie bezeichnen. Die ‚Schwäne‘ in Hebbels Gedicht sind nichts anderes als Schwäne, aber sie sind doch nicht die Schwäne der vergegenständlichenden Betrachtung etwa des Naturwissenschaftlers. Von dieser Anschau­ ung wird die Bedeutung des Wortes entleert; das Wort ‚Schwäne‘ erhält eine neue Bedeutungserfüllung, die, verschieden von der iso­ lierend-objektivierenden, in anderer Weise – übergegenständlich – und aus einer anderen Perspektive in eine ‚gebende‘ Anschauung (Husserl) mündet, an deren Zustandekommen der sensus communis, der gesamte Leib bzw. das Gemüt und damit die ganze Persönlichkeit als Träger und Gefäß des Geistes, der Wir-Sphäre, beteiligt ist. Das Sinnganze der Äußerung wird verwandelt; die Orientierung an der gegenständlichen Bedeutung im Rahmen eines wissenschaftlich halt­ baren Aussagesinns oder auch einer alltäglichen Feststellung wechselt zu einer solchen an einem Sinnganzen innerhalb eines antizipierten Gesamtsinns, der dem Lebendigsein selber zugeordnet ist. Jene Entleerung oder Entkörperung ist es, die dem Dichter und Leser die ‚Schwäne‘ zur Verkörperung von Schönheit und Vergäng­ lichkeit, von Würde des Lebendigseins und des Sterbens gleicherma­ ßen werden lassen, und zwar zu dieser Sache selbst, denn all dies – Schönheit, Vergänglichkeit, Würde, die Lebendigkeit überhaupt – ‚gibt es‘ nicht in der Abstraktion, sondern nur in der konkreten Verkörperung. In der individuellen Realisierung ist die Sache, die

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27. Sprache als Grenzgebiet

wir mit einem verallgemeinernden Abstraktum bezeichnen, aller­ erst ‚da‘ und wird lebendig. Ohne solche individuelle Manifestation könnten wir gar nicht von Schönheit oder Vergänglichkeit sprechen, umgekehrt aber erschlösse sich kein Sinn aus einem Gedicht wie demjenigen Hebbels ‚über‘ die Schwäne ohne den Sinnhorizont, der mit den abstrakten Nomina angegeben werden kann. Jedem Sprach­ kundigen, der etwa das Wort ‚Schönheit‘ vernimmt, schließt sich der entsprechende Sinnhorizont auf und damit der gesamte Horizont der Lebendigkeit, zu dem die Sprache den Zugang bildet. Das gelingt allerdings nur, wenn das Gedicht keinen Stilbruch erleidet. M.a.W.: Rhythmus, Klang, Wortwahl, Taktung, Syntax, kurz: all das, was man ursprünglich zum Reim zählte, müssen aufein­ ander abgestimmt sein, und diese Abstimmung folgt der Sinnvorweg­ nahme, die nicht bloß den Dichter, sondern auch den Hörer oder Leser leitet – unter der Regie des Sinndrucks eines zwar leiblich implizit gewussten, zunächst aber bloß geahnten Gesamtsinns, der sich nun, wenn man sich den Korpus der Poesie vergegenwärtigt, inhaltlichthematisch in ein Verhältnis setzen lässt zu Leben, Tod, Vergänglich­ keit.

27. Sprache als Grenzgebiet Jede Form von Lebendigkeit muss eine Bahn finden, der entlang sie folgen kann, Grenzen, in denen sie sich ausbreiten, entwickeln und bewähren kann. Die Grenzen umschließen das Gebiet, in der sich die Lebendigkeit aufhalten kann, ohne ins Schleudern zu geraten oder Gefahr zu laufen, zu verkümmern oder anderweitige Verluste zu erleiden. Die Grenzziehung erfolgt bei Tieren durch das vegetative System, die Instinkte und ihre je verschiedene Lernfähigkeit in ihrer mit der artspezifischen Sinnesausstattung und Motorik korrelieren­ den Umgebung. Beim Menschen erfolgt sie auf vegetativ-tierischer Basis und diese übersteigend durch die Sprache. Die tierische Leben­ digkeit ist vorgezeichnet durch das Überleben mittels Fortpflanzung, Ernährung und Behauptung im Kampf um die Ressourcen. Auch diese Konturierung des Daseins wird in der menschlichen Lebendigkeit sprachlich überstiegen zu einem Mehr-als-Leben (Simmel). Sie ist vorgezeichnet durch einen Gesamtsinn, der die Expressivität dieser Lebendigkeit, die in die Sprache mündet, inhaltlich und formal prägt. Die Sprache ist das Grenzgebiet zwischen Leben und Mehr-als-Leben,

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28. Zwischen Sprachvertrauen und Sprachskepsis

zwischen Selbst und Welt, Immanenz und Transzendenz. Sie ist das Verhältnis dieser Verhältnisse, in denen der Mensch sich findet, und drückt es aus. Als Grenze umschließt sie das ganze Feld dieser Verhältnisse, was zugleich heißt, dass sie die – verschiebbare – Horizontlinie bildet, die jedem Feld zukommt. Die unendlichen Möglichkeiten, die die Sprache in der Kombina­ tion ihrer Elemente bietet, resultieren ebenso aus ihrer Bestimmung als Grenzverhältnis wie die Schwierigkeiten, die mit der Sprache auftauchen. Reicht ihre Ausdruckskraft, um all das ausdrücken zu können, was das Erleben ausmacht? Sind ‚Seele‘ und ‚Gemüt‘ nicht viel mehr, als Sprache zum Ausdruck bringen kann? Verfälscht sie nicht gar, was man ‚unmittelbar‘ sagen wollte in dem Augenblick, in dem man sich der Worte bedient? Ist nicht jedes Wort Teil eines unscharfen Abziehbilds von dem Farben- und Formenreichtum des seelischen Erlebens? Außerdem: Lässt sich mit Worten die unermess­ liche Vielfalt der Welt und ihrer Erscheinungen fassen? Oder ist nicht vielmehr das, was über die sprachlichen Äußerungen hinausgeht, ihr ‚überschießendes Plus‘, ein Fingerzeig dafür, dass ihr Artikulationspo­ tenzial die Inhalte verfehlt, die sie in ihre Ausdrucksformen packen möchte? Mehr noch: die Unzulänglichkeit der Sprache, an das heran­ zureichen, was zumindest in Gedanken, im atmosphärischen ‚Spüren‘ und in spirituell-religiöser Zuwendung zwar nicht klar und deut­ lich, aber doch irgendwie, zumindest als ‚Gegenstand‘ des Staunens, Erschreckens oder Fasziniertseins, präsent ist – das Vollkommene, Unendliche, für den Verstand Unfassbare, aber dem menschlichen Geist doch Nah-Verwandte – führt zu den Versuchen, die sprachliche Artikulation zu übersteigen, um in einer Art mystischem Schweigen und meditativer Stille dem Absoluten nahezukommen.

28. Zwischen Sprachvertrauen und Sprachskepsis Zwischen nahezu kindlichem Sprachvertrauen und geradezu selbst­ zerstörerischer Sprachskepsis bewegen sich die einschlägigen Auf­ fassungen. Schiller meint in seinem berühmten Distichon, sobald die Seele spreche, also ihr Erleben in Worte zu fassen versuche, spreche sie schon nicht mehr; die Worte verfehlten genau das, was zu sagen wäre. Bergson sieht den Mangel der Sprache in den unpersön­ lichen, verallgemeinernden und abstrakten Bezeichnungen, die sie für ganz individuelle, gar nicht objektivierbare und verallgemeinerbare

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28. Zwischen Sprachvertrauen und Sprachskepsis

Zustände wie etwa Liebe und Hass zur Verfügung stelle, wo doch jede Gesamtpersönlichkeit ihre eigene Art zu lieben und zu hassen habe, ihren persönlichen Stil, der mit keiner nominativen Wendung zu erfassen und wiederzugeben wäre. Was die hier umrissene Sprachskepsis übersieht, ist die Leis­ tung der Sprache, mit ihrem gesamten Arsenal, nicht bloß durch substantivierende Benennung, sondern durch Rhythmus, Takt, Klang das Spektrum des Erlebens so zu ordnen und zu gliedern, dass die entsprechenden Gefühle und Gemütszustände überhaupt erst diffe­ renziert und ihrerseits zu einem bedeutungs- und sinnvollen Erfah­ rungszusammenhang gefügt werden können, der die Lebendigkeit strukturiert und von ihr gespeist wird. Die Entwicklungspsychologie hat gezeigt, wie das Gefühlsleben auf der Basis von sechs Grundge­ fühlen (Paul Ekman) sprachlich ausdifferenziert und vor allem auch im Hinblick auf moralische Gefühle weiterentwickelt wird. Schiller verkennt dagegen in seinem Zweizeiler den kaum zu unterschätzenden Beitrag der Sprache, überhaupt erst das Seelenle­ ben zur ‚vollen‘, d.h. bewussten und das Selbstbewusstsein ermögli­ chenden Entfaltung zu bringen; das Chaos der Gefühle muss sprach­ lich in eine Ordnung unterscheidbarer Elemente überführt werden, um der Seele allererst zu ihrer eigenen Sprache zu verhelfen. Bergson reduziert in seiner Sprachkritik die Sprache auf ihre objektivierend-abstrahierende Funktion, die er aus Mathematik und Naturwissenschaften kennt. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Sprache, die Eindeutigkeit durch Definitionen anstrebt, dem Aus­ druck individuell-persönlichen Stils nicht entsprechen kann, was ja durchaus in der Absicht der mathematisch-naturwissenschaftlichen Sprache liegt. Im Gegensatz dazu stellt der Protagonist in Thomas Manns Erzählung Enttäuschung der Eingeschränktheit und Armseligkeit des Lebens, das letztlich doch immer wieder alle großen Erwartungen enttäusche, den Reichtum und Überschwang der Sprache gegenüber, die über jene Begrenztheiten hinweglüge; sie sei sogar fähig, mit Wor­ ten Erlebnissen gleich Wirkungen hervorzubringen oder Erlebnisse ahnen zu lassen, die es gar nicht gebe, woraus aber wieder folgt, dass sich die Sprache ihrerseits in die Reihe der Enttäuschungen stellen las­ sen muss. Dieser vom Leben und der Dichtung Enttäuschte trifft aller­ dings einen wunden Punkt: die Sprache lässt sich instrumentalisieren und für unwahre, verleugnende, täuschende, verheimlichende, heim­ tückische, übertreibende und ideologische Äußerungen in Gebrauch

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29. Hermeneutische Beziehung zwischen Sprache und Gesamtsinn

nehmen, die perlokutionäre Wirkungen in manipulativer oder böser Absicht anzielen und auslösen. Es ist aber nicht ‚die‘ Sprache, die zuweilen oder auch häufig lügt, sondern der Sprecher, der ihre Mög­ lichkeiten unredlich oder auch bloß augenzwinkernd-flunkernd nutzt.

29. Hermeneutische Beziehung zwischen Sprache und Gesamtsinn In diesem Zusammenhang und als Problem im Grunde eine Banalität: Wie steht es mit den sogenannten ‚nackten Tatsachen‘ oder ‚harten Fakten‘? Im propositionalen Akt werden Sachverhalte und Tatsachen benannt, deren Richtigkeit nachgeprüft werden kann. Es sind Dinge, die geschehen sind, die wir getan haben, die uns angetan wurden oder die uns widerfahren sind. Sie lassen sich nicht ändern, müssen aber in die eigene Erfahrung integriert werden, und der Erfahrungszusam­ menhang wird interpretativ erschlossen, zumeist narrativ ‚konstru­ iert‘. Der propositionale Akt geht ein in eine sprachliche Artikulation, nimmt in dieser eine Bedeutung an und erhält in dem gemeinten Sinn der gesamten Äußerung eine Stelle, angezeigt durch Klang, Rhythmik und Wortstellung. Sprachliche Artikulation ist ohnehin immer Deutung, als solche in einem Spektrum zwischen sinnvoll und sinnlos stehend. Ist es z.B. gelogen, wenn jemand von etwas erzählt, das es gar nicht gibt im Sinne einer verifizierbaren Tatsache, in dem die Dinge ‚anders‘ auftauchen, als sie ‚wirklich‘, ‚tatsächlich‘ sind? Sind erfundene und mit Worten ausgeschmückte Erzählungen gelogen oder zumindest geschwindelt? Entscheidend ist der Sinn der Erzählung: er muss verständlich und nachvollziehbar sein, ob diese nun von einer historischen Tatsache ausgeht, wie etwa, dass Napoleon als selbstgekrönter Kaiser von Frankreich diese und jene Schlachten schlug, am Ende in Verbannung starb, oder ob sie das Schicksal König Lears in ein Drama fasst. Um ein einfaches Beispiel zu nennen: Das Märchen von Hans im Glück ist erfunden und insofern erlogen, aber selbst Kinder verstehen die Geschichte und können ihren Sinn deuten, und diese Sinndeutung wandelt sich mit der eigenen Erfahrung, wie diese umgekehrt im Lichte solcher Erzählungen eine strukturierte Entwicklung, überdies, wohl nicht zufällig, in moralischem Sinne, durchmacht. Der Verlust materieller Güter, den Hans erleidet, erträgt, erduldet oder zu seiner Sache macht, so dass der Verlust zu einem Verzicht wird, kann völlig

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30. Sprachkritik und Wahrheit

verschieden interpretiert und als ‚Moral von der Geschicht`‘ erschlos­ sen werden, obwohl es immer bei demselben materiellen Verlust bleibt. Das heißt aber: Wahrheit oder Unwahrheit ‚der‘ Sprache lassen sich nicht an der vermeintlichen Wiedergabe sogenannter Tatsachen bemessen, sondern an der Stellung von Sprachäußerungen zu einem Sinnganzen, das mit dem Gesamtsinn in Verbindung steht, und in diesem Gesamtsinn haben Tatsachen ihren Ort als Gegenstände der Welt, die mal mehr, mal weniger Gewicht, mal diese, mal jene Bedeutung ‚für uns‘ haben. Sinn kommt ihnen erst im Rahmen der sprachlichen Artikulation zu. Sprechakttechnisch haben sie ihre Stelle im lokutionären oder propositionalen Akt. Aber auch dieser unterliegt der Tönung durch den illokutionären Akt, in welchem die Absicht des Sprechers auch eine täuschende sein kann. Dass die Tatsachen verdreht werden können, ist jedoch, wie gesagt, nicht der Sprache selbst geschuldet, sondern offensichtlich dem Sprecher. Da die Sprache ihrerseits in Korrelation zum Gesamtsinn steht, lastet dessen Sinndruck so auf ihr, dass der Sinn von Sätzen sowie das Sinnganze jeweiliger Äußerungen nicht nur eine gegenständliche Komponente hat – es kann immer gefragt werden, worüber eigentlich gerade gesprochen wird oder wovon etwa ein Gedicht handelt –, sondern in einer hermeneutischen Beziehung zum Gesamtsinn stehen und die einzelnen Wörter ihre Bedeutungen von daher gewinnen. Es ist die Frage, wie diese Beziehung zu beschreiben ist, wenn das eine Relationsglied, der Gesamtsinn, nicht direkt artikulierbar ist, sondern sich der propositionalen, objektivierenden Sprache stets entzieht.

30. Sprachkritik und Wahrheit Wo aber ist der ‚Ort‘ sprachlicher Wahrheit? Folgt man Nietzsche und deutet Wörter und Begriffe als Übertragungen der Dinge bzw. des ‚Wesens‘ der Dinge in ein ihnen fremdes Medium, in dem wir es mit mehr oder weniger willkürlich und zumal zum Zwecke der Machtausübung erfundenen Metaphern zu tun haben, die die aus den Nervenreizen resultierenden Bilder in Laute und Sprachbilder, schließlich, diese schematisierend, in Begriffe übersetzen, dann ist Sprache von vornherein in der Unwahrheit; und selbst noch die Sprachkritik bewegt sich, da sie sich der Sprache bedienen muss, in dieser Sphäre, der gar kein Zugang zur ‚wahren‘ Sicht der Dinge und der Welt gestattet ist. Macht man diese sensualistische Auffassung

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30. Sprachkritik und Wahrheit

zur Voraussetzung für eine Genealogie der Sprache, dann kann man sagen: Alles ist durch Sprache verunstaltet, anthropomorph geprägt und ideologisch knetbar. Die geschichtliche Erfahrung liefert viele Belege dafür, dass Sprache in dieser Weise instrumentalisiert werden kann. Die ideologische Verwendung etwa wird für das ‚Dritte Reich‘ in Victor Klemperers LTI oder auch in Dolf Sternbergers Wörterbuch des Unmenschen beispielhaft aufgearbeitet und analysiert. Es stimmt, dass Sprache, wie beschrieben, immer schon interpretativ ist, zumal das je aktuelle Sprechen. Umgekehrt ‚gäbe es‘ aber auch keine Welt mit Gegenständen ohne den ordnenden, gliedernden, deutenden Blick des sinnlich-geistig verfassten Wesens ‚Mensch‘ mit seiner Sprache, in der sich jene Welt artikulieren lässt und damit überhaupt erst eine Physiognomie gewinnt. Aus dem System, in dem sich das lebendige Wesen vorfindet und das ein System von Symbolen und Abschattungen ist, kann es nicht heraus. Das ist der Boden von Nietzsches erkenntnis- und ideologiekritischer Sprachauffassung, und auf demselben Boden erwächst Fritz Mauthners Sprachskepsis und Wittgensteins Fliegenglas-Metapher. Es ist nicht verwunderlich, dass beide Denker – auf je andere Weise und sehr beredt – das Verstummen und Schweigen beschwören, wenn es darum geht, dem Käfig zu entrinnen und doch irgendwie eine nicht mehr aussagbare Einsicht jenseits der Sprachlogik zu gewinnen. Nun kann sich der Mensch jedoch jenem System gegenüberstel­ len, den Käfig und sich selbst darin betrachten, und zwar aus seiner Position innerhalb-außerhalb heraus (die Plessner als exzentrische beschrieben hat), und das tut er mit den Mitteln der Sprache – als eine Kritik der Sprache. Nichts anderes versucht gerade auch Nietzsche mit seiner Kritik an einer historisch unreflektierten Sprachverwendung, wobei er möglichst viele Bedeutungen entkörpert, insbesondere sol­ che mit einer religiösen oder metaphysischen Intention, dadurch aber auch Neues verkörpert: die redliche Haltung desjenigen, der nichts gelten lässt, das nicht dem Blick des gnadenlosen Enthüllers und dem Werkzeug des in die Tiefe Bohrenden standhält; und gelingt es ihm dabei nicht sogar, Gold zu schürfen, nämlich die Moral eines (möglichst) autarken Menschen, dem nur das wertvoll werden kann, was sich nicht der Gewalt eines äußeren Machthabers beugt, was nicht im Strom der Masse schwimmt und was sich nicht lediglich auf Tradition und hergebrachten Glauben berufen kann, ob religiöser oder metaphysischer Provenienz, der gar noch seine eigene Redlichkeit

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31. Verhüllung des Sinns und Sinnvorwegnahme

und Wahrhaftigkeit in Frage stellt, um nicht der gleichen Selbsttäu­ schung anheimzufallen wie der vom Eigendünkel Befallene? ‚Die‘ Wahrheit steckt nicht von Haus aus in jedem Wort, auch nicht in jeder Wortfolge, jedem Satz oder jeder Äußerung. Doch würde selbst Nietzsche sich nicht so sehr gemüht haben, wie er das getan hat, wenn er nicht jenseits aller Zertrümmerung von Täuschung, Verstellung und Lüge, die er im Dienste des Willens zur Macht stehen sieht, einen Sinn zumindest geahnt hätte, der nicht bloß im Zertrümmern selbst (und wohl auch nicht lediglich im Macht­ willen) liegen kann – und der mit dem Namen einer Umwertung der Werte ein Symbol gefunden hat. In Nietzsches unablässigem und zuweilen explosivem Denken und Schreiben bricht sich der ungeheure Sinndruck Bahn, der auf ihm wie auf jedem radikalen Denker lastet und ihn geradezu zwingt, alles abzubauen, das einen freien Blick auf ‚die Wahrheit‘ ermöglicht, auf das, was nicht nur durch einen unpräzisen, verdeckenden, verbiegenden, verlogenen und selbsttäuschenden Gebrauch von Wörtern, sondern durch Reden und Schreiben überhaupt verschüttet sein mag. Der radikalen und mitunter heilsamen Sprachskepsis ist entgegenzuhalten, dass, wie gesagt, mit jeglicher Entkörperung, auch derjenigen, die Nietzsche stets und in immer neuen Anläufen leistet, zugleich eine Verkörpe­ rung in Gang gebracht wird. Verkörpert wird ein Sinnganzes, so wie bereits jeder artikulierte Laut verkörperter Sinn ist und jedes Wort eine – in Grenzen wandelbare – Bedeutung verkörpert. Der Sinn manifestiert sich in Äußerungen und Texten, zusammengesetzt aus Wortbedeutungen, die sich aus dem Sinnganzen erschließen, und der Komplex solcher Sinnganzheiten ist so oder so auf den Gesamtsinn hin ausgerichtet, auch noch in der Abwendung von ihm, in seiner Verleugnung oder im Stummwerden angesichts der Unmöglichkeit, ihn zum Gegenstand von Aussagen zu machen.

31. Verhüllung des Sinns und Sinnvorwegnahme Noch einmal: Der Mensch kann aus seiner ‚symbolischen Welt‘ (Cas­ sirer) nicht heraus. Selbst der Mystiker bedient sich eines Schweigens, das zum symbolischen Akt wird; oder er ‚überlässt sich‘ der Natur, in die er sich zurückzieht, ob ins Gebirge nahe einer Quelle, in eine Höhle oder in die Wüste, und die zum Symbol des Absoluten bzw. seines möglichen ‚Erscheinens‘ wird; oder er tritt in ein Kloster ein, das

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31. Verhüllung des Sinns und Sinnvorwegnahme

zum symbolischen Ort der Kommunikation mit dem Absoluten unter Vermeidung des Kontaktes mit ‚der Welt‘ wird. Angesichts der Unhintergehbarkeit der symbolischen Lebens­ form ist es nicht verwunderlich, dass Nietzsche unter jeder Maske, die er abreißt, eine andere Maske findet. Das heißt, man kann sich niemals zufriedengeben mit dem Entdeckten. Die ‚Wahrheit‘, auch die Philosophie selbst als die Grabende, der Geist als der Suchende, tragen eine Maske, m.a.W.: sie kleiden sich in Symbole, Metaphern, Worte, in denen allein sie sich zeigen, d.h. verkörpern, und damit doch auch zugleich verbergen; man muss sie entkörpern, um ihren ‚wahren‘ Sinn zu entschlüsseln. Das betrifft in Bezug auf Nietzsche viele seiner ‚Begriffe‘, auch wenn sie nicht dogmatisch, nicht als ‚Termini‘ verstanden sein wollen, zum Beispiel das Wort von der ‚ewigen Wiederkunft des Gleichen‘. Es ist eine Scheu und Scham, aus der heraus der Akt des Verhül­ lens durch ‚Maskierung‘ erfolgt, die Scheu, durch das Gesehen- oder Berührtwerden bloßgestellt, verletzt oder zerstört zu werden (noli me tangere). Unter dem Blick des Neugierigen und in der Hand des Zudringlichen zerfällt das, was der Fassende – der Auffassende – ‚haben‘, in Sicht und in den Griff bekommen will, in seine Teile, und das Ganze entzieht sich. Das gilt auch und gerade für den Versuch des Versprachlichens, da doch die Sprache das Verhalten des Menschen zu seinen Verhältnissen in zweiter Potenz artikuliert, so dass auf dieser gesteigerten Ebene das Grundverhältnis in die Sprachformen eingeht und hier eine gewisse Zuschärfung und Reflexivität erfährt. So findet das Reden und Sprechen nicht zufällig unzählige Formen des indirekten Ansprechens und Besprechens, um jegliche Bloßstellung zu vermeiden, sei es den Gesprächspartner bzw. Zuhörer unabsicht­ lich zu kränken oder das, worum es geht, durch taktlose Direktheit einem diskreditierenden Gerede preiszugeben und dem sachhaltigen Gespräch zu entziehen. Jedoch ist die symbolische Welt keine Illusion, sondern die Bedingung der Möglichkeit, wahrnehmen und erkennen, das Wahr­ genommene und Erkannte ausdrücken und darstellen, und all das zunehmend verfeinern, vertiefen und in seiner Klarheit und Deutlich­ keit verbessern zu können. Das Symbolische wird dann zur Illusion, wenn die Artikulation den Bezug zum überschießenden Plus jeder Versprachlichung verliert. Denn der über das propositionale Element hinausgehende Mehrwert der sprachlichen Artikulation kann überse­

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32. Rekapitulation des Bisherigen – Korrelation von Leib und Gesamtsinn

hen, verkannt oder geleugnet werden, wenn man die Sprache auf das technische, instrumentelle und informative Moment reduziert. Die Pointe liegt nun darin, dass der Sinn, sowohl das Sinnganze einer Äußerung als auch der Gesamtsinn, durch die Vorder- oder Oberflächenansicht, die ‚Sprachmaske‘, hindurch ‚scheint‘, und zwar so, dass er antizipiert werden kann; denn ohne solche Sinnvorweg­ nahme könnten weder in der lautgebenden Sukzession der Worte und Sätze noch in dem Vernehmen der Laute aufeinander abgestimmte Bedeutungen hervorgebracht und verstanden werden. Die Notwendigkeit der Sinnvorwegnahme für das Sprechen und Verstehen konterkariert die Verhüllungsmaßnahmen, da sie Anhaltspunkte gibt für die Möglichkeit einer Artikulation des Gesamtsinns, und sei es in chiffrierter oder schweigender Form. Wie aber ist diese Möglichkeit, das ‚Scheinen‘, das ‚durch das Sprachmaterial Hindurch‘ zu verstehen und zu deuten?

Mit dieser Frage ist sowohl die Ausgangslage als auch das Grundpro­ blem der bisherigen Erkundungen umrissen, das auf das Rätsel des Gesamtsinns hindeutet, und sie lädt zunächst dazu ein, diese im nächsten Abschnitt zu rekapitulieren.

32. Rekapitulation des Bisherigen – Korrelation von Leib und Gesamtsinn Ein Meinen im Artikulieren ist nur vor dem Hintergrund eines Sinnganzen möglich, das sich in Wortbedeutungen aufgliedert und in Klang und Rhythmus, in der Sprachmelodie einschließlich der Akzen­ tuierung, repräsentiert. Schriftsprachlich wird dies ersetzt durch die Stellung der Wörter im Satzgefüge, die Interpunktion, das Anzeigen von sachlich-gedanklichen Kola mittels der Gliederung in Abschnitte etc.; darüberhinaus wissenschaftlich in dem aus Begriffen gewobenen Urteil, das etwas feststellt und dessen Sinnganzes in der Einheit des jeweiligen Gegenstandes wurzelt. Man spricht vom Sinn eines Satzes, einer Äußerung und eines Textes, aber von der Bedeutung eines einzelnen Wortes, das dann wie­ derum eine Beziehung zum sinnaufbauenden Teilbestand (Satzteil, Satz, Abschnitt, Text) hat, also zu einem größeren Sinnganzen gehört. Die einzelnen Wörter sind mehrdeutig, bevor sie als Worte im Satzzusammenhang ihre Bedeutung bekommen. Die Sinnganzheit, aus der heraus die ‚Deutung‘ erfolgt, greift über den einzelnen Satz

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32. Rekapitulation des Bisherigen – Korrelation von Leib und Gesamtsinn

hinaus auf eine höhere Sinneinheit, ohne dass in dieser Sequenz eine Grenze angebbar wäre, es sei denn – und das liegt nahe –, man legt den Gesamtsinn als eine solche Grenze fest. Das Sinnganze wird beim Sprechen und Hören, in den einzelnen Wortbedeutungen, dem Klang und der Syntax folgend, antizipiert. Es liegt in der Intention des Sprechers, in dem, was anliegt, kontextuell und über aktuelle Kontexte hinausgreifend, wobei sich, wie gesagt, keine Grenze, kein Ende des Sinnhorizontes angeben lässt. Der am unendlichen Horizont aufscheinende Gesamtsinn ist letztlich das, worauf sich das Leben, das Selbst bzw. die Welt und mit alldem die Sprache überhaupt richtet, uns unbekannt bzw. rätselhaft – numinos. Dennoch wird er – und das ist ein Beleg für die hermeneutische Beziehung zwischen ihm und der Sprache – in der Sprachmelodie repräsentiert, die mehr enthält und zuweilen ‚verrät‘, als den Betei­ ligten bewusst ist. Man könnte eine Sprachmelodie analysieren bis zu dem Punkt, wo die existenzielle Haltung des Sprechenden zum Gesamtsinn als dem Hintergrund seiner Lebendigkeit in sei­ ner Sprechweise deutlich gemacht werden kann. Überhaupt ist der gesamte Leib mit seiner Haltung an der Sprechmelodie, dem Rhyth­ mus und dem, was diese zu bedeuten geben, beteiligt. Der Leib als sensus communis und ‚Träger‘ wie Medium des Geistigen im Menschen steht in Korrelation nicht nur zum Sinnganzen von Äußerungen, die er vorsprachlich und sprachlich tätigt, sondern auch zum Gesamtsinn. Es ist eine Korrelation, die als Konkordanz – Zusammenstimmung von vornherein gleichsinniger Momente – zwischen Körperhaltung, geistiger Auffassung und Sinngebung sowie als Akkordanz – Gleich­ sinnigkeit eigentlich verschiedener Momente – zwischen Stoff und Form der sinnlichen Leistungen, die in allen Bereichen Sinngebung intendieren, beschrieben werden kann. Gesicht, Gehör, Geschmack, Geruch, Getast sind nicht bloß auf gegenständliches Wahrnehmen oder dinghaftes Empfinden aus, sondern bei alldem immer schon sinngebend, d.h. sie ‚vermitteln‘ der Person Bedeutung und Sinn im Sehen, Hören, Schmecken, Riechen, Tasten. Das kulminiert in den geistigen Sinngebungen von Geometrie, Musik, bildender Kunst, Architektur, auch Kochkunst und Parfümerie – Kunstformen der Kultur, die aus dem geformten Stoff hervorgehen – und letztendlich von Sprache und Schrift – Kunstformen, in denen der geformte Stoff zum Gegenstand von Wortbedeutungen wird. Gebündelt wird all dies in der Person als eines Rollen überneh­ menden Glieds der Mitwelt. Formendes Gestalten und künstlerisches

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33. Die Funktion des dualen Modus der Verkörperung von Sinn

Schaffen gehen immer von einer Person aus, die mit ihrem ganzen Wesen das sinnlich Erfassbare aufnimmt und zur Quelle von Aus­ druck und Darstellung wird, und zwar so, dass das Dargebotene mehr enthält als das sinnlich Anschauliche: den geistigen Sinn, der mit jedem geformten Gehalt mitgegeben wird und diesen trägt; und es redet immer eine Person als eine Synthese von Ich und Du, von ‚Sprecher‘ und ‚Hörer‘, und zwar so, dass deren Persönlichkeit mit ihrem ganzen Leib und ihrer Seele, die darin zum Ausdruck kommt, in die Sprechweise eingeht; eine Haltung wird sichtbar bzw. hörbar – körperlich wie geistig. Der letzte Sinn der Äußerung ist mit dieser Haltung verbunden.

33. Die Funktion des dualen Modus der Verkörperung von Sinn Die oben (in Nr. 31) gestellte Frage zielt auf den merkwürdigen und rätselhaften Sachverhalt, dass das verhüllende Moment sprachlicher Symbole mit einem entbergenden einhergeht. Ohne ein solches Drän­ gen nach Enthüllung wäre die Sinnvorwegnahme als Voraussetzung für Reden und Vernehmen nicht möglich. In jeder Äußerung läuft das mit, was nicht gesagt wird, wenn­ gleich das Gesagte einen Bezug dazu hat; es wird nicht gesagt, weil man nicht alles auf einmal in Worte fassen kann, oder weil es verschwiegen werden soll oder weil es grundsätzlich ungesagt bleiben muss bzw. gar nicht gesagt werden kann. Im Sonderfall des Verheimlichens wird das zu Sagende absichtlich in diese Region, die notwendig zur Sprache gehört, abgeschoben. Der intentionale Sinn des Versteckens orientiert sich am Sinn des nicht Gesagten, des Verfälschten oder des Geleugneten. Jener kann diesen überdecken, aber nicht außer Kraft setzen. Die Sinnvorwegnahme des Sprechers legt die Bedeutungen der einzelnen aufeinander folgenden Wörter so zurecht, dass das entkörpernde Vernehmen des Hörers das durch die Äußerung Verdeckte nicht sogleich entschlüsseln kann, obwohl es gerade im gegenläufigen Sinn der Äußerung mit enthalten ist, wenngleich in abgedeckter Form. Das hörende Antizipieren des Sinns wird vom richtigen Weg abgelenkt. Der Drang nach Enthüllung wird durch die Übermalung mit einer abweichenden Unterstellung von Sinn, der aber im Verhältnis zum verheimlichten Sinn nicht völlig abwegig ist, zufriedengestellt.

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33. Die Funktion des dualen Modus der Verkörperung von Sinn

Die Frage ist, ob das, was ohne jede Absicht verdeckt bleibt, den­ noch aber die Sinnvorwegnahme grundsätzlich ermöglicht, ähnlich wie das absichtlich Verborgene ent-deckt werden kann, wenn man sich die sowohl das Sagen als auch das vernehmende Hören und Deuten ermöglichenden Momente des Verkörperns im Reden und des Entkörperns im Vernehmen näher anschaut. Karl Bühler macht die Bedingung für die Antizipation von Sinn an den Schemata der Sprache fest, wie sie in den syntaktischen Strukturen vorliegen. Er vergleicht dies mit dem Schematismus in Kants Kritik der reinen Vernunft. Während diese jedoch Anschauung und Begriff im Schema, einer Art Schnittmenge beider, vermitteln, verbindet das syntaktische Schema den noch unklaren Gedanken mit einer ihm angemessenen sprachlichen Form, welch letztere überdies dem Gedanken zur Artikulation und inhaltlichen Verfertigung ver­ hilft. Das erinnert an Kleist. In dessen Beschreibung des Vorgangs kommt der noch unfertige Gedanke mit der Hilfe einer anderen Person, ihrer Anteilnahme an der Suche nach Worten und Sätzen, die sich in Mimik und Gestik äußert, einer Art von spontaner, ahnungsvoller Bewegtheit, ans Licht und zum Ausdruck. Es handelt sich jeweils, bei Bühler wie Kleist, auch wenn die Person mit sich allein auf der Suche ist, dabei jedoch sich selbst in den Rollen von Ich und Du gegenübersteht, um einen dialogischen Vorgang, in dem das unverzichtbare Moment der gemeinsamen Geltung als Vorausset­ zung für sprachliche Sinngebung und hörendes Verstehen ins Spiel kommt. Dafür steht ein eigener Verkörperungsmodus zur Verfügung, der duale, der die anderen Modi der sinnlichen Verkörperung von Sinn, den schematischen und den thematischen, übergreift, zusam­ menspannt und dem syntagmatischen der Sprache mit seiner glie­ dernden und ordnenden Funktion zugeordnet ist, ja diesen allererst in der rechten Weise fungieren lässt, nämlich unter Verwendung von Wortbedeutungen, deren Geltung im mitweltlichen Wir entspringt, in der lebendigen Kommunikation der Personen, die die Rollen von Ich und Du übernehmen. Das ist die Bedingung der Möglichkeit sprachlicher Kommunikation, und in der Sprache überhaupt (langage) hat die Mitwelt, die in ihrem entkörperten Zustand eigentlich nichts ist, ihren Anhalt, sie ist ihr ureigenes Metier, das aus der leiblichen Gegenwart der Personen emporwächst und sich darin aktual realisiert. So ist es nicht verwunderlich, dass es nicht selten heißt, die Sprache gebe es nicht, ebensowenig wie die Menschheit. Mitwelt, Mensch, Sprache sind in ihrer Irrealität gleichursprünglich und bedürfen der

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34. Leib, Gesamtsinn und die Akkordanzen der Sprache

Aktualisierung, um real zu sein. Ihr Sein liegt in der je gegenwärtigen Verlebendigung. Sie sind jedoch die Bedingungen der Möglichkeit solcher Aktualisierung und Verlebendigung.

34. Leib, Gesamtsinn und die Akkordanzen der Sprache Mitwelt ist Sprache in entkörperter Form und deshalb im Rahmen der dem dualen Modus eigenen Akkordanz mit der Lautgebung zusammenstimmend, jedoch auch und zunächst, was nicht übersehen werden darf, mit dem Schweigen, und zwar so, dass selbst eine in der Natur wahrgenommene Stille mitweltlich erlebt werden kann; auch ein Naturgeschehen wie im Sturm aufbrausende, schäumende und in Abgründen versinkende Wellen kann, wie es Hofmannsthal im fünften Brief des Zurückgekehrten schildert, als ein Du erlebt werden, ein ‚ineinanderschlagendes Du, das an mein Schauen geknüpft‘ ist. In einer weiteren Steigerung wird ein Objekt der Kunst nicht nur wie der Naturgegenstand in die Mitwelt aufgenommen, sondern gar zum Ausdruck der Mitwelt, so etwa die antike Skulptur in Rilkes Gedicht Archaischer Torso Apollos, in dem es heißt, im Torso halte sich ‚sein Schauen‘ und ‚glänze‘, und „da ist keine Stelle, die dich nicht sieht“, mit einer dialogisch-imperativischen Zuspitzung, die auf die existenzielle Erfahrung des angeschauten Betrachters verweist: „Du mußt dein Leben ändern“. Die sprachliche Artikulation solcher Erfahrungen verweist darauf, dass die Mitwelt vor allem dann, wenn Menschen zusammen sind, aber auch angesichts eines artifiziellen Werks des Menschen und wenn sie einen Vorgang oder Gegenstand der Natur in ihre Sphäre aufnimmt, nach sinnlicher Verkörperung in zweiter Potenz, in der Sprache bzw. Rede (parole), drängt, und diese mündet, wie jede Ver­ körperungsform, in eine ‚Objektivation des Geistes‘ (Dilthey): langue. Sprache als langue verfestigt gleichsam die für das sprechende Artikulieren unabdingbaren, im aktuellen Sprechen verflüssigten Rollen von Ich und Du; sie ist, wenn man so will, nicht das Abbild, aber das Schema dieser Rollen. Der Fluss der Rede mit deren dialogischen Reziprozität (parole) nagt unablässig an den versteinerten Formen der Grammatik (langue), die ja durch die mal anschwellende, mal nachlassende Kraft des Rede-Stroms gestaltet worden sind; er kann das Gestein nicht auflösen, ohne selbst zu versiegen, aber so erwei­ chen, dass es sich geschmeidig den je aktuellen Belangen der Rede

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anpasst, und umgekehrt braucht die Rede das Flussbett mit seinen befestigten Ufern, um in die ruhigen Gewässer des Verständnisses einzumünden. Es sei erlaubt, diese Allegorie weiterzuführen: Die Poesie als Inbegriff der Vervollkommnung sprachlicher Artikulation reinigt den Fluss und beseitigt überflüssiges Geröll, trägt aber auch dazu bei, dass sich neues Sedimentgestein ansammelt – u.a. durch Wiederholung, Abnutzung, Nachlassen der schöpferischen Kraft. In Hofmannsthals Gespräch über Gedichte heißt es, die Möglichkeit voll­ kommener Gedichte sei ohne Grenzen, und doch gebe es nur wenige davon. Das gilt für jede Form sprachlicher Artikulation, zumal für gelungene Gespräche, die die Beteiligten mit einer unvergleichlichen Befriedigung erfüllen; diese speist sich aus dem sicheren Gefühl, in gemeinsamer Anstrengung die Bedeutung einer Sache ergründet, Licht in ein bislang undurchdringliches Gefilde gebracht zu haben. Es ist nicht bloß ein Nachvollziehen, sondern ein Erleben von Sinn, das man namentlich aus der Literatur kennt. So selten dieses Erlebnis sein mag: Seine Quelle hat es in der Mitwelt, die schon von einer einzigen, sich zu sich selbst verhaltenden Person gebildet wird. Die Mitwelt konkretisiert sich des weiteren in Gesellschaften, Gemeinschaften, Gruppen und Paaren, in deren Zwischenleiblichkeit (Merleau-Ponty: intercorporéité), die sich historisch-kulturell je verschieden ausdrückt. Ihre Elemente, sichtbare, hörbare, spürbare, tragen Bedeutung und entfalten sich sprachlich. Die Entfaltung weist in Richtung Sinnerfül­ lung, die Stufen von Vertiefung, Verfeinerung und Differenzierung kennt, aber auch gegen Rückschläge, Retardierungen und Missgriffe nicht gefeit ist. So arbeitet jegliches Sprechen und Schreiben stetig, wider die Tendenz zum Erstarren durch Schematisieren, am Werden des Sinns von Äußerungen und des Gesamtsinns überhaupt, der in einer Rela­ tion steht zur Sprache und ihrer realen Verlebendigung. Sinngebung und Sinnverstehen sind immer auf die Kompatibilität von Stoff und Form angewiesen; wo diese nicht passen, kann sich kein Sinn ergeben, und die Bedeutungen, die dem jeweiligen Sinnganzen unterstehen, sind windschief. Der mit dem Leib korrelierende Gesamtsinn – eine Korrelation, die sich als Konkordanz zwischen Körper und Geist ausweist, etwa in den Haltungen, die als körperlich-anschauliche zugleich geistig-sinnhaft sind (was bereits die aufrechte Haltung dokumentiert) – benötigt die Akkordanzen der Sprache, um sich zu manifestieren. Es sind die Akkordanzen von Laut und Gedanke, solche zwischen Material und leiblich-geistiger Haltung, die nur im Spre­

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chen realisiert werden können, weil dessen bewegliche, luftig-leichte, tönende und durchlässige Form jene Konkordanz zu Verkörperungen des Geistes bereit macht: Sinn wird stoffgebunden realisiert und sinnlich veranschaulicht. Im Sprechen wird die Lebendigkeit selbst wiederum objektiv und fassbar: das Schöpferische des Menschen, das freie Anfangenkönnen, kommt seinerseits hier, in der sprachli­ chen Tätigkeit, zur Anschauung und möglichen Bearbeitung; und die Lautform übersetzt das exponierte Verhältnis des Menschen zu den Verhältnissen, in denen er sich vorfindet und die er gestaltet, in ein lebendiges Verhalten, das seinerseits zum Gegenstand sprachlicher Bedeutungen werden kann. In der artikulierten Lautgebung löst sich der Knoten, in dem sich alles verschlungen hatte und wie ein Chaos anmutete; und der Mensch wird einer Ordnung sinnvoller Verhältnisse ansichtig, indem er sie in Worte fasst.

35. Sprache und Gespräch Eine Sprachtheorie, die Worte lediglich als Repräsentanten von Din­ gen bzw. Gegenständen oder ‚Erinnerungszeichen‘ an Vorstellungen und unzureichende metaphorische Übersetzungen für Empfindungen (Mauthner) sieht, muss am Ende stets in eine Sprachkritik münden, in der das – theoretisch konstruierte – Versagen der Wort- und Satz­ bildungen beim Abbilden oder Wiedergeben der Weltverhältnisse zu einer wohlfeilen Sprachskepsis führt. Im Rahmen des Konformitäts­ systems von Sinnlichkeit und Sinngebung (Plessner) zielt Sprachkri­ tik dagegen auf ausdrucks- und inhaltsbezogene Mängel oder instru­ mentalisierende Umdeutungen und intendierte Verschleierungen in den sinnvorwegnehmenden Sprechhandlungen sowie auf Defizite in der Sinnorientierung, die aus reduktiven Theoretisierungen und den sich darauf aufbauenden ‚schlechten‘ Gewohnheiten resultieren, von denen nur eine genannt sei: die ständige Nachfrage, was denn ein bestimmtes Wort genau bedeute und sich als Antwort nur mit einer eindeutigen Definition zufriedenzugeben. Sprechen ist immer auch Arbeit an der Sprache, weil sich diese an einem Sinn ausrichtet, der erst im Vollzug des Sprechens und im Gebrauch der Sprache offenbar und verständlich werden kann, sowohl in jeder konkreten Sprechsituation als auch im Gespräch, das wir als Menschen sind (Gadamer), anders gesagt: im Selbstgespräch des menschlichen Geistes als einer sich in unzählige Individuen auf­

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36. Verkörperung des Gesamtsinns im Leib der Sprache

teilenden Person (Vossler). Das kann demjenigen nicht einleuchten, der sich einer ausschließlich objektivierenden mathematisch-natur­ wissenschaftlichen Sichtweise auf die Sprache verschrieben hat. Was Bühler hinsichtlich der Suche nach einer lautlichen Artiku­ lation von Gedanken ineins mit der zu leistenden Sinnvorwegnahme vornehmlich der Syntax zuschreibt, wird überdies ganz elementar von Klang und Rhythmus bewirkt; diese sind maßgeblich, wie bereits erörtert, an der Ermöglichung von Sinnvorwegnahme beteiligt. In Kleists Beispiel ist es die Haltung der aufmerksam-interessierten Person, die der Sinnvorwegnahme zuarbeitet. Haltung und Bewegung sind insofern die sichtbaren Entsprechungen des Hörens von Klang und Rhythmus; diese gliedern, ihrerseits darin jenen entsprechend – mit den raumhaft-voluminösen Tonhöhen und Klangvarianten sowie mit Takt und Rhythmus – Raum und Zeit, und so ordnen sie den noch entkörperten Gedanken, ähnlich wie sich mit Haltungen und Bewegungen geistige Verkörperungen in die Leerformen von Raum und Zeit gießen. Nicht zuletzt der Versuch des Verschweigens und Verheimlichens ist auf einen der Intention des Verbergens angemes­ senen Einsatz von Klang und Rhythmus angewiesen, um erfolgreich zu sein, wobei es wiederum just diese beiden Momente sind, die dann auch den ‚wahren‘ Sinn ‚verraten‘ können. Nochmals die Frage: Gibt es eine Entsprechung zu diesem Vorgang, wenn man sich des Gesamtsinns vergewissern möchte? Inwiefern tragen Klang und Rhythmus, aber auch Syntax und Semantik zu einer mög­ lichen Enthüllung des der sprachlichen Sinnvorwegnahme überhaupt vorausliegenden Gesamtsinns bei?

36. Verkörperung des Gesamtsinns im Leib der Sprache Zunächst mag das Folgende, das an das Bisherige anschließt, als Spekulation gelten: Wie sich Mitwelt, Mensch und Sprache (als das Entkörperte) zum konkreten Sprechen und Reden (als das Verkör­ pernde) verhalten, so auch der (entkörperte) Gesamtsinn zu jeder konkreten Sinngebung in sprachlichen Verkörperungen. Denn der menschliche Leib als Synthesis der Synthesen von Mitwelt, Mensch und Sprache – als Knotenpunkt, in dem sich alles bündelt – ist in seiner Ganzheit konkordant und in seinen einzelnen verkörpern­ den Leistungen akkordant zum Gesamtsinn. Eine der möglichen Akkordanzen wird auch von der Verkörperungsfunktion des dualen

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36. Verkörperung des Gesamtsinns im Leib der Sprache

Modus geleistet: der Körperleib steht als ganzer, sinnlich verfasster und geistig ausgerichteter zum Sinn überhaupt in einer Akkordanz, in welcher zum einen das, worin sich der Stoff des Körperleibs zu einer sinnlich-anschaulichen und geistig erschaubaren Form ausprägt, nämlich die mit seinem Gesamtzustand korrelierende Haltung, und zum anderen das Material des dualen Modus, d.h. die konkreten Men­ schen in ihren personalen Rollen und was sie in ihre mitweltlichen, rollenhaft auszugestaltenden Beziehungen mit hineinnehmen, gleich­ förmig zueinander verlaufen, so dass die Sinngebung des Gesamtsinns eine Verkörperung annehmen kann, vergleichbar mit der Verkörpe­ rung akustisch-thematischen Sinns in musikalischen Tonfolgen, des optisch-schematischen Sinns in geometrischen Figuren und mathe­ matischen Verhältnissen. Aus diesem Grund muss eine sprachliche Artikulation möglich sein, die material-, nämlich lautgebunden dem Gesamtsinn Ausdruck verschafft. Dieser mag perspektivisch und aspektabhängig sein, doch gerade darin liegt ein Hinweis auf das Ganze, wovon die Aspekte ein Teil sind und worauf die Perspektiven eine je bestimmte Hinsicht bieten. Im Gesamtleib und das heißt im Leib der Sprache (in der sich der Leib in zweiter Potenz artikuliert) verkörpert sich der Gesamtsinn; dieser versinnlicht sich in der Struktur der Sprache – in der inneren Sprachform (langage) und der Vielfalt ihrer einzelsprachlichen Mani­ festation (langue) – und kann sich in der je anders gelagerten Rede (parole) von Mythos, Religion, Metaphysik, Philosophie, Dichtung, letztlich in jeder sprachlichen Artikulation jeweils in abgeschatteter Form ‚objektivieren‘. Die kulturellen Leistungen bzw. symbolischen Formen, die aus dem dualen Modus hervorgehen, werfen Licht auf den Gesamtsinn und sei es, dass sie damit den Schatten konturieren, der vom Gesamtsinn ausgeht, und diesen dadurch zumindest als Schatten sehen lassen, als etwas Rätselhaftes und Geheimnisvolles, das sich nicht wie ein Gegenstand den Sinnen darbietet, sondern die Anpassung ihrer Form, und das heißt der Form des leibhaften sensorium communis und dessen sprachlicher Ausdrücklichkeit, zu der Form des Gesamtsinns verlangt. Kurz: menschlicher Geist und Gesamtsinn stehen in formaler Korrelation zueinander. Alles zusammen, unter Einschluss der einzelnen sinnlichen Ver­ körperungsmodi mit ihren sinngebenden Leistungen, bildet das Kon­ formitätssystem von Sinnlichkeit und Sinn oder, anders gesagt, die Architektonik der Person in Korrelation zur Architektonik der ‚Welt‘ (die ‚alles‘ umfasst einschließlich des ‚Überweltlichen‘ und ‚Überge­

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genständlichen‘), zum geordneten Ganzen des ‚Universums‘, Alls oder Kosmos. Das Gefüge der Person artikuliert sich als Sprache und in der Sprache, und das Gefüge der Welt ist sprachlich artikulierbar. Artikulation heißt Gliederung, Ordnung, Verkörperung von Sinn. Ein Sinnganzes gibt dabei immer die mehr oder weniger bestimmte und im Rede- und Antwort-Prozess immer präziser bestimmbare Richtung an, von der die einzelnen Wörter ihre Bedeutungen erhalten. ‚Sinn‘ ist ein Relationsbegriff: Sinn umschließt eine Korrelation zwi­ schen dem, was er bedeutet, und der deutenden Tätigkeit. Das gilt für jeden gesprochenen Satz wie für den Gesamtsinn in seiner Relation zur menschlichen Lebendigkeit und zur Sprache. Der Leib ist die anschaulich gewordene Mitwelt, die Sprache seine explizite Artikulation und damit hörbar und vernehmlich gewordene Mitwelt. Mit der Gestaltung und Entwicklung von Sprache wächst und wird der Gesamtsinn, mit ihrem Missbrauch und Verfall gerät er außer Sichtweite. Im ersten Fall des achtsamen und pflegli­ chen Umgangs mit der Sprache kommt der Mensch in eine gleich­ stimmige Bewegung mit dem Sinn und in dessen Nähe. Im zweiten Fall des nachlässigen, abnutzenden, oberflächlichen und ausschließ­ lich instrumentalisierenden Sprachgebrauchs geht die Leistung des sinnlichen Verkörperns, die der Leib als ganzer zu erbringen hat, ins Leere, und überhaupt verzetteln sich dann die Verkörperungsmodi der Sinne mit ihren Leistungen. Der krampfhafte Versuch, sich auf das Gebiet des Gegenständlichen zu beschränken, blendet die Transzen­ dierung der Sprache ins Übergegenständliche aus. Die präzise propo­ sitionale oder rein diskursive Rede soll die – vermeintlich ungenaue, verschwommene und verdunkelnde – evozierende oder dichterische Sprache verdrängen und den ganzen Raum der sprachlichen Möglich­ keiten ausfüllen; und das sprechende Schweigen, das Sprachhandeln durch einsichtsvolles Nichtsprechen im Überwinden des Redens (wie es dem daoistischen Wu-wei oder der gesammelt-stillen Redeform des parā im indischen Denken entspricht, auch dem Stillwerden des christlichen Mystikers) wird als verschrobenes, anti-intellektuelles Verstummen abgetan. Damit wäre jedoch die Mehrdimensionalität der Sinnregion, die sich bereits vor- und außersprachlich in den Bereichen der Sinnlichkeit und ihrer sinngebenden Modi kundgibt, auf eine einzige verkürzt, und der menschliche Gesamtleib bliebe ebenso unverstanden wie die Möglichkeiten der ihn umgebenden und durchdringenden geistig-personalen Sphäre.

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37. Verkörperung des Übergegenständlichen: Entkörperung

Ein Beispiel dafür ist das Gesicht. In ihm ist der Gesamtleib als anschaulich gewordene Mitwelt exponiert. So ist es kein Zufall, dass Lévinas vom Appellcharakter des Antlitzes sprechen konnte. Das Gesicht ist die Resonanzfläche aller mitweltlichen, auch der sprachlichen Einwirkungen, das Schonung verlangt, um für die eigene Expressivität funktionsfähig zu bleiben. Im Gesicht wird das Überge­ genständliche, das in jedem sinnlichen Verkörperungsmodus, zumal dem dualen, mitschwingt, erschaubar, und reduziert man die Mehr­ dimensionalität der Hinsichten auf die schematisch-vergegenständ­ lichende Sinngebung, ohne dem auch darin überschießenden Plus Tribut zu zollen, sei es im objektivierenden Blick (wie ihn Sartre beschrieben hat), sei es in der Art des Ansprechens einer Person oder des Redens über eine Anwesende, dann wandelt sich deren Gesicht in eine Miene, in der sich Verletztheit mit der Unfähigkeit, eine Antwort auszudrücken, mischt; der lebendige Ausdruck erlischt.

37. Verkörperung des Übergegenständlichen: Entkörperung Dass jeder Mensch anfangen kann im Sprechen und mit jedem Spre­ chen neu anhebt, ist ein Signum seiner Personalität; und folgt man dem Konformitätssystem von Sinnlichkeit und Sinngebung, dann ist dieses schöpferische Moment zugleich ein Signum des Gesamtsinns, auf den der Leib mitsamt seiner Sprache ausgerichtet ist. Ohne ein solches Konformitätssystem hätten wir weder Geometrie noch Musik oder Tanz und Theater. Der Schritt zur Ergänzung und ‚Vollendung‘ des Konformitätssystems ist ja kulturhistorisch schon immer vollzo­ gen, wenngleich nicht stetig in die Sinnreflexion mit einbezogen worden. Zwar ist von den Sinnstiftungen der Religion, Philosophie und Literatur bzw. Dichtung die Rede, aber nicht von der exponierten Stelle, der sie zuzuordnen sind, eigentlich einem Nichtort (utopos), weil sie, wie die Person selbst und ihr Antlitz, in keiner einzelsinn­ lichen Verkörperung und Veranschaulichung aufgehen. Sie stehen dem Gesamtsinn gegenüber, der seinerseits nirgends ‚zum Stehen kommt‘, sondern ebenso beweglich, nichtfestlegbar, unartikulierbar ist wie das ‚Wesen‘ von Religion, Philosophie und Dichtung. Der Gesamtsinn und die aus dem dual-syntagmatischen Modus, sprich der ganzen Person, hervorgehenden kulturellen Leistungen bzw. geistigen Objektivationen sind aufeinander hingeordnet wie das Auge

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38. Der Gesamtsinn entzieht sich und ‚erscheint‘ als Moral

und die Geometrie, das Ohr und die Musik. Was der menschliche Geist jeweils im optisch-schematischen und im akustisch-themati­ schen Verkörperungsmodus daraus macht, wandelt und entwickelt sich, die Objektivationen beziehen sich historisch und transkulturell aufeinander und sind in der Lage, die jeweilige Sinngebung immer wieder neu zu fassen und vielfältig auszuschöpfen, das, was ihr möglich ist, zu verwirklichen, ohne dabei an ein Ende zu kommen. So ist es auch mit dem dualen Modus; dem, was auf seinem Boden hervorwächst, wohnt die Tendenz inne, die dem menschlichen Geist insgesamt entspricht: den Gesamtsinn, an dem sich alles orientiert, zu verlebendigen und insofern zu ‚verwirklichen‘ – in Verkörperungen dessen, was sich, übergegenständlich wie es ist, als Objekt entzieht. Deshalb liegt es nahe, dass diese spezifischen Verkörperungen in oder als Entkörperungen wirksam sein müssen. Solche Konstella­ tionen kennt man auch in der Malerei oder Musik, etwa, wenn damit gearbeitet wird, dass die Bedeutung des Gegenständlichen oder auch der Farbe entkörpert wird, um entgegen der herkömmlichen Anschauungsart neue Bedeutungen zu verkörpern bzw. der Malerei einen neuen Sinn zu geben; oder wenn eine Komposition durch den Einsatz von Pausen oder Geräuschen (man denke an John Cage) die Bedeutung des Tonal-Melodiösen entkörpert, wodurch ihm jedoch neue Bedeutung zuteil wird.

38. Der Gesamtsinn entzieht sich und ‚erscheint‘ als Moral Der Freiheit auf seiten der Person und ihres schöpferischen Einsatzes bei der Sprache entspricht die absolute Unverfügbarkeit des zur inneren Sprachform akkordanten Gesamtsinns. Der Gesamtsinn weigert sich beharrlich, sich als Objekt betrach­ ten zu lassen, schon aus dem Grund, weil sein Korrelat bzw. Komple­ ment, das sprachliche Selbst des Menschen oder die in Rollen, etwa denen des Sprechers und Hörers, agierende Person, sich immer nur perspektivisch auf ihn richten und ihn nicht vollkommen artikulieren kann – eine Verfasstheit, die ihrerseits dazu auffordert, deren Sinn ausfindig zu machen; dennoch übt der Gesamtsinn einen Sinndruck auf die sprachlichen Artikulationsweisen aus, dem sich insbesondere die Poesie stellt – weshalb sie als Inbegriff des vollendeten Ausdrucks zwar nicht des Sinns, auf den sich die sprachliche Expression über­ haupt richtet, aber der Menschheit bezeichnet werden konnte. Eine

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38. Der Gesamtsinn entzieht sich und ‚erscheint‘ als Moral

solche Verweigerung bei gleichzeitiger Nötigung zur Sinngebung in der artikulatorischen Sinnvorwegnahme, der gerade nicht durch gegenständliches Schematisieren, sprich Begriffsbildung, ausgewi­ chen werden kann, erzwingt eine andere Einstellung: die des Vermei­ dens oder Überwindens vergegenständlichenden, objektivierenden, verdinglichenden, terminologischen ‚Hinsehens‘ und Auffassens. Das aber bedeutet eine moralische Umkehr. Denn eine andere als die objektivierende Auffassung ist nur zu haben unter der Voraussetzung von Schonung, Übernahme der Scheu und Schamhaftigkeit dessen, was sich nicht schutzlos den Blicken des Erkennenden, der aufdring­ lichen Neugier aussetzen will bzw. kann oder darf, es sei denn, es nimmt Einbußen in Kauf an dem, was ihm wesentlich ist; kurz: die Voraussetzung einer davon unterschiedenen Auffassung ist Takt. Eine Moral des Taktes ist Bedingung der Möglichkeit der Akkordanz des leibgebundenen menschlichen Geistes zum Gesamtsinn, dem sich die Form der Sprache anpasst, anschmiegt, koordiniert, so dass sich beide, Sprache und Sinn, gemeinsam, in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander, entwickeln können. Anders gesagt: Das Entziehen des Gesamtsinns spiegelt sich in seinem Erscheinen als Moral. Der Gesamtsinn entzieht sich jeder verdinglichenden Objektivierung, und deshalb wirkt sein Sinndruck nicht primär erkenntnisleitend bzw. epistemisch, sondern moralisch auf die Verkörperungsmodi, und gerade der duale Modus macht für sein Fungieren Takt erforderlich: die Leistung des dualen Modus geht ohne einen taktvollen Gebrauch seiner Mittel ins Leere, weil ein falscher Gebrauch die Erfüllung der Wortbedeutungen unterminiert. So ist die Moral des Taktes Bedingung der Möglichkeit der Poesie als ausgefeiltester Form sprachlicher Expression; sie gewährt den Schutz dessen, was in der poetischen Äußerung ‚gegenständlich‘ wird, ohne zum propositionalen Gegenstand gemacht zu werden: das, was nicht ausgesagt werden kann, ist nicht deckungsgleich mit dem, was nicht ausgesprochen werden kann; das Schweigen an der Grenze des propositionalen Sprachgebrauchs (der Logik) ist nicht dasselbe wie das Schweigen an der Grenze der möglichen Versprachlichung überhaupt (der Poesie). Das gemeinsame Werden von Sprache und Sinn, ihre Verfei­ nerung, Vertiefung, wenn man so will: Vergeistigung, hat die Hal­ tung des Taktes zur Voraussetzung. Daraus folgt nicht, dass Poeten moralisch gute Menschen sein müssen. Aber wer auf die Poesie der Sprache zu achten versucht (und ganz allgemein auf eine Poesie des

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39. Expressivität und Gegenstandsbezug

Verhaltens, Sichhaltens und ‚Benehmens‘), kommt gar nicht umhin, sich eine Einstellung anzueignen, die durch eine doppelte Distanz – die Distanz des ‚Subjekts‘ zum ‚Gegenstand‘ und die Distanz zu sich selbst – gekennzeichnet ist. Eine solche Einstellung erzeugt Nähe zur Sache, weil sie dieser den notwendigen Raum und die angemes­ sene Zeit lässt, in der ihr zukommenden Weise zur Entfaltung und Erscheinung zu kommen, d.h. wirklich zu werden, statt einem brachia­ len Zugriff ausgesetzt zu sein. Die Sachlichkeit der Sprache bietet einen Widerstand gegen das Vereinnahmen der Sache als vorweg manipulierter oder der Manipulation preisgegebener Gegenstand, gegen ihre Herabwürdigung zum bloßen Ding, das der Gewalt des Betrachters ausgeliefert ist, und gegen ihre Positionierung ausschließ­ lich als Objekt, das dem Subjekt gegenübersteht und nur an dieser Stelle eine Bedeutung bekommt, eine subjektive Bedeutung also, während der Sache ihre objektive Bedeutung unabhängig vom Subjekt zugestanden wird.

39. Expressivität und Gegenstandsbezug ‚Sachlichkeit‘ ist von anderen Begriffen mit verwechselbarer Bedeu­ tung abzuheben. Will der Mensch überleben, so muss er instru­ mentalisieren im Sinne des Verfügbarmachens: Dinge müssen zu Gegenständen möglichen Hantierens gemacht werden, zugerichtet zu verallgemeinerten Objekten, bei denen von allem Individuell-Beson­ deren abstrahiert wurde, und deren Eigenart, ihre objektive Bedeu­ tung, man übersehen muss. Will er mehr als überleben, mehr als bloß leben, indem er die in seiner personalen Existenz angelegte geistige Lebendigkeit am Leben erhält und immer wieder zum Leben erweckt, so muss er poetisch werden: die Sachen durch das treffende Wort zum ‚Erzittern‘ bringen (Misch). Wie er beide Linien seiner conditio vereint, die biologisch-organische und die darin verschränkte geistig-sinngebende unter einen Hut bringt, das ist sein grundsätzli­ ches ‚Lebensproblem‘ (Wittgenstein) oder wohl eher: das Rätselhafte seines Lebens. Die Poesie vereint die Gegenständlichkeit der Sprache mit ihrer Ausdruckshaftigkeit, die Bedeutungen ihrer Wörter mit der affektiven Färbung im Klang – zwei Funktionen der Sprache, die sich alltagsund wissenschaftssprachlich im Wege stehen können. Die Lösung des Problems, den Gegenstandsbezug mit der Expressivität zu ver­

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40. Sachlichkeit der poetischen Sprache

knüpfen, erfolgt mit einer gegenseitigen Durchdringung, einer echten Synthese sich widersprechender Momente: das Worüber geht mit dem Wie ein Bündnis ein, in dem die bedeutungsstiftende Kraft von Klang und Rhythmus der Bedeutung des Gegenstandes nicht nur zuarbeitet, sondern diese allererst erweckt, und zwar so, dass der Sinn der ganzen Äußerung einleuchten kann, allerdings niemals in einer abgeschlossenen Vollständigkeit. Denn der Sinn, sowohl das Sinnganze eines Satzes und einer Satzreihe als auch der Gesamtsinn, steht nicht zur Verfügung. Er kann nicht ‚aufgelesen‘ oder angeeignet werden, er wird auch nicht ein für allemal ‚konstituiert‘, auch nicht ‚rekonstruiert‘ (es sei denn in der nachträglichen Rezeption etwa eines Textes, deren Sinn jedoch erneut nicht abschließend ist), sondern bei jedem Sprechen, Reden, Dichten, Schreiben in dessen jeweiligen Gang vollzogen und mitvollzogen. (Gadamer spricht von der ‚Zeiti­ gung von Sinn‘ im Gedicht oder Gespräch.) Das heißt aber auch, dass immer etwas übrigbleibt. Vorwegnahme des Sinns in der Sukzession des Sprechens bedeutet ja, dass der Sinn immer schon voraus liegt und deshalb nie eingeholt werden kann. Das ist auch der Grund dafür, dass beim Sprechen immer etwas offen bleibt; es ist unabschließbar, weil der Sinn niemals vollständig und endgültig in einer Lautfolge ‚repräsentiert‘ werden kann; und es ist unerschöpflich, weil der Bezug jeder Äußerung zum ‚gemeinten‘ Sinn unendlich aspektreich ist.

40. Sachlichkeit der poetischen Sprache Sachlichkeit ist der poetischen Sprache eigen, weil diese versucht, sich auf den jede inhaltliche Thematisierung leitenden Sinn einzulassen, und zwar so, dass jene, die poetisch ausgestaltete Artikulation, sich für diesen, den beim Artikulieren intendierten und dessen Lautund Wortfolge vorausliegenden Sinn, auch wenn er ‚bloß‘ geahnt, noch undeutlich antizipiert und unaussagbar ist, bereit macht, sich ihm anpasst und anschmiegt. Nun betrifft dieser Vorgang des auf­ einander Stimmens, des wechselseitig sich abstimmenden Formens, vorrangig die Zuständlichkeit der sprachlich Handelnden, sowohl in der Sprecher- als auch in der Hörerrolle, korrelativ zu der sphä­ risch sich ausbreitenden und in den sprachlich sich in Sukzessionen verteilenden Ausstrahlung, die von jeglichem vorwegzunehmenden Sinn ausgeht, und so mag man hier von Stimmung und Zustandsbe­ schreibung reden, auch von Gefühlen und Emotionen, die etwa in

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40. Sachlichkeit der poetischen Sprache

der Lyrik und auf der Bühne einen Ausdruck finden. Es ist aber, die Gestimmtheit als Vehikel nutzend, mehr als das: es ist der Versuch, sichtbar werden zu lassen durch Be-sprechen, dabei gerade nicht in subjektiver Emotionalität zu verharren, sondern die sprachliche Arti­ kulation objektiv werden zu lassen. Aus diesem Grund kann Dilthey der Dichtung die Funktion zuordnen, ‚Typisches‘, ‚Wesenhaftes‘ aus der Erfahrung des Menschlichen allgemeingültig auszusprechen. Die vielgestaltige Wirklichkeit des menschlichen Erlebens wird nicht auf Begriffe gebracht (wie in Wissenschaft und Philosophie), sondern in treffenden, klanglich-rhythmisch abgestimmten und semantisch gebotenen Worten ‚verdichtet‘, so dass das Individuelle dem Allge­ meinen nicht geopfert, sondern in seiner Typik herausgestellt wird. ‚Individuum ineffabile‘ heißt es zurecht, es ist unsagbar, denn jeder Versuch eines Bezeichnens scheitert daran, dass das Inkommensura­ ble des Individuellen nicht an ein ihm äußerliches Maß gehalten werden kann, es sei denn, um zu dokumentieren, dass es in dieser Weise in keiner Rechnung aufgeht. Aussagende Wortfolgen, die verallgemeinern und von dem Besonderen abstrahieren müssen, sind immer eine Fremdwährung. Das Individuelle ‚spricht‘ sich aber selbst aus: in seinem für es selbst ‚typischen‘ Erscheinen, und dazu gehört beim Menschen das Sprechen und Aussprechen, Hören und Zuhören – in einem je persönlichen Stil, der bei mangelndem Formbewusstsein und einem Defizit an Kontextsensitivität zur Manier werden kann. Schiller schreibt in seinem Briefwechsel mit Körner (veröffent­ licht unter dem Titel Kallias oder über die Schönheit) von den Fesseln, die die Sprache durch die Allgemeinheit ihrer Worte und Grammatik der sinnlich einzigartigen Erscheinung anlegt, aber umgekehrt ist es gerade die Form der sprachlichen Artikulation, die das, was undeutlich im Strom des Erlebens, Empfindens und Wahrnehmens mitgerissen wird und dabei seine klaren Umrisse und Grenzen zu verlieren droht, heraushebt, ins Verhältnis setzt zu anderen Momenten des Erlebnisstroms und zu diesem selbst. Das mit sprachlichen Mitteln Darzustellende scheint, so Schiller, aus dem Darstellenden hervor, wenn es gelingt, die Form über das Sprachmaterial mit seiner Tendenz zur Verallgemeinerung ‚siegen‘ zu lassen. Das poetische Formen geht das Sichaussprechen des in seiner Einzigartigkeit Erscheinenden mit und lässt es zu Wort kommen – bringt es poetisch zum Sprechen, so wie es, als ein gesondertes Ding der Natur oder der Phantasie, sprechen würde, hätte es denn Anteil an der Menschensprache, oder so wie es, als individuelle Person, selbst

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41. Die Struktur der Dauer beim Sprechen

spricht bzw. spräche, gelänge es ihr denn, von ihrer Freiheit ‚Gebrauch‘ zu machen. In solchem Erscheinenlassen liegt recht eigentlich der Sinn des Sprechens und der Sprache. Sie schafft es nicht auf einen Schlag, sondern in der ihr eigenen Weise der sukzessiven Lautung im ‚Worten der Welt‘ (Weisgerber), so aber, dass die Sukzession weder in der Produktion noch in der Rezeption als ein Nacheinander von gegenei­ nander isolierten Teilen verläuft, sondern als ein Ganzes aufgefasst wird. Es ist ein merkwürdiger Vorgang, der dem ähnlich ist, was Bergson als Dauer beschreibt.

41. Die Struktur der Dauer beim Sprechen Die Sukzession beim Sprechen ist derart gestaltet, dass sie nicht abzählbar vor sich geht, etwa so wie die Schläge einer Uhr, der wir nicht ständig unsere Aufmerksamkeit zuwenden, zur vollen Stunde. Bergson hat darauf hingewiesen, dass wir, wenn wir uns gerade auf etwas anderes konzentrieren, auch diese Glockenschläge zunächst nicht quantitativ, sondern qualitativ wahrnehmen, sich durchdrin­ gend und ineinander aufgehend, d.h. als Dauer (durée), die sich erst beim im Nachhinein erfolgenden Zählen – man fragt sich, wie oft es gerade geschlagen habe – in den Raum entfaltet. Dauer und Bewegung seien eben keine Dinge, die der rechnend-mechanistischen Auffassung unterliegen, sondern ‚Synthesen des Geistes‘. Diese könne man aber nicht zerlegen wie alles Räumlich-Ausgedehnte. Reale Dauer sei, so Bergson, die als unteilbar wahrgenommene Zeit. Zur Erläuterung wird von Bergson ein weiteres Beispiel genutzt, das häufig zur Beschreibung der Merkmale des Übersummativen von Gestalten verwendet wird: die Melodie. Sobald wir die aufeinander­ folgenden Noten zu abzählbaren Tönen zergliedern und dadurch verräumlichen, geht ihr thematischer Sinn verloren; in der hörenden Erfassung ihrer qualitativen Dauer ist die Melodie eine dynamische Einheit in der Vielheit ihrer ‚Momente‘, die nicht mechanisch, sondern organisch strukturiert sind, demzufolge sich durchdringen und ver­ schmelzen. Man nimmt nicht die Teile abgesondert wahr, sondern ihre Dauer, das über die Summe der Teile hinausgehende Ganze, die Gestalt der Melodie. Allerdings bezieht Bergson diese Einsicht nicht auf die Sprache. Er sieht, im Gegenteil, in der Sprache zunächst dieselbe Einstellung am Werk, wie sie die mechanistisch verfahrenden

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41. Die Struktur der Dauer beim Sprechen

Wissenschaften haben: eine auf die technische Praxis gerichtete, so dass die Sprache unfähig sei, etwa Empfindungen im Ausdruck wiederzugeben – wobei er dann den Dichtern und seinen eigenen Versuchen, für die philosophischen Fragen eine angemessene Sprache außerhalb des Szientismus zu finden, zugesteht, dem Dilemma ent­ kommen zu können, in dem die Sprache sich befinde: die Probleme, die sie bzw. der philosophierende Sprecher im Medium der Sprache aufwirft, mit demselben Medium selbst zu erzeugen. Es ist aber die Frage, ob nicht in besonderem Maße die Spra­ che, genauer: das sich hier und jetzt vollziehende Sprechen (und Hören oder Lesen) just die als Dauer beschriebene Struktur aufweist, nämlich, was die Laute als Material der Sprache betrifft, sukzessiv und ineinander ‚verschmolzen‘ zu sein, ohne auf Kosten der Bedeu­ tungsfunktion in seine Teile zerlegt werden zu können. Die Laute folgen aufeinander, aber nicht in der Weise einer räumlich-homo­ genen Ausdehnung (auch wenn die Töne ein raumhaftes Volumen haben), sondern so, dass die Einheit in ihrer (heterogenen) Vielheit mitgesprochen und mitgehört wird. Diese Artikulationseinheit ist der Sinn, der den Klang und die Wortbedeutungen vorzeichnet, und der umgekehrt von diesen verkörpert wird. Die Laute werden als unteilbar wahrgenommen; sobald sie zerlegt werden, geht die sinnhafte Artiku­ lationseinheit verloren, und der Linguist oder Sprachphilosoph stellt sich dann das unlösbare Problem, wie Bedeutung, Sinn, ‚meaning‘ in die Abfolge der getrennten Teile hineinkommen. Das Wahrnehmen der lautlichen Artikulationseinheit als unteil­ bar verweist auf das Übergestalthafte des lautlichen Klangs, von dem oben die Rede war, auf die doppelte Synthesis: die der Satzeinheit und die der bedeutungstragenden Einheit des Klangs. Sprache gehört in die Dimension der Dauer, auch wenn sie raum­ hafte Momente aufweist und ihrerseits zu räumlichen Darstellungen fähig ist. Nur dann lässt sich der Vorgang der Sinnvorwegnahme verstehen, der sich im Vollzug ereignet. Ein wesentliches Moment, das die Dichtung auszeichnet, ist ihre Fähigkeit, dem Zwang zur räumlichen Sequenzierung der Zeit zu entgehen und stattdessen das zu artikulieren, was Bergson das tiefere Ich nennt und von dem Oberflächen-Ich unterscheidet, das sich seinerseits der Homogenität des Raums einfügt, dabei aber Gefahr läuft, die ‚geistigen Synthesen‘ zu zerschlagen und damit sich selbst zu entpersonalisieren.

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42. Das Werden und die Form

42. Das Werden und die Form Bergson operiert mit den Begriffen des Bewusstseins und des Ichs. Setzt man stattdessen den dualen Modus in seiner herausgehobenen Funktion für die Verkörperungsmodi ein, denjenigen Modus also, in dem Ich und Wir ineinander verschränkt sind und die anderen Modi zu einer Synthese zusammengeführt werden, dann lässt sich die Ein­ sicht Bergsons neu fassen. Anders gesagt: diese kann in den Rahmen des Konformitätssystems von Sinnlichkeit und Sinngebung gestellt werden. Dann lässt sich zeigen, wie die Korrelationen innerhalb dieses Systems so ineinander wirken, dass die oben aufgeworfenen Fragen im Hinblick auf die Konkordanz von Sprache und Gesamtsinn einschließlich der dabei wirksamen Akkordanzen sowie das Werden der Person bzw. der Persönlichkeit weiter präzisiert und bearbeitet werden können. Das Verb, das dem nominalen Begriff durée zugehört, durer, kann im Deutschen mit ‚fortbestehen‘ wiedergegeben werden. Das Sprechen ist ein Fortgang von Laut zu Laut, von Silbe zu Silbe, von Wort zu Wort, d.h. ein stetiges Übergehen, das überdies Zäsuren kennt, die ebenso bedeutungstragend sind wie das Fließen der Artiku­ lation. Was in diesem Werden ebenso wie im Werden des sprechenden Individuums, der Person, die sich zur Persönlichkeit entwickelt mit einem Stil und einer Haltung, fortbesteht, ist die Form bzw. die Suche nach der Form, die im beständigen und stets im Werden befindlichen Formen selber liegt. Es gilt die Form zu finden und zu wahren, zuvör­ derst um verständlich zu sprechen und verstanden zu werden. Dabei dürfen die Situation und die daran Beteiligten nicht aus den Augen verloren werden. Die der Sache, dem Anliegen, den Intentionen und den Erfordernissen der Angesprochenen angemessene Sprache zu finden, heißt zugleich, nicht aus der Rolle zu fallen, sei es der des Sprechers oder der des Hörers, die ja überdies in einer Person vereinigt sind. Mit der sachgerechten Form hat man sich zugleich selbst zum Einsatz zu bringen, es mit ‚Leib und Seele‘, als ganze Person zu tun, d.h. mit einer bestimmten Haltung. Das hat weitreichende Folgen, die jeder aus eigenem Erleben beim Sprechen kennt. Nicht bei der Sache zu sein heißt, als Person nicht anwesend zu sein. Etwas zu seiner Sache machen heißt, es mit seiner Person zu vertreten. Nicht über eine Sache zu sprechen, aber dennoch miteinander zu reden (etwa in zufälligen Alltagsbegegnungen), verlangt danach, die sachlich diffuse oder neutrale Situation zur Bestätigung der anderen Person zu nutzen.

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43. Sprache und Sprechen – Werden und Gewordenes

43. Sprache und Sprechen – Werden und Gewordenes Zum sprachlichen Teil des Konformitätssystems, dem dual-syntag­ matischen Modus, zählt, wie oben erörtert wurde, die Freiheit des Anfangenkönnens, verbunden mit der Fähigkeit, mit dem ‚Bestand‘ der Sprache schöpferisch umzugehen. Das zeigt sich u.a. darin, wie bereits kleine Kinder, im Unterschied zu Primaten, auch zu solchen, die mit ihnen gemeinsam aufwachsen, mit den Lauten spielen, um ihr Sprechinstrumentarium zu schulen; es handelt sich dabei nicht um ein papageienhaftes Nachmachen, sondern um einen je ihnen eigenen Einsatz ihrer Kräfte. Auch kennt man zahlreiche Beispiele dafür, wie Kinder gemeinsam eine nur ihnen zugängliche ‚Geheimsprache‘ ent­ wickeln. Nun sind Bergsons zentrale Leitideen, die sich mit der durée ver­ knüpfen, Freiheit und Schöpfertum bzw. schöpferische Entwicklung. Die Zeit ist nicht ausgedehnt wie der Raum, sondern als ‚Dauer‘ ist sie Zeugung und Schöpfung; in jedem Moment schafft sie Neues, und darin liegt, paradoxerweise, das nichträumlich zu verstehende Stetige der Dauer. Damit hat sich Bergson, zumal mit dem von ihm postu­ lierten Prinzip eines élan vital, die Vorwürfe einer Hypostasierung des Lebensbegriffs und der spekulativen Metaphysik eingehandelt. Bergsons Kritik am mechanistischen Zeitbegriff erweist jedoch im Rahmen der Verkörperungsmodi ihre Berechtigung. Zeit als Dauer ist Formung, die stetig neue Formen kreiert, wobei das Formende selbst fortbesteht. Denn es bedarf bei allem Werden, Wandel, Sichverändern eines Anhalts, einer Haltung, eines Rückgrats, das im ‚Fluss‘ des Werdens und Formens den Fortbestand – die Form – dessen sichert, was da im Werden begriffen ist. Cassirer hat das in die Relation zwischen forma formata und forma formans gefasst, ein Wechselspiel zwischen dem Gewordenen und dem Prinzip des Werdens, so dass er methodisch zum einen quasi-transzendental vom Gewordenen aus Rückschlüsse zum Prinzip des Werdens ziehen und zum anderen im Mit- oder Nachvollzug des Formens die (symbolischen) Formen in Gehalt, Funktion und Leistungsfähigkeit sowie ihre Leistungsgrenze verstehen konnte. Diese Konstellation ist für die Sprache und das Sprechen in besonderem Maße kennzeichnend und gültig. Hinzu kommt, dass Sprache andere symbolische Formen trägt, durchdringt, maßgeblich bestimmt und transzendiert, etwa den Mythos, die Reli­ gion und die Wissenschaft, so dass ihre Funktion nicht mit den Gren­ zen einer bestimmten Form zusammenfällt. Andererseits gehört zu

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44. Die Sinngeltung der Würde

jeder dieser Formen eine je ihr zugemessene Weise des Sprechens und der Sprache. Zumal die Philosophie als eine Form des Denkens, die bestrebt ist, einen Überblick über alle anderen Formen zu gewinnen und eine ‚universale‘ Perspektive einzunehmen, setzt stets neu an und ist bei jeder Neuschöpfung zugleich darauf verwiesen, ihre je eigene Sprache zu finden.

44. Die Sinngeltung der Würde In der Philosophie ist das, was dem Menschen überhaupt in seinem Welt- und Selbstverhältnis eigen ist, so auf die Spitze getrieben, dass es deutliche Konturen gewinnt. Denn die Philosophie ist jene Denkform und, wenn man so will, ‚Fach‘-Disziplin, die das Ganze von Mensch und Welt in den Blick nimmt und dessen Bedeutung oder Sinn in selbstreflexiver Einstellung zu verstehen sucht – das ist das ‚Fach‘ des Philosophen. So zeigt sich im Vollzug des Philoso­ phierens und in dessen ‚Resultaten‘ (zumeist in Texten aufbewahrt) die Wirksamkeit des Konformitätssystems von Sinnlichkeit und Sinn­ gebung mit seinen Korrelationen in besonderem Maße: sie zielt darauf ab, die im Konformitätssystem von Körper und Geist liegende Vollständigkeit, die nichts anderes meint als die Einheit der Person in der Mannigfaltigkeit der Verhältnisse, in denen sie sich findet und die sie gestaltet, nicht mechanisch und durch äußeren Zwang zustandezubringen und zu sichern, sondern schöpferisch zu entwi­ ckeln unter der Bedingung der Freiheit des Anfangenkönnens. Der Zug zur Vollständigkeit ist der Grund für die starke Tendenz zu einer systematischen Form der Philosophie, der freie Einsatz mit dem eigenen Anfang der Grund für den Gegenzug ins Aphoristische und Dithyrambische, betont Anti-Systematische. Was jedenfalls der Philosophie (als derjenigen ‚Disziplin‘, die mit der Einheit der Person korreliert) Halt und Orientierung gibt, ist nicht wie bei der Wissenschaft ein bestimmter innerweltlicher Gegenstand, nicht wie in der Religion eine feste Glaubensüberzeugung, und nicht wie im Mythos das magisch-kausale Band zwischen übersinnlich wirkenden Naturkräften und Mensch oder zwischen Makro- und Mikrokosmos, sondern etwas, das keiner ontischen Größe entspricht, das ontologisch gesehen ein Nichts ist, nämlich das, was der Mitwelt, sprich der Person einen Boden verleiht, den sie ‚von Hause aus‘ nicht hat. Jeder einzelne Mensch, zwar Glied der Mitwelt, weiß, dass er

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44. Die Sinngeltung der Würde

keinen Boden unter den Füßen hat; er muss mit einer existenziellen Unsicherheit umgehen lernen. Als Einzelner ist er den Fährnissen des Lebens ausgesetzt und dem Tod geweiht, der jederzeit eintreten kann, und jeder stirbt seinen eigenen Tod, auch wenn versucht wird, die Umstände des Sterbens wie die Lebensumstände zu verallgemeinern; und nicht nur das – jeder lebt mit dem Risiko des Scheiterns bei allem, was er anfängt. Jeder bewegt sich auf der abschüssigen Bahn der Entkörperung. Aber diese Bodenlosigkeit ist nicht das letzte Wort. Als Person fungiert und agiert jeder in den Rollen, in denen er sich findet und die er, z.B. mit einem Beruf, wählt. Solches Agieren spielt sich ab im dualen Modus, und dieser zwingt einerseits jeden, in die zwischenleibliche Sphäre einzutreten, dem Anderen ins Antlitz zu schauen und, da jeder für sich selbst nicht durchsichtig ist, sich selbst darin, wie in einem Spiegel, zu ‚erkennen‘, und schließlich sich sprechend verständlich zu machen und zuhörend Resonanz zu geben – all das, was unter dem Stichwort der Reziprozität verhandelt wird und die sogenannte negative Reziprozität mit einschließt; andererseits kann der duale Modus nur unter der Bedingung des freien Zugriffs auf seine ihm eigenen Elemente, all das, was in das Denken und Reden, Fragen und Antworten, Verstehbarmachen und Verstehen eingeht, seine Leistungsfähigkeit erweisen: Bedeutung und Sinn zu verkörpern – innerhalb des Spielraums, der sich mit dem dualen Modus auf der bodenlosen Grundlage der entkörperten Mitwelt und im Zusammenspiel der Verkörperungen mit ihrem Widerlager, den Entkörperungen, eröffnet. Diese ‚Kooperation‘ mit dem Widerlager ist notwendig, weil es ja für neuschöpfende Verkörperungen voraus­ gesetzt ist, zunächst, wie oben am Beispiel der Metapher gezeigt, im ‚Vollzug‘ und Erleiden von Entkörperungen Bedeutung und Sinn so zu entleeren, dass diese sich wandeln und in neue Verkörperungen eingehen können. Da nun den Personen als Gliedern der Mitwelt und Trägern des dualen Modus kein eigenes Sein zukommt, müssen sie sich, um sein zu können, Geltung zugestehen, wiederum im dualen Modus, was sich in der wechselseitigen Achtung und der damit einhergehenden Selbstachtung als Voraussetzung jeglicher Gestaltung von Zwischen­ leiblichkeit inklusive des Miteinanderredens ausdrückt. Sie schreiben sich – und müssen es tun, da sie doch im dualen Modus leben, und sind frei es zu tun, da keine naturkausale Notwendigkeit dazu besteht – etwas zu, das als ‚unantastbar‘ gilt, da ihm keine ontische Größe entspricht, das aber, über alles Sein hinaus, allein durch

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45. Zwei Bedeutungen von Würde

diese Zuschreibung Geltung gewinnt: das Merkmal der Würde, das keine Seins-, jedoch eine Sinngeltung hat. Insofern der menschliche Leib Träger der Würde ist, mag sie antastbar sein, aber es ist ja gerade die Verletzlichkeit und Ausgesetztheit des Leibes, die die Unabdingbarkeit der Sinngeltung für den Schutz der zerbrechlichen Person erforderlich macht; und noch das Antasten des Körperleibs (einschließlich der Seele, der er Ausdruck verleiht) zeugt mit der Empörung, die darauf folgt, von der Unantastbarkeit der Würde. Das gilt zumal für den Leichnam. Ihn umgibt ein besonderer Nimbus, der (in der Regel) einen würdevollen Umgang mit ihm auslöst. Ohne die Geltung der Würde kein gelingendes Fungieren des dualen Modus, ohne dualen Modus kein Boden, auf dem die Person zu stehen kommt, ohne solchen Boden keine Realisierung der Mitwelt und keine mögliche Ausbreitung der Sphäre des Geistes mit der ent­ sprechenden, leiblich spürbaren Atmosphäre. Ohne die Sinngeltung der Würde, genauer: ohne die Einlösung ihres Geltungsanspruchs, keine wechselseitige Achtung der Personen füreinander als Voraus­ setzung der freien Übernahme von Sprecher- und Hörerrolle. Ohne die Rollenübernahme (mit allem, was dazugehört: Lernen, Üben, freies Gestalten der Rollen inklusive der dazugehörigen Sprachfor­ men und Sprechakte) keine Entwicklung der Person zu einer Persön­ lichkeit, die ihre individuellen Eigenheiten mit dem Allgemeinen der Person, ihres Einstehens für die Menschheit, vereint.

45. Zwei Bedeutungen von Würde Es ist der Name der Würde, der sich für die alles übergreifende Form des Menschen, die ihm immer schon Halt verleiht (forma formans) und die stets zugleich im schöpferischen Werden begriffen ist (forma formata), eingebürgert hat. Er weist eine Fülle von Konnotationen auf, politische, juristische, kulturelle u.v.a. Inzwischen wird, etwa aus posthumanistischer Sicht, aber auch aus einer analytischen Perspek­ tive, die das zu Erfassende von vornherein zergliedert, das an die Geltung gebundene ‚Sein‘ der Würde geleugnet; oder sie wird als Begriff und philosophisch-ethisches Konzept, mit dem sich sinnvoll arbeiten ließe, abgelehnt. Das gelingt deshalb so leicht, weil der Würde in der Tat nichts Ontisches entspricht. Trotz aller Einwände und im Gegenzug gegen zerlegende Ver­ fahren kann im Anschluss an das Konformitätssystem Folgendes

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45. Zwei Bedeutungen von Würde

festgehalten werden. So wie die Handlung, z.B. im geometrischen Konstruieren, dem schematischen Modus entspricht, und so wie der Ausdruck, etwa in Musik und Tanz, dem thematischen Modus, ist Würde die Haltung (und Philosophie die ‚Denkform‘ oder ‚Disziplin‘), die mit dem dualen Modus korreliert als demjenigen, in und mit dem die ganze Person fungiert, sowohl sinnlich-körperlich als auch geistig. In ihr durchdringen die ‚Teile‘, die Momente der menschlichen Person, einander und verschmelzen zu jener synthetischen Einheit, die wir als Persönlichkeit kennen und die in Rollen agiert, welche der Person Gelenke und Gelenkigkeit geben, Rollen, die ihrerseits von der Person getragen werden. Wir gestehen ihr selbst dann Würde zu, wenn sie in ihrer Haltung keine zeigt, etwa bei Trunkenheit oder im selbsterniedrigenden oder andere abwertenden Verfehlen des rechten Tons. Selbst als bloß Beteiligter oder als Beobachter ist uns der offensichtliche Haltungsverlust, das expressive Versagen hin­ sichtlich der eingeforderten und zugestandenen Würde, peinlich, auch wenn wir in der konkreten Situation nichts dazu beigetragen haben. Denn die Mitwelt bzw. ‚Menschheit in unserer Person‘ (Kant) bindet die Glieder der Mitwelt so eng aneinander, dass sie sie zu ‚Einem Menschen‘ (Plessner) macht, zu einer ursprünglich-synthetischen Einheit, die Voraussetzung ist zum einen für die Individuierung, das konkret-empirische Zerfallen der Menschheit in unzählige Einzelwe­ sen und die Integrität der Einzelperson als Mensch unter Menschen, zum anderen für die mögliche Identifikation mit dem anderen – was über die Spiegelung im anderen, von der oben die Rede war, noch hinausgeht –, und zwar gerade in solchen Situationen, in denen, um es mit einer Formulierung von Karl Löwith zu sagen, ein Individuum aus seiner Rolle als Mitmensch gefallen ist. Aus dieser mitweltlich-personalen Struktur resultieren zwei Punkte, deren reale Verflechtung im obigen Beispiel deutlich vor Augen tritt und auf die immer wieder, wenngleich mit je verschiede­ ner Schwerpunktsetzung, hingewiesen worden ist. Erstens impliziert die Menschenwürde einen unhintergehbaren Geltungsanspruch, der interaktiv stets eingelöst werden muss, aller­ dings nicht unter äußerem Zwang, sondern unter der Leitung des freien Willens, der theoretisch nicht nachweisbar, jedoch praktisch von unabdingbarer Bedeutung ist. Geschieht dies nicht, führt das zu einem Defizit mit sozialen, politischen und psychischen Folgen. Damit ist eine Dynamik verknüpft, in deren Folge die Würde einer Entwicklung unterworfen wird, die sich als moralische Entwicklung

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45. Zwei Bedeutungen von Würde

mit zu durchlaufenden Stufen beschreiben lässt: als sich vertiefende und ausweitende Perspektive, die jeder Mensch einnimmt, sich selbst und anderen gegenüber, sobald er in eine Interaktion und speziell in ein Gespräch eintritt. Diese Perspektive lässt sich weder hintergehen noch ist sie eine bloß individuelle, jederzeit gegen andere Perspekti­ ven austauschbare. Aus diesem Grund muss sie mit dem Sinn des Sprechens und der Sprache überhaupt, dem Gesamtsinn, nach dem oben gefragt wurde, gekoppelt sein. Zweitens und damit zusammenhängend hat Würde zweierlei Bedeutung, was immer wieder zu Verwirrung führt, auch in der ethi­ schen Theoriebildung. Der Mensch hat Würde bzw. ihm wird Würde zugesprochen, weil er – stets auf dem Weg, sich zur Persönlichkeit zu bilden – Person ist, und insofern betrifft sie die im ersten Punkt erwähnte Sphäre der Sinngeltung, die eigentlich irreal ist, denn ihr eignet nichts Ontisches. Würde zeigt sich aber auch in der Auffassung und Handhabung der ‚Sachen‘, der Dinge der Welt und anderer Per­ sonen einschließlich seiner selbst. Insofern kann man von würdevol­ lem und würdelosem oder unwürdigem Verhalten sprechen, es drückt Würde aus, mal mehr, mal weniger. Das Sprechen selbst zeugt davon, es ist formende Form, die Grammatik einer Sprache ist davon geformte Form, und so wie sich die Expressivität des Menschen in der Sprache potenziert, so steigert sich in ihr der Ausdruck der Würde, aber auch sein Misslingen. Das lässt sich daran erkennen, wie im All­ gemeinen versucht wird, beim Sprechen und Reden keinesfalls ein schlechtes Bild abzugeben. Beide Bedeutungen von Würde, die gel­ tungsbezogene und die expressive, gehen in das Sprechen und Reden ein, und zwar in Verbindung mit der oben (Nr. 38) erwähnten Dyna­ mik der Entwicklung, die aufgrund des Sinndrucks des Gesamtsinns eine moralische ist. Wäre es anders, dann könnte die Entwicklung der Person, der mitweltlichen Manifestationen in Kultur, Gesellschaft und Politik sowie der Menschheit und ihrer Geschichte als erkenntnis­ theoretische und epistemisch zu bewältigende betrachtet, daraufhin entsprechend angestoßen, in die Wege geleitet und zu einem Abschluss gebracht werden. Letztlich ist das der Versuch aller tech­ nischen Lösungsvorschläge, die am Ende in post- und transhumanis­ tische Theorien münden; diese zielen aber an der Wirklichkeit des menschlichen Lebens vorbei, möchten seine Lebendigkeit ausschalten und durch digitalisierte Kunstformen ersetzen. Aus diesem Grund sind jene Theorien gezwungen, den Begriff der Würde zu perhorres­ zieren.

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46. Sich verlieren, um sich zu gewinnen – Einheit des Sinns und Einheit des Selbst

46. Sich verlieren, um sich zu gewinnen – Einheit des Sinns und Einheit des Selbst Jeder Mensch ist darauf aus, sich nicht zu verlieren. Das geschieht ihm, wenn er in der Vielfalt seiner Tätigkeiten, in der Mannigfaltigkeit seiner Wahrnehmungen und im diffusen Strom seiner Empfindungen und Gefühle keinen Zusammenhang erschließen, keine Einheit bilden kann, in der sich alles, was in seinen ‚Gesichtskreis‘ gelangt, bündelt. In dieser ‚synthetischen Einheitsbildung‘ liegt, Cassirer zufolge, eine der zentralen geistigen Funktionen der Sprache. Sie übt sie aus mit dem Mittel der Vergegenständlichung durch Benennen, Bezeichnen, Namengeben. Damit stellt der Mensch sich die ‚Dinge‘ gegenüber, die Verhältnisse, in denen er lebt, die anderen Menschen und sich selbst. Er selbst nimmt die Zügel in die Hand. Andererseits (und mit Anklang an das biblische Paradox, etwa bei Matthäus 16:26, vom Gewinn des Lebens bzw. der Seele durch in Kauf genommenen Verlust): Jeder Mensch muss in der Lage sein, sich verlieren zu können. Es ist der Versuch jedes Künstlers, sich in das hineinzufühlen und hineinzudenken, was er in eine bildnerische, musikalische oder poetische Form bringen will. Allgemein gesagt: Um sich alles gegenüberstellen zu können, einschließlich seiner selbst, genügt es nicht, bei sich zu bleiben. Man muss sich außerhalb seiner selbst stellen, dort sein, wo man selber nicht ist, und in das ‚eingehen‘, was einem fremd ist. Das kann wiederum bildnerisch oder musika­ lisch gelingen, vor allem aber auch poetisch. (Hofmannsthal zufolge, in seinem Gespräch über Gedichte, ist es die ‚Wurzel aller Poesie‘, sich in einem fremden Dasein aufzulösen.) Denn in einem solchen Herausgehen aus sich selbst liegt ein Wesenszug des Verhaltens zur Sprache überhaupt; er manifestiert sich bereits im Lautgeben: Laut und Klang tönen aus uns heraus, bilden ein eigenes, uns äußerliches Medium, das uns einerseits sphärisch umgibt, dem wir uns anderer­ seits gegenüber sehen und aus dessen Mitte sie zu uns zurückkehren wie etwas, dem gegenüber wir uns erneut positionieren können und müssen, und das wird noch verstärkt durch die lautgebende, klanglich je ‚eigen-sinnig‘ gestimmte Resonanz anderer Personen. In dieser Hinsicht ist es vergleichbar mit der Unsichtbarkeit unseres eigenen Gesichts für uns selbst; unser visueller Ausdruck erzeugt beim ande­ ren eine zwar wiederum eigensinnige, aber von uns hervorgerufene, angeregte, nahegelegte oder regelrecht erzwungene Resonanz, die auf

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46. Sich verlieren, um sich zu gewinnen – Einheit des Sinns und Einheit des Selbst

unsere Selbstwahrnehmung, eigene mimische Expression und unsere Selbstreflexion zurückwirkt. Überdies ist es dieser Wesenszug des Aus-sich-Herausgehens, der der oben mit Sachlichkeit bezeichneten Grundtendenz der Spra­ che zuarbeitet; und mit dieser Sachlichkeit unterscheidet sich das sprachliche Erleben vom bildnerischen und musikalischen, weil jenes Selbstreflexion einschließt und ermöglicht, diese jedoch eher einem Gefühlseindruck zuarbeiten oder gar das ‚ozeanische Gefühl‘ (Romain Rolland) ansprechen, das uns unterschiedslos überschwemmt. Die Tatsache, dass solche Emotionen, unmittelbare ‚Empfindungen‘, gar nicht oder nur rudimentär in Sprache übersetzt werden können, gilt als deren Defizit, als der blinde Fleck ihrer Vermitteltheit und Distanziertheit gegenüber dem ‚Unmittelbaren‘; dabei ist es doch gerade ihre Stärke, nicht bloß Ausdruck eines Affekts zu sein, sondern sich mit ihrer Form durchlässig zu machen für das, was durch die Worte und den Klang hindurch, im Ab-,Sehen‘ von diesen, allererst Konturen erhält. Musik bleibt im Affektiven, auch wenn sie dies in eine allgemein verständliche ‚Symbolik‘ fasst; sie ist, wie Susanne K. Langer sagt, der ‚logische Ausdruck der Gefühle‘ und als solche eine präsentative Form der Expression. Sprache ist auch affektiver Ausdruck, fügt dem jedoch mit ihrer diskursiven Form die Sachhal­ tigkeit hinzu; sie ersetzt nicht den musikalischen Ausdruck und den Eindruck, den der Hörer empfängt (das ist auch gar nicht ihre Aufgabe), aber sie kann – vornehmlich in Gestalt des Dichters oder Musikphilosophen – durchsichtig machen, was dabei geschieht, und damit den musikalischen Genuss noch vertiefen. Sprache steht uns gegenüber wie eine fremde Macht, der wir uns zu unterwerfen haben, und wir müssen uns ihr nähern, sie uns zu eigen machen, ohne uns oder ihr Gewalt anzutun. Sie entfernt uns von uns selbst, sie führt uns zu einer Sach- und Selbstdistanz, die sich dann aber als Voraussetzung der Einheit des Gegenstandes wie auch unseres Selbst erweist. Wer, sein Selbst bildend, zur Sprache findet, der findet die Sprache für das, was zum Ausdruck drängt – und am Ende sich. So meint das Sichverlieren die Hingabe an eine Sache, um sich zu gewinnen – über den vermeintlichen Umweg der Sprache, der aber der direkteste Weg zur Sache ist, die ja erst einmal benannt sein muss, um aus der unübersichtlichen Welt der Dinge heraustreten und sichtbar werden zu können; und dieses Vergegenständlichen durch Benennen oder Bezeichnen hatte sich gerade als eine Voraussetzung der synthetischen Einheitsbildung, die die Einheit des Selbst bzw. der

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47. Hermeneutische Bewegung

Person einschließt, herausgestellt. Es darf bei diesen Überlegungen aber nicht vergessen werden, dass der bedeutungstragende Klang maßgeblich zur Einheitsbildung beiträgt. Er verbündet sich mit dem Benennen und Bezeichnen, ermöglicht nicht nur das Wiedererkennen und Wiederholen, sondern auch das Variieren, Erneuern und Verwan­ deln sowohl mit Bezug auf die Einheit des Sinns, der ja nicht einfach gegeben ist, vielmehr sich mit der freien Rede, d.h. einem Sprechen, das sich Klischees und Floskeln verweigert, einem je neuen Aufbau öffnet, als auch hinsichtlich der Einheit des Selbst, das sich mit den Variationen seiner Rede neu ordnet und stetig entwickelt. Sinn und Selbst organisieren sich parallel zueinander und ineinander wirkend. Eine entscheidende Rolle dabei spielt der Klang, der sogar einer abge­ droschenen, bedeutungslos gewordenen Phrase durch seine Tönung – man könnte geradezu von einer neuen Vertonung sprechen – wieder Bedeutung geben und einen nachvollziehbaren Sinn beilegen kann.

47. Hermeneutische Bewegung Der Mensch lebt in einem Verhältnis zur Zeit, das weder als mathema­ tisch-physikalisches noch als biologisches beschrieben werden kann. Weder zählt er die Stunden, Tage, Monate, Jahre ab, die er gelebt hat oder die er vermutlich leben wird, und misst deren Ablauf, noch kann die biologische Uhr, die u.a. das Wachen und Schlafen in seine zeitlichen Schranken weist, das Regiment über seine Lebenshaltung und sein lebendiges Verhalten vollständig übernehmen. In Wirklich­ keit lebt er, als ob seine Zeit weder einen Anfang gehabt hätte noch ein Ende haben wird. Das ist nicht einer Verdrängung der Gewissheit von der knapp bemessenen Lebenszeit geschuldet; selbst wenn er sich reflektierend bewusst macht, dass er z.B. in einem höheren Alter unter glücklichen Umständen nur noch wenige Jahre zu leben hat, lässt er diese aus einer empirisch-naturwissenschaftlichen Reflexion resultierende Einstellung hinter sich und findet gleichsam unwillkür­ lich zur Lebenseinstellung zurück, die sich auf die Gegenwart richtet, sich der Gegenwärtigkeit der Zeit als Dauer einerseits überlässt, sie andererseits so vollzieht, dass entweder von erfüllter Zeit oder von vertaner Zeit die Rede sein kann. Eine solche Unterscheidung ist nicht mittels des Begriffs einer physikalisch messbaren oder die den Organismus und seine vegetativen Funktionen beherrschenden Zeit zu treffen – weder die physikalische noch die biologische Zeit

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47. Hermeneutische Bewegung

lässt sich erfüllen oder vertun –, sondern nur aufgrund einer in der eigenen Lebendigkeit erfahrbaren Bewegung vom Sinn her und zum Sinn hin, einer wiederum nicht physikalisch oder biologisch zu verste­ henden Bewegung, sondern einer solchen, wie sie im dualen Modus überhaupt und mit besonderer Prägnanz beim Sprechen durch die in der Artikulation vollzogene Sinnvorwegnahme und das ‚Wunder‘ des Sinnverstehens beim Hören wirksam wird. Man kann sie deshalb eine hermeneutische Bewegung nennen. Sie fundiert, nach Maßgabe der als Dauer verstandenen Zeit, die hermeneutische Beziehung zum einen zwischen jeder sprachlichen Äußerung und dem Sinnganzen, das in ihr verkörpert wird, und zum anderen zwischen der Manifestation des dualen Modus im zwischenleiblichen und sprachlichen Artikulieren überhaupt und dem Gesamtsinn, der sich, rätselhaft bleibend und sein Geheimnis vor jeder theoretischen Annäherung verschließend, in einer Weise ausrichtet, dass die – ebenso rätselhafte, mit natur­ wissenschaftlichen Theorien oder analytischen Methoden nicht ein­ zufangende – menschliche Lebendigkeit eine gemeinsame Linie mit ihm finden kann, um in dieselbe, von der hermeneutischen Bewegung gezogene Bahn einzumünden. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass sie sich darin ‚eintaktet‘ und beide Seiten sich rhythmisch aufein­ ander einlassen. Das ist der Grund für die syntagmatische Form der sinngebenden Verkörperung im dualen Modus. Sie ist artikulierend tätig, d.h. ordnend und gliedernd, aber nicht in einem nach räumlichen Vorstellungen eingeteilten Zeitmaß, sondern, einer Melodie ähnlich, ‚organisch strukturierend‘ (Bergson), in einer Sukzession, bei der die aufeinander folgenden Elemente so ineinander verschränkt sind, dass sie in dieser Dynamik zu einer Einheit des zu artikulierenden Sinns verschmelzen können. Das lässt sich u.a. daraus ersehen, wie ein eingesetztes Wort seine konkrete Bedeutung von den je anderen Wörtern und dem antizipierten Ganzen, auf das sich alle beziehen, erhält. Das heißt aber auch, dass der je zu aktualisierende Sinn irgendwie in der Sprache und ihren beim Sprechen und Schreiben dynamisch aufeinander wirkenden Elementen ‚anwesend‘ ist, und die Bahn, die der Gesamtsinn zieht, hier gegenwärtig ist und ihre Spuren hinterlässt.

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48. Die beiden Seiten der hermeneutischen Bewegung

48. Die beiden Seiten der hermeneutischen Bewegung Die beiden Seiten der hermeneutischen Bewegung lassen sich je nach Schwerpunktsetzung unterschiedlich bestimmen. Auf der einen Seite ist es a) b)

c) d) e)

die Menschheit als eine einzige Person, sich manifestierend in den unzähligen Personen mit ihren Rollen, in denen sie je zu sich selbst zu kommen sucht; die soziale Form der Menschheit als Mitwelt, die sich aus­ differenziert in soziale Einheiten (Gesellschaft, Gemeinschaft, Gruppe etc.), in denen sie sich realisiert und Personen ihre sozial veranlassten und geprägten Rollen spielen; das Selbstgespräch des menschlichen Geistes, das sich in unend­ lich viele Gespräche auseinanderlegt (Vossler); die Sprache, die sich als eine geistige Einheit in der Vielfalt der Sprachen erweist (Vossler); der duale Modus der Verkörperung, der Voraussetzung ist für alle Verkörperungen von Sinn.

Auf der anderen Seite ist es a)

b)

eben dieser Sinn, auf den sich die Menschen, Personen, Rollen mit ihren Artikulationen richten und der je nach Kontext unter­ schiedliche Bedeutungen enthält, die in die leibliche Symbolik und die Sprache eingehen; im Ganzen der Gesamtsinn, dessen Gerichtetheit sich mit der Richtung der Leibsymbolik, der Sprache, der verkörpernden Artikulation des Sich-Äußerns überhaupt verbindet und so das ermöglicht, was wir im Kern, uns oft nicht bewusst, stets anstre­ ben: ein Verstehen, das sich zusehends erweitert und vertieft, Einsichten, die nur durch sprachliche Artikulation und Gespräch zu gewinnen sind, Sinnerfüllung im treffenden Wort, Klarheit durch Klang, Durchsichtigkeit der sprachlichen Mittel bis hin zur Ermöglichung geistiger Anschauung.

All das erfolgt im Rahmen eines Verständigungszusammenhangs, der mit der je aktuellen Realisierung des dualen Modus gestiftet wird. Die Rahmenordnung für eine solche Verständigung kann stetig verbessert, oder sie kann gestört und gar zerschlagen werden, wenn mit den Mitteln, die mit den vielfältig verwendbaren dual-syntagma­ tischen Artikulationsformen leiblicher und sprachlicher Art bereitge­

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49. Die Geistigkeit des Leibes

stellt werden, nicht sorgsam umgegangen wird. Insbesondere die leibferne Digitalisierung und geistferne Beschleunigung und Auto­ matisierung der ‚Kommunikation‘, etwa mittels Algorithmen, zeigen, welche Gefahren hier lauern.

49. Die Geistigkeit des Leibes ‚Sich eintakten‘, alles aufeinander einstimmen durch Takt, Rhythmus, Klang und die semantisch stimmige Wortwahl: darin liegt die Auf­ gabe beim Sprechen und Reden – und zwar, Bühlers Organonmo­ dell zufolge, im sprachlichen Dreieck von Sprecher (Sender), Hörer (Empfänger) und Sache (Gegenstände und Sachverhalte), funktio­ nal gesagt: von ‚Symptomatik‘ des Ausdrucks, ‚Signalwirkung‘ des Appells und ‚Symbolik‘ der Sprachzeichen; mit Bezug auf die sprech­ akttheoretischen Dimensionen formuliert: in der Abgestimmtheit von lokutionärem, illokutionärem und perlokutionärem Akt. Das betrifft den Einzelnen, der sich einen noch unfertigen Gedanken durch sprachliche Artikulation klarzumachen versucht; sodann die Sprecher- und Hörerrollen, die aufeinander abgestimmt werden müssen, um Verständnis und Verstehen zu erzielen; nicht zuletzt die Gegenständlichkeit und Sachhaltigkeit, sprich: Sachlichkeit, der verwendeten Sprachmittel. Die poetische Ausformung treibt diese interne Verbindung der Sprachmittel mit der Sache und dem Sinn auf die Spitze. Was jeden Einzelnen auch beim alltäglichen Sprechen, bei vorbereiteten Reden und in wissenschaftlichen Darstellungen leitet und in guten Momenten beflügelt, wird beim poetischen Gestalten zur Deutlich­ keit gebracht. Dann zeigt sich: es ist die Magie der Sprache, auf die man sich einlässt und an deren Macht man teilhaben will, aber nicht um den Schamanen zu geben, sondern um des Zaubers willen, der von einer sprachlich bewirkten Sinnerfüllung ausgeht. Man arbeitet an der Sprache, feilt an ihr, man lernt sie immer besser kennen, übt mit ihr, und man übt sich an ihr, um sinngebend und sinnempfangend tätig zu sein. Das impliziert ein Generieren von Bedeutungen, die man Wörtern in Verbindung mit dem Artikulieren von Sätzen in Lautfolgen verleiht. Das Paradigma, in dem diese Leistung vorgeführt wird, ist, neben dem Dichter, der Schauspieler. Was beide je anders zu vollbringen haben, ist das anthropologische Momentum, dem sie sich in selbstre­

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49. Die Geistigkeit des Leibes

flektierter Weise stellen, womit sie zum Vorbild werden für das, was der Mensch überhaupt zu leisten hat: zu formen und zu gestalten im Umfeld von Verkörperungen und Entkörperungen, und zwar, darin liegt die Zumutung, in einem Zugleich des Verkörperns und Entkörperns. Der Dichter tut es in den sprachlichen Bildern, Formen und Klängen, die er schafft, der Schauspieler in den Rollen, die er mit seiner Person, seinen körperleiblichen Mitteln einschließlich der sprachlichen, darstellt, und jeder Mensch alltäglich beim Ausdrücken, Darstellen, Reden, Schreiben und Miteinandersprechen. In diesem Zugleich, in der Art, wie sich die Entkörperung in die Verkörperung verschränkt, liegt der Schlüssel für ein tieferes Ver­ ständnis der hermeneutischen Bewegung, die zwischen der Sprache und dem Sinn verläuft, des Ineinandergreifens beider, die die Sinnvor­ wegnahme beim Sprechen und Hören ermöglicht. Strukturell ist es das gleiche anthropologische Momentum, das der körperleiblichen Existenz des Menschen eignet: Körper und Leib sind dasselbe, obwohl sie absolut verschieden sind. Sie sind so ineinander verschränkt, dass der eine an die Stelle des anderen treten kann, etwa beim Lachen und Weinen oder in der Schamröte als einem sichtbaren Repräsentanten der Scham, wo der Körper jeweils das neutralisierte, handlungsunfä­ hige Leibselbst vertritt. Das ‚Ich denke‘ muss alle meine Vorstellungen begleiten können, hieß es bei Kant. Zieht man jedoch alle Modi der Verkörperungen in Betracht, muss dieser Satz, der die synthetische Einheit a priori illustrieren soll, erweitert werden, so dass er lautet: Der Leib als Zentrum muss alle meine Funktionen und Tätigkeiten (inklusive meines Vorstellens) ‚begleiten‘ können. Und das gelingt ihm doch nur, weil er zugleich Körper ist, der seinerseits die Leerstelle auszufüllen vermag, die das Leibselbst in einer für es unbeantwort­ baren Lage lässt. Der Leib benötigt die körperlichen Mittel, um seine geistigen Funktionen – die des Bedeutens und Sinngebens – in der Symbolik von Mimik, Gestik, Haltung, Sprache und durch diese hindurch wirksam werden zu lassen; und der Körper wäre ohne diese, die Symbolik tragende ‚Geistigkeit‘, die dem Leib als synthetischer Einheit in der Vielheit des Empfindens, Wahrnehmens, Denkens, Vorstellens, Urteilens, Wollens, Erleidens innewohnt und von ihm ausgeht, auf seine materielle Daseinsform reduziert. Eine solche Reduktion kann aber nur dem gelingen, der sich geistig und damit auch moralisch blind macht; ihr kann ohne eine derartige Verblendung selbst der Leichnam nicht unterworfen werden. Sogar von ihm geht eine andere Ausstrahlung aus als die einer bloßen

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50. Drei Arten des (theatralischen) Rollenspiels

Materie. Die Geistigkeit des Leibes erweist sich in seiner Leistung, Sinn zu verkörpern, symbolisch tätig bzw. wirksam zu sein – auch noch in seiner Entkörperung im Tod –, und in diese Geistigkeit ist der Körper mit seinen sinnlich-anschaulichen Mitteln hineingestellt – auch wenn das Leben aus ihm entwichen ist.

50. Drei Arten des (theatralischen) Rollenspiels In Schillers Kallias, dem Briefwechsel über die Schönheit, findet sich ein Beispiel, in dem der hier verhandelte, anthropologisch grundle­ gende Sachverhalt mitsamt dem darin herrschenden Zugleich zweier sich widersprechender Momente zur Anschauung kommt. Schiller arbeitet dialektisch mit den Begriffen Subjektivität und Objektivität sowie Stoff und Form, um das Rollenspiel des Schauspielers zu analysieren und seine Qualität zu beurteilen. Seine Erläuterung von drei Spielweisen lässt sich mit dem Konzept der Verschränkung von Verkörpern und Entkörpern so zuschärfen, dass die Grundstruktur der oben als hermeneutische Beziehung bezeichneten Bewegung deutlich werden kann. 1.

2.

Einer seiner drei Schauspieler lässt die Mittel des Verkörperns in den Vordergrund treten. Der Körper des Akteurs (der Stoff) füllt – gleichsam ohne den Verstand einzuschalten, weil ihm die Idee der zu verkörpernden Rolle (eines Königs) fremd bleibt – mit der ihm eigenen Mimik und Gestik den ganzen Handlungsraum aus. Die Person des Schauspielers hat keine Selbstdistanz und ist deshalb unfähig, die Bedeutung ihres eigenen Selbst zu entkörpern, das sich stattdessen aufspielt und bedeutend gibt. Sie verleiht der Rolle keine Form, sondern verkörpert nur sich (das Subjekt mit seinen künstlerischen Schranken), zeigt also bloß das Material vor. Schiller bezeichnet eine solche Darstel­ lung als ‚ekelhaft‘, ‚stümperhaft‘ und ‚elend‘, weil ausschließlich der unbearbeitete Stoff sichtbar wird. Der vollständige Mangel einer Verkörperungsleistung wird offenbar, weil es an einer Entkörperung fehlt, aus der die intendierte Verkörperung ihre Wirkung gewinnt. Die zweite Schauspielerin versucht zwar, die Rolle (der Ophelia) zu verkörpern; sie greift aber zu Mitteln, die lediglich zeigen, wie man sich allgemein Schmerz, Wahnsinn, ‚edlen Anstand‘

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50. Drei Arten des (theatralischen) Rollenspiels

3.

vorstellt. Sie verlebendigt nicht die konkrete Rolle, sondern abstrahiert von ihr, d.h. sie übertreibt und spielt die Rolle in einer Manier, der das Moment des Entkörperns fehlt, nämlich das Absehen von einer verallgemeinerten Bedeutung, die eine Geste hohl, einen mimischen Ausdruck leer und einen Satz zur Phrase werden lässt. Ein solches Spiel wirkt hölzern und verkommt zur Karikatur, wie es jeder individuellen Person geschehen kann, die sich in ihren Rollen und Sprechweisen verfängt, ohne sich zu ent­ wickeln – von Plessner stammt der Satz, jeder sei an irgendeinem Punkte die Karikatur seiner selbst –, vergleichbar einem Wort, das durch häufigen und von individuellen Belangen abstrahie­ renden Gebrauch abgenutzt ist und bloß noch in Übertreibungen Wirkung erzeugt, aber eben eine lächerliche oder unglaubhafte. Man muss es neu klingen lassen, um ihm wieder eine Bedeutung beilegen zu können. Der Abstand der Schauspielerin zur Rolle ist so beschaffen, dass ihre Verkörperung sich nur solcher Mittel bedient, die man begrifflich-lehrbuchmäßig kennt, aber nicht verstanden hat. Es fehlt an Urteilskraft, um die Mittel anwenden zu können und in Haltung und Sprache lebendig werden zu lassen. Das Allgemeine (menschliches Leid, Bewahrung des Anstands) wird nicht mit dem Besonderen (Ophelias Situation) vermittelt, weil der eingenommene Abstand keine Bindung mehr zulässt, keine sachgerechte, d.i. hier rollengerechte Nähe, die durch die genau bemessene Distanz (und Selbstdistanz) das Verwirklichen der Rolle ermöglicht, eingeschlossen die Emotio­ nen, die sie freisetzt. Der Maßstab der Abstraktion besitzt nur auf dem Gebiet der Begriffe Gültigkeit, nicht in der Sphäre des Bewegt-Lebendigen. Die Rolle wird, gleichsam terminologisch, zur Schau gestellt, aber nicht gespielt. Dem dritten Schauspieler (in Schillers Aufzählung der erste, wobei er zwei Namen nennt) gelingt es, mit seinen körperlichen Mitteln, seinem Stoff, in der eigenen Person die Rolle des Ham­ let zu verkörpern. Für Schiller heißt das, dass die agierende Person völlig in der ‚künstlichen‘ Person Hamlets ‚unterging‘, m.a.W. sie entkörperte sich selbst, um zugleich und mit diesem radikalen Verfahren die Rolle zu verkörpern. Dem eigenen ‚Stoff‘ wurde seine Bedeutung in der Anschauung entzogen, um, mit demselben Stoff, die Bedeutung zu formen und anschaulich werden zu lassen, die der Person Hamlets eigen ist. Der Stoff des Schauspielers wird zum ‚Marmor‘, aus dem der Künstler die Rolle

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51. Der Schauspieler verkörpert und entkörpert zugleich

formt. Eine solche Darstellung hat Stil, denn sie wird der Sache gerecht (sie ist objektiv, sagt Schiller) und ist deshalb auch nicht zufällig so, wie sie ist, sondern (objektiv) notwendig. – Anders gesagt: Das Formen und Gestalten – hier: der Figur Hamlets mit dem Sinn, der ihr von Shakespeare beigelegt wird – benötigt den entkörperten ‚Raum‘, in dem Platz geschaffen ist für den Abstand, den die agierende Person zu sich selbst und zu ihrer Rolle sowie zwischen Person und Rolle braucht, damit der Leib von seinem Zentrum aus sich selbst als Körper zum Instrument, mehr noch: zu einem Ensemble von Instrumenten, machen und gleichzeitig als Dirigent seine Bewegungen und Ausdrucksmittel für die ‚Aufführung‘ orchestrieren kann.

51. Der Schauspieler verkörpert und entkörpert zugleich Es ist ein gängiger anthropologischer Gedanke, der sich im Grunde schon bei Epiktet, dann vor allem bei Shakespeare findet; soziolo­ gisch und kulturphilosophisch hat er dann viele Varianten erlebt: Am Schauspieler als Menschendarsteller lässt sich ablesen, welche Aufgabe der Mensch zu bewältigen hat: auf der ‚Weltenbühne‘ muss er figurieren, um zu sein – und das heißt, so muss hinzugefügt werden, für ihn, Person zu werden; also das zu verkörpern, was er immer schon ist: aus dem entkörperten – präziser wäre eigentlich: entleiblichten – Material der Person, ihrem Körperleib als Ausdrucksfläche und -mittel, eine Persönlichkeit zu formen; sich selbst und seinem Tun den Sinn zu verschaffen, den die übernommenen, zugewiesenen, selbstge­ wählten, zu verkörpernden Rollen bieten, und zwar im Verhältnis zum Gesamtsinn, einem Verhältnis, das je nach Auffassung und Gestal­ tung das Verhalten leitet und orientiert; sich in die hermeneutische Bewegung vom Sinn her zum Sinn hin einzutakten. Wie man dabei aus dem Takt geraten kann, zeigen die beiden zuerst erläuterten Spielarten. Die beiden Akteure verfehlen auf je andere Weise ihre Aufgabe, ihre Verkörperung mit einem Sinn zu versehen und ihre Ausdrucksbewegungen, Gebärden, Gesten sowie sprachlichen Artikulationen mit den zutreffenden, dem Sinn angemessenen, Bedeutungen aufzuladen. Die Rolle wirkt lächerlich, gestelzt oder eingeübt, aber nicht lebendig, d.h. aus der Freiheit hervorgehend, die die Person als Rollenträger durch Rollendistanz und Selbstdistanz gewonnen hat.

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52. Sphäre der Geltung

Der hauptsächliche Grund dafür ist deutlich geworden. Sowohl die defizitäre als auch die manierierte Darbietung versäumen es, die Leistung des Verkörperns auf der des Entkörperns aufzubauen; sie lassen sich nicht auf die Verschränkung beider Akte ein, die deren Zugleich als Voraussetzung lebendigen Rollenspiels und gelungener Sinnerfüllung im leiblichen und sprachlichen Ausdruck ermöglicht. Denn es ist ja nicht so, dass zeitlich das eine dem andern vorher­ geht und dieses jenem folgt, sondern die beständige Arbeit, zumal des Schauspielers, der professionell ‚in eine Rolle schlüpft‘, liegt in dem ‚Freischaufeln‘ der leiblich-symbolischen Eigensphäre von dem Ballast eingeschliffener, starr gewordener, die symbolisch-expressive Kraft einschränkenden Bedeutungen (dem Entkörpern) – die schließ­ lich bedeutungslos werden – bei gleichzeitigem ‚Auffüllen‘ mit neu geschaffenen, aus einem freien Anfang hervorgehenden Bedeutun­ gen, die den Sinn der Rolle verkörpern, alles eingeschlossen, was zu dieser Rolle gehört: ihre sprachliche Artikulation, die Entwicklung des Rollenträgers (der Person) zu einer individuellen Persönlichkeit, ihr Verhältnis zur Lebenssituation, in der sie sich findet, und zum Gesamtsinn, der mit seinem Druck auf dieser Situation lastet bzw. ihre Bedingungen und Faktoren prägt, als da sind: Entscheidung und Geschick, Macht und Ohnmacht, Vergänglichkeit und Unsterblich­ keit, Liebe und Hass, Anstand und Niedertracht, Leben und Sterben, Tod als furchterregende Drohung und Verheißung der ersehnten Ruhe. Es lässt sich unschwer erkennen: Daraus resultieren die The­ men des poetischen Gestaltens in Drama, Lyrik und Erzählkunst. Es sind aber auch die Themen jeder individuellen menschlichen Lebensspanne wie der Menschheitsgeschichte.

52. Sphäre der Geltung So lässt sich das, was sich aus der Erörterung der Schauspielkunst ergeben hat, verallgemeinern: Bedeutung verleihen und Sinn verkör­ pern macht zwingend Entkörperung erforderlich. Das gilt zum einen für das Verhältnis zwischen Rolle und Person; in dieser Relation realisiert sich die, zunächst entkörperte, als Leerstelle auftretende, mitweltlich-personale Position jedes Individuums, indem es sich außersprachlich und sprachlich ausdrückt, leiblich-rollenspezifisch und lautlich-artikuliert Sinn verkörpernd, wobei es immer wieder auf die entkörperte Leerstelle zurückgeworfen wird, um erneut in die Lage

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53. Eine Analogie

versetzt zu werden, Verkörperungen zu kreieren. Zum anderen gilt es für das Verhältnis jeder individuellen Person und der Menschheit zum Gesamtsinn, der, obwohl dieser sich dem direkten Ausdruck entzieht, in den Verkörperungen ‚anwesend‘ ist, weil er, ob man will oder nicht, den Sinndruck auf die expressiven Verlebendigungen der Person ausübt, die ohne diese dem Sinndruck zu verdankende und sich den Mitteln des dual-syntagmatisch organisierten Ausdrucks bedienende Vitalisierung in der mitweltlichen Leerstelle verharrte. Die an zweiter Stelle genannte Relation ist an die erste zwischen Person und Rolle gekoppelt. In diesem Verhältnis der Person zu ihren Rollen realisiert sich die Expressivität der Person und damit auch die Mitwelt, deren Glied sie ist. Wirklich und wirksam werden Person und Mitwelt, zunächst irreale und entkörperte Leerstellen, erst durch die Ausdrücklichkeit der Rollen, die die Person übernimmt, und durch die Ausdrücklichkeit der Sprache, in der die Ausdruckshaftigkeit schon des Körperleibs mitsamt seiner Stellung in der Welt und zur Welt auf einer zweiten Ebene Platz greift. Damit tritt die Person in die Sphäre der Geltung ein, jenen Bereich, den man den geistigen nennt, weil ihm kein Stoff zueigen ist, der ihn sichtbar machen, kein Gegenstand, den man in die Hand nehmen könnte; in ihm wird aber Bedeutung generiert und Sinn verkörpert. Alles wird auf die Stufe des Symbolischen gehoben, das sich vom Stoff der Welt und ihrer Gegenstände abhebt, so aber, dass diese durch die Symbolik des Leibes und die Symbole der artikulierten Sprache hindurch zu ‚Gegenständen‘ des Geistes werden, zu seinen Mitteln, mit denen er arbeitet wie der Töpfer mit dem Ton; damit erhalten sie Geltung, werden ‚verständlich‘ und treten in eine kulturelle Ordnung ein. Aus dieser Arbeit resultieren so die Manifestationsweisen der Kultur, wie sie uns in Geschichte und jeweiliger Gegenwart entgegentreten. Wozu aber? Worauf läuft all das hinaus?

53. Eine Analogie Es wurde bereits oben gesagt und kann nun weiter verdeutlicht wer­ den: So wie die allmähliche Bestimmung der Bedeutungen von Wör­ tern eines Satzes im Zuge seiner sukzessiven Artikulation von dem vorwegzunehmenden Sinn des ganzen Satzes abhängt und umgekehrt dieser Sinn allererst durch die Vervollständigung des Satzes mit allen – nach und nach, der Zeit als Dauer unterliegenden – aufeinander

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53. Eine Analogie

abgestimmten Wortbedeutungen verkörpert wird, so verhält es sich mit dem Sinn von Sätzen, von ganzen Äußerungen, der Sprache überhaupt, ja der Symbolik des Leibes insgesamt, einschließlich der mit seiner Hilfe verkörperten Rollen und artikulierten Sprachzeichen, in Bezug auf einen übergreifenden Sinn bzw. Gesamtsinn. Dieser dokumentiert sich in der Art, wie jeder Einzelne den dualen Modus der Verkörperung figurierend interpretiert und zwischenleiblich wie sprachlich artikuliert, und wie sich darin die Menschheit selbst aus­ drückt. Denn das Verkörpern von Sinn ist doch stets, wie sich heraus­ gestellt hat, auf ein Entkörpern angewiesen, und dieses geht hinsichtlich der Symbolik von Leib und Sprache überhaupt vom Gesamtsinn mit seinem hartnäckigen Sichentziehen aus. Nun lässt sich analog ergänzen: Die allmähliche Bestimmung der Bedeutungen von Rollen in der Lebensspanne der Person und von kulturell objektivierten Darstellungen und Selbstdarstellungen in der Geschichte der Menschheit im Zuge ihrer sukzessiven Artikulation hängt von dem vorwegzunehmenden Sinn des ganzen ‚Daseins‘, dem Gesamtsinn, ab, und umgekehrt wird dieser Sinn allererst durch die Vervollständigung der Rollen – was nichts anderes meint als die Ent­ wicklung der Person zur Persönlichkeit – und kulturell-symbolischen Manifestationsweisen im biographischen und menschheitsgeschicht­ lichen Zusammenhang mit allen – nach und nach, der Zeit als Dauer unterliegenden – aufeinander abgestimmten Bedeutungen verkör­ pert. Es ist, wie bereits erörtert, eine hermeneutische Bewegung; sie ist geschichtlich aufgebaut, sowohl ontogenetisch als auch phylogene­ tisch. Das heißt (1) für den Satz bzw. die Äußerung: ihr Sinn liegt nie endgültig fest. Er wird – in Wiederholungen, Weiterführungen, Inter­ pretationen und Anknüpfungen – gedeutet, und die Bedeutungen der Wörter können von daher – in bestimmten Grenzen – variiert und nuanciert werden, sie können sich mit dem Kontext wandeln, aber immer mit Bezug auf die mitweltliche Geltung und eine zu suchende Richtigkeit oder Wahrheit, die sich dem zu vervollständigenden Sinn verdankt, der allerdings nicht festgelegt, nicht wie ein Terminus oder eine Norm definiert werden kann, so dass wir nicht im Besitz der Wahrheit sind. Wir müssen uns damit abfinden, dass alles von uns Gesprochene und Geschriebene nicht als endgültige Wahrheit beglaubigt, sondern das darin Bedeutete entkörpert wird, um in neue Verkörperungen zu münden.

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54. Haltung als Angelegenheit des dualen Modus

Und es heißt (ganz im Sinne der von Johan Huizinga geprägten Bezeichnung des Menschen als homo ludens) analog (2) für die Person bzw. die Menschheit: der Sinn ihrer in Rollen und Akten der ‚spielerischen‘ Performanz sich artikulierenden Lebensweise liegt nie endgültig fest. Er wird – in Nachahmungen, Weiterführungen, Inter­ pretationen und Anknüpfungen – gedeutet, und die Bedeutungen der einzelnen performativen Darbietungen und Objektivationen können von daher – in bestimmten Grenzen – variiert und nuanciert werden, sie können sich mit dem Kontext wandeln, aber immer mit Bezug auf die mitweltliche Geltung und eine zu suchende Richtigkeit oder Wahrheit, die sich dem zu vervollständigenden Sinn verdankt, der allerdings nicht festgelegt, nicht wie ein Terminus oder eine Norm definiert werden kann, so dass wir nicht im Besitz der Wahrheit sind. Wir müssen uns damit abfinden, dass die von uns verkörperten Rollen nicht als endgültige Wahrheit beglaubigt werden können, sondern das darin Bedeutete entkörpert wird, um in neue Verkörperungen zu münden.

54. Haltung als Angelegenheit des dualen Modus Was unser Verhältnis zur Wahrheit anbelangt, sind wir nach alldem nicht in der Lage eines Eigentümers, der sich in Sicherheit wiegen kann, weil das, was ihm gehört, beglaubigt ist, sondern eines Wande­ rers, dem nichts gehört außer seinem Bestreben, dort anzukommen, wo ihm Ruhe vergönnt ist; zu der aber gelangt er weder durch Nichtstun noch durch ein Verharren an einem ‚Ziel‘, sondern durch Einsicht, ein tiefes, ein zunehmend besseres Verstehen dessen, was er da eigentlich ‚macht‘. Die Beglaubigung, nach der er sich sehnt, liegt nicht in einem vorgestellten Ziel, wo sich vermeintlich die Wahrheit ‚aufhält‘, als ob man sie bloß noch auflesen müsste, sondern in der Art, wie, in welcher Haltung er sich auf die Wanderschaft begibt, d.h. wie er auf dem Weg der hermeneutischen Bewegung seine Rolle(n) spielt. Aufgrund ihrer Unabschließbarkeit und Geschichtlichkeit ver­ weist die hermeneutische Bewegung, die der menschlichen Lebendig­ keit eigen ist, auf die unhintergehbare Notwendigkeit, eine Haltung zu Richtigkeit und Wahrheit einzunehmen, eine Haltung, die keine Sache der theoretischen Erkenntnis und einer daraus resultierenden Technik sein kann, sondern der Lebenspraxis, die unter diesem Aspekt des Umgangs mit dem Sinndruck, der auf Wahrheit verweist,

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54. Haltung als Angelegenheit des dualen Modus

moralisch beurteilbar ist. Dabei geht es nicht um ein Moralisieren, sondern um eine Qualifizierung der Lebensführung und persönlichen Entwicklung hinsichtlich der konkreten Verkörperung jener Haltung. Insofern ist Moral zuvörderst kein abgeschlossenes System von Normen oder Handlungsanweisungen, sondern eine Größe, die der Person – zunächst nichts anderes als die Form ihrer mitweltlichen Position – in ihrer Ausbildung zur Persönlichkeit mit einer Haltung und einem je eigenen Stil zugehört. (Bereits Kant sah in dem Wer­ den der quasi-natürlichen Person zur sittlichen Persönlichkeit deren moralische Aufgabe und die Achtung vor der Person als das morali­ sche Gefühl, das zur Ausübung des moralisch Gebotenen motiviert.) Diese Entwicklungsbewegung: zu werden, was man immer schon ist, lässt sich nur, wie bereits erläutert, vor dem Hintergrund der Zeit als Dauer verstehen. Es ist diese Bewegung, die in die Haltung eingeht. Deshalb ist die Haltung nicht festlegbar wie ein Begriff oder eine sanktionierbare Norm, keine theoretische Kompetenz, sondern eine Frage der Performanz; sie muss sich immer erneut beweisen, indem man sie vollzieht – in den unzähligen Gelegenheiten, in denen das Leben zu Entscheidungen zwingt, Handlungen erforderlich macht und habituelle Variationen, unterschiedliche Formen des Benehmens und Verhaltens, ermöglicht. So ist die objektiv unzugängliche Wahr­ heit nicht eine Sache der epistemischen Theorie, sondern eine sol­ che der persönlichen Wahrhaftigkeit. Sie ist für den Einzelnen der Schlüssel dazu, sich auf die hermeneutische Bewegung vom Sinn her zum Sinn hin einzulassen und sie mitzugehen. Da jeder sich selbst und den anderen hinsichtlich seiner jeweiligen Haltung nicht durchschauen und nicht wissen kann, wie sich diese Haltung auch unter Anfechtungen ‚hält‘, d.h. ob sie sich bewährt oder bloß theore­ tisierend in der Vorstellung ‚da‘ war, gestehen wir jedem Einzelnen Würde zu und bringen ihm Achtung vor seiner Person entgegen, um ihm ein Äquivalent für die intransparente, aber erwartete Haltung zu supponieren. Wir sind überrascht oder enttäuscht, wenn jemand in seinem wahrnehmbaren Tun dieser Erwartung nicht gerecht wird, entziehen ihm aber nicht den Geltungsanspruch auf Würde, weil es sich ja nicht um ein epistemisch fixierbares Merkmal handelt, sondern immer offen bleibt, wie dieser Geltungsanspruch ineins mit den je individuellen Schritten auf dem Weg der hermeneutischen Bewegung konkret eingelöst wird. Die moralische Beurteilung einer Lebensführung spricht der beurteilten Person nicht die Würde ab. Gerade die Qualifizierung eines Verhaltens als würdelos bzw. entwür­

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55. Die Funktion von Klang, Rhythmus und Takt

digend hält an dem Anspruch fest, der der in Frage stehenden Person zugestanden wird. Die Haltung ist keinem der partikularen sinnlichen Verkörpe­ rungsmodi allein zugänglich. Allerdings ist sie eine Angelegenheit des dualen Modus, und dieser realisiert sich in den sinnlichen Akkord­ anzen des Leibes als sensus communis, d.h. vorrangig atmosphärisch in den zwischenleiblichen Verkörperungen, dann aber auch syntag­ matisch in den sprachlichen Verkörperungen von Bedeutung und Sinn. Zwar schlägt sich die syntagmatische Dimension des dualen Modus in erster Linie in der Syntax nieder, und die Bedeutungsdimen­ sion ist zunächst eine Sache der Semantik, der Wahl der Wörter. Jedoch geht die Haltung selbst in das Sprechen insgesamt als leibliche Tätigkeit ein, das also, was mit Stimme und Wechsel von Bewegung und Ruhe bewerkstelligt werden kann: Klang, Rhythmus und Takt. Wie sich bereits herausgestellt hat, wirken diese leiblich-stimmlichen Mittel maßgeblich auf die Bedeutung der Wörter und das Verständ­ nis der gesamten Äußerung; und so ist der akustisch-thematische Verkörperungsmodus in Verbindung mit dem dualen Modus am Entschlüsseln der Haltung beteiligt. Das gilt ebenso für den optischschematischen Modus in Bezug auf die sichtbaren Anteile der Haltung in Blick, Mimik, Gestik und Gang.

55. Die Funktion von Klang, Rhythmus und Takt Die bedeutungstragende und -nuancierende Funktion von Klang, Rhythmus und Takt wird im Alltag selten reflektiert und bewusst genutzt, ist aber für die Rezeption von nicht geringer Wichtigkeit. Sie erweist sich als jene Funktion, die der personalen Haltung auf der Ebene der sprachlichen Artikulation, auf der der Gesamtleib mit sei­ ner Ausrichtung auf das zwischenleibliche Agieren die höchste Stufe seiner Leistungsfähigkeit als Sinnträger – und sei es im Schweigen – erreicht, eine Form verleiht. In der Poesie und bei Bühnenaufführun­ gen tritt diese Funktion in den Mittelpunkt der Gestaltung; denn die Zeichnung der Charaktere erhält ihre Signifikanz durch den Einsatz von Klang, Rhythmus und Takt als Mittel der Darstellung. Selbstverständlich ist die darin zum Ausdruck kommende jewei­ lige Haltung, die auch den alltagssprachlichen Gebrauch unterlegt, nicht stets explizit moralisch konnotiert, aber sie unterliegt impli­ zit den Bedingungen der moralischen Urteilskraft. Werden die der

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56. Der Stellenwert von Poesie und Theater für die Selbstverständigung des Men­ schen

moralischen Haltung zugehörigen Merkmalsbündel von Achtung und Würde in der Form des Sprechens verletzt, löst das eine Sanktion aus, und sei es nur das Misslingen einer förderlichen Fortführung des einmal begonnenen Gesprächs oder ein missbilligendes Urteil über die entsprechende Person. Es fällt auf, dass die Unabwendbarkeit des moralischen Urteilens in diesem Kontext immer wieder Diskussionen auslöst, wenn es um die Haltung von Dichtern und Schriftstellern oder auch von großen Schauspielern geht. Man denke etwa an die faschistische Einstellung von Ezra Pound oder Knut Hamsun oder an Schauspieler, die sich dem Nationalsozialismus angedient haben. Faschismus ist zwar ein Sammelbegriff für eine Vielzahl politischer Ideologien, beinhaltet aber immer eine Abwertung und Ausgliederung bestimmter Grup­ pen, die nicht den Vorstellungen dieser Ideologie entsprechen, d.h. Achtung aufgrund personalen Menschseins wird im Faschismus nicht jedem Einzelnen gezollt. Die Auseinandersetzung um jene Dichter dreht sich um den Wert ihrer Poesie, und die Frage ist, ob an der Bewertung Abstriche zu machen sind, wenn sie als Personen eine moralisch als falsch zu beurteilende Haltung an den Tag gelegt haben. Individualität und Originalität des dichterischen Schaffens stehen in einem eklatanten Widerspruch zur personalen Haltung. Woran das liegt, müsste jeweils ergründet werden; und solche Nachforschungen werden von den Zweigen der Literaturwissenschaft, die sich den Biographien widmen, auch geleistet. Soweit nun aber die faschistische Einstellung nicht Form und Inhalt der Poesie bestimmt, wird, kann und darf sie die Rezeption nicht beeinträchtigen, allerdings sind wir verblüfft und enttäuscht, wenn ein Autor als Person ein Bild abgibt, das der Intention und dem Anliegen poetischen Gestaltens überhaupt Hohn spricht. Man kann dies als einen starken Beleg für die Wirksamkeit des dualen Modus abbuchen.

56. Der Stellenwert von Poesie und Theater für die Selbstverständigung des Menschen Wenngleich das Ansehen von Dichtern und Schauspielern nicht immer so hoch war wie in moderner Zeit, in der die Kultur für viele Menschen zum Religionsersatz geworden ist und kulturelle Rituali­ sierungen an die Stelle von religiösen Ritualen treten, zumal selbst eine historisch nicht seltene massive Abwertung dichterischer und

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56. Der Stellenwert von Poesie und Theater für die Selbstverständigung des Men­ schen

schauspielerischer Aktivitäten gerade der erwarteten oder befürchte­ ten Wirkung auf Zuhörer, Leser und Zuschauer zu schulden ist, so lässt sich unabhängig von der historisch sich wandelnden Wertschät­ zung, allein aufgrund der oben erläuterten Struktur der Expressivität, Folgendes feststellen. Dichter und Schauspieler präsentieren in reflek­ tierter und bewusst gestalteter Form die von jedem Menschen als Repräsentanten der Menschheit zu spielende Rolle, die seine Person in ein Verhältnis zum Gesamtsinn setzt; sie verkörpern mögliche und unmögliche Versuche des expliziten Zugangs zu ihm, sei es in einer überzeugenden und nachahmenswerten Haltung zu ihm oder im Scheitern an seiner Nichtfestlegbarkeit, wozu auch das Ausweichen vor dem Sinndruck zu zählen ist. Mit diesem Stellvertretertum, das zur Wertschätzung als Vorbild oder gar zur Identifikation auffordert, lässt sich auch die Sensibilität erklären, die wir gegenüber den mora­ lisch-politischen Einstellungen von Dichtern und Schauspielern an den Tag legen. Der Dichter findet den Zugang zur hermeneutischen Bewegung in den Formen der Poesie, der Schauspieler auf der Bühne bzw. vor der Kamera. Beide Formen, die der Poesie wie der Bühne, zwingen das unabschließbare Verhältnis zum Gesamtsinn in einen Rahmen, der so gestaltbar ist, dass in ihm der unendliche Prozess abgebildet werden, die Zeit als Dauer im Moment der Poesie oder der Bühnenpräsenta­ tion eingefangen und der Gesamtsinn auf den Sinn des Textes oder der Aufführung in perspektivischer Verkürzung projiziert werden kann, so dass die dargestellten Haltungen typische Möglichkeiten des Menschen, sich zum Gesamtsinn zu verhalten, widerspiegeln. Daraus erklärt sich der kulturenübergreifend hohe Stellenwert der Poesie und des Theaters (sowie ähnlicher Kunstformen wie der des Films) für die Selbstverständigung der Menschen. Das große Interesse, das diesen Kunstformen entgegengebracht wird, wurzelt in der Engagiertheit, die jeder Mensch in Bezug auf die Fragen der eigenen Lebensführung und Sinnschöpfung hat, und in der Anteilnahme am geschichtlichen Gang der Menschheit überhaupt. Der Gesamtsinn lässt sich nicht ‚vollständig‘ und ‚endgültig‘ in die der menschlichen Kultur eigenen symbolischen Formen zwingen. Zum einen wird jedoch versucht, ihn, gleichsam abgeschattet, in Symbolismen zu fassen, wie sie im religiösen Umfeld gängig und aus Sinnbildern der Natur, Götterdarstellungen, Emblemen des Heiligen, Allegorien von Himmel und Hölle, Mythen von Ursprungs- und Endzeit u.a.m. bekannt sind. Zum anderen spiegelt er sich, wiederum

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57. Der Quellgrund des Schöpferischen

abgeschattet, in den Haltungen, die ihm gegenüber eingenommen werden, und so lässt er sich zumindest in zweiter Linie darbieten in den leiblich-geistigen Haltungen und leiblichen Mitteln des Spre­ chens, die von diesen Haltungen zeugen, in der Dichtung und im Schauspiel sowie nicht zuletzt in solchen Formen der Philosophie, die sich nicht lediglich einer Terminologie verpflichtet sehen, sondern die Selbstverständigung des Menschen kritisch-reflektierend vertiefen. Die Abschattung bzw. Perspektivität, die in der Tat immer sehr verkürzt und einzelne Aspekte betonend die Symbolismen, Artikulationen und Darbietungen prägt, resultiert jeweils aus der Interpretation der Stellung des Menschen und seiner Lebendigkeit zum Gesamtsinn, d.h. aus dem Modus, in dem sich jeder Einzelne in Verbindung mit anderen zur hermeneutischen Bewegung vom Sinn her zum Sinn hin verhält. Diese mit jeder Lebensführung gegebene Interpretation des die menschliche Lebendigkeit prägenden Grundverhältnisses ist in ihrer Vielfalt in der Geschichte und den Kulturen der Menschheit kaum überschaubar, jedoch ist sie von einem einigenden Band durchzogen, das ihre Inhalte und Formen – von den Mythen der ‚Vorzeit‘ über die Erzählungen der Bibel und anderer ‚heiliger Schriften‘ bis hin zu den Dramen der Antike und der Neuzeit, den Gedichten, Epen, Novellen und Romanen aller Zeiten – zusam­ menhält: es ist das Band, das aus dem Ineinander von Verkörperung und Entkörperung gewirkt ist, um die hermeneutische Bewegung in Gang zu halten und ihrer Form Kontinuität zu verleihen.

57. Der Quellgrund des Schöpferischen Oben (Nr. 15) wurde gefragt, welcher Art der Sinnhorizont (der Gesamtsinn) sei, der sich mit den Vorgängen des Verkörperns und Entkörperns aufspannt, öffnet und zugleich begrenzt. Die Frage resul­ tierte aus der Struktur der sprachlichen Metapher: des Hinzufügens und Abstreichens, des Hervortretens und Abdeckens sowie der gedachten Beziehung im Bedeutungsgefüge von Metaphern. Diese Struktur, die auf der Ebene der Sprache deutlicher hervortritt, weil sie hier die Form der Artikulation bestimmt, wird dem Menschen, seinem lebendigen Geist, von der sich entziehenden ‚Gestalt‘ des Gesamtsinns auferlegt und bestimmt die leibgebundene Verkörpe­ rung von Sinn überhaupt. Sie sorgt dafür, dass unter Verwendung des Materials, das mit der Körper- und Sinnesausstattung zur Verfügung

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57. Der Quellgrund des Schöpferischen

steht und die stoffhaltige Gegenständlichkeit der Welt konstituiert, die geistig-schöpferische Bedingung des Menschseins erfüllt werden kann. Umgekehrt ist es diese anthropologische Bedingung, die den Gesamtsinn allererst wirksam werden lässt. Das Material, ‚gegeben‘ in Körperleib und Welt, dient den Verkörperungen von Sinn, und der Sinn entfacht die Vergeistigung des Körperleibs wie der Welt. Der entkörperte, sich entziehende Gesamtsinn, unanschaulich, wie er ist, wird zum Funken, an dem sich das Schöpferische jedweder Verkör­ perung von Sinn entzündet. Die dem Entzug des Gesamtsinns analoge, insofern für den Men­ schen wesentliche und auf den ersten Blick endgültige Entkörperung erfolgt im Tod, die ausgefeilteste Verkörperung in den exponierten Formen der Kunst und, auf einer zweiten Ebene, selbstreflexiv und explikativ, in der Sprache und den Rollendarbietungen der Schauspiel­ kunst. Ist es da nicht naheliegend, im Tod (und in dem, was aus ihm folgt) nicht bloß das ‚Ende‘ und die Endgültigkeit allen Mühens, sondern den unerschöpflichen Quellgrund allen kreativen Schaffens des Menschen zu sehen? Unerschöpflich ist die Quelle, solange es den Menschen gibt, weil aus ihr immer Neues gezeugt wird, auch wenn es Varianten, Imitationen, Wiederholungen des Alten sein mögen: jeder Einzelne setzt mit seinem Tun einen Anfang, selbst wenn er sich an einer historischen Vorlage orientiert und sogar dann, wenn es ihm nur darum geht, eine solche Vorlage zu verstehen und nachvollziehen zu können. Warum sonst sollte man immer wieder Epen, Gedichte und Dramen aus der Antike und anderen vergange­ nen Zeiten nachdrucken, lesen, vortragen bzw. aufführen? Auch ist jede Neubearbeitung eines ‚alten‘ Stoffes eine Neuschöpfung aus der Quelle heraus, aus der sich jeder Mensch bedient; sie steht ihm zur Verfügung, weil er, dem Tod geweiht wie jeder andere, dem Sinndruck ausgeliefert ist: er ringt dem Zug zur Entkörperung, zum Vergehen, Verschwinden, Sichauflösen und Nichtigen, der ihm als Inbegriff des Widersinns erscheinen muss, beharrlich, zuweilen verzweifelt, Verkörperung von Sinn ab. Die immer wieder aufgenommenen und variierten historischen Vorlagen stellen sich dem Sinndruck in einer Weise, die als klassisch ausgezeichnet wird, weil sie die mit dem sich entziehenden, letztlich unergründlichen Gesamtsinn gestellten Fragen mustergültig behandeln. Die Unerschöpflichkeit und Unergründlichkeit der menschlichen Schaffensquelle ist das anthropologische Korrelat zur Unerschöpf­ lichkeit des Ganzen, von dem der Mensch ein Teil ist und dem

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58. Die übergestalthafte Ganzheit der Form von Sinn und Sprache

er sich wie einem Rätsel oder unergründlichen Geheimnis gegen­ übersieht; das nicht Auszulotende des Menschen, seine seelische ‚Untiefe‘, ist eine Entsprechung zur Unendlichkeit des Ganzen, die für den Menschen eine unbedingte und unerreichbare, überdies die Vollkommenheit repräsentierende Idee bleibt, der er jedoch in seinen kreativen Versuchen und Werken, prismatisch gebrochen durch seine sinnlich gebundenen Verkörperungen, nahezukommen bestrebt ist. Aber auch der Künstler muss mit dem Bruch zwischen dem von ihm Erstrebten und dem Erreichten leben. Vollkommenheit gibt es nur in der moralischen Gesinnung; über eine solche zu verfügen, kann der Mensch jedoch nie sicher sein. Es bleibt auch hier, mit Kant gesagt, bei einem unabschließbaren Streben; und die Überzeugung, moralische Vollkommenheit erreicht zu haben, schlösse diese gerade aus, weil es in der Folge solchen Eigendünkels an der Anstrengung mangelte, sich unablässig ‚gut‘ zu machen. Diese ethische Implikation soll an dieser Stelle lediglich erwähnt sein, um auf die zeitlich-strukturelle Analogie zwischen Sprache und Moral zu verweisen; beide sind von Takt geprägt: die Sprache, wenn sie im Sprechen verständlich, die Moral, wenn sie in der Haltung fest und variabel sein will.

58. Die übergestalthafte Ganzheit der Form von Sinn und Sprache Das von prismatischen Brüchen durchzogene Spektrum der letztlich ‚unvollkommenen‘ Verkörperungen von Sinn erweitert sich immerhin durch die Leistungsfähigkeit des dualen Modus als Fundaments der Sprache. Es ist eine Erweiterung in der Hinsicht, dass die zeitlich rhythmisierte Lebendigkeit auf eine neue Ebene gehoben wird. Denn in der Sprache findet die reale Dauer, die als unteilbar wahrgenom­ mene Zeit (Bergson), in der die Teile des Ganzen nicht bloß additiv aufeinander folgen, sondern sich wie bei einer Melodie organisch so strukturieren, dass sie mit ihren Einzelbedeutungen zu einem Sinn verschmelzen, zu einer ihr gemäßen lebendigen Form. Es ist unmöglich, das Gesprochene auseinanderzunehmen, seine Teile zu zerlegen und zu isolieren, ohne den Sinn zu zerstören. Reale Dauer, die nicht abzählbare Zeit, ist das zeitliche Korrelat der expressiven Lebendigkeit, und in der Sprache erhebt sie sich auf eine Ebene, in der sie eigens zu einem Ausdruck findet, in der das Werden selbst artikuliert und ausdrücklich wird: erstens im syntagmatischen Verlauf

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58. Die übergestalthafte Ganzheit der Form von Sinn und Sprache

des Sprechens; zweitens in den grammatischen Zeitformen; drittens in den paradigmatischen, in Feldern sich organisierenden Strukturen (grammatischer, phonetischer und semantischer Art), die, gleichsam als Behälter, dem Gedächtnis zur Aufbewahrung und Neuaufnahme von Bedeutungen und Bedeutungszusammenhängen dienen; viertens in der inhaltlichen Artikulation des vom Gedächtnis Bereitgestellten und in der Erinnerung sich Aufdrängenden. Die Sprache selbst ist es, die dem Unerschöpflichen, Unendli­ chen und Vollkommenen insofern verwandt ist, als das einerseits kreishaft geschlossene, andererseits für Neubildungen offene ‚System‘ Sprache fähig ist, unendlich viele Formen zu erzeugen, in welchen der perspektivische und begrenzte Standpunkt des Menschen in eine Relation zum Ganzen einzutreten vermag, zum Gesamtsinn, der vornehmlich im poetischen Ausdruck ‚Gestalt‘ gewinnt; mehr noch: der im übergestalthaften Ganzen sprachlicher Expression, das (in Laut und Klang) über die übersummenhafte Gestalt hinausweist, eine mittelbare, dennoch ihm eigene und legitime Anschauung erhält, gleichsam ein Gesicht oder, wenn man so will, eine ausdrucksvolle Maske, die ihm Form gibt – und sei es im Schweigen (man denke an Theaterstücke von Samuel Beckett) –, eine Form, an der stetig weitergearbeitet werden kann – was letztendlich der Sinn von Sprache ist. Sprechen ist immer an einem Sinn orientiert, selbst noch in spielerischen, dem Unsinn frönenden Umgang mit Wörtern, und Sprache insgesamt richtet sich am Gesamtsinn aus, auch wenn er uns dunkel bleiben mag. Soviel aber kann gesagt werden: Der Gesamtsinn tritt nicht als Gestalt auf, er ist ein übergestalthaftes Ganzes, dessen Form auf die ebenso übergestalthafte Form der Sprache abbildbar ist und sich mittels der sprachlichen Artikulation und durch diese hindurch dem Verstehen öffnet. Dieses Verstehen mag an Grenzen stoßen; es sind jedoch gerade diese Grenzen, an denen die Dichter und Sprachkünstler arbeiten. (Ein Versuch, die Komplexität des hier verhandelten Verhältnis­ ses ein wenig zu erhellen, sei mit einem, wenngleich unzureichenden, Bild aus der Mathematik gewagt: der Gesamtsinn und die Sprache bilden zwei Mengen; wir können aufgrund unserer beschränkten Perspektive und unseres unzulänglichen Umgangs mit der Sprache nicht wissen, ob sie gleichmächtig sind und in einer Äquivalenzrela­ tion zueinander stehen, oder ob die Sprache als eine Teilmenge des Gesamtsinns anzusehen ist. Allerdings spricht Vieles dafür, dass, wie oben in Rechnung gestellt, die beiden Mengen aufeinander abbildbar

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59. Die analoge (synthetische) Funktion von Klang und Tod

sind. Denn Veränderungen in der Form des Sprechens veranlassen entsprechende Veränderungen in der Form des Gesamtsinns so, wie er in unser Verhältnis zu ihm eintritt.) Cassirers Wort von einem ‚Leben im Sinn‘ zielt darauf, wie der dinghaft-opake Stoff der Welt dank des symbolischen Formens ‚vergeistigt‘, zum geformten Material des kulturell-geschichtlichen Lebens wird und sich in diesem, insbesondere mit den Mitteln der auf Selbstreflexivität, Dialog, Diskurs und Evokation angelegten Sprache, der Sinn offenbart, an dem es sich orientiert und von dem es umgriffen ist: sich selbst zu erfassen, ein Wissen von sich selbst zu erlangen, transparent zu werden für eine Selbstverständigung: für eine Einsicht, in der sich das Leben und die Sprache für den Sinn öffnen wie umgekehrt sich der Sinn erschließbar zeigt für die bewusste Lebensgestaltung und für seine sprachliche Artikulation. Ohne die Entkörperung im Tod wäre das nicht möglich. Weshalb ist das so?

59. Die analoge (synthetische) Funktion von Klang und Tod Der Laut als Klang, der von dem entkörpernd-verkörpernden, an-, abund ausklingend tätigen Organ der Stimme geleistet wird, verbürgt die Übergestalthaftigkeit der Sprache als eines Ganzen, hieß es oben (Nr. 6), und er sichert damit die Möglichkeit der Sinnvorwegnahme, ohne die es kein sinnvolles Sprechen und sinnverstehendes Hören gibt, und zwar gerade deshalb, weil ihm trotz seiner Leibgebundenheit wesentlich das Element der Entkörperung zukommt, das ihn befähigt, mit seiner schwebenden, verströmenden ‚Luftigkeit‘ zugleich verkör­ pernd tätig zu werden und so der sinngebenden Geistigkeit ‚Raum‘ zu geben, deren Bedingung es ist, nicht mehr am ‚Körper kleben‘ (Cas­ sirer) zu müssen; genau diese Voraussetzung wird durch den stimm­ lich erzeugten, klanglich gestaltbaren Laut erfüllt, auf den insbeson­ dere der Hörer angewiesen ist, um durch ihn hindurch die Bedeutung zu verstehen. Der Gesamtsinn benötigt für die Gewährleistung seiner übergestalthaften Ganzheit in seinem Verhältnis zum Leben ebenso einen synthetischen Einheitspunkt, der zusätzlich neben die Summe seiner Teilbedeutungen tritt (wie der Klang neben die Summe der Wortbedeutungen) und Nuancierungen, Variationen, kontextuelle Änderungen, Neuschöpfungen des Sinns verbürgt; dieser Einheits­ punkt ist, merkwürdig genug, der Tod. Er ist als körperleibliches Nichts

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59. Die analoge (synthetische) Funktion von Klang und Tod

gleichsam das Pendant zum körperleiblichen Nichts im Laut; und in ähnlicher Weise knüpfen wir an den Tod die Frage nach dem Sinn, wie wir an den lautlichen Klang die Frage nach der Bedeutung und den Satzsinn knüpfen. Mehr oder weniger bewusst orientieren wir uns am Tod, wenn wir die Gestalt unseres Lebens variieren. Wir fragen uns angesichts der Gewissheit radikaler Entkörperung, ob ein geplantes Vorhaben zu einem erfüllten Leben beiträgt oder ob es das Risiko eines verfehlten Lebens in sich trägt. Ohne den Tod hätte das Leben weder in seinen Momenten eine Bedeutung noch das Leben als Ganzes einen Sinn, und eine mehr oder weniger explizite Sinnvorwegnahme, an der sich das je gegenwärtig gelebte Leben wie der einzelne Ton am Ganzen der Melodie ausrichtet, gäbe es nicht. Man glaubt, durch den Tod ver­ löre das Leben jeglichen Sinn, dabei ist es so, dass ohne ihn alles sinnund bedeutungslos wäre. Er mag als Inbegriff der Sinnlosigkeit erscheinen, aber er führt mit seiner radikalen Entkörperung vor, was es bedeutet, das ‚Kleben am Körper‘ zu überwinden, was Vorausset­ zung ist, um für geistige Schöpfungen frei zu werden und ein ‚Leben im Sinn‘ zu führen. Ähnlich ist es mit dem Laut: für sich stehend und bloß spielerisch verwendet (wie es Kinder tun), mag er uns als Inbe­ griff sprachlicher Sinnlosigkeit, d.h. als Entkörperung von jeglicher Bedeutung, erscheinen, aber zugleich bildet das Überwinden des Kle­ bens am Körper im lautlichen Klang die Voraussetzung, um das Spre­ chen für geistige Schöpfungen zu befreien. Der Tod gehört zum Leben heißt: das Leben hat einen syntheti­ schen Einheitspunkt außerhalb seiner selbst, der gleichsam ‚neben‘ oder ‚über‘ ihm mitläuft und seine Ganzheit für jede Lebensphase – beim konkret-gegenwärtigen Lebensvollzug – garantiert, die die bloße Übersummenhaftigkeit noch übersteigt und die Orientierung an einem Sinn ermöglicht, ohne den die Teile, die Momente des Lebens, nicht bedeutsam sein könnten. Das ist die Analogie zum Klang: die Sprache hat einen synthetischen Einheitspunkt außerhalb ihrer selbst, der gleichsam ‚neben‘ oder ‚über‘ ihr mit läuft und ihre Ganzheit für jede Spracheinheit – beim konkret-gegenwärtigen Sprechen – garantiert, die die Übersummenhaftigkeit noch übersteigt und die Orientierung an einem Sinn ermöglicht, ohne den die Teile, die Silben und Wörter, nicht bedeutsam sein könnten. (Die in einfa­ che Anführungszeichen gesetzten lokalen Präpositionen verweisen darauf, dass es sich nicht um eine räumliche, sondern um eine raum­ hafte Beziehung handelt, die sich eben nicht in Ortsbestimmungen, sondern atmosphärisch auswirkt.)

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60. Das Nichts und die Freiheit des Anfangenkönnens

Die Analogie besteht nicht zuletzt darin, dass beide, Tod und Klang, Bedeutungsträger sind, in denen die synthetische Einheit des Sinnganzen selbst versammelt ist. Wir hören am Klang, was gemeint (und mitgemeint) ist, und wir spüren am Tod, worauf es ankommt und was nebensächlich ist.

60. Das Nichts und die Freiheit des Anfangenkönnens Beide, Tod und Klang, fungieren entkörpernd, um der Verkörperung von Sinn Raum zu geben. Sie befreien, je verschieden, von den Fesseln der Körpermaterie und verhelfen so dem Geistigen zu einem seiner Erscheinungsform entsprechenden Ausdruck. Zwar wird auch der Laut materiell erzeugt, aber er löst sich von den stofflichen Dingen, die er ausdrückt, und transponiert sie in die symbolische Welt der Sprache, die materiell in erster Linie auf die Luft zum Atmen (für Humboldt ein Äquivalent des Geistigen) angewiesen ist (in zweiter Linie auf die Schriftzeichen). Was es – und hier kommt die Analogie an ihr Ende – mit dem Tod auf sich hat, wissen wir nicht. Aber aufgrund jahrtausendelanger Erfahrung mit der Schaffenskraft des Menschen wissen wir, dass eine Verlebendigung des Geistes bzw. das geistige Leben nur unter der Voraussetzung gelingt, dass wir mit der Drohung der absoluten Nichtigung im Tod konfrontiert sind und dieser Drohung irgendwie begegnen, sie ernst nehmen müssen, sei es mit ‚Todesmut‘ in extremen Situationen, sei es mit trotzigem Auf­ begehren (etwa bei Elias Canetti) oder Ironie und Humor (beispielhaft bei Thomas Mann). Es ist ein implizites Wissen, das die geistig-kultu­ rellen Schöpfungen grundiert, zunächst in mythischer und religiöser Formung, dann in sich davon lösenden Formen des Lieds und der Erzählung, der Poesie, Literatur, Philosophie, und das thematisch, etwa im Gedicht, Epos oder Drama, expliziert werden kann und in der Tat, neben der Liebe (zumal wenn diese, paradigmatisch in der Orpheus-Sage oder in Shakespeares Romeo und Julia, mit Sterben und Tod verknüpft wird), zu einem wesentlichen Inhalt poetisch-lite­ rarischer Formen geworden ist. Man darf wohl behaupten, dass der Film es zu einem zentralen, das Publikum fesselnden Thema machen konnte, weil sich hier die Faszination vor dem großen Geheimnis und der Schrecken über seine Unausweichlichkeit mit der Distanz, die das Medium bei gleichzeitiger Nähe durch mögliche Identifikation mit Protagonisten erzeugt, so verbindet, dass die Todesdrohung und ihre

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61. Sein und Geltung

geistig-tätige Bewältigung als Grundbedingung für ein ‚intensives‘, nämlich sinnvolles Leben deutlich werden kann. Anders gesagt: das Stehen vor dem Nichts, als das der Tod uns erscheint, ist die Voraus­ setzung für das Ergreifen der Freiheit, das sich im Anfangenkönnen realisiert; mit diesem Hebel, an dem die geistige Tätigkeit einsetzt und der sie in Bewegung setzt, unterscheidet sie sich von einem Tun, das kausal bewirkt ist.

61. Sein und Geltung An der Stelle, wo sich die Verbindung zwischen Klang und Tod in überraschender, wenngleich nicht völlig transparenter Weise, auf­ drängt, ist das Phänomen der Geltung angesiedelt. Mitwelt, Selbst, Person, Geist, sogar ‚die‘ Sprache, die allesamt zunächst Leerstellen einnehmen und als bloße Ordnungsformen zu je künftiger Manifes­ tation von Wirklichkeit überhaupt bezeichnet werden können, sind nichts ohne die realisierenden, verlebendigenden Verkörperungen, mit denen sie aus der Entkörperung heraus ins Sein treten, und dieses Sein kommt ihnen zu, weil sie Geltung beanspruchen können und zugestanden bekommen. Geltungsanspruch und die im Vollzug des dualen Modus hervorgebrachte Geltung sind ihnen nicht bloß kontingent, sondern wesentlich. Dass etwas Gesprochenes gilt und wie es gelten soll, wird vernehmbar im klanglich gestalteten Laut. Und der Tod bzw. die Gewissheit des Todes ist Voraussetzung dafür, dass im Leben überhaupt etwas gilt und als was das jeweilige Moment des Lebens zu gelten hat. Endloses Fortleben entzöge den je gegenwärti­ gen Verkörperungen ihre singuläre Geltung, sie sind gleich-gültig, wie Jorge Luis Borges in seiner Erzählung Der Unsterbliche zu Proto­ koll gibt. Das macht den menschlichen Geist aus: er erscheint überhaupt nur im geltenden Zugriff (Weisgerber) auf das, was ohne ihn und seine ‚unsichtbare‘, nur in den Verkörperungen ans Licht tretende und durch die Lichtbrechung wahrnehmbare Tätigkeit richtungslos und sinnlos entstehen und vergehen würde. Da wir aber dem Phänomen der Geltung gar nicht ausweichen können und es jedem Ding, dem Stein, Grashalm, Wassertropfen, zusprechen können, liegt es nahe, den Geist nicht lediglich auf dem Gebiet des ‚Menschlichen‘ walten zu lassen, sondern auf jeder ‚Stufe‘ des Seins (wie es Hans Jonas in seiner philosophischen Biologie unter dem Titel Das Prinzip des

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62. Zur Analogie von Klang und Tod: Rhythmisierung der Zeit

Lebens vorführt). Das muss nicht heißen, in jegliche Materie selbst Geist ‚hineinzulegen‘, aber es heißt, dass alles dem geistigen Zugriff offensteht. Allerdings sind Stein, Grashalm, Wassertropfen auch ohne Geltungszugriff, und sie beanspruchen ihrerseits keine Geltung, um zu sein; alles Menschlich-Mitweltliche jedoch ist darauf angewiesen. Geltung ist hier in der Tat die Bedingung der Möglichkeit, das ‚sein‘ zu können, was man zu sein beansprucht. Ohne das Zugestehen der Geltung wäre alles Menschlich-Mitweltliche ‚bloße‘ Materie. Man spreche und höre einen Satz ohne jeglichen Klang, in totaler Monotonie, tonlos – man versteht ihn nicht, weil ihm keine Geltung zuteil werden kann. Er gilt dann in der Tat nicht, er tritt nicht ins Sein als sinnvoller, verständlicher Satz, er ‚ist‘ bloß als Resultat einer Atemübung, hörbar, aber nicht verstehbar, denn der Geist ist aus ihm gewichen. Man stelle sich das Leben als endlos und ohne Gewissheit des Todes vor – die Lebensführung mit ihren Entschlüssen und Entscheidungen gilt dann in der Tat nicht, denn man muss nur lange genug warten, bis jeder Lebensmoment in sein ebenso gleichgültiges Gegenteil verkehrt wird, es hat letztlich keine Konsequenzen. Es gibt dann weder sittliche noch intellektuelle Verdienste, sagt der Unsterbliche bei Borges.

62. Zur Analogie von Klang und Tod: Rhythmisierung der Zeit Analogien darf man nie zu weit treiben. Aber sie können, richtig eingesetzt, beim Gegenüberstellen zweier Bereiche und im Wechsel des Blicks von der einer Seite auf die andere, jenen Bereich erhellen, um dessentwillen die Analogie gewählt wurde. Die vorliegende Ana­ logie wurde gewählt, weil die Sprache aus dem Leben erwächst und mit ihrer Sinnorientierung auf dessen Lebendigkeit und Sinngebung zurückwirkt – und diese Wechselwirkung lässt auch den Blickwechsel zu. Der Mensch möchte sein Leben nicht bloß vegetierend oder animalisch verbringen und seine ihm ‚zugemessene‘ Zeit nicht einfach hinter sich bringen, er will und muss sein Leben ‚auf menschliche Weise‘ führen. Eine solche Lebensgestaltung kann ohne das Fragen und Suchen nach einem Gesamtsinn, an dem sich das Handeln und der ganze Lebensverlauf ausrichten, gar nicht in Angriff genommen werden, selbst dann nicht, wenn man diesem im Fragen und Suchen liegenden Sinndruck entgehen zu können meint – im Gegenteil: der

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62. Zur Analogie von Klang und Tod: Rhythmisierung der Zeit

Versuch des Ausweichens erzeugt umso mehr Druck, der sich in Süchten wie Drogen- oder Alkoholabhängigkeit äußern, oder der, als vermeintlicher Ausweg und Befreiungsschlag, in Aggression und Gewalt, schließlich theoretisierend auch in post- und transhumanisti­ sche Ideologien münden kann. Zu weit getrieben wäre die Analogie, wenn man Klang und Tod gleichsetzen bzw. parallelisieren würde. Sie sind lediglich die jeweili­ gen Einheitsgrößen, die zu dem übergestalthaften Ganzen gehören, dem sie zuzuordnen sind, d.h. hier zum einen der Sprache, zum anderen dem Leben, und da die Sprache aus dem Leben hervorgeht, drängt sich diese Analogie auf, die von der Sprache her als etwas über­ gestalthaftem Ganzen das Leben in seiner übergestalthaften Ganzheit beleuchten kann. Das lässt zugleich verständlich werden, wie der Tod als Sinnbedingung des Lebens, die, anstatt ein gleich-gültiges Hinnehmen und Entwerten jeglicher Symbolik zu stützen, das Verund Ernstnehmen von Bedeutungen erzwingt, auf den Bedeutungsund Sinnträger der Sprache, den Laut bzw. Klang zurückwirkt. Das ihnen gemeinsame Dritte ist das Geltungsphänomen. Es ist nun mehr als überraschend, ja des Staunens wert, dass die Einlösung des Geltungsanspruchs und der damit verbundenen Erfüllung von Bedeutung und Sinn auf einer, poetisch mitunter durch formalisierte Taktgebung unterstützten, Rhythmisierung der als Dauer verstandenen Zeit beruht. Die Lautgebung rhythmisiert das Sprechen wie der Tod dem Leben einen Rhythmus auferlegt. Die Sprache erwächst aus dem Leben und seiner Ausdruckshaftigkeit. Sie führt es mitsamt dieser Expressivität auf eine höhere Stufe. Das bedeutet aber auch, dass die Sprache mit ihrer potenzierten Artikulation und Rhythmik die radikale Entkörperung im Tod auf diese zweite Stufe der Ausdrücklichkeit mitnimmt und in eine angemessene Verkörpe­ rung überführt. So ist es kein Zufall, dass sich Rhythmus und Takt nicht nur in der Poesie klanglich manifestieren, sondern auch die Verständlichkeit des alltäglichen Sprechens bedingen. Darüberhinaus dokumentieren sie sich in der Lebensführung, kulminierend in der Würde als Haltung, überdies in der Einlösung des Geltungsanspruchs der Würde in einer Moral des Taktes, die sich in der Rollenperformanz und in den Sprechweisen artikuliert. Diese Lebendigkeit des Geistes kann erschwert werden durch eine beschleunigte Lebensführung, die sich, insgesamt unkoordiniert, in hektischen Bewegungen, abrupten Wechseln und unüberlegten Entschlüssen äußert. Forcierte Eile und übereilte Entschlüsse zerstören den Rhythmus des Sprechens, des

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63. Zeit, Raum und Haltung

Bewahrens von Haltung und der Moral eines taktvollen Benehmens. Der Rhythmus ist die Basis des persönlichen Stils, der sich in Sprache, Haltung und Moral dokumentiert.

63. Zeit, Raum und Haltung Hier tut sich ein Zusammenhang auf, der sich geradezu als systema­ tisch aufdrängt. Allerdings kommt es bei den vorliegenden Erkundun­ gen nicht darauf an, ein System aufzubauen, das am Ende doch immer unausgegoren bleibt, weil es die freie Lebendigkeit nicht einfangen kann, sondern eben diese Lebendigkeit Schritt für Schritt besser zu verstehen – um eines menschlichen Selbstverständnisses willen, das nicht zuletzt auch praktische Orientierung bietet. Es schält sich ein Zusammenhang zwischen Zeit (1), Raum (2) und Körperleib (3) heraus, der unterschwellig die bisherigen Erwägungen begleitet hat. 1.

2.

Im Bereich der menschlichen Lebendigkeit ist, wie gezeigt, Zeit als Dauer zu verstehen (für Bergson gilt das darüberhinaus für Schöpfung und Evolution überhaupt, was uns hier allerdings nicht beschäftigen soll), in der die heterogene Vielheit (gleich einer Melodie) verschmolzen wird zu einer organischen Struk­ tur mit der Kontinuität verbürgenden Orientierung an einem Einheitspunkt, der hier als Sinn bezeichnet wurde, zumal allein dieses Kontinuum die beim Sprechen und Verstehen notwendige Sinnvorwegnahme ermöglicht und erzwingt. In der Sprache schmilzt die Vielheit zu einer Einheit im klanglich gestalteten Laut zusammen, der sukzessiv artikulierte Sinn versammelt sich im Klang, respektive schriftlich in der einer Rhythmik folgenden Syntax und Interpunktion. Dabei wird die Vielheit nicht zerstört, sondern ihre Entfaltung zufolge der lebendig realisierten Einheit wird dadurch allererst möglich. Was den Raum angeht, muss es eine damit kompatible Kon­ stellation geben. Aufweisbar ist eine Akkordanz zwischen dem ‚Innen‘ (dem Erleben) und dem ‚Außen‘ (dem Ausdruck), die die körperleiblichen Bewegungen zur Symbolik der Seele, des innerlich Erlebten und intentional Gemeinten werden lässt, eine Symbolik, in der Innen und Außen eine in sich differenzierte Einheit bilden. Der aufkommende Zorn setzt sich in eine ihm entsprechende, sich räumlich ausbreitende und den Raum ein­

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63. Zeit, Raum und Haltung

3.

nehmende, ihn geradezu umgestaltende Gebärde um. Ortega y Gasset hat diesbezüglich vom Ausdruck als kosmischer Tatsache gesprochen, weil die Gemütsbewegungen in räumlichen Bewe­ gungen ihre Entsprechung, ihre ‚Metapher‘ finden, von einer ‚Verschwisterung‘ von Seele und Raum, einer Verknüpfung des Psychischen mit dem Weltganzen. In der von Hermann Schmitz inaugurierten Neuen Phänomenologie ist vom Gefühlsraum die Rede, von der Atmosphäre, die sowohl die individuelle Person als auch die physisch-räumliche Umgebung umfasst, erfasst und sich in sie ergießt. So ist der ‚heilige Zorn‘, etwa des Achilles in Homers Ilias, etwas geradezu Kosmisches, ‚Göttliches‘, überlagert die ganze Person und gibt ihrem individuellen Tun und Sprechen die entscheidenden Anstöße. Die solchermaßen verlaufenden Linien von Zeitlichkeit und Raumhaftigkeit nun schließen sich zusammen zu einem RaumZeit-Kontinuum, das nicht physikalisch zu verstehen ist, son­ dern biologisch-expressiv. In der Haltung werden diese Struktur­ elemente in ein dynamisches Verhältnis zueinander gesetzt und in ein lebendiges ausdrückliches und ausdruckshaftes Verhalten, Handeln und Benehmen übersetzt. Zum einen wird dies in der körperlichen Haltung anschaulich, in einem nuancenreichen Spektrum von der niedergedrückten bis zur aufrechten, zum anderen in der geistigen erschaubar, für die man, eben nicht zufällig, größtenteils dieselben Ausdrücke verwenden kann; so schnüren sich die in der beschriebenen Weise sich manifestieren­ den Konturen von Zeit und Raum zu einer Einheit zusammen, für die sich der Name der Person eingebürgert hat. Da diese Einheit wie jede Synthesis, um sich zu bilden (‚zu werden, was sie immer schon ist‘), stets im Vollzug begriffen ist und nicht wie eine analytische Einheit fixiert werden kann, kommt ihr etwas zu, das ihr ein Rückgrat und damit einen Halt gibt, ohne den sie ihrer fortlaufenden Dynamik keine Gestalt und ihrer ständigen Bewegtheit nicht durch Gestaltung Konturen geben könnte. Das ist jene (oben schon mehrfach erörterte) unanschauliche, aber erschaubare und atmosphärisch sich auswirkende ‚Größe‘, die als Würde bezeichnet wird. Auch sie hat eine körperleibliche und geistige Bedeutung. Sie ‚zeigt sich‘ in der würdevollen Haltung und wurde terminologisch zu einem – aufgrund der analytischen Nichterfassbarkeit – umstrittenen Moral- und Rechtsprinzip gemacht, das historisch gesehen religiöse und (wie die ihr ver­

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64. Die Einheit des Selbst

wandte, aber mit ihr nicht zu verwechselnde Ehre) sozialhierar­ chische Bedeutung hatte. Diese historische Dynamik ist eben der synthetischen Verfasstheit der Einheit, ihres ständigen Werdens im oben beschriebenen Raum-Zeit-Kontinuum, zu verdanken bzw., je nach Bewertung, zu schulden.

64. Die Einheit des Selbst In der Person bündeln sich die beschriebenen Strukturelemente und Kontinuitätsmomente in einem Verhältnis, zu dem sie sich zu verhal­ ten hat. Dabei ist auch die je individuelle und allgemeine Vorstellung von ‚Person‘, ihre Selbsteinschätzung und Selbstverständigung, von der historischen Dynamik betroffen. Der Mensch vergewissert sich darüber, wie und als was er sich sieht, indem er sich darstellt und ‚spielt‘ – spielerisch seine Möglichkeiten ausprobiert, die ihm das Leben offeriert und dessen Ernst den Rahmen für das Spielfeld setzt. Nicht zufällig ist persona ursprünglich die Maske des Rollenspielers auf der antiken Bühne und wandelt sich über viele historische Statio­ nen zum Inbegriff des Selbst, das sich einer Vielheit von Rollen unter­ ziehen und diese umgekehrt seiner (geworden-werdenden) Eigenart unterwerfen kann. (Das Konzept der Trinität als einer Einheit von drei Personen ist der religiös-theologische Inbegriff dieser Einheit in Vielfalt, wobei hier der Begriff der Person wiederum für die jeweilige Rolle und die dabei verwendete ‚Maske‘ steht, diejenige Gottes in der Maske des allgewaltigen und Erlösung gewährenden Vaters, des Sohnes in der Maske des todgeweihten und erlösten Menschen, des Heiligen Geistes in der Maske der inspirierenden und das Sprechen in verschiedenen Zungen ermöglichenden Kraft.) Die Einheit des Selbst ist die einer heterogenen Vielfalt von personae bzw. Rollen; es ist eine Einheit, die sich im stetigen Werden zu realisieren sucht, und zwar dem Prinzip einer zeithaft-dauern­ den Lebendigkeit in dynamischer Entfaltung folgend, nicht jedoch dem eines szientifisch-physikalisch verstandenen Lebens, das dem Schwert einer abzählbaren und teilbaren Zeit ausgeliefert ist. Die Stellung des Menschen macht beide Selbstauffassungen möglich, und die erste wird zunehmend von der zweiten verdrängt, weil die ihr folgende Lebensweise einfacher und straffer zu verwalten ist. Es sind die Künstler und, was die sprachliche Artikulation angeht, die Poeten

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65. Expressiver Stil zwischen Verdunkelung und Erhellung

und manche Philosophen, die sich der ersten Variante des Selbstver­ ständnisses verpflichtet fühlen und diese zum Ausdruck bringen. Für die erste Variante ist der Tod ein Moment des fortlaufen­ den Prozesses, allerdings ein entscheidender, weil er als Katalysator des Werdens mit der Orientierung am Gesamtsinn zu gelten hat, demgegenüber, wie gezeigt, eine moralische Haltung mit der entspre­ chenden Rhythmik und Taktgebung unausweichlich ist; auch wer glaubt, sich von einer solchen Haltung suspendieren zu können, wird irgendwann feststellen müssen, dass er dem moralischen Urteilt nicht entgehen kann. Für die zweite Variante ist der Tod lediglich das abrupte Ende, mit dem das Aneinanderreihen der Zeitabschnitte und die chronologische Zählung aufhören. Die Person sieht sich einer unergründlich-unendlichen Welt gegenüber, zu der sie zugleich gehört und in der sie sich mit ihrer ebenso unergründlichen, individuell unvergleichlichen Lebendigkeit und ihren unendlichen schöpferischen Möglichkeiten des Anfangen­ könnens zu ‚bewähren‘ hat. Damit begrenzt sie ‚ihre‘ Welt und schafft sich eine für weitere Möglichkeiten offene Umwelt. Bewährung heißt hier: ihre eigene Zeitlichkeit und Raumhaftigkeit mit den körperleib­ lichen Mitteln in den Rhythmus und Takt eines lebendigen Verhaltens und Handelns eingehen zu lassen, der dem Sinn der Lebendigkeit gerecht wird. Einen expliziten Ausdruck findet dies in der sprachlichen Artikulation, mit der die hermeneutische Bewegung auf eine selbstre­ flexive Stufe gehoben wird.

65. Expressiver Stil zwischen Verdunkelung und Erhellung Die Sprache ist darauf angelegt, Selbstverständnis, Selbstzeugnis und Sachbezug im Ausdruck zu vermitteln, und zwar in grammatischen Formen auf der phonetischen, semantischen, syntaktischen Ebene. Sprache ist implizit anthropologisch bedeutsam, weil sie zugleich mit der Äußerung zu verstehen gibt, was für ein Mensch man ist und was der Mensch ist in den vielen Varianten dessen, was er sein kann, schließlich auch, was der Mensch zu sein hat im Hinblick darauf, dass sein Werden zu einer Persönlichkeit mit einem moralischen Stil zur Blüte kommt, auch wenn es unabschließbar ist. Es ist diese mit einem Nichtwissen einhergehende Unabschließbarkeit, die auf das Rätsel des Gesamtsinns verweist. Dessen Mysterium steht in einer Korre­ lation zum Mysterium der individuellen Persönlichkeit, die den Sinn

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65. Expressiver Stil zwischen Verdunkelung und Erhellung

ihres Daseins und ihre Bestimmung nicht wirklich kennt, sondern zum Ausgleich dieses theoretischen Defizits stets versucht, sich selbst durch ihr Denken und Tun zu bestimmen. So kann die Selbstbestim­ mung, obwohl zunächst ein formales und inhaltsleeres Moment, gar die Stelle des Sinns vertreten, auf dessen ‚Erfüllung‘ sie eigentlich zielt. Während sich nun die Persönlichkeit in ihrem Stil ausdrückt, darstellt und ‚lesbar‘ wird innerhalb der Grenzen ihres Ausdrucks auf der Basis des dualen Modus, erschließt sich das Geheimnis des Sinns nicht durch einen eigenen expressiven Stil, lässt aber immerhin manchen Lichtschimmer in sein Dunkel fallen, indem es, wiederum auf der Basis des dualen Modus, Optionen nahelegt, sich zu ihm zu verhalten, entweder so, dass sich völlige Finsternis ausbreitet oder so, dass das Fungieren des dualen Modus in seiner entwickeltsten und reflektier­ testen Form, der der sprachlichen Artikulation, das Dunkel ein wenig lichtet; es sind diese Optionen, von denen der persönliche Stil gespeist wird. Auch die Erzeugnisse der Dichtung spannen sich zwischen die­ sen beiden Polen auf, sie können verdunkeln oder erhellen, wobei es in der Absicht etwa eines Lyrikers liegen kann, mit Chiffren gerade das zu verrätseln, was durch die zuweilen mühsame Arbeit an einer möglichen Entschlüsselung zu einer Reflexion über das Chiffrierte, das sich nicht direkt zu erkennen gibt, anregt und über diese Vermitt­ lung sich ‚mit sich selbst bekannt zu machen‘, wie es bei Kleist in seiner Novelle über die Marquise von O. heißt (siehe dazu das Beispiel im nächsten Abschnitt Nr. 66). Eine solche Bekanntschaft mit sich selbst, eine Selbsterkenntnis, wie sie der platonische Sokrates im Anschluss an die Inschrift am Apollon-Tempel des Orakels von Delphi zum Lebenssinn macht, stellt das Verhältnis zum Gesamtsinn auf einen neuen Boden. Eine Verständigung mit sich selbst mittels einer Objek­ tivierung des Mysteriums in der Sprache der Poesie und Literatur versachlicht das Verhältnis und das Verhalten zu dem, was man nicht wissen kann und doch als Antizipation von Sinn einbeziehen muss in das, was man tut und sagt. An dieser Stelle sei die Wiederaufnahme der oben verwendeten Metapher gestattet: eine solche Selbstverstän­ digung durch sprachliche Artikulation setzt dem unreflektierten, unartikulierten Chaos von Vergänglichkeit und Vergeblichkeit, das dunkel über dem Menschen und seinem Tun schwebt, das Licht wer­ dender Selbsterkenntnis entgegen, das in einem zweiten Schritt auch dieses Dunkel zumindest teilweise erhellt. Die Sprache kann die Anthropologie mitsamt der Sinngerich­ tetheit, die ihr innewohnt, von der sie zehrt und die sie mit sich

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66. Beispiel 1: aus Kleists Marquise von O…

zieht, explizit machen; und die Dichtung arbeitet aus, was schon in jedem gewöhnlichen Sprachgebrauch steckt. Wenn man sich ange­ sichts der unübersehbaren Anzahl von Beispielen nicht den Vorwurf einhandelte, einseitig und voreilig zu verallgemeinern, weil man die heterogene Vielfalt der Dichtung vernachlässigt, ließe sich Folgendes behaupten: Literatur und Poesie richten sich auf diesem anthropolo­ gisch skizzierten Feld ein, beackern es und bebauen es so, dass das zeithaft-dauernde Werden der Person davon profitieren kann. Es erfährt Anstöße und Anregungen, die sich individuell, gesellschaftlich und menschheitlich auswirken können. Dabei kommt es wesentlich auf die Form an, vornehmlich auf Rhythmus, Klang und Syntax, in welcher die Inhalte einen sprachlichen Ausdruck finden.

66. Beispiel 1: aus Kleists Marquise von O… Man betrachte exemplarisch eine in dieser Hinsicht prägnante Stelle in Heinrich von Kleists Marquise von O… Sie ist als Witwe schwanger geworden, weiß nicht von wem (es geschah während einer Ohnmacht in Kriegswirren), wird von ihrem Vater des Hauses verwiesen, rafft im Bewusstsein ihrer Schuldlosigkeit ihre Kraft und ihren Mut zusam­ men, um die unzumutbare Situation zu meistern, und ist nicht gewillt, ihre Kinder, die Forderung des Vaters missachtend, zurückzulassen: „Und hob, mit dem ganzen Stolz der Unschuld gerüstet, ihre Kinder auf, trug sie ohne daß der Bruder gewagt hätte, sie anzuhalten, in den Wagen, und fuhr ab.“ Der nächste Absatz beginnt: „Durch diese schöne Anstrengung mit sich selbst bekannt gemacht, hob sie sich plötzlich, wie an ihrer eigenen Hand, aus der ganzen Tiefe, in welche das Schicksal sie herabgestürzt hatte, empor.“ Die Verben ‚aufheben‘ und ‚emporheben‘ umschließen syntaktisch die Bewegung, die sie ausführt und die sie an sich selbst erfährt. Mit der Wiederholung des Grundworts in den beiden Komposita, ‚heben‘, werden die körperliche und die seelisch-geistige Bewegung parallelisiert. Die Mühe, die es kostet, auch noch die Kinder in die bereitstehende Kutsche zu tragen, bereitet ihr keine Last, sondern befreit sie zu einer ‚Bekanntschaft mit sich selbst‘, einer Selbsterkenntnis, die Voraussetzung ist für die Bewältigung ihrer Lage; nun kann sie dem Schicksal die Stirn bieten und ihr Leben in die Hand nehmen, zumal nach der Erfahrung, im Zustand der Bewusstlosigkeit bloßer Gegenstand des Begehrens eines gräflichen Offiziers (ihres späteren Gatten) und, nach dem

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67. Beispiel 2: aus Dickens‘ Oliver Twist

Offenbarwerden der Schwangerschaft, der harten Maßnahmen ihres misstrauischen Vaters gewesen zu sein, der sich, um den Ruf der Familie zu retten, den gesellschaftlichen Üblichkeiten unterwirft. Die Marquise wahrt ihre Würde, während die anderen Beteiligten der ‚Menschheit‘ in ihrer eigenen Person Schaden zufügen, dann aber an der Größe, die die Marquise zeigt, sich wieder aufrichten können. Syntax, Rhythmus, Wiederholung des Verbs sind entscheidend für die sprachliche Artikulation des parallelen Vorgangs und für das Sinnverständnis des Lesers oder Hörers. Erst mit diesen sprachlichen Mitteln gelingt es, den Zusammenhang explizit zu machen und die darin liegende anthropologische Struktur überhaupt, die Verbindung zwischen Körper und Geist sowie das Werden einer sich ihrer eigenen Freiheit bewussten Persönlichkeit zu erhellen, eine Verbindung und eine Entwicklung, die sich je anders in lebendige Bewegung umsetzen, immer aber darauf warten, angestoßen und gepflegt zu werden, um Bedeutung und Sinn zu verkörpern und deren Explikation zu ermög­ lichen. Darin liegt der Sinn der Sprache; Literatur und Poesie sind die Formen, in denen er zur ‚Erfüllung‘ kommen und demjenigen, der sich ihnen, ob schaffend oder rezipierend, widmet, bewusst werden kann. Die sprachliche Artikulation, ob ausgesprochen, niedergeschrieben oder im Selbstgespräch gedanklich vollzogen, ist eine Bedingung des Bewusstwerdens im Zuge der Verständigung mit sich selbst und des auf solcher Einsicht aufbauenden Handelns.

67. Beispiel 2: aus Dickens‘ Oliver Twist Beispielhaft für die moralische Komponente in der Lebensführung und die dabei stets zu bewerkstelligende Sinnvorwegnahme ist die Erzählung über Oliver Twist von Charles Dickens. Oliver besucht sei­ nen Peiniger, den verschlagenen Hehler Fagin, in der Zelle, in der die­ ser auf seine Hinrichtung nach Anbruch des Tages wartet. Fagin hatte elternlose Kinder für Diebstähle missbraucht und versucht, Oliver zu verbrecherischen Taten zu verführen und schließlich unter Andro­ hung von Gewalt zu zwingen, und zwar in Kenntnis der Umstände, in denen Oliver, aus wohlhabendem Hause stammend, zum Waisenkind wurde, das seine Kindheit unter unwürdigen Umständen und unter Misshandlungen im Armenhaus zubrachte; ein ihm vorenthaltenes Testament bestimmt ihn zum Erben, sofern er sich keiner Vergehen schuldig macht, andernfalls fiele die Erbschaft an einen Komplizen

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68. Beispiel 3: Chor aus Sophokles‘ Antigone

Fagins. Olivers Widerstand gegen die Versuchungen und Drohungen kann aber nicht gebrochen werden. Seine Gutherzigkeit erweist sich in allen misslichen Situationen, in die er absichtlich hineingestellt wird. Und nun sieht Oliver bei seinem Besuch in der Todeszelle des Gefängnisses Fagins Verzweiflung und Todesangst. „‘Gott ver­ gebe dem Ärmsten‘, rief Oliver und brach in Tränen aus.“ Dickens lässt im Verlauf der Erzählung die unterschiedlichen moralischen Einstellungen der Beteiligten deutlich zum Vorschein kommen. Die Ungerechtigkeiten, die Oliver immer wieder, gerade auch von den leitenden Angestellten der Armenhäuser, erleben muss, sind derart himmelschreiend, dass sein moralischer Sinn nur noch weiter gestärkt wird und sich sogar angesichts von Todesgefahr bewährt. Am Ende kommt sein persönlicher moralischer Stil, der sich im Verlauf seines harten Schicksals weiter ausgeprägt hat, in den einfachen Worten zum Ausdruck, die er, das Leid und die Todesfurcht des Hinrichtungskandi­ daten kaum ertragend, an eine höhere Macht richtet, da alle sonstigen Eingriffsmöglichkeiten an ein Ende gelangt sind. Trotz der Missetaten und des bis zum Schluss ruch- und reuelosen Verhaltens Fagins sieht Oliver in ihm nicht mehr bloß den Übeltäter, sondern den Ärmsten, dem ein unerträgliches Leid auferlegt wird. Umso verachtenswerter und unwürdiger erscheinen am Ende die Peiniger Olivers in ihrer Heuchelei, Verkommenheit und Rücksichtslosigkeit, je mehr Oliver und seine Helfer in ihren Maßnahmen und Reaktionen auf das verbrecherische Gebaren von Fagin und Konsorten den Prinzipien von Achtung und Selbstachtung Ausdruck verleihen, etwas, das dem neugierigen und sensationslüsternen Publikum der bevorstehenden Hinrichtung wiederum fernliegt. Es lärmt und scherzt, während Oli­ ver seiner Achtung dem Menschen Fagin gegenüber gerade dadurch Ausdruck gibt, dass er ihn aufgrund dessen falsch geführten und letzt­ lich seinen Sinn verfehlenden Lebens als ‚den Ärmsten‘ bezeichnet.

68. Beispiel 3: Chor aus Sophokles‘ Antigone Eine ausgefeilte anthropologische Reflexion und Selbstverständigung des Menschen findet sich in der Antigone des Sophokles, in nuce vorgetragen vom Chor am Anfang des zweiten Aktes. Hölderlins metrische Übertragung (in der Ausgabe von Franz Zinkernagel) liegt in zwei Fassungen vor. Die Fassung, die zusätzlich zum Volltext entstanden ist, beginnt: „Vieles Gewaltige gibts. Doch nichts / Ist

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68. Beispiel 3: Chor aus Sophokles‘ Antigone

gewaltiger, als der Mensch. / Denn der schweifet im grauen / Meer, in stürmischer Südluft / Umher in wogenumrauschten / Geflügelten Wohnungen.“ Nach der Schilderung weiterer menschlicher Fähigkei­ ten (Jagen, Domestizieren, Bauen usw.) heißt es in der Fassung, die im Gesamttext folgt: „Der Toten künftigen Ort nur / Zu fliehen weiß er nicht, / Und die Flucht unbehaltener Seuchen / Zu überdenken. / Von Weisem etwas, und das Geschickte der Kunst / Mehr, als er hoffen kann, besitzend, / Kommt einmal er auf Schlimmes, das andre zu Gutem.“ Es ist trivial aufzuzählen, was der Mensch alles vermag, selbst der Seuchen kann er sich, wenngleich mit Mühe, erwehren, aber diesen ihn vom Tierreich abhebenden Vermögen steht seine Unfä­ higkeit, dem Tod zu entgehen, gegenüber (in der Übersetzung von August Böckh, 1843, heißt es: „dem Tod allein weiß er nimmer zu entfliehn, doch gegen schwerer Seuchen Noth fand er Heilung“); dass sein Tun trotz aller Weisheit und Kunst bzw. gerade wegen der Begrenztheit der Weisheit und Gewitztheit der Kunst zum Guten oder Schlechten bzw. Bösen ausschlagen kann, ist ebenfalls nichts Neues. Man kann dies alles in gewöhnlichen Worten ausdrücken und wird ein Schulterzucken ernten. Die dichterische Gestaltung in antiken Metren jedoch gibt dem Inhalt ein anderes Gepräge, schärft den intendierten Sinn und motiviert ein Verstehen, das auf der Antizipation dieses Sinns aufbaut und dabei Widerstände wegen zu glatter Sinnerwartungen zu überwinden hat. Die rhythmisch aus­ gearbeitete und einem Takt folgende, klangbewusste Form hebt den Inhalt aus der Alltagssprache heraus (die dasselbe sagen kann, ohne besondere Aufmerksamkeit für die Bedeutung hervorzurufen und so das Sinnverstehen vernebelt) und führt ihn dadurch auf eine neue Bedeutungsebene und in eine Dimension der Sinngebung, die in den Ausdruck der Alltagssprache zumeist keinen Eingang findet, auch wenn sie unterschwellig immer vorhanden ist. In der Sprache der Poesie wird diese Sinngebung mitgeliefert; sie geht in die dramatische Erzählung von Antigone ein. In der klanglich-rhythmisch geformten Artikulation, die ihre Reflektiertheit in den Ausdruck einfließen lässt, wird der Sinndruck des Gesamtsinns in einer Weise aufgenommen, dass er im Schicksal Antigones, in ihrem moralischen Urteil und Handlungsentschluss deutlich zum Ausdruck kommen und das Ver­ hältnis des Menschen zum Gesamtsinn und zu dessen theoretischen Unerkennbarkeit sich beispielhaft nach und nach entfalten kann: Antigone wehrt sich gegen eine despotisch angewandte Regel, um

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69. Gegen Missverständnisse 1: Humor und der Ernst des Lebens

der Menschlichkeit zum Durchbruch zu verhelfen, auch indem sie ihren eigenen Tod in Kauf nimmt; mehr noch: die tödliche Bedrohung schärft die moralische Haltung. Die geistige Haltung steht über der körperlichen Selbsterhaltung, die Wahrung der freien Lebendigkeit der Person überbietet das bloße Überleben; die Verkörperung des Sinns, der sich der Erkenntnis entzieht, aber moralisch-praktisch zeigt, wird der Entkörperung im Tod abgerungen. Antigone gibt einem allgemeingültigen (‚göttlichen‘) Guten den Vorrang vor einer partikularen, wenngleich staatlich sanktionierten, Regel. Die interne Verbindung von Sinn, Tod und Moral, der der Mensch letztlich nicht ausweichen kann, erhält in der Zuspitzung zum tragischen Konflikt deutliche Konturen. Darin erweist sich in künstlerischer Ausprägung und Meisterschaft die Funktion der poetischen Formen, den Sinn der Sprache zu erfüllen. Auf einige naheliegende Missverständnisse soll in den folgenden drei Punkten eingegangen werden.

69. Gegen Missverständnisse 1: Humor und der Ernst des Lebens Selbstverständlich geht es in den Werken von Literatur und Poesie inhaltlich nicht immer explizit um Leben und Tod, Sinn und Ver­ gänglichkeit. Buchstäblich alles kann thematisiert werden. Jedoch erhält selbst der banalste Inhalt durch die poetische Formung die Sinngerichtetheit, die ihn in die beschriebene hermeneutische Bewe­ gung hineinstellt, und sei es in der Gestalt von Nonsens-Gedichten, komödiantischen Schwänken oder romanhaften Schnulzen. Diese heben sich mit ihrer die Lust am Unsinn, am bloßen Spaß oder an der Gefühlsseligkeit pflegenden, das Poetische gleichsam nachäffenden Form von der ‚ernsten‘ Form der Poesie ab. Gerade dadurch aber wird deren Funktion umso mehr herausgestellt. Der Unsinn verweist auf den Sinn, der Spaß auf den Ernst und das Schwelgen im ‚falschen‘ Gefühl auf die Ordnung der Gefühle, die sich nach und nach aufbaut; diese strukturiert sich in der biographisch zu bewältigenden und mitweltlich im dualen Modus angelegten Auseinandersetzung mit der eigenen bodenlosen Gestelltheit ins Unendliche des Alls und angesichts der Nichtigung im Tod. Der sogenannte Ernst des Lebens verlangt geradezu nach Humor; dieser gestattet es, das Komische im Tragischen zu entdecken, das Groteske in einer ausweglosen

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69. Gegen Missverständnisse 1: Humor und der Ernst des Lebens

Situation, und er lässt das Komische nicht in der Belanglosigkeit von Jux und Tollerei verenden. Letztere mögen zunächst ‚Frohsinn‘ herbei­ führen und kurzfristig entlastend wirken; werden sie zeitlich in die Länge gezogen, stellt sich unvermeidlich Überdruss und Langeweile, gar Verwirrung ein. Denn ständiges Ausweichen vor dem Sinndruck führt in die Irre, und so kippt der künstlich erzeugte Frohsinn in die Angst um, die man hinter ihm zu verstecken sich müht – und das ist es, was den Zustand der Verwirrtheit auslöst. Heiterkeit dagegen leugnet nicht den Ernst, zu dessen Realität sie gelassen Abstand hält, ohne ihn aus dem Blick zu verlieren. Die sokratische Auffassung am Ende von Platons Symposion, der Tragiker müsse auch Komiker sein, verweist auf die Fähigkeit des menschlichen Geistes, nicht nur wohlfeile Gedankenflüge zu starten, sondern sich über das physische Dasein mit dessen unabwendbarem Zug zur Entkörperung durch Nichtigung im Tod zu erheben; der Geist ringt ihm verkörperten Sinn ab, gerade weil er, wie paradigmatisch am Klang und an der Metapher erörtert, stets selbst entkörpernd tätig und zu seiner Manifestation, zur Verlebendigung und Realisierung seiner Verkörperungen, zugleich auf dieses physische Dasein angewiesen ist. Die Wirkung des Komischen ist in dieser antagonistischen Struktur vorgezeichnet und zeigt sich dem Verständigen, der dafür einen ‚Sinn‘, Esprit, hat. Voraussetzung des Humors ist die doppelte Distanz, von der bereits die Rede war. Solchen Abstand zu gewinnen und in der rechten Weise zu halten, muss eingeübt werden; er ist die Bedingung für eine sachliche Einstellung der Welt und sich selbst gegenüber. Auch das Unausweichliche von Widerfahrnissen vermag dann nicht dauerhaft zu überwältigen, sondern kann mit einem neuen Anfang in die hermeneutische Bewegung eingebracht werden; und die individuellen Unzulänglichkeiten und Beschränktheiten werden zu Mitteln, die eigene Persönlichkeit mit ihrem unverwechselbaren, jedoch sich an der moralischen Beurteilbarkeit schulenden Stil zu entwickeln. Die Poesie führt vor, wie dieser Abstand in das sprachliche Formen eingeht, gerade auch dann, wenn sich der Dichter in sein ‚Sujet‘ hineinversetzt und der Hörer oder Leser sich auf die Identifika­ tionsangebote einlässt, die mit den Sprachbildern vorgelegt werden – sich geradezu ‚im fremden Dasein auflöst‘, wie Hofmannsthal sagt. Der Zwang zur Form, zu Metrum und Klang, befreit den Blick auf den Sinn, sowohl in kreativer Gestaltung als auch im verstehenden Hören.

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70. Gegen Missverständnisse 2: Sprache zwischen Zweck und Sinn

70. Gegen Missverständnisse 2: Sprache zwischen Zweck und Sinn Der Versuch, ein der bloßen Information und partikularen, etwa ökonomischen oder administrativen Zwecken gewidmetes Sprechen künstlerisch gestalten zu wollen, wäre der Lächerlichkeit preisgege­ ben. Jegliche Verwendung der Sprache als Instrument für solche Zwe­ cke macht einen eigenen, sprachlich begrenzten Rahmen erforderlich. Man stellt aber sogleich fest, wenn dieser Rahmen aus seinem engen Gebiet herausgenommen und auf das viel weiter gefasste Feld der Sinn- und Selbstverständigung des Menschen übertragen wird. Die zweckorientierte Sprache hat ihre Legitimation im Dienste des jewei­ ligen Zwecks, erweist aber sogleich ihre Unzulänglichkeit für den Gebrauch auf dem Feld der Sinnorientierung. Sprache überhaupt und Gesamtsinn sind aufeinander hingeordnet, hieß es. Das widerspricht nicht dem für jegliches Leben grundlegenden Sachverhalt, dass es eine Vielzahl von Zwecken verfolgt, die aus der Notwendigkeit resultieren, das Leben ökonomisch, politisch und gesellschaftlich organisieren zu müssen. Mit dem ihm eigenen Konformitätssystem von Sinnlichkeit und Sinngebung jedoch zeichnet sich das menschliche Leben zusätzlich durch den Zug zur Selbstverständigung aus, der es über die partiku­ laren Zwecke hinaus an einem Gesamtsinn ausrichtet, dessen Druck die hermeneutische Bewegung erzittern, gleichsam oszillieren lässt. Daraus resultiert eine Art von Hintergrundstrahlung, die, ohne selbst sichtbar zu werden, eine ausschließlich zweckorientierte Sprache gegen den Bereich von Sinn- und Selbstverständigung so abdunkelt, dass ihr diesbezügliches Ungenügen, ihre Stummheit hinsichtlich der Sinngebung, wie ein Schattenriss hervortritt. (Das wird z.B. deutlich an der Verwendung einer formallogischen Sprache für die Bearbei­ tung von Sinnfragen, zumal diese von vornherein durch analytische Umformulierung gehaltlos gemacht werden.) Wäre es anders, gäben wir uns mit der bürokratischen Sprache sogar in Literatur und Poesie zufrieden bzw. diese Formen würden sich von anderen gar nicht abheben, die Sprache bliebe immer bloßes Instrument für partikulare Zwecke. Wir hätten auch keine Veranlassung, ein Verlangen nach anderen sprachlichen Formen zu haben als solchen, die den Erfolg von Information und Administration sichern. Aber selbst diese sind den Weg mitgegangen, der von einer der theoretischen Unerkennbarkeit des Gesamtsinns und dem Sinndruck geschuldeten Moral des Taktes

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71. Gegen Missverständnisse 3: Moral des Taktes versus Moralisieren

eingeschlagen wird und versuchen, sich nicht außerhalb einer Sprache zu bewegen, die dem Geltungsanspruch der Würde und der Haltung des Nicht-zu-nahe-Tretens im alles überwölbenden Rahmen der Selbst- und Sinnverständigung gerecht wird. Das gilt auch für alltägliche Äußerungen in Begegnungen, die zunächst gegenstandslos und nicht einem bestimmten Inhalt gewid­ met sind. Das allseits bekannte Gespräch übers Wetter, die manchmal bemühten Eingangsfloskeln für eine nicht zu umgehende Kontakt­ aufnahme und die gängigen Wendungen zur Überbrückung einer kommunikativ schwach strukturierten Situation scheinen geradezu bedeutungslos, gar sinnlos zu sein. Sie zeugen aber von dem Bedürf­ nis, dem diffusen Sinndruck in einer Weise standzuhalten, mit der man weder dem Anderen gegenüber aufdringlich wird noch einen harmlosen Begegnungskontext ohne Not symbolisch auflädt.

71. Gegen Missverständnisse 3: Moral des Taktes versus Moralisieren Die Moral des Taktes resultiert aus dem unabschließbaren Sinn­ verstehens- und Selbstverständigungsprozess. Sie repräsentiert den Gesamtsinn, der sich dem theoretischen Erkennen entzieht, in einer unzählige Aspekte je verschieden betonenden und individuelle Per­ spektiven ermöglichenden Abschattung, die die Lebenspraxis beein­ flusst und, ob man will oder nicht, moralisch beurteilbar macht. Der Vorwurf liegt nahe, dass die Universalität einer solchen Moral, die ein Ingrediens der Sprache überhaupt ist, insofern diese jenem Prozess dient, dem Moralisieren mit dem Ziel der Überwälti­ gung eines Diskurs-Kontrahenten Tür und Tor öffnet. Inzwischen werden selbst Kommunikationsformen in Institutionen der Wissen­ schaft, etwa den Universitäten, die der Suche nach Wahrheit und Rich­ tigkeit verpflichtet sind, von moralisierenden Einsprüchen unsachge­ mäß beschnitten und in ihrer Funktion beeinträchtigt. Das durch künstlich forcierte Identitätsdiskurse motivierte Gefühl der eigenen Vulnerabilität soll über die Inhalte und die Wortwahl bestimmen. Es dürfe nichts gesagt werden, was jemanden in seiner von außen produzierten, emotionalisierten Identität verletzen könnte, wobei die Bindung an eine bestimmte Identität generalisierenden Mustern der Herkunft, Religion, Geschlechtsorientierung, Hautfarbe etc. folgt; es sind nun gerade diese zu Klischees geronnenen Muster, die von einem

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71. Gegen Missverständnisse 3: Moral des Taktes versus Moralisieren

‚Kleben am Körper‘ einschließlich seines gesellschaftlich festgelegten Orts zeugen und jegliche geistige Orientierung – Distanz und Selbst­ distanz – vermissen lassen. Einem solchen Moralisieren, das die Vorgaben äußerlicher, ideologisch konstruierter Identitätsvorstellun­ gen einzulösen versucht, verwehrt die Moral des Taktes eine sachliche Legitimation. Ein taktvoller Umgang berührt, ohne zu berühren (so eine Formel Plessners). Er schafft eine Distanz, über die hinweg man durch die Mittel des – leiblichen und sprachlichen – symbolischen Ausdrucks hindurch zu einer unmittelbaren Nähe findet, ohne dem Anderen zu nahe zu treten, d.h. ohne ihn auf eine präsupponierte Identität festzulegen. Das wirkt befreiend, löst die voreilige, undurch­ schaute Bindung an Identitätszuschreibungen und ermöglicht den Diskurs über jede Sache, von der man sich betreffen lässt, ohne betrof­ fen zu sein. Betroffenheit lässt sich leicht und wiederholt erzeugen, allein schon durch einen ‚erhobenen‘ Ton, einen emotionalisierten Klang der Sprache. Takt jedoch kann nur in alltäglichen und insti­ tutionalisierten Kommunikations- und Diskurssituationen eingeübt und verstetigt werden. Die kindliche Grundeinstellung, die die Zeit als Dauer erlebbar macht, bietet dafür die besten Voraussetzungen. Allerdings werden Bildungs- und Erziehungsprozesse zu sehr unter das Regime der abzählbaren Zeit gestellt, so dass die Übung des Sprechens, Miteinandersprechens, Besprechens, Redens, Vortragens, Vorlesens und Lesens selten den Takt und Rhythmus findet, die es braucht, um taktvolle Umgangsformen kontinuierlich zu pflegen und dauerhaft zu erhalten. Es ist die Aufgabe des Menschen, sich und der Welt, in der er lebt, eine Form zu geben; und die vom Menschen gefundene, gestaltete und geschaffene Form steht in interner Verbindung zur reinen Dauer (durée) als der zeitlichen Bedingung, unter der sein Leben der Sinnorientierung fähig wird. Diese interne Verbindung ist nicht einfach gegeben – es ist offensichtlich, wie der Mensch in seiner ‚Lebensführung‘ der Vorstellung einer abzählbaren Zeit folgen und diese Macht über ihn gewinnen lassen kann –, sondern muss im Prozess des Formens stets aktiv gesichert werden. Form verbürgt Dauer, und Dauer bedarf der Form. Das zeigt sich nicht nur in der Moral als Takt, die in die körperleiblich-geistige Haltung eingeht, sondern deutlicher noch an der Sprachform. Gleich der Haltung, die bei allem Wandel sich je zu aktualisieren, den situativen Anforderungen an Flexibilität zu genügen und sich dabei in ihrer Festigkeit zu bewähren hat, ist es die Sprachform, die bei aller

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72. Entkörperte Form und reine Dauer

historischen Wandelbarkeit und sozialkulturellen Geschmeidigkeit die Dauer in der je aktuellen Anpassung der Wortbedeutungen und Klangdifferenzierungen sichert. Unabhängig von der Diskussion um den Zeitbegriff, wie sie über das Verhältnis von Qualität und Quan­ tität, Intensität und Extensität in einer ‚reinen‘ ursprünglichen Zeit geführt wird, meint Dauer hier nichts anderes als die Beständigkeit und Unverwechselbarkeit der Haltung sowie der Sprachform, die sich gerade aufgrund ihrer Sichselbstgleichheit inmitten von Wandel und Veränderung bewähren können. Insofern sichern sie das Werden als Entwicklung, als schöpferische Entwicklung, wie Bergson mit Bezug auf die Evolution überhaupt sagt. Die Identität der Form in Haltung und Sprache ist die Bedingung der heterogenen Vielfalt in der Dauer und des Schöpferischen im Menschen. Die Haltung zu wahren und aktuell so zu verlebendigen, dass sie einem möglichen moralischen Urteil, dem eigenen wie dem fremden, standhält, erfordert ebenso spontane Kreativität wie der situationsgerechte und kontextsensitive Einsatz beim Sprechen; und diese Schaffenskraft, das schöpferische Vermögen, kann sich nur entfalten vor dem Hintergrund von Stetig­ keit, auf der Folie der Form und ihrer synthetischen Verbindung mit der Zeit als Dauer.

72. Entkörperte Form und reine Dauer Gleich der Mitwelt, der sie entspringen, machen Haltung wie Sprach­ form zunächst eine Leerstelle, eine entkörperte Form aus, die Ansatz­ punkt für eine Verkörperung ist. Bühler nennt es in Bezug auf die Sprachform ein leeres Schema der Grammatik, das dem Gedanken zum Ausdruck verhilft, für Kleist ist es die zuhörend-verständige Haltung und äußere Bewegtheit eines anderen, die den Gedanken zu einer ‚Verfertigung‘ drängen. Verkörperung und Entkörperung sind aufeinander angewiesen. Die Sprachform und ihre Aktualisierung im Sprechen basiert auf dem Zusammenspiel zwischen Verkörpern und Entkörpern; überdies kommt darin die interne Verbindung von Form und Dauer zum Aus­ druck. Sinnvorwegnahme und antizipierendes Sinnverstehen zeugen nicht von einer abzählbaren Zeit, sondern von der Dauer als Bedin­ gung der Wort-, Satz- und Redeproduktion, zumal wenn sie poetisch geformt sind. Bergson erörtert die Voraussetzung von Dauer für die Kontinuität im Werden und Stetigkeit in der Veränderung mit Bezug

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72. Entkörperte Form und reine Dauer

auf das Konzept von ‚Ich‘, Gedächtnis und Erinnerung. Darin ist das Nacheinander der Zustände nicht getrennt, sondern verschmolzen zu jener Einheit, die eine nicht in ihre Teile oder Momente aus­ einanderbrechende Vielheit erst ermöglicht. Das Selbstbewusstsein erbringt diese Integrationsleistung, indem es sich eine in Stil und Haltung manifest werdende Form gibt. (Ein Auseinanderbrechen der Momente gilt als Zeichen schwerer psychischer Erkrankungen; in der Psychiatrie wird von Depersonalisierung gesprochen. Denn es ist die Person, die im Wechsel ihrer Rollen und Wandel ihrer Tätigkeiten ‚dauert‘.) Nicht zufällig jedoch erläutert Bergson im zweiten Teil seiner Einführung zur Aufsatzsammlung mit dem Titel Denken und schöp­ ferisches Werden die reine Dauer am Beispiel des Sprechens: das Aussprechen eines Wortes, eines Satzes, einer Rede bilden im ‚Laut­ fluss‘, der sich stets (und nicht in abtrennbaren Teilen) auf den Sinn richtet, mit diesem eine Einheit; und Bergson fügt hinzu, unser ganzes Leben sei in der Hinsicht auf Dauer und Form gleich einer ‚beliebig ausgedehnten Rede‘. Das gilt ebenso für das ‚Gespräch der Menschheit mit sich selbst‘, das sich in unzähligen Sprachen, Dialekten, Soziolekten, indi­ viduellen Sprechweisen und anlassbezogenen Reden ausdifferenziert. Menschliche Sprache und Rede überhaupt als zunächst entkörperte Leerstellen bilden in der Vielfalt ihrer Verkörperungen eine Einheit mit dem Gesamtsinn und sind wirklich und schöpferisch-lebendig in reiner Dauer. Wäre es anders, verharrten sie in Stagnation wie die ideologische Sprache totalitärer Staaten; oder sie flüchteten sich in logische Formen und Formeln, wie sie von Theoretikern der einfäl­ tigen Wortbedeutungen gefordert und praktiziert werden. Dagegen vollziehen sich Veränderung, Erneuerung, Werden als steter Wechsel zwischen Verkörperung und Entkörperung: in der Rollenvielfalt der Person; in dem Verblassen oder Bedeutungsverlust von Sprachbildern und Metaphern sowie – im Gegenzug – dem Gewinn neuer Bedeu­ tungen; im Wandel der Sprachen bis hin zur Verschmelzung von Sprachen und Dialekten in der Folge kulturellen Austauschs, von Völ­ kerwanderungen und Eroberungen, der Globalisierung des Handels und den Erfordernissen einer lingua franca, die möglichst weltweit gebraucht und verstanden wird, ohne die Sprache der ‚Einheimischen‘ zu verdrängen.

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73. Die Rhythmik der sprachlichen und biologischen Syntax – Sinn und Moral

73. Die Rhythmik der sprachlichen und biologischen Syntax – Sinn und Moral Hinsichtlich der Metapher war oben (Nr. 13) vom Hinzufügen und Abstreichen, Hervortreten und Abdecken, von Figur und Grund die Rede, auch von Bedeutungsentleerung und Bedeutungserfüllung. Was diese Vorgänge ohne Verlust an geistig-sinngebender Substanz im Sprechen, Reden und Bedeuten ermöglicht, ist der Sinn selbst, auf den sich all diese verkörpernden und entkörpernden Tätigkeiten rich­ ten. Denn ohne diese Sinngerichtetheit ginge die Entleerung (Ent­ körperung) tatsächlich ins Leere, die angestrebte Erfüllung (Verkör­ perung einer neuen Bedeutung) würde sich nicht einstellen. Alles bliebe unverständlich. Das ist in der Tat dann der Fall, wenn die Sinn­ richtung verlassen wird und beim Hinzufügen oder Abdecken usw. die Orientierung am Sinn völlig fehlt. Wie ist das Übergehen vom Abstreichen zum Hinzufügen, vom Entleeren zum Erfüllen, das Umkippen zwischen Figur und Grund, Oberfläche und Tiefe, Maske und Selbst, Rolle und Person möglich, ohne dass beim Übergang oder Umschlagspunkt der Sinn verloren­ geht? Die unabdingbare Voraussetzung dafür ist die doppelte Synthe­ sis, von der oben (Nr. 6) hinsichtlich der Übergestalthaftigkeit die Rede war. Was die Sprache angeht, wird die übergestalthafte Ganzheit mittels einer Einheit neben der Einheit der Bedeutung gewährleistet und angezeigt, vornehmlich mit dem Klang, aber auch der syntakti­ schen Folge; diese zweite Einheit ‚trägt‘, ‚transportiert‘ den Sinn, hält ihn gleichsam fest und sichert beim Übergehen oder Umkippen die übergestalthafte Ganzheit, die auch eine Übersummativität oder Untersummativität der metaphorischen Teilbedeutungen zulässt, welche Bühler wesensnotwendig für die Metapher ansetzt. Aus der doppelten Synthesis resultiert die Eigentümlichkeit der sprachlichen Artikulation, dass der Klang, die Tonhöhe (das Tonem im Chinesischen) oder die Syntax den Sinn vorwegzunehmen gestatten. Beispielhaft ist die syntaktische Reihenfolge, die eine Frage oder eine Aussage anzeigt, oder, wie in chinesischen Sprachen, für das Verste­ hen der Bedeutung von einzelnen Wörtern im Sinnzusammenhang entscheidend ist. Hier schließt sich eine Überlegung an, die zum einen spekulativ ist, weil sie nicht mit Beweisen aufwarten kann, auch weil sie die Linie von der sprachlichen Sinnreflexion verlängert in die Frage

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73. Die Rhythmik der sprachlichen und biologischen Syntax – Sinn und Moral

nach dem unerkennbaren Gesamtsinn und insofern eine metaphysi­ sche Schlussfolgerung anstellt; zum anderen ist sie moralisch-prak­ tischer Art und zieht damit die Konsequenz daraus, dass sich der Gesamtsinn einer theoretischen Erkenntnis entzieht und dennoch eine Wirksamkeit entfaltet gerade für die Lebensführung und ihre moralische Beurteilbarkeit. Jedenfalls folgt diese Überlegung dem hier eingeschlagenen Verfahren, von der Sprache Rückschlüsse auf das Leben, aus dem sie hervorgeht, zu ziehen. Was sich der unvoreingenommenen Betrachtung zeigt, ist ein übergestalthaftes Ganzes, das sich in unterschiedlichen Dimensionen dokumentiert: im Körperleib des Menschen, in seinem geistigen Schaffen mit den entsprechenden Werken, in der sprachlichen Laut­ gebung, in seinem individuellen wie menschheitlichen Leben über­ haupt, und darin erschaubar wird. Die doppelte Synthesis ist dabei jeweils die Voraussetzung für das Einschlagen der Sinnrichtung bei allem Übergehen im Wandel, für die Möglichkeit, den Sinn ‚festzu­ halten‘ inmitten des hermeneutischen Verhältnisses, in dem sich der Mensch vorfindet und das er zu gestalten hat: in Haltung und Bewe­ gung, im Denken und Sprechen, in der Lebensspanne und Mensch­ heitsgeschichte. Neben die Einheit der Bedeutungen, die all dieses Tun und Geschehen, das Wirken und Erleiden, jeweils aufweisen, tritt die Einheit, die den Sinn ‚trägt‘ und ‚transportiert‘, ihn so ‚repräsentiert‘, dass Veränderung in der Dauer möglich ist, d.h. Bedeutungen können variiert werden, ohne dass die Sinnorientierung verlorengeht. Diese ‚zweite‘ Einheit ist es, die auch hier jeweils die Sinnvorwegnahme zulässt, nahelegt und geradezu erzwingt. Oben (Nr. 59) hieß es, diese Einheit sei, analog zum Klang, der Tod. Ohne diesen inhaltlich bestimmen und ihn über das Faktum hinaus, dass der Tote nicht mehr ‚da‘ ist, als das, was er ist, erkennen zu können, müssen wir doch zugeben, dass er der Art, wie wir uns lebendig artikulieren, einen Sinn verleiht, der inhaltlich nun wiederum nicht festgelegt ist. Es wurde aber bereits (Nr. 60) festgestellt, dass die beiden synthetischen Ein­ heitspunkte, die zu der jeweiligen Einheit der Bedeutung noch hin­ zukommen, der Klang (in Verbindung mit der syntaktischen Reihen­ folge) und der Tod, entkörpernd, von den Fesseln der Körpermaterie befreiend wirken; sie halten die geistige Ader der Lebendigkeit in Fluss und stehen ein für das Anfangenkönnen im Prozess des Ver­ körperns von Sinn. Sie sind Voraussetzungen dafür, dass den einzel­ nen Momenten des Lebens und seiner Gestaltung Bedeutung verlie­ hen werden kann, und ineins damit für die Rhythmisierung der Zeit

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74. Unabschließbarkeit der hermeneutischen Bewegung

als reiner Dauer. Von dieser können wir weder Anfang noch Ende angeben. Die kindliche Frage, wo wir vor der Geburt waren und nach dem Ende des Lebens im Tod sein werden, hat insofern ihre Berech­ tigung (und ist ja auch von Philosophen wie Platon in mythisch-phi­ losophischer Diktion erörtert worden). Diesseits des philosophischen Mythos können wir sagen, dass, gleich der sprachlichen Syntax, das Leben eine bestimmte Reihenfolge (Geburt, Wachstum, Reifung, Altern, Sterben, Tod) durchläuft und einer biologischen Syntax mit einer rhythmisierten Zeit folgt, die nicht bloß der physischen Not­ wendigkeit geschuldet ist, sondern, wiederum wie die sprachliche Syntax, den Sinn widerspiegelt, der mit diesem Rhythmus einhergeht. Der Sinn kann nicht in irgendeinem Gehalt liegen, den zu erreichen man bestrebt ist und der doch immer unerreichbar bleibt, sondern er liegt in der personal-moralischen Entwicklung selbst – so wie der Sinn des Satzes im klanglich akzentuierten Lautfluss des Sprechens selbst liegt und im nichträumlichen Nacheinander verständigen Hörens, nicht außerhalb in irgendeinem unaussprechlichen Gehalt –, eine Entwicklung, bei der es nicht darauf ankommt, ein Ziel zu erreichen und dieses als Sinnerfüllung auszuzeichnen, darauf wartend, dass es endlich gelingt, sondern jede Stufe, jedes Moment selbst den Sinn trägt, mit dem sich die Einzelbedeutungen zu einer vielgestaltigen Einheit verschmelzen und von dem her sie allererst ihre Bedeutung erhalten. In der strukturgenetischen Theorie Jean Piagets und seiner Nachfolger ist deshalb von hierarchischen und integrierten Stufen der geistig-moralischen Entwicklung die Rede, die eine unumkehrbare Sequenz bilden, deren Sinn auf jeder Stufe ‚anwesend‘ ist; Piaget sieht diesen Sinn im Streben nach einem moralischen Gleichgewicht bzw. nach Gerechtigkeit.

74. Unabschließbarkeit der hermeneutischen Bewegung Mit der Artikulation des Gesamtsinns verhält es sich wie mit der Artikulation des Sinns beim Sprechen. Er ist bezüglich des Lebens, der Menschheit, der Sprache überhaupt in dem fokussiert, was ihn vorwegzunehmen gestattet (dem Tod, und zwar nicht als bloßes Nichts, sondern als Inbegriff der Entkörperung im Zusammenspiel mit Verkörperung), und manifestiert sich in einer bestimmten Rei­ henfolge, die diesen Sinn anzeigt und aufbewahrt (in der personalmoralischen Entwicklung). Der Tod darf dann aber nicht als absolutes

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74. Unabschließbarkeit der hermeneutischen Bewegung

Ende betrachtet werden, genauso wenig wie die Geburt als absoluter Anfang. Denn die für den Sinn unumgängliche Rhythmisierung der Zeit in der Dauer mit ihrer Verschmelzung zu einer werdenden, sich je mit ihrer Artikulation entwickelnden Sinneinheit mit einer unabschließbaren Verlaufsform widerspricht kontradiktorisch dem Gedanken von einem endgültigen Abschluss, und der Gedanke von einem absoluten Anfang (Ursprung) steht konträr zu dem Sachver­ halt, dass jeder schöpferische Akt des Verkörperns, etwa bei jedem Ansetzen im Sprechen, ein Anfangen ist. Darin bestätigt sich die Einsicht Kants, dass die Freiheit keine theoretische Erkenntnisgröße ist, sondern moralisch-praktische Bedeutung hat. Freiheit wird hier jedoch nicht, wie bei Kant, in den Rahmen der Kausalität gestellt und als Unabhängigkeit von Naturkausalität begriffen, sondern erhält ihre Bedeutung in moralisch-praktischer Hinsicht von dem phänome­ nologisch erschaubaren Sachverhalt, dass das geistige Verkörpern, gerade beim Sprechen, immer neu anfängt und sich der – zwar häufig nicht gebotenen, aber bei Bedarf möglichen – moralischen Beurteilbarkeit stellen muss. Statt von Kausalität sollte man hier von den Rhythmen der Dauer und den Takten lebendiger Bewegtheit sprechen, statt Verursachung vom Eintakten in die hermeneutische Bewegung, dessen Motivation im dualen Modus wurzelt. Bei jeder leiblichen und sprachlichen Artikulation kommt dies zur Anschau­ ung, am deutlichsten in der Poesie, weil in ihr Rhythmus und Takt reflektiert gestaltet werden, wobei die Mittel, die der duale Modus, die Mitwelt – vor dem Hintergrund des Nichts der Entkörperung im Tod –, zur Verfügung stellt, so verwendet werden, dass der Sinn durch sie vorgezeichnet sowie durch sie hindurch vernehmbar und von jedem Hörer, Leser, Gesprächsteilnehmer, Dialogpartner erschlossen werden kann. Sowohl die Sinngebung im Sprechen als auch die Sin­ nerschließung im Hören ist kein bloßer Gebrauch eines vorhandenen Stoffes, sondern eine aktive, geistig induzierte Neuschöpfung. Diese Erfahrung kann man bei jedem erneuten Lesen eines Gedichts oder der Lektüre eines literarisch gestalteten Romans, nicht zuletzt beim wiederholten Studieren eines philosophischen oder anderweitig geis­ teswissenschaftlichen Textes, aber auch in thematisch angereicherten Gesprächen machen. Auch und gerade hierin erweist sich die Ver­ laufsform der hermeneutischen Bewegung und des immer erneuten Ausgreifens nach dem Sinn als unabschließbar, die rhythmisierende und taktgebende Dauer in der Vielfalt der Sinnschöpfungen und Sinnerschließungen als unendlich.

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75. Haltung und Atmosphäre

75. Haltung und Atmosphäre Das sprachliche Paradigma für das Festhalten des Sinns überhaupt beim Umschlagen zwischen Entleeren und Erfüllen, Entkörpern und Verkörpern war die Metapher mit ihren Teilbedeutungen, die unter der Regie des Sinns je neue Inhalte gewinnen. Auch der Satz, dessen Sinn etwa durch einen ironischen Ton mit der klanglichen Nuancie­ rung und Variation der Wortbedeutungen zwar verändert, gar ins Gegenteil verkehrt, auf den aber just mit der Abhebung von ihm Bezug genommen wird – ohne welchen kein Verstehen von Ironie möglich wäre –, ist ein solches Beispiel. Und jeder humoristische Ver­ such, das Komische, Groteske oder Lächerliche durch Verkehrung des Sinns in Unsinn oder Widersinn, durch Überzeichnung einer Gestalt ins Karikaturistische, einer Situation ins Absurde hervortreten zu lassen, bezieht sich auf den gewohnten Rahmen, um ihn sprengen und die Perspektive von ihren Beschränkungen befreien zu können; er erzielt seine Wirkung gerade durch das Festhalten am Sinn, dessen Konturen dadurch geschärft und deutlicher sichtbar werden. Wie steht es nun damit im Verhältnis von Leben und Tod? Kann das Umkippen des Lebens in den Tod während des entkörpernden Sterbensaktes mit Fug und Recht als Übergehen bezeichnet werden mit einem Umschlagspunkt, der Zäsur, die wir kennen, wenn der Tote nicht mehr ‚da‘ ist? Wird bei diesem Umschlagen der mit dem Tod vorgezeichnete, wenngleich noch entkörperte und inhaltlich noch nicht bestimmte, aber im Leben zu verkörpernde Sinn festgehalten und variiert bzw. neu bestimmt, gar neu geschöpft? Und wenn dies bejaht werden kann – wodurch? Es wurde gesagt, dass die doppelte Synthesis der übergestalthaften Ganzheit ihren Einheitspunkt im Tod als der zweiten, sinntragenden Einheit neben der Einheit der Bedeutungen der Lebensmomente findet. Aber worin kann sich die Sinngerichtetheit beim Übergehen bzw. im Umschlagspunkt zeigen, und zwar so, dass sich die einzelnen Bedeutungen nuancieren, verän­ dern, neu bestimmen lassen können? Was am Tod ist es, das den Sinn nicht bloß virtuell, sondern wirklich trägt und transportiert, ihn so vorzeichnet, dass er Orientierung bieten, eine Richtung angeben, verkörpert und verstanden werden kann? Was genau übt hier die Funktion aus, die der des Klangs, des Tonems oder der syntaktischen Reihenfolge bei der sprachlichen Artikulation entspricht? Es kann nur das sein, was die Einheit des Sinns in der Vielfalt variabler Gestalten und Gestaltungen festhält.

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76. Das Verhältnis von Leben und Tod

Das ist zum einen, wie oben bereits angedeutet, im Rahmen der Leibessynthese von Leben und Tod die Haltung, die das Rückgrat bildet für die bewegliche und situationsadäquat zu variierende Leben­ digkeit sowohl der individuellen Person als auch der sozial sich ausdifferenzierenden Mitwelt, deren Glieder die Personen sind und die sie ihrerseits tragen und repräsentieren; so konnte Pierre Bourdieu die Rede vom Habitus nicht nur auf einzelne Menschen, sondern auch auf Gesellschaften und Kulturen beziehen. Zum anderen ist es die zur Haltung akkordante Atmosphäre, die im Verhältnis des Lebens zum Tod, und was deren synthetische Einheit im Körperleib betrifft, das Numinose anzeigt, das mysterium tremendum et fascinosum des Todes, auf den sich das Leben unaufhaltsam zubewegt, ohne zu wissen, wann er eintritt und was er ist, das anziehende und abstoßende Geheimnis, das sich im tief verankerten Grundgefühl des menschlichen Lebens ausdrückt und der Haltung ihr Maß gibt.

76. Das Verhältnis von Leben und Tod Wie ist dieser Zusammenhang zu verstehen? In die Haltung fließt maßgeblich das Verhältnis zum Tod ein als der unwiderstehlichen Richtung, die das Leben einschlägt – und damit der Sinndruck, der sich beim Menschen nun einmal moralisch auswirkt. Dieses Verhält­ nis tritt in der Regel nicht an die Oberfläche, es zeigt sich nicht explizit auf der Ausdrucksfläche des Leibes – obwohl der feinsinnige und geschulte Beobachter vornehmlich im Gesicht Spuren von Erlebnis­ sen oder inneren Erfahrungen mit dem Tod wahrnehmen kann – und verbirgt sich stattdessen hinter ganz unterschiedlichen Masken, etwa solchen gespielter Heiterkeit oder aufgesetzter Lustigkeit, die den ‚Ernst des Lebens‘ vergessen lassen möchten, jedoch von der Angst vor der abzählbaren Zeit zeugen, die demjenigen sinnlos zu verrinnen scheint, der sich nicht auf die Zeit als Dauer einzulassen vermag. Unabhängig davon kann man einer konkreten Aktualisierung des Verhältnisses zum Tod biographisch und anlassbezogen nicht entgehen. Wird es damit ernst, dann stellt sich jene Haltung ein, die dem Sinndruck zu schulden und die allein diesem standhalten kann: die Haltung der Würde; sie ist zum einen erschaubar und atmosphärisch wirksam, zum anderen fällt sie mit dem Geltungsan­ spruch der Person des Menschen zusammen. Von der Situation, in der die Person zu einem Leichnam geworden ist, dessen Körperleib

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76. Das Verhältnis von Leben und Tod

noch anwesend, aus dem die geistige Person jedoch ‚entwichen‘ ist – Plessner führt nicht zufällig an dieser Stelle paradigmatisch den Begriff der Entkörperung ein –, geht eine Atmosphäre aus, die beim ‚Überlebenden‘ geradezu die Haltung der Würde erzwingt; er bemüht sich, ob in Trauer, Betroffenheit, Verzweiflung, sich in einer Weise zu verhalten, die weder den Toten noch sich selbst in seiner Person herabwürdigt und der numinosen Atmosphäre des Todes gerecht wird. Die Rede von der Würde der Situation drängt sich hier geradezu auf; das hat Folgen insbesondere für die Sprache, die man als Reaktion auf den eingetretenen Tod verwendet und zumeist in ein Schweigen angesichts des ‚großen Geheimnisses‘, des Numinosen, das mit dem Tod auftritt, übergeht. Und vor dieses Rätsel sind wir stets gestellt, der Tod ist, wie Paul Ludwig Landsberg sagt, anwesend in Abwesenheit. Im Tod dagegen sei die Person, das Leben, ihr lebendiger Geist entwi­ chen, hieß es, aber ist dennoch, wiederum nach Landsberg, abwesend in Anwesenheit – oder anders: verkörpert in der Entkörperung; und unter dem Aspekt des nicht bloß wie ein Ding vorhandenen, sondern ‚entseelten‘ Leichnams, der immerhin noch das Entweichen der geistigen Person verkörpert: entkörpert in der Verkörperung. Im Verhältnis von Leben und Tod ist die Paradoxie, die sich in sprachli­ chen Artikulationsformen feststellen lässt, auf die Spitze getrieben: Verkörperung und Entkörperung bilden ein solches Ineinander, dass das eine ohne das andere nicht zu haben ist. Es ist wie mit dem menschlichen Körperleib selbst: der Körper ist ohne den Leib genauso undenkbar wie der Leib ohne den Körper, nur in ihrem gedoppelten Auftritt kann der Körper das Material für den Ausdruck liefern und der Leib symbolisch werden, d.h. Sinn verkörpern, sich ‚vergeistigen‘. Genauso ist es mit Leben und Tod: Ohne den Tod keine ausdrucksvolle Verlebendigung, d.h. Vergeistigung und symbolische Formung des ‚Lebensmaterials‘, keine Verkörperung von Sinn; ohne das Leben keine Entkörperung im Tod mit der Befreiung vom ‚Kleben am Körper‘, die doch ihrerseits wiederum die Voraussetzung für Vergeistigung und Formung ist. Der Tod muss als Bedingung des Anfangenkönnens verstanden werden, wenn anders das schöpferische Symbolisieren – die Fähigkeit, ‚die Welt zu beseitigen, um sie an sich zu ziehen‘ (Cassirer) – die wesentliche conditio humana ausmacht. Wäre der Tod ein bloßes Nichts, als das er in mechanistisch-mate­ rialistischer Einstellung erscheint, dann könnte das Ineinander von Verkörperung und Entkörperung nicht den tragenden Grund bilden für die schöpferische Expressivität mit der Gipfelung in Sprache und

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77. Die Syntax des Lebens

Poesie und für die Symbolisierung von Sinn im Material des Körpers, wie sie etwa in der rollenspezifischen Variabilität von Haltungen augenfällig wird.

77. Die Syntax des Lebens Personen artikulieren sich in ihren Haltungen, in der sie ihre Rollen ausüben und die es ermöglichen, ihre Rollenvielfalt zur Einheit des Sinns zu verschmelzen, der sich in der Dauer der Haltung manifes­ tiert. Insofern lassen sich, wie Bergson das tut, der Satz und die Rede mit den Phasen der Lebensspanne und dem Leben überhaupt verglei­ chen. Der Strom des Lebens richtet sich stets auf den Sinn und bildet in seinem Fließen, im Vollzug der Lebensführung mitsamt dem Erleiden von Widerfahrnissen, mit diesem Sinn eine Einheit. Der Sinn ist in jeder ‚Teilbedeutung‘, in jedem Lebensmoment ‚anwesend‘, vorwegge­ nommen und verschmolzen mit den Bedeutungen, die die jeweilige Person ihren Rollen, Handlungen, Reden zukommen lässt. Wäre es anders, so stünde jeder Moment mit seiner Bedeutung abgetrennt für sich; weder ein Gespräch könnte kontinuierlich geführt werden, noch gäbe es Personen als Teilnehmer des Gesprächs oder könnten sich Persönlichkeiten bilden. Personen aber mit ihrer Haltung, und gerade was das Spiel ihrer Rollen anbetrifft, treten ins Sein, indem ihnen Geltung zugestanden wird. Solche Geltung ist immer eine moralische, an Achtung, Selbstachtung und Würde gebundene; aus diesem Grund tritt sie als Anspruch auf, als Geltungsanspruch, der unhintergehbar – wenn man so will: ontologisch wirksam – ist und dessen Einlösung mit der moralisch beurteilbaren Haltung einhergeht. Das bedeutet kein Moralisieren, sondern eine Orientierung der Lebensführung am Gesamtsinn, den wir theoretisch nicht erkennen können, der sich uns aber mit seinem unausweichlichen Druck in der Beurteilung, im eigenen Selbstverständnis und in der Selbsterkenntnis aufzwingt. Es ist die Würde des Menschen bzw. der Person, die perspektivisch (weltlich) gebrochen vom Gesamtsinn und seiner Dauer zeugt. Und wie für die hermeneutische Bewegung lassen sich für die Würde als Haltung und Geltungsanspruch weder Anfang noch Ende angeben. Es zeigt sich gerade im Tod, dass die Würde im Rahmen einer abzählbaren Zeit gar nicht verständlich ist, sondern mit der Zeit als Dauer korreliert. Dem Toten wird eine würdevolle Behandlung gewährt, und der Toten wird in Würde gedacht, selbst wenn sie im

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77. Die Syntax des Lebens

Leben gefrevelt haben und ihr Handeln verbrecherisch war. Würde ist für die Vielfalt möglicher Haltungen das Gerüst, das ihnen ihre Variabilität lässt und sie gleichzeitig zur Einheit zusammenschließt: in jeder Situation, Lage, körperleiblichen Verhaltung und geistigen Handlung ist sowohl der Geltungsanspruch als auch die Orientierung an der Haltung der Würde richtungsweisend beteiligt. Aus der zeitlichen Dimension der reinen Dauer erklärt sich der häufig beschworene Sachverhalt, dass wir unsere Lebendigkeit nicht vollziehen, indem wir sie an der abzählbaren Zeit messen, sondern sie findet ihr Maß daran, dass wir (sogar im Alter) leben, als ob kein Ende in Sicht und noch kein Abschluss in Sichtweite sei – so aber, dass dieses Unabschließbare unserer Zeit einen Rhythmus finden und das Eintakten in die Richtung auf den Sinn möglich sein muss. Man kann den Tod und den in ihm verborgenen Gesamtsinn als den Meister der Zeit bezeichnen, aber nicht der abzählbaren Zeit, sondern der reinen Dauer. Daraus resultiert der bereits erörterte Sachverhalt, dass er nicht das Ende im Sinne eines Nichts sein kann, er kündigt jedoch das Nichtigen an, das ‚Ausstreichen‘ und ‚Abdecken‘, das die Voraussetzung für das verkörpernde Neuschöpfen durch ‚Hin­ zufügen‘ und ‚Hervortretenlassen‘ ist. Seine ‚Untersummativität‘ (das Minus der ‚Entleerung‘) korrespondiert mit der Übersummativität (dem Plus der ‚Erfüllung‘) des mit ihm unlösbar verknüpften Lebens. Er ist die Leerstelle, das leere Schema als Voraussetzung für die Syntax des Lebens, das dem Finden der Bedeutung und der geisti­ gen Verkörperung vorausgeht; das die Sinnvorwegnahme leitet und dadurch Bedeutungen verleiht; das die Dauer rhythmisiert und die Teile der Sukzession zur Einheit des Sinns verschmelzen lässt, sofern unser Verhältnis zum Tod dies zulässt. Daraus folgt aber auch, dass mit seinem tatsächlichen Eintreten ein neues Hinzufügen ausgelöst werden muss. Was hier hinzugefügt wird, um dem Minus ein Plus entgegenzusetzen, wissen wir nicht, wir haben nur den Anhaltspunkt von Moral und Würde, die eine Richtung anzeigen, aber kein Ziel, es sei denn wir denken dabei an Ideen wie den ewigen Frieden oder die himmlische Ruhe, deren Vorschein wir aus Beschäftigungen kennen, bei denen wir uns aus der mechanistisch gedachten und eingeteilten Zeit herausnehmen und uns selbstvergessen wie auch die gemessene Zeit (die Uhr) vergessend dem Verlauf der reinen Dauer überlassen – als ob wir bereits in die Ewigkeit eingegangen wären. Es stimmt, dass wir uns im Leben Ziele setzen. Allerdings gibt es unzählige Beispiele dafür, wie Menschen ihre Lebensziele

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78. Das übergegenständliche Erfassen in der Poesie

aufgeben und gar ihr Leben hingeben, um die Würde zu wahren; und eine solche Haltung mit entsprechenden Handlungsweisen gilt als vorbildlich und gar moralisch nachahmenswert, weil man darin den Sinn zwar nicht theoretisch zu erfassen, aber zu erschauen vermag, der in einer bloß zweckgerichteten Lebenseinteilung nicht zu finden ist. Das heißt nicht, dass die Inkaufnahme des Lebensverlusts um der Würde willen zur moralischen Pflicht gemacht werden kann, aber es dient zum Exempel für eine Haltung, mit der man das Leben so zu führen versucht, dass die Bedeutungen seiner Momente vom (nicht erkennbaren) Sinn her zu einer schöpferischen, wenngleich unabschließbaren Einheit zusammenwachsen.

78. Das übergegenständliche Erfassen in der Poesie Die Analogie zum Klang sei hier versuchsweise weitergeführt: Das Ab-, Aus- und Verklingen des Lebens im Tod korreliert mit dem Erklingen und Anklingen dessen, was im Tod, nach oder mit ihm, geschieht. Die Menschheit hat dafür Bilder gefunden wie Nirwana oder ewiges Leben ‚nach‘ dem Tod. Und das Leben, das bis dahin zu führen ist, wird im Rahmen dieser Bilder unter moralische Prinzipien gestellt; diese können ganz unterschiedlich bestimmt werden, verlan­ gen jedoch immer ein mitweltlich qualifiziertes Verhalten, das von jenem Takt geleitet wird, der sich in Achtung und Selbstachtung mani­ festiert. Geistesgeschichtlich haben sich Religion und Philosophie als diejenigen ‚Denkdisziplinen‘ ausgeprägt, die aus dem dual-syntagma­ tischen Modus resultieren und, fragt man nach ihrer spezifischen Akkordanz zwischen der sinnlich-materiellen Grundlage und deren geistig-formalen Auswirkung, der Atmosphäre und Haltung der Würde entsprechen. Sie sind von dieser Sphäre durchdrungen und artikulieren sie. In ihnen findet der Geist zu sich. Die Religion hat sich dem verschrieben, was dem Menschen als heilig gilt und mit einer unnahbaren, zugleich anziehenden Würde ausgestattet ist, an deren Macht man trotz deren Unverfügbarkeit doch immerhin mit Opfern, Gebeten, Bußleistungen usw. teilzuhaben versucht. Sich davon lösend und dennoch am Kern des Unverfügbaren festhaltend, wurde für die Philosophie die Würde des Menschen, die Sakralität der Person zum Boden, auf dem sie zu stehen kommt. Beide, Religion wie Philosophie, haben ein besonderes Verhältnis

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78. Das übergegenständliche Erfassen in der Poesie

zur Sprache, solange sie sich nicht vollständig dem Szientismus und der Theoretisierung verschreiben. Sie unterscheiden sich von der Dichtung, benötigen aber deren Form und Kraft, insofern sie sich den Rätseln stellen, die etwa Dilthey im Hinblick auf das Leben formuliert, religiöse Denker wie Augustinus an die Zeit knüpfen, wieder andere mit dem Tod verbinden. Es ist, über Religion und Philosophie hinaus, in diese jedoch hineinwirkend, die Poesie, die es zu ihrer Aufgabe macht, das Numi­ nose bzw. unser Verhältnis zu ihm zum Klingen oder, etwa in der Konkreten Poesie, in eine sichtbare Form zu bringen. Sie zielt, mit dem (in Nr. 25 und 37) bereits verwendeten Wort von Georg Misch, auf das Übergegenständliche, außerhalb des rein Diskursiven Lie­ gende, auf das, was nicht auf den Begriff gebracht, aber in Worten evoziert, hervorgerufen, ‚verdichtet‘ werden kann. Poesie arbeitet mit der Entleerung der Bedeutungen, die Wörter gegenständlich und zweckgebunden haben, und füllt sie mit den Bedeutungen, die sie dann erhalten, wenn sie vom Gesamtsinn her beleuchtet werden. Diese Verkörperung von Sinn in Relation zu einer Entkörperung als Voraussetzung des schöpferischen Anfangens macht die ‚Arbeit‘ am Poetischen so schwierig. Dafür ist die richtige Einstellung zum Nichts bzw. zur Leere als Quell- und Hintergrund der symbolischen Ord­ nung erforderlich, welche aus der Sprache, zumal der poetischen, resultiert. Denn die Beleuchtung durch den Gesamtsinn ist nicht hell genug, wenn man den Anspruch der Theorie und der welthaften Gegenständlichkeit heranträgt. Vor diesem Anspruch versagt die Poe­ sie und erscheint dunkel. Sie gewinnt jedoch an Anschaulichkeit und Hellsichtigkeit, wenn man sich der Transzendenz der Sprache über­ haupt, ihrer Fähigkeit, sich von der Stoffbindung zu lösen, überlässt, um die daraus resultierende, vom Körperlichen sich befreiende, das Leben ins Geistige transformierende Sinngebung mitzuvollziehen und die entkörpernde Leistung des Verstehens durch die Sprachma­ terie hindurch zu erbringen: im Vernehmen und Auswählen der Wör­ ter, beim Hören ihres Klangs, beim lesenden Sehen der Wortbilder und ‚Klanggesichter‘ (Bühler). So verschmelzen die poetische Form – realisiert in Klang, Rhythmus, Takt – und der unaussagbare Gesamtsinn, der den Gestaltungsdruck auslöst, zu jener Einheit, die man etwa von Gedichten kennt, welche sich Chiffren bedienen, die sich nicht in rein diskursive Sprache übersetzen lassen, sondern, ‚wörtlich‘-sinnlich genommen, den Sinn erschaubar machen. Jede theoretisierende Deutung eines Gedichts versagt vor dessen Einheit

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79. Poesie schafft Freiraum für das ‚Erscheinen‘ des Sinns

von Wortbedeutung, Klang und Sinnbezug. Emil Staiger meinte, in der Lyrik deute sich die Möglichkeit einer Verständigung ohne Begriffe an. Zumindest ist es das Streben danach, was die poetische Formung auszeichnet: Wort, Klang, Rhythmisierung und Sinn ver­ schmelzen zu jener Einheit, die einer intuitiven Erkenntnis zuträglich ist. Dass das selten gelingt und es, wie Hofmannsthal meint, nur wenige ‚vollkommene‘ Gedichte gibt, zeugt von der Hartnäckigkeit des Sinnentzugs, der Macht des Sinndrucks und des außergewöhnli­ chen Zusammenspiels von Muße, Aufmerksamkeit und sprachlicher Sensibilität, das beim Dichten und Vernehmen stattfinden muss.

79. Poesie schafft Freiraum für das ‚Erscheinen‘ des Sinns Das Sprechen und Reden der Menschen ist ein endloses Band von Lauten. Aus der Ferne betrachtet bzw. gehört, ist es ein unverständ­ liches Gebrabbel. Je näher man kommt, desto mehr erstaunt es in seiner formalen und inhaltlichen Vielfalt voller Bedeutung, Gegen­ standsbezug und kommunikativer Absicht. So divers es ist, so stellt das vermeintliche Sprachengewirr oder Sprechgewitter doch eine Einheit dar, die es in seiner sich unendlich auseinander legenden, sich entfaltenden Vielheit zusammenhält. Vossler vergleicht diese Relation des Vielen im Sprechen zu dem Einen der Sprache mit der Vielfalt des Wetters zur Einheit des Klimas. Das Wetter wechselt, das Klima dauert. Das Wetter ist etwas Konkretes, das Klima eine Abstraktion, der nichts Konkretes entspricht. Auch den Klimawandel erkennen wir an den Wetterlagen mit ihren konkreten Temperaturen, und so kommt es, dass niemand am Wetter, mancher jedoch an der Wirklichkeit des Klimas und seines Wandels Zweifel anmeldet. So ist es mit den Gesprächen und der Sprache. Jene sind wirklich, während die Realität der Sprache bezweifelt werden kann. Aber wie das Klima als Einheit der Wetterlagen diese erst in einen gemeinsamen Rahmen stellt und so in ihrer jeweiligen Art begreiflich macht, so gewährt die Sprache als Einheit aller Reden und Gespräche allen sprachlichen Artikulationen den ihnen gemeinsamen Rahmen der Verständlichkeit mit der Richtung auf Sinn. Auch einen Wandel der Sprache erkennen wir nur am Sprachgebrauch mit seinen konkreten lautlichen und syntaktischen Formen, die sich historisch ändern können. ‚Wüssten‘ wir umgekehrt aber nicht, was Sprache ‚ist‘, d.h. hätten wir kein Vorverständnis von Sprache überhaupt, so könnten wir völlig fremde

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79. Poesie schafft Freiraum für das ‚Erscheinen‘ des Sinns

Laute aus Menschenmund gar nicht als konkrete Exemplare von ‚Sprechen‘ einordnen; wir bemühten uns gar nicht, sie im Kontext der menschlichen Lebensform mit ihrer Orientierung an Sinn und situationsbezogen so nachzuvollziehen, dass die Äußerungen als Gemeintes mit Bedeutung unter der Regie einer Sinnvorwegnahme verstanden werden kann. Das System der Sprache basiert auf einer synthetischen Einheit, die nicht vergegenständlicht werden kann, ohne sie in ihrem Wesen zu zerstören. Das macht den theoretischen Zugang zu ‚der‘ Sprache so schwierig, ja unmöglich. Denn es kennzeichnet solche synthetischen Einheiten, dass sie nur im Mitvollzug ‚da‘ sind und Geltung erlangen, außerhalb dessen sind sie eigentlich nicht. Aufgrund der Erfahrung, die wir mit dem stetigen Mitvollziehen machen, lässt sich sagen: Die Einheit, von der die unendliche Vielheit des Sprechens so durchzogen ist, dass man, wie oben (Nr. 35) erwähnt, gar von dem einen Gespräch, das wir sind, reden kann (Gadamer) und von der einen, in unzählige Rollen sich diversifizierenden Person, in der sich das Selbstgespräch des menschlichen Geistes abspielt (Vossler), ist die des Sinns, ohne den weder ein einziger Satz noch die in ihm gemeinten Wortbedeu­ tungen oder die Funktion des Klangs und endlich auch die der Sprache überhaupt und ihre Bedeutung für die menschliche Lebensform ver­ ständlich wären. In der Regel bleibt dieser Sinn unartikuliert, schwingt aber in allem Reden und Sprechen mit. Es ist die Poesie, die ihn trotz seines Sichentziehens, seiner theoretischen Unerkennbarkeit und propositionalen Unaussagbarkeit in Formen der Artikulation zu gie­ ßen versucht; denn sie redet nicht über ‚die Dinge‘, sondern bringt sie selbst zum Sprechen. Sie meint nicht, sondern öffnet den Raum für das Erscheinen des Sinns, ohne ihn durch gegenständliche Bedeutun­ gen der Wörter festzulegen. Es ist umgekehrt: der sich entziehende Sinn verleiht den Wörtern im Zuge der – seine Vorwegnahme im Sprechen und Hören ermöglichenden – hermeneutischen Bewegung ihre Bedeutung, wodurch er sich indirekt zu verstehen gibt. Die Poesie thematisiert nicht, sie schafft den Freiraum, in dem der Sinn sich selbst ‚zum Thema machen‘ kann, weil ihm nicht mit fixierenden Begriffen zu nahe getreten wird.

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80. ‚Einfache Formen‘ und ‚ innere Sprachform‘

80. ‚Einfache Formen‘ und ‚ innere Sprachform‘ Wo die Religion nicht nur über den Sinn redet, sondern einen die sinn­ gerichtete hermeneutische Bewegung mitvollziehenden Ausdruck sucht, wird sie poetisch (in Gebeten, Gesängen, Mantras, Opferfor­ meln); und ebenso: wo die Philosophie den Sinn nicht bloß zum Thema macht, sondern ihm selbst von ihm her folgt, wird sie poetisch (in Dialogen, Lehrgedichten, Dithyramben, nicht-propositionaler Rede und literarisch bewusster Gestaltung). Beiden Artikulationsfor­ men, der religiösen wie der philosophischen, arbeitet die Sprache zu. Die Sprache selbst ist es, die von sich aus gliedert, ordnet, dichtet und Formen schafft, mit denen Ordnung in das ‚Chaos‘ der erscheinenden, werdenden Welt kommt, und zwar gelingt ihr das gerade deshalb, weil sie es ist, die einen artikulationsreifen Bezug zum Sinn hat und dessen Druck erzeugenden Entzug in klangliche und rhythmische Ausdrucksformen übersetzt. André Jolles hat diese Ordnungsfunktion der Sprache literatur­ geschichtlich näher untersucht. Betrachtet man die Gestalten, die sich literarisch herausbilden, so lassen sich systematisch ‚einfache Formen‘ beschreiben, die nicht auf weitere zurückführbar sind und aus der Arbeit der Sprache selbst resultieren, etwa Legende, Sage, Mythe, auch Rätsel, Spruch und Witz. Die Sprache erzeugt Ordnun­ gen, die sich formal unterscheiden lassen, aber auch durch gewisse inhaltliche Aspekte bestimmbar sind. Jedoch wurzeln all diese Formen ihrerseits in der inneren Sprachform, aus der der Sprache eigenen Artikulationsstrukturen, die sich in ganz unterschiedlichen Gramma­ tiken manifestieren, und das auf allen Ebenen: der phonetischen, morphologischen, syntaktischen, semantischen, auch der pragmati­ schen. Die einfachen Formen, die Jolles beschreibt, artikulieren eine inhaltlich je verschiedene und je zu aktualisierende Bedeutsamkeit – etwa die Unterscheidung von Gut und Böse im Bild des Heiligen in der einfachen Form der Legende oder die normative Beurteilbar­ keit von Lebensvorgängen in der einfachen Form des Kasus; was aus der inneren Sprachform hervorgeht, artikuliert den Sinn, durch dessen Vorwegnahme allererst Bedeutung gewonnen und ‚etwas‘ bedeutsam werden kann. Alles was zu den einfachen Formen (mit ihrer Koordinierung von Bedeutsamkeit und Bedeutung) gehört, kann zum Gegenstand theoretischen Erkennens gemacht und begrifflich bestimmt werden; die innere Sprachform (mit der Koordinierung von Sinn) kann nur mit- und nachvollzogen und so immerhin poetisch

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81. Verborgener Sinn und moralische Entwicklung

bestimmbar gemacht werden. Was die Poesie der einfachen Formen ausmacht und damit ihre anhaltende Wirkungsgeschichte auslöst, kommt aus der inneren Sprachform.

81. Verborgener Sinn und moralische Entwicklung In der inneren Sprachform als solcher ist der Sinn vorweggenommen. Beide, die Sprachform und der Sinn, entziehen sich der theoretischen Betrachtung. Es ist sprachwissenschaftlich nicht gelungen, etwa durch Sprachenvergleich oder auch im Rahmen der generativen Transfor­ mationsgrammatik, ‚die‘ innere Form der Sprache theoretisch zu bestimmen. Und es kann genauso wenig gelingen, den Sinn theore­ tisch zu bestimmen, sei es in religiös-theologischen, philosophischen oder wissenschaftlichen Erwägungen. Er ‚verbirgt‘ sich in dem, wor­ aus Sprache letztendlich hervorgeht, und er ist darin so geborgen, dass der Mensch seiner Spur folgen kann: im dual-syntagmatischen Modus der Verkörperung innerhalb des Konformitätssystems von Sinnlichkeit und Sinngebung, von Körper und Geist. Dieser Modus zieht den roten Faden durch die hermeneutische Bewegung, verleiht ihr Dauer und bindet sie trotz der Verschlungenheit ihrer Wege einschließlich der Irrwege zusammen. Es ist – man mag es beklagen, missverstehen, leugnen, abstreiten, nicht wahrhaben wollen u.a.m. – der rote Faden der Moral. In sein Webmuster, das er erzeugt, ist der Bezug zum Numinosen, zum Lebensrätsel, zum Geheimnis des Sinns eingelassen, denn da dieses nicht theoretisch erkannt werden kann, manifestiert es sich, wie oben erörtert, in dem, was im Menschenleben als moralische Haltung bestimmbar und beurteilbar wird; es wirkt sich aus in der moralischen Entwicklung des Einzelnen, und diese vollzieht sich notwendig im personalen ‚Dialog‘ mit den Anderen, d.h. in den Rollenübernahmen und Perspektivenwechseln, ohne die es kein Sprechen und keine Sprache gibt – und kann, wie es in der Tat geschieht, psychologisch, soziologisch und philosophisch untersucht werden. Nicht zufällig hat Lawrence Kohlberg in seinen empirisch fundierten und philosophisch instruierten Forschungen zum stufen­ weisen Aufbau des moralischen Urteilens eine ‚metaphorische‘ siebte Stufe spekulativ hinzugefügt, die mystisch-religiös genannt werden kann, weil sie die ideale Rollenübernahme auf der sechsten Stufe der Urteilsfähigkeit noch übersteigt in jener universellen Haltung, die man mit Nächsten- und Feindesliebe (Jesus), Mitgefühl (Buddha)

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82. Verkörperung durch ‚Selbstentzug‘ im Entkörpern des Selbst

und allgemein mit Heiligkeit verbindet. Man kann sie die Stufe des ‚kosmischen Bewusstseins‘ nennen, auf der das Selbst im Ganzen des Universums aufgeht (exemplarisch dafür: das indische Brahman, das chinesische Tao). Für Kant war das Heilige das Urbild moralischer Vollkommenheit, das man als Eigenschaft oder Merkmal dem ‚aus krummem Holze geschnitzten‘ Menschen weder zuschreiben noch zumuten darf; es war für ihn jedoch das Richtmaß, an dem sich der Mensch orientieren muss, um seine Gesinnung bzw. Haltung zu schulen und zu üben. Insofern ist das Vernunftgebot, seinen Willen gut zu machen, selbst etwas Heiliges. Die Unerreichbarkeit des Heiligseins und Unabschließbarkeit des Prozesses der moralischen Entwicklung ist der Stachel, der zu weiteren Anstrengungen treibt. Es bleibt aber die ungelöste Frage, warum wir moralisch sein sollen, d.h. wie sich der gute Wille, die Moral, zur Unendlichkeit des kosmischen Geschehens, der offensichtlichen Ungerechtigkeit der ‚Weltläufte‘ und der Endlichkeit des menschlichen Lebens verhält. Das Dasein selbst bleibt ein unlösbares Rätsel. Kant meinte, es mit seiner Lehre von den Postulaten, den Ideen der Unsterblichkeit und des Zusammenführens des Guten mit der Glückseligkeit in einem Reich der Zwecke gelöst zu haben. Die Verlagerung der Lösung in ein notwendig anzunehmendes Jenseits genügt aber nur unter der Perspektive einer Glaubensüber­ zeugung, für die Kant bekanntermaßen Platz schuf, indem er die Grenzen des Wissen auslotete.

82. Verkörperung durch ‚Selbstentzug‘ im Entkörpern des Selbst Einen Hinweis darauf, wie mit dem Rätsel diesseits der Glaubensper­ spektive umzugehen ist, ohne ein vorgebliches Wissen zu unterstel­ len, gibt die Brechung, unter der das Numinose, das Geheimnis des Sinns, in die Lebensform des Menschen fällt und diese mit einem Index versieht, der der conditio humana eine spezifische Tönung gibt. Zum einen erscheint es, wie erörtert, gebrochen in der Lebensführung als moralische Haltung; zum anderen in der Tätigkeit des symbo­ lischen Formens überhaupt, und davon hebt sich die Gestaltung der inneren Sprachform als Poesie noch einmal eigens ab. Beide, die moralische Haltung und die poetische Formung, bedienen sich der Möglichkeiten des Taktes, d.h. der Rhythmisierung der Zeit als Dauer. Rhythmus und Takt sind die Brechungsindices, die in der

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82. Verkörperung durch ‚Selbstentzug‘ im Entkörpern des Selbst

menschlichen Lebensform als Zeitordnung und Gliederung der Dauer den Selbstentzug des Sinns anzeigen. Insofern sind sie Begleiter des Sinns und legen die Spur, in der sich die hermeneutische Bewegung gliedern und ordnen kann. Die Artikulation der eigenen Lebendigkeit, die Artikulation des Sprechens und nicht zuletzt die Artikulation der Moralität in Haltung und persönlichem Stil takten sich ein in die Bewegung vom Sinn her zum Sinn hin. Das setzt auf seiten der Person voraus, dass sie sich darauf vorbereitet, mit den richtigen Schritten in die Bewegung hineinzufinden – sich durch nicht nachlassendes Üben zu präparieren, um jene Einstellung zu gewinnen, in der das zugelas­ sen werden kann, was für den Bereich des künstlerischen Formens von alters her Eingebung, Inspiration oder auch das Überspringen des Funkens genannt wird; im Bereich der Moral sind es Aufmerk­ samkeit und Geistesgegenwart, die demjenigen zueigen sind, der es sich, wiederum durch Übung, zur Gewohnheit gemacht hat, den Anderen einzubeziehen (Habermas) in jede Entscheidungsfindung, die nicht nur die eigenen Interessen, sondern auch die Interessen und Bedürfnisse anderer betrifft. Jetzt kann das der Moral und der Poesie Gemeinsame näher bestimmt werden (im Anschluss an die obige Erörterung in Nr. 46). Beide – das moralische Denken, Urteilen und Handeln wie das poe­ tische Gestalten – zwingen die Person dazu, sich selbst zu ‚vergessen‘, ‚aus sich herauszugehen‘, ‚sich zu verlieren‘, nicht um sich zu zer­ streuen, sondern um ‚sich zu finden‘: in der moralischen Formung des Lebens und in der poetischen Formung der Sprache. Darin liegt die Annäherung an den Sinn: Verkörperung durch ‚Selbstentzug‘ im Ent­ körpern des Selbst. Das Sterben mit der Beendigung des Lebens im Tod, wie wir es aus der Erfahrung bei anderen kennen und uns als eigenes Schicksal gewiss ist, kann als Paradigma für diesen Vorgang gelten, und ohne diese Erfahrung hätten wir keinen Zugang zu jenen Formungen, die auf Selbstentzug angewiesen sind. Anders gesagt: Ohne den Tod und die Gewissheit, sterben zu müssen, fehlte uns das, was das menschliche Leben ausmacht und von dem der Pflanzen und Tiere unterscheidet (ohne jenes über dieses stellen zu müssen): das Mehr-als-Leben, das mit der Bewegung zum Sinn hin zum symboli­ schen Formen zwingt und durch dieses hindurch den Blick auf das erhaschen lässt, das mit keinem Wort benannt werden kann, manch­ mal als das Geistige, dann auch als das Höhere oder Erhabene bezeich­ net wird; dieses zieht uns an, weil es unserer verborgenen ‚Natur‘ als homo absconditus entspricht, und es schreckt uns, weil es uns antreibt,

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83. Sprache und Sinn

ohne dass wir es kennen, so wie wir einen Gegenstand kennen, den wir zergliedern und dem wir in den raumzeitlich-kausalen Zusam­ menhängen eine Stelle zuweisen können. Deshalb eignet sich dafür das Wort vom Numinosen, weil es das Rätsel umfasst – das Rätsel ‚unseres Daseins‘, des ‚Seins in der Welt‘, des Sinns von alledem –, das sich uns trotz aller atmosphärischen Zeichen in Natur und Kunst ent­ zieht, obwohl es uns als Aufgabe vorgelegt wird.

83. Sprache und Sinn Sprache und Moral, genauer: Poesie und moralische Haltung bzw. Takt, sind die Artikulationsgestalten, die Gliederungs- und Ord­ nungsformen, in welchen der Sinn, an dem sich die menschliche Lebensführung ausrichtet, trotz und wegen all seiner Rätselhaftigkeit prismatisch gebrochen erscheint, so als ob die Strahlen, die vom Sinn ausgehen, durch den Widerstand der je konkreten Wirklichkeit, die der materialgetränkten Körperleiblichkeit des Daseins als Ausgangsund Bezugspunkt des Formens geschuldet ist, abgelenkt würden. Und an der Stofflichkeit als Humus seiner Lebendigkeit, die immer auch eine geistige ist, kommt der Mensch nicht vorbei. Es ist nun aber im Besonderen das Verhältnis des dualen Modus – und das heißt: der Person in ihren Rollen als Ich und Du, als Glied und Träger der Mitwelt – zum Numinosen des Daseins und seines Aus­ drucks überhaupt, das mit seiner Hintergrundstrahlung die Lebendig­ keit beeinflusst; es geht in die sprachliche Artikulationsstruktur und in die grammatischen Formen auf dual-syntagmatischem Wege ein: zeitlich, räumlich, moralisch, sinnstiftend. Die innere Sprachform – und das heißt: das je konkrete Sprechen und Vernehmen, worin sie real wird – ist das Gefäß für den lebendigen Transport des Sinns und der Sinnvorwegnahme. In ihr sind das Ich und Du so integriert, dass die beiden Rollen sich auf die ihnen gemeinsame Sache denkend und sprechend – und das heißt sinnorientiert und sinnvoll – beziehen können. Sprache ist kommunikativ und gegenständlich. Zugespitzt: Sprache ist das Verhältnis zwischen Ich, Du und Gesamtsinn sowie den je zu aktualisierenden Bedeutungen, zwischen der menschlichen Lebendigkeit und dem Numinosen, dem Geheimnis des Sinns; und genau hierin verkörpert sie den menschlichen Geist, die Sphäre der Mitwelt bzw. des Wir, des Ich und Du mit Bezug auf das Es, d.i. die Gegenstände, die Welt, den Sinn, die Bedeutungen. Oder: In der

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83. Sprache und Sinn

Sprache verdichtet sich das oben genannte Verhältnis – das anthropo­ logische Grundverhältnis – in einem Medium, das Verlebendigungen ermöglicht. Kurz: Geist drückt sich aus in und als Sprache. Mit dem Betreten der Sphäre des Geistes macht der Mensch aber nicht nur die Erfahrung, die im Umgang mit sinnvollen Objektivatio­ nen, ob schaffend oder rezipierend, so beglückend sein kann, sondern auch die beklemmende Erfahrung des Vergänglichen, Vergeblichen und Nichtigen allen Wirkens, solange man an dessen Ergebnis hängt. Die eine Erfahrung ist ohne die andere nicht zu haben. Der Grund für diese Doppelung in der Erfahrung ist die Doppelung, die in der an den Gesamtsinn und die hermeneutische Bewegung gebundenen geistigen Aktivität selbst beschlossen liegt: im unauflöslichen Inein­ ander von Verkörperung und Entkörperung – und deren Stränge sind in dem Punkt, auf den alles zuläuft, im Sinn selbst, verknotet. Der sich entziehende, aber Druck ausübende, entkörperte Sinn ist das Nichts, aus dem die schöpferischen Anfänge allen Verkörperns hervorgehen. Wäre es anders – der Sinn ‚ein Etwas‘ –, dann wäre er ein Objekt der theoretischen Erkenntnis. Er ist ein Nichts, das bestimmbar ist, nicht auf theoretisierende Weise, aber durch das, was aus ihm im Zugriff des freien Anfangens hervorgeht: eben ein sinngebendes Nichts, Sinn schaffend in Korrelation und Kooperation mit den Verkörperungen. Der Sinn kann nur im Vollzug erlebt, nicht aber seinerseits objektiviert werden. Sucht man ein Bild dafür, eignet sich am besten das von Laotse im Tao Te King evozierte Nichts zwischen den Speichen des Rades, das den Wagen allererst zum Fahren befähigt. Es findet sich wieder in den leeren Schemata der jeweiligen Grammatiken, im ‚körperlosen‘ Klang, in den Rhythmen des Sprechens mit ihren das Sinngeben und Sinnverstehen bedingenden Pausen (Kola) und im Takt poetischen Formens (in die sich der Klang einfügt), in der Sprache überhaupt, die ihrerseits den Prozess der Entstofflichung einleitet: sie entkörpert, indem sie das Material der Welt in artikulierte Gedanken überführt, d.h. idealisiert – in den schon erwähnten Worten Cassirers: das symbolische Formen beseitigt die Welt, um sie an sich zu ziehen –, und so verkörpert sie Sinn und Bedeutung. Man kommt angesichts des Rätsels und des Numinosen nicht an der Paradoxie vorbei: die auf Sinn hinführende Bewegung ist eine solche, die Entkörperungen vornimmt, indem sie verkörpernd tätig ist – oder: die verkörpert, indem sie entkörpert. All dies geschieht im Rahmen der Mitwelt unter der Leitung des dualen Modus, dessen Träger die Person ist. Sie hat

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84. Poesie wirkt befreiend

dies vornehmlich im Rollenspiel und im Sprechen zu leisten, wie es oben am Beispiel des Schauspielers und der Metapher erläutert wurde. Was aber, wie sich gezeigt hat, im Wechsel zwischen Verkörpern und Entkörpern in deren Ineinander erhalten bleibt, ist, auch wenn er nicht objektiviert werden kann, der Sinn. Er gibt der Dauer den Gehalt, den sie im lebendigen Geist, im Bewusstsein des Menschen, in seinem Erinnern, Vergegenwärtigen, Gewärtigen und Vorausblicken hat. Niemand vermag es, sich auf Dauer im Unsinn oder Sinnlosen einzurichten. Und es ist die Relation zwischen dem Sinn und der geistigen Aktivität (im Bewegen, Artikulieren, Sprechen), die die Heterogenität in der Dauer sichert – deren ursprünglich-synthetische Einheit in dem Nacheinander, das wir kennen: als kulturelle und historische Vielfalt in nicht-additiver Kontinuität; es ist eine überge­ stalthafte Ganzheit, die sich als Menschheit mit einer Geschichte und moralischen Entwicklung kundgibt.

84. Poesie wirkt befreiend Schließlich: der entkörperte Sinn, das Nichts, findet sich wieder im Tod, und zwar in seiner untilgbaren Relation zum Leben; er gibt dem Leben Takt und Rhythmus und setzt es, wie die Leere zwischen den Speichen das Rad, in Bewegung. Zwar ist der Tod nicht der Sinn des Lebens, aber er gibt als Inbegriff des Entkörperns die Richtung an, die es in seiner Bahn einschlägt, in der sich der Sinn im Vollzug der hermeneutischen Bewegung so artikulieren kann, dass er sich im Sprechen wie auch in der moralischen Haltung vorwegnehmen lässt; und nur in dieser Vorwegnahme ‚zeigt‘ sich der Sinn – als ‚Erfüllung‘ der Funktion des dualen Modus, die auf Verständigung, Verständlichkeit und Verstehen zielt. Dem sich entziehenden, aber in der Sinnvorwegnahme perspektivisch und aspektbezogen sich abschattenden Gesamtsinn steht gegenüber ein – im Lebensverlauf nie an ein Ende gelangendes – Verstehen, das in Verbindung mit dem Entkörpern (als Bedingung der Möglichkeit von Verstehen überhaupt) ein sinngebendes, sinnschaffendes und sinnerfüllendes Verkörpern in Gang setzt. Der dual-syntagmatische Modus ist des­ halb so tonangebend im Reigen der Verkörperungsmodi, weil er das Verstehen trägt, das auf den Sinn zielt und dessen Druck so aufnimmt, dass dieser die (geistige) Bewegung und Beweglichkeit in Gang setzen kann, statt schwer auf der Lebendigkeit zu lasten; wie die Lebendigkeit

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84. Poesie wirkt befreiend

in Starre verfallen, ihr der Geist ausgetrieben werden kann, ist eine Erfahrung, die jeder macht, wenn jedwede Anregung zu geistiger Tätigkeit erlischt. Es ist wiederum paradox: Das Verstehen macht in seiner sprach­ lichen Artikulation die Nichtobjektivierbarkeit des Sinns objektiv, der Selbstentzug des Sinns bildet sich ab in der Sprache, der es an Eindeutigkeit und Fixierbarkeit im Sinne einer Technik fehlt. Zum einen hat die Sprache immer einen Mehrwert, ein überschießendes – gegenstandsbezogen gemeintes oder in übergegenständlicher Evo­ kation mitgeteiltes – Plus, an dem das Verstehen stets in neuen Versuchen ansetzt; zum anderen sagt sie immer auch weniger, als ihr möglich wäre, so dass das sprachliche Formen, die Arbeit an der Artikulation, kein Ende nimmt. Erschlösse sich der Sinn auf szientifischem Wege, wäre das Verstehen mit dem Erkennen des Sinns abgeschlossen. Es ist die Poesie, die diese Paradoxie aufnimmt und in die ihr eigenen Formen ‚übersetzt‘. Sie schafft eine Ebene, die sich von allen Zweck-Mittel-Zusammenhängen so abhebt, dass dem Sinn in Korre­ lation zur ausgestalteten Form der sprachlichen Artikulation der ihm gemäße Spielraum angeboten wird. Darin liegt ihre Wirkung für den Dichter wie für den Rezipienten. Sie wirkt befreiend. Diese Erfahrung beschränkt sich nicht auf die Sprache, so dass auch in anderen Sphären menschlicher Lebendigkeit und ihrer Artikulation von Poesie gespro­ chen werden kann. Es gibt nicht nur poetische Texte, sondern auch poetische Bilder, poetische Filme, gar poetische Landschaften. Sie sind der mögliche Ansatzpunkt für jene Selbst- und Zeitvergessenheit, von der oben (Nr. 82) die Rede war, weil sie sich abheben von der Ebene, auf der die fertigen Resultate wie vorhandene Dinge angesiedelt sind und die man deshalb vorschnell als die einzig wirkliche identifiziert. Die Sprache selbst ist es, die sich davon löst, indem sie den dinglichen Stoff artikulierend formt. Bereits das Erlernen von Sprachen ist ein Üben solchen Loslösens und Abhebens. Das Dichten als intensive Beschäftigung mit den Möglichkeiten der Sprache treibt dieses Üben in die Sphäre des Sinns hinein. Damit gelingt es dem Dichter (und jedem Menschen, der die Sprache nicht zu einem bloßen Informati­ onsinstrument degradiert), das Erscheinende und sein Erscheinen aus der Ebene des gewohnten auf Resultate fixierten Tuns heraus- und in einen Artikulationszusammenhang hineinzunehmen, in dem sie zu Chiffren des unaussagbaren Sinns werden.

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85. Sprache, Moral, Sinn und der Vorgang des Sichabhebens

Auf der Ebene der Zwecke und des Nutzens gibt es nichts zu verstehen. Hier wird erklärt, man begreift und führt es aus. Man ist informiert und gibt die Information weiter; nicht wenige halten das heute für Bildung und diese dann für durchgehend digitalisierbar. Im Bereich des Sinns wird vernommen und verstanden – gerade auch das, was offen bleiben muss, weil es noch nicht verstanden werden kann, sich aber im Artikulierten zu verstehen gibt. Das immer als Rest verbleibende ‚Nochnicht‘ verweist auf das Nichts der Entkörperung, das in jeder Verkörperung mitgedacht und mitvollzogen werden muss; und dieses in der Artikulation verdichtete Ineinander ist der Index des Sinndrucks, der uns mit der Wirklichkeit konfrontiert, die wir mit der Artikulation zugleich distanzieren. So befreit sprachliches Verkörpern, indem es die drückende Last in Sinnstiftung ummünzt. Das steckt in Cassirers oben zitiertem Wort vom ‚Leben im Sinn‘, dessen Verfahren darin besteht, ‚die Welt zu beseitigen, um sie an sich zu ziehen‘.

85. Sprache, Moral, Sinn und der Vorgang des Sichabhebens Sprache, Moral und Sinn ist gemeinsam, dass ihnen das Nichts der Entkörperung unterlegt ist, auf dem sich die schöpferische Leistung des Verkörperns erhebt. Es ist kein absolutes Nichts, genausowenig wie wir keinen absoluten Anfang und kein absolutes Ende kennen. Nichts, Anfang, Ende stehen immer in Relation zu den Verkörperun­ gen, in denen sie als Entkörperungen je verschieden enthalten sind. Das entkörperte Nichts ist ein solches, das den freien Anfang im Verkörpern zulässt, herausfordert und auslöst. Es sei hier nur daran erinnert: Kleist hat einen solchen Vorgang beim ‚allmählichen Verfer­ tigen der Gedanken beim Reden‘ beschrieben, und Bühler hat gezeigt, wie das leere Schema der Syntax beim Suchen nach den richtigen Worten behilflich ist. Das gelungene Ineinander von Entkörpern und Verkörpern hebt das Nichts auf, bewahrt es als Widerständigkeit im Vollzug des Verkörperns, so dass sich das Gefühl der Befreiung einstellen kann; man erlebt es, wenn man in einem Tun ‚aufgeht‘, nicht aber, wenn man am Resultat klebt und glaubt, das Moment des Nichtigens im Entkörpern hinter sich gelassen zu haben. Was sich einstellt – metaphorisch gesagt: verbreitet, ausdehnt, sphärisch niederschlägt –, ist die so häufig beschworene und durch allerlei

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85. Sprache, Moral, Sinn und der Vorgang des Sichabhebens

Ersatz-, meist Suchthandlungen, angestrebte erfüllte oder ‚reine‘ Gegenwart: erlebte Dauer, in der das Hier und Jetzt kein wehmütig erinnertes Früher oder ersehntes Später kennt. Weder Verlust noch Sehnsucht trüben das Gegenwärtige, während dessen das Selbst der Person sich und – im Erleben der Dauer – die messbar ‚ablaufende‘ Zeit vergisst. Man kennt solches aus kurzen Phasen des Lebens, vor allem in den Spielen der Kindheit. Und darin liegt nun die besondere Wirkung der Poesie, sowohl des dichterischen Schaffens als auch der Begegnung mit Dichtung. Denn hier, beim tätigen (schreibenden, vortragenden, lesenden, hörenden) Umgang mit den – dem Sinn gleichsam abgelauschten – Mitteln des poetischen Formens, erweist sich das Nichts als Bedingung der Möglichkeit des Spielraums für das freie Gestalten und das befreiende Erleben. In diesem Spielraum schließen sich, wie bei jeder echten Begegnung im Gespräch oder im Schweigen, Ich und Du (im Verfertigen und Vernehmen der Gedan­ ken, im Sprechen, Hören, Lesen, Schreiben, Stillwerden) mit dem Es des evozierten Gegenstandes und des darin vorweggenommenen Sinns so zusammen, dass sich das ereignet, was in der Sprache ohnehin statthat und oben als vorauszusetzende Übung beim Dichten bezeichnet wurde: der Vorgang des Sichabhebens, der an dieser Stelle in die Wirklichkeit des Lebens selbst eingreift. Das vom verkörperten Geist ‚beseelte‘ Leben ‚erhebt sich‘ über das ‚bloße‘ Leben, das mit der widerständigen Wirklichkeit kämpft, und tritt in die Sphäre der geistigen Lebendigkeit ein, so dass auch das bloße Leben davon durch­ zogen und die Widerständigkeit in ein anderes Licht getaucht wird. Die neue Perspektive lässt die wirkliche Welt in einer Abschattung mit anderer Färbung und Tonlage erscheinen. Darin besteht die Arbeit des poetischen Formens. Es wäre ein müßiges Schaffen, wenn es sich mit dieser Arbeit an einer Fokussierung des Blicks und Neubewertung der Wirklichkeit nicht an jene Gegenstände wagte, die mit der Bru­ talität des Wirklichen, seiner Schicksalhaftigkeit als Widerfahrnis, Vergänglichkeit, (prätendierten wie gefühlten) Vergeblichkeit und Ambivalenz seines Erscheinens verknüpft sind: unerwiderte Liebe, unerfüllte Sehnsucht, gescheiterte Pläne, uneinlösbarer Anspruch der Gerechtigkeit, das Schillern zwischen Sein und Schein, Traum und Wahnbild, all das vor dem Hintergrund der Gewissheit um das Ende aller Bemühungen im Tod. Die Mühe des präzisen Fokussierens und Neubewertens findet seine Kraft in der Überzeugung, dass diese nicht umsonst in Angriff genommen werden, sondern sich als Lohn solchen Mühens bewahrheiten können, nicht zwar im vermeintlichen Besitz

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86. Abhebungen in der Sprache

der Wahrheit, jedoch in der Sprache selbst, in einem Stil, der von der Wahrhaftigkeit zeugt, in der sich die theoretisch nicht erkennbare und objektiv nicht fixierbare Wahrheit perspektivisch-moralisch so bricht, dass sie für uns erschaubar wird. Sie macht sich kenntlich in der poetischen Form, in der Stimmigkeit der stilistischen Mittel, dem treffenden Wort, das wie Husserls Spazierstock die Spitze des Zaun­ pfahls findet (ein Sinnbild für die phänomenologische Tätigkeit, von dem Plessner anlässlich eines Spaziergangs mit Husserl berichtet), und das auf kongeniale Resonanz – wiederum – ‚trifft‘.

86. Abhebungen in der Sprache Was in der Sprache ohnehin statthat: in ihr hebt sich das Gemeinte vom Mittel des Meinens ab; dazu gehören die Abhebungen, die man beim Gebrauch der Sprache klanglich, aber auch morphologisch, syntaktisch und semantisch vollzieht, ebenso Abhebungen wie die des Zeichens vom Bezeichneten, des Symbols vom symbolisierten Gegenstand (eine Abhebung, die metasprachlich weitergeführt wer­ den kann: das Symbol wird zum Gegenstand des Sprechens, insbeson­ dere auch beim Dichten in selbstreflexiver Aufmerksamkeit auf das eigene Tun), des Ausdrucks von der Bedeutung, der Bedeutung vom Sinn. Und schließlich die Abhebung, die sich vollzieht in dem oben angesprochenen Vorgang: ein – deshalb die Nähe zum Spiel – Sich­ abheben von den Zweck-Mittel-Zusammenhängen, die das Leben als Organismus leiten, ob in ökonomischer, sozialer oder politischer Hinsicht. Diese Abhebung ist sogar die Voraussetzung zum Erlernen der Sprache: das zweckfreie Spielen mit den die jeweilige Sprache bestimmenden Lauten, etwas, wozu Primaten bzw. Hominiden außer dem Menschen nicht in der Lage sind. Die hermeneutische Bewegung kommt damit, dass sich ein ‚tiefes‘ Verstehen einstellt – ein in eine Atmosphäre spielerischer Leichtigkeit eintauchendes, in der Poesie mitgegebenes implizites, insofern tiefes Wissen, das nicht in explizite Theorien gefasst werden kann – gleichsam an ihr Ziel, besser: ihr Sinn erfüllt sich. Diese Wirkung der Poesie darf nicht als bloße Reminiszenz an die Romantik abgetan werden, sondern hat die Menschen immer schon beflügelt. Einige geradezu triviale Beispiele, die als Vorstufen solchen poeti­ schen Wirkens und begriffslosen Verstehens auf der Basis des dualen Modus gelten können, seien genannt: das Singen bei der Arbeit, das

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87. Sinn hebt sich ab vom Zweck – die Rolle der Poesie

Verseschmieden zu privaten Feiern, das Einprägen von Merksätzen aller Art, überhaupt die Unterstützung des Gedächtnisses durch poe­ tisch geformte Satzfolgen, nicht zuletzt bei religiösen Anweisungen, Andachten und Meditationen; aber auch die angestrengte Suche nach dem treffenden Wort und die Unzufriedenheit mit einer ungenü­ genden Formulierung zeugen von einer poetischen Energie. Solche Beispiele zeigen, wie der Mensch sich schon in der Sphäre des Alltags, sodann in der Zuwendung zum Numinosen, zu dem, was sich ihm als Mysterium aufdrängt, über das bloße Leben erhebt, indem die Zwecke, die er verfolgt, ihn dazu zwingen, über diese hinaus sein Tun mit etwas anzureichern, das den Nutzen übersteigt. Zweck ist es etwa, eine eintönige Arbeit besser verrichten zu können, das Mittel des Singens transzendiert diesen Zweck, denn damit betritt der Mensch die Sphäre der spielerischen Poesie oder des poetischen Spiels, die ihm das Erleben von Sinnerfüllung gewährt. Wo die Sphäre der Poesie die Ebene des Nutzens nicht überwölben kann, verkümmert der Mensch zu einem Anhängsel der Maschinerie, die das Alltagsleben am Laufen hält und die Arbeit zur Fron macht; und diese Maschinerie trägt das Signum des rein Instrumentellen und Messbaren. Das hat man, um ein Extrembeispiel zu nennen, in den Konzentrationslagern den Gefangenen aufzuerlegen versucht, aber selbst da wurden Gedichte rezitiert, und es wurde Theater gespielt, um die eigene Lebendigkeit vor dem Untergehen ins bloße Vegetieren zu retten. Neuerdings ist die Neigung, sich der Maschinerie zu überlassen, durch den Sog zur digitalen Automatisierung so weit verbreitet, dass man glaubt, der sogenannten Künstlichen Intelligenz auch noch das Dichten anheimstellen zu müssen. Sinn soll aus der Quantifizierbar­ keit der Auswahl von Wörtern und Wortfolgen herausgequetscht werden, ohne sich als neue Qualität des Denkens, Sprechens und Seins von der Ebene des Binären und des Zählens abheben zu können.

87. Sinn hebt sich ab vom Zweck – die Rolle der Poesie Mit dem Versuch einer Digitalisierung des dualen Modus wird die Hermeneutik ins Reich der Fabel verwiesen. Das Verstehen von Sinn wird mit dem digitalen Auffinden von ‚Stellen‘ und Neuzusam­ mensetzen von Wort- und Satzfolgen gleichgesetzt. (Man kann das bei schulischen und selbst universitären Power-Point-Präsentationen erleben.) Verstehen als Bilden des Sinns und zugleich der Persönlich­

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87. Sinn hebt sich ab vom Zweck – die Rolle der Poesie

keit ist aber nicht dasselbe wie ein technisches Jonglieren mit Wörtern. Die hermeneutische Bewegung nimmt die Form des Sichabhebens an (der etwas Spielerisches anhaftet), und so muss sich auch der Sinn abheben von allem, was seiner Richtungsvorgabe nicht entspricht, was die Richtung verfehlt und sich falsch orientiert. Die Sinnorientie­ rung hebt sich ab von der Zwecksetzung, das geistige ‚Vollziehen‘ von jeglichem Tun, das einem solchen Vollzugssinn ermangelt. Nun lässt sich dieses instrumentelle und instrumentalisierende Tun nicht umgehen, es ist notwendig für das Überleben, aber es reicht dem Menschen spürbar nicht, er kann es nicht als seine letzte Wirklich­ keit beglaubigen. Es muss zum nutzenorientierten Tun, das seine Ergebnisse vorschnell mit der Wirklichkeit gleichsetzt, der Bezug zum ‚Geheimnis des Sinns‘, zum Numinosen hinzukommen, um die Form des Sichabhebens auf die Spitze zu treiben, von der aus der Blick auf das, was wirklich ist, frei wird. In Rilkes Gedicht Todes-Erfahrung heißt es, dass in die Bühne der Welt, auf der wir Rollen spielen, um zu gefallen, mit dem Tod (eines geliebten Menschen) ‚ein Streifen Wirklichkeit‘ bricht, und dass wir, sobald sich, an den Toten denkend, ein Wissen von jener Wirklichkeit einstellt, ‚hingerissen das Leben spielen‘, ohne an Beifall zu denken. Das Numinose des abwesenden Anwesenden (Landsberg), seiner für uns verkörperten Entkörperung, die am Anderen erfahrene Gewissheit des Todes, zieht von den lebendigen Verkörperungen das ab, was sie entstellt, wenn ihnen das Unwirkliche der Zur-Schau-Stellung beigemischt, der Selbstdar­ stellung durch Instrumentalisieren des dualen Modus ein Vorrang eingeräumt wird. Es ist das Numinose, an das, gleichsam als dessen Repräsentant, der Tod immer wieder erinnert, das die Erhaltung des Sinns in der Dauer gewährleistet. Der objektiv nicht erschließbare Sinn nimmt in Gestalt des Numinosen selbst die Form des Poetischen an. Es tritt an uns heran in ganz unterschiedlichen Qualitäten, die Rudolf Otto erläutert hat: übermächtig, furchterregend, Schauer aus­ lösend, erhaben, anziehend, Stille um sich verbreitend, Schweigen gebietend. All das sind – erlebbare und artikulierbare – Chiffren für das Numinose, das selbst unsinnlich bleibt, aber eben in diesen ‚ist‘, so wie in der geglückten Metapher die Sache selber als Bild ist (nach Formulierungen von Josef König und Hofmannsthal). Das Entkörperte des Numinosen geht ein in die ‚chiffrierten‘ Verkörperungen, und umgekehrt gäbe es diese Verkörperungen nicht ohne die dazugehörige Entkörperung. Nichts anderes leistet das Verfahren der Poesie. Sie artikuliert das Unsagbare, indem sie dessen Entkörperung für Verkör­

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87. Sinn hebt sich ab vom Zweck – die Rolle der Poesie

perungen in Anspruch nimmt, so dass es durch die Wörter hindurch, ‚mit‘, ‚hinter‘ und ‚zwischen‘ ihnen, seine Wirkung in ästhetischer Form entfaltet und solchermaßen ‚sichtbar‘ bzw. hörbar gemacht wird, anschaulich werdend im formenden Schaffen und verständigverstehenden Vernehmen. Josef König hat diesbezüglich von der ästhetischen Wirkung der Dichtung gesprochen, aus der ‚unmittelbare Gewißheit‘ folge; es ist die Gewissheit des unmittelbaren Erlebens von Sinn, die mittels der poetischen Gestalt möglich wird. Deshalb ist es unmöglich, durch den Versuch einer objektivierenden Artikulation in der Interpretation den ‚erzeugten‘ oder entgegengenommenen Sinn wiederzugewinnen bzw. zu verdeutlichen. Verkörpern und Entkörpern sind, wie bereits ausgearbeitet, auf­ einander bezogen; in deren Ineinander bleibt der Sinn erhalten, wodurch der Dauer der Gehalt zukommt, den sie in Geist und Bewusstsein des Menschen hat. Sinnerfüllter Gehalt zeigt sich in der Erinnerung, im verleiblichten Wissen – in dem, was man dadurch geworden ist und weiterhin wird –, im planenden, wünschenden, wollenden Vorgriff auf die Zukunft und im verständigen Gewärtigen des je aktuellen Jetzt. Das Gefüge des Ineinanders von Verkörpern und Entkörpern mit der Erhaltung des Sinns bestimmt zumal das Verhältnis des Lebens zum Tod und dessen Eintreten, wenn anders das Erleben von Dauer (die weder Anfang noch Ende kennt) und der Voll­ zugscharakter des fortlaufenden, sich stets vertiefenden und erneu­ ernden Verstehens (das seinerseits keinen Anfang und kein Ende hat) überhaupt möglich sein soll, und da deren Möglichkeit durch deren Verwirklichung in der hermeneutischen Bewegung erwiesen ist, hat diese Erhaltung des Sinns gerade auch im Verhältnis von Leben und Tod als Bedingung dafür zu gelten. Sie fordert zur tätigen Lösung des darin liegenden Rätsels in geistigem Tun auf. Wer sich dieser Aufgabe nicht unterzieht, erteilt dem Leben im Sinn eine Absage und verbleibt mit seinen symbolischen Artikulationen auf der Ebene des Instrumentellen. Aus Bequemlichkeit gibt man allzuleicht diesem Hang nach und meidet die Mühe, sich dem Sinndruck zu stellen; man weicht ihm aus oder verdrängt ihn. Letzteres gelingt aber nicht ‚auf Dauer‘, weil sich gerade unter dem Blickwinkel der Dauer der Gesamtsinn, spätestens mit der spürbaren Nähe des Todes und des Numinosen, bemerkbar macht – als Frage, die man mit seiner eigenen Lebensführung so oder so, mehr oder weniger angemessen, beantwortet (hat).

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88. Poetischer Sinn – die Einheit der Sinne und die Einheit des Sinns

88. Poetischer Sinn – die Einheit der Sinne und die Einheit des Sinns Es ist das Poetische in der Sprache, das der Korrelation zwischen Leib und Gesamtsinn Ausdruck verschafft, ja das dieses Verhält­ nis überwindet, indem die Sprache mit ihrer verdichtenden Kraft zur ursprünglich-synthetischen Einheit in diesem Verhältnis zurück­ kehrt: was diskursiv auseinandergelegt wurde, wird in der Poesie in ein Gesamtgefüge gefasst, in dem nicht mehr ‚Subjektives‘ und Objektives‘ sich gegenüberstehen, sondern, der Idee nach, das zu Erfassende sich in der erfassenden Sprache ‚verwirklicht‘. In dieser ‚Funktion‘ kann die Poesie in jegliches Sprechen und Schreiben, nicht nur das lyrische, epische oder dramatische, eingehen, überdies in jede Art von Anschauung und Auffassung, in der sich der Erfassende im Erfassten ‚auflöst‘ (Hofmannsthal), ohne zu verschwinden. Hinsichtlich des Konformitätssystems von Sinnlichkeit und Sinn war dessen Einheitlichkeit, die der Einheit der Welt und des Selbst zugrundeliegt, immer eine umstrittene Frage. Die Einheit der Sinne verwirklicht sich im Tun, speziell im Handeln des Schauspielers als Urbild des menschlichen Agierens in Rollen überhaupt, heißt es bei Plessner. Nimmt man zusätzlich in den Blick, dass die Sprache Welt und Selbst transzendiert, indem sie sie zu ihrem Gegenstand macht und somit sprechend-denkend über sie hinausgelangt, dann stößt man auf den (tiefer liegenden), auch das schauspielerische Tun tragenden Grund einer Einheit, die in der Funktion des dualen Modus liegt mit deren möglichen und wirklichen Steigerung zur poetischen Inanspruchnahme der Sprache. Und so liegt es nahe, hier von dem poetischen Sinn des Menschen zu sprechen, und zwar in doppelter Bedeutung: einmal als sinnliche Empfänglichkeit gegenüber allen Erscheinungen und dem, was sie trägt; sodann als sinnschaffendes Vermögen, mit dem wir die Wirklichkeit der geistigen Lebendigkeit erzeugen und so die Wirklichkeit des Lebens prägen. Zwar bleiben reale Widerfahrnisse das, was sie sind – wir können sie nicht ändern –, aber sie erscheinen in einem anderen Licht; die Wirklichkeit erhält gleichsam eine andere Tonart, einen anderen Geschmack. Hier kön­ nen alle Bezeichnungen für die sinnlichen Modi verwendet werden, weil es sich um eine synästhetische, gesamtleibliche Erfahrung han­ delt. Der poetische Sinn richtet sich also auf die Einheit der Sinne im Verdichten der Aufmerksamkeit auf das, was ist, und auf die

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88. Poetischer Sinn – die Einheit der Sinne und die Einheit des Sinns

Einheit des Sinns im Verdichten der Artikulation dessen, worauf wir aufmerksam werden, um ihm den Sinn zu geben, der es für die geistige Lebendigkeit wirklich werden lässt. Wir können der Drohung des Todes als endgültigen Endes mit dem poetischen Sinn begegnen, der uns das Leben nicht bloß erträg­ lich macht, sondern über den Tod hinausträgt – ihn als Bedingung der Möglichkeit der Sinnstiftung überhaupt und des sich-orientierenden Anfangens begreifen lässt. Dieser Zusammenhang wurde bereits mehrfach umkreist, bleibt aber in seiner Paradoxie schwer verständ­ lich. Vielleicht hilft hier eine Analogie weiter, die überdies auf einer sachinternen Verbindung beruht. So wie wir beim Sprechen schöpfe­ risch anfangen, so auch beim Kalibrieren unserer Haltung zum Tod in seinem Verhältnis zum Leben. Im Satz ändern sich die Wortbedeu­ tungen mit der Veränderung des Klangs oder Tonems, d.h. mit der Variation des Satzsinns vor dem Hintergrund von Sinnorientierung überhaupt; analog: die Bedeutungen der Lebensmomente ändern sich mit der Variation des Gesamtsinns, d.h. mit dem Tod und seiner ‚Färbung‘ durch die Todesart oder durch unser Verhältnis, unsere Haltung zu ihm. Folgt daraus, dass man dem Tod zustimmen muss, statt ihn abzulehnen, mit Angst zu besetzen und zu skandalisieren, da er die menschliche Schöpfermacht beschränkt; dass man (wie Rilke) das Vergehen, Schwinden und Verschwinden begrüßen, der Vergänglich­ keit und Vergeblichkeit freudig entgegensehen muss, statt allerlei Vermeidungsstrategien dagegen aufzubieten? Oder ist es möglich, einen Weg zu beschreiten, auf dem, analog zum Klang als dem externen synthetischen Einheitspunkt in der Sprache, ein gelassener und schaffender Umgang mit dem Tod als dem externen synthetischen Einheitspunkt hinsichtlich des Gesamtsinns gefunden werden kann? Den Klang und damit die Varianten der Bedeutung beeinflussen wir, je nach Einstellung und innerer Haltung, leiblich-stimmlich selbst; den Tod und damit die Varianten seiner Bedeutung beeinflussen wir in unserer Einstellung zu ihm und in unserer Vorstellung von ihm. Nicht zufällig kreisen viele Dichtungen um diesen zentralen Punkt und erzeugen so einen aktiven Umgang mit der Entkörperung, der sie in neue lebendige Verkörperungen umzumünzen vermag. Der Perspektivenwechsel, den wir mittels des poetischen Sinns in unserer Auffassung vom Tod vornehmen können, kann Aspekte des Todes beleuchten, die ansonsten verdeckt bleiben, so wie der Klang in seiner

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89. Sinn verdichtet sich im Wort

Variation je andere Aspekte des Meinens betont, mindert, hervorhebt oder ganz neu fasst.

89. Sinn verdichtet sich im Wort Was aber lässt sich am Tod und an der Auffassung von ihm variieren? In der Sprache ist es die Bedeutung, die wir verändern, immer aber mit Bezug auf den im Bedeutungsgefüge der Sätze und Äußerungen vorwegzunehmenden Sinn; in der Haltung gegenüber dem Tod (und damit dem Leben) ist es der Sinn selbst, der in Relation zu den Artikulationen der Lebendigkeit, insbesondere den sprachlichen, wel­ che dieser Haltung Ausdruck verleihen, den Brechungsindex seines ‚Sichzeigens‘ so variiert, dass er den Funken des menschlichen Geistes zünden oder ihn zum Ersticken bringen kann, wobei es dazwischen viele graduelle Abstufungen gibt. Das lässt sich bei jeder künstle­ rischen Darbietung, sei es auf der Bühne, beim Vortrag, in leibli­ cher Präsenz, mündlich, schriftlich, produzierend oder vernehmend, feststellen. Und diese Varianten des gebrochenen Sichzeigens, die Abschattungen des Sinns, speisen sich in ihrer Verschiedenheit davon, wie in das jeweilige Verkörpern die Entkörperung, an der es ansetzt, eingeht: das Rollenspielen nimmt in seiner konkreten Performanz die Zurücknahme des Selbst in sich auf; dem sprachlichen Artikulieren sind das Schweigen, die Pausen, das Nichtartikulierbare eingewoben; dem Leben als der Bedingung aller aktuellen Verkörperungen ist der Tod eingepflanzt; grundsätzlich: der verkörperte Sinn ist an dessen Entkörperung im Selbstentzug gekoppelt. Wenn Hegel davon spricht, dass das Leben des Geistes ein solches ist, das den Tod ‚nicht scheut‘, sondern ‚in ihm sich erhält‘, dann verweist er damit auf die lebendigen Verkörperungen von Sinn, in denen sich der Geist artikuliert. Sie realisieren sich stets im Gegenzug zum Vorgang des Entkörperns. Die Selbsterhaltung des geistigen Lebens hat die ‚Beseitigung der Welt‘ (Cassirer), sprich die Entkörperung des bloßen Lebens von seiner Bedeutung, zur Voraussetzung. So stellt sich heraus, dass der Sinn, in Koinzidenz mit der Entkörperung, letztendlich mit der Entkörperung im Tod, in die geistigen Verkörperungen sich gleichsam hineinbohrt; obwohl er sich objektiv entzieht, artikuliert er sich darin und prägt das geistige Leben. Er verdichtet sich im Wort. Man kann geradezu sagen: im Wort vereinigen sich Verkörperung und Entkörperung. So ist, streng

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90. Freier Anfang versus Sprachzwang

gesehen, jedes Wort eine Chiffre; es stammt letztlich aus dem Nichts als dem ‚Ort‘ der Entkörperung und zeugt, trägt, transportiert (je nach Sichtweise und Ansatzpunkt) in Kooperation mit anderen Wörtern und Wortfolgen, verkörperten Sinn. Man kann die Ingredienzen von Verkörperung und Entkörperung im Wort zum Beispiel daran feststellen, dass eine immergleiche Verwendung, d.h. ein monotones Verkörpern bestimmter Wörter, diese abnutzt; die stets wiederholte Verwendung entkleidet sie jeglichen Sinns, und es braucht kreative Neugestaltungen, etwa durch Klang, Betonung oder Syntax, um verbrauchten Wörtern wieder aufzuhelfen, sie bereit zu machen für ihre Aufgabe, im Satz- und Äußerungskontext Sinn zu verkörpern. Gottfried Benn hat, um die unergründliche Macht des Wortes in der poetischen Gestaltung, insbesondere der lyrischen, zu fassen, von Gebilden gesprochen, die ‚unter der formfordernden Gewalt des Nichts‘ herausdrängen, hervorstoßend aus der ‚Macht der Stunde‘, d.h. der Zeit, der wir uns einschmiegen, in deren Rhythmus wir uns eintakten, in eine Synthese von ‚Niemals und immer‘, wie Benn sagt und damit ihre unerklärliche, lediglich im Mitschwingen erfahrbare, nicht aber theoretisch erkennbare Dauer anzeigt. Als Beispiel nennt er ein eigenes Gedicht (‚Welle der Nacht‘), dessen erste Strophe er hatte, und dessen zweite Strophe ihm erst nach zwanzig Jahren gelang. Ein solcher Vorgang steht exemplarisch für den Erhalt von Sinn in der Dauer; diese bedingt allererst die Möglichkeit von Sinnerfüllung, und weder Anfang noch Ende lassen sich dafür angeben.

90. Freier Anfang versus Sprachzwang Sprache und Sinn haben eine aufeinander abzustimmende Schlagzahl, mit der sie sich auf die Zeit einpendeln. Sie geraten außer Form, wenn der Schlag nicht dem richtigen Takt folgt und der daraus hervorgehende Laut nicht den angemessenen Ton trifft. Die Form, zu der die Poesie in ihren besten (dabei seltenen) Ausprägungen findet, zeugt vom sich stetig erneuernden Rhythmus, der ein Signum der Dauer ist und die hermeneutische Bewegung in Gang hält. Unter der Perspektive der Poesie, mit dem Blick poetischer Gestimmtheit, schält sich jener Aspekt des Todes heraus, der seiner Einschätzung als absolutes Ende bzw. absolutes Nichts widerspricht: die bis ans Äußerste der lebendigen Grenze getriebene Entkörperung, die an die Grenze der ‚vollkommenen‘ Verkörperung des Geistes stößt, des

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90. Freier Anfang versus Sprachzwang

Geistes, der sich vom ‚Kleben am Körper‘ befreit. Die gemeinsame Grenze ist das Wort. Der Geist strebt nach dem Wort, und in seinen besten Stunden drängt er zur Poesie, in der sich Sachlichkeit mit der Atmosphäre von Wahrheit und Schönheit paart. Die sprachliche Formkraft zieht es in diese Richtung, und wenn man aufmerksam ist, bemerkt man diesen Zug in jeder Äußerung, in der Regel als Mangel. Denn die Momente stimmiger Poesie sind äußerst selten. Wie eine Kaktusblüte entfaltet sich das Poetische zur rechten Zeit am rechten Ort. So ist es der Existenzialbeweis nicht nur für die Sinnorientierung der geistigen Lebendigkeit, sondern für den Sinn selbst, ohne den das ganze Konformitätssystem von Sinnlichkeit und Sinngebung, Körper und Geist, an dessen Spitze die zu poetischer Vollendung drängende sprachliche Artikulation steht, in sich zusam­ menfiele und der Tod Gewalt über das Leben gewönne. Das gelingt ihm überall dort, wo in letzter Konsequenz alle Artikulation als Mittel zu partikularen Zwecken dient und kein Spielraum gelassen wird für die sich formbewusst artikulierende geistige Lebendigkeit; auch diese wird dann instrumentalisiert und hat Platz zu machen für die Arbeit der Intelligenz, einschließlich der künstlichen. Ein Symptom für die Verdrängung des Geistes und die Marginalisierung seiner Tätigkeit ist die Dienstbarmachung der Sprache als technisches Mittel zur Verbreitung von Ideologien, etwa solchen mit der Zielrichtung identitärer Selbstbestätigung oder auch fehlgeleiteter Theorien über dunkle Mächte, von denen der Mensch unerkannt beherrscht werde. Wo der Mensch den damit einhergehenden Sprachzwängen folgt, verkümmert die Freiheit des Anfangenkönnens; an ihre Stelle tritt die vorgeschriebene Ordnung gestanzter Phrasen, derer man sich zu bedienen hat. Nur dann aber, wenn ein freier Anfang möglich ist (dessen Wirkung in der poetischen Gestaltung kulminiert), verliert der Tod seinen Schrecken als endgültiges Ende bzw. absolutes Nichts und gewinnt seinen Status im Rahmen des Konformitätssystems: als Bedingung der Möglichkeit von Sinnorientierung und Sinngebung bzw. als qualifiziertes Nichts, als Quelle, aus der sich die Macht der Verkörperung speist. Andernfalls könnten wir weder die Erfahrung von Selbstvergessenheit und Zeitlosigkeit noch die der moralischen Selbstlosigkeit machen, die Zeichen der Sinnfindung sind. Denn zu diesen Erfahrungen gehört das Erleben eines solchen Nichts, aus dem sich Sinngebung und Sinnerfüllung schöpfen lassen.

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91. Das treffende Wort

91. Das treffende Wort Das Wort ist die Grenze, die der Verkörperung und der Entkörperung gemeinsam ist und an der sie ineinander übergehen, oder anders: ineinander verschränkt sind. Aus diesem Grund kann das Wort treffen. Treffsicher kann nur sein, was sein Ziel auch verfehlen kann. Ziel ist das Klären einer Sache und, hinsichtlich dieser Klärung, das Gewin­ nen von Einsicht mit der Orientierung an Sinn. Das Wort ist verfehlt, das an der Sache vorbeigeht und nicht ausreichend verständlich ist; es trifft weder die Sache noch auf das Verständnis des Hörers. Die Sinnintention geht ins Leere, allerdings eine Leere, mit der man nichts anfangen kann, weil sie nicht auf eine Entkörperung verweist, aus der Funken zu schlagen sind für eine neue Verkörperung. Man muss es ganz beiseite legen, um sich des ‚eigentlich‘ Gemeinten neu zu versichern. Wenn das Wort trifft, zumal in der Dichtung, entfaltet es, wie die einer Sache adäquate Wahrnehmung, eine Wirkung, und zwar, wie Josef König sagt, eine ästhetische Wirkung. Die Worte sind der in ihnen evozierten Sache angemessen und werden deshalb als sinnvoll und wahr vernommen. Man hat den Eindruck von Stimmigkeit. Die gelungene poetische Artikulation trifft einen Sachverhalt oder Gegenstand im weitesten Sinne, der nicht in propositionale Form gegossen werden kann. Die Aussagekraft der Proposition in der ‚rein diskursiven‘ Rede (Misch) lebt davon, dass man von einer Überein­ stimmung oder Kohärenz zwischen den verwendeten Wörtern und den damit bezeichneten Gegenständen ausgeht oder diese zumindest angestrebt wird. In poetischen Formen – bei Misch die der evozieren­ den Rede – wird eine solche Adäquatheit gar nicht intendiert. Denn das, was hier ausgedrückt werden soll, verweigert sich gerade den Beschränkungen propositionaler Sprache. Es sprengt sie und wird dadurch aus wissenschaftlicher Sicht verdächtig. Und dennoch ver­ mitteln diese Formen den anhaltenden Eindruck, sie seien zutreffend, richtig, wahr. Aber woraufhin sind sie das? Nun: auf das hin, was sich der aussagenden Artikulierbarkeit entzieht, den Gesamtsinn, auf den hin die Sprache letztlich angelegt ist und den wir im Sprechen und Vernehmen ‚irgendwie‘ vorwegnehmen. Beide Akte, der der Äußerung und der der Aufnahme, sind darauf aus, das Treffende im Sinne von Angemessenheit, Richtigkeit und Wahrheit zu finden, ohne dass es dafür eindeutig zuzuordnende Bezeichnungen als Grundlage für Adäquatheit oder Kohärenz gibt. Getroffen wird der Sinn in den

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92. Durch das Wort hindurch

Teilaspekten, die prismatisch gebrochen in der Poesie artikulierbar sind, zuweilen auch, etwa in einem lange vorbereiteten Schweigen (im Sanskrit die Redeform des parā), der Gesamtsinn selbst. Außerdem mag es sein, dass der gesamte sich im Werden befindliche Korpus der Sprache, insbesondere der poetisch gestalteten, den Gesamtsinn in seinem ebensolchen Werden, bei dem kein Ende abzusehen ist, ‚repräsentiert‘. Das Schweigen des parā ist die entkörperte Form jenes Korpus, seine lautlose Gestalt, die den Selbstentzug des Gesamtsinns als Stille wiedergibt. Dichter wie Samuel Beckett haben dies in ihr Werk zu integrieren versucht. König spricht von einem ‚lautlosen Ton‘ der ästhetischen Wir­ kung, einer ‚Eigenschwingung‘, die mit dem ‚Eigenton‘ der Dichtung in Einklang gerät, insofern deren Worte treffen. Eine leere Sinnintention trifft gerade nicht diesen lautlosen Ton, weil sie keinen Eigenton hat; sie erzeugt einen Missklang. Dagegen ist die ästhetische Wirkung ein Resonanzphänomen, bei dem das Getroffene, das zuvor in gewisser Weise in einer Art von entkörpertem Dasein schlummerte, zum ‚Erzit­ tern‘ kommt, weil es in Gestalt von Worten auf den verkörperten Geist trifft, der es erweckt. Umgekehrt zündet der geistige Funken allererst durch das Zusammentreffen des Verkörperungsaktes mit dem, worauf er ‚zielt‘. So ‚entsteht‘, ‚zeigt sich‘ Sinn. Er wird – in Grenzen, die durch die Bedingungen des wirklichen Leibes und der Sprache gezogen werden – artikulierbar. Diese Bedingungen wiederum sind durch die ‚Arbeit‘ am Leib und an der Sprache so veränderbar, dass sich damit die Grenzen für die Artikulation des Sinns verschieben. Sinn wird deutlicher und klarer artikulierbar.

92. Durch das Wort hindurch Die Resonanz, das Phänomen des Treffens und Zutreffens, des Zusammentreffens zwischen Sprache und Sinn, lässt sich von ver­ schiedenen Zugängen aus näher beschreiben. Das Wort trifft, weil sich in ihm die Antriebskräfte der herme­ neutischen Bewegung, das Verkörpern und Entkörpern, zur Dynamik des Formens zusammenfinden, oder es verfehlt, weil die beiden Motoren ins Stottern kommen. Julius Stenzel hat diesbezüglich von Bedeutungserfüllung und Bedeutungsentleerung gesprochen. Ziehen beide Kräfte an einem Strang, wird Sinn verkörpert, indem die an die Dinglichkeit gekoppelte Bedeutung des Gemeinten in ihrer hinderli­

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92. Durch das Wort hindurch

chen Anschaulichkeit entkörpert wird. Durch das Wort hindurch wird die gemeinte Sache ‚sichtbar‘, das Gemeinte wird verstanden, aber nur dann, wenn die ‚Abstraktion‘, das Absehen vom konkreten Ding, doch wieder zu einer neuen Anschauung, führt, einer ‚geistigen‘, die sich mit ‚Bildern‘ füllen lässt. Um noch einmal das Wort von Cassirer aufzunehmen und zu variieren: das Ding wird beseitigt, um den Sinn an sich zu ziehen; in der Sinnschöpfung ist das Ding ‚aufgehoben‘. Stellte man sich, zum Beispiel, bei der gegenständlichen Meta­ pher ‚Hausschlüssel‘ ein Haus in seiner ganzen anschaulichen Präsenz vor, könnte man es nicht mit der Anschauung von Schlüssel verbin­ den. Man entkörpert ‚Haus‘ von seiner Bedeutung und reduziert den Wortsinn auf die Tür und das Loch, in das der Schlüssel passt. Die Bedeutung des Wortes, zumal im Kontext von Sätzen, Äußerungen und Texten, erfüllt sich durch die Entleerung seiner Bedeutung von der ursprünglichen Anschauung. Wieviel mehr geschieht dies bei weitergehenden, d.h. abstrakteren Metaphern, etwa wenn man vom Schlüssel zum Verstehen eines schwierigen Zusammenhangs spricht? Etwas erschließt sich dem Fragenden, er erhält Aufschluss über eine Sachlage – solche Redeweisen setzen voraus, dass das Basiswort ‚Schlüssel‘ von der Anschauung seiner Bedeutung entleert, d.h. ent­ körpert wird, um die intendierte, daraus erwachsende neue Bedeutung verkörpern zu können, die ihrerseits als konkrete, aber nicht mehr körpergebundene Vorstellung dem Geist vorschweben kann. Es hat sich schon mehrfach herausgestellt: Überall wird im Spre­ chen und Vernehmen verkörpert durch Entkörpern und umgekehrt. Sinn wurzelt in dieser doppelten Bewegung. Das Wort trifft ihn dann, wenn es beide Richtungen der Bewegung in der rechten Weise zu einer Koinzidenz bringt und so ein Verstehen auslöst, das sich im fortschreitenden hermeneutischen Prozess bewähren kann. Aus diesem Grund werden bestimmte Texte immer wieder gelesen und interpretiert, bestimmte Stücke immer wieder gespielt und adaptiert, andere dagegen können nicht jene ästhetische Wirkung entfalten, die das unmittelbare Erleben von Sinn mit der Gewissheit verbindet, dass hier etwas Wahres und Gültiges zum Ausdruck kommt, zwar nicht als fixierbarer Wissensbestand, aber als Quelle neuer Sinnschöpfung und aus der Aktivität des dualen Modus hervorwachsender Sinngeltung.

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93. Die Funktion der Leerformen

93. Die Funktion der Leerformen Ein weiterer Zugang zum Resonanzphänomen des ‚Treffens‘ gelingt mit Metaphern: man kann sich, auch hier wieder, ein ‚Bild machen‘, um die Verhältnisse, die hier statthaben und in die menschliche Lebendigkeit mit ihrer sprachlichen Artikuliertheit eingehen, einer Klärung näherzubringen. Oben (Nr. 58) wurde die mathematische Mengenlehre herange­ zogen, um die expressive Interdependenz zwischen Gesamtsinn und Sprache näher zu beleuchten. Es sprach Einiges für die Annahme, dass die beiden ‚Mengen‘ aufeinander abbildbar sind, weil Variationen und Nuancen in der Form des Sprechens mit entsprechenden Variationen in der Form des Gesamtsinns einhergehen, zumindest in den Aspek­ ten, in welchen dieser in unser Verhältnis zu ihm eintritt; dabei lassen sich der Vollendung zustrebende, aber auch privative Modi feststellen, solche der sprachlichen Vervollkommnung und solche der sprachli­ chen Verkümmerung mit entsprechenden, parallel laufenden Prozes­ sen hinsichtlich der Sinnschöpfung und des Sinnverstehens. Dieses Bild zweier aufeinander bezogener Mengen kann weiter ausgemalt werden, um die Struktur zu erhellen, die der menschlichen Ausdrücklichkeit überhaupt eigen ist: Verkörperung und Entkörpe­ rung bilden zwei Bereiche, die aneinander grenzen und ineinander übergehen. Es hat sich gezeigt: Entkörperung bedingt und begrenzt die Möglichkeiten der Verkörperung; wir können nicht end- und gren­ zenlos verkörpern, ohne die Leerformen bzw. das qualitative Nichts in Rechnung zu stellen, die den Hintergrund der artikulierten Formen bilden und diesen so innewohnen, dass die Gestalten unversehens – d.h. ohne die notwendige Aufmerksamkeit für jenen Hintergrund – ihre Bedeutung verlieren und ihrerseits nichtig werden können, ohne den Anstoß für einen neuen Anfang zu liefern. Das Aufmerk­ samkeitsdefizit im Hinblick auf die Funktion der Leerformen zeigt sich etwa daran, dass man das Kultivieren der leiblichen und sprachlichen Artikulation vernachlässigt, die Zeit ‚totschlägt‘, den Raum veröden lässt, der Spontaneität des Ich keinen Stoff gibt, dem Selbst die Verwandlung in Rollen nicht zugesteht oder auch die Erfordernisse der grammatischen Struktur einer Sprache missachtet, jener Struktur, die das leere ‚Schema‘ (Bühler) bereitstellt, aus dem, zusammen mit Klang und Rhythmus, der Sprecher die Bedeutungserfüllung seiner Worte und die Sinnorientierung seiner Sätze gewinnt. Allgemein lässt sich sagen, dass die Nichtbeachtung der Leerformen negative Folgen

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93. Die Funktion der Leerformen

für die Sinnschöpfung hat, wenn das Gelten von Bedeutung nicht den Bedingungen des dualen Modus – der in reziproken Formen (des Dialogs, der rationalen Argumentation, der Perspektivenüber­ nahme) sich je gegenwärtig manifestierenden Mitwelt – unterworfen, sondern den beschränkten Bedingungen eines technischen Mediums überlassen wird. Wird die Funktion der Leerformen nicht außer Kraft gesetzt, kann sie ihren Beitrag leisten, damit eine ermattete Verkörperung in Entkörperung übergehen kann, um sich zu erneuern – in den Akten, die von der Gegenwart des Geistes zeugen, der aus den Leerformen des dualen Modus, sprich: der Mitwelt, syntagmatisch geformte Inhalte gewinnt und sich so aus dem Bestand entkörperter mitweltlicher Geltung heraus verkörpert. Das ist die Initialzündung für den schöpferischen Anfang. Im Sprechen werden die Laute und Wörter neu aufgebaut, um ihnen einen neuen Klang und einen Sinn zu geben, der aktuell verstanden werden kann – nicht den Sinn, den sie in einer anderen Verwendung einmal gehabt haben mögen. Dabei geht jeder artikulierten Gestaltung mit den Mitteln des Leibes und der Sprache, jedem Aufbau von Sinn der Abbau des Vorbildes voraus, auf das man sich bezieht. Insofern ist jeder mimetische Akt eine Neuschöpfung, es sei denn, er verfällt einer ritualisierten Monotonie, aus der sich kein neuer Anfang gewinnen lässt – ein Problem, mit dem der institutionalisierte Glaube zu kämpfen hat. Aber selbst aus dem Bemühen, es dem Vorbild gleichzumachen, resultiert eine Neuschöpfung; man erkennt den Versuch des genauen Nachmachens als solchen und sieht ihn gerade deshalb als etwas Neues, in dem das Vorbild entweder nachgeäfft wird oder übertroffen werden soll – bei­ des transportiert in seiner Lächerlichkeit oder selbstüberschätzenden Hybris eine Neuheit. Um an dieser Stelle die mathematische Metapher weiterzuspin­ nen: es lässt sich von dem Bereich der Entkörperung bzw. des sich entziehenden Gesamtsinns als dem Urbild- oder Definitionsbereich sprechen und von dem Bereich der Verkörperung bzw. dem der sprach­ lichen Artikulation als dem des Bildbereichs. Die ‚Urbilder‘ kennen wir allerdings nur in dem Maße, wie sich die ‚Bilder‘ in sinnvoller Kombination – sprachlich: in sinnvoll-verständlichen phonetischen, morphologischen, syntaktischen Strukturen – je gegenwärtig für uns zeigen. Man mag hier an Platons Ideen denken, deren Schau in langer Übung vorbereitet werden muss, oder auch an Kants Begriff des Urbildes, etwa das der moralischen Vollkommenheit,

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94. Leib und Sprache als Grenzübergänge

dem wir uns in unendlichem Streben anzunähern haben. Für die hier gewählten Bereiche der sprachlichen Artikulation in Relation zum Gesamtsinn und der Verkörperung in Relation zur Entkörperung bilden solche philosophischen Konzepte den (zu entkörpernden) Hintergrund, ohne metaphysisch hypostasiert zu werden. Dagegen gilt es, mit den gewählten Bildern, Metaphern und Strukturbeschrei­ bungen die Dynamik der Bewegung einzufangen, in der sich die Zeit als heterogen verfasste Dauer manifestiert und die Möglichkeit der Hermeneutik, des Zeiten übergreifenden Verstehens, bedingt.

94. Leib und Sprache als Grenzübergänge Es ist der menschliche Leib mit seinen Sprechwerkzeugen, der an der Grenze der beiden Bereiche steht; er ist fähig, mit den Mitteln des Körpers Sinn zu verkörpern, und er muss sich selbst dabei immer wieder entkörpern, damit man nicht in der Anschauung der verwen­ deten Mittel festhängt und diesen eine unangemessene Bedeutung beilegt. Man nimmt nicht die Nase, den Mund, die Augenfarbe wahr, sondern den ganzen Gesichtsausdruck, um den Menschen zu sehen und zu verstehen; ebenso gewahren wir den Sinn, den Gestik und Körperhaltung zeigen, ohne auf die Stofflichkeit der Arme, Hände und Kopfbewegungen fixiert zu sein. Der Leib kann in Haltung und Bewegung Sinn verkörpern und sein Ausdruck kann verstanden werden, weil er den Grenzübergang zwischen den beiden Bereichen tätig bewerkstelligt. In der Sprache wird all das ausdrücklich: sie verknüpft das Abse­ hen von ‚Äußerlichkeiten‘ mit dem Hinsehen auf geistig Gemeintes. In und mit ihr wird das Verhältnis der Verhältnisse, die der Leib in seinem Ausdruck einfängt, explizit. Sprache ist das Grenzgebiet zwischen den beiden Bereichen von Verkörperung und Entkörperung – das Wort ist das Grenzphänomen. In der Sprache spiegeln sich die beiden Bereiche so, dass man davon sprechen kann, sie stehen in Analogie zueinander. Das heißt: sie stehen in einer Beziehung, in welcher die Elemente des einen Bereichs in ihrer jeweiligen Relation zueinander auf die Elemente des anderen Bereichs in ihrer jeweiligen Relation zueinander abbildbar sind, ähnlich zweier Mengen in der Mathematik. Diese Abbildbarkeit ist die Voraussetzung für die Ver­ bindung der Elemente aus beiden Bereichen am Übergang zwischen den Grenzen, und diese Verbindung, eine Verschränkung des einen

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95. Die Funktion der Zeit als Dauer

in das andere, die sich bereits im Leib verwirklicht, vollendet sich als sprachlicher Ausdruck. Anders könnte beim Aufbau des Sprechens und beim Verstehen des Gehörten kein Sinn vorweggenommen und generiert werden.

95. Die Funktion der Zeit als Dauer Die Bedingung der Möglichkeit einer solchen Verbindung zwischen Verkörperung und Entkörperung, des Zugleich ihrer Verschränkung beim Generieren und Erneuern von Bedeutung und Sinn ist die Zeit. In der Sprache wirkt sie sich als Sukzessivität der lautlichen und syntaktischen Folge aus, außerdem als rhythmisch-taktgebende Organisation der Artikulation, insbesondere der poetischen. Überdies ist es der Eindruck von Zeitlosigkeit bzw. Ewigkeit, den die heraus­ ragenden Beispiele von Poesie einerseits einzufangen versuchen, andererseits selbst hinterlassen. Man denke an Baudelaires Äuße­ rung, das Poetische im Historischen (sein Beispiel ist die in der Malerei dargestellte Mode) bestehe darin, ‚aus dem Vergänglichen das Ewige herauszuziehen‘. Nicht die messbare Zeit – eigentlich, so Bergson, eine Projektion der Raumverhältnisse auf die Zeit – kann dafür die Voraussetzung sein; es ist die als Dauer verstandene Zeit, die den geschichtlichen Aufbau in der hermeneutischen Bewe­ gung und deren kulturelle wie historisch-gegenwärtige Heterogenität ermöglicht, ebenso die Richtung auf den Ausdruck von zeitloser Gültigkeit, mit dem versucht wird, durch aktives Entkörpern Sinn gegen den Widersinn der Vergänglichkeit zu verkörpern. Sähe man die Gestalt des Ausdrucks von vornherein als etwas, dem ohnehin keine anhaltende Gültigkeit zugesprochen werden könne, bemühte man sich gar nicht um ihre Geltung heischende Gestaltung. Das Vergängliche ist, als Moment des Vergehens durch Entkörpern in der verkörpernden Artikulation, in der Gegenwart der Dauer aufgehoben und entfaltet darin seine Wirkung als Vergangenes, das ehedem mit mitweltlicher Geltung versehen war, die fortwährend, ob bestätigend, modifiziert, erneuert oder überwunden, in der Dauer der hermeneuti­ schen Bewegung weiterwirkt, zumal in der Sprache. So gehen System und Geschichte in der Sprache eine Verbindung ein, die synchronische wie diachronische Perspektiven zulässt. Die Sprache gibt sich als ein zeitenübergreifendes und zeitloses System, das doch zugleich historisch geworden ist und im geschichtlich-kulturellen Wandel

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weiter wächst, hier und da anbaut, an anderer Stelle Altes ab- und vergräbt, um es zu Zeiten in verwandelter Form wieder auszugraben. Die Realität ihres Seins wird jedoch nur im je konkreten Sprechen verbürgt. Ihre Dauer gabelt sich in unzählige Verästelungen, deren sprachliche Vielfalt sich weiter in individuelle und soziokulturelle Idiolekte, Idiome und Dialekte verzweigt. Die Sprache gibt geradezu den Prototyp ab für eine Form der Aufbewahrung, welche einen Bestand von Geltungen bereithält, aus dem um der Freiheit des Ausdrucks und der Dynamik der herme­ neutischen Bewegung willen immer neu geschöpft werden kann. Andernfalls wäre der Sinn ein Objekt, das man im Werkzeugkasten der Sprache vorfinden und je nach Bedarf aus ihm herausnehmen könnte. Er muss aber im Sprechen immer neu erzeugt werden; er bleibt theoretisch unergründlich. Befände sich der Sinn im System der Sprache, öffnete sich kein Zeitfenster für den lebendigen Vollzug des Sprechens, Redens, Schweigens, Artikulierens überhaupt mit einer je kontextsensitiven Sinnvorwegnahme; es gäbe keine Gegenwart des Geistes, lediglich ein maschinelles Verlauten bliebe übrig, wie es der Computer auf der Basis aller Kombinationen, mit denen er gefüttert wurde, zu leisten vermag. Deshalb verfügt künstliche Intelligenz nicht über Geist. Entzieht man ihr die elektrische Energie, funktioniert sie nicht mehr. Dagegen spricht Einiges für die Annahme, dass der Geist in seiner entkörperten Form, deren Bedeutung von jeglicher Anschauung entleert ist und uns deshalb als Nichts ‚erscheint‘, den zu verkörpernden Sinn weiterhin in sich trägt und den materiellen Tod ‚überlebt‘; er fungiert immer noch als Leerform von Sinngeltung, die wir allerdings nur in ihrer jeweiligen Aktualisierung wahrneh­ men können und die uns ansonsten verborgen bleibt, nicht aber verschwindet wie die von der Stromversorgung abgeschnittene künst­ liche Intelligenz. Wir haben zwar keine Anschauung davon, wie der Geist ‚weiterlebt‘; jedoch wird die Leerform der Geltung und des Gesamtsinns im menschlichen Leben dadurch ‚anschaulich‘, d.h. in ihrer Wirkung spürbar, dass der Tod sie als Sinndruck weitergibt. Was als Inspiration erlebt wird, zeugt vom Ablassen des Drucks beim Akt der Sinnschöpfung. Das zuweilen lange Warten auf die Eingebung, von dem nicht wenige Dichter berichten, und das Kleist als Allmählichkeit beim Verfertigen von Gedanken vorführt, resultiert aus der Dauer, in deren Bewegung sich die artikulierenden Akte und der zu artikulierende Sinn aufeinander hin koordinieren. Insofern ist es geradezu die Funktion der Zeit, den Sinndruck in sinngebende Akte

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entweichen zu lassen. Diese Funktion kann sie nur erfüllen, wenn sie an der Grenze der beiden Bereiche der Verkörperung und Entkörpe­ rung nicht zum Stillstand kommt; sonst könnte der Druck (vom Sinn her) weder aufgebaut noch das Ventil (zum Sinn hin) geöffnet werden. Zeit ist die Bedingung der Möglichkeit des Übergehens und ‚fließt‘ gleichsam durch den Grenzübergang hindurch, und es liegt nahe, dass sie sich in einer solchen Form auf den Bereich der Entkörperung, den sich entziehenden Gesamtsinn, auswirkt, die der Form, mit der sie den Bereich der Verkörperung prägt – der Form als heterogener Dauer –, in irgendeiner Weise entsprechen muss, um die hermeneutische Bewegung – vom Sinn her und zum Sinn hin – zu ermöglichen und die Poesie mit einem erkenntnistheoretisch nicht zu bestimmenden, im sprachlichen Ausdruck jedoch mit transportierten und diesen maßgeblich prägenden Wahrheits- und Sinngehalt auszustatten. Das ist gerade auch dann der Fall, wenn das poetische Erzeugnis auf abseitige Pfade führt, die sinnwidrig oder widersinnig anmuten, so dass das Widrige, Widerspenstige, manchmal auch Widerliche darin den Raum freigibt für das Nichtgesagte. Was da, zuweilen wie eine Bürde, dann auch den Schritt beschwingend, mit transportiert wird, geht in den Stil ein, der dem überschießenden Plus der Sprache, dem, was, über die je konkrete Artikulation hinausgehend, die Sache selbst und ihren Sinngehalt ausmacht, ein ‚Aussehen‘ verleiht – und dem Redner, der sich der Wahrheit (und unter ihrer Last) beugt, ein ‚Ansehen‘: er gilt als wahrhaftig, redlich und glaubwürdig. Aus diesem Grund kann Stil als ästhetischer Ausweis der Wahrheit gelten, und Wahrheit kommt darin gebrochen zum Ausdruck: als Wahrhaftigkeit beim Reden und Sprechen. Man nimmt es jemandem nicht ab, was er sagt, wenn es durch den Stil, und sei es bloß das spürbare Mühen daran, nicht beglaubigt werden kann.

96. Zeit verbindet Leben und Tod Die hier umrissene Funktion der Zeit hat Folgen für einen möglichen Zugang zum Bereich der Entkörperung, d.h. des Gesamtsinns in seinem Selbstentzug und seiner uns zunächst kaum verständlichen Repräsentation im Tod. Die Wirklichkeit von Hermeneutik und Poesie zeugt davon, dass die Bereiche der Verkörperung und der Entkörpe­ rung zufolge der Bedingung der Zeit so ineinander verschränkt sind,

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96. Zeit verbindet Leben und Tod

dass die Zeit als Dauer eben jene Wirklichkeit ermöglicht. Das heißt aber auch, dass die so verstandene Zeit das ausdruckshafte Leben mit seiner vollständig entkörperten Leerform, dem Tod, verbindet. Der Inbegriff der Verkörperung, die expressive Lebendigkeit, steht zwar in einer antagonistischen Relation zum Inbegriff der Entkörperung, wie er uns im Tod erscheint; die Entkörperung ist der Gegenzug der Verkörperung, wie Plessner sagt. Beide bilden aber gerade deshalb eine Einheit von Widersprüchen, eine wahrhaft synthetische Einheit, deren anschauliche Gestalt sich im menschlichen Leib manifestiert. Denn der Leib hat diese Synthese fortwährend zu vollziehen – in Bewegung, Haltung, Ausdruck, Gestaltung, Selbstdarstellung; er muss seine eigene Bedeutung als Leibselbst immer wieder entkör­ pern, um die jeweils intendierte geistige Intention, den Sinn, zu ver­ körpern und dabei die Bedeutung des Leibselbst wiederzugewinnen, etwa in der Realisierung einer Rollenfigur, und so dem Sinndruck, der vom Tod als dem Repräsentanten des Sinnentzugs ausgeübt wird, standhalten und ihn ablassen zu können: ihn umzumünzen in Expression und Artikulation. Die beiden antagonistischen Momente der Einheit sind durch die Zeitform so miteinander verbunden, dass der Leib die Kraft des Gegenzugs der Entkörperung nutzen und, vor dem Hintergrund seiner entleerten, aber für den Rhythmus der Zeit offenen Form – der Materialität seines Körpers –, Sinn verkörpern kann, von der einfachen Geste über komplexe darstellende Figuren bis hin zu Sprache und Poesie. Mit der Zeitform ist der Boden bereitet, auf dem die Leibessynthese in stetiger Aktivität realisiert, verlebendigt und dabei auch die Integration der Widerfahrnisse, des Erlittenen, in die Lebensgestaltung und -führung geleistet werden kann. Den Verlauf der heterogenen Dauer über das erscheinende Leben hinaus in die ‚Zeit danach‘ zu verlängern, mag eine Zumutung sein, wenn man sich an die szientifische Vorstellung der Lebenszeit als einer der messbaren Zeit ausgelieferten hält. Mit dieser Vorstellung ist die vom Tod als einem Endpunkt, der das absolute Nichts repräsen­ tiert, notwendig verbunden; das übersieht jedoch die Funktion der Materialität des Körpers als entkörperter Leib für die Realisierung geistiger Intentionen. Begreift man das, was wir ‚Tod‘ nennen, als den ‚Platzhalter‘ für den Gesamtsinn in seiner sich der Erkenntnis entziehenden Abwesenheit, in welcher er für uns anwesend ist – anwesend in den zeitlich geprägten Konstellationen der Sinnorientie­ rung, Sinngebung und Sinnvorwegnahme, wie sie doch der Leib in der geistigen Auffassung von sich und seinesgleichen zeigt, ausdrückt

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und darstellt –, und lässt man das damit einhergehende erschaubare Phänomen der Verschränkung des Todes in das Leben mit der Prägung der Lebendigkeit durch die Zeitform nicht außer acht, dann verwan­ delt sich jene Zumutung wenn nicht in eine Gewissheit, so doch in ein Postulat: die Zeit als unteilbare Dauer hat keinen Anfang und kein Ende, und nur in dieser Form als unendlicher Verlauf kann sie als Bedingung der Möglichkeit von Sprache und Poesie in Korrelation zum Gesamtsinn fungieren. Die Praxis von Sprache und Poesie verweist auf die notwendige ‚Idee‘ eines Gesamtsinns, an dem sich diese Praxis ausrichtet. Das Konformitätssystem von Sinnlichkeit und Sinngebung, in dessen Zentrum der Leib steht, geriete aus dem Gleichgewicht, wenn man den Tod als Endpunkt des Vergehens der körperlichen Materia­ lität zugleich als Ende aller möglichen Sinngebung verstünde; damit nähme man ihm sein Potenzial für das Anfangen und Werden im Vergehen, als qualitatives Moment in der körperleiblich-geistigen Verschränkungseinheit – denn die Akte des Verschränkens gelingen nur, wie gezeigt, vor dem Hintergrund der entkörperten Leere, des Vergehens im Werden –, weil dann auch der ganze Komplex der Sinngebung (mit Sinnorientierung und Sinnvorwegnahme) obsolet wird und mit ihm der Gegenzug zur Entkörperung, die Verkörperung der geistigen Intentionen inklusive Sprache und Poesie. Das Konfor­ mitätssystem wäre ausgehebelt. Der Leib und mit ihm die geistige Aktivität wäre reduziert auf die in der messbaren Zeit ablaufenden Mechanismen: funktionierend wie ein Computer, aber nicht geistig fungierend; Vorgaben ausdruckslos rechnerisch umsetzend, aber nicht ausdruckshaft Sinn erfüllend; äußere Zwecke umsetzend, aber nicht expressiv handelnd.

97. Freiheit als Sinn menschlicher Lebendigkeit – Selbstentzug und Selbstoffenbarung Nun ist es offensichtlich so, dass in der Poesie das Ineinander von Verkörperung und Entkörperung zu einer solchen Prägnanz kommt, dass es spürbar auf die mit ihr Befassten und von ihr Berührten wirkt. Es ist nicht leicht, dieses Ineinander und seine Wirkung in Worte zu fassen, die es weder verfälschen noch in seiner Bedeutung überhöhen. Es bleibt zumeist unausgesprochen, zumal sich der Gesamtsinn in

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seinem rätselhaften Bezug zum Lebensende und zum ‚leeren Schema‘ der ‚Sprache überhaupt‘ durch Selbstentzug auszeichnet. Der Dichter SAID findet einen poetischen Zugang zu diesem Ineinander, zur Verschränkung von Entkörperung (von Sinn) und Verkörperung (von Sinn), wenn er in einem Erich Fried gewidmeten Gedicht schreibt: „und dein tod / hast du ihn gefragt / nach seinem Namen? // oder kam er / auch diesmal verkleidet / als ein gedicht?“ Diese Fragen wären völlig sinnlos bzw. blanker Unsinn, wenn nicht jedem verständigen Hörer der hier evozierte Zusammenhang zwi­ schen Poesie und Tod aufgehen würde, ohne dass er dies rein diskursiv bzw. propositional darlegen könnte, zumal jede Verschränkung dieser Art eine Paradoxie erzeugt, die sich nur in der Bewegung und in deren gedanklichem Mitvollzug ‚auflöst‘. Diese Paradoxie kann unter verschiedenen Aspekten betrachtet werden. Explizit gemacht münden sie in Formulierungen, die in sich widersprüchlich und deshalb aus theoretischer Perspektive angreifbar sind, weil sie die zu vollziehende Bewegung durch Worte festzuhalten suchen. In der kleinen poetischen Skizze ist der Tod namenlos, er kann nicht näher bezeichnet werden, aber wie gewohnt (‚auch diesmal‘) trägt er eine Maske (‚verkleidet‘ er sich), und zwar eine solche, die seine namenlose Entkörpertheit verhüllt, um, mittels der Ver­ kleidung, sich selbst als Quelle von Sinngebung zu entschleiern, sich selbst darzustellen als Gedicht. Die Maske gibt ihm Konturen. Die Larve entlarvt ihn, zwar ohne sein ‚wahres Gesicht‘ zu zeigen, aber doch so weit, dass man es in seinem Verhältnis zur Sprache ‚sehen‘ kann – so weit, wie die Möglichkeiten der Artikulation des Unartikulierbaren reichen. Der Selbstentzug des Sinns, der am Ende des Lebens zwingend als abschließende Entkörperung erscheint und damit das Leben mit dessen Suche nach Sinngebung zeitlich strukturiert, mündet in die Poesie als aufschließende Verkörperung des verborgenen Sinns, jedoch nicht so, dass das Licht objektiver Erkenntnis auf ihn fällt und seiner schützenden Hülle beraubt, um ihn dem schrankenlosen Zugriff preiszugeben, dagegen so, dass die poetische Gestalt mit dem, was sie zeigt oder darstellt, als verdeckende Figur vor den Grund tritt, um immerhin ‚ahnen‘ zu lassen, was sie verdeckt: die Figur wird durchsichtig auf den Grund hin, ohne diesen durch dreist-neugierige Blicke zu korrumpieren. Was bedeutet dieses Ahnen, das kein Wissen, keine Erkenntnis ist, das aber doch mit dem Erfassen – Fühlen, Erleben – der numino­ sen Atmosphäre einhergeht, die uns angesichts des Rätsels ereilt,

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das sich um Leben und Tod rankt, um das ‚Nichts der Unwissenheit‘ (Kierkegaard) über die ‚letzten Dinge‘? Wie bei jeder Gestalt mögen Figur und Grund den Platz tauschen, der Grund mag zur Figur werden und umgekehrt; aber der Modus dieses Umkippens folgt der Form, die zuvor der Figur gegeben wurde, und diese Form kann niemals endgültig sein und diejenigen Konturen und Farben annehmen, die es bräuchte, um den Grund vollständig freizulegen. Denn sie hängt von dem Grad der Freiheit ab, den die geistige Inspiration benötigt, um sich in das Ineinander von Selbstentzug und Selbstoffenbarung ‚einzufühlen‘, und von der daraus resultierenden Sensibilität des Sprachgebrauchs. Der Grad der Freiheit wiederum ist eine lineare Funktion der realen Gestaltung des dualen Modus, d.h. der Art und Weise, wie das Zwischenleibliche, das expressive Formen, die Sprache, die Artikulation im Reden und Sprechen aktualisiert, geübt, gepflegt und weiterentwickelt werden; und da diese Gestaltung des dualen Modus eine moralische Aufgabe beinhaltet – diese liegt in der wechselseitigen Achtung der beteiligten Personen, ihrer stets neu zu aktualisierenden mitweltlichen Seinsgeltung, der Würde –, ist es unausweichlich, dass Freiheit nur als moralisch-praktische verstanden, nicht aber als theoretisch beweisbare oder widerlegbare Größe erkannt werden kann. Der rechte Gebrauch der Freiheit bei der sprachlichen Artikulation bis hin zur poetischen Formung ist die Vorbereitung der möglichen Koinzidenz mit der Artikulation des Gesamtsinns, soweit er in seiner Verhülltheit artikulierbar ist; und genauso wie dieser nicht gegenständlich vorhanden ist, um in propositionale Sätze Eingang zu finden, ist es mit der Freiheit bestellt: sie kann nicht objektiviert und als Objekt thematisch werden, sondern ist die notwendige Voraussetzung jeglicher Thematisierung und als solche zugleich der Sinn der menschlichen Lebendigkeit, die sich geistig artikulieren muss, um zu sein. Was der Freiheit des geistigen Schaffens zuwiderläuft, kann keine Geltung beanspruchen. In der Sphäre des Geistes ist Geltung der Ausweis des Seins, und deren Grund und Begründung ist Freiheit; Geltung bedarf der freien Zustimmung im Austausch – man spricht hier von geistiger Aus­ einandersetzung und geistigen Kämpfen – zwischen den Gliedern der Mitwelt, den Personen. Freiheit ist das Maß, an dem sich jeder Anfang mit dem, was aus ihm hervorgeht, zu messen hat. Was diesem Maß nicht genügt, schränkt die Lebendigkeit des Geistes ein oder zerstört sie.

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98. Sinnverständnishorizont und Norm der Wahrheit

98. Sinnverständnishorizont und Norm der Wahrheit Jeder Mensch möchte mit sich und seinem Leben etwas anfangen können, und für jede Selbstartikulation ist er gezwungen, einen Anfang zu finden, der die Sinnvorwegnahme nicht verstellt und eine sinnvolle Fortsetzung zulässt. Daraus resultiert der nicht ganz unzu­ treffende Eindruck, dass er sich fortwährend in eine Krise verstrickt findet. Man kann diese (in Anlehnung an den Titel eines frühen Buches von Plessner) als Krise der Wahrheit im Anfang bezeichnen. Die Freiheit des Anfangs schöpft aus der Quelle des menschlichen Geistes, d.i. der Mitwelt, und damit dem ‚Bestand‘, der sich in des­ sen Geschichte auf der Basis der Artikulationsmöglichkeiten zufolge der Spezifik des dual-syntagmatischen Modus manifestiert hat. Die schöpferische Freiheit bindet sich also an das, was in dieser Sphäre gilt, und jedes Anfangen übt seinerseits auf diese Geltungen einen Einfluss aus, der ihren Bereich oder Gehalt neu bewerten, verschieben und anders gewichten kann. Aber jede dieser Variationen zielt auf Wahrheit (selbst dann, wenn in ihr absichtlich Unwahres verbreitet werden soll, wofür es nötig ist, immer schon um den Anspruch der Wahrheit zu wissen), sie hat sich an der Norm der Wahrheit zu orientieren, wenn die aus ihr hervorgehenden Verkörperungen überhaupt Geltung beanspruchen sollen. Die Wahrheit lässt sich nicht vergegenständlichen oder objektiv erfassen, jedoch bestimmt sie die Ausrichtung jeglicher sprachlichen Artikulation auf den Sinn, der in ihr unausgesprochen bleibt, bloß angedeutet, beschwiegen, geleugnet oder explizit verkörpert wird. Es ist die Krisis eines Lebens in der Wahrheit in jedem seiner Anfänge, die immer Anfänge der lebendigen Selbstartikulation und damit Selbstdarstellungen des Geistes sind. Der Mensch möchte den richtigen Weg einschlagen, gerät aber durch das, was ihm akute Bedürfnisse und mächtiges Streben nach schnell befriedigter Lust oder kurzfristigem Erfolg nahelegen, auf eine andere Bahn. Er ist schon deshalb aus krummem Holz geschnitzt (Kant), weil die Identi­ tät seines Körpers mit seinem Leib so in sich gespalten ist, dass beide ‚Momente‘ in einem Vollzug vermitteln werden müssen, dessen Ver­ lauf und Bewegungen jedoch nicht vorgegeben sind, sondern der sich geschichtlich-kulturell entwickeln muss, und zwar auf der Basis des Körpers und seines Kontakts mit anderen ebenso in sich gebrochenen Leibern, also mitweltlich-geistig und mit den spezifischen Mitteln dieser Sphäre, d.h. mit den Mitteln des dual-syntagmatischen Modus,

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98. Sinnverständnishorizont und Norm der Wahrheit

ganz besonders den sprachlichen. Das gilt für das Individuum wie für die Menschheit. Aber woraufhin entwickeln, wenn sich Wahrheit und Sinn der theoretischen Erkenntnis verweigern? Husserls Überzeugung war, dass das Menschentum in sich bereits die Idee der Orientierung an der universellen Norm der Wahrheit trägt, und diese Richtung sei zum Durchbruch gekommen in der antiken griechischen Philoso­ phie. Damit sei die unendliche Aufgabe in Gang gesetzt, der sich Wissenschaft und Forschung, aber auch Bildung und Erziehung für alle zu widmen haben. Der Sinn des Menschentums, des Lebens der Menschheit überhaupt, liege in der unendlichen Annäherung an die Idee der Vernunft. Der Sinn der menschlichen Existenz sei die Arbeit an der Realisierung von Rationalität, verstanden als Manifestation der Idee der Wahrheit, als von allen zu leistende Verwirklichung der Wahrheitsnorm, an der sich jegliches menschliche Leben ausrichte. In seinem Vortrag über Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie formuliert er dahingehend einen bemerkenswer­ ten Gedanken. Jener Durchbruch zur Philosophie bedeute in der Folge eine „Revolutionierung der Geschichtlichkeit, die nun Geschichte des Entwerdens des endlichen Menschentums im Werden zum Men­ schentum unendlicher Aufgaben ist“. Der Einwand Hamanns gegen Kants Vernunftkritik, dass Sprache der Vernunft vorausgehe, mehr noch: Vernunft Sprache sei, kann an dieser Stelle dazu motivieren, den Satz Husserls sprachkritisch weiterzuführen. Ein Entwerden im Werden kann es konkret nur im sprachlichen Ausdruck geben. Oder, allgemeiner, mit Cassirers Wort: Ein Beseitigen (‚der Welt‘) mit der Wirkung des Ansichziehens (‚der Welt‘) ist konkret nur im Rahmen des symbolischen Formens möglich. So ist das Bezeichnen durch Weglassen typisch für das symbolische Formen (auch beim Malen und Musizieren). Die Sprache, der Laut, das Wort ist es, das im und durch Entkörpern verkörpert. In der Sprache ist überdies das Unendliche repräsentiert: sie macht von endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch (Humboldt), und die Arbeit am Ausdruck, am treffenden Wort, an der Formulierung, die die intendierte Bedeutung und den gesuchten Sinn adäquat, d.h. ‚wahrheitsgetreu‘, wiedergibt, ist die unendliche Aufgabe, die dem Einzelnen gestellt ist wie der Menschheit als Ganzes. Überdies transzendiert die Sprache das bloß ‚Vorhandene‘, und für dieses Überschreiten lassen sich keine Grenzen angeben. Die Arbeit am (sprachlichen) Ausdruck schließt diejenige an der Verwirklichung der Vernunft als unendlicher Annäherung

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98. Sinnverständnishorizont und Norm der Wahrheit

an die Wahrheit mit ein. Denn jede Verkörperung von Sinn, jeder geistige Akt, ist an der Norm der Wahrheit orientiert; die Rationali­ tät im Sinne von Wissenschaft, Forschung und Philosophie ist ein Teil davon, wenngleich jener Teil, dem es explizit um die Suche nach Wahrheit und um Formeln für den Ausdruck von Wahrheit geht. Nur dürfen diese Formeln den Komplex der Wahrheit, der den Gesamtsinn überhaupt betrifft, nicht auf die formallogisch aussagbare und darstellbare Wahrheit, auf den logischen Wahrheitswert proposi­ tionaler Sätze reduzieren. Denn es geht nicht um eine Naturalisierung des Geistes, wie sie, in vergeblicher Mühe, gerade in der logischen Objektivierung der geistigen Geltungen von Wahrheit oder Freiheit zum Ausdruck kommt, eine Naturalisierung, die in die Sackgasse des Selbstmissverständnisses, sich selbst zum Gegenstand zu machen, mündet, sondern um die Selbstverständigung des Geistes, wie sie Dilthey und Husserl auf je verschiedenem Wege angestrebt haben, der eine historisch-hermeneutisch, der andere transzendentalphäno­ menologisch. Ein solches Selbstverstehen des Geistes und das heißt des menschlichen Lebens richtet sich zwingend auf den Gesamtsinn, der in Korrelation zur Verkörperungsform des Geistes, der Sprache, und zum Sprachgebrauch im je konkreten Sprechen steht und nur dadurch überhaupt Konturen, wenngleich stets auf weitere Schärfung und Nuancierung wartende, bekommt. Nun ist es die Sprache selbst, die mit dem unartikulierbar Unendlichen und Vollkommenen des Gesamtsinns, seiner Leerform, insofern korreliert, als das ‚System‘ Sprache, die Leerform konkreter Sprachen und aktuellen Sprechens, fähig ist, Formen zu erzeugen, in welchen der perspektivische und begrenzte Standpunkt des Menschen in eine Relation zum Ganzen einzutreten vermag, zu eben diesem Gesamtsinn, der im poetischen Ausdruck trotz seiner Unartikulierbarkeit Gestalt gewinnt; mehr noch: der im übergestalthaften Ganzen sprachlicher Expression, das (in Laut und Klang) über die übersummenhafte Gestalt hinausweist, eine ihm eigene und legitime Anschauung erhält, und wenn schon kein klare Physiognomie, so doch eine ausdrucksvolle ‚Sprachmaske‘, die ihm Form gibt, eine Form, an der stetig weitergearbeitet werden kann – was letztendlich der Sinn von Sprache ist.

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99. Das Erleben der Dauer und die Funktion des Taktes

99. Das Erleben der Dauer und die Funktion des Taktes Der Sinnverständnishorizont wird vom Gebrauch der Sprache bestimmt und von der Poesie ins Transzendente hineingeführt – um noch einmal Baudelaires Worte zu zitieren: Poesie zieht das Ewige aus dem Vergänglichen heraus. Oben (Nr. 59) hatte sich die Analogie zwischen Klang und Tod aufgedrängt. Beide verbürgen für ihren Bereich, zum einen den der Sprache bzw. des Sprechens, zum andern den des Gesamtsinns als Orientierungsrichtung, die doppelte Synthesis, die über die bloße Übersummenhaftigkeit, dort einer Äußerung, hier des Lebens über­ haupt mit dessen Selbstartikulation des Lebens, hinausführt und deren Übergestalthaftigkeit sichert, um damit allererst Sinnvorweg­ nahme, Sinnschöpfung und Sinnverstehen zu ermöglichen. Die Ana­ logie bestehe, so hieß es, darin, dass beide, Tod und Klang, Bedeu­ tungsträger sind, in denen die synthetische Einheit des Sinnganzen selbst versammelt ist. Wir hören am Klang, was gemeint (und mit­ gemeint) ist, und wir spüren angesichts des Todes, worauf es ankommt und was nebensächlich ist – was Sinn hat und was nicht bzw. was sinnvoll oder sinnlos ist. Klang und Tod sind Initiationsinstrumente und -medien für Bedeutung und Sinn; im Entkörpern verkörpern sie. Sie stehen für die Möglichkeit ein, sich vom Körper zu befreien (zu entkörpern), um, von ihm gelöst auf ihn zurückblickend, durch ihn hindurch die Sphäre geistiger Geltung lebendig werden zu lassen (zu verkörpern). Wie das im Tod bewerkstelligt wird, wissen wir nicht – auch wenn es zahlreiche Vorstellungen von (Re-)Inkarnation, Wie­ dergeburt und Auferstehung gibt –, müssen es aber postulieren. Im Leben ist es die Leistung der Poesie. Sie arbeitet am Klang und gewinnt dem Tod Sinn ab, indem sie eine schöpferische Haltung zu ihm einnimmt, eine Haltung, die ohne die Gewissheit des Todes eine andere wäre. Damit holt sie das Unendliche ins Endliche des Lebens hinein und macht es in ihm gegenwärtig. So bricht sich in jedem Augenblick, in dem – ob versprachlicht oder anderweitig, z.B. musi­ kalisch, bildnerisch oder naturästhetisch – poetische Gestalt wirklich wird, die Ewigkeit in dem Gefühl von Zeitlosigkeit und Selbstverges­ senheit, und die als Dauer verstandene Zeit wird im Erleben wirksam. Die sprachliche Sinnerfüllung – das sinngebende Sprechen oder Schreiben und das sinnverstehende einsichtige Vernehmen – löst tiefe Befriedigung aus, und die poetisch gestaltete, der Vollendung nahe­ kommende Form der sprachlichen Artikulation bezaubert. Das kön­

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99. Das Erleben der Dauer und die Funktion des Taktes

nen selbst Menschen nachfühlen, für die die Sprache keine besondere Bewandtnis hat, die sich als sprachlich ‚unmusikalisch‘ einschätzen. Mit jedem Erleben von Sinnerfüllung stellt sich Zufriedenheit, gar Freude und zuweilen ein Gefühl von Erlöstheit ein. Obgleich solches Erleben nur eines Schimmers des Gesamtsinns gewahr werden kann, ist dieser doch ein Abglanz vom Ganzen, das sich zwar nicht vollstän­ dig offenbart, aber mit seinem dank der formbewussten Artikulation zur Erscheinung kommenden Aspekt genug Strahlen sendet, um eine verstehende Einsicht zu gewähren. Vor ihr tritt der Gedanke an den Tod als ein mit Schrecken verbundenes Ende zurück. Woran das liegt, sollte nun hinreichend klar geworden sein. So wie sich alles, was im menschlichen Leben perspektivisch bricht und aspekthaft erscheint, sodann unter der Zeit als Dauer in sukzessiv-simultaner Versprachlichung (gleich einer Melodie) in eine artikulierende, d.h. gliedernd-ordnende und dadurch verständliche Form gebracht werden kann, so muss auch der Tod als mit dem Leben in synthetischer Verbindung stehende, leibhaft anwesend-abwesende Größe in diesem ‚Schema‘, sprich: im Konformitätssystem von Sinnlichkeit und Sinn­ gebung, einen Platz bekommen können. Das heißt: er kommt uns, wie alles, was zum Leben gehört, lediglich perspektivisch gebrochen in den (vom Leben ausgehenden) Blick und erscheint uns in seinen Aspekten als Ende und Nichts. Es sind aber (wie alles im Leben) ‚lediglich‘ Perspektiven und Aspekte – gleichsam der prismatische Schein – des Ganzen, dessen Vollständigkeit wir als Mannigfaltigkeit schillernder Auffächerungen in poetischer Einstellung und moralischwahrhaftiger Haltung teilhaftig werden, teilhaftig so, wie wir eine Melodie Stück für Stück nacheinander hören und doch als Ganze ver­ nehmen und überblicken: Sinn antizipierend und vervollständigend. Nur findet die Arbeit an der Vervollständigung des Gesamtsinns (im Unterschied zu der einer abgeschlossenen Melodie) kein Ende. Und doch ist es diese Vollständigkeit, die sich in gelungener Poesie und in moralischer Haltung, im Stil der Wahrhaftigkeit, auswirkt. Die Vollständigkeit, der wir uns in unabschließbarem Bemühen anzunähern suchen, wirkt sich aus in dem, was beiden Stil- und Hal­ tungsdimensionen, der poetischen und der moralischen, gemeinsam ist und den Sprachsinn wie den moralischen Sinn prägt: die zeitliche Rhythmisierung, in der Annäherung und Entfernung, Berührung und Distanzgewinnung in einer Weise ineinander wirken, dass sich das einstellen kann, was als Takt bezeichnet wird. In der Poesie ist er mit Klang und Intonation, dem Wechsel von Vokalen und Konsonanten,

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99. Das Erleben der Dauer und die Funktion des Taktes

von Lautfolgen und Pausen, von Kontinuität und Zäsur verbunden; in der Moral mit dem Wechsel von Eingreifen und Zulassen, Bestim­ mung und Zurückhaltung, Unnachgiebigkeit und Schonung, mit dem Ermöglichen von Freiheit durch behutsame Regulierung. Die Zeit als Dauer bedingt jene Unabschließbarkeit, und diese ist die Voraussetzung dafür, dass die Person sich entwickelt und darin kein Ende findet, und – vieles spricht dafür – auch nicht im Tod. (Nicht zufällig werden viele Todesanzeigen mit Gedichten oder anderen poetischen Sprachformen eingeleitet: es ist, als ob sich mit der poetischen Form der Sinn am Ende des Lebens erfüllt und dieses in bzw. mit ihr ein – vorläufiges – Schlusswort gefunden hätte. Um so verwerflicher ist es, die je individuelle Suche nach der poetischen Form des eigenen Lebens gewaltsam zu beschränken oder zu beenden.) Die Geistigkeit des Leibes erweist sich auch noch im Tod, so hatte sich gezeigt (Nr. 49), und sie ist die Voraussetzung des Verkörperns auch noch im ‚letzten‘ Entkörpern, das uns bekannt ist; und wenn sich die Geistigkeit des Leibes so bewahrheitet, wie es die vorliegenden Erkundungen gezeigt haben, dann folgt daraus mit praktischer Not­ wendigkeit das Weitergehen des Verkörperns über das uns sichtbare Leben hinaus; wie, wissen wir nicht, da uns ein Verkörpern ohne die Sichtbarkeit des Körpers verborgen bleibt. Es muss jedenfalls ein Ver­ körpern sein, das das, was es ‚meint‘, nicht durch den Stoff hindurch sehen lässt, sondern in der unsichtbaren Loslösung von diesem ‚zeigt‘. In der Moral nehmen wir dies vorweg, denn sie macht ein Denken, Verhalten und Handeln erforderlich, das nicht nur dem Hang zur kör­ perleiblichen Selbsterhaltung seine absolute Priorität nimmt, sondern sich einer gleichsam körperlosen Verkörperung bedient, die geistig ‚spürbar‘ wird, nämlich im – laut Kant ‚durch einen Vernunftbegriff selbstgewirkten‘ – Gefühl der Achtung und, ineins damit, in einer um die Geltung der Würde sich ausbreitenden Atmosphäre, zwar nicht sichtbar im Rahmen des optischen Schematismus, aber zufolge des dualen Modus syntagmatisch-sinnhaft sich manifestierend – einer Atmosphäre, die sich nicht zufällig um den einsetzenden Tod und die ‚Hülle‘ des Lebendigen, den Leichnam, legt. – Sophokles‘ Antigone ist nur eines der vielen Beispiele für die Kraft der geistigen Orientierung am Gesamtsinn, der sich, unter dem Aspekt des sinnlichen Erschei­ nens gebrochen, als Moral verwirklicht: die geistige Haltung weist über die körperliche Selbsterhaltung hinaus, die Wahrung der freien Lebendigkeit der Person überbietet das bloße Überleben, die leibliche Existenz transzendiert sich selbst; die Verkörperung des Gesamtsinns,

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100. Technisierung des Lebens und Poetisierung seiner Selbstartikulation – der Geist der Sprache

der sich der Erkenntnis entzieht, seine Wirksamkeit jedoch moralischpraktisch entfaltet, wird der Entkörperung im Tod abgerungen.

100. Technisierung des Lebens und Poetisierung seiner Selbstartikulation – der Geist der Sprache Die Technisierung des Lebens zum Zwecke des Überlebens ist die Antwort auf die Ausgesetztheit des Körpers als Weltding. Die Ver­ letzlichkeit wird eingehegt durch weitgehende, aber auch riskante, mitunter schädliche Folgen hervorrufende Kontrolle der äußeren Unwägbarkeiten mit den Mitteln der Medizin, wissenschaftlichen Prognose und technologischen Konstruktion im Gefüge der einteilba­ ren Zeit. Solche Kontrolle kann auch auf die Sprache übergreifen, was mit einem Unbehagen einhergeht, das auf die Übergriffigkeit eines solchen Vorgangs verweist: die symbolische Form der Technik usurpiert illegitim einen Bereich, der anderen – selbsterzeugten – Regeln folgt als denjenigen technologischer Mechanismen. Die Poetisierung der Selbstartikulation des Lebens mit der Rich­ tung auf den Sinn, der sich mit dem Mehr-als-Leben ankündigt, ist die Antwort auf die Angst, die der Tod mit seiner Drohung, dass alles sinnlos sein könnte, uns einjagt. Die Drohung wird eingehegt mit den Mitteln der Vergeistigung des Sinnlichen im kontinuierlichheterogenen Prozess der Zeit als Dauer; an die Stelle der Kontrolle tritt die Freiheit des Anfangenkönnens, die sich dem Augenblick zu öffnen weiß, in dem jeder Teil vom Sinn des Ganzen zeugt: es ist der Augenblick, in dem sich die Dauer als Ewigkeit zu erkennen gibt, wenngleich in ‚welthaft‘ verkürzter Form. Er inspiriert, und in ihm entfaltet sich die schöpferische Kraft. Die Vereinbarkeit von Technisierung und Poetisierung ist die zentrale – moralische und nicht zuletzt politische – Aufgabe der menschlichen Lebensgestaltung. Technische Eingriffe müssen so vor­ genommen werden, dass sie der Poesie des lebendigen Verhaltens und der Sprache nicht das Wasser abgraben. Das betrifft ganz beson­ ders die Medien der Kommunikation, vor allem die Sprache selbst. Überzieht man das Sprechen und Reden mit technischen Vorgaben, die der Sprache eigentlich fremd sind und ihr – etwa in Diktaturen mit bestimmten Sprachregelungen oder durch Sprachzwänge aus ideologischen Gründen – aufgezwungen werden sollen, dann zehrt das an ihrer poetischen Kraft; der Geist entweicht und lässt einen

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Korpus zurück, in dem es bloß noch um Information, vorgefertigte Meinungen oder selbstbestätigende Identitätsnachweise geht. An die Stelle der Orientierung von Bedeutungen am Sinn und der in gemeinsamer Artikulation (beim Sprechen und Hören) sukzessive zu erschließenden Sinnvorwegnahme tritt die Verlautbarung dessen, was ohnehin geläufig ist und den Erwartungen entgegenkommt. Dem Unergründlichen, Unartikulierbaren wird der Raum genommen, der ihm im Bereich der Artikulation zukommt und den es so ausfüllt, dass das Artikulierte sich weiterem Verstehen, Anderssagen, Neuschöpfen öffnen kann. Karl Kraus hat in seinen Aufsätzen zur Sprache (1937) einige bemerkenswerte Sätze über das Verhältnis der Sprache zu Leben und Moral formuliert: „Die Nutzanwendung der Lehre, die die Sprache wie das Sprechen betrifft, könnte niemals sein, daß der, der sprechen lernt, auch die Sprache lerne, wohl aber, daß er sich der Erfassung der Wortgestalt nähere und damit der Sphäre, die jenseits des greifbar Nutzbaren ergiebig ist. Diese Gewähr eines moralischen Gewinns liegt in einer geistigen Disziplin, die gegenüber dem einzigen, was ungestraft verletzt werden kann, der Sprache, das höchste Maß einer Verantwortung festsetzt und keine andere geeignet ist, den Respekt vor jeglichem anderen Lebensgut zu lehren. Wäre denn eine stärkere Sicherung im Moralischen vorstellbar als der sprachliche Zweifel? […] Den Rätseln ihrer Regeln, den Plänen ihrer Gefahren nahezu­ kommen, ist ein besserer Wahn als das, sie beherrschen zu können. […] Geistig beschäftigt sein – mehr durch die Sprache gewährt als von allen Wissenschaften, die sich ihrer bedienen – ist jene Erschwe­ rung des Lebens, die andere Lasten erleichtert. Lohnend durch das Nichtzuendekommen an einer Unendlichkeit, die jeder hat und zu der keinem der Zugang verwehrt ist. […] Die Sprache ist die einzige Chimäre, deren Tragkraft ohne Ende ist, die Unerschöpflichkeit, an der das Leben nicht verarmt.“ Und Kraus fügt mit Emphase die Forderung hinzu: „Der Mensch lerne, ihr zu dienen!“ In der Regel wird es kaum jemand als Dienst ansehen, wenn er die Sprache ‚in Gebrauch nimmt‘; er wird sich eher als Herr über seine Sprechwerkzeuge verstehen, der sich das ‚Handwerk‘ oder die ‚Kunst‘, diese regelgerecht und flüssig einzuset­ zen, zu eigen gemacht hat. Er ‚meistert‘ seine Muttersprache und gegebenenfalls die eine oder andere Fremdsprache. Er mag glauben, er beherrsche ‚die‘ Sprache vollständig, übersieht dann jedoch ihre überindividuelle Form und verfehlt ihre Möglichkeiten. Auch kann

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man sich der Sprache unwillig bedienen und sich gegen ihre Unauslot­ barkeit sperren, sie damit und sich selbst in ein Korsett aus trivialen Wiederholungen und vorschriftsmäßigen Techniken einsperren. Mit solchen Einstellungen verschließt man sich dem Uner­ schöpflichen und Unendlichen der Sprache. Die Größe der Sprache, ihre Macht über den Menschen, der sich zugleich ihrer ‚bemächtigt‘ und sie je individuell hervorbringt, ihre Transzendenz und ihre Kom­ petenz für die Sinngebung wird unterschätzt. Stellt man sich dagegen in ihren Dienst, kann man aus der nie versiegenden Quelle schöpfen und den eigenen poetischen Sinn am Umgang mit dem Potenzial schulen, das die Sprache, in der sich der Geist der Menschheit spiegelt, bietet. Beispielhaft dafür ist das Tun des Dichters. Es ist beglückend, wenn der Sinn sich erfüllt, und leidvoll, weil stets das Empfinden von Sinnlosigkeit und Vergeblichkeit mitschwingt und alles überwölbt. Franz Kafkas Leben und Werk zeugt davon.

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Epilog: Das Beispiel Kafkas Die Freiheit des Anfangenkönnens geht unweigerlich mit dem Zwang des Anfangenmüssens einher; das gilt für jeden Dienst, den man übernimmt, und zumal für jeden Menschen, der mit dem Sprechen oder Schreiben anhebt, mehr noch für den Schriftsteller und Dichter, der höchste Ansprüche an die Sprachkunst stellt. Es beinhaltet die Mühen der Suche, das Warten auf Inspiration, die Gefahr des Schei­ terns, das vorübergehend oder endgültig sein kann, aber auch die Freude des sinnerfüllten Sprechens oder Schreibens. Kafka war einer derjenigen Autoren, für den Leben Schreiben bedeutete; so war er dieser Gefahr in höchstem Maße ausgesetzt, wusste aber auch um das Glück, das einem Dichter beschieden sein kann, wenn er mit seiner an die Sprache gebundenen Freiheit etwas anzufangen versteht. In seinen Selbstbeschreibungen bündelt sich die existenzielle Situation des Dichters wie in einem Brennglas, wenn Kafka am 3. Oktober 1911 sein Erlebnis bei der Suche nach einem Wort notiert (und dabei die Bewegungen der anwesenden Person im Vergleich zu Kleists berühmter Schilderung von dem Finden der Worte und der Vervollständigung der Gedanken geradezu umgekehrt, eher als hin­ derlich und erschwerend, wahrnimmt): „Beim Diktieren einer größe­ ren Anzeige an eine Bezirkshauptmannschaft im Bureau. Im Schluß, der sich aufschwingen sollte, blieb ich stecken und konnte nichts als das Maschinenfräulein K. ansehn, die nach ihrer Gewohnheit beson­ ders lebhaft wurde, ihren Sessel rückte, hustete, auf dem Tisch her­ umtippte und so das ganze Zimmer auf mein Unglück aufmerksam machte. Der gesuchte Einfall bekommt jetzt auch den Wert, daß er sie ruhig machen wird, und läßt sich, je wertvoller er wird, desto schwerer finden. Endlich habe ich das Wort ‚brandmarken‘ und den dazu gehö­ rigen Satz, halte alles aber noch im Mund mit einem Ekel und Scham­ gefühl, wie wenn es rohes Fleisch, aus mir geschnittenes Fleisch wäre (solche Mühe hat es mich gekostet.) Endlich sage ich es, behalte aber den großen Schrecken, daß zu einer dichterischen Arbeit alles in mir bereit ist und eine solche Arbeit eine himmlische Auflösung und ein wirkliches Lebendigwerden für mich wäre, während ich hier im Bureau um eines so elenden Aktenstückes willen einen solchen Glü­ ckes fähigen Körper um ein Stück seines Fleisches berauben muß.“ Kafkas Erleben ist exemplarisch dafür, wie sich der Gesamtsinn im gesamten Leib verkörpert, der sich seinerseits im Leib der Sprache in zweiter Potenz artikuliert. Die Konkordanz zwischen Körperhal­

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tung, geistiger Auffassung und Sinngebung, von der oben (Nr. 36) die Rede war, hat leiblich-affektive Auswirkungen: Kafkas Körperleib wird geradezu heimgesucht von Gefühlen, die das komplexe Verhält­ nis zum Sinn und zu seinen Zugangsvoraussetzungen spiegeln. Kaf­ kas Leben ist mit Leib und Seele auf den verborgenen Gesamtsinn hin ausgerichtet, dessen Sinndruck auf ihm lastet und dem er in seinem dichterischen Schaffen Ausdruck geben möchte; Kafka vermag aber nicht, ein solches Leben in seiner zeitlichen Strukturierung, sprich: einer Organisation, die ein Eintakten in die Dauer ermöglicht, im Hinblick auf die in ihm ‚schlummernde‘ Bereitschaft zu führen (wie das etwa von Thomas Mann bekannt ist). So geschieht es ihm, dass er für die Erfordernisse seines Brotberufs die Kraft aufwenden muss, die ihm eigentlich für das Dichten aufgespart sein sollte. Die Zweck­ orientierung schiebt sich an die Stelle der Sinnschöpfung. Der poeti­ sche Sinn verliert sich im Gestrüpp der Bürokratie, d.h. der Techni­ sierung des Lebens; und die Poesie des Gesamtsinns zieht sich weiter in die Verborgenheit zurück, aus der ihn nur das gelingende Sprach­ kunstwerk zumindest ein bisschen herauslocken könnte. So ekelt es Kafka, weil er das, was er zur Verkörperung von Sinn in sich trug, für eine bloße Information verwendete, d.h. in seiner möglichen poeti­ schen Bedeutung entkörperte: die Entleerung der Bedeutung von ihrer poetischen Anschauung erschien ihm wie das Herausschneiden von Fleisch (sprich: der verleiblichten Bedeutung im Wort) aus seinem eigenen Körper (bzw. aus dem Sprachkorpus, für den sein Leib eine ‚Wohnstatt‘ zur Verfügung stellt). Anders gesagt: Kafka beschreibt hier den Vorgang des ‚Wort­ ens‘ als verkörperndes Entkörpern, und zwar wörtlich genommen: das gesuchte Wort wird dem Körper entzogen (‚ein Stück Fleisch herausgeschnitten‘) und in trivialem Kontext zum Einsatz gebracht (gedankenlos verzehrt). Das löst bei ihm ein Schamgefühl aus, d.h. die Atmosphäre des Gesamtsinns legt sich über ihn, der sich in scheuer Zurückhaltung einer objektivierenden Sprache verweigert (deren unangemessener Gebrauch bei einem sprachsensiblen Menschen Ekel erzeugen kann). Kafkas poetischer Sinn, der sich dem Gesamtsinn öffnet, macht ihm deutlich, dass es taktlos war, an diesem Ort zu dieser Gelegenheit ein Stück dichterischen ‚Fleisches‘ aus sich heraus­ zuschneiden, das er doch für seine geistig-dichterische Lebendigkeit benötigte. Kafka spürt, dass er diese Lebendigkeit instrumentalisiert und sich damit an der Sprache vergangen hat, und dass der Sinn sich umso weiter entfernt, je mehr die Sprache technischen Zusammen­

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hängen unterworfen wird. Er findet sich in dem Dilemma wieder, in das sich jeder gestoßen sieht, der ein Gespür für die Krise des Anfangs entwickelt hat, jenes immer wieder neu zu setzenden Anfangs, der der Vorwegnahme des Gesamtsinns und der je aktuellen Bedeutun­ gen zumindest nicht ein unüberwindliches Hindernis entgegenstellt, sondern ihr zuarbeitet. Kafkas Selbstbeschreibungen kreisen immer wieder um diesen Anfang und dessen Weiterführung, er fühlt sich abgelenkt, flüchtet gar in Ablenkungen, weil er die Bedingungen für die Inspiration häufig weder vorfindet noch zustandebringen kann, andererseits um die Notwendigkeit des Schreibens für sein Überleben als geistig lebendiger Mensch weiß. Kafkas Beispiel zeigt, wie schwer es ist, geistig lebendig zu wer­ den und zu bleiben, obwohl es dem Menschen durch seine Stellung in der Welt, zur Welt und zum Punkt außerhalb, zum ‚Überweltlichen‘, Übergegenständlichen, aufgetragen ist. Die Bedingungen der Mög­ lichkeit für ein geistig erfülltes Leben sind da, dazu zählen jedoch die Bedingungen der Möglichkeit eines körperlichen Überlebens, das sich erst dann einfinden kann zu einem Mehr-als-Leben, wenn die Voraussetzungen für die Lösung des Klebens am Körper, für die Befreiung vom Feststecken im materiellen Leben, geschaffen sind. Zu diesen Voraussetzungen gehören – in aller Härte und für manchen ein Skandalon – der Tod, eine Einstellung zu ihm, die der Lebendigkeit förderlich ist, und die Moraliät. Auf letztere verweisen einige andere Passagen in Kafkas Tagebüchern, etwa jene, in der er sich nicht auszulöschender ‚schmutziger Hintergedanken‘ bezichtigt, die sogar noch die ‚Zweifel der Selbstbeobachtung‘ ‚selbstgefällig‘ werden lassen: es ist eben unhintergehbar die Moral, nicht als System von Prinzipien, sondern in ihrer Erscheinung als Haltung, als welcher sich der Bezug zum stets sich entziehenden Gesamtsinn, zu seiner Rätselhaftigkeit, in Leben und Lebendigkeit des Menschen nieder­ schlägt. Man mag das psychologisieren, aber selbst mit diesem gern gesuchten und unter therapeutischer Anleitung gefundenen Ausweg wird es nicht gelingen, sich der moralischen Haltung zu entschlagen. Diese grundiert auch noch die Einstellung zu den Idiosynkrasien, die beim Streben nach Selbsterkenntnis ins Licht des Bewusstseins treten; man möchte nicht, dass sie handlungsleitend werden, sondern man versucht gerade, ihre Macht einzudämmen oder aufzuheben: das Leben und dessen Artikulation davon zu befreien und Ruhe vor Anmaßungen zu erlangen, die ungefragt und ungewollt den Geist und seine Orientierung am Gesamtsinn zu usurpieren trachten. Man

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kann hier von den Höllenqualen der Selbsterkenntnis sprechen, denen sich nicht wenige Autoren ausgesetzt und sprachlich artikulierend gestellt haben. So führt diese Betrachtung am Ende zurück auf die Frage, die sich immer wieder aufgedrängt hatte: wie verhält sich die Moral bzw. moralische Haltung zu den Quellen der Verkörperung, zu Sprache, Geist, Gesamtsinn und Tod, zu den Bereichen der Entkörperung, in welchen das Phänomen der Geltung angesiedelt ist, jenen Bereichen also, zu denen sie selbst zählt? Die Korrelation der zugehörigen Sinngeltungsfunktionen, insbesondere der in einem engen Verhältnis zueinander stehenden von Moral und Tod (mit Bezug auf Leben und Lebendigkeit), muss einer anderen Untersuchung vorbehalten blei­ ben.

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Anmerkungen Prolog: Die Begriffe Abgrund und Ungrund drängen sich unweigerlich auf, wenn man über die Verbindung des unerkennbaren Sinns mit dem Tod nachdenkt, ohne dass damit weitergehende theosophische Überlegungen angestellt werden sollen. Es geht hier lediglich um die Bezeichnung einer Leerstelle, deren Funktion als Urgrund für Verkörperungen von Sinn im weiteren Verlauf kenntlich werden soll. Jakob (oder älter: Jacob) Böhme entwickelt den Begriff des Ungrundes im Zusammenhang mit seiner theosophischen Lehre von dem Mysterium Gottes, dem Nichts und der Freiheit in seiner Schrift De Signaturum Rerum, im dritten Kapitel Vom großen Mysterium aller Wesen: das Nichts sei das „ungründlich Auge, das in nichts stehet oder siehet, denn es ist der Ungrund“ (Jakob Böhme’s sämmtliche Werke, hg. v. K.W. Schiebler, 7 Bde., Leipzig: Johann Ambrosius Barth, 1831–1847, IV, 284f.); Schelling knüpft in seiner Freiheitsschrift an Böhmes Begriff an und fasst es als „absolute Indifferenz“ vor aller Dualität, vor allen Gegensätzen auf (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der mensch­ lichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1975, 98). – Zum Begriff der Verkörperung und ihren Modi sowie der darin stattfindenden Konkordanzen und Akkordanzen vgl. Plessner, Helmuth: Philosophische Anthropologie. Göttinger Vorlesung vom Sommersemester 1961. Hg. v. Julia Gruevska, Hans-Ulrich Lessing u. Kevin Liggieri. Berlin: Suhrkamp, 2019; sowie Plessner, Helmuth: Gesammelte Schriften. Hg. v. Günter Dux, Odo Marquard, Elisabeth Ströker, Bände I bis X, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1980ff. Hier vor allem Band III: Anthropologie der Sinne. Darin finden sich die Modi der sinnlichen Verkörperung sowie deren Konkordanzen und Akkordanzen in den Grundlinien einer Ästhesiolo­ gie des Geistes unter dem Titel Die Einheit der Sinne, 7–315. – Vgl. dazu Breun, Richard: Scham und Würde. Über die symbolische Prägnanz des Menschen, Freiburg/München: Alber Verlag, 2014; ders.: Entkörperungen. Über die Lebendigkeit des menschlichen Geistes, Freiburg/München: Alber Verlag, 2021. Nr. 1: Die Bestimmung des Menschen als animal symbolicum stammt von Ernst Cassirer, ausgearbeitet u.a. in seinen drei Bänden zur Philosophie der symbo­ lischen Formen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 19949 bzw. 199410. Erster Teil: Die Sprache (1923); Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925); Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929). Nr. 2: Zum Begriff des homo absconditus vgl. Plessner: Homo absconditus (1969). In: Gesammelte Schriften VIII, 1983, 352–366.

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Anmerkungen

Nr. 3: Zur Sprechakttheorie vgl. Austin, John L.: Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart 1972; Searle, John R.: Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, Frankfurt a.M. 1971. – Zum Gedanken der Selbstdarstellung bei Lebewesen vgl. Port­ mann, Adolf: Die Tiergestalt. Studien über die Bedeutung der tierischen Erscheinung, Freiburg, Basel, Wien: Herder, 1965 (Erstveröffentlichung 1948). -Zu Plessners Sprachbegriff vgl. Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928), Gesammelte Schriften, Bd. IV, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1980, 417f.; außerdem dessen Vorlesung von 1961, 2019, 43–65. Nr. 5: Vgl. Humboldt, Wilhelm von: Über das vergleichende Sprachstudium in Bezie­ hung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung (1820). In: Schriften zur Sprachphilosophie. Werke in fünf Bänden, hg. v. Andreas Flitner u. Klaus Giel, Bd. III, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1963, 1–25, hier 10. – Zur chinesischen Sprache vgl. Granet, Marcel: Das chinesische Denken. Inhalt, Form, Charakter. Hg. und eingeleitet von Manfred Porkert, München: Piper, 1963 (frz. Orig.: Paris 1934). – Zur übergestalthaften Ganzheit vgl. Plessner, Stufen, 2016²; hier bes. Kap. 3.5., 138ff sowie 4.6., 212ff., bes. 217f. Nr. 7: Zu Gestalt und Ganzheit vgl. Plessner, Stufen, 2016², 142–149. – Bühler, Karl: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Stuttgart: Lucius & Lucius, 1999³ (Ungekürzter Neudruck der Ausgabe von 1934), 44; 76f. – Por­ zig, Walter: Das Wunder der Sprache. Probleme, Methoden und Ergebnisse der Sprachwissenschaft, München: Francke, 19756; erstmals Bern: Francke, 1950, 156. – Weisgerber, Leo: Die geistige Seite der Sprache und ihre Erfor­ schung. Düsseldorf: Pädagogischer Verlag Schwann, 1971. – Misch, Georg: Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens. Hg. v. Gudrun Kühne-Bertram u. Frithjof Rodi, Freiburg, München: Alber, 1994, 223. Nr. 8: Zum Organon-Modell vgl. Bühler 1999³, 24ff. – Zum Begriff der Rede vgl. Misch 1994, 225. Nr. 9: Zu den Begriffen des Sinndrucks und des Gesamtsinns (im Hinblick auf sprachliche Äußerungen) vgl. Stenzel, Julius: Philosophie der Sprache. Mün­ chen: Oldenbourg, 1964 (Nachdruck aus dem Handbuch der Philosophie Abt. IV, 1934), Kap. III.6., 52–55; der Begriff ‚Sinndruck‘ wird von Gehlen für seine Sprachanthropologie verwendet, vgl. Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Wiesbaden: Akademische Verlagsge­ sellschaft Athenaion, 197812, 248. Nr. 11: Vossler, Karl: Geist und Kultur in der Sprache. München: Dobbeck Verlag, 1960 (Erstauflage Heidelberg: Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung, 1925); hier bes.: Sprechen, Sprache und Gespräch, 14–26.

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Anmerkungen

Nr. 13: Coseriu, Eugenio: Die Metaphernschöpfung in der Sprache, in ders.: Sprache. Strukturen und Funktonen, Tübingen: Gunter Narr Verlag, 1979³, 15–44; vgl. ders.: Synchronie, Diachronie und Typologie (1965/1968), in ebd., 77–90, hier 81. – Bühler 1999³, 347–355. Nr. 14: Zum phänomenologischen Prinzip der Abschattung vgl. Husserl, Edmund: Logische Untersuchungen. Zweiter Band: Elemente einer phänomenologischen Aufklärung der Erkenntnis, II. Teil, Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 19805, 56. – Vgl. Palagyi, Melchior: Theorie der Phantasie. In ders.: Wahrnehmungs­ lehre. Leipzig: Johann Ambrosius Barth Verlag, 1925, 69–105. – Zu Jean Pauls Wort vgl. Bühler 1999³, 344. Nr. 18: Kleist, Heinrich von: Brief eines Dichters an einen anderen. In: Sämtliche Werke und Briefe. Zweiter Band, hg. v. Helmut Sembdner, München: dtv, 2013³, 347–349. – Zum Chinesischen vgl. Granet 1963. Nr. 21: Vgl. Cassirer 19949: Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache (1923). – Zum ‚Klanggesicht‘ vgl. Bühler 1999³, § 18, 271–289. – Hofmannsthal, Hugo von: Das Gespräch über Gedichte (1903). In: Gesam­ melte Werke in zehn Einzelbänden. Erzählungen, erfundene Gespräche und Briefe, Reisen. Hg. v. Bernd Schoeller, Frankfurt a.M.: Fischer, 1979, 495–509. Erstdruck: Über Gedichte. Die neue Rundschau, 15. Jg., 1. Bd., Heft 2 (Februar), 1904, 129–139. Nr. 22: Zum mythischen Zeitbegriff vgl. Mircea Eliade: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1990, passim, z.B. 76, 78. Nr. 23: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich: Atlantis, 19468. Nr. 24: Vgl. Hofmannsthal 1979, Das Gespräch über Gedichte, bes. 501, 503, 509; Zitat: 503. – Zur Unterscheidung von cognitio rei und cognitio circa rem vgl. Misch 1994, 433. Nr. 25: Zum ‚Worten der Welt‘ vgl. Weisgerber 1971, 155. – Zum ‚Evozieren‘ und ‚übergegenständlichen Ergreifen‘ vgl. Misch 1994, 279; zum Beispiel der Lyrik vgl. ebd., 511f., zum ‚Vergegenwärtigen‘ vgl. ebd., 195f., 518; zu ‚Vollzug‘ und ‚Vollziehen‘ vgl. ebd., 532–536; vgl. dazu Dilthey, Wilhelm: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Gesammelte Schriften VII, hg. von Bernhard Groethuysen, Stuttgart: Teubner, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 19928, 140.

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Anmerkungen

Nr. 26: Misch greift das von Dilthey geprägte Wort vom ‚Darinnensein‘ immer wieder auf, um den Vollzugscharakter hermeneutischen Wissens zu erörtern, vgl. Misch 1994, 259f., vor allem auch passim in ders.: Die Idee der Lebensphilo­ sophie in der Theorie der Geisteswissenschaften. In: Kant-Studien XXXI (1926), 536–548, und in: Lebensphilosophie und Phänomenologie. Eine Auseinander­ setzung der Dilthey’schen Richtung mit Heidegger und Husserl, Leipzig, Ber­ lin: Teubner, 1931. Nr. 27: Vgl. Simmel, Georg: Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, in: Gesamtausgabe, hg. von Otthein Rammstedt, Bd. 16, Frankfurt a.M.: Suhr­ kamp, 1999, 209–426, hier 229 u. passim. Nr. 28: Vgl. Bergson, Henri: Zeit und Freiheit. Eine Abhandlung über die unmittelba­ ren Bewusstseinstatsachen, Jena: Eugen Diederichs Verlag, 1920, 129f. – Zu den Basisemotionen vgl. Ekman, Paul: Gefühle lesen. Wie Sie Emotionen erkennen und richtig interpretieren, Heidelberg: Spectrum, 2010; vgl. zu einer Ordnung der Gefühle Piaget, Jean: Intelligenz und Affektivität in der Entwick­ lung des Kindes. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1995; Heller, Agnes: Theorie der Gefühle. Hamburg: VSA, 1981. – Thomas Mann: Enttäuschung. In ders.: Die Erzählungen. Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag, 2005, S. 95–101. Nr. 30: Vgl. Nietzsche, Friedrich: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn. In ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München, New York: dtv, de Gruyter, 1980, Bd. 1, hier bes. 878–880. – Klemperer, Victor: LTI (Lingua Tertii Impe­ rii). Stuttgart: Reclam, 2010 (Erstveröffentlichung 1947). – Sternberger, Dolf / Storz, Gerhard / Süskind, Wilhelm Emanuel: Aus dem Wörterbuch des Unmenschen. München: Ullstein, 1989 (Nachdruck der Erstausgabe 1957). – Mauthner, Fritz: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. 3 Bde., Stuttgart: Cotta, 1923³. – Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1977; Nr. 309 (S. 162): „Was ist das Ziel in der Philosophie? – Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zu zeigen.“ Nr. 33: Bühler 1999³, 252–254. – Kleist, Heinrich von: Über die allmähliche Verferti­ gung der Gedanken beim Reden. In: Sämtliche Werke und Briefe. Zweiter Band, hg. v. Helmut Sembdner, München: dtv, 2013³, 319–324. – Vgl. 2021, Kap. VI, 87–108.

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Anmerkungen

Nr. 34: Hofmannsthal, Hugo von: Die Briefe des Zurückgekehrten (1907). In: Gesam­ melte Werke in zehn Einzelbänden. Erzählungen, erfundene Gespräche und Briefe, Reisen. Hg. v. Bernd Schoeller, Frankfurt a.M.: Fischer, 1979, 544–571, hier 570. – Rilke, Rainer Maria: Archaischer Torso Apollos. In ders.: Lyrik und Prosa, Frankfurt a.M.: Insel Verlag: o.J., 227. – Hofmannsthal 1979, Das Gespräch über Gedichte, 509. – Zur Zwischenleiblichkeit vgl. Merleau-Ponty, Maurice: Das Sichtbare und das Unsichtbare. Hg. v. Claude Lefort, übers. v. Regula Giuliani und Bernhard Waldenfels, München 1994², 185; vgl. auch ders.: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966 (Photomechanischer Nachdruck 1974), 219. Nr. 36: Zum Konformitätssystem vgl. Plessner, Stufen, 2016³, 72. – Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Her­ meneutik, Tübingen: J.C.B. Mohr / Paul Siebeck, 19754, 360. – Vgl. Vossler 1960; hier bes.: Sprechen, Sprache und Gespräch, S. 14–26, hier 19. – Zu Wuwei vgl. das 48. Kap. des Tao-te-King von Laotse, z.B. in: Die Weisheit des Ostens III. Hg. von Werner A. Classen. Zürich: Scientia-Verlag, 1945. – Zu parā vgl. Desai-Breun, Kiran: Von Metaphysik zur Moralität. Die Leibphäno­ menologie des Advaita und des Tantra, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2019, 164, 181. – Vgl. Lévinas, Emmanuel: Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo, hg. v. Peter Engelmann, Wien: Passagen Verlag, 1992. – Vgl. Sartre, Jean Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenolo­ gischen Ontologie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. 1993 (Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Philosophische Schriften, Band 3), Kap. Der Blick, 457–538. Nr. 39: Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Gedicht und Gespräch. In ders.: Gedicht und Gespräch. Essays, Frankfurt a.M.: Insel, 1990, 165–185, hier 168. Nr. 40: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik (1887). Gesammelte Schriften, VI. Band: Die geistige Welt, Stuttgart: Teubner, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 103–242, hier 185–188. – Schiller, Friedrich: Kallias oder über die Schönheit. Hg. von Klaus L. Berghahn, Stuttgart: Reclam, 1979, bes. S. 56–65, hier 64. – Zum ‚Worten der Welt‘ vgl. Weisgerber 1971, 155. Nr. 41: Zur Struktur der Dauer vgl. Bergson, Henri: Zeit und Freiheit. Eine Abhand­ lung über die unmittelbaren Bewusstseinstatsachen, Jena: Eugen Diederichs, 1920, 93; außerdem ders.: Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge, hg. von Friedrich Kottje, aus dem Italienischen übers. von Leonore Kottje, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 2008, 170; zum Beispiel der Melodie vgl. Bergson 1920, 81; zur Funktion der Sprache vgl. Bergson 2008, 154f. Vgl. außerdem ders.: Philosophie der Dauer. Textauswahl von Gilles Deleuze, aus dem Französischen von Margarethe Drewsen, Hamburg: Felix Meiner, 2013.

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Anmerkungen

Nr. 43: Vgl. Bergson, Henri: Schöpferische Entwicklung. Übers. von Gertrud Kantoro­ wicz, Zürich: Coron Verlag, o.J. (Sammlung Nobelpreis für Literatur Nr. 27), 313, 333. – Zu Cassirers Unterscheidung vgl. Cassirer, Ernst (1985): Form und Technik. In ders.: Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927– 1933, hg. v. Ernst Wolfgang Orth u. John Michael Krois, Hamburg: Felix Mei­ ner, 1985, 39–91, hier 43. Nr. 45: Vgl. Plessner 1980 (1928), Stufen, 378. – Löwith, Karl: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1969 (2., unveränderter Nachdruck der Ausgabe München 1928). Nr. 46: Vgl. Hofmannsthal 1979, Das Gespräch über Gedichte, 503, vgl. auch ebd., 497. – Vgl. Langer, Susanne K.: Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst, Frankfurt a.M., 1992, 216. Nr. 49: Zur Identität und Differenz von Körper und Leib vgl. Plessner, Helmuth: Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens (1941), Gesammelte Schriften, Bd. VII, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1982, 201– 388; vgl. Breun, Richard (2014a): Scham und Würde. Über die symbolische Prägnanz des Menschen, Freiburg/München: Alber Verlag, 2014. Nr. 50: Vgl. Schiller 1979, 61f. Nr. 53: Huizinga, Johan: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Aus dem Niederländischen in Zusammenarbeit mit dem Verfasser von H. Nachod, Hamburg: Reinbek, 1956. Nr. 61: Borges, Jorge Luis: Der Unsterbliche. In: Sämtliche Erzählungen, übers. von Karl August Horst, München: Hanser, 1970, 7–23. – Zum ‚geltenden Zugriff als Erscheinungsform von Geist‘ vgl. Weisgerber 1971, 167–170. – Jonas, Hans: Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2011². Nr. 63: Ortega y Gasset, José: Über den Ausdruck als kosmisches Phänomen. Gesam­ melte Werke, Band I, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt, 1978, 393–415, hier 397, 404. – Die zehn Bände seines Systems der Philosophie zusammenfas­ send vgl. Schmitz, Hermann: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn: Bouvier, 1995². Nr. 66: Kleist, Heinrich von: Die Marquise von O… In: Sämtliche Werke und Briefe. Zweiter Band, hg. v. Helmut Sembdner, München: dtv, 2013³, 104–143. Hier 126.

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Anmerkungen

Nr. 67: Dickens, Charles: Oliver Twist. Deutsch von Gustav Meyrink, Zürich: Dioge­ nes, 1982, 314. (Im engl. Original lautet die Stelle aus Chapter LII: „‘Oh! God forgive this wretched man!‘ cried the boy with a burst of tears.“ Nr. 68: Hölderlin, Friedrich: Chor aus der Antigone des Sophokles. In ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Frank Zinkernagel, Leipzig: Insel, o.J., 965 (Vers 332–352) und 887. – Des Sophokles Antigone. Hg. von August Boeckh, Berlin: Verlag von Veit und Compagnie, 1843, 31. Nr. 69: Platon: Symposion, 223d. Nr. 72: Vgl. Bergson 2008, Denken und schöpferisches Werden, 92. Nr. 73: Vgl. Piaget, Jean: Das moralische Urteil beim Kinde. München: dtv, 1986; ders.: Theorien und Methoden der modernen Erziehung. Frankfurt a.M.: Fischer, 1974; ders.: Intelligenz und Affektivität in der Entwicklung des Kindes. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1995; ders. und Inhelder, Bärbel: Die Psychologie des Kindes. Frank­ furt a.M.: Fischer, 1977. Nr. 75: Zum Habitus vgl. Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1987. – Zum Numinosen vgl. Otto, Rudolf: Das Hei­ lige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München 1991 (erstmals 1917). Nr. 76: Vgl. Plessner 1961/1983, 209–214. – Vgl. Landsberg, Paul Ludwig: Die Erfah­ rung des Todes. Hg. von Eduard Zwierlein, Berlin: Matthes & Seitz, 2009, 36. – Vgl. Cassirer, Ernst: ‚Geist‘ und ‚Leben‘ in der Philosophie der Gegenwart. In ders.: Geist und Leben. Schriften zu den Lebensordnungen von Natur und Kunst, Geschichte und Sprache, hg. von Ernst Wolfgang Orth, Leipzig: Reclam, 1993, 32–60, hier 47; vgl. ders: Zur Metaphysik der symbolischen Formen. Nachgelassen Manuskripte und Texte, Bd. 1, hg. von John Michael Krois, Hamburg: Meiner 1995, 36. Nr. 78: Vgl. Dilthey, Wilhelm: Das Rätsel des Lebens. In ders.: „Die Typen der Welt­ anschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen“, in ders.: Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie, Gesammelte Schriften 8, hg. von Bernhard Groethyusen, Stuttgart: Teubner, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 19916 73–118, hier 80f; ders.: Hand­ schriftliche Zusätze und Ergänzungen der Abhandlung über die Typen der Welt­ anschauung, Vorlage B, in ebd., 119–165, hier vor allem 140–149. – Zum Übergegenständlichen vgl. Misch 1994, 279. – Vgl. Staiger 19468, 18. – Vgl. Hofmannsthal 1979, Das Gespräch über Gedichte, 509. Nr. 79: Vgl. Vossler 1960, 21.

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Anmerkungen

Nr. 80: Jolles, André: Einfache Formen. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 19999. Nr. 81: Vgl. Kohlberg, Lawrence: Die Psychologie der Moralentwicklung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1995; ders.: Die Psychologie der Lebensspanne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2000. Nr. 82: Zum homo absconditus vgl. Plessner 1969/1983. Nr. 85: Vgl. Plessner, Helmuth: Bei Husserl in Göttingen (1959). In ders.: Gesammelte Schriften IX, 1985, 344–354, hier 351. Nr. 87: Rilke, Rainer Maria: Todes-Erfahrung. In ders. o.J., 199f. – Vgl. Otto, Rudolf: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München: C.H. Beck, 2004 (Nachdruck, 193117), 79–91. – Vgl. König, Josef: Die Natur der ästhetischen Wirkung. In: Klaus Ziegler (Hg.): Wesen und Wirklichkeit des Menschen. Festschrift für Helmuth Plessner, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1957, S. 283–332, hier 322; vgl. Hof­ mannsthal 1979, Das Gespräch über Gedichte, 499. – Vgl. König 1957; zur ‚unmittelbaren Gewissheit‘ in der Dichtung vgl. ebd., 304f. Nr. 88: Vgl. Plessner: Anthropologie der Sinne (1970). In ders.: Gesammelte Schriften III, 1980, 317–393, hier 391. Nr. 89: Benn, Gottfried: Probleme der Lyrik. Wiesbaden: Limes Verlag, 1951, 19585, 27, 30; Benn zitiert Hegel hier, 48. Nr. 91: Zur Wahrheit der ästhetischen Wirkung vgl. König 1959, 36. – Zu parā vgl. oben zu Nr. 36. – Vgl. König 1959, 31. Nr. 92: Vgl. Stenzel 1964, Kap. V, 61–84. – Zum Metaphernbeispiel vgl. Bühler 1999³, 355. Nr. 95: Baudelaire, Charles: Der Maler des modernen Lebens. In ders.: Sämtliche Werke/Briefe. In acht Bänden. Hg. v. Friedhelm Kemp und Claude Pichois in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost, Bd. 5: Aufsätze zur Literatur und Kunst 1857–1860, München, Wien: Carl Hanser, 1989, 213–258, hier 225 (Über­ setzungen von Friedhelm Kemp und Bruno Streiff.). (Erstmals erschienen in, Figaro, 29. Nov. 1863: IV. Die Modernität). Nr. 97: Das Gedicht von SAID ist überschrieben mit: für erich fried (23.11.1988), in ders.: Außenhaut – Binnenträume. Gedichte, München: C.H. Beck: 2002, 7. – Vgl. Kierkegaard, Sören: Der Begriff Angst. Übers. u hg. von Liselotte Richter, Frankfurt a.M.: Athenäum, 1988³, 42.

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Anmerkungen

Nr. 98: Plessner, Helmuth: Krisis der transzendentalen Wahrheit im Anfang (1918), Gesammelte Schriften I, 1980, 143–308. – Husserl, Edmund: Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie. In ders.: Die Krisis der europä­ ischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einlei­ tung in die phänomenologische Philosophie, hg. v. Walter Biemel (Husser­ liana Bd. VI), Haag: Martinus Nijhoff, 1962², 313–348, hier 325. – Hamanns berühmtester Satz dazu: „Vernunft ist Sprache, logos; an diesem Markknochen nag‘ ich und werde mich zu Tode drüber nagen.“ In einem Brief an Herder, 1784; in J.G. Hamann: Briefwechsel. 7 Bde., hg. von Walther Ziesemer und Arthur Henkel, Wiesbaden: Insel Verlag, 1955–1979, Bd. V, Nr. 753, 177. Zu Hamann vgl. Schulte, Susanne: Ohne Worte keine Vernunft – keine Welt. Bestimmt Sprache Denken? Schriftsteller und Wissenschaftler im Wortwechsel mit Johann Georg Hamann. Münster, New York, München, Berlin: Waxmann, 2011. Nr. 99: Vgl. Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 17 Anm., in ders.: Werkausgabe, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1977³, Bd. VII, 28; während sich alle sonstigen Gefühle auf Neigung oder Furcht beziehen lassen, verkörpert Achtung als ‚vernünftiges‘ oder ‚geistiges‘ Gefühl die Moral, die sich nicht an sinnlich-körperliche Vorgänge bindet. Das ist eine Thematik, die im Zusammenhang mit dem moralischen Prinzip des Taktes im Rahmen der Zeit als Dauer eine weitere Ausarbeitung erforderlich macht. – Nicht zufällig bezeichnet Kant die Leerstelle, die sich angesichts der Unerkennbarkeit des Gesamtsinns (des Absoluten, Unbedingten) auftut, als „etwas Unsichtbares“ (Kant: Grundlegung, BA 107, Werkausgabe VII, 87), im Unterschied zu den sinnlich wahrnehmbaren Dingen, den Erscheinungen, und füllt die Leerstelle dieser ‚Dinge an sich‘ mit der Moral und dem (Ver­ nunft-)Glauben (vgl. Kant: Kritik der praktischen Vernunft, A 84f., Werkaus­ gabe VII, 163). Nr. 100: Kraus, Karl: Die Sprache. Wien: Verlag Die Fackel, 1937, 394–396. Epilog: Franz Kafka: Tagebücher 1910–1923. Frankfurt a.M.: Fischer, 1983 (Gesam­ melte Werke, hg. v. Max Brod, Taschenbuchausgabe in acht Bänden), Eintrag vom 3. Oktober 1911, 58; zur Selbstbeobachtung vgl. den Eintrag vom 7. Februar 1915, 336f.

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