Theodor Däublers »Nordlicht«: Drei Studien über die Elemente, den Geist und die Aktualität des Werkes [3 ed.] 9783428470921, 9783428070923

Theodor Däublers gewaltiges, 30 000 Verse umfassendes Epos »Das Nordlicht« erschien 1910 in drei repräsentativen Bänden.

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Theodor Däublers »Nordlicht«: Drei Studien über die Elemente, den Geist und die Aktualität des Werkes [3 ed.]
 9783428470921, 9783428070923

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CARL SCHMITT

Theodor Däublers „Nordlicht"

C A R L SCHMITT

Theodor Däublers

„Nordlicht" Drei Studien über die Elemente, den Geist und die Aktualität des Werkes

Dritte Auflage

Duncker & H u m b l o t · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Unveränderte Ausgabe der 1916 bei Georg Müller in München erschienenen Erstauflage 2. Auflage 1991 bei Duncker & Humblot Alle Rechte vorbehalten © 2009 Duncker & Humblot GmbH Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-428-07092-3

I m Andenken an

Fritz Eisler

Luk. 12.56

Übersicht I. Historische und ästhetische Elemente I I . Das geistige Problem Europas

11 48

I I I . Die Aktualität

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Nachträgliche Anmerkungen

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9

Ι.

I

n dem Buch, um das es sich hier handelt, bedeutet das Nordlicht - die bekannte Naturerscheinung - ein Symbol. Ob man beim ersten Blick meint, ein originelles oder banales Symbol, ist im höchsten Maße gleichgültig. Denkt man sich, so banal wie möglich, nach dem Kant-Laplaceschen Planetensystem, die Erde als einen von der Sonne fortgeschleuderten Teil der Sonne, so hat die erkaltete Erde in ihrem Innern einen feurigen Kern. Dadurch, daß dieser durch die Erdrinde zur Sonne zurückdrängt, entsteht das animalische und vegetative Leben; Bäume, Tiere, Menschen, alles sind Sonnenfunken, die aus der Erde zur Sonne zurückstreben. Bei solcher Naturphilosophie erinnert sich der Historiker, dem die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts bekannt ist, an Schellings „Neue Zeitschrift für spekulative Physik" und die spätem Romantiker; der Monist des Jahres 1912 aber an Wilhelm Ostwalds allgemeine Sonnenenergie. Beide haben Recht. Das Nordlicht selbst aber hat man sich, entgegen der in der Meteorologie heute herrschenden Auffassung, als das Sonnenlicht vorzustellen, das am Pol, wo die Erdrinde am dicksten ist, aus dem Innern der Erde ausströmt. Es ist also 11

gesiebtes Sonnenlicht und das Eigenlicht der Erde. Den Mond hatte die Erde aus sich herausgeschleudert, der Sonne zu, er sollte der Mittler zwischen Sonne und Erde sein. Aber der Mond ist erstorben, ein Leichnam. Die Erde dagegen erringt sich das Nordlicht, den neuen Mond, das Eigenlicht. Damit ist sie vor dem Forum einer kosmischen Ethik gerettet. Das Nordlicht ist der Same, den sie in den Weltenraum streut. Die Bahn der Planeten hat nach den bekannten Keplerschen Gesetzen die Form einer Ellipse. Da alles auf kosmische Verhältnisse zurückzuführen ist, läßt sich die Ellipse überall wieder erkennen. Hören wir darüber einen der romantischen Gelehrten, dessen Vorstellung von der Welt und ihren Dingen auch heute noch Interesse verdient; er interessiert sich nämlich für Probleme der Tierund Pflanzenpsychologie, Geschlecht und Charakter, Periodizität und Rhythmus des organischen Lebens - wie denn überhaupt die deutsche Romantik, von der es neulich hieß, daß sie überwunden werden müsse, ein unermeßliches Reservoir ist, in dem alles, was heute nicht platt exakt denkt, seine geistige Quelle hat: „schöpferische Entwicklung", „Abstraktion und Einfühlung", alles das nehmen Romantiker sorglos vorweg. D. Johann Malfatti von Monteregio nennt in seiner im Jahre 1845 erschienenen, Seiner Durchlaucht Herrn Fürsten Clemens von MetternichWinneburg gewidmeten Schrift „Studien über An12

archie und Hierarchie des Wissens" die Ellipse die „Grundhieroglyphe der Schöpfung". Das göttliche Zentrum, der Kreis, ist verloren gegangen, der Kreis zur Ellipse geworden, das sich entzweiende Zentrum des Kreises wird zu den beiden Brennpunkten der Ellipse. Darin liegt der Ausdruck des allgemeinen Dualismus der sichtbaren Welt, der in zahlreichen Gegensätzen wiederkehrt: Mann und Weib, Zeit und Raum, senkrecht und waagerecht, Arithmetik und Geometrie, Elektrizität und Magnetismus. Die beiden Brennpunkte der Ellipse suchen das Zentrum des Kreises wieder zu erreichen. Das ist die Erklärung für alles Leben. Homo est duplex et si duplex non esset non sentiret (Hippocrates). Auf dem Kampfplatz des Lebens tritt daher die Gestalt der Ellipse immer von neuem auf. Tag und Nacht, Geburt und Grab, die allgemeine Periodizität des Lebens mit ihrem Auf und Ab, alles ist als Ellipse zu erklären. Auch im einzelnen des menschlichen Lebens sind diese Relationen zu erkennen. Numquam bonus medicus nisi astronomus (Hippocrates). Das Leben ist ein „Feuerprozeß". In drei Stufen spielt es sich ab: der siderischen, der atmosphärischen, der tellurischen. Die atmosphärische Region, in der die Menschen leben und atmen, ist die mittlere. In der siderischen Zone erscheinen die Sterne als feurige Körper, in der tellurischen spielt sich der unterirdische Gärungsprozeß der Erde ab. Die geistige, animalische und pflanzliche 13

Welt entspricht diesen drei Regionen. Die in die atmosphärische Zone strebende Erde treibt aus ihrer Tiefe das ganze Pflanzenreich empor. Die aus dem finstern Erdboden emporsteigenden Bäume stellen in ihrer Verästelung die Form der erstarrten Flamme dar; sie schließen sich an das Sonnenlicht an und ihre Früchte haben Ei-(Ellipsen-) Form, weshalb Empedokles von eierlegenden Bäumen spricht. Der menschliche Körper aber ist, entsprechend den drei Stufen, in drei, wiederum eiförmige Komplexe eingeteilt: das Gehirn als das Abbild des siderischen Brennpunkts, die Brust (in der als punctum saliens das Herz klopft), als die atmosphärische Hülle; und die Gedärme als der tellurische Teil. Das Licht ist die lebendige Zeit. Nacht und Licht, Finsternis und Helle sind die elementaren Naturvorgänge. Die Schöpfung geschah durch die Trennung von Finsternis und Helle. Hier kommt Malfatti auch auf das Nordlicht zu sprechen: „Ein merkwürdiger Nachklang dieses großen und lauten Prozesses (der Schöpfung) findet im kleinen und in der Stille bei den periodischen Polar-Kulminationen des Erdplaneten, besonders und am augenscheinlichsten am Nordpole statt, wo nämlich unter vorherrschender Finsternis und Kälte das Licht plötzlich verklärt hervorbricht, wo aus der Kulmination des Magnetischen überraschende elektrische Strömungen sich entladen und das bis jetzt nicht begriffene Phänomen des Nordlichts erzeugen." (S. 83/84). 14

Die Methode der Naturbetrachtung, die Malfattis Deutungen beherrscht, war in seiner Zeit nichts Auffallendes und den Romantikern beinahe selbstverständlich. So hat doch ein politischer Schriftsteller wie Görres den Gegensatz von Katholizismus und Protestantismus auf den von Männlichkeit und Weiblichkeit und weiter von Sonne und Erde zurückgeführt. Was namentlich das Nordlicht anlangt, so scheint es auf romantische Naturen einen besonders starken Eindruck zu machen. Die beiden Helden von Flauberts Bouvard et Pecuchet haben sich mit ihm beschäftigt, und der Romantiker der Nationalökonomie Charles Fourier hat seine neue, verklärte Welt in ursächlichen Zusammenhang mit der Entstehung des Nordlichtes, der couronne boreale y gebracht 1. Es wäre übrigens voreilig, solche romantischen Kombinationen wie die Malfattis als abgetan zu belächeln. Die ganze Romantik der Rassenlehren beruht auf ähnlichen, namentlich morphologischen Spekulationen, und Leute, die sich Realpolitiker zu nennen lieben, machen naturwissenschaftliche, angeblich exakte Rassenunterschiede geltend, während sie im Grunde nur moralische Deutungen meinen. Selbst der Gegensatz von Kreis und Ellipse ist noch nicht vergessen; er hat 1

Ich entnehme das Beispiel der dankenswerten Darstellung seiner Lehren von Räte Asch (Jena 1914). Für die allgemeine Art der Naturbetrachtung deutscher Romantiker finden sich in dem Buch über Ausbreitung und Verfall der Romantik von Ricarda Huch (I. Auflage Leipzig 1902) interessante Beispiele. 15

in der Vergleichung von Lang- und Rundschädeln, Dolicho- und Brachycephalen, eine noch ziemlich intensive Fortexistenz. Im „Nordlicht" herrscht der romantische Deutungsdrang ganz ungebrochen und unbefangen. Im besonderen ist die Ellipse Gegenstand zahlreicher Reflexionen und Demonstrationen. Ihre Form kommt sogar in dem Aufbau des Werkes häufig zur Geltung. I m ersten Teile - z. B. im „Mittelmeer", geht der Weg des „Ich" nach Süden, von Venedig nach Neapel. Von Rom aber richtet sich der Traum zurück nach Florenz und Venedig, um so die Linie der Gedanken und Träume zu einer schönen Schleife zu machen, in deren Höhe noch einmal Venedig erscheint, mit der Nacht, seiner Königin, und mit den „Perlen von Venedig", einem Kranze von Sonetten, der die Herrscherin der Adria schmückt. - A m wirksamsten wird die Freude an den Bogen einer bedeutungsvollen Linie im zweiten Teile, in der „Sahara" und dem „Ararat". Auf dem Wege zum Norden, den die Erde und ihre Menschheit wandert, kommt sie in riesigen, auf der Landkarte zu verfolgenden Windungen an ihr Ziel. Von der Sahara und Ägypten nach Indien, von da über Iran nach Alexandria zurück über Spanien und Fankreich nach Deutschland, bis alle Weltgeschichte untergeht in der Nacht des Tartarus und dem Lichte der Ewigkeit.

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Ihrer Art des Denkens und Betrachtens nach gehört eine solche Dichtung für die Geschichte des deutschen Geisteslebens in den engsten Zusammenhang mit der nachklassischen Periode. In der künstlerischen Gestaltung des „Nordlichts" herrscht allerdings eine ungewöhnliche Traditionslosigkeit und Originalität. Inhaltlich aber liegen die Wurzeln des Werkes in der Romantik. Ahnen in gerader Linie sind die großen Schwaben Hegel und Schelling. Weniger bedeutende romantische Geister, wie jener Malfatti, weisen im einzelnen zahlreiche Ähnlichkeiten auf. In der Diktion endlich überwiegt - namentlich im „Orphischen Intermezzo" - die großartige Geste philosophischer Programmatik, die den jungen, noch nicht reflektierten Schiller auszeichnet. Der Stammbaum reicht noch weiter zurück. „Ich weiß, daß ich als Geist von altem Adel stamme." Die größte Zeit mittelalterlicher Mystik mit ihrer pantheistischen Tiefe und Schönheit lebt jugendlich und unberührt in dem Werke, in wunderbaren Strophen, wie denen des Gedichtes „Der Ausbruch": Erblicke ich die eigenstillen Dinge, So bin ich nimmer ein Gemüt auf Erden, Sondern der Geist, als der ich uns durchdringe. So bin ich alle, die noch kommen werden! Die Dichter und Erdichteten der Tiefen: So bin ich Pan und auch der Schreck der Herden, Virgil und alle Wiesen, die ihn riefen. I I , S. 520. 17 2 C. Schmitt, Däublers Nordlicht

Aber der Deutsche, der solche Verse dichtet, hat die ganze Kultur des Mittelmeeres in sich aufgenommen. Däubler ist als Sohn eines Schwaben in Triest geboren. In jahrzehntelangen Wanderungen hat er Italien und Frankreich gesehen, die „gute Glut" ihrer Schönheit getrunken und den Reichtum ihrer bildenden Kunst - nicht, wie die deutschen Romantiker die Literatur - in sich aufgenommen. Die ganze Schönheit der Mittelmeerländer erfüllt die Seele des Mannes, der nicht nur der Epiker des Europäers ist, als den ihn Johannes Schlaf bereits im Jahre 1912 erkannte (Berl. Tagebl. Zeitgeist, Juni 1912), sondern vielleicht der erste, in dem die geistige Einheit des Okzidents aus der Sehnsucht zur Erfüllung gelangt ist. Jene Ellipse, die für den deutschen Romantiker eine bedeutsame Hieroglyphe war, wird zum schönen Bogen, der den tiefen Spekulationen die künstlerische Architektonik gibt. Das „Nordlicht" ist so mit einem spezifisch bildnerischen Formgefühl komponiert, und das Wesentliche seiner Leistung liegt, literarisch betrachtet, vielleicht gerade darin, daß ein Künstler die elementarsten Normen aller künstlerischen Schönheit an der größten europäischen Malerei, Plastik und Architektur neu erkannt und mit primitivem Instinkt auf seine Dichtung angewendet hat. Freilich sind die Dimensionen oft ungeheuer und für den ersten Blick nicht gleich zu übersehen - das ist der Vorteil, den der Dichter eines Landes 18

vor dem Dichter eines Erdteils hat, daß die Meisterschaft in der Beschränkung augenscheinlich ist. A m meisten trifft das für den zweiten Teil des „Nordlichts" zu 2 , der die eigentliche Geschichtsphilosophie des Werkes enthält, die Wanderung der Erde zum Norden. Doch sind auch in diesem Labyrinth philosophischer Spekulationen die aus einem strengen Formbedürfnis erwachsenen Maße und Relationen erkennbar. In der Menge der Bilder und Linien treten hier zwei gewaltige Konstruktionen heraus: die „Pyramide" und der „Ararat". Ihre Bedeutung im Werk ist typisch für Däublers Art des künstlerischen Schaffens. Nach dem Kataklisma, als die Erde in kolossalen Konvulsionen aus der großen Flut auftaucht und zu sich kommt, äußert sich die Kraft der Sonne zuerst in der Sahara und in dem nahen Ägypten. Dort tritt Ra auf, der ägyptische Sonnengott, die erste, noch ganz wilde und ungezügelte Offenbarung der Sonnenkraft. Er ist der Gott der grausamen Macht, der männliche, gewaltsame Herrscher, der seinen Staat auf die brutale Kraft gründet und schließlich sich in seinem eigenen Brande verzehrt. (Sein Diener, König und Priester Chuenaten, der Verächter aller Weiblichkeit, der 2

Über den ersten haben Neugebauer und Paul Adler treffliche Erörterungen gegeben, so daß eine Übersicht über die großen Züge dieses auch an sich leichter verständlichen Teiles eher gewonnen werden kann (vergl. Der Brenner 1,1910, S. 597, und „Literarisches Echo", September 1912, S. 1683, und „Pan", 21. März 1912, S. 636). 19 2*

tobende Fanatiker des Ra-Kultus, steckt die Hauptstadt Theben in Brand und läßt sich dann von den Ammonspriestern den Bauch aufschlitzen.) Das sichtbare Wahrzeichen der Saharasonnenoffenbarung ist die Pyramide, ein „Seelenkrampf kristall", der „Urwuchtstumpf", das „erstarrte Symbol unbändiger Stumpfheit" (II, S. 102). Diesem monumentalen Abschluß der ersten Periode mußte architektonisch ein anderer, ebenso kolossaler Bau entsprechen, als die Menschheit weiter zog, nach der großen Ouvertüre in Indien, der „indischen Symphonie", von Iran zum nordwestlichen Europa. So konstruiert sich der „Ararat", ein anderes Weltgrab. In den „Ararat" stürzt die Menschheit am Schlüsse jeder Periode ihrer Entwicklung, am Ende der „Iranischen Rhapsodie", nach den „drei Ereignissen"; immer folgt dem großen Anlauf und Fortschritt dieser Sturz in die Künstlichkeit und Äußerlichkeit. Ganze Nationen stürzen in den Krater des fabelhaften Phantasiebaues. Zahlreiche mystische Assoziationen tragen zur Auftürmung des unheimlichen Kolosses bei. Der Ararat ist das geheimnisvolle Gebirge im Norden, von dem die indische und die iranische Überlieferung ebenso spricht wie die Bibel von dem Gebirge, das nach Mitternacht liegt (Jes. 14,14; Psalm 48,3). I n dem Worte „Ararat" scheint die ganze indogermanische Vorliebe für die Silbe „ A r " sich auszuleben. Dieses „Wunderwerk der Rassen", das aus Natur und 20

Kunst gebaut ist, die phantastische Konstruktion eines Weltgrabes, ist der Gegenbau zur Pyramide und zugleich ihre Überwindung: kein totes Grab, wie die Pyramide, sondern es enthält die Keime der Auferstehung. Noch eine Konstruktion des zweiten Teiles fällt durch ihre ungeheuerliche Kühnheit auf. Das Mittelmeer, die hellenistisch-römische Kultur, legt sich der Menschheit auf der Wanderung zum Norden in den Weg. Der wesentliche Schritt der Weiterentwicklung, den die christliche Periode getan hat, besteht darin, daß der Frau eine Seele zugesprochen wird. Das Mittelmeer wird zu einem Drachen, den der heilige Georg mit seinem magischen Schwerte, seinem „Lichtdegen" tötet. Der Drache, der „den Menschheitsweg verlegt", ist mit dantesker Anschaulichkeit gemalt als der „Wasserdrache" mit „furchtbaren Brandungskrallen". Aber auch er muß sein Gegenbild haben. Im Osten liegt noch ein anderer Drache. I n Indien haben sich die Wege eines „Erdwabezwillingspaares" gespalten, die Linien des vorderindischen Gebirges der Gatsberge geben die Richtung der beiden Wanderer an, von denen der erste nach Nordwesten geht, der zweite aber nach Nordosten, um dort in China liegen zu bleiben, sich „krampfhaft zu erhalten", und erst wenn der andere Drache, das Mittelmeer, überwunden und die Menschheit am Norden angelangt ist, von dem Bruder, der ihm dann die Hand reicht, ebenfalls herauf zum

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Norden gezogen zu werden. (II, S. 208). Dann ist die Erfüllung der Zeiten da, die im ersten Teil prophezeit war: D u ahnst den Ineinandersturz von Rassekernen, Die goldnen und die weißen Völker sind versöhnt U n d spenden ihres Wesens Heimlichkeit den Sternen. I, S. 286.

Der gelbe Drache des Ostens wird aber nur beiläufig erwähnt. Das Wesentliche ist, daß er als das große Gegengewicht des Mittelmeerdrachens da ruht, damit dessen auffallendes Bild in der Ordnung des Gesamtwerkes vorbereitet und ausgeglichen wird. Die „Alexandrinische Phantasie" (II, S. 327 bis 377), die jene Uberwindung des Mittelmeeres besingt, baut sich als dreiteiliges Altarbild auf. Der linke Altarflügel spielt am Sternenhimmel, er zeigt das „Ich", das am Schlüsse der Iranischen Rhapsodie auf einem Pferde an den Sternenhimmel geflogen war (bevor es in den Ararat stürzte), unter den Sternbildern. Perseus erblickt als Sternbild Andromeda, die von dem Wasserungeheuer gefangen gehalten wird. Die einundsechzig Terzinen dieses linken Altarflügels schließen mit einem unheimlichen Übergang aus der intelligiblen Sternenwelt auf die Erde und beschreiben die Geburt, die Inkarnation einer Seele im „Stoffsystem" mit dem mystischen Schauer dieses rätselhaften Vorganges: 22

Ich höre ein Geräusch von fernen Menschenstädten: Es ist, als ob sich Rufe in die Sänge mischten U n d meines Pferdes Flügelsymphonien lähmten. Es wird, als ob sie Dunkellurche schrill durchzischten. N u n werde ich empfunden - und von unverschämten Erdkeuchern abermals in einen Leib getrieben: Es ist, als ob Geschreie meinen Sinn verbrämten. Schon wieder fühle ich sich viel um mich verschieben: M i r scheints, daß ich Geburtsrufe ringsum vernehme. Jetzt seh ich Schemen, die vermummt zerstieben, U n d steh darauf bewußt und fest im Stoffsysteme. I I , S. 333.

Das große mittlere Altarbild hat seine Szene auf der Erde und gehört nach seinem kulturhistorischen Kolorit in das Alexandrien der ersten christlichen Jahrhunderte, in die Stadt, in der alle Religionen der religiösesten aller Zeiten zusammenströmten. Hier, wo Gnostiker, Christen und heidnische Philosophen eine internationale Menge in jede Wut religiösen Fanatismus versetzen konnten, rasen die tollen Orgien heidnischer Weiber und die lauten Diskussionen der Sekten und Philosophien durch die Straßen, bis sieben christliche Märtyrerinnen den Weihnachtsgesang anstimmen und der heilige Augustinus das „Ich", den menschgewordenen Perseus, als heiligen Georg tauft. - Der Schauplatz des rechten Seitenbildes (ebenfalls einundsechzig Terzinen) liegt wieder im Sternenhimmel, „in hehren Traumesweiten", wo der heilige Georg den Drachen erlegt und die 23

zur christlichen Angelika gewordene Andromeda befreit. Die Anwendung der Form des Triptychons auf ein Gedicht von solchen Maßen würde bei jedem andern in Spielerei untergehen. Aber Däubler hat namentlich in dem Gegensatz der Stimmungen des Sternenhimmels und der Erde die künstlerische Aufgabe wie im Traum gelöst: denn das Bild ist aus derselben Innigkeit tiefster Religiosität gewonnen, die einst dem christlichen Maler den Gedanken des Triptychons eingab und die Symbolik des dreiteiligen Altares erfand: von den Höhen des Himmels, aus der Ewigkeit, steigt das Göttliche zur Erde nieder, um dann wieder in die Ewigkeit zu entschwinden. Die Kraft des künstlerischen Temperaments, die mit Gewalt zur immanenten Form drängt, äußert sich, völlig triebhaft, bis in die Gestaltung des einzelnen Verses. Oft haben Dichter seltsame Formen in ein Gedicht hineingelegt. Mystische Dichter des 17. Jahrhunderts liebten es, Strophen in Form eines Kreuzes, Kelches oder eines symbolischen Zeichens zu dichten. Dabei kamen zuweilen interessante Leistungen vor. Nirgends jedoch findet sich ein Beispiel dafür, daß die Form einer bedeutungsvollen Linie unbewußt, im eigentlichsten Sinne „von selbst" aus der Intensität künstlerischen Erlebens sich so „ergibt", wie in den „drei Ereignissen" (II, S. 442) aus der Opferstimmung des Sommerabends ein Vers entsteht: zwischen 24

zwei (durch den Reim eines vollen Vokales am Anfang und Ende bezeichneten) Höhepunkten senkt sich die Zeile und erhält den Querschnitt der Opferschale, von der sie selbst spricht: „ I m Tale steigt der Rauch als wie aus einer Opferschale."

Es ist in hohem Maße erstaunlich, daß ein so starkes Formempfinden die Ursprünglichkeit dieses Dichters nicht beeinträchtigt. Denn neben dem Formensinn eines Geistes, in dem Jahrhunderte lateinischer Kultur lebendig sind, wirkt eine unbeirrte geradezu mythenbildende Kraft der Phantasie. Manche ganz unbefangen sich bildende Auslegung eines Vorganges in der Natur erinnert an die Vorsokratiker, manche moralische Deutung beinahe an die naiven Geschichten des Physiologus oder eines Kirchenvaters. Aber das Entscheidende ist die Kraft zum Bild. Alles, was ihr begegnet, muß sich ihr unterwerfen, seine alltäglich-exakte Natur aufgeben, um als geheimnisvolles Bild in einer andern Welt neu aufzutreten. Die furchtbaren Schreie, die der Mensch in den Nöten und Gefahren seiner Urzeit ausstößt, verwandeln sich in Vögel; der Schrei befiedert sich und die Möwe trägt den Klagelaut auf die Ewigkeit (II, S. 54). Auch die indische Sprache mit ihren wunderbaren Vokalen entsteht als Vogel: D a schlagen auf einmal unendliche Schwingen, Die Sprache der Inder, voll Pracht auseinander: Die Federn des Tieres sind Rhythmen, die klingen. I I , S. 238. 25

Die lüsternen Blicke, die gierige Männer auf die unbekleidete Schönheit der Fau werfen, werden zu Perlen, mit denen sich die Frau bedeckt. Die schwimmenden Eisberge sind Tiere, die das Nordlicht fasziniert hat (II, S. 546); die Häßlichkeit und Gemeinheit in der Seele des Menschen kriecht als Lurch, Kröte, Schlange, widerliches Fischungeheuer herum (II, S. 143), und alle subalterne Lumpigkeit, die plebejische Art des Wissensdranges, die Lüsternheit, hinter jede Kulisse zu schauen, die Wut, alle Erdenfreude zu verfluchen, alles das verbeugt sich plötzlich am Schluß einer futuristischen Strophe grinsend als Zwerg und Narr: Was Menschen stündlich wüst verwuchern Verkrüppelte und wurde starr. Das Lumpige in Weltdurchsuchern Verschrumpfter Seelen Brunstkatarrh, Das Schamlose in Fleischverfluchern, Was zynisch bleibt und urbizarr, Der Zunftdruck in Geschichtsverbuchern, Eunuchenlust, Berufsgeknarr, Der M u t in dummen Weibsversuchern, Verbeugte sich als Zwerg und Narr. I I , S. 139.

Die ganze Welt ist zu Bildern und Symbolen umgewandelt, die Bilder werden anschaulich und gewinnen kompakte Gestalt: das Licht und die Nacht, Sonne, Mond und Sterne, alle elementaren Sensationen eines Menschen, für den die Natur noch voller Wunder ist. Wenn die Nacht „als eine Mohrin, eine Heidin" in königlicher Pracht mit 26

silberheller Mondessichel in Venedig einzieht (I, S. 307), so bleibt dieses Bild, so herrlich es erfunden und ausgeführt ist, immerhin noch im Rahmen des Selten-Vergleichbaren. Aber was wird aus dem Monde gemacht, diesem von der Banalität verunstalteten Requisit, das die vornehme Lyrik nur noch ganz vorsichtig behandelte! Er wird „der Gott des Todes aller Wesen", die Verneinung der Sonne und des Lebens, und der Buddah erscheint als Mond der Erde mit dem Rufe: „Ich gleiche dem Monde . . ( I I , S. 235). Er ist bleich, wie ein Leib, der anfängt zu verwesen, er ist tot, Es schleppt die Erde ihn als Leiche durch den Raum. I I , S. 527.

Seine silberne Totenblässe ist der trügerische Schein eines Lichts, das dem lebendigen Sonnenlichte gleichen möchte, wie die todgeweihte Lüsternheit begehrlicher Laster dem Schein des freudigen Sonnenlebens. D e m Monde folgen auch die großen Wellenwogen: M i t geilem Weiberlachen stürzt die Flut daher, Die Wellen glucksen, hopsen kindisch ungezogen U n d sind der Tod vom Monde und die Brunst im Meer. Verwurzle dich, wo du auch bist, in deinem Norden. Der Vollmond naht, mit Schönheit dich zu schminken. Er naht, er kommt zu dir, das Sonnenbild zu morden: I m Schlund der Wonnenwelt, in dir, mußt du versinken. I I . S. 529.

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Noch ein Phänomen lebt im „Nordlicht", dessen besondere Unheimlichkeiten aus dem gegensätzlichen Verhältnis zur Sonne entstehen. Im Süden gab es keinen Schatten; erst im Gesänge „Roland", in Spanien, fängt er an zu wachsen (II, S. 382) und wird immer größer, je höher es zum Norden geht, bis er endlich die ganze Erde in seine Dunkelheit begräbt. Wie ein schwarzer Spuk heftet er sich jedem an die Fersen, selbst der große Kaiser Karl hat diesen Schatten, der kleinlich und spöttisch die Gebärden des Helden verrenkt, als Teufel, Spukgestalt, Waldlarve, als ein kleines, fettes Gespenst mit schrecklichem Buckel und Bauch (II, S. 404) - der Held der „Drei Ereignisse" ist selber ein Krüppel, der Zwerg, der auf den Helden Roland folgt und den Mord begeht, der in der „Indischen Symphonie" (II, S. 246) bereits angedeutet war (II, S. 434/456). So humpelt der „Sonnenunsinn" jedem nach, der verkrüppelte Wicht, der „Nachsteiger aller", der schließlich klumpige Leibhaftigkeit annimmt und als „strammer spanischer Staatszwerg" lächelnd dasteht und die Menschen in den Grabschacht des Ararat herunterreißt (II, S. 422). Jetzt wird auch seine Symbolik offenbar: Sein Wahnsinnsgelächter durchgellt die Felshalle, D a liegt er! Mein Schatten! Er säumt mich ganz knapp. Jetzt steht er vor mir: gar erbärmlich und hager: Der nordische Narr, der uns nachschleicht und packt. Er ist es! Des deutschen Gemütes Erbplager! Der Grübler und Nachrichter, der sich abhackt. 28

Er naht mir als garstger Radaverbenager. D a gibts kein Frage: er ist es kompakt! I I , S. 469.

Eine Welt von Bildern. Die Realität ist in Bildern erkannt und aufgehoben, die Pyramide wird durch die Gegenüberstellung mit dem phantastischen „Ararat" zu einem mythologischen Gebilde, der Phantasiebau des Ararat erhält Realität durch die Beziehung zur Pyramide. Alles in der Welt hat eine ungeheure Bedeutung und sucht diese im Bild wiederzugeben, in einem anschaulichen Vorgang. Oft ergeben sich bei der künstlerischen Auswirkung des universellen Dranges zur Deutung prägnante Formulierungen philosophischer Gedanken, die wie Ornamente in das Gebäude des Werkes eingefügt sind. Eine überraschende philosophische und historische Intuition liefert das Material für den kolossalen Bau. Das tiefste rechts- und staatsphilosophische Problem wird klar formuliert: Ein Element, nicht ein Befehl schafft Rechtsmomente. I I , S. 558.

und Zuerst ist das Gebot. Die Menschen kommen später. I I , S. 542 3 .

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Diesen Vers trägt als Motto die im Januar 1914 in Tübingen erschienene Abhandlung von Schmitt „Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen". 29

Aber das Wesentliche bleibt, daß zur Antwort auf die Fragen nach dem Staat, dem Recht, dem Geld (das von Däubler mit bemerkenswerter Intuition in diesem Zusammenhang genannt wird) in einem großen historischen Vorgang ein Bild gezeigt wird: die Erbauung der Perserburg in der „Iranischen Rhapsodie". Die Komposition dieses Ereignisses gibt ein gutes Beispiel dieser Art zu denken und zu sehen. Es beginnt mit den Bauern auf dem Felde. Der iranische Bauer, der in allen Unwettern sein Feld pflügt, sieht den Priester und Magier mit Mißtrauen an, schon weil der Priester nicht Perser ist (in Iran waren die Priester Meder), weil er Gold zu gewinnen weiß, für sich nachdenkt und seinen Leichnam nicht, wie ein echter Parse, von Vögeln fressen läßt, sondern der Erde übergibt. Diesen Bauern aber geht in großartigem Verstehen die Bedeutung der Stände auf, sie wollen sich nicht in gegenseitigem Mißtrauen zugrunde richten, sondern aus ihrem Haß „Taggewalten entschälen" 4 . So unterwerfen sie sich, die Nachbarvölker, 4

Es soll mein Weib von nun an goldene Spangen tragen, Der Meder darf Geschmeide mit dem Hammer schlagen: Wir alle wollen einen Staat zu gründen wagen Und vor dem Anschlag auf das Alte nicht verzagen. Die Erde, die wir plündern, ist voll innrer Güte, Und ob der Mensch auch noch so unvernünftig wüte Erscheint trotz allem doch kein Frühling ohne Blüte — Und diesmal ist es gar, als ob er sich verfrühte. Die Erde spendet jetzt auch die geheimsten Gaben: Sie will bestimmt, daß wir nach ihren Schätzen graben 30

und gründen den ersten Staat, denn der Staat des Ägypters Chuenaten war nur ein sinnloser Machtkomplex. Der Dualismus tritt in welthistorische Aktion: der Perser ist Mann, seine Tatkraft, sein Rechts- und Staats- und Rassengefühl sind spezifisch männlich. Für das Weib dagegen weiß er keinen Platz als den Harem. In der „Iranischen Rhapsodie" geht das Weib verloren und wird verraten - die Idee, daß vom „Ich" das Weib gesucht und nach stufenweisen Annäherungen in der nordlichterleuchteten Nacht des „Tartarus" gefunden werde, ist eine der Klammern, die das Gedankengefüge des Werkes zusammenhalten. - Mit der scharfen Trennung von Mann und Weib vollzieht der Iraner nur denselben Dualismus, den er auch in die Welt des philosophischen Denkens gebracht hat durch seine Idee vom guten und bösen Gott Ahoura Mazda (Ormuzd) und AngroMainyos (Ahriman) und vom Kampf des Lichts mit der Finsternis. (Gnostisch-manichäische Sekten haben das weiter ausgebaut und insbesondere aus dem Demiurg, dem Schöpfer dieser sichtbaren und unrettbar bösen Welt, den Gott der Gerechtigkeit im Gegensatz zum Gott der Liebe gemacht.) Der Staat aber ist ebenfalls nur der Ausdruck eines Dualismus, denn er beruht auf dem Gegensatz von Ober- und Unterschicht, herrschender und dienender Klasse. Bevor nun die Und uns im Alter durch Erspartes alle laben, Es soll der Sohn es besser als sein Vater haben. II, S. 258. 31

Gründung des Staates, die Erbauung der Perserburg, das eigentliche Ereignis, beginnt, wird die Bedeutung des Dualismus in einer naturhaften Vision gesehen: in dem Regen, der die iranischen Bauern überfällt, erscheint das Bild eines ekelhaften Zwitters. Ein armer, elender Gauch, ein „Wasserwamms mit Narwalbauch" 5 . Das widerliche Tier teilt sich plötzlich; die Häßlichkeit entschlüpft in der Gestalt von Unken und Wassertieren; aus den Striemen und Beulen werden bunte Tümpelpflanzen, Nenupharen, seltsame Teichblumen, deren Schönheit in klangreichen Versen emporblüht: Der Aussatz, der bereits vom Bauch das Haupt erfaßte, Ist ein Geranke blaßerwachter Nenupharen, Die tags darauf sich langsam wachsend rosa färben, U n d in der nächsten Nacht, verblauend, leicht erbleichen U n d tief ermüdet in der Blütenfülle sterben, Denn liebesschwer versinken sie in ihren Teichen.

Die tiefere Bedeutung der Trennung von Mann und Weib wird in dem nunmehr folgenden Gespräch mit einem Einsiedler noch weiter erörtert. 5

Er kann kaum atmen, denn das Wasser sprudelt Ihm unaussetzlich aus dem Walroßmaule; Die Schwimmhautpratzen, die er rasch zusammennudelt, Verschrumpfen mit den Armen fast zu einem Knaule. Sein Haupt ist bartlos und der Aussatz klettert Vom blauen Runzelhals empor zur flachen Glatze ... Ich tret ihm näher und ich sehe, seiner Zehen Mistmuscheln sind verrunzelte und schmutzge Nägel ... II, S. 263. 32

Der Greis, der in einem Tropfsteinloch, der „Muschel", dem „Gottesohr" lebt, erwägt, daß der Heiland von einer Jungfrau geboren und dadurch das Weib geheiligt wird. Aber das „Ich" will „frei von allen Erdenfesseln" und ungehindert an seine große Tat gehn und im Kampfe mit der Natur und den Menschen den Staat gründen helfen. Jetzt tritt der „Bruder" wieder auf, der Bruder, zu dem man das geheimnisvolle Vertrauen hat, er werde im Leben fertig werden, der tapfere Krieger, die Idee des gerechten und tüchtigen Mannes. Seiner männlichen Kraft und seinem Verstände gelingen das Recht und der Staat. Wie er im Feuer jenseits eines Gebirgsbaches erscheint, gleicht er einem Sterne. Babylonische Priester bringen ihm Geschenke und Weiber, vor allem die Hure Zirbanit, in deren Schönheiten er sich vor den Welträtseln retten mag. Ein Hebräer schreit und warnt vor ihr, der Tochter der Schlange, „die Scheol aus sich in die Menschheit gespien" und der „demiurgische Urkraft verliehen" wurde. Ein Weiser aus Milet trägt seine unsympathisch kluge Philosophie vor. Da versinkt die Szene. Vom Himmel herab steigen sieben Fürsten, die als Sterne am Himmel geleuchtet hatten: der rote Feuerfürst, ein gelber Held, ein grüner Stern, dann mein trauter Traum im blauen Trauerkleide, I I , S. 284.

33 3 C. Schmitt, Däublers Nordlicht

als fünfter ein Purpurfunke. Neben diesen der Sonnengott selbst und ein kleinerer Fürst 6 . Das alles ist wunderbar iranisch gedacht und geschaut: der Stern verwandelt sich in einen Menschen, der König steigt vom Himmel hernieder; es gibt für den Iraner keinen andern Herrscher; es gehört zum Fürsten, daß er „von Gottes Gnaden" ist, denn, wie der Iraner meint, die Herde mag noch so stark sein, sie kann sich den Hirten nicht selbst geben; den Hirten gibt immer nur Ahoura Mazda. 6

Die Freude an der Siebenzahl, die übrigens in eine „Iranische Rhapsodie" hineingehört, läßt sich öfters im „Nordlicht" nachweisen; das wichtigste Beispiel liegt darin, daß das „Ich" in sieben Inkarnationen Mensch wird, ehe es vom Fleische aufersteht (II, S. 486/7). Diese sieben Inkarnationen sind: die des I. Teiles (das Ich, das von Venedig nach Neapel wandert), sodann, im II. Teile, die der „Sahara" und des „Ra-Dramas", der „Indischen Symphonie", der „Iranischen Rhapsodie", der „Alexandrischen Phantasie", des „Roland" und der „drei Ereignisse". — Die Reihenfolge der Farben an der oben im Text zitierten Stelle, die von Rot zu Blau geht und kurz vorher in dem Wechsel der Farben erblauender Nenupharen angedeutet war, entspricht inhaltlich einer durchaus romantischen Auffassung, für die das Blau die höchste, die überirdische Farbe war. Der naturwissenschaftliche Romantiker Karl Freiherr von Reichenbach, der die Theorie vom „Od", jener nur für „sensitive" Menschen erkennbaren Ausstrahlung der Körper begründet hat — sagt: „Die blaue Fahne ist das Feldzeichen aller Sensitivität" (Der sensitive Mensch und sein Verhalten zum Od, Stuttgart und Tübingen 1854, § 1313). Die Farben sind ihm überhaupt ein „odischer Gegenstand", sie wirken auf das sensitive Genihl. Qualitativ ist ihre Wirkungsweise mit der im Spektrum des Sonnenlichtes einerlei; die blaue Hälfte des Farbenbildes wirkt od-negativ, die gelbe od-positiv. — Reichenbach ist für seine Sehnsucht, von der exakten Naturwissenschaft anerkannt zu werden, dadurch gestraft worden, daß diese ihn erst abgelehnt und dann ignoriert hat. 34

Jetzt erst, nachdem alles in der Stimmung und im Gedanken so vorbereitet ist, kann „Irans Gewalttag erscheinen". Das Volk drängt sich herbei, es hat den Instinkt, sich zu unterwerfen und mit Peitschen schlagen zu lassen. Hier herrscht das Gegenteil jener plebejischen Gesinnung, die lieber keinem etwas gönnt als zuläßt, daß einer es besser hat als alle andern; hier wollen alle auf Einen alles Gute häufen. Die „Pflichtwichte" wimmeln herbei und verrichten mit Begeisterung Frondienste, die Sklaven stöhnen: Die riesigen Augen des Weltherrschers bannen Die Heerscharen Asiens in schreckliche Knechtschaft. I I , S. 287.

So wird der Bau vollendet. Doch geht der historische Vorgang noch einmal im mythisch-symbolischen unter; statt der Menschen arbeiten plötzlich Halbgötter, gute und böse Geister, Dewas und Feuer, und vom Himmel kommen Adler, die mit den Schlangen des Irdischen kämpfen. Das wird in dem Trubel einer wilden Orgie mit fabelhafter Epik erzählt. Endlich ist die Burg fertig und „prangt auf Irans gewaltigster Lehne". I m Palast wird ein Fest gefeiert; Zirbanit, der Hebräer und der Milesier (der inzwischen ein sachverständiger Sybarit geworden ist) setzen sich wieder auseinander, und am Höhepunkt des Festes wird Dionysos geboren. Aber die ganze Herrlichkeit versinkt, als Angromainyos erscheint, der Satan, der Teufel, 35 3*

der fatale Unterbau der oberschichtigen Herrlichkeit (die sieben freundlichen Sterne sind sieben unheilvolle Monde geworden). Und, um noch schnell den letzten Teil der Rhapsodie zu referieren: das Babelhaupt schiebt die Perserburg beiseite und höhnt über Jehovah. Der Schluß der Rhapsodie: das Ich steigt zu den Sternen empor, eine neue Weltperiode beginnt. N u r scheinbar ist die unbekümmerte Phantasie, die einen betäubenden Reichtum von Bildern und Gedanken gebiert, regellos. In Wahrheit ist alles sorgfältig überlegt und aufgebaut. Die Schwierigkeit, den Inhalt erschöpfend anzugeben, liegt nicht in einer ordnungslosen Konfusion der Dichtung, sondern darin, daß die Gedanken ganz zu Stimmungen, zu Bildern geworden sind, die mehr nach der irrationalen Rhythmik eines Gemäldes oder einer Symphonie als nach diskursiv-systematischen Regeln zueinander in Relation gesetzt werden. Der Weg, auf dem die künstlerische Uberwindung des enormen philosophischen und kultur-historischen Stoffes erreicht wird, scheint der zu sein, daß ein mit heftigster Intensität des Schauens erlebter Vorgang im Augenblick des Erlebens zum Gemälde umgeschaffen und dann erst gedichtet wird. Eine Evolution von Bildern entsteht auf diese Weise, eine völlig neue, beispiellose pictura poesis. Die Vision stellt sich bereits für das primäre psychologische Bewußtsein als Gemälde dar; die dichterische Beschreibung der Vision ist dann die 36

Umgestaltung eines bereits künstlerisch umgestalteten Vorganges, sozusagen eine künstlerische Darstellung in zweiter Potenz. Nicht nur, daß es gerade große Werke der bildenden Kunst sind, durch deren Eindruck die Phantasie des „Nordlichts" am stärksten determiniert sind - die schönen Gedichte des ersten Teiles, die Schilderung des dionysischen Zuges, die Totentänze und die apokalyptischen Reiter sind einzelne der zahlreichen Fälle, die hierher gehören nicht nur die Freude am ganz konkreten Vorgang, der wie in einer Momentaufnahme festgehalten wird: wie die Affen auf dem Markt im „Ra-Drama" (II, S. 164), die würdevoll dasitzen („und einer begrinst eine alternde Dame") - auch nicht die großartige Geste des Beschreibens in den Szenen, in denen eine Ausmalung erfolgt, wie da, wo die babylonischen Priester Zirbanit zeigen oder, im „Roland", Abd-Er Rahman die schöne Fatime rühmt und namentlich die beiden ergötzlichen Eunuchen und Ästheten, Rip und Tip, sich nicht genug tun können und zum Spaß Oliviers eifrig berichten, was sie gesehen haben7. Sondern das Wichtigste ist die völlige Auflösung in Farben und Linien. 7

„Durch eine Laube dringt das Licht zu ihrem Bade," Sagt Tip, „ein Spitzenhemd aus zartverzackten Schatten Umschlingt des Leibes Weichheit bis hinab zur Wade, Die Füße aber zündeln fast aus blanken Platten." Und Rip fährt fort: „Der warme Himmel schaut ins Wasser. Erst überträufelt er den Leib wie kühle Trauben, 37

In Harmonien und Symmetrien folgen die Bilder aufeinander. Die Stilisierung der Figuren ist gänzlich unpsychologisch, niemals naturalistisch, wenn auch viele treffende Beobachtungen gemacht werden. Die Gestalten sprechen, als wären sie leibgewordene Ideen, in einer höchst bilderreichen Sprache, immer nur sich selbst aus. Figuren wie Chuenaten, Roland, Orpheus, das „Ich" in fast allen Gesängen, sind im eigentlichsten Sinne Sprecher, Ideen, die sich um ihre Inkarnation im Wort bemühen und zügellos in menschlicher Sprache sich ausleben. Deshalb kann auch von einer Charakterentwicklung im individualistischen Sinne nicht die Rede sein. Was interessiert, ist der Geist der Menschheit und das Schicksal des Sternes, der diese Menschheit trägt, kein Problem irgendeines Einzelnen, etwa eines Künstlers oder stud, phil oder Ingenieurs, der „sich" findet oder zu seiner „Persönlichkeit" durchringt. Kein bürgerliches Eheproblem regt ihn auf, sondern die kosmisch-geistige Frage des Gegensatzes der Geschlechter. Wenn solche Angelegenheiten wie der im praktischen Leben so höchst bedeutsame Gegensatz von Verheirateten und Junggesellen beDoch dann, ach dann, wird er ein Lachopalverprasser, Er kann die Wanne allen Wonnestaubs berauben." Und Tip ergänzt: „Ich will die Flechten noch erwähnen. Fast honigbraun umgaukeln sie den blassen Nacken, Mit Schildpattkämmen müssen Mohrinnen sie strähnen, Und alles Haargeschmeide rahmen Bernsteinzacken." II, S. 401/2. 38

handelt werden, so geschieht das burlesk und komisch, wie einmal im Ra-Drama, wo zwei Massen der Mordbrenner im brennenden Theben mit wirklich massiven Schimpfereien übereinander herfallen (II, S. 179 - 181). Über derartigen Vorgängen steht er so überlegen wie Mozart über seinen Bauern- und Bedientenszenen. In den Horizonten des täglichen Kleinkrams sucht er kein Problem, seine Tragödien sind universal auch in ihren Stoffen und die Stilisierung der Bilder entspricht deren Dimensionen. A n diesem Punkt ergibt sich wiederum eine Antinomie, die dem Gegensatz von deutsch und lateinisch parallel läuft. So sehr in der doppelten Verarbeitung - zum Gemälde und zum dichterischen Bild - eine gesteigerte Mittelbarkeit des künstlerischen Schaffens enthalten zu sein scheint, so gewaltig bleibt trotzdem die Unmittelbarkeit, die im ganzen Werke herrscht. Es kennt die Statue so unmittelbar wie den Baum, den Dom wie den Wald; die Reflexion steht neben der Anschaulichkeit, die abstrakteste Allgemeinheit neben der ganz konkreten Einzelheit. Und neben der gemäldehaften Flächigkeit besteht die merkwürdige Tatsache, daß die Dichtung im ganzen und jeder Teil wiederum für sich seinen ausgesprochenen Rhythmus in der Zeit und sein ganz spezifisches Tempo hat. Vieles bleibt unverständlich, wenn das Tempo nicht getroffen wird, das den Strophen so immanent ist wie einer schönen Melodie. So erle39

digt sich das schulmäßige Mißverständnis, als habe die hier erörterte pictura poesis etwas mit der ermüdenden Aufzählung der Einzelheiten eines ruhenden Vorganges etwas zu tun, wie sie Lessing sich vorstellte, um sie bekämpfen zu können. Und nunmehr kann das letzte und äußerste gezeigt werden, was der bildnerische Drang im „Nordlicht" geleistet hat: die Umschaffung der Sprache zu einem rein künstlerischen Mittel. In seinem Verhältnis zur Sprache liegt das Exorbitante des Werkes und damit eine Erklärung dafür, daß ihm heute viele fernbleiben. Vielleicht glaubt einer, der das „Nordlicht" aufschlägt, nur Banalitäten zu hören und gelegentliche Schönheit und Weisheit scheinen von Gestammel und Wortanhäufungen überwuchert. Banalitäten sind nun allerdings da, es gehört wenig dazu, um hinter hunderte von Versen jenes Ausrufungszeichen zu setzen, das einen vor dem Verdacht schützt, man wäre so ungebildet, die sprachlichen „Härten" und „Geschmacklosigkeiten" nicht zu sehen. Die Banalitäten sind da, so unbedenklich wie bei Victor Hugo oder Verdi, und sie überbieten sie womöglich noch um ebensoviel, wie der Künstler Däubler den Künstler Hugo oder Verdi. Aber er entzieht sich deshalb auch völlig solchen Kategorien wie „banal", deren konstitutives Element immer durch die Beziehung auf die gegenwärtige Konvention eines bestimmten Publikums gebildet wird. Während der einwandfreie, gute, geschätzte 40

Schriftsteller sich sorgfältig den Assoziationen seines gebildeten Lesers anpaßt und den Eindruck seiner Worte als Renner seiner Zeitgenossen genau zu berechnen weiß, hat Däubler überhaupt kein Verhältnis zu einem Publikum. Es sei gestattet, in diesem Zusammenhange die Methode Richard Wagners in die Betrachtung zu ziehen. Denn wie man auch über den Künstler Wagner denken mag, jedenfalls ist von dem genialen Regisseur zu erwarten, daß er eine Witterung hat für das, was notwendig ist, um ein genialer Künstler zu sein. Aus einem derartigen Instinkt empfand Wagner das Bedürfnis nach einer Umgestaltung der Sprache und stellte, theoretisch, die Dichtung stets über die Musik. Da nun der Sprache, wie leicht zu erkennen, mit Alliterationen und Stabreimen nicht geholfen war, half er ihr mit einem fremden Mittel, der Musik, und ließ die schlechten Verse singen. Er bewährte sich auch hier als der große Zauberer, der großartige Veranstalter des Gesamtkunstwerks: sein Mittel war ein äußerliches, mechanisches; er hatte eine Transfusion vorgenommen, um aus dem Blute der Musik für die Sprache neues Leben zu gewinnen. Was an Resultaten ästhetisch dabei gelungen ist, kann hier gleichgültig sein; es genügt, die Methode nachzuweisen. Neben diesem Großunternehmer der Kunst steht Däubler wie ein Kind. Aber die Wahrheit hat sich durch ihn, nicht durch den mächtigen 41

Thetraliker kundgetan. Freilich geht auch Däubler gewaltsam mit der Sprache um; doch faßt er sie in ihrem Wesen und bleibt diesem treu. Wagners Gewaltsamkeit richtet sich eigentlich auch nicht gegen die Sprache, sondern gegen die Musik, die als Sockel für das gedankliche Programm herbeigeschleppt wird. Däubler dagegen dringt ganz in die Sprache hinein, um die Schönheit aus ihr zu entfalten. Wagners musikhistorische Theorie, mit der er sein Gesamtkunstwerk legitimieren wollte, weil alle Musik nur gehobene, feierliche Sprache sei, dürfte überhaupt nicht zu dem Schlüsse führen, daß die Musik, die längst selbständig und absolut geworden ist, unter Berufung auf ihre Geschichte wieder zur Sprache werden soll. Denn die (ästhetische) Natur der Musik hat mit ihrer psychologisch-historischen Entstehung nichts zu tun. Hier begegnet Wager die symptomatische Verwechslung der Ewigkeit mit der Steinzeit, während gerade der eminente Historiker Däubler solchen Irrtümern nicht ausgesetzt ist. Er holt vielmehr alles, Farbe, Klang, inhaltliche Beziehung, aus der immanenten Fülle der Sprache heraus. Oft löst er sie vollständig in Klangwerte auf, neben denen der Inhalt nur adminikulierend in Betracht kommt. Die absolute Musik der Sprache, die Farben der Vokale und Konsonanten wirken sich selbst das lebendige Kleid dichterischer Schönheit.

42

Die Sprache des täglichen Lebens wird beherrscht durch den Zweck: sich einem andern verständlich zu machen, eine Gemeinschaft mit ihm herzustellen, die durch eine utilitaristische Absicht ihren Sinn erhält. Das Soziologische der Sprache, die Beziehung ad alterum, der praktische Zweck ist das, was sie häßlich macht. Die Musik ist vor solcher Gefahr leicht bewahrt. In der Sprache des täglichen Lebens aber läßt sich kein M y thos dichten, nicht einmal ein schönes Gedicht; es wird entweder eine Banalität oder eine kunstgewerbliche Leistung. Im „Nordlicht" ist der Naturalismus der Sprache der Absicht nach überwunden. Die Sprache wird völlig zum ästhetischen Mittel, ohne Rücksicht darauf, was die gleichen Worte im täglichen Verkehr an Assoziationen mit sich führen. Ein solches Unternehmen, das eigene Reich der künstlerischen Sprache zu begründen, ist vielleicht das Kühnste und Sensationellste, was in der Geschichte irgendeiner Kunst je erlebt wurde. Das sozusagen grundsätzliche Beispiel der Sprache des „Nordlichts" liegt in der Verwertung des „Ra" als Laut. „Ra" bedeutet den ägyptischen Sonnengott. Aber Ra ist der furchtbare, mystische Schrei, den die Menschheit in der höchsten N o t des Kataklisma ausstößt: Kolossale Bergesrachen Seh ich ganze Meere spein. Alles muß zusammenkrachen, 43

U n d die Menschheit hör ich schrein: „Ra" Als ein Echo ohne Ende H a t der Schrei nun fortgegellt. Wenn die ganze Welt verschwände, Dieser Schrei blieb als die Welt! I I , S. 28.

„Ra" ist wiederzuerkennen in den Worten „Sahara", „Iran", „Ararat", „Tartarus". Es ist ein Reservoir von Gedanken- und Klangwerten, ein Herd, der bis in den einzelnen Vers hinein sein loderndes Feuer bald leuchtend und wärmend, bald sengend und brennend erstrahlen läßt. Oft allerdings fällt diesem Feuer aller übliche Wortgebrauch zum Opfer. Als der Ägypter Chuenaten zu Ra, dem „mannbaren Ra" betet, sagt er am Schlüsse seines Hymnus auf die Brutalität des Lebens, er wolle „der Ra-Wallfahrt alle Altare erraffen". (II, S. 155). Es soll, verständlicher gesprochen, keinen Altar mehr geben, zu dem nicht, dem Ra zu Ehren, gewallfahrtet würde. Aber am Schlüsse seines Dithyrambus wird der Barbar, der da betet, von seinem eigenen Ra-Fanatismus so hingerissen und berauscht, daß der ganze Vers untergeht in einem Wortklang. Dabei ist der kommunikable Sinn nur übertönt, nicht erstickt, wie es denn überhaupt höchst bemerkenswert ist, daß auch in dieser hemmungslosen Hingabe an den Sprachklang die gedankliche Richtigkeit immer gewahrt bleibt und gerade da die tiefsten Gedan44

ken entstehen, wo die Sprache nicht nur sich selber singt und malt, sondern auch sich selber denkt. A m Schluß des Ra-Dramas, nachdem die sinnlose Kraft des von keinem geistigen Ziele geleiteten Sonnenlebens in den schrecklichen Entmannungsorgien auf dem „Fest der Kastraten" (II, S. 162) sich erschöpft und der rasende König Chuenaten seine Hauptstadt Theben in Brand gesteckt hat, richtet der Barbar in der ganzen Konsequenz dieses afrikanischen Wahnsinns seine Wut gegen sich selbst und läßt sich von den Ammonspriestern schlachten. Sein Schrei, während die Priester in seinen Eingeweiden wühlen, ist furchtbar: „Ra! Ra! Fatum, furchtbares Flammenentstammen! Ich selbst bin das Feuer. M a n packt mein Gedärme. Ach, Schmerzbrände züngeln aus zuckenden Schrammen U n d setzen sich fest, und entsetzliche Schwärme V o n Brandfaltern flattern aus brennenden Resten Des Leibes empor und verpesten die Länder! Ach, Papis und ich, alle beide entpreßten Bei widrigen Festen, als Schwärmer und Schänder Der Erde den Sonnengott, trächtig an Schrecken U n d Freund der Kastraten und rastloser Laster! Ra, Ra, D u kannst rasende Schmerzen erwecken! D u siegst, Hascher, Häscher! es wächst das Geknaster Verpraßter Brandgarben. Jetzt wackelt das Pflaster. Dort qualmen die Fackeln. Hier schwirren die Kerzen. Es fallen die raglasterfaßten Pilaster. U n d mir greift von unten jetzt jemand zum Herzen.* I I , S. 188/9. 45

Das Tempo der Stelle ist, dem gräßlichen Vorgang entsprechend, prestissimo; der ganze Vortrag nur für das Ohr und das innere, Farben und Beziehungen erkennende, nicht für das Buchstaben lesende Auge bestimmt. Die Menge der Bilder und Wortzusammenfassungen, die sich mit ihrem Gedankenreichtum in der Verständlichkeit gegenseitig beeinträchtigen, ist durch den künstlerischen Effekt im höchsten Sinne gerechtfertigt. In den rasend schnellen Worten „raglast-erfaßten Pilaster" ist mit beklemmender Anschaulichkeit geschildert, wie die Glut die Pfeiler des Tempels erfaßt und zum Einstürzen bringt; die „Brandfalter" und „Brandgarben" sind prachtvolle Bilder für die Flammen des Feuers. Aber das Wichtige ist, daß hier das Wort restlos zum Mittel künstlerischer Anschaulichkeit geworden ist. Das „Ra" zieht sich als reiner Klang- und Farbenwert durch den zweiten Teil des „Nordlichts" mit immer neuer Wirkung. Wie offenbart es seine Kraft in dem Vers der Iranischen Rhapsodie: Wahrhaftig, der Satan ragt senkrecht zu Tage! I I , S. 313.

und, wiederum anders, da, wo das Mittelmeer als Drache gemalt ist: Gar furchtbar sind des Wasserdrachens Brandungskrallen. I I , S. 332. 46

Die Vorliebe für Worte wie „gar", „trachten" erklärt sich aus der völligen Hingabe an den Sprachklang und die Farbe der Worte. Über die Verwertung der einzelnen Vokale müßten weite Ausführungen gemacht werden. Aber der Reichtum ist übergroß. Man darf von dieser Sprache natürlich nicht sagen, daß sie Assonanzen und Alliterationen übertreibe. Es handelt sich auch nicht mehr darum, einen Vers zu putzen, der auch ohne jenes Ornament bestehen könnte, sondern um das Wesen der Sprache. Für den, der im Ernst alle künstlerische Wirkung aus der Sprache herausholen will, werden Assonanzen, Reime, Alliterationen das Ein und Alles, der Ausdruck ihrer wesentlichen Schönheit, eine herrliche Absage an den Naturalismus des alltäglichen Verständigungsmittels. Für den Dichter gibt es kein anderes Mittel als die Sprache. Däubler ergreift das Mittel mit der Gewaltsamkeit des Künstlers, der eine fiebernde Welt von Visionen in künstlerische Form bringen oder zugrunde gehen muß. Aber seine Gewaltsamkeit ist nur vollkommene Hingabe. Die höchste Selbstbejahung wird zur tiefsten Selbstverneinung, die Selbstverneinung zur Selbstbejahung, das Leben wird aufgegeben, um es zu gewinnen. Es wird sich nie das Ich im Tun verlieren, D r u m holen selber sich die holden Reime, U m unvergleichlich sich mit sich zu zieren. I I , S. 519. 47

II. o enden alle die Widersprüche: die Unmittelbarkeit des deutschen Mystikers und der alles umgestaltende Formendrang des lateinischen Künstlers; die Reflexion des Philosophen und die Unbefangenheit des Dichters; die gläubige Freude an dieser Erde und die Erkenntnis ihrer Relativität; die heftigste Gewaltsamkeit gegen die Sprache und die völlige Hingabe an ihre eingeborne Schönheit? Womit hört dieser Künstler auf, dessen Thema immer ein philosophisches ist, und dieser Philosoph, der nichts sagen kann, was nicht formenstreng gestaltet werden soll? Ziel und Vollendung seiner in artikulierten Worten tönenden Architektur ist das „Nordlicht", der Geist. Nach den langen Wanderungen der Menschheit „naht die Aussaat des Adam der Reife"; nach den eschatologischen Szenen der Auferstehung des Fleisches wird der Norden erreicht. Der „Ararat speit", „Lieder im Seelenschein" werden gesungen, ein „flammender Lavabach" gießt seine Gluten in den unendlichen Raum, Gedichte von unvergleichlicher mystischer Schönheit krönen wie Statuen und Ornamente den 48

Dom des Werkes. So wird der „Geist" gewonnen, der Same der Erde und ihrer Menschheit: Es flammt der Erde Wunderglutenblume A m Pole jetzt in holdem Stolz empor. Sie ist das Blut von jeder Schmerzenskrume, Sie ist der Auferstandnen Geisterchor, Sie öffnet ihre Engelschwingenkrone, D e n Goldkelch selbst, aus O d und Sonnenflor! Der Goldkomet, der Pollen einer Zone Erlöster Männlichkeit, ergießt sich jetzt V o l l Pracht in unsrer Schollen Anemone. I I , S. 595.

Erst nach schaurigen Krämpfen gelingt die Vollendung. Aber der Erfolg ist eine neue Erde. Das Ende ist weder ein Totentanz noch eine Gerichtsszene; die Verklärung liegt im Geist. Die Erde ist vollendet, weil sie ein leuchtender Stern geworden ist; die Menschheit ist vollendet, weil sie den Geist errungen hat. Beides ist Eins, getreu der erdentreuen Gesinnung, die das große Gedicht trägt. Alles was sich in der Geschichte und im Werk ereignet hat, zeigt sich in der verklärten Atmosphäre des Nordlichts noch einmal, der N i l und die Pyramide, die Schlange, Orpheus und Euridike, Augustinus und das Lamm, von dem die Jungfrauen der Alexandrinischen Weihnachtsphantasie gesungen haben, und der Herzog Christus der „drei Ereignisse". Selbst eine der vielen erörternden Darlegungen taucht wieder auf, aber statt der erregten Diskussionen, die arme, wahrheitsuchen49 4 C. Schmitt, Däublers Nordlicht

de Menschen geführt haben, sprechen jetzt die irdische „Flamme" und der himmlische „Glast" in einer gespenstischen Unterhaltung über die letzte Gefahr, die Verwechslung der Liebe mit der Gerechtigkeit, des geistigen mit dem irdischen Glück und Gold. Im letzten Augenblick wirft der Kampf zwischen Süden und Norden, irdischem und geistigem Feuer, noch einmal seinen gelben Schein in die nordlichtdurchstrahlte Nacht; Kain verfolgt den Christen Abel, der Erdenkrieger kämpft mit dem Heiligen und Sanften, der dem heiligen Augustinus für den ersten Bürger der Civitas Dei gegolten hat. Aber die „Kainsschlange" wird gebändigt, der „Sieg über die Angst der Nachtplaneten" errungen; die goldne Hoffnung am Pol betrügt uns nicht. Nicht das Ende oder ein „totes Weiterdrehn" erscheint, sondern die Ewigkeit erweist sich. Tief überwunden sind des Zweifels Schemen, Die Welt versöhnt und übertönt der Geist.

Ein neuer Himmel und eine neue Erde. Das Ich findet sein Weib in den Stürmen der Tartarusnacht. Doch ist die Weiblichkeit rein und unverletzt. Alle Erdenschwere ist überwunden. Die Harmonie der Sphären ertönt in erhabenen Gesängen; das Heer der Sterne singt; Seelen, die sich verkörpern, der Chor der Sonnen- und Sternenkinder. Die tiefe Musik der Sprache, der letzte aller Gedanken spricht sich in einer ergreifenden Schönheit aus, wie sie kein Gedicht der Erde vor50

her gekannt hat. Das Wort wird lebend. Ein Blinder erkennt es zuerst: Die Nordlichtlandschaft überträumt den hehrsten Traum, U n d alle Dinge fangen an, ihr Lied zu singen. Die Dinglichkeit ist tot. Das Wort erfüllt den Raum. I n meinem Wesen höre ich das Weltlicht tönen. Es wiegt sich, fliegt und singt des Sternes heller Schaum, Das Wort kann aus der vollen Mutterwurzel dröhnen. Es singt. Es klingt. Es singt sich selbst. Gebiert die Dichter. Es wird der Geist sich wieder an das Wort gewöhnen. I I , S. 549.

Die Tiefen der Welt und der Seele offenbaren sich in solchen Worten, in einer Sprache, die jede Mittelbarkeit abgelegt hat, um nur noch das Gefäß wunderbarer Bilder und Gedanken zu sein, überirdisch schön und so geheimnisvoll klar, wie die nordlichterleuchtete Nacht. Die Einsicht wird ins Wort gebracht und das Wort enthüllt, was ihm an Erkenntnissen innewohnt. Zwar scheinen die philosophischen Formulierungen, die sich dabei ergeben, einen Logizismus zu enthalten, der mit der mystischen Bildlichkeit in unvereinbarem Widerspruch steht. Doch gehört das zum Wesen des Geistes, der nicht, wie der Sohn, nur liebt, sondern auch erkennt, der, wie Däubler beinahe hegelisch denkt, eine weitere und höhere Stufe bedeutet. Und der Gegensatz verschwindet ja sofort: denn der Panlogismus des Schwaben Hegel ist im Grunde nur Glaube, der Glaube an das menschliche 51 *

Denken, an die Vernünftigkeit alles Seins, an die innere Güte der Natur, an die Menschheit, ihre Geschichte und ihre Entwicklung. Die Universalität, die Geister von der Art Hegels und Däublers auszeichnet und die mit Enzyklopädizität wenig zu schaffen hat, entsteht aus einer grenzenlosen Gläubigkeit. Die wunderbar tiefe Hegelische Lehre von der Negation erklärt am besten sich selbst und ihre eigene Geistesart. Der Panlogiker geht vom Glauben aus, der Geschichtsphilosoph, der Jahrtausende menschlicher Geschichte zusammenrafft, von dem Staunen über die einzelne, konkrete Sekunde. Nichts ist rätselhafter, als gerade diese Sekunde; daß gerade in diesem Augenblicke gerade dieses geschieht, daß gerade jetzt in Venedig der Mond um die hohe Ecke eines gotischen Palastes blickt und eine Frau hinter den Fensterscheiben erscheint 1, daß Chri1

Ein Sonett aus den „Perlen von Venedig" (I, S. 341) ist von dieser Stimmung bis zum Grauen voll und endet in einer plötzlichen erschütternden Erkenntnis dieser unausweichlichen Rätselfülle: Der Efeu dort am gothischen Palaste Verschlängelt sich zum marmornen Balkone. Sein Schattenwesen gleicht einem Spione, Den irgendwie ein Rachewunsch erfaßte. Es ist, als ob er wachsend weitertaste, Um klar zu werden, wer das Schloß bewohne, Und ob sich wirklich ein Verrat verlohne: Er winkt ja schon mit einem freien Aste! Nun blickt der Mond um eine hohe Ecke: Und sieh, ein Weib erscheint hinter den Scheiben, Was hält es dort so bleich an einem Flecke? 52

stus gerade in jenem Jahr und gerade dort Mensch geworden ist. Welch ein Abgrund von Geheimnissen! Und gerade über diese Kinder, die in ihrem Staunen so hilflos waren, kommt die mächtige Kraft, sich in gewaltsamer Abstraktion aus der verzweifelten Lage der Einzelheit zu retten, in Millionen Sekunden den Sinn zu finden, der in keiner einzelnen von ihnen ist und trotz der Sinnlosigkeit des einzelnen Zeitabschnittes an die Fülle der Zeiten zu glauben. Das ist die Bedeutung der Universalität des Nordlichts. Es fängt äußerlich mit der Neuschaffung der Erde an, in Wahrheit aber mit nichts als mit dem Glauben, daß alles gut sei und einen Sinn habe. Das Un-kantische, das Nach-kantische und Vor-sokratische liegt in dem Glauben daran, daß die Natur gut und auch der Mensch „von Natur gut" sei. Er ist gewiß, daß er auf die vertrauensvolle Frage, die er an alles Sichtbare richtet, eine vertrauenswürdige Antwort bekommt; ein Glaube, der sich nicht auf die andern Menschen stützt, kein soziologisches Phänomen, nichts ad alterum, vielmehr etwas, das einsam macht, aber dafür die Welt schenkt. Es fragt immer und überall: was bedeutet dies? und geht immer von seinem Staunen aus, während der Moralist mit der fertigen Antwort kommt, um den Dingen zu lehren, was Der Efeu muß noch viele Zweige treiben, Damit er seinen Rundschaftsgang vollstrecke. Die Dinge sterben ab, die Rätsel bleiben. 53

sie zu bedeuten haben; es beugt sich in Demut vor dem, was ist, vor der Lutherischen voluntas Dei in ipso facto. Wo aber erklärt wird, soll aus der Erklärung die Verklärung folgen. So entstehen im „Nordlicht" die vielen Fragen und Deutungen und ihr großer Zusammenhang. Denn es gibt hier nichts Vereinzeltes und Isoliertes mehr, alles gehört zusammen und ist Ausdruck einer weltumspannenden Gemeinsamkeit. Als auf dem Höhepunkt der menschlichen Leiden, in Indien der Buddha des Mitleids geboren wird, da zeigt sich das in der ganzen Natur, die „Tauben beginnen erweicht zu erbeben" und „da sieht man auf einmal, erstaunt, einen Hasen das Jägervolk auffordern, ihn auszuweiden!" Und die Stunde, in der Christus am Kreuze starb, jene schreckliche Stunde, deren sich die Legende bemächtigt hat, in der irgendwelche heidnischen Schiffer, die an griechischen Inseln vorbeifuhren, den Ruf hörten: „Der große Pan ist tot!" - beschreibt er in all ihrem Schrecken: Die Nacht ist wohl einmal am Tag angebrochen, Das war, als der Heiland am Kreuze erblaßte, D a haben die Felsen die Untat besprochen, M a n sah, wie die Bäume ein Schüttelfrost faßte, M a n sah, wie sie plötzlich die Seele verhauchten, U m nackt, wie das Kreuz, in das Dunkel zu ragen. I I , S. 347.

Aber nicht nur in dieser Stunde, immer war Christus überall: 54

Seit jeher glühte Christus in der Nacht der Erde, Aus jeder Blütenschönheit, die aus Liebe starb. I m Abendwind, aus jeder Dankbarkeitsgebärde Des Baumes, der am Tag sein Feierkleid erwarb: Aus jedem Reh, vor dessen Blick der Jäger zagte, I n allem Kindeslachen ist er hold erwacht! Der Heiland ist der Mensch, der in der Menschheit tagte. I I , S. 448.

In gläubigem Schauen wird die Welt erkannt. Bei einem Künstler, dessen Wesen Intuition ist, kann es nicht anders sein. Soviel die schöne Form bedeutet, soviel an ihr bewußt erarbeitet werden kann, das Wesentliche ist Offenbarung, Geschenk, Gnade. Der Dichter ist nur die Feder eines Andern, der schreibt, eine „Adlerfeder" 2 , ein Werkzeug. Er vollzieht, was ihm befohlen. Wie der heilige Augustinus es sagt: Da quod jubes, jube quod vis.

2 Wie der heilige Johannes der Offenbarung, der Adler, die aguglia Cknsti, wie Dante (Paradiso 26, Vers 53) ihn nennt. Der Held Roland sagt das seinem Oheim, dem Kaiser Karl:

Die Mannen alle stritten Mit Herz und Kopf, ganz Männlichkeit und Frische; Sie sind bereit, auf allen ihren Lebensschritten Sich zu behaupten, festzustehn, als kriegerische Gesellen, überzeugt von ihrem Sein und Schaffen. Doch ich, mein Oheim, bin bloß eine Adlerfeder. Ich kann und will mich nicht dem Schicksalshauch entraffen Und werde nie des großen Geistes Widerreder. Sankt Georg selber wirkt und webt in meinem Wesen. Er hat zu seinem Arm und Degen mich erlesen. II, S. 385/6. 55

A m Ende aller Dinge steht der Geist, die Erkenntnis, die Gnosis, die Visio Dei. Die Zeit und die Weltgeschichte hören auf, das Irdische versinkt nach dem Sprung ins Metaphysische. Die Erde bleibt, sie wird sogar verklärt, aber die nichtigen Wichtigkeiten der Haupt- und Staatsaktionen sind zu Ende. Es gibt keine Weltgeschichte mehr, sobald die Welt erkannt ist. Der Weg, auf dem die Erkenntnis erreicht wird, ist nie der einer bewußten Gewaltsamkeit. Weder dem Fanatismus des Origines, der sich selbst entmannt, noch der schlauen Technik des mechanistischen Zeitalters gelingt der Weg. Die Nacht des Tartarus wird nicht durch den Helden besiegt, der, wie der heilige Georg den Drachen des Mittelmeeres, das Ungetüm mit seinem Schwerte durchstößt. Das Letzte und Entscheidende kann nicht „gemacht" werden. Die Menschen mögen versuchen, der Natur ein Reich der Kultur entgegenzustellen, in dem eine umsichtige Planmäßigkeit Gott und seine Vorsehung ersetzen möchte. Die Natur läßt sich nichts ablisten oder rauben und Gott läßt nicht mit sich handeln. Darum wird das Nordlicht nicht aus eigener Kraft errungen. Ohne mystische Befreiung könnte die Sonne „den Zwangsraum nicht sprengen", Es bliebe bei logischer Zahlenanreihung U n d gäbe nur riesige Lichtellenlängen. I I , S. 317. 56

Die Erde und die Menschheit werden ungeheure Kämpfe, N o t und Angst bestehen müssen, ehe sie ihr Ziel finden. Trotzdem bleibt das Letzte nur Geschenk, Übermaß, Gnade. Das Reich des Geistes ist kein Zukunftsstaat, sondern ein regnum gratiae. Die Gnade schäumt im Urgluttrunke Aus Übermaß ins Weltgericht.

Hier erhebt sich das unlösbarste und unumgänglichste aller Probleme: der Mensch soll tätig sein, aber das Wichtigste erreicht er nur durch die Gnade. Die Natur ist voller Sünde und wird doch verklärt. Das alles ist so unerklärlich wie Gottes Güte und die Leiden dieser Welt. Aber es ist das Problem des Okzidents. Der Orient hat in seiner abstrakten Konsequenz die Erde verflucht, als er ihre Bosheit erkannte; er vermag nicht die Erde zu lieben, er fürchtet oder verachtet sie und möchte sie unterjochen, wenn er nicht aus ihr flieht. Die großen Europäer aber lieben sie und finden sie trotz aller Schrecken gut; sie wollen weder die untätige Verneinung noch den pelagianischen Irrwahn mit seinem rationalistischen Vertrauen auf die eigene Kraft und das eigene gute Werk, sie fassen darum das Schuldproblem nicht moralisch, sondern religiös, ihr Optimismus ist nicht flach im Vergleich zu dem Welt- und Naturpessimismus des Orientalen, sondern - freilich nur bei den Größten - eine höhere Stufe, die Negation jener tiefen, orientalischen Weltverneinung. Es ist das 57

Problem, in dessen Mittelpunkt die erhabenen Erscheinungen Augustinus, Luther und Pascal stehen. Theodor Däublers Nordlicht aber endet in diesem okzidentalischen der Geistesprobleme, es mündet, nach einem wilden und großartigen Lauf, als ruhiger, mächtiger Strom in dem europäischen Meere von Gedanken, das eingeschlossen ist in den beiden Worten: Natur und Gnade.

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III. as „Nordlicht" ist das Gedicht des Okzidents. Sein Schicksal ist mehr als die Schicksale, die Bücher sonst haben können. In den Tagen, da die europäische Welt sich selbst zerfleischt, wird diese Dichtung bekannt; in den Jahren, die materiell und metaphysisch die Verwüstung ermöglichten, ist es entstanden. Wie alles, was ein böses Gewissen hat, weidete sich diese Zeit solange an dem Räsonnement ihrer Problematik, bis die Gewissensregungen aufhörten und sie sich wohlfühlen konnte, weil es jedenfalls interessant war. Dies Zeitalter hat sich selbst als das kapitalistische, mechanistische, relativistische bezeichnet, als das Zeitalter des Verkehrs, der Technik, der Organisation. In der Tat scheint der „Betrieb" ihm die Signatur zu geben, der Betrieb als das großartig funktionierende Mittel zu irgendeinem kläglichen oder sinnlosen Zweck, die universelle Vordringlichkeit des Mittels vor dem Zweck, der Betrieb, der den Einzelnen so vernichtet, daß er seine Aufhebung nicht einmal fühlt und der sich dabei nicht auf eine Idee, sondern höchstens ein paar Banalitäten beruft und immer nur geltend macht, daß alles sich glatt und ohne unnüt59

ze Reibung abwickeln müsse. Der Erfolg des ungeheuren materiellen Reichtums, der sich aus der allgemeinen „Mittel"barkeit und Berechenbarkeit ergab, war merkwürdig. Die Menschen sind arme Teufel geworden; „sie wissen alles und glauben nichts". Sie interessieren sich für alles und begeistern sich für nichts. Sie verstehen alles, ihre Gelehrten registrieren in der Geschichte, in der Natur, in der eigenen Seele. Sie sind Menschenkenner, Psychologen und Soziologen und schreiben schließlich eine Soziologie der Soziologie. Wo irgendetwas nicht ganz glatt sich abwickelt, weiß eine scharfsinnige und flinke Analyse oder eine zweckmäßige Organisation den Mißstand zu beheben. Selbst die Armen dieser Zeit, die Menge Elender, die nichts ist, als „ein Schatten, der zur Arbeit hinkt", Millionen, die sich nach der Freiheit sehnen, erweisen sich als Kinder dieses Geistes, der alles auf die Formel seines Bewußtseins bringt und keine Geheimnisse und keinen Uberschwang der Seele gelten läßt. Sie wollen den Himmel auf der Erde, den Himmel als Ergebnis von Handel und Industrie, der tatsächlich hier auf der Erde liegen soll, in Berlin, Paris oder New York, einen Himmel mit Badeeinrichtungen, Automobilen und Klubsesseln, dessen heiliges Buch der Fahrplan wäre. Sie wollen keinen Gott der Liebe und Gnade, sie hatten soviel Erstaunliches „gemacht", warum sollten sie nicht den Turmbau eines irdischen Himmels „machen". Die wichtigsten und 60

letzten Dinge waren ja schon säkularisiert. Das Recht war zur Macht geworden, Treue zur Berechenbarkeit, Wahrheit zur allgemein anerkannten Richtigkeit, Schönheit zum guten Geschmack, das Christentum zu einer pazifistischen Organisation. Eine allgemeine Vertauschung und Fälschung der Werte beherrschte die Seelen. A n die Stelle der Unterscheidung von gut und böse trat eine sublim differenzierte Nützlichkeit und Schädlichkeit. Die Verwechslung war schauerlich. Für den, der ihre verheerende Macht erkennt, scheint die Erde zur knirschenden Maschine geworden. Ein Bild, das in anderen Zeiten aus der unbeschreiblichen Angst vor der unentrinnbaren Macht des Bösen geboren ist, taucht auf wie eine Prophezeiung, die sich nunmehr erfüllt: der Antichrist. Was ist das Grausige an ihm? Warum ist er mehr zu fürchten als ein mächtiger Tyrann, als Timur Lenk oder Napoleon? Weil er Christus nachzuahmen weiß und sich ihm so ähnlich macht, daß er allen die Seele ablistet. Er wird sich freundlich, korrekt, unbestechlich und vernünftig zeigen, alles wird ihn als Glück der Menschheit preisen und sagen: ein großartiger und gerechter Mensch! EHt Omnibus sub dole placidus, munera non suscipiens, personam non praeponens, amabilis omnibus , quietus universisy xenia non appetens, affabilis apparens in proximos, ita ut beatificent eum homines dicentes:

justus homo hic est So schildert ihn der PseudoEphraem i n den dictis sancti Effrem , define mundi 61

et consummatio saeculi et conturbatio gentium. Seine geheimnisvolle Macht liegt in der Nachahmung Gottes. Gott hat die Welt erschaffen, er macht sie nach; Christus wird als Sohn der Jungfrau geboren, vom Antichrist sagen ältere Autoren das gleiche. Der unheimliche Zauberer schafft die Welt um, verändert das Antlitz der Erde und macht die Natur sich Untertan. Sie dient ihm; wofür ist gleichgültig, für irgendeine Befriedigung künstlicher Bedürfnisse, für Behagen und Komfort. Die Menschen, die sich von ihm täuschen lassen, sehen nur den fabelhaften Effekt; die Natur scheint überwunden, das Zeitalter der Sekurität bricht an; für alles ist gesorgt, eine kluge Voraussicht und Planmäßigkeit ersetzt die Vorsehung; die Vorsehung „macht" er, wie irgendeine Institution. Er weiß im unheimlichen Kreisen der Geldwirtschaft unerklärliche Werte zu schaffen, er trägt aber auch höheren kulturellen Bedürfnissen Rechnung, ohne sein Ziel zu vergessen. Denn er weiß jede Wahrheit dadurch ad absurdum zu führen, daß er sie von einem widerlichen Radoteur vorbringen läßt und hält auf der anderen Seite seine Conferenciers, die über Religion, Kunst und Philosophie elegant dozieren und deren geschickter Analyse kein Heiliger und kein Held, auch nicht Christus am Kreuze entgeht... Kein Glaube kann ihnen widerstehen; sie zermürben einem die Sprache im Munde, weil sie den Logos nicht sehen wollen; sie fühlen sich überlegen, weil sie Skepti62

ker sind. Die Menschen glauben ihnen, daß alles in der Welt eine durchaus menschliche Sache ist und man sich vor Großartigkeit und Feierlichkeit nicht bange machen dürfe. Die Verwirrung wird unsäglich: der Affe beweist, daß er vom Menschen abstammt und beruft sich darauf, daß die Affenähnlichkeit des Menschen größer ist als die Menschenähnlichkeit des Affen. Das kann niemand widerlegen. Der fabelhafte Erfolg ist gleichfalls unwiderleglich: große Städte, Luxusdampfer und Hygiene; aus dem Kerker der Seele ist ein behaglicher Sommersitz geworden. Und schließlich die Krönung des Werkes in der großartigen Technik: der Mensch kann fliegen, körperlich fliegen. Wer die moralische Bedeutung der Zeit ahnte und gleichzeitig sich als Kind der Zeit wußte, konnte nur Dualist werden. Ein kluger Kritiker der Zeit fand den Gegensatz von Mechanik und Seele. Aber er kannte die Realitäten des menschlichen Lebens so gut, daß die arme Seele in ihrer ganzen Hilflosigkeit dastand. So hätte nur eins bleiben können: mit dem Gnostiker Marcion die Welt restlos als Werk des Teufels zu erklären, in der ewig die Geistlosigkeit über den Geist triumphieren wird. Hier liegt die Wurzel der Angst, es könnte „das Weltall für ewig mißraten" sein und keinen Sinn und Zweck haben, etwas Gutes und Rechtes zu wollen; Gott wäre hilflos, machtlos; die ganze Weltgeschiche ein Gassenhauer, den irgendein alberner Schlingel auf einem verstimmten 63

Instrument spielt, die Welt wäre unrettbar verpfuscht; die elende Nachäffung eines erhabenen Bildes, die Kreatur eines frechen Plagiators, der den Plan des großen Werkes gestohlen und eine Fratze daraus gemacht hat; eine Schöpfung des Affen Gottes. Uns wäre dann nicht zu helfen, wir müßten sehn, aus dem Gefängnis zu entrinnen, um wenigstens die Seele zu retten. Ein eschatologisches Entsetzen hatte viele ergriffen, bevor die Entsetzlichkeiten des Weltkrieges Realität geworden waren. Die Skeptiker aber, deren Verstand jeder Apokalyptik fremd, deren Geist aber nicht klein genug war, um das Treiben mitzumachen, klagten, daß der Zeit die Seele fehlte. Ecce saeculum. In ihm entstand Däublers „Nordlicht". Es ist so tief, wie die Zeit flach, so groß, wie die Zeit klein, so voll des göttlichen Geistes wie die Zeit leer davon; die Kompensation des Zeitalters der Geistlosigkeit; mehr als ein Buch der Zeit: das Buch des Aeons. Es hält dem mechanistischen Zeitalter das Gegengewicht. Nicht die Frucht der Zeit, wie Dantes Divina Commedia, die als Ausdruck der Zeit neben anderen, wenn nicht gleichwertigen, so doch ebenbürtigen Werken besteht, neben der Summa des heiligen Thomas von Aquin oder der mittelalterlichen Mystik west- und süddeutscher Theologen. Auch nicht als bewußte Opposition, wie ein tertullianischer Ausfall oder eine Rousseausche Predigt der Rückkehr zur Natur, auch keine Rathenausche „Kritik 64

der Zeit". Es bedeutet die in einem großen Kunstwerk inkarnierte Polarität einer geist- und kunstlosen Welt. Es trägt in sich das ganze Gewicht des geistigen Ausgleichs einer Welt, die der Geist verließ. Darin liegt die Beziehung des Werkes zur Zeit, also seine Aktualität. Daß es mit der Aktualität eines Zeitgedichtes oder Haßgesanges nichts zu tun hat, versteht sich von selbst. Dergleichen ist Funktion und Geschöpf der Zeit. Es gibt aber auch eine imposante Form der Aktualität, die des begeisternden Schlagwortes, das die Menschen wachruft und unter dem sie sich sammeln. Doch ist auch davon nicht die Rede, obwohl im „Nordlicht" so starke Elemente einer apokalyptischen Stimmung enthalten sind, daß es wohl eine religiöse Epidemie hervorrufen könnte wie das Lied c ymedia in vita im Mittelalter zur Zeit des schwarzen Todes. Sondern die Aktualität beruht auf dem Verhältnis zum innersten Wesen der Zeit, dessen großartige Verneinung dieses Werk ist. Nachdem Relativismus und Analyse so fundamental gewirkt hatten, daß der Zweifel sich selbst aufrieb und der Zweifel auftauchte, ob der Zweifel auch gründlich genug sei, - der Punkt, an dem der Zweifler, um nicht glauben zu müssen, anfing, witzig zu werden und zweifelte, ob sein Zweifel der letzte und tiefste wäre, weil er ja sonst nicht der tiefste wäre - erscheint das „Nordlicht" als die Negation der letzten und universalsten aller Negationen. 65 5 C. Schmitt, Däublers Nordlicht

Es ist so aktuell, wie jede unerhörte Tat in der Welt des Geistes. Ob in ihm ein deutliches kritisches Bewußtsein der Gegenwart lebt, wäre dabei von nebensächlichem Interesse, ein derartiges Bewußtsein wäre auch nicht wahrscheinlich, weil die Zeit mit einer Kritik nicht überwunden wird. Selbst die Intensität des Gegenwartsgefühles braucht mit der objektiven Bedeutung für die Gegenwart nicht notwendig verbunden zu sein. Es ist eine für Geister mindern Ranges typische Verwechslung, daß sie aus der Heftigkeit ihres Affektes auf die ästhetische oder historische Wichtigkeit seiner Äußerung, aus ihrem Ehrgeiz auf ihre Kraft, aus ihrer libido auf ihre Potenz schließen. Trotzdem aber eine kritisch-historische Stellungnahme zur Gegenwart im „Nordlicht" nicht zu finden ist und sein Interesse an der Gegenwart nicht unmittelbarer zu sein scheint, als das an anderen Perioden, an Ägypten, Indien oder Rom, erkennt und malt es die Gegenwart ergreifender, als ein kritischer Historiker das vermöchte; es durchschaut sie mit der intuitiven Klarheit einer hellsehenden Vision. Der Geist des mechanistischen Zeitalters tritt im „Nordlicht" in einem Bilde auf, in dessen Rahmen eine Fülle epischer Lebendigkeit gepreßt ist (Nordlicht II. Teil, S. 477 - 481): der Verstand macht sich von allen Fesseln frei und geht ungehemmt seinem Rationalismus nach; sein Ziel ist, die Erde zu erkennen, um sie zu beherrschen. Das 66

Gold wird zum Geld, das Geld zum Kapital und nun beginnt der verheerende Lauf des Verstandes, der alles in seinen Relativismus hereinreißt, den Aufruhr der armen Bauern mit Witzen und Kanonen höhnisch niederschlägt und endlich über die Erde reitet als einer der apokalyptischen Reiter, die der Auferstehung des Fleisches vorauseilen. Riesige Eisenspinnen, „mechanisch flinke Eisenfluggebilde" läßt er in der gequälten Menschheit wüten, die Eisenrüssel „durchbohren manches Herz" und Gifthauche verwirren Die Hirne der Verzweifelnden, die Gott verläßt! 1 1

Die Szene (Nordlicht II, S. 477) ist, im großen Zusammenhang des Werkes betrachtet, näher erklärt, folgende: Bevor die Menschheit aus dem Schacht des Ararat, in dem sie begraben liegt, aufersteht, vor der Nacht des Tartarus, in der das Nordlicht erscheint, treten drei Reiter als Vorboten des Weltendes auf. In drei Bildern, die jedesmal eine Menge unheimlicher Geschehnisse zum Inhalt haben, werden sie dargestellt als Verzerrungen von Ideen und Gestalten, die bisher im „Nordlicht" wirksam waren. Das erste Bild, die Lustseuche, gibt die Mißgestalt der Erdenfreude, der Sinnlichkeit (die ein Werk der Sonne ist), wie sie im Ra-Drama (II, S. 155) großartig tobte, und in den „Drei Ereignissen" (II, S. 449/451; S. 458) noch einmal ausbrach, als es zum Hexensabbath ging. Als zweiter tritt der Rationalismus auf; der Verstand, der sich nicht mehr um die Vernunft und die Seele kümmert. Er verachtet alle spekulativen Ideen, die tausend schönen Träume und Weltsysteme, die Sagen und Tempel, und erklärt alles das für „Spinnen menschlichen Geredes" (das heißt: er analysiert und treibt eine Kritik der Sprache). Mit seiner plausiblen Zweckmäßigkeit macht er sich die Erde dienstbar. Ursprünglich stand er mit der Vernunft im Bunde, er war der „Bruder", der starke, mächtige Helfer, der „Bruder", dessen männliche Tatkraft in Iran den Staat gegründet und den Aufruhr der Unterschichtenvölker niedergeschlagen hatte 67 *

So haust er ärger als die Pest, er zerbricht die Gewissen, vernichtet das Christentum und begreift die Welt wie ein Polyp, indem er sie umklammert und aussaugt. Er ist Zutreiber, Pesthauch und Rezeptverschreiber: Auf bares Geld hat er das Erdschicksal gestellt. Hier herrscht der Schrecken vor der entsetzlichen Macht und Unwiderleglichkeit dieses Utilitarismus. Aber als die Nacht des Tartarus anfängt zu dämmern, beginnt der Schrecken zu schwinden, der Trug wird durchschaut. Die innerliche Verlogenheit kriecht offen herum wie (II, S. 277, 296). Er ist abhängig vom „Ich", von der Vernunft, er hängt als Pendel in der Vernunft, wie alle Relativität in irgendeinem Absoluten. Nun aber will er frei werden und seinen eigenen Weg gehn. Er verlangt gleich das nötige Kapital, um sich den Stein der Weisen — das Geld — zu verschaffen, er nimmt Eheringe, Kruzifixe, ja, aus dem Schatze des Fürsten tausend Dukaten, die ihm das „Ich" überläßt, obwohl sie veruntreut sind. Kaum hat er das Geld, so helfen ihm auch schon tausend Gnome und Kobolde. Er treibt Steuern ein, erklärt dem „Ich" die Naturgesetze und demonstriert, wie die Erde alles packt und alle Individualität in der Naturgesetzlichkeit vernichtet wird. So wird er immer frecher und dreister. Der Fürst, dem das Geld entwendet ist, erscheint; aber der Verstand läßt sich nicht irre machen, weist stolz auf seine Erfolge hin und nimmt schließlich dem Fürsten selbst den Ring vom Finger, um ihn zu Geld zu machen. Das „Ich" dient ihm nur noch „zur Herstellung des Ganzen". Die ausgebeuteten Bauern kommen zum Fürsten und beklagen sich; aber ihr Aufruhr wird schnell niedergeschlagen; sogar die Eheringe und die Festgewänder werden ihnen abgenommen. Nun ist er auf dem Höhepunkte seiner Macht; er sitzt auf einem weißen Pferd und wirft Eisenungeheuer in die Menschheit. - Im dritten Bild rächt sich die beleidigte Natur; der Aufruhr bricht los und beginnt, wie jede Revolution, mit der „Rückkehr zur Natur" und der Berufung auf ein „Naturrecht". 68

Kraken, die durch Trug zusammenhaften, Denn Falschheit muß ihr Fleisch und Mark ersetzen. I I , S. 500.

Das Chaos stürzt in sich zusammen; „der Irrtum faßt sich schon in tausend Köpfen", die Zeit ist ja „so falsch, daß sie sich kennen muß" (II, S. 541); Die Schlangen zischen sich ringsum entgegen, D a eine stets die andere verneint. I I , S. 598.

Jetzt, am Schluß, als das Nordlicht bereits gewonnen ist, wird der arme Mensch dieser gottlos und irrsinnig arbeitenden Zeit noch einmal wie aus der Ferne erblickt: Der Mensch ist eine welke Klette! Schmarotzerrot keucht der Kaukasier hin U n d baut sich emsig gelbviolette Städte. I I , S. 601.

Solche Äußerungen, die auf die Gegenwart bezogen werden können, halten sich aber durchaus in der Linie des Werkes. Die Gegenwart, das heißt ihre künstlerisch gestaltete Gesamtimpression, bleibt ein Kompositions- und Stimmungselement in dem Bilde der Nacht des „Tartarus". Sie drängt sich nicht vor. Keine spezifische Erregung gegenüber dem, was heute und gerade mir in realitate geschieht, keine Sensation der konkreten Stunde mit ihrem Mangel an Distanz und Horizont. Das 69

mechanistische Zeitalter ist so objektiv „getroffen", wie die Atmosphäre des Niltals im Ra-Drama oder der kulturhistorische Komplex Iran. Es ist schwer zu glauben, daß irgendein Mensch den Dualismus, die Folge der Selbstzerreißung unserer Gegenwart, tiefer empfunden hätte, oder irgend jemand so elementar vor ihrer Häßlichkeit erschrocken wäre, wie der Dichter, der jene Eisnacht heraufbeschworen hat, die dem Erscheinen des Nordlichts vorhergeht. Aber er bleibt nicht bei dem Dualismus. Die schreckliche Nacht ist notwendig, um das irdische Licht und die irdische Sonne zum Geist zu drängen. Der Geist besiegt den Zweifel; die letzte Negation ergibt die Überwindung aller Relativität, die Transzendenz. Daraus folgt, daß in dem Werke eine Stimmung nicht aufkommen kann, die heute viele der Besten beherrscht: das menschen- und weltkennerische Mißtrauen gegen die Welt und jeden Menschen; dann das bange Gefühl ewigen Betrogenseins und schließlich der Zweifel, ob Christus und der Antichrist überhaupt noch zu unterscheiden sind. Weil das fehlt, ist das „Nordlicht" mehr als die Zeit, aber für die, denen ihre eigene Krankheit interessant ist, nicht das Buch, das sie sich wünschen. Sie wollen sich selbst beschrieben sehen, von ihrem Zweifel sprechen hören und weiter zweifeln; denn sie lieben im Grunde ihren Zustand und geben sich ihm resigniert hin, um nicht zu einer Tat verpflichtet zu sein. Sie wollen nicht die Ge70

wait gebrauchen, die dazu gehört, das Himmelreich an sich zu reißen. In ihrer Mitte steht das Nordlicht wie ein erratischer Block. Eine große geistige Leistung war ihnen längst ein casus mere metaphysicus geworden; nun, da der Geist weht, empfinden sie den Weltorkan als Barbarei. Er „sprengt die Gesetze". Aber die Menschen halten sich an das, was sie verstehen und bezeichnen seine Äußerungen als dilettantisch, mit der Überlegenheit des Kunstgärtners, der den Kaukasus für eine gutgemeinte, aber geschmacklose Anlage erklärt. Schriftsteller, deren Kunst ein „geputzter Sparsinn" ist, werden diese wilde Verschwendung von Kraft und Schönheit unvornehm nennen. Sie paßt nicht zu dem kleinlichen Schnitt intellektueller Kleinkapitalisten. In den Ziergärten der allgemeinen Bildung und des guten Geschmacks, unter den Dächern von Verbänden und Konventionen zum Schutze des geistigen Eigentums erscheint dieses Werk als unglaublich, unerhört, ein portentum. Es ist der Fall eingetreten, der sich für jeden Philosophen eigentlich von selbst verstand: für alles hatte man Verständnis, die Toleranz in Angelegenheiten der Kunst war grenzenlos, jedem, der sich an sie heranmachte, war eine Stiftung und eine Seminarabhandlung sicher. Für den Fall, daß Genies verkannt würden, waren eigene Veranstaltungen vorgesehen, bis die Menschen sich einbildeten, sie hätten auch hier die Vorsehung „ge71

macht" und es sei heute ausgeschlossen, daß ein bedeutender Künstler unbeachtet bleibe. Die Menschen hatten auch völlig recht mit ihren klugen Organisationen. Bis auf den Fall, auf den es allein ankommt.

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Nachträgliche Anmerkungen Seite 19, Zeile 14. Der zweite Teil des Nordlichts beginnt mit dem Kataklisma. Der erste, „Das Mittelmeer", enthält die Wanderungen des „Ich" durch Italien: das noch egozentrische Ich erlebt (mit biographisch-anekdotischem Einschlag) die höchsten Mittelmeerpotenzen. Am Schluß des ersten Teiles wird es durch den Tod des Weibes, das mit dem Kinde stirbt, aufgehoben. Aber die Wogen dieser Katastrophe im Einzelschicksal schlagen anapästisch mit den Wogen des Kataklismas der Erde zusammen. Das Ich, das nach dieser Sündflut den Weg fortsetzt, ist nicht mehr ein Einzelner, sondern ein Exponent der Erd- und Menschheitsgeschichte. Seite 19, Zeile 18. Es ist mir bekannt, daß die Ägyptologen es heute vorziehen, Re zu schreiben. S e i t e 2 0 , Z e i l e 2 9 . Die indogermanische Vorliebe für die Silbe „Ar" konstatiert und belegt Spiegelm seiner Eranischen Altertumskunde (I, S.481). Seite 28, Zeile 17. Nordlicht II, S.246 (Ein Krüppel spricht zum Ich): Ich bin bereits dereinst ein Bettelmönch gewesen, Mein Leib verkam, doch ließ die Seele sich nicht beugen, Dafür muß jetzt mein Leib lebendig halb verwesen. Ich habe meinen Mord vielleicht noch zu begehen Und werde als Vampir die Nächte bleich durchschleichen, Ich muß die Marterqual wahrscheinlich einst bestehen Und soll, verflucht, als Spuk mein Ziel zuletzt erreichen. S e i t e 3 1 , Z e i l e 8 . Im letzten Teil der „Alexandrinischen Phantasie" tagt eine tausendjährige Nacht. Im Frühlicht des neuen Weltenmorgens tötet der christliche Georg den Mittelmeerdrachen und befreit Angelika (Andromeda). Der folgende Sang, Roland, bringt eigentlich nur die Übersetzung ins Historische, die Vollstreckung auf Erden (der Held Roland, der Degen des heiligen Georg, besiegt die Sarazenen, Europa siegt über Afrika). In den „drei Ereignissen" 73

spaltet sich die Entwicklung: das Weib wird Madonna (das als „schwäbische Madonna" berühmte Mariengedicht, II, S.442, liegt in diesem Zusammenhange) und wird zugleich Hexe. Seite 37, Zeile 8. Die Totentänze (II, S.20 - 37, S.106 - 115, S.139 - 147), die 1904 geschrieben sind, kann man als erste und einzige sprachfuturistische Leistung auffassen. (Der testamentarische Totentanz ist ganz im Kinotempo zu lesen.) Übrigens ist das Futuristische im „Nordlicht" nur eine Episode. Seite 47, Zeile 2. So erklärt sich auch die Übernahme einzelner Worte aus fremden Sprachen, z.B. die prachtvolle Bildung „Araratserak" (II, S.320), die das französische serac (Firnblock auf Gletschern) verwertet. Seite 47, Zeile 27. Die dort zitierten Verse sind ebenfalls dem Gedichte „Der Ausbruch" (II, S.517 - 521) entnommen, einem Gedicht, in dem sich alle Metaphysik des Reimes zu offenbaren scheint. Auch hier bewährt sich die beispiellose historische Intuition: Ovid, Virgil, Horaz werden erblickt (Ovid ist in der Tat der erste Dichter, der die Bedeutung des Reimes geahnt hat); mit Dante, dem größten Genie des Reimes, schließt das Gedicht. Seite 53, Zeile 14. Aus dem Gedicht „Was?" (II, S.525): Was, oh was? ich horche ja! Horche manchem Leben, Bin dem Winde immer nah, Winde mich zum Nichts zurück, Selbst mich zu erheben: Trachte, als von Gott ein Stück Frei vor Gott zu beben! Seite 60, Zeile 16. Aus dem Gedicht „Die Apokalypse" (II, S.473): Mein Grab ist keine Pyramide, Mein Grab ist ein Vulkan! Das Nordlicht strahlt aus meinem Liede, Schon ist die Nacht mir Untertan. Verdrießlich wird mir dieser Friede, Der Freiheit opfre ich den Wahn. Die Künstlichkeit, durch die wir uns erhalten, Den Ararat, wir meine Glut zerspalten!

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