Plotins Unsterblichkeitslehre und ihre Rezeption bei Porphyrios 9783898214443, 9783838254449, 3898214443, 9783898214445

Alexander Pletsch setzt sich mit den Einsichten des Neuplatonikers Plotin (205-270) in das Wesen des menschlichen Selbst

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Plotins Unsterblichkeitslehre und ihre Rezeption bei Porphyrios
 9783898214443, 9783838254449, 3898214443, 9783898214445

Table of contents :
Vorrede
Inhaltsverzeichnis
Verzeichnis der Abkürzungen
Literaturverzeichnis

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Plotins Unsterblichkeitslehre und ihre Rezeption bei Porphyrios

Inauguraldissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität zu Heidelberg

vorgelegt von Alexander Pletsch aus Brühl/Rheinland

Heidelberg 2002

Alexander Pletsch

Plotins Unsterblichkeitslehre und ihre Rezeption bei Porphyrios

ibidem-Verlag Stuttgart

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the Internet at http://dnb.d-nb.de.

Dieser Titel ist als Printversion im Buchhandel oder direkt bei ibidem (www.ibidem-verlag.de) zu beziehen unter der ISBN 978-3-89821-444-3.



ISBN-13: 978-3-8382-5444-9 © ibidem-Verlag

Stuttgart 2012 Alle Rechte vorbehalten Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und elektronische Speicherformen sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. All rights reserved. No part of this publication may be reproduced, stored in or introduced into a retrieval system, or transmitted, in any form, or by any means (electronical, mechanical, photocopying, recording or otherwise) without the prior written permission of the publisher. Any person who does any unauthorized act in relation to this publication may be liable to criminal prosecution and civil claims for damages.

Magistris bonis

7

Vorrede Das vorliegende Buch ist die für den Druck leicht überarbeitete Fassung meiner Inauguraldissertation, die im Sommersemester 2002 der Philosophischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität zu Heidelberg vorlag. Dank sagen möchte ich meinen akademischen Lehrern, den Herren Professoren K. Bormann, K. Düsing, J. Halfwassen, E. Vollrath, A. Zimmermann und J. Aertsen (Philosophie), C. Zintzen, P. Frisch, P. Wülfing und W. Ax (Latein) sowie B. Manuwald und M. Gronewald (Griechisch). Ein eigener Dank gilt meiner ersten Lehrerin der Philosophie, Frau Adelheid Kegler. Herr Prof. Dr. Karl Bormann eröffnete mir auf einzigartige Weise die antike Welt. Herr Prof. Dr. Klaus Düsing brachte mir besonders die Philosophie Immanuel Kants und des Deutschen Idealismus nahe und ermöglichte mir, das erste philosophische Examen inhaltlich nach meinen Vorstellungen zu gestalten. Herr Prof. Dr. Jens Halfwassen war seit Beginn des Studiums mein Lehrer. Er regte die vorliegende Arbeit, die in Köln begonnen und in Heidelberg abgeschlossen wurde, an und begleitete ihre Entstehung durch alle Phasen hindurch mit großem Interesse, wertvollen Hinweisen und weiterführenden Gesprächen. Ohne diese Unterstützung hätte die Abhandlung nicht zu dem werden können, was sie jetzt ist. Für manche im Dialog erfahrene Anregung danke ich Herrn Prof. Dr. H. Görgemanns und Herrn Prof. Dr. J.P. Schwindt sowie Herrn PD Dr. W. Mesch, der als ausgewiesener Kenner der Materie auch als Zweitgutachter wirkte. Ich danke der Studienstiftung des deutschen Volkes, als deren Stipendiat ich an einer Reihe anregender, interdisziplinärer Diskussionen teilnehmen konnte. Dem ibidem-Verlag gebührt Dank, da er die Veröffentlichung meines Manuskripts möglich gemacht hat.

Hemsbach, im September 2005 A.P.

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Inhaltsverzeichnis

Seite

Verzeichnis der Abkürzungen

10

Einleitung

11

Die Exposition des Problems

15

I. Teil: Plotins Unsterblichkeitslehre

17

1. Die Argumente gegen die Körperlichkeit der Seele

17

§ 1: Das Wesen des Körpers § 2: Das wahre Selbst des Menschen § 3: Die einfachen Körper oder Elemente als Seelensubstanz § 4: Die Seelenlehre der Atomisten § 5: Die stoische Pneuma-Seele I § 6: Die stoische Pneuma-Seele II § 7: Die Seele als Bewegungsprinzip § 8: Die Seele als Wachstumsprinzip § 9: Die Seele ist ohne Quantität § 10: Die Bedeutung der Seele für die sinnliche Wahrnehmung § 11: Die Lehre von der διάδοσις § 12: Die Unkörperlichkeit der Seele als notwendige Bedingung für Denken und Wissen § 13: Die Unkörperlichkeit der Tugenden, des Schönen und der denkenden Seele § 14: Die Spontaneität der Seele § 15: Zu der Einheit von Seele und Körper § 16: Die notwendige Ordnung von ἕξις, φύσις, ψυχή und νοῦς 2. Die Seele ist kein Epiphänomen des Körpers § 17: Die Seele als Harmonie § 18: Die Seele als Entelechie

17 23 26 33 37 43 45 47 49 54 61 69 73 77 81 88 95 95 98

9 3. Die Unsterblichkeit der Seele § 19: Plotins Unsterblichkeitsbeweise: Einleitung § 20: Platons Argumente für die Unsterblichkeit der Seele im Phaidon (a) Die Entstehung aller Dinge aus ihrem Gegenteil (70 c 4 – 72 d 10) (b) Lernen bedeutet Wiedererinnerung (72 e 1 – 77 b 1) (c) Die Ähnlichkeit der Seelen und der Ideen (78 b 4 – 84 b 7) (d) Die Einwände des Simmias und des Kebes (85 e 1 – 88 b 8) (e) Der Beweis der Unsterblichkeit aus dem Wesen der Seele (102 a 11 – 107 b 10) § 21: Der Unsterblichkeitsbeweis im Phaidros (245 c 5 – 246 a 2) § 22: Der Unsterblichkeitsbeweis in der Politeia (608 d 3 – 611 b 10) § 23: Das Wesen des Göttlichen und die Ähnlichkeit der Seele mit ihm § 24: Die Unsterblichkeit der Seele § 25: Der Abstieg der Seele § 26: Die Unsterblichkeit der irrationalen Seelen

II. Teil: Die Rezeption der Unsterblichkeitslehre Plotins bei Porphyrios

101 101 103 103 106 109 110 122 127 132 133 149 153 159

165

§ 27: Einleitung § 28: Die Nymphengrotte § 29: Über die Enthaltsamkeit § 30: Sententiae ad intelligibilia ducentes § 31: Ad Marcellam

165

§ 32: Rückblick und Ausblick

217

Literaturverzeichnis

169 176 200 209

223

10

Verzeichnis der Abkürzungen

A&A AGPh

Antike und Abendland Archiv für Geschichte der Philosophie

AJPh ANRW

American Journal of Philology Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt

ARW CAG CQ DK

Archiv für Religionswissenschaft Commentaria in Aristotelem Graeca Classical Quarterly Diels-Kranz (Die Fragmente der Vorsokratiker)

FS HWPh JACh JHPh JHS LEPh MH Ph RAC RE REG

Festschrift Historisches Wörterbuch der Philosophie Jahrbuch für Antike und Christentum Journal of the History of Philosophy The Journal of Hellenic Studies Les Etudes philosophiques Museum Helveticum Philologus Reallexikon für Antike und Christentum Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft Revue des Etudes Grecques

RhM SVF VChr

Rheinisches Museum Stoicorum Veterum Fragmenta Vigiliae Christianae

WdF ZphF

Wege der Forschung Zeitschrift für philosophische Forschung

Hervorhebungen in Zitaten antiker Autoren stammen von mir. Hervorhebungen in Zitaten moderner Autoren stammen vom zitierten Autor.

11 Einleitung

Die Frage nach dem Wesen der Seele – nach ihrer Körperlichkeit oder Unkörperlichkeit, ihrer Selbständigkeit oder Abhängigkeit vom Körper, ihrer Vergänglichkeit oder Unvergänglichkeit und nach hiermit zusammenhängenden Problemen – ist von überzeitlichem Interesse. Daher ist es nicht erstaunlich, daß sie in der europäischen Geistesgeschichte1 seit den frühgriechischen Anfängen immer wieder gestellt wurde.2 Im Rahmen der zunehmenden Ausbildung der Einzelwissenschaften wurde die Psyche sogar der Gegenstand einer eigenen Disziplin (wobei jedoch heute nicht unbedingt das Wesen der Seele selbst und sich daraus ergebende Maximen für die Praxis im Zentrum „psychologischer“ Untersuchungen stehen müssen; vielmehr können sich Forschungen z.B. auch auf die empirische Entwicklung und auf das beobachtbare und meßbare Verhalten einzelner Tiergruppen – Arten, Gattungen, bestimmter Populationen – und des Menschen beschränken, also von spezifisch philosophischen Fragestellungen von vorne herein absehen). Nimmt man die im engeren Sinne philosophischen und die – nach der eigenen Zielsetzung – nicht speziell philosophischen Bemühungen um Einsicht in das Wesen, die Funktionen und die lebensweltliche Bedeutung der Seele zusammen, so zeigt sich heute ein ausgeprägter Methoden- und Erkenntnispluralismus. Plotin gehört zu den intensivsten und konsequentesten Denkern, die wir kennen. Diese Tatsache ist im vergangenen Jahrhundert mehr und mehr bewußt geworden. Ermöglicht wurde dies durch die Grundlagenforschung bedeutender Philologen und Philosophen: die hohen Ansprüchen genügenden, konservativen3 Textausgaben von P. Henry und H.-R. Schwyzer und die neusprachlichen Übersetzungen von A.H. Armstrong, R. Harder, É. Bréhier, V. Cilento, W. Beierwaltes und anderen ebenso wie die mittlerweile zahlreichen Kommentare und Interpretationen zum Denken Plotins insgesamt oder aber zu einzelnen Schriften bzw. einzelnen systematischen Themen. Der Name Plotins steht neben dem des Proklos mehr als andere (etwa Porphyrios, Jamblich oder Damaskios) für die Vollendung des antiken Philosophierens und zugleich für die Vermittlung des Platonismus (aber auch des kritisch durchdrungenen Aristotelismus) des Altertums an das Mittelalter und an die Neuzeit. Im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung steht daher Plotin, der die Summe des antiken Philosophierens bis zu seiner Gegenwart präsent hat, vorher nicht explizit Verbundenes, aber systematisch Zusammengehöriges, synthetisiert, ferner seinem Anspruch gerecht wird4, Lehren, die grundsätzlich bereits vorgetragen wurden, deutlicher darzustellen, und schließlich – über seinen Anspruch

1

Auf diesen Teil der Geschichte des Geistes oder der historisch sukzessiven Erscheinungsweisen des Nous muß sich diese Arbeit beschränken. 2 Vgl. H. Zander, Geschichte der Seelenwanderung in Europa. 3 Vgl. die Praefatio zum zweiten Band der Editio maior, S. XVI: Selten haben wir zu Konjekturen unsere Zuflucht gesucht, und wenn wir es wagten zu konjizieren, waren wir bemüht, den Überlieferungsfehler paläographisch zu erklären. 4 V 1, 8, 10-14.

12 hinaus – zu einzelnen Schwierigkeiten Lösungen bietet, die als innovativ einzustufen sind.5 Gerade in der Seelenlehre bietet Plotin Argumentationsgänge und Einsichten, die auch in gegenwärtigen Diskussionen – nicht selten ohne genauere Kenntnis ihrer historischen Herkunft und ihres ursprünglichen Kontextes – herangezogen werden, und zwar keineswegs nur von metaphysisch inspirierten Wissenschaftlern, oder die man zum eigenen Schaden übersieht. Auf der aktuellen Gültigkeit der plotinischen Überlegungen wird also ein besonderes Augenmerk liegen. – Von Plotins Argumenten gegen die Stoiker und Epikureer, gegen die Pythagoreer und Aristoteles sind auch aktuelle psychologische Entwürfe betroffen, sofern sie auf materialistischen Prämissen beruhen. Die Einwände des kritischen Denkers Plotin sollten schon deshalb ernst genommen werden. Der Platoniker Plotin verwendet bei seiner Begründung für die notwendige Unkörperlichkeit der Seele überwiegend Argumente, die als peripatetisch zu charakterisieren sind. Der Peripatos ist also die vorherrschende unmittelbare Quelle, womit jedoch nicht ausgeschlossen ist, daß sich manche Überlieferungslinie über Aristoteles hinaus bis zu Platon zurückverfolgen läßt. Eine gründliche Beschäftigung mit Plotins Lehre von der Unkörperlichkeit der Seele war aus drei Gründen erforderlich: Erstens mißt Plotin selbst der Widerlegung des Materialismus in der Psychologie eine große Bedeutung bei (sie macht fast drei Viertel der Schrift IV 7 aus). Zweitens liefert die notwendige Unkörperlichkeit einer jeden Seele bereits einen entscheidenden Gedanken für den sich anschließenden Unsterblichkeitsbeweis, bei dem sich drei Argumente unterscheiden lassen und der den Höhepunkt des Traktates bildet. Schließlich sind drittens von Plotins Begründungen, warum die Annahme einer körperlichen Psyche eine Reihe von Aporien nach sich zieht, auch in der Gegenwart vertretene Konzeptionen aus Philosophie und Psychologie betroffen. Plotins Argumente für die notwendige Unkörperlichkeit der Seele sind von unterschiedlicher Qualität. Einige haben offensichtlich keine zwingende Beweiskraft; andere sind hingegen als ausgesprochen stark zu bezeichnen. Ein Beispiel hierfür ist die Überlegung, daß wir nicht eine einheitliche Sinneswahrnehmung haben könnten, wenn unser sinnlich wahrnehmender Seelenteil (die Psyche aisthetike) nicht im strengen Sinne einfach, sondern aus körperlichen Teilen zusammengesetzt wäre. Wenn die Wahrnehmungsseele ein Körper wäre, bliebe unerklärt, wie die verschiedenen, im Raum auseinanderliegenden Teile eines Sinneseindrucks gleichsam in einem Punkt zusammenkommen können (es ist dabei nicht an einen sichtbaren, sondern an den mathematischen Punkt zu denken). Die Sinnesorgane sind also tatsächlich nichts anderes als Werkzeuge, derer sich die Seele bedient, um sehen, hören usw. zu können. – Entsprechendes gilt – nach einem zweiten Beispiel – für die Einheit des menschlichen Bewußtseins und Selbstbewußtseins. Dieses kann nur unter der Voraussetzung, daß es nicht den für alle Körper konstitutiven Wandlungen unterliegt, durch alle Zeit hindurch eines und dasselbe sein. Dies ist im übrigen eine der Stellen der Arbeit, von wo sich leicht Bezüge zu aktuellen philosophischen Diskussionen herstellen ließen, denn Selbstbewußtsein, Person und Subjektivität sind Begriffe, die für gegenwärtig sich in viele Richtungen erstreckende 5

Auch wo Plotin selbst nicht zu vollständiger Klarheit gelangt ist, etwa bei der Frage, ob es Ideen von Individuen gibt (vor allem in V 7), ist sein Beitrag doch bedeutend.

13 For-schungsgebiete stehen. Der Sache nach nimmt Plotin den Gedanken der subjektiven Synthesis bzw. der Einheitsetzung durch den menschlichen Verstand vorweg, der viel später, etwa bei Nikolaus von Kues und dann besonders wirkungsreich bei und im Anschluß an Immanuel Kant, wiederkehren wird. – Ein drittes wichtiges Argument besagt, daß eine materielle Seele den übrigen Körper nicht vollständig „durchdringen“, d.h. ohne Einschränkung überall im Körper gegenwärtig sein könnte, weil zwei Körper nicht zugleich und in derselben Hinsicht denselben Raum einnehmen können. Plotin macht einsichtig, warum die Seele die ihr zugeschriebenen Funktionen – z.B. Einheits-, Ordnungs- und Lebensprinzip der Körper zu sein – nur erfüllen kann, wenn sie überall im Körper als ganze präsent ist; und diese Allgegenwärtigkeit läßt sich widerspruchsfrei nur dann denken, wenn man davon ausgeht, daß die Seele eine quantitätsfreie Wesenheit (eine reine – nicht von einem Körper bestimmte, sondern für sich existierende – Form) ist. Plotin ordnet die Seele zunächst in den Wirklichkeitsbereich des Unsichtbar-Beständigen ein. Sie ist, rein für sich betrachtet, eine einfache, intelligible und aktual lebendige Substanz und als solche dem hypostasierten Geist bzw. seinen Momenten, den Ideen, wesensähnlich. Plotin verbindet zentrale Gedanken aus mehreren platonischen Dialogen miteinander, nämlich die Grundunterscheidung zwischen sinnlicher und geistiger Welt (Kosmos aisthetos und Kosmos noetos) aus dem Timaios, die Lehre von der Seele als Prinzip der Bewegung (Phaidros), die wesentliche (unverlierbare) Lebendigkeit der Seele (Phaidon), die Wiedererinnerungslehre (Menon, Phaidon) und den engen Zusammenhang von Leben und Sein (Sophistes). Diese Verbindung dient als Grundlage für Plotins eigenen Unsterblichkeitsbeweis, für den die Einfachheit der Seele, ihre wesentliche Lebendigkeit und zudem die Anamnesislehre die entscheidenden Argumente liefern. Wir haben versucht – wie es die Redlichkeit des Interpreten klassischer philosophischer Texte, die seit ihrer Niederschrift vielfach gewirkt haben und wirken, gebietet –, Plotin gerecht zu werden, seine Argumente stark zu machen und die Schlüssigkeit und Überzeugungskraft der Gedankengänge – mithin den Scharfsinn dieses Denkers – zu erhellen. Die Aktualität manchen Ergebnisses sprang dabei ins Auge. Um die Erschließung und das Verständnis der Werke des Porphyrios hat man sich seit längerem mit wachsender Intensität bemüht; freilich ist auch hier noch manches Problem bis zur Stunde nicht zufriedenstellend gelöst und mancher – vielleicht nur beiläufig ausgesprochene – Gedanke in seiner philosophiegeschichtlichen Bedeutung und Wirksamkeit noch nicht angemessen gewürdigt. – Eine Auswahl mehrerer Schriften des Porphyrios hat A. Nauck bereits 1886 kritisch ediert. Die Fragmente von Peri agalmaton und De regressu animae sind bei J. Bidez, Vie de Porphyre (1913) abgedruckt. Die erhaltenen Bruchstücke der einst umfangreichen Schrift Kata Christianon liegen seit 1916 in der Textausgabe von A. von Harnack vor. Die Sententiae ad intelligibilia ducentes hat E. Lamberz 1975 mit einem gründlichen Quellenapparat ausgestattet und publiziert. Schließlich ist 1993 die verdienstvolle Fragmentsammlung von A. Smith erschienen. Hinzu kommen ältere und

14 jüngere Übertragungen in moderne Fremdsprachen sowie Interpretationen, Kommentare und Einzeluntersuchungen, die von der Gelehrsamkeit ihrer Verfasser zeugen. Porphyrios zieht aus der Unsterblichkeit sowohl theoretisch (in seinen Schriften) als auch praktisch (in der Lebensführung) Konsequenzen. Wichtig sind für ihn die Themen Willensfreiheit, Selbsterkenntnis und Katharsis, Selbstverwirklichung und die Sorge um das Unsterbliche in uns. Dies wird anhand von vier Werken belegt: Die Nymphengrotte, Über die Enthaltsamkeit von beseelten Wesen, die Sententiae ad intelligibilia ducentes und der Brief an Markella. Die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele ist eine existentielle Frage. Sie betrifft wie kaum eine andere den Ernst des Daseins. Sie betrifft jeden Menschen zu jeder Zeit, und sie betrifft den ganzen Menschen, was immer er tut und wie immer er gelebt hat, bevor sein Bewußtsein auf sie stieß. Wir haben keine Möglichkeit, uns ihr im Ernst zu verweigern, denn sie hat, wie immer sie zu beantworten ist, sehr weit reichende Folgen für unser Leben. Wer sich gegenüber dieser Frage verschließt, nimmt sich selbst nicht ernst – er nimmt sein Selbst nicht ernst, sondern wendet sich von sich selbst ab und zu anderem hin, so daß er sich selbst vergißt und verliert, um Fremdes zu gewinnen und zu besitzen. Ein Mensch mit dieser Haltung aber kann auch sonst nichts und niemanden ernst nehmen: Er lebt daher nur in Schein und Scherz, er lebt nicht eigentlich. Statt dieser Frage nachzugehen, „tut er“, wie Seneca es formuliert, „Anderes (Belangloses) und läßt dadurch sein ganzes Leben entgleiten“.6 Wer aber diese Frage in ihrer Bedeutung durchdrungen und die möglichen Antworten ruhig erwogen hat, wird eher als ohne derartige Reflexionen bewußt leben können.

6

Epist. mor. I 1, 1.

15 Die Exposition des Problems

Friedrich Hölderlin preist in einigen seiner Gedichte euphorisch die Unsterblichkeit der Seele, z.B.:

„Und meine Seele – wo ist dein Stachel, Todt? O beugt euch, Felsen! neigt euch ehrfurchtsvoll, Ihr stolze Eichen! – hörts und beugt euch! Ewig ist, ewig des Menschen Seele.“ (Die Unsterblichkeit der Seele, 33-36)7

Gottfried Keller hingegen verkündet die Sterblichkeit des Menschen wie aller übrigen Lebewesen:

„Nun erst versteh ich, die da blühet, O Lilie, deinen stillen Gruß: Ich weiß, wie sehr das Herz auch glühet, Daß ich wie du vergehen muß!“ (Ich hab in kalten Wintertagen, 13-16)8

Die Dichter, hier durch F. Hölderlin und G. Keller repräsentiert, sind also durchaus uneinig darüber, ob wir ganz und gar sterblich sind oder ob zumindest ein Teil des Menschen, seine Seele, der Vergänglichkeit für alle Zeit enthoben ist. Wenn diese Frage überhaupt entschieden werden kann, so muß ein Beweis geführt werden, der entweder die Sterblichkeit oder die Unsterblichkeit der Seele dartut. Einen solchen Beweis zu führen, ist aber nicht Aufgabe der Poeten, sondern der Philosophen. F. Hölderlin hat bekanntlich als Student der Theologie im Tübinger Stift mit seinen Kommilitonen und Freunden G.W.F. Hegel und F.W.J. Schelling unter anderem Platons Schriften gelesen; G. Keller war von der Philosophie L. Feuerbachs, den er in Heidelberg gehört hatte, beeinflußt; beide waren also philosophisch gebildet. Zu einer argumentativen Begründung ihrer Überzeugungen fühlten sie sich aber als Dichter nicht verpflichtet. 7

F. Hölderlin, Sämtliche Werke, 1. Bd., 1. Hälfte: Text, S. 32; vgl. 113-116, S. 35. – Vgl. auch: Hymne an die Unsterblichkeit (S. 116-119); Griechenland (S. 179-180), bes. 37-40; An Herkules (S. 199-200), bes. 45-48. 8 G. Keller, Sämtliche Werke in sieben Bänden, Bd. I, S. 254; vgl. S. 511.

16 Plotin unternimmt es dagegen in der Schrift IV 7 [2]9, die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen. Daß er schon sein chronologisch zweites Traktat diesem Thema widmet, dürfte ein Hinweis darauf sein, wie dringend ihn das Problem der Unsterblichkeit – neben der Theologie und der Kosmologie einer der drei klassischen Gegenstände der Metaphysica specialis – interessiert. Es wurde vermutlich in seinen Lehrveranstaltungen immer wieder diskutiert. Am Beginn der Abhandlung (IV 7, 1, 1-3) nennt Plotin drei Denkmöglichkeiten: Entweder ist der Mensch als ganzer unsterblich (1), oder er ist gänzlich sterblich (2), oder ein Teil des Menschen ist zwar sterblich, ein anderer Teil aber, der sein Wesen, sein wahres Selbst, ausmacht, ist unsterblich (3)10. Plotins Ziel ist es, die Richtigkeit der dritten Möglichkeit zu demonstrieren. Der Mensch ist keine einfache Wesenheit, sondern er besteht aus Körper und Seele; diese beiden unterschiedlichen Komponenten sind gesondert zu betrachten (1, 4-8). – Das Wesen des Körpers macht Plotin im ersten Kapitel deutlich (1, 8-25). Nachdem er in IV 7, 2-85 geklärt hat, was die Seele nicht ist, läßt er in den anschließenden Kapiteln eine positive Bestimmung ihres Wesens und, darauf aufbauend, den Beweis ihrer Unsterblichkeit folgen.

9

F. Heinemann hat 1921 (Plotin: Forschungen über die plotinische Frage, Plotins Entwicklung und sein System) die historische Richtigkeit der porphyrischen Ordnung der Schriften Plotins bestritten (S. 15-18). Heinemann sucht seine These durch die – richtige – Beobachtung zu stützen, daß Plotin häufiger auf bereits früher Behandeltes verweist, was aber in keiner der nach Porphyrios älteren Schriften thematisiert wurde. Damit ist die von Porphyrios angegebene Reihenfolge indessen keineswegs widerlegt, denn Plotins Verweise dürften sich auf zuvor mündlich Dargelegtes beziehen. Plotin schrieb ursprünglich nur für den Kreis seiner unmittelbaren Schüler, und bekanntlich hat für den Platoniker die mündliche Lehre den Primat gegenüber der schriftlichen. Plotin hatte ja bereits rund zehn Jahre lang in Rom unterrichtet, als er zu schreiben begann (Vita Plotini 3, 22-35 und 4, 9-16). – Folgerichtig gilt heute F. Heinemanns „Beweis, daß die von Porphyrius in cap. 4-6 seiner vita angegebene Reihenfolge der plotinischen Schriften keine historische ist“ (S. XI) als nicht geglückt; vielmehr geht man in der neueren Forschung davon aus, daß diese Ordnung durchaus zutreffend ist. 10 Hier und im folgenden gilt, daß ich eigene Übersetzungen oder Paraphrasen biete, dabei aber die Übersetzungen von R. Harder (bzw. die neueren Übertragungen von W. Beierwaltes) und A.H. Armstrong immer berücksichtige, an problematischen Stellen auch die von É. Bréhier, V. Cilento und M. Ficino; und bei anderen Autoren gilt entsprechendes.

17 I. Teil: Plotins Unsterblichkeitslehre

1. Die Argumente gegen die Körperlichkeit der Seele

§ 1: Das Wesen des Körpers

Weil jeder Körper aus Teilen zusammengesetzt ist, kann man vernünftigerweise11 nicht annehmen, daß ihm beständiges Sein zukommt (IV 7, 1, 8-10). Plotin gebraucht also von Anfang an die Einfachheit als Kriterium für Unvergänglichkeit: Nur was ursprünglich ein Einfaches ist, hat nicht die Möglichkeit, sich aufzulösen, ist also wesentlich unzerstörbar. Was dagegen aus vorher getrennt für sich existierenden Elementen sekundär zusammengesetzt wurde, d.h. entstand, kann in diese Bestandteile wieder aufgelöst werden, d.h. vergehen.12 Daß alles Körperliche früher oder später zerfällt und dann nicht mehr das ist, was es zuvor war, lehrt schon die gewöhnliche Erfahrung, die auf Sinneswahrnehmung beruht (vgl. 1, 10-11), so daß hier ein strenger Beweis gar nicht notwendig zu sein scheint. Es läßt sich aber auch ein philosophisches Argument dafür anführen, daß dies mit Notwendigkeit so ist: Jeder Körper ist zu irgendeiner Zeit entstanden; vorher existierte er nicht. Folglich hat er die Möglichkeit in sich, nicht zu sein. Diese Möglichkeit wird irgendwann verwirklicht werden13, und dann wird der Körper zugrunde gehen. In dem Entstandensein ist also die Vergänglichkeit bereits unvermeidlich enthalten. Die für den Körper wesentlichen Prozesse des Entstehens und Vergehens sind nur zeitlich voneinander getrennt, hängen aber unlösbar zusammen.14 – Nur das, was unentstanden ist, hat nicht die Möglichkeit, nicht zu sein; es ist wesentlich. Empedokles15, Platon16 und andere17 vertreten eine Vier-Elementen-Lehre: Sowohl der Weltkörper als auch die einzelnen Körper in ihm bestehen aus Erde, Wasser, Luft und Feuer. – So sind auch ge-

11

A.H. Armstrongs Übersetzung (Bd. 4, S. 339) von „παρὰ τοῦ λόγου“ (1, 9) ist der R. Harders vorzuziehen: Es ist nicht vernünftig anzunehmen, daß etwas Zusammengesetztes als solches dauernden Bestand haben könnte; vernünftig ist dagegen der Schluß, daß sich das aus Teilen Zusammengesetzte wieder in diese Teile auflösen wird. 12 Vgl. IV 7, 12, 12-13. Dies gilt für alles Körperliche, für die Seele aber, wie Plotin zeigen will, nicht. – Vgl. auch II 4, 6, 9: Nur das Zusammengesetzte vergeht. 13 Daß alles Mögliche im Verlauf der unendlich langen Zeit zur Verwirklichung gelangt, wird in diesem Gedankengang also vorausgesetzt. 14 Vgl. Arist. Phys. 204 b 33-34: Alles löst sich in das wieder auf, woraus es entstanden ist. 15 Vgl. Arist. Mph. 984 a 8-11. 16 Tim. 32 a 7 ff.; s.a. 42 e 8-9; 43 b 6 – c 5; 46 d 6-7 (die vier Elemente im Kontrast zur unsichtbaren Seele); 48 b 3-5; 49 b 1 – 50 b 5 (Die Elemente verändern sich und gehen ineinander über; ebenso Plotin IV 7, 1, 13.); 51 a 5. b 4-6; 52 d 5-6; 53 b 1 – c 5; 56 d 1 ff.; 57 c 1 ff.; 73 b 5 – c 3; 82 a 1-2; Phileb. 29 a 9-11.

18 mäß Plotin die Körper aus diesen vier Bestandteilen zusammengesetzt (IV 7, 2, 11), in die sie sich wieder auflösen, indem jedes Element an den Ort zurückkehrt, an dem es sich aufgrund seiner Dichte natürlicherweise befindet – das Feuer und die Luft nach oben, die Erde und das Wasser nach unten18 – und von dem es nur gewaltsam – gegen die Wirkungen der Schwerkraft oder des Auftriebs – ferngehalten werden kann. Der Körper löst sich auf, wenn er nicht mehr mit einer Seele verbunden ist19, denn ihr verdankt er seine vorübergehende Einheit (vgl. 1, 14-15); die Seele ist das Einheitsprinzip des Körpers20. Ein

17

Zur Stoa vgl. A.A. Long & D.N. Sedley, The Hellenistic philosophers I, S. 275 B; II, S. 272 B (Diogenes Laertios VII 135-136); op. cit. I, S. 280 A; II, S. 277-278 A (Stobaios); op. cit. I, S. 291 C; II, S. 290 C (Alexander von Aphrodisias). – Und auch Aristoteles vertritt – für den sublunaren Bereich – eine Vier-Elementen-Theorie. Aus dem fünften Element, dem Äther, bestehen die Gestirne oberhalb der Mondsphäre (vgl. P. Moraux, quinta essentia, in: RE XXIV. 1, Sp. 11711263). Die Lehre von der quinta essentia, die „der Stoff der Gestirne und der Himmelssphären“ (1172; vgl. 1196-1197) ist, ist Teil der aristotelischen Kosmologie (vgl. De caelo 269 a 30 ff.). Bald nach Aristoteles, aber noch nicht bei Aristoteles selbst (sondern zuerst bei Herakleides Pontikos, s. 1193-1194 und J. Halfwassen, Bemerkungen zum Ursprung der Lehre vom Seelenwagen, S. 127), gewann sie auch für die Psychologie Bedeutung: Das „Fahrzeug“ der Psyche, der Seelenwagen, später (außerhalb des orthodoxen Platonismus) auch die als Körper aufgefaßte Seele selbst, bestehe aus dieser Substanz (RE eb.; J. Halfwassen, op. cit., S. 125). – Eine Fünf-Elementen-Lehre ist für mehrere Vertreter der Alten Akademie (Speusipp, Xenokrates, Aristoteles sowie für den Verfasser der höchstwahrscheinlich unechten Epinomis) bezeugt, für Platon jedoch nicht; dieser hat die Lehre im Timaios allenfalls vorbereitet (RE XXIV. 1, Sp. 11841189; s.a. 1192-1193 und J. Halfwassen, op. cit., S. 119-128). 18 Vgl. für Feuer und Erde explizit Arist. Phys. 214 b 13-14; für Luft und Wasser explizit 255 b 8-9; s. ferner 208 b 1112. 19-21; 212 a 24-28; 255 b 11-12. 13-21. 19 Das Problem, von welcher Art diese Verbindung ist, diskutiert Plotin in IV 3, 20-24: Daß die Seele den Körper umschließt, ist eine angemessenere Vorstellung als die, daß sie in ihm ist, denn indem sie ihn umschließt, gibt sie ihm Einheit und beherrscht ihn (vgl. IV 3, 9, 29-51). – Die Weltseele eint und lenkt den Weltkörper (IV 2, 2, 42-49; IV 8, 8, 13-14). – Der Körper ist in der Seele (vgl. Plat. Tim. 34 b 3-4; 36 d 9 – e 3) wie die Luft im Licht. Allerdings kann Plotin auch sagen, die Seele sei im Körper, vgl. I 1, 3, 1 und 4, 18; IV 8, 1, 9-11; zu stark war offensichtlich diese traditionelle Vorstellung, als daß sich Plotin ganz von ihr hätte lösen können. In beiden Fällen handelt es sich aber lediglich um Bilder, welche die Verbindung des Unkörperlichen mit dem Körperlichen nicht völlig zufriedenstellend klären können. – Vgl. dazu J. Halfwassen, Bemerkungen zum Ursprung der Lehre vom Seelenwagen: Damit das rein geistige Seelenvermögen mit dem „Körper“ verbunden werden kann, vermitteln Platon zufolge „die beiden irrationalen Seelenteile“ zwischen ihnen (S. 114). Da aber auch diese „unkörperlich“ sind (S. 115), erschien es notwendig, noch eine Vermittlungsstufe anzunehmen, damit die Verbindung der niederen Seelenkräfte mit dem Körper einsichtig werden konnte (vgl. S. 117). Diese Stufe zwischen materieller und intellektueller Wesenheit wird später in Anlehnung an Platon mit dem „Seelenwagen“ identifiziert (eb. und ff.). – Wie aber dieses Bindeglied zwischen Seele und Körper beschaffen sein soll, bleibt problematisch; denn auch eine besonders feinstoffliche Substanz, etwa das Pneuma oder der Äther, ist doch immer stofflich – und nicht wirklich weder materiell noch immateriell. Umgekehrt dürfte auch „das Licht“ keine mittlere (dritte) Existenzweise haben, wenn man es, wie „Platon und die meisten antiken Platoniker“, für immateriell hält (vgl. S. 124). Die Schwierigkeit, wie das Intelligible mit dem Stofflichen eine Verbindung einzugehen vermag, konnte anscheinend nicht ganz befriedigend gelöst werden. – Wenn sich die Seele vom Körper getrennt hat, verbindet sie sich entweder mit einem anderen Körper oder lebt jenseits der Körperwelt im intelligiblen Kosmos. Eine Reinkarnation findet nach Platon dann statt, wenn sich der betreffende Mensch in seinem früheren Leben mehr als unbedingt notwendig den Affekten hingegeben hat statt zu versuchen, sich von körperlichen Bedürfnissen so weitgehend wie möglich zu befreien, d.h. sich zu reinigen: Phd. 83 d 4 – e 3. Eine völlige Abtrennung der Seele vom Körper kann dagegen durch Philosophieren gelingen: I 1, 3, 17-18.

19 Körper, der nicht von einer Seele geeint wurde (primär von der Seele des Kosmos, die lebendigen Körper besitzen auch eine Individualseele), der also nicht in irgendeiner Weise Einheit hat, kann – als vollkommen einheitslose Vielheit – überhaupt nicht sein: Nichts ist nämlich seiend, was nicht Eines ist21. Seine Einheit hat ein Körper nicht aus eigener Kraft, sondern sie ist abgeleitet, er erhält sie von etwas anderem, was seinerseits nicht wiederum Körper ist. Alles Seiende ist – in jeweils unterschiedlich hohem Maße22 – Eines und Vieles zugleich23. Beides ist für das Seiende konstitutiv24. Es ist eine geeinte Vielheit, denn Sein setzt Einheit voraus. Dies gilt für das sinnlich wahrnehmbare Seiende ebenso wie für das psychische und das noetische Seiende. Der vollkommen einheitslose erste Stoff dagegen ist nichtseiend, ihm fehlt das Sein, und auch das absolut vielheitslose Eine selbst ist außerhalb (jenseits) des Seienden, es ist in seiner uneingeschränkten Einfachheit über das Seiende erhaben, es ist mehr als Seiendes.25 Schon der auf das Eine (ἕν) folgende göttliche Geist hat sowohl Einheit als auch Vielheit in sich. Er enthält die Zweiheit von Denkendem (Nooun) und Gedachtem (Noeton)26 bzw. die Dreiheit von Denkendem, Gedachtem und Denkakt (Noesis)27 und überdies die Vielheit der Ideen28. Er ist ἓν 20

Vgl. VI 9, 1, 17-19: Die Seele bringt alles zur Einheit, indem sie es schafft, formt, gestaltet und zusammenordnet. – Vgl. ferner Plat. Epin. 981 b 7 - c 2: Die Seele formt und schafft, während der Körper geformt wird, entsteht und sichtbar ist. 21 VI 6, 13, 50-51. Ferner (V 3, 15, 11-15): Alles, was nicht Eines ist, wird durch das Eine erhalten und ist, was es ist, durch das Eine; denn wenn es nicht, obwohl es aus vielen Dingen besteht, zu einer Einheit wird, so kann man von ihm nicht sagen: „Es ist.“ Und wenn man auch von jedem einzelnen Teil sagen kann, was er ist, so kann man dies doch nur deshalb sagen, weil jeder von ihnen ein Eines und Selbes ist. 22 Den Stufen der Einheit entsprechen Stufen des Seins: Was in geringerem Maße ist, hat auch in geringerem Maße Einheit, und was in höherem Maße ist, hat in höherem Maße Einheit (VI 9, 1, 27-28). – Vgl. VI 6, 13, 25-60: Neben dem ontologischen kennt Plotin auch einen henologischen Komparativ. Nichts kann ohne Einheit und Zahl gedacht oder ausgesagt werden. Das Eine ist ursprünglicher als das Seiende und notwendige Voraussetzung des Seienden. Es bringt das Seiende erst hervor. 23 Vgl. bereits Plat. Parm. 142 b – 145 a: Das seiende Eine ist sowohl Eines als auch Vieles. – S.a. Phileb. 16 c 7-10. 24 Vgl. G. Huber, Das Sein und das Absolute, S. 46 und F.-P. Hager, Der Geist und das Eine, S. 286-289. – Parmenides hatte nur ein Seiendes angenommen (Fr. B 8, 6). Platon, der in seiner Ontologie an die Philosophie des Eleaten anknüpft (und insbesondere die Bedeutung von „sein“ als „unveränderlich bestehen“ übernimmt), modifiziert diese in drei entscheidenden Punkten: (1.) Es gibt nicht ein Seiendes, sondern unvorstellbar viele Seiende. Das Eine und das Seiende sind also sorgfältig voneinander zu unterscheiden. (2.) Zwischen dem wahrhaft Seienden und dem schlechterdings Nichtseienden gibt es einen dritten Bereich, nämlich die veränderliche Wirklichkeit, die im übrigen in den verschiedenen philosophischen Teildisziplinen große Bedeutung hat, insbesondere in der Ethik. (3.) Als absolut jenseitiger Urgrund aller Realität ist das Eine-Gute anzusetzen. – Das platonische Lehrgebäude wird Plotin übernehmen, wobei er vor allem den dritten Punkt fruchtbar ausgestalten wird. 25 Das einfachhin Eine („τὸ ἁπλῶς ἕν“, III 8, 10, 22) ist jenseits von allem („ἐπέκεινα ἁπάντων“, V 1, 6, 13; ähnlich V 1, 8, 7-8; V 3, 11, 28. 13, 2-3; V 4, 2, 39-40; vgl. Plat. Rep. 509 b 8-10; s.a. G. Huber, Das Sein und das Absolute, S. 58-60). – Das erste Eine ist das im eigentlichen Sinne Eine (V 1, 8, 25); vgl. Plat. Parm. 137 c 4 – 142 a 7. Vgl. ferner E.R. Dodds, The Parmenides of Plato and the Origin of the Neoplatonic “One”; H.J. Krämer, ΕΠΕΚΕΙΝΑ ΤΗΣ ΟΥΣΙΑΣ; M. Atkinson, Plotinus. Ennead V 1. On the Three Principal Hypostases, S. 196-198; J. Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen, bes. S. 183 ff. 26 Vgl. F.-P. Hager, Der Geist und das Eine, S. 256, 273 und 277. 27 Op. cit., S. 249, 267, 277, 278, 294 und 299.

20 πολλά29, Eines Vieles. Die Vielheit des Nous ist in höchstem Maße geeint; er ist das Einheitlichste, was ist. Denkendes, Gedachtes und Denkakt bzw. der denkende Geist und die Mannigfaltigkeit der von ihm gedachten Ideen sind sachlich identisch30. – Weiter vom Urquell aller Einheit entfernt und somit vielheitlicher als der Geist ist dessen Erzeugnis, die Seele31. Sie ist Eines und Vieles, ἓν καὶ πολλά32; durch diese Formulierung will Plotin, wie die Gesamtabfolge (Eines – Eines Vieles – Eines und Vieles – Vieles und Eines – Vieles) zeigt, die geringere Einheitlichkeit der Seele im Vergleich mit dem Geist ausdrücken. Die Psyche ist die vielheitlichste der transzendenten Wesenheiten. – Die körperbildenden Formen sind Vieles und Eines (πολλὰ καὶ ἕν)33. Hier überwiegt der Vielheitscharakter gegenüber dem Einheitscharakter, wenn auch letzterer notwendigerweise noch vorhanden ist – die geformten, sinnlich wahrnehmbaren Körper, die nebeneinander im Raum und nacheinander in der Zeit existieren, sind immerhin ferne Abbilder des Einen. – Schließlich heißt es (eb.): Die Körper aber sind nur Vieles (πολλὰ µόνον). Dies ist nur verständlich, wenn hiermit die von den Eide noch nicht gestalteten, also die potentiellen Körper gemeint sind, das aber ist der erste Stoff (die prote Hyle), sozusagen das Sinnending, abgesehen von seinem eidetischen Aspekt. Die aktual seienden Körper können dagegen nie gänzlich ohne Einheit sein, bedürfen also dieses Aspektes, der nicht allein gestaltend, sondern vor allem auch einend wirkt (s.u.).34 Die aktualen Körper sind unter allem, was ist, am reichsten an Vielheit. Einheit bzw. das allem Anderen Einheit verleihende Eine selbst ist ursprünglicher als das Sein und das Seiende, so daß der Grundsatz der neuplatonischen Metaphysik lautet: „Alles Seiende ist durch das Eine seiend“.35 Dies gilt auch für den Körper: Er ist nur einer und seiend, solange er, vermittelt

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„Der Geist ist die Vielheit der sich selber denkenden Ideen“, G. Huber, Das Sein und das Absolute, S. 46. Durch die Identifikation der Ideen mit dem Geist betont Plotin die Einheit des Ideenkosmos; vgl. op. cit., S. 48. – Zur NousHypostase (im Kontrast zum menschlichen Geist) vgl. auch I 8, 2, 9-32. 29 V 1, 8, 26; vgl. Plat. Parm. 142 b 1 – 155 e 3, bes. 144 e 5. 30 Vgl. J. Halfwassen mit den einschlägigen Belegen: Geist und Selbstbewußtsein, bes. S. 9-11, sowie: K.-H. Volkmann-Schluck, Plotin als Interpret, S. 37 ff.; W. Beierwaltes, Plotin. Über Ewigkeit und Zeit, S. 21 ff.; K. Flasch, Die Metaphysik des Einen, S. 110 ff.; Th.A. Szlezák, Platon und Aristoteles in der Nuslehre Plotins, S. 120 ff., bes. 126135. 31 V 1, 7, 36-37: Der Geist erzeugt die Seele. – Zur Abhängigkeit der Seele vom Nous, der nach Plat. Phileb. 28 c 7 und Plotin V 3, 3, 45 als König über uns herrscht und dessen Tätigkeit die Seele auf unvollkommene Weise nachahmt, s.a. K.-H. Volkmann-Schluck, Plotin als Interpret, S. 46-59. Die Psyche – also der Mensch (s.u.) – ist „ein Bild des Geistes“ (V 1, 3, 7; W. Beierwaltes, Plotin. Über Ewigkeit und Zeit, S. 50-61); vgl. V 3, 6-9 (eine Gesamtinterpretation der Schrift [49] bietet W. Beierwaltes in: Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit). 32 IV 2, 2, 40. 52-53; V 1, 8, 26; vgl. Plat. Parm. 155 e 4 – 157 b 5, bes. 155 e 5. – Die Seele ist eine Wesenheit mit mehreren Vermögen: II 9, 2, 6. Sie ist geteilt und ungeteilt: IV 2, 2, 40-41; vgl. Plat. Tim. 35 a 1-4. – Vgl. auch W. Beierwaltes, Plotin. Über Ewigkeit und Zeit, S. 58. 33 IV 2, 2, 53-54. 34 Auch Aristoteles kann das Wort „σῶµα“ im Sinne von „ὕλη“ verwenden (Mph. 1037 a 5-6): Es ist aber auch offensichtlich, daß die Seele die erste Wesenheit ist, der Körper aber Stoff. 35 VI 9, 1, 1. – Zu einer eingehenden Begründung vgl. J. Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen, S. 37 ff. – Das Eine bedarf des Seienden nicht, es ist darüber erhaben, während das Seiende umgekehrt das Eine nötig hat, um zu sein und um das zu sein, was es ist.

21 durch die Seele, am Einen selbst partizipiert; ohne diese Teilhabe wäre er radikale Vielheit und damit nichtig, Nichtseiendes. Wenn sich die Körper in ihre Bestandteile aufgespalten haben und jedes der vier Elemente für sich ist, hat der Auflösungsprozeß sein Ende noch nicht erreicht. Denn selbst die sogenannten einfachen Körper (ἁπλᾶ σώµατα) sind nicht in dem Sinne einfach, daß sie nicht mehr weiter analysiert werden könnten: Sie bestehen notwendigerweise aus Form (µορφή) und Stoff (ὕλη) (IV 7, 1, 15-17)36. Die Lehre von Form und Stoff ist seit ihrer Behandlung durch Aristoteles ein klassisches philosophisches Thema, ihre Ansätze lassen sich aber über Platon bis in die Vorsokratik zurückverfolgen.37 Nur durch die Verbindung von Morphe und Hyle kann ein Körper entstehen. Die rationale Formkraft ist notwendig, weil erst sie dem Stoff Einheit und damit Sein und eine bestimmte Gestalt verleiht. Sie macht den potentiellen Körper zu einem aktualen Körper, der ohne ihre prägende Einwirkung in der bloßen Möglichkeit verbleiben müßte. – Daß auch der Stoff unabdingbar ist, macht der folgende Gedankengang einsichtig (vgl. II 4, 6, 1-8): Wenn die Elemente ineinander übergehen, indem z.B. Wasser zu Luft wird, so geschieht dies nicht in der Weise, daß das Wasser zu Nichts wird und die Luft aus dem Nichts entsteht38, sondern die eine Gestalt wandelt sich in die andere, während die nacheinander verschiedene Gestalten aufnehmende Materie gleich bleibt. Sie liegt den veränderlichen Körpern als ein Beständiges zugrunde. Der Stoff ist an sich völlig ungeformt, gestaltlos39, unbestimmt40, passiv, ohne Wirkung, frei von Qualitäten41, nur der Möglichkeit nach seiend42 und weder sinnlich noch geistig erkennbar43; erst 36

Vgl. V 9, 3, 17-20: Der menschliche Körper kann in die vier Elemente aufgelöst werden und jedes Element in Materie und Form. 37 Vgl. C. v. Bormann, W. Franzen, A. Krapiec, L. Oeing-Hanhoff, Form und Materie (Stoff), in: HWPh, Bd. 2, Sp. 977-1030, bes. 977-986: Seit Aristoteles sind die Begriffe Morphe (oder Eidos) und Hyle Termini technici. Die Hyle ist das Zugrundeliegende (ὑποκείµενον), an dem sich alle Veränderungen vollziehen, das aber selbst unverändert bleibt (Phys. 189 b 1; 190 a 14-15; b 25). Stoff und Form entstehen und vergehen nicht (Mph. 1069 b 35-36; 1033 a 28-29, b 5-6; 1042 a 29 ff.; Phys. 192 a 25 ff.). Die veränderlichen Dinge sind aus Form und Stoff zusammengesetzt (Phys. 190 b 11); keiner der Bestandteile kann nach Aristoteles für sich existieren. – Für die antiken Denker nach Aristoteles blieb die Lehre des Stagiriten von Form und Materie grundlegend; sie erfuhr jedoch in Teilen Weiterentwicklungen, Differenzierungen und Modifikationen oder erschien in abweichenden Zusammenhängen (Sp. 985). 38 Aus vollkommen Nichtseiendem kann gar nichts entstehen, vgl. Arist. Phys. 191 b 13-14. 39 Vgl. III 6, 7, 27-29. 40 Vgl. II 4, 10, 3-5; 11, 36-37. 40; 2, 2-3 und öfter; Arist. Phys. 209 b 9; Mph. 1037 a 27; vgl. P.P. Matter, Zum Einfluß des platonischen „Timaios“ auf das Denken Plotins, S. 201. – Die Hyle ist zwar unbestimmt, kann aber gerade deshalb zu allem bestimmt werden, vgl. II 4, 11, 29-32. 36-43; sie ist von sich her das Unbegrenzte (15, 7-10. 17-18. 33-37). 41 Vgl. P.P. Matter a.a.O. sowie II 4, bes. Kap. 8-15: Die Materie ist an sich ohne Qualitäten („ἄποιος“, 8, 1; s.a. Kap. 13), folglich nicht Körper („µὴ σῶµα“, 8, 2; ähnlich 9, 4-5: „ἀσώµατος δὲ καὶ ἡ ὕλη.“); sie hat auch keine Gestalt („οὐδὲ σχῆµα“, 8, 10; s.a. 10, 22-23. 26-28; „οὐ µορφὴ (...) µηδ’ εἶδός τι“, 13, 24) noch Größe („οὐδὲ µέγεθος“, 8, 11; s.a. 10, 1 und 13, 25-26). 42 Die Materie ist (sc. als prote Hyle) nicht wirklich (III 6, 7, 2-3). Man kann nur via negationis sinnvoll von ihr sprechen. – Die Materie ist aber nicht in dem Sinne schlechthin nichtseiend, daß sie niemals ins Sein treten könnte, sondern

22 wenn er durch die schöpferische Aktivität des Formprinzips44 in bestimmter Weise gestaltet (geordnet) wurde, wenn sich also die Form mit dem Stoff verbunden hat, ist er in Wirklichkeit seiend und erkennbar.45 Anders als das gestaltende Prinzip kann das passiv Zugrundeliegende bei der Entstehung des Sinnenfälligen nicht gleichsam die Initiative ergreifen, d.h. die Materie kann sich nicht selbst gestalten und ist daher vom Formprinzip existentiell abhängig. Ohne die Wirkungskraft dieses (unkörperlichen) Prinzips können also niemals Körper entstehen. Die Dynamis der Hyle besteht darin, daß sie jede Gestalt aufnehmen kann, da sie an sich überhaupt keine Gestalt hat. Weil sie selber nicht ist, kann sie – durch die Gestaltungskraft des Eidos – alles werden.46 Die Morphe gibt der an sich radikal vielheitlichen, chaotischen Hyle Einheit und damit Sein; erst als seiende hat die Hyle eine bestimmte Gestalt. Der geformte Stoff ist Körper und kann als das erkannt werden, was er jeweils ist. Realiter ist die Materie allerdings immer gestaltet und bildet mit der Form einen Körper47. – Nur das Formprinzip kann selbständig existieren, der Stoff ist von ihm ontologisch abhängig. Daraus folgt, daß bei einer Trennung von Morphe und Hyle letztere sofort zu Nichts wird. Wenn also (1.) die Elementarkörper nicht wirklich einfach und unteilbar sind, weil sie aus zwei Komponenten bestehen, (2.) die Morphe eine unkörperliche Wesenheit ist und (3.) die Hyle für sich genommen nicht seiend ist, dann folgt daraus offensichtlich, daß alle wirklichen Körper zusammengesetzt48 und mithin auflösbar (vergänglich) sind. Es gibt keinen Körper, der nicht aus vorgängigen Teilen bestünde; also ist kein Körper unzerstörbar.49 Damit scheidet die erste der drei eingangs genannten Denkmöglichkeiten aus: Der Mensch ist, soweit er aus Seele und Körper besteht, nicht insgesamt unsterblich.

sie ist als Materia prima der Möglichkeit nach seiend. Ist sie nicht mehr nur reiner Stoff, sondern Materia signata, so ist sie wirklich. Wirklich seiend ist die Materie also nur in Verbindung mit einem Eidos, d.h. als ein Element des Körpers. Selbständiges Sein ist ihr nicht möglich. 43 Vgl. Arist. Mph. 1036 a 8-9. 44 Vgl. III 6, 19, 24-25. 45 Vgl. Arist. Mph. 1029 a 20-21 (Die Materie ist das, was an sich weder als etwas noch als ein Quantitatives noch durch irgendeine andere Bestimmung bezeichnet wird, durch die das Seiende bestimmt ist.); 24-25 (Das Letzte ist an sich weder ein bestimmtes Was noch ein Quantitatives noch irgendetwas anderes.); 27-30 (Selbständige Abtrennbarkeit und individuelle Bestimmtheit scheint am meisten der Ousia zuzukommen, so daß die Form und das aus beiden (d.h. aus Form und Materie) Bestehende eher Ousia zu sein scheint als die Materie.). S.a. Mph. 1069 a 30 – b 20; Phys. 190 a 31 – 192 a 22. 31-32; 201 a 10 – b 5; 210 a 10-11; 251 a 10. – Die Materie ist δυνάµει ὄν: Mph. 1045 b 35 – 1046 a 11; 1048 a 25 – b 4; 1050 a 10; 1071 a 12; ferner 1042 a 27-28 und b 9-11 sowie De an. 412 a 9. 46 Die Materie ist als das Nichtseiende das erste und an sich Schlechte (I 8, 3). Dieses Schlechte ist Maßlosigkeit, Unbegrenztheit, Gestaltlosigkeit, immer währende Bedürftigkeit, immer unbestimmt, niemals ruhend, jeder Einwirkung ausgesetzt, nie zu ersättigen und vollständige Armut (eb. 12-16). Die Materie ist der Grund alles anderen Schlechten (I 8, 4 ff.). – Vgl. I 6, 2, 13-18. 47 II 4, 5, 2-6. 48 Vgl. IV 7, 2, 2. 49 Vgl. D.J. O’Meara, Structures hiérarchiques dans la pensée de Plotin, S. 34; ders., Plotinus. An Introduction to the Enneads, S. 22-23: Als Zusammengesetztes tendiert der Körper von Natur zur Auflösung.

23 Das in IV 7, 1, 8-19 für die Argumentation herangezogene Wesensmerkmal aller Körper ist ihr relativer Mangel an Einfachheit, aus dem unmittelbar ihre Teilbarkeit und Vergänglichkeit folgt. Die Körper haben als solche immer eine bestimmte Größe und können in kleinere Stücke geteilt werden und auf diese Weise zugrunde gehen (vgl. 1, 17-19).50 Gibt es also etwas, was infolge seiner Einfachheit unzerstörbar und unvergänglich ist, so muß dies von allem Körperlichen wesentlich verschieden sein. Plotin muß daher im folgenden vor der Unsterblichkeit der Seele ihre Unkörperlichkeit zeigen (2, 1 ff.). – Zuvor ist noch zu fragen, ob Plotin der Auffassung ist, daß der Mensch das Kompositum aus Seele und Körper ist oder daß die Seele allein sein Wesen ausmacht (1, 20-25).

§ 2: Das wahre Selbst des Menschen

Einerseits scheint der Mensch aus Seele und Körper zu bestehen (1, 5)51, andererseits kann Plotin aber gleich darauf (1, 6-7; s.a. bereits 1, 2-3) formulieren, der Körper sei unser Werkzeug52 in der Sinnenwelt (also etwas, ohne das wir durchaus leben können und das mitunter sogar hinderlich sein kann53) oder auf irgendeine andere Weise mit uns verbunden. Dies deutet darauf hin, daß der Körper nach Plotin nicht wesentlich zum Menschen gehört. Das Wesen, das wahre Selbst des Menschen, ist vielmehr die Seele – und keineswegs die auflösbare Ganzheit von Seele und Körper.54 Dies wird am Ende des Kapitels (1, 20-25) ausdrücklich bestätigt: Das Selbst des Menschen ist die Seele.55 50

Zur wesentlichen Teilbarkeit der Körper vgl. auch IV 2, 1, 11 ff. Vgl. I 1, 3, 2-3; Plat. Phdr. 246 c 5; Arist. EN 1154 b 21-31, 1177 b 28-29, 1178 a 20; Mph. 1037 a 5-6: Der Mensch bzw. das Lebewesen besteht aus beidem, Seele und Körper; vgl. 1043 a 34 – b 4. 52 Vgl. 1, 21. 24; I 1, 3, 3; VI 7, 4, 9-10. 5, 23-24; Plat. Alkib. I 129 e 3 – 130 a 2; vgl. auch Phd. 79 c 2-5 und Tim. 44 d 8 ff. – Ob der Große Alkibiades von Platon oder von einem anderen Platoniker verfaßt wurde, ist bis heute umstritten; vgl. K. Bormann, Platon, S. 12 und, entschiedener, G. O’Daly, Plotinus’ Philosophy of the Self, S. 10-11, 14 einerseits und W. Beierwaltes, Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit, S. 81-82, Anm. 9 andererseits. Sicher ist, daß die Neuplatoniker diesen Dialog für echt hielten (s. W. Beierwaltes a.a.O.; zu Proklos vgl. G. O’Daly, op. cit., S. 19) und daß er echt platonische Gedanken enthält. 53 Vgl. IV 8, 2, 42-48. 54 Vgl. Phd. 115 c 4 – 116 a 1: Der wahre Sokrates ist seine Seele. – Alkib. I 129 d 13 – 131 a 4, bes. 130 c 5-7 (und dazu G. O’Daly, op. cit., S. 10). 55 Auch I 1, 10, 5-7 erwägt Plotin die Alternativen, daß der Mensch aus Körper und Seele besteht oder letztere allein sein Wesen ausmacht, und kommt zu dem gleichen Ergebnis: Der wahre Mensch ist die vom Körper gereinigte Seele. – Dabei vollzieht sich die Katharsis in zwei Schritten: Zunächst löst sich die gesamte dreiteilige Menschenseele vom Körper, und danach kommt es zur Trennung des Logistikon von den beiden vernunftlosen Seelenvermögen, die eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Körperlichen aufweisen und insofern der Vernunftseele fremd sind (vgl. I 1, 12, 6-39 und Plat. Rep. 611 b 1 – 612 a 6). – Vgl. ferner IV 8, 1, 1-11. – Zur Bedeutung des Begriffes „Selbst” bei Plotin vgl. die grundlegende Arbeit von G. O’Daly: Plotinus’ Philosophy of the Self. Zu IV 7 s. bes. S. 21 (weitere Stellen s. S. 118). In späteren Abhandlungen (s. S. 21-51) läßt sich nach O’Daly eine gewisse Entwicklung in der plotinischen Konzeption beobachten (S. 20). Dies sollte aber nicht überbewertet werden: Plotin setzt, in Abhängigkeit vom jeweiligen Zusam51

24 Wenn der Mensch also streng genommen mit der Seele gleichzusetzen ist56, so muß die philosophische Aufmerksamkeit primär auf diese gerichtet sein. Man kann zwar auch die temporäre Verbindung von Seele und Körper als „Mensch“ bezeichnen, muß sich dann aber deutlich machen, daß der materielle Bestandteil dem wahren Selbst gegenüber nicht gleichrangig, sondern ein untergeordneter, einseitig abhängiger Zusatz ist.57 Schließlich geht Plotin aber noch einen Schritt weiter und identifiziert den Menschen mit dem rationalen Seelenvermögen: In Anlehnung an Platons Bild vom „Seelentier“58 läßt sich sagen, daß nur das Logistikon für den Menschen charakteristisch ist, während das Thymoeides und das Epithymetikon auch Tieren eigene Seelenkräfte sind59. So hat der Mensch seine glücklichste Lebensform erst erreicht, wenn er sich der irrationalen Strebungen entledigt hat und wahrhaft einfach geworden ist. Daß der Mensch sich selbst bzw. sein Selbst erkennen solle, forderte schon die Inschrift des Delphischen Orakels60. Die Frage, was der Mensch sei, hält Porphyrios für so elementar, daß er die spät entstandene Schrift Plotins, in der sie nach einer Art Selbstanalyse61 beantwortet wird, an den Anfang der Enneaden stellt.62 Die Erkenntnis des Selbst steht gemäß Proklos notwendigerweise am Beginn aller philosophischen Tätigkeit, ja sie ist „das durchhaltende Prinzip des Philosophierens“.63 Aus neuplatonischer Sicht erkennt sich der Mensch folglich selbst als denkende Substanz. Für unser Thema ist in erster Linie die Einsicht wichtig, daß dem intellektuellen Vermögen des Menschen seine anderen, mit der Sinnlichkeit verbundenen Fähigkeiten untergeordnet und insofern nicht im engeren Sinne wesensbestimmend für ihn sind. Das menschliche Selbst ist die Seele oder genauer das Noushafte (Göttliche) in ihr, die idealiter rein für sich existierende Denkseele.64 Wer dies verstanden hat, vermag auch einzusehen, daß der Mensch „auf das Gute, Gerechte und Schö-

menhang, unterschiedliche Akzente; grundsätzliche Überzeugungen bezüglich des Selbst sind aber durchaus konstant. – Auch Kleanthes identifiziert den Menschen mit der Seele (SVF I 538); freilich ist für ihn die Psyche das Pneuma und damit materieller Natur (vgl. G. O’Daly, op. cit., S. 15); hierzu ausführlicher unten. 56 Vgl. auch III 4, 3, 22-27, bes. 22: Jeder von uns ist eine geistige Welt. 57 Vgl. IV 4, 18, 11-19. 58 Rep. 588 c – 592 b. 59 I 1, 7, 18-24. 60 Vgl. VI 7, 41, 22-25 und IV 3, 1, 8-9; R. Harder, Plotins Schriften Vb, S. 368-369; G. O’Daly, op. cit., bietet S. 11-19 eine Doxographie zum Gnothi sauton (Heraklit, Sokrates u.a.: S. 12; Xenophon: S. 12-13; Platon: S. 13-14; Aristoteles: S. 13-15; Stoa: S. 15; Cicero: S. 15-16; Marc Aurel: S. 16; Alexander Aphrodisiensis: S. 16-17; Porphyrios: S. 17-18; Proklos und Olympiodor: S. 18-19); s.a. W. Beierwaltes, Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit, S. 75-93. 61 Vgl. G. O’Daly, op. cit., S. 8-9. 62 Vgl. eb., S. 17 und 18. 63 W. Beierwaltes, op. cit., S. 76 und 93. 64 Vgl. eb., S. 81. – Der Mensch ist also zwar nicht reiner Geist und auch nicht Gott, aber er ist geistartig und gottähnlich; in gewissem Sinne sind die Hypostasen, denen er sein Sein und Wesen verdankt, in ihm gegenwärtig (V 1, 10); vgl. auch I 6, 9, 30-34; dazu Plat. Rep. 508 b 3 und 509 a 1.

25 ne“65, also das Prinzip, dem sein wahres Selbst ähnlich ist, gerichtet sein muß, um sich selbst – erkennend und vernunftgemäß handelnd – zu verwirklichen und dadurch glücklich zu werden. „Selbstverwirklichung“ bedeutet für den Menschen, der sich selbst recht versteht, nichts anderes als: Vergeistigung (die Etablierung der Nookratie in der Seele); und hiermit kann keine egozentrische und einsame Glückssuche gemeint sein, denn ob die Realisierung des eigenen Wesens gelingt, zeigt sich nicht zuletzt in dem der Geistnatur entsprechenden Handeln, das auf eine Außenwelt angewiesen ist und mit ihr in Wechselwirkung steht.66 Der Mensch, der seine wahre Natur, den geistigen Kern seiner Persönlichkeit, noch nicht erkannt oder wieder vergessen hat, hält die phänomenale Realität für die eigentliche Wirklichkeit und begehrt, von seinem intelligiblen Ursprung abgewandt und weit entfernt, alles sinnlich Schöne; eine Umwendung von den Erscheinungen zur noumenalen Realität und eine damit einhergehende Reinigung von den körperlichen Bedürfnissen, eine allmähliche Lösung aus der Verstrickung ins Sinnliche, ermöglichen es dem Menschen, sich seines eigenen Wesens und Wertes sowie andererseits der relativen Wertlosigkeit des zuvor Begehrten, das in seiner Existenz vom seelischen Sein abhängt, bewußt zu werden – also sich selbst, seine transzendente Arche und die eigene Stellung im Kosmos zu erkennen – und daraus die Konsequenz zu ziehen, nunmehr ein von der Vernunft beherrschtes Leben zu führen67. Eine Hinwendung zum Geistigen bedeutet also für den Menschen stets auch ein verweilendes Betrachten der eigenen Innerlichkeit.

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Op. cit., S. 83; s.a. S. 87. – Vgl. ganz ähnlich Arist. EN X 7, bes. 1177 a 19-20: Die Vernunft (der Nous) ist unser vortrefflichstes Vermögen. b 19-26: Die Tätigkeit der Vernunft ermöglicht und ist selbst die menschliche Glückseligkeit (Eudaimonia). b 30-31: Wenn die Vernunft im Vergleich mit dem Menschen etwas Göttliches ist, dann ist auch die Lebensweise gemäß der Vernunft im Vergleich mit der menschlichen Lebensweise göttlich. b 31-34: Diese göttliche Lebensweise sollen wir als Menschen nach Möglichkeit zum Vorbild nehmen (vgl. Plat. Theait. 176 b 1). 1177 b 34 – 1178 a 3 (vgl. nochmals Plat. Rep. 588 d 3-5, aber auch 442 c 5-8): Der vernünftige Seelenteil ist zwar an Umfang klein, übertrifft aber dennoch alles andere an Wirkungskraft und Werthaftigkeit bei weitem. Und dies dürfte unser wahres Selbst sein, da es offensichtlich unser bestimmender und vortrefflichster Teil ist. a 5-8: Was einem Wesen eigentümlich ist, ist für dieses Wesen auch von Natur das Beste und Lustvollste; für den Menschen ist dies die Lebensweise gemäß der Vernunft, da die Vernunft offensichtlich am meisten der Mensch ist. Also ist diese Lebensweise auch die glückseligste. – Vgl. auch 1178 b 7-8: Die vollkommene Glückseligkeit besteht in einer Denktätigkeit. – 1166 a 16-17: Das denkende Seelenvermögen (Dianoetikon) gilt als das eigentliche Selbst des Menschen (vgl. Plat. Rep. 443 d 1). 1168 b 35: Die Vernunft gilt als der eigentliche Mensch. (Vgl. G. O’Daly, op. cit., S. 14-15.) – S.a. W. Beierwaltes, op. cit., S. 88-89 (Alexander von Aphrodisias als wichtiges Vermittlungsglied zwischen Platon und Aristoteles einerseits und Plotin andererseits; vgl. schon G. O’Daly, op. cit., S. 16-17 mit Anm. 62). – Zu nachplotinischen Aufnahmen vgl. W. Beierwaltes, eb. S. 91-93: Porphyrios: Glückseligkeit setzt die in der Seele verwirklichte Weisheit voraus und diese die Er-kenntnis unseres Selbst. 66 Vgl. die Pflichten derjenigen, die gemäß Platon ihre menschlichen Möglichkeiten am vollkommensten aktualisiert haben, in Politeia VII. 67 Vgl. V 1, 1-2. Vgl. hierzu bes. den II. Hauptteil der vorliegenden Arbeit. – Der Locus classicus ist Plat. Rep. 514 a – 517 a mit der anschließenden Selbstauslegung Platons.

26 § 3: Die einfachen Körper oder Elemente als Seelensubstanz

Nachdem Plotin im ersten Kapitel von IV 7 die Seele als das wahre Selbst des Menschen bestimmt hat, gilt es nun, ihr Wesen (ihre Physis) im allgemeinen und ihre Unsterblichkeit im besonderen nicht nur thesenartig zu beschreiben, sondern auch argumentativ zu beweisen (IV 7, 2, 1). – Die Seele ist entweder körperlich68 oder unkörperlich69 (2, 1-4). Plotin läßt sich im folgenden auf die materialistische Grundannahme ein und prüft des näheren ihre Tragfähigkeit (2, 4 – 83, 25). Was ergibt sich aus der Hypothese, die Seele sei ein Körper? Weil Plotin diese Position sehr ernst nimmt und weil sich einige der von ihm kritisierten Vorstellungen in gegenwärtigen Theorien über Wahrnehmen, Bewußtsein, Denken usw. in verwandter Form, wenn auch mit veränderter Terminologie, wiederfinden, ist es tunlich, die Grundlagen und Argumente einer materialistischen Seelenlehre ernst zu nehmen. – Unsere Aufgabe wird es sein, (a) Plotins Gedankengänge mit den diversen Argumenten der Schulen nachzuvollziehen bzw. zu rekonstruieren und (b) zu fragen, ob sein Ergebnis, die Seele könne kein Körper sein, da diese Auffassung zu zahlreichen Aporien führe, hinreichend begründet ist. Die Grundbedeutung des Wortes Psyche ist Leben, Lebensprinzip70; alles Lebendige ist dadurch lebendig, daß ihm dieses Prinzip innewohnt71. Die Lebendigkeit ist mit der Seele also unlösbar (wesentlich, notwendig) verknüpft (2, 5-6). Nur weil sie selbst immer aktual lebendig ist, kann die Seele den an sich bloß potentiell belebten Körpern wirkliche Lebendigkeit – für eine gewisse Zeit – verleihen, mithin ihr Lebensprinzip sein. Der hier zur Anwendung kommende allgemeine Grundsatz lautet: Ein potentiell Seiendes kann nur dadurch zur Wirklichkeit des Seins gelangen, daß ihm das bereits aktual Seiende wirkliches Sein mitteilt. Aus eigenem Vermögen kann das der Möglichkeit nach Seiende also nicht zu einem in Wirklichkeit Seienden werden. Dies bedeutet: Das Aktuale ist notwendigerweise ontologisch ursprünglicher als das Potentielle. Es ist sein vollkommeneres Prinzip; die bloße Möglichkeit kann nicht das Erste sein. Ein immer aktual Seiendes ist notwen-

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Hierzu vgl. z.B. DK I, 12 A 29 (Aetios): Anaximenes, Anaximander, Anaxagoras und Archelaos sagten, die Substanz der Seele sei luftartig. 13 A 23 (Philoponos): (...) Andere halten die Seele für luftartig, z.B. Anaximenes und einige Stoiker. 22 A 15 (Aristoteles): Heraklit sagt, der Urgrund sei die Seele, da er die Ausdünstung (ἀναθυµίασις) für das hält, woraus die übrigen Dinge entstehen. Eb. (Makrobios): Heraklit hält die Seele für einen Funken von der Sternensubstanz. Eb. (Aetios): Heraklit ist der Auffassung, die Weltseele sei die Ausdünstung aus dem Feuchten in ihr, die Einzelseelen in den Lebewesen aber stammten aus der äußeren Ausdünstung und aus der in ihnen selbst und seien der Weltseele wesensähnlich. Ähnlich B 12; vgl. zur Stofflichkeit der Seele auch B 36 und 98. 31 A 97 (Aetios) heißt es: Empedokles zufolge hat das leitende Seelenvermögen seinen Sitz in der Beschaffenheit des Blutes. Vgl. B 105 (Porphyrios): Das Blut, welches das Herz umgibt, ist für die Menschen die Denkkraft. B 107 (Theophrast): Aus den Elementen ist alles passend zusammengefügt, und durch diese denken sie, freuen sich und sind traurig. 69 So die Platoniker, vgl. den Fortgang dieser Untersuchung. – Eine Mittelstellung nehmen in gewissem Sinne die Pythagoreer und Aristoteles ein; vgl. dazu unten die Interpretation der Kapitel 84 und 85. 70 Vgl. LSJ II 2026-2027, bes. V 1 (“Philosophical uses”); s.a. M. Atkinson, Plotinus. Ennead V 1. On the Three Principal Hypostases, S. 24-25. 71 Vgl. Arist. De an. 402 a 6-7: Sie (sc. die Seele) ist gleichsam das Prinzip der Lebewesen.

27 dig.72 – Das Prinzip, das die Körper belebt, nennen wir Psyche. Die toten Körper unterscheiden sich von den lebendigen dadurch, daß letztere mit einer individuellen Seele verbunden sind. Daß die Seele die Ursache der Lebendigkeit der Körper ist, geben auch die Stoiker zu.73 Wenn die Seele also (1.) ein Körper und (2.) das Lebensprinzip ist74, so ist zu fragen, welcher Körper das Leben immer und von sich her („παρ’ αὑτοῦ“, 2, 11) hat. Welcher Körper hat die Lebendigkeit nicht als eine nachträglich hinzugekommene Eigenschaft, die er wieder verlieren kann, sondern als unveräußerlichen Wesenszug? (2, 10-11) Die vier Elemente75 kommen nicht in Frage, denn sie sind von sich her leblos („ἄψυχα παρ’ αὑτῶν“) (2, 11-12). Wenn sich eine Einzelseele mit einem Körper verbindet und ihn dadurch belebt, so ist dieses Leben ein nachträglicher Zusatz, der dem Körper als solchem nicht eigen ist und der sich nach einer gewissen Zeit wieder von ihm lösen wird (2, 12-13). Da die einfachen Körper an sich keinen Anteil am Leben haben, sondern tot und passiv sind, kann kein einzelnes Element den Rang der Psyche einnehmen. Die Seele kann mit keinem der Elemente gleichgesetzt werden. Gerade dies bestreiten aber die Stoiker: Das Feuer- und das Luftelement seien aktiv76, das Feuer nennen sie auch selbstbewegt77, vernunfthaft (νοερόν) und schöpferisch78. Es sei wesentlich für die 72

Die Lehre von Dynamis und Energeia hat vor allem Aristoteles entwickelt; vgl. Mph. Θ 6-9, z.B. 1049 b 5; bei Plotin VI 1, 26, 1 ff. (ebenfalls gegen die Stoiker). De an. 431 a 3-4: Alles entsteht aus einem in Wirklichkeit Seienden. – Vgl. auch unten, § 16 (zu IV 7, 83). 73 Vgl. SVF II 784 und 796; A.A. Long & D.N. Sedley, The Hellenistic philosophers, Bd. 1, S. 319: Das Wort Psyche hat ein weites Anwendungsfeld; dies gilt auch in der stoischen Seelenlehre. Im Mittelpunkt steht aber auch hier die Lebendigkeit der beseelten Wesen (Menschen, Tiere, Gott). – Siehe ferner D.J. O’Meara, Plotinus. An Introduction to the Enneads, S. 15. 74 Es ist wichtig, daß beides von den Stoikern behauptet wird; Plotin widerlegt die Materialisten also auf der Grundlage ihrer eigenen Voraussetzungen, indem er zeigt, daß nur eine der beiden Annahmen richtig sein kann. Vgl. auch 3, 6-9. 75 Plotin vertrat wie Platon und andere eine Vier-Elementen-Lehre (s.o.); offensichtlich war ihm aber auch bekannt, daß es abweichende Theorien gab (s. 2, 14). Nach A. Graeser (Plotinus and the Stoics, S. 25-26 und 44) ist hier weniger an die aristotelische Quintessenz zu denken als vielmehr an das stoische Dogma, der Seelenkörper bestehe aus einem ganz besonders feinteiligen, sich selbst bewegenden Stoff (SVF II 780; vgl. ferner I 142). Indessen mag Plotin hier durchaus auch an die Ätherlehre des Aristoteles gedacht haben; vgl. É. Bréhier, Notice zu IV 7, S. 179. – Aber selbst wenn es ein fünftes Element (oder auch noch weitere) gäbe, so würde dafür grundsätzlich das gleiche gelten wie für Erde, Wasser, Luft und Feuer: Es hätte – qua Körper – nicht die Fähigkeit, aus eigener Kraft zu leben, so daß ihm ein Wesensmerkmal der Seele fehlte (vgl. 2, 14-15). 76 A.A. Long & D.N. Sedley, op. cit., 47 D (Nemesios): Die (kalte) Luft und das (heiße) Feuer sind die aktiven Elemente; denn – eb. E (Galen) – die Elemente gehen aufgrund von Expansionen (sc. wie sie die Hitze des Feuers bewirkt) und Kontraktionen (sc. wie sie die Kälte der Luft bewirkt) ineinander über. 77 Eb. 47 C 1-2 (Cicero): Alles, was heiß und feurig ist, wird durch seine eigene Bewegung angeregt und aktiviert. (...) Die Venen und Arterien pulsieren ununterbrochen in einer feuerartigen Bewegung. 78 Eb. 46 A (Aetios): Gott ist ein vernunfthaftes, schöpferisches Feuer. Er kann auch mit dem Hauch identifiziert werden; vgl. auch eb. N (Plutarch). – 46 B (Diogenes Laertios): Gott und Vernunft (Nous) sind dasselbe. Er (sc. als die eine Art des Feuers) schafft (sc. eine zweite Feuerart, nämlich) das Feuerelement und daraus mittelbar Luft, Wasser und Erde. – Eb. D (Stobaios): Die Sonne, der Mond und die übrigen Gestirne sind einerseits vernunfthaft, andererseits feuerartig (πύρινον); es gibt zweierlei Arten des Feuers; vgl. auch eb. I (Alexander Lycopolis); differenzierter 47 A 8 (Sto-

28 Lebendigkeit der Lebewesen verantwortlich.79 – Zu dieser Überzeugung konnten die Stoiker durch Sinneswahrnehmung leicht kommen: Daß sich Körper unter dem Einfluß von Hitze ausdehnen und bei Kälte zusammenziehen, ist nicht zu leugnen; von dem heißen und dem kalten Element scheint also eine aktive Wirkung auszugehen. Auch kann man den Eindruck haben, daß sich ein flackerndes Feuer oder das warme Blut in einem lebendigen Körper von selbst bewegt. Nimmt man weiter an, die Gestirne seien vernünftige Wesen (eine Auffassung, die auch die Platoniker teilen) und bestünden teilweise oder vollständig aus Feuer, so erscheint es nicht unplausibel, ihre regelmäßige, ununterbrochene Bewegung als von einem vernünftigen Feuer verursacht und somit als Selbstbewegung zu interpretieren. Wenn man zum einen Gott und die Vernunft – im Rahmen einer möglichst reinen materialistischen Welterklärung – als Körper auffaßt und andererseits die Ekpyrosis-Theorie80 vertritt, so liegt die Behauptung nahe, daß diejenigen Wesenheiten, denen die größte Dignität unter allem Seienden zugesprochen wird, aus dem einzigen unvergänglichen Element bestehen. Die Wesenszüge Gottes, vernünftig und Schöpfer des Kosmos zu sein, müssen dann auch dem Feuer zukommen. Da sich schließlich beobachten läßt, daß viele Lebewesen, solange sie leben, eine bestimmte Körperwärme haben, nach dem Tode aber alsbald erkalten, folgerten die Stoiker, die Wärme bzw. letztlich das Feuer als der warme Grundstoff sei das Prinzip der Lebendigkeit. Hierauf ist zu antworten: Das Feuer scheint sich zwar – anders als z.B. ein Leichnam – selbst zu bewegen, in Wirklichkeit aber ist sein Auftrieb (die Tatsache, daß es weniger Dichte hat als die es umgebende Luft) für seine Aufwärtsbewegung verantwortlich. Entsprechend ist auch die Ursache der Gestirnsbewegungen eine unkörperliche Kraft, die Seele.81 Nimmt man diese Ursachen weg, so baios): Der Mond besteht aus Feuer und Luft, die Sonne dagegen ist reines Feuer; vgl. auch 46 L (Plutarch). – 47 C 5 (Cicero): Das Feuerelement ist nicht ohne Vernunft (Ratio). 79 Eb. 47 C 1-2 (Cicero): Wenn die Körperwärme erkaltet und verlöscht, sterben und verlöschen wir selbst. (...) Alles, was lebt, lebt aufgrund der in ihm enthaltenen Wärme. Dies zeigt, daß das warme Element eine Lebenskraft in sich hat, welche die ganze Welt durchdringt. 80 Dieses Lehrstück der stoischen Kosmologie besagt, daß in bestimmten Abständen die ganze Welt in Feuer aufgeht und alles mit Ausnahme des ersten Elementes selbst zugrunde geht. Dann entsteht aus dem Feuer ein neuer Kosmos, und es beginnt ein neues Weltalter, dessen Verlauf mit dem des vorigen Weltalters identisch ist; vgl. A.A. Long & D.N. Sedley, op. cit., 46 G (Aristokles); H (Origenes); I (Alexander Lycopolis mit Zenons Begründung für die Notwendigkeit des Weltenbrandes); K (Eusebios); L und N (Plutarch); M und P (Philon zur Ablehnung der Lehre); O (Seneca); auch 44 F (Diogenes Laertios). – Vgl. schon Heraklit: DK I, 22 B 31 (Clemens). – Die Lehre vom Weltenbrand und von der ewigen Wiederkehr des Gleichen (siehe Kapitel 52) ist im übrigen auch außerhalb der griechischen Philosophie weit verbreitet; vgl. M. Eliade, Kosmos und Geschichte. Der Mythos der ewigen Wiederkehr, bes. S. 126-143 und 153-159. 81 Es ist in der Antike opinio communis, daß die Himmelskörper beseelt sind, daß also die sie bewegenden Kräfte psychische Vermögen sind. – Die verschiedenen Seelenarten lassen sich folgendermaßen systematisieren: (a) Die Pflanzenseelen sind einfach, sie haben nur das vegetative Vermögen, das, besonders auch als ein Teil der Menschenseele, als Begehrungsvermögen bezeichnet werden kann. (b) Die Tierseelen haben neben der begehrenden auch die muthaftzornige Dynamis. (c) Beim Menschen kommt zu diesen beiden irrationalen Teilen die Vernunft hinzu; wenn die Seele wohlgeordnet ist, d.h. wenn der Mensch gerecht ist, dominiert das λογιστικόν über das ἐπιθυµητικόν und das θυµοειδές (wobei dieses der Vernunft folgen kann, während sich jenes stets widersetzt), denn das Noushafte in der Seele charakterisiert den Menschen am meisten (vgl. oben, § 2). (d) Wenn die dreiteilige Menschenseele nicht inkarniert ist, kann sie als Daimon bezeichnet werden. „Dämonisch“ ist sie, weil es dem Logistikon noch nicht gelungen ist, sich in einem zweiten Tode von seinen vernunftlosen Zusätzen zu lösen, die ihn daran hindern, vollkommen einfach zu werden und uneingeschränkt das eidetische Sein zu schauen. (e) Die Gestirnsseelen endlich haben allein den rationalen Teil,

29 sind die Dinge ohne Bewegung. – Um zu klären, ob das Feuer aus sich selbst heraus lebendig sein kann, müssen wir uns zuerst verdeutlichen, was mit dem Wort Leben gemeint ist. „Leben ist immanentes Wirken (= immanente Tätigkeit)“, also eine Aktivität, die sich nicht auf anderes richtet, sondern bei der „das Tätige sich selbst“ evolviert; diese Aktivität aber, das Leben, ist „eine Art Bewegung“82. Das Feuer kann nun zwar auf anderes einwirken, indem es beispielsweise einen Stein erhitzt oder ein Stück Holz in Asche verwandelt, aber wenn es, wie sich zeigte, seine Bewegung einer von ihm selbst verschiedenen Kraft verdankt und das Leben eine Art Bewegung ist, so kann es, wenn überhaupt, jedenfalls nicht aus sich selbst lebendig sein. – Was selbst die Ursache seiner Bewegungen ist, hat die Freiheit, verschiedene, auch entgegengesetzte Bewegungen auszuführen und Wirkungen auszuüben; dies gilt aber weder für das Feuer noch für irgendeinen anderen Körper qua Körper. Was aus eigener Kraft lebendig ist, besitzt eine oder mehrere der Funktionen Ernährungsvermögen, Wachstum, Fortpflanzung, Ortsbewegung, Sinneswahrnehmung, Vorstellungsvermögen, Erinnerung und Denken.83 Plotin leugnet, daß dem Feuer eine dieser Fähigkeiten zukommen kann. Der Gedanke, das Feuer könne aus sich eine wohlgeordnete Welt erschaffen, erscheint in Anbetracht seiner zerstörerischen Kraft befremdlich. Außerdem ist das Feuer selbst nur wenig strukturiert und geordnet; es hat keine klare Gestalt, die sich über längere Zeit erhielte, und ist schon deshalb ungeeignet, als Formprinzip des Kosmos zu fungieren. Es leuchtet nicht ein, wie aus reinem Feuer durch zunehmende Abkühlung und Verdichtung die uns umgebende Sinnenwelt entstanden sein und zudem in jedem Weltalter identisch wieder entstehen soll. – Ferner könnte man an wechselwarme Tiere denken, die nicht sterben, wenn sich ihre Körpertemperatur der – niedrigen – Temperatur ihrer Umwelt anpaßt. Sie bedürfen also nicht der Körperwärme, die für nicht wechselwarme Tiere und für den Menschen lebensnotwendig ist. Zusammenfassend ist also festzustellen, daß die Stoiker Naturphänomene unangemessen interpretieren bzw. Ursachen für Erstursachen halten, von denen sich bei näherer Prüfung zeigt, daß sie ihrerseits durch anderes verursacht, also lediglich sekundäre Gründe, sind. Der Versuch, etwas Körperliches bzw. sinnlich Wahrnehmbares als Arche im strengen Sinne aufzufassen, muß scheitern84: Durch die Verwesung des Warmen und des Kalten entstehen keine Lebewesen; auch können sind also einfach, aber immer mit einem Körper verbunden. Da die Himmelskörper also vernünftig und frei von jeglichen irrationalen Strebungen sind und da sie überdies als unentstanden und unvergänglich gelten und – gemäß der antiken Kosmologie – die vollkommenste Bewegung, nämlich die Kreisbewegung, vollziehen, wurden sie als sichtbare Götter bezeichnet und erhielten die Namen mythischer Gottheiten. 82 K. Bormann, Platon, S. 131. – Vgl. hierzu ausführlicher unten. 83 Vgl. Aristoteles, De an. II und III; H.J. Blumenthal, Plotinus’ Psychology, S. 20-44; D.J. O’Meara, Plotinus. An Introduction to the Enneads, S. 16. 84 Vgl. Plat. Phd. 95 e 8 ff.: Platon – denn niemand sonst verbirgt sich hier hinter der literarischen Gestalt des Sokrates – berichtet, wie seine Bemühungen, auf dem Wege der Naturphilosophie („περὶ φύσεως“ ἱστορία, 96 a 7) zu echtem Wissen über die Ursachen jedes Dinges (αἱ αἰτίαι „ἑκάστου“, a 8) zu gelangen, gescheitert sind. Vgl. dazu K. Bormann, Platon, S. 122-123.

30 Blut, Luft oder Feuer keine hinreichende Ursache des Denkens sein; das Gehirn kann nicht allein die Sinneswahrnehmungen ermöglichen, aus denen Erinnerung und Vorstellung entstehen, während aus diesen wiederum das Wissen hervorgeht85; Elemente wie Luft, Äther oder Wasser kommen nicht als Ordnungsprinzipien der Welt in Frage, denn sie sind von sich her ohne Vernunft86. – Eine wahre Erstursache ist hingegen die vernünftige Einsicht des Sokrates, die sich am Gerechten und Schönen orientiert – das Gerechte und das Schöne aber sind Ideen; eine solche eigentliche Ursache ist von sekundären Gründen, die in einer Ursachenkette erst später auftreten und von den vorausgehenden Gliedern abhängig sind, zu unterscheiden (98 e 1 – 99 b 4). Die mit Recht so genannte Arche ist eine immaterielle, göttliche Kraft (δύναµις, δαιµονία ἰσχύς: 99 c 2-3); das Einheitsprinzip der Welt ist das Gute und das Notwendige (c 5-6), also gerade nicht das kontingente und fluktuierende körperliche Sein. Eine aus Teilen zusammengesetzte Ganzheit kann nicht ohne weiteres Eigenschaften haben, die keinem ihrer Bestandteile zukommen. Dieser allgemeine Gedanke liegt dem Passus 2, 16-20 zugrunde. Konkret heißt es dort: Wenn keiner der Elementarkörper von sich her Leben hat, so können durch ihre Vereinigung („σύνοδος“, 2, 16) bzw. ihr Zusammenkommen (ihre συµφόρησις, 2, 18), d.h. durch eine auf Zufall beruhende Mischung87 („ὁπωσοῦν κραθέντα“, 2, 19-20), unmöglich lebendige Wesen – wie z.B. die Seelen – entstehen.88 Die Seelensubstanz kann somit auch nicht die Kombination mehrerer einfacher Körper, z.B. des Feuers und der Luft, sein. Letzteres nehmen die Stoiker an: Die Seele, eine Wesenheit mit Prinzipiencharakter, sofern sie notwendige Voraussetzung für anderes ist, besteht aus dem ursprünglichsten Element, aus dem die übrigen einfachen Körper erst hervorgehen (unmittelbar die Luft, daraus das Wasser und aus diesem schließlich das Erdelement89) und das als einziges unvergänglich ist; dies aber ist das Feuer.90 Sie kann jedoch kein reines Feuer sein, weil eine Feuerseele den Körper, 85

Phd. 96 b 2 – c 3. Zur Identifikation der Vertreter der hier angedeuteten Theorien vgl. C.J. Rowe, Plato. Phaedo, S. 230-231. 86 98 b 7 – d 8; auch 99 b 4 – c 9. Auf die Kritik an der Ursachensuche der vorsokratischen Naturphilosophen, denen es nicht gelungen ist, den Materialismus grundsätzlich zu überwinden, folgt sodann Platons Lösung, die Entdeckung der transzendenten, immerseienden Wesensformen als der eigentlichen Archai. 87 Den Zufall lehnt Plotin als Erklärungsgrund generell ab. – Wer behauptet, etwas sei zufällig entstanden oder geschehen, leugnet die Einsehbarkeit des Grundes dieses Entstehens oder Geschehens, was philosophisch ganz unbefriedigend ist. 88 Vgl. II 9, 5, 16-21: Es gibt – nach gnostischer Auffassung – eine Seele, die aus den Elementen zusammengesetzt ist. Auch hier weist Plotin darauf hin, daß allein aus der Verbindung lebloser Teile unmöglich das für die Seele wesentliche Leben hervorgehen kann. Auch könnte eine aus den vier Elementen erst entstehende, also sekundär geeinte Seele nicht deren Einheitsprinzip sein. Was die Elemente eint, muß im Unterschied zu diesen eine ursprüngliche Einheit besitzen. 89 Vgl. A.A. Long & D.N. Sedley, op. cit., 46 C (Diogenes Laertios); F (Plutarch); ferner Bd. 1, S. 279 (Kommentar zu Kapitel 46). 90 Vgl. besonders den zusammenhängenden und klaren Bericht des Stobaios bei A.A. Long & D.N. Sedley, op. cit., 47 A; auch M. Hossenfelder, Die Philosophie der Antike 3, S. 82. – Vgl. auch Heraklit, der das Feuer immer lebendig (DK I, 22 B 30, Clemens) und vernunftbegabt (22 B 64, Hippolytos) nennt. Ferner 22 A 5: Alles entsteht aus dem Feuer und vergeht wieder in das Feuer. Heraklit ist damit eine wichtige Quelle für die stoische Physik.

31 mit dem sie sich verbindet, sofort vernichten würde. Deshalb setzt sich die Seele aus Feuer und Luft zusammen; durch die Verbindung mit dem kühleren Luftelement91 entsteht ein warmer Hauch (das πνεῦµα θερµόν)92, der die Ursache für die Körperwärme der Lebewesen ist. Verläßt die Seele den Körper, so erkaltet dieser. Die Psyche ist demnach kein einfacher Körper, sondern eine aus zwei Elementen zusammengesetzte Mischung. Sie wird, wie alles andere im Kosmos außer dem Grundstoff par excellence, spätestens bei der nächsten Ekpyrosis zugrunde gehen.93 Wie aus den an sich leblosen Elementen durch bloße Zusammenfügung oder Vereinigung kein Leben entstehen kann (s.o.), so ist es unmöglich, daß das Ungeistige Geist erzeugt (2, 19). Das rein Stoffliche setzt Plotin also mit dem ἀνόητον in Parallele, das Leben dagegen verbindet er mit dem νοῦς. Wie ist das zu verstehen? Es gibt drei unterschiedlich vollkommene Arten des Lebens: Dasjenige der lebendigen Körper hat einen Anfang und ein Ende in der Zeit; auch das Leben der Seele ist zeitlich, aber anfangs- und endlos94; das Leben des mit den Ideen identischen hypostasierten Geistes schließlich transzendiert die Zeit, der Nous lebt ohne Vergangenheit und Zukunft im ewigen Jetzt95. Das zeitfreie Sein des Geistes ist das vollkommenste Leben: Der νοῦς hat alles, was er ist, ewig gegenwärtig; ihm fehlt nichts, weil für ihn nichts vergangen ist, so daß er es bereits verloren hätte, und nichts zukünftig, so daß er es erst erstreben müßte; er hat alles immer Seiende in eins und zumal.96 Deshalb kann der Geist auch als das Lebewesen selbst und als das vollkommene Lebewesen bezeichnet werden.97 – Die Zeit als die Seinsweise der Seele ist das Abbild der Ewigkeit als der Seinsweise des Geistes.98

91

Vgl. A.A. Long & D.N. Sedley, op. cit., 47 B (Diogenes Laertios) und T (Plutarch): Das Feuer ist heiß und hell, die Luft kalt und dunkel. 92 Op. cit., 47 H (Galen): Das Pneuma entsteht durch die vollständige Vermischung des heißen Feuers mit der kalten Luft (zu der völligen Vermischung mehrerer Stoffe vgl. unten, Kap. 82); ferner I (Alexander dazu kritisch); s.a. eb. F (Galen). 93 A.A. Long & D.N. Sedley, op. cit., 53 W (Eusebios): Nach stoischer Auffassung ist die Seele entstanden und vergänglich; die menschliche Seele kann zwar die Trennung vom (übrigen) Körper eine gewisse Zeit lang überdauern, wobei die Seelen tugendhafter Menschen am längsten existieren, höchstens jedoch bis zum nächsten Weltenbrand. – Vgl. zu dem Motiv der relativen Langlebigkeit der Seele auch Plat. Phd. 86 e – 88 b. 94 Dies kann hier zunächst nur These sein; zur Begründung s. den weiteren Gang der Untersuchung. – Vgl. auch III 7, 11-13 und dazu W. Beierwaltes, Plotin. Über Ewigkeit und Zeit, S. 62-74; J. Halfwassen, Seele und Zeit bei Plotin (erscheint noch). 95 Vgl. III 7, 2-6 und dazu W. Beierwaltes, op. cit., S. 35-49. 96 Vgl. IV 7, 9, 23-25: Dieses Seiende, das ursprünglich und immer ist, kann nicht tot sein, wie Stein oder Holz, sondern muß lebendig sein, und was von ihm für sich allein bleibt, muß reines Leben haben. Dazu s. W. Beierwaltes, op. cit., S. 32 (mit Anm. 76-78): „Das Sein des Geistes ist wesenhaft Leben, weil es Denken ist.“ Das ursprüngliche „Leben“ des Geistes „ist also das sich auf sich selbst zurückbewegende, d.h. sich selbst denkende Sein“. V 6, 6, 21-23. – Zu der geistesgeschichtlichen Bedeutung der Dreiheit Sein, Leben und Denken bei Platon, Aristoteles und Plotin sowie in der Patristik und bei Proklos s. Anm. 79 a.a.O. Vgl. in dem zitierten Werk auch S. 162-164 und 203. 97 Vgl. op. cit., S. 32-33, Anm. 80; S. 163. 98 Plat. Tim. 37 d 5-7, 38 a 7.

32 Das Leben im vollendeten Sinne ist also das Leben des Nous, der reine, auf sich selbst gerichtete Tätigkeit, reine Aktualität (Energeia) ist. Dieses ahmt die Seele auf unvollkommene Weise nach: Während der Geist alles wahrhaft Seiende immer gegenwärtig und in sich selbst hat99, ist es für die Seele ein von ihr Verschiedenes und erst Aufzusuchendes, das sie zudem nicht in seiner Gesamtheit auf einmal (intuitiv) begreift, sondern sie erfaßt in einem zeitlichen Nacheinander (diskursiv) erst den einen, dann den anderen Aspekt des Ideenkosmos. Sie ist in ihrer geistigen Tätigkeit vom Nous abhängig. Von der Seele wiederum hängen die Körper ab, die nur solange leben, wie eine Einzelseele mit ihnen verbunden ist. Die Seele, die als unzeitliches „Erzeugnis“100 oder Abbild des Nous selbst nousartig ist, kann das Leben, das sie von ihrem Urbild empfangen hat, an die vernunftlosen (ἀνόητα) Körper, soweit diese potentiell lebendig sind, in abgeschwächter Form weitergeben. Also nur eine intelligible Wesenheit kann Lebensprinzip sein, der göttliche Geist als das παντελὲς ζῷον für die Psychai und diese, die ihm ähnlich, nämlich νοεραί, sind101, für das Sinnliche. Unstofflich und somit noushaft sind selbst die irrationalen Seelenvermögen, welche die Tiere und Pflanzen beleben. Wie alles Lebendige eine Ursache seiner Lebendigkeit haben muß, die wir für den Mundus sensibilis mit dem Namen Psyche bezeichnen, so hat auch alles auf irgendeine Weise Geordnete notwendig einen Grund seiner Ordnung; und auch diese Funktion, die Sinnenwelt insgesamt und alles Einzelne in ihr zu ordnen, kommt der Seele zu; sie ist das Ordnungsprinzip („τὸ τάξον“) (2, 20-22).102 Eine gewisse Ordnung und Gestalt hat alles, was ist, die unbelebten Körper durch ihren Kontakt mit der Weltseele103, die Lebewesen darüber hinaus auch dank ihrer Individualseelen.104 Völlig ordnungslos ist allein die amorphe und daher unerkennbare erste Hyle; diese aber ist nicht (s.o., § 1). Sobald an den potentiell seienden Stoff die rationale Formkraft (der „λόγος“) herantritt, erhält er Einheit und damit zugleich körperliches Sein, Geformtheit und Erkennbarkeit; die rationale Formkraft aber kann einzig von einer rationalen Wesenheit kommen, und das ist die Seele (2, 23-25). Die Seele kann nicht durch das Zusammentreffen wie auch immer gearteter Elementarkörper bestehen, denn diese sind an sich leblos und können deshalb nicht die wesentliche Lebendigkeit der

99

Vgl. V 5. Dieser Begriff weist im vorliegenden Zusammenhang auf die ontologische Dependenz der Seele vom Geist hin, keineswegs auf eine Zeugung in der Zeit. 101 Vgl. I 1, 13, 6: „καὶ νοερὰ ἡ ψυχή“. I 6, 6, 13-14: Die Seele wird durch Reinigung (...) geisthaft (...). II 9, 1, 32: Der Geist macht die Seele geisthaft. II 9, 16, 9-10: „ψυχαὶ (...) νοεραὶ (...).“ V 1, 3, 12-13: Da die Seele vom Geist stammt, ist sie geisthaft. V 3, 6, 19-22: Ein Teil der Seele ist nousartig. S.a. IV 3, 1, 20. Zur Abhängigkeit der Seele vom Geist vgl. V 6, 4, 14-22. 102 Vgl. VI 9, 1, 17-19, bes. 19: „συντάττουσα“. 103 2, 23: die ψυχὴ „ἐν τῷ παντί“. 104 Den Graden des Seins und des Eines-Seins entsprechen Grade des Geordnet-Seins, und zwar sowohl in der Wirklichkeit insgesamt als auch bereits innerhalb der Sinnenwelt; vgl. VI 9, 1-2 und dazu J. Halfwassen, Der Aufstig zum Einen, S. 41-52. 100

33 Seele begründen, und sie haben von sich her keine Einheit und damit auch nicht die Fähigkeit, sich selbst oder anderes zu einen.105

§ 4: Die Seelenlehre der Atomisten106

Für Plotins kritische Auseinandersetzung mit der atomistischen Psychologie (3, 1-6) ist entscheidend, daß die Seele das Einheitsprinzip der Phänomene ist und ihr daher auch selbst Einheit zukommen muß.107 Sie muß selber wesentlich einfach – nicht aus zuvor selbständig für sich existierenden Teilen konstruiert – sein. Denn wenn die Einfachheit der Seele nur akzidentell zukäme, könnte sie diese und damit ihr Sein verlieren, wodurch zugleich eine notwendige Voraussetzung für den Einheitscharakter und die Existenz der Körper aufgehoben wäre. Die Seele kann der materiellen Wirklichkeit nur das mitteilen, was sie selber hat. Da die Sinnenwelt aber nach antiker Auffassung immer war und immer sein wird, muß sie auch immer von der Weltseele geeint werden, und diese ist als immer einende notwendig selbst zu jeder Zeit einfach. Die Einzelseelen aber sind der Weltseele wesensgleich.108 – Wie in § 1 gezeigt wurde, kann kein Körper wahrhaft einfach sein. Dies gilt auch für einen angenommenen Seelenkörper, der aus Atomen zusammengesetzt ist. Zuerst Leukipp, dann sein Schüler Demokrit und in späterer Zeit Epikur und seine Anhänger waren der Auffassung, wie alles andere, was im Kosmos real existiert, so bestehe auch die Seele aus unteilbaren Körpern (Atomen).109 Grundsätzlich haben die Atome also für die genannten Denker die gleiche Funktion wie die Elemente im Stoizismus.

105

Nichts Körperliches kann Einheitsprinzip sein, vgl. A.A. Long & D.N. Sedley, op. cit., 47 J (Nemesios); L (Alexander). Eben dies behaupten aber die Stoiker, s.a. op. cit., 47 R (Philon); 48 C (Alexander); 53 F (Sextus Empiricus). – Empedokles hatte neben den vier Elementen noch zwei andere Urkräfte angesetzt, die Liebe (φιλία) und den Streit (das νεῖκος). Vgl. hierzu und zum folgenden Arist. Mph. 984 b 32 – 985 a 10 und DK I, 31 A 38 (Aristoteles); A 41 (Philoponos); A 42 (Aristoteles); A 46 (ders.); A 52 (Aetios, Simplikios); A 86 (Theophrast); 31 B 16 (Hippolytos); B 20-22, 30-31, 35, 58-59 (Simplikios); W. Capelle, Die Vorsokratiker, S. 199. Die Liebe ist das Prinzip der Ordnung und des Schönen in der Natur, d.h. sie ordnet die Elemente zu einem Kosmos, zu einer schön geformten Welt. Der Grund dafür, daß die Schönheit dieser Welt nicht vollkommen ist und immer wieder gestört wird, ist die Gegenkraft, der Streit: Er verursacht Vielheit, Unordnung und das Häßliche. – Schon Empedokles ahnte also, daß die Elemente, wenn sie sich zu in bestimmter Weise gestalteten Körpern verbinden, eines unkörperlichen Prinzips bedürfen, das sie zu einer Ganzheit eint. 106 Zur Entstehung des Atomismus vgl. A.A. Long & D.N. Sedley, op. cit., Bd. 1, S. 41. 107 Vgl. „ἑνώσει“ (3, 2); „δι’ ὅλου“ (3, 3); „γιγνοµένου ἑνός“ (3, 3-4); „ἑνοῦσθαι“ (3, 4). – Zu dieser Auffassung auch in der Stoa vgl. A.A. Long & D.N. Sedley, op. cit., 47 L (Alexander von Aphrodisias), R (Philon) und Bd. 1, S. 289 (Kommentar); 48 C (Alexander); vgl. auch 53 F (Sextus Empiricus). 108 Vgl. IV 3, 1, 16-37. 109 Vgl. A.A. Long & D.N. Sedley, op. cit., 8 A (Epikur), B (Lukrez) und Bd. 1, S. 38-39 (Kommentar). Die Atome enthalten nach dieser Theorie kein „Leeres” und sind deshalb so dicht, daß sie physikalisch nicht geteilt werden können und folglich unvergänglich sind. – Zum Verhältnis von Körpern und Leerem s.a. Epik. an Herod. 39-41; Lukr. I 418634; A.A. Long & D.N. Sedley, op. cit., Kap. 5-6.

34 Die Entstehung der erfahrbaren Welt erklärt Epikur folgendermaßen:110 Ursprünglich gab es nur einzelne, nicht miteinander verbundene Atome. Sie fielen seit unendlich langer Zeit111 infolge ihres Gewichtes112 senkrecht von oben nach unten, ohne sich je zu berühren.113 Solange die unvorstellbar kleinen, unteilbaren Körper unverbunden und durch den leeren Raum voneinander getrennt nebeneinander existieren, kann es keine Körper von sichtbarer Größe geben, die einen sinnenfälligen Kosmos (bzw., nach epikureischer Auffassung114, unendlich viele Welten) bilden. Daher nimmt man an, daß irgendwann ein Atom zufällig (d.h. ohne Ursache)115 ein wenig von seiner geradlinigen, sehr schnellen Fallbewegung abgewichen und dadurch mit einem anderen Atom zusammengestoßen sei. Die beiden Körper verbanden sich zu einem116, der dann, weil sich seine Bewegungsrichtung geändert hatte, immer wieder mit anderen Atomen zusammentraf und sich mit ihnen verband (und diese wieder mit anderen), bis schließlich nach unzähligen Verbindungen Körper von sichtbarer Größe entstanden. Die Atomlehre wurde bereits in der Vorsokratik mit der Elementenlehre kombiniert; diese Verbindung finden wir dann auch bei Epikur:117 Die Seele ist ein feinteiliger Körper118 und kann mit einem Hauch119 verglichen werden, dem Warmes120 beigemischt ist.121 Aetios122 zufolge war Epikur der Auffassung, die Seele sei aus vier Bestandteilen gemischt, nämlich aus dem Feuerartigen, das die Körperwärme verursache, dem Luftartigen, das Ruhe bewirke, dem Windartigen, dem Grund der Bewegung, und einer vierten Ingredienz, welche für die Sinneswahrnehmungen verantwortlich sei.123 – Andererseits besteht die Seele aber aus Atomen124, genauer, so kann nun gesagt werden, 110

Es folgt die epikureische Version der Theorie, wie M.T. Cicero sie im ersten Buch seiner Schrift Über das höchste Gut und das höchste Übel referiert (I 17-20). Andere Fassungen, etwa die des Demokrit, weichen in Einzelheiten hiervon ab. Vgl. auch Epik. an Herod. 43. 111 Demokrit zufolge sind die Atome von Natur unbewegt und gerieten erst durch einen Schlag in Bewegung (DK II, 68 A 47: Simplikios) – da dieser nicht näher erklärt wird, ist anzunehmen, daß auch hier der Zufall als Ursache bemüht wird. Vgl. a.a.O. auch Aetios. – Andererseits wird freilich auch berichtet, die Atome seien gemäß Demokrit immer bewegt, vgl. DK II, 68 A 40 (Hippolytos) und 68 A 56 (Cicero). 112 Bei Demokrit haben die Atome kein Gewicht; sie bewegen sich ausschließlich durch gegenseitiges Stoßen, vgl. DK II, 68 A 47 (Aetios und Cicero). Dies impliziert die Merkwürdigkeit, daß hiernach völlig gewichtsfreie Körper anzunehmen wären. 113 Sie fielen also wohl mit gleicher Geschwindigkeit. 114 A.A. Long & D.N. Sedley, op. cit., 13 A (Epikur); D (Lukrez); H (Cicero); vgl. auch 13 C (Epikur). 115 Zum Zufall bei Demokrit vgl. auch W. Capelle, Die Vorsokratiker, S. 412-415. 116 Die entscheidende Frage – was nämlich das Prinzip dieser Vereinigung ist, das sie ermöglicht und bewirkt – wird dabei übergangen. 117 Vgl. zur Seelenlehre Epik. an Herod. 63-68; Lukr. III 94-829; A.A. Long & D.N. Sedley, op. cit., Kap. 14. 118 Epik. an Herod. 63: „σῶµα (...) λεπτοµερές“; so wörtlich auch SVF II 780. 119 Eb.: „πνεῦµα“. 120 Eb.: „θερµόν“. 121 Nach Inhalt und Terminologie klingt dies gut stoisch. Alexander von Aphrodisias schreibt die Lehre, die Seele sei ein Hauch, der aus Feuer und Luft bestehe, neben den Stoikern ausdrücklich auch den Epikureern zu. 122 A.A. Long & D.N. Sedley, op. cit., 14 C. 123 Vgl. Lukr. III 262-322: Aus Luft, Wärme, Wind und einer leichtestbeweglichen Kraft, dem Prinzip der Sinneswahrnehmung (269-272), wird ein Ganzes (285-287), der Seelenstoff. 124 Lukr. III 317-318.

35 aus Feuer- und Luftatomen. – Der Geist wird nicht als eine andersartige Wesenheit von ihr unterschieden, sondern ausdrücklich mit der Seele identifiziert125. Die Atome haben unterschiedliche Größen126. Die Seelenatome sind besonders klein und daher sehr beweglich127. Dies hat auch zur Folge, daß sich die Seele nach ihrer Trennung vom Körper alsbald auflöst, weil sich ihre Atome verflüchtigen128. Sie kann also nicht dauerhaft für sich existieren, sondern ist vom (übrigen) Körper abhängig und somit sterblich129. Der Körper wird als Gefäß der Seele angesehen; löst sich dieses Gefäß auf, so zerstiebt sein Inhalt, die Seele130. Der Körper also ist demnach das Einheitsprinzip der Seele. Eine Theorie, derzufolge die Körper durch das zufällige Aufeinandertreffen von Atomen entstehen, ist nicht weniger unbefriedigend als die Annahme, die Körper bildeten sich durch das ungeregelte Zusammenkommen von Elementen. Denn aus einer Ansammlung von einfachen bzw. unteilbaren Körpern kann nur dann ein geordneter, lebendiger Körper entstehen, wenn entweder eines der Grundelemente bereits einend und ordnend wirken kann und lebendig ist oder ein Einheits-, Ordnungs- und Lebensprinzip von außen hinzukommt. Das in einem Körper anwesende oder von außen hinzukommende wirkende Prinzip muß aber – das liegt in der Natur eines Prinzips – von seinen Prinzipiaten wesentlich verschieden, d.h. immateriell, sein. Einer Atomseele fehlte es nicht nur an ursprünglicher Einfachheit, sondern ohne ein Einheitsprinzip kann sie überhaupt keine – nicht einmal abgeleitete – Einheit besitzen. Plotin geht bei seiner Argumentation also von der Einheitlichkeit (ἕνωσις, 3, 2) und der Empfindungseinheit (ὁµοπάθεια, eb.) der Seele aus. Wie sind diese möglich? Eine Empfindungseinheit kann es nur in einem lebendigen Organismus geben, nicht in einem leblosen Aggregat. Die Atome haben aber von sich her kein Leben. Zudem können getrennt für sich existierende Teile nur dann zu einer organischen Ganzheit geeint werden, wenn eine sie aktiv einende Kraft vorhanden ist. – Wie aus den leblosen Elementen nicht ohne weiteres ein Lebewesen entstehen kann, so auch nicht aus vielen unverbundenen und unteilbaren Körpern ohne Empfindungen ein einheitlich empfindender Seelenkörper (3, 3-5). Das erforderliche Einheits- und Lebensprinzip muß, anders als die Atome, von sich her Einheit und Leben haben. Ein bloßes Nebeneinanderstellen bewirkt kein durchwaltetes Ganzes (3, 3), es eint die Vielheit nicht. – Die Kraft, welche selbständig die Vielheit zur Einheit

125

Lukr. III 421-424. Vgl. Epik. an Herod. 55, 57 und 59. 127 Lukr. III 425-430. 128 Lukr. III 437-439; vgl. Epik. an Herod. 65-66. 129 Zu der Auffassung, die Seele sei vom Körper abhängig, vgl. auch unten die Pythagoreer (IV 7, 84) und Aristoteles (IV 7, 85). Lukrez bietet nicht weniger als 28 Argumente für die Sterblichkeit der Seele (III 417-829). Diese brauchen hier nicht im einzelnen behandelt zu werden, denn wenn die materialistische Grundannahme richtig sein sollte, würde kein Platoniker die Vergänglichkeit der Seele bestreiten; gelingt dagegen der Beweis der notwendigen Immaterialität der Seele, so ist den lukrezischen Argumenten ihre Grundlage entzogen. 130 A.A. Long & D.N. Sedley, op. cit., 14 F (Lukrez). 126

36 ordnet, ihr eine bestimmte Gestalt einprägt und sie belebt, kann kein als Seele oder irgendwie anders bezeichneter Körper sein, sondern allein eine immaterielle Wesenheit. Am Schluß der kurzgefaßten Zurückweisung des Atomismus heißt es (3, 5-6): Aus teillosen Bestandteilen kann kein Körper und keine Größe entstehen. – Die Körper können also nicht, wie die Atomisten behaupten, aus unteilbaren (und damit teillosen, denn alles, was Teile hat, kann in diese zerlegt werden) Partikeln aufgebaut sein. Eine Begründung hierfür bietet Aristoteles131: Es ist unmöglich, daß aus unteilbaren bzw. teillosen Bestandteilen ein Kontinuum entsteht (231 a 24), denn ein Kontinuum entsteht entweder dadurch, daß die Enden der Bestandteile zu einer Einheit verschmelzen, oder dadurch, daß die Enden ortsgleich miteinander sind; dies ist hier aber beides ausgeschlossen, weil Bestandteile, die ihrerseits keine Teile haben, offensichtlich auch kein „Ende“ haben, was ja ein Teil der Ganzheit wäre (vgl. a 26-29). Was ohne Teile ist, weist keine Struktur und keine Differenzierung (in Anfang, Mitte und Ende) auf. – Die teillosen Bestandteile, die ein Kontinuum bilden sollen, können sich auch nicht berühren, denn es gibt nach Aristoteles nur drei Weisen der Berührung: Entweder berührt die eine Ganzheit eine andere Ganzheit (a), oder der eine Teil einen anderen Teil (b), oder aber ein Teil berührt eine Ganzheit (c); keine dieser Möglichkeiten besteht jedoch für das Unteilbare: Weil es keine Teile hat, entfallen (b) und (c); (a) scheidet aus, weil die Berührung zweier Ganzheiten nicht Kontinuität ist – ein Kontinuum besteht per Definition aus mehreren Teilen, die voneinander unterschieden werden können (231 b 2-6); hingegen würden teillose Ganzheiten bei der Berührung – wenn es eine solche geben kann – sogleich zusammenfallen. Was unteilbar ist, hat keinerlei Ausdehnung; Ausdehnungsloses aber kann kein Kontinuum bilden132. Beliebig viele unausgedehnte Bestandteile („Punkte“; eb.), die also ohne Größe sind und nicht den geringsten Raum einnehmen, werden gemeinsam nie einen Körper bilden können, denn es ist ausgeschlossen, daß ihre Summe irgendeine Größe konstituiert. – Aristoteles versteht die unteilbaren Körper als „Naturpunkte“, d.h. als etwas, was frei von Ausdehnung und Masse ist; nach dem Gesagten ist es aber unmöglich, daß Ausdehnungsloses die Körper bilden kann; folglich ist „die Atomistik als Naturlehre“ abzulehnen.133 Körperlichkeit und Unteilbarkeit schließen einander aus. Anders als Plotin würde Epikur dieser aristotelischen Argumentation jedoch nicht folgen, denn für ihn sind die Atome sehr wohl zugleich unteilbar und ausgedehnt (sie sind ja von unterschiedlicher Größe, s.o.). Das Atom ist zwar ein physikalischer Körper, der sich auch mit anderen Körpern zusammenschließen kann, aber doch – wegen seiner extremen Dichte – physikalisch unteilbar134. Die

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Vgl. Phys. 231 a 21 – b 18. Vgl. H. Wagner, Anmerkungen zu der Physikvorlesung des Aristoteles, S. 616. 133 Op. cit., S. 617. 134 Vgl. A.A. Long & D.N. Sedley, op. cit., 8 B 3 und 9 C 3 (Lukrez). 132

37 Atome können nicht realiter geteilt werden, aus ihren Verbindungen entstehen aber gleichwohl Körper mit bestimmter Größe. Daß es solche Körper geben kann, leugnet Plotin mit Aristoteles. Berechtigt ist jedenfalls Plotins Einwand, es sei unmöglich, daß sich aus Teilen von äußerster Härte, die sich nicht abstoßen, sondern im Gegenteil von selbst, d.h. ohne das Hinzutreten einer von den Atomen verschiedenen Kraft, miteinander verbinden, Einheiten (konkrete Körper mit Empfindungseinheit) bilden.

§ 5: Die stoische Pneuma-Seele I

Zu der in § 3 betrachteten Elementenlehre der Stoiker ist nun noch folgendes zu ergänzen: Ähnlich wie nach platonisch-neuplatonischer und aristotelischer Lehre, bestehen die sogenannten einfachen Körper auch gemäß der stoischen Naturphilosophie aus den Momenten Form und Materie135. Anders als im Platonismus kann keiner der beiden Bestandteile selbständig für sich existieren136, sondern sie sind immer miteinander verbunden. Die Form ist das tätige Prinzip und wird mit Gott und der Vernunft (dem λόγος) identifiziert; die Materie ist ebenfalls notwendig, aber passiv137; durch die Mischung beider bilden sich die Körper, und zwar zunächst das Feuer138. Da die Prinzipien realiter nicht voneinander getrennt werden können, handelt es sich bei ihnen um die nur begrifflich unterscheidbaren Aspekte eines Körpers. Das aktive Prinzip gestaltet die von sich her form- und qualitätlose, unbestimmte und veränderliche Materie (das ὑποκείµενον139) und bringt so die geordnete Welt hervor140. Die Prinzipien Gott (Demiurg) und Materie sind die unentstandenen und unvergänglichen Grundlagen des Kosmos141. 135

Vgl. M. Hossenfelder, Die Philosophie der Antike 3, S. 81: Die Stoiker „unterscheiden an allem Körperlichen (...) Hyle und Logos“, d.h. den passiven Stoff und die aktiv wirkende und gestaltende Vernunft. Allerdings fassen sie den Logos als Körper auf. Vgl. dort auch S. 82. 136 Das Formprinzip der Körper ist Platon zufolge die Seele; daß diese selbständig für sich existiert, sucht Plotin in der gegenwärtigen Abhandlung zu zeigen. Zur Stoa vgl. M. Hossenfelder, op. cit., S. 82. – Das, was ist, sind für die Stoiker die Körper, entweder die Elemente oder Verbindungen von Elementen. Eine weitere Zerlegung der einfachen Körper ist nur theoretisch möglich, denn die Ergebnisse dieser gedanklichen Zerlegung (Stoff und Vernunft) können nicht real für sich existieren. Das wirklich Existierende ist demnach immer Körper. 137 A.A. Long & D.N. Sedley, Die hellenistischen Philosophen, 44 B (Diogenes Laertios); vgl. auch 55 E (Seneca). 138 Eb. 45 G (Aristokles): Das Feuer besteht nach Zenon aus der Vermischung von Gott und Materie, die beide körperlich seien. Zu dieser Mischung vgl. auch 45 H (Alexander von Aphrodisias). 139 Eb. 44 B (Diogenes Laertios): Die Materie ist von sich her qualitätslos. Ferner D und E (Calcidius). 140 Eb. 45 H (Alexander). 141 Eb. 44 B (Diogenes Laertios). Vgl. auch 44 D (Calcidius); E 4 (ders.): Die Materie und die Vernunft existieren immer. – Vgl. auch M. Hossenfelder, Die Philosophie der Antike 3, S. 81-82: Die Stoiker unternahmen im Anschluß an Heraklit und Aristoteles eine Intellektualisierung der Hyle, d.h. jeder Elementarkörper (jedes „στοιχεῖον“) besteht aus zwei Prinzipien (ἀρχαί), dem leidenden „Stoff“ und der wirkenden „Vernunft“, die allerdings „nur (...) begrifflich trennbar“ sind. Damit wird der göttliche „Logos zum eigentlich gestaltenden Prinzip der Welt“. Es bleibt allerdings problematisch, im Zusammenhang der stoischen Physik von einer Intellektualisierung zu sprechen, denn weder der Logos noch die Materie wird als immateriell aufgefaßt. – Vgl. auch M. Forschner, Die stoische Ethik, S. 25-42 (mit

38 Nimmt man mit den Stoikern an, die Seele sei ein einfacher Körper (nämlich der warme Hauch, dessen Feuer- und Luftelemente vollständig miteinander verschmolzen sind), und ist, wie auch die Stoiker konzedieren, der hyletische Aspekt dieses Körpers eigenschaftslos-unbestimmt, so muß sein eidetischer (logoshafter) Aspekt wesenhaft lebendig und dadurch die Ursache seiner Lebendigkeit sein (3, 6-9). Aber wie ist dieses Lebensprinzip näher zu bestimmen? Plotin nennt zwei Möglichkeiten: Es ist entweder Substanz (οὐσία, 3, 9) (a) oder eine Affektion der Materie („πάθηµα τῆς ὕλης“, 3, 12-13) (b). (a) Wenn das Lebensprinzip Substanz ist, kann die Seele nicht beides, d.h. Eidos und Materie (also Körper), sein, wie die Stoiker behaupten, sondern nur der eidetische Bestandteil des Körpers; dieser aber kann nicht seinerseits wieder ein Körper sein, denn sonst ließe er sich ebenfalls in Eidos und Hyle zerlegen, was offenkundig zu einem infiniten Regreß führte; folglich ist die Seele eine immaterielle Substanz (3, 9-12).142 Während jeder Körper aus der Zweiheit von Form und Stoff besteht, ist die reine (d.h. materiefreie) Form eine einfache Wesenheit. Nähme man an, auch die Form sei ein Körper, so wäre zu schließen, daß die Körper aus Stoff und Körper bestehen. – Die Vermeidung eines regressus in infinitum führt also unausweichlich zu Plotins Lösung: Es ist notwendig, eine immaterielle aktive Kraft als Seele anzusetzen. (b) Ist das Lebensprinzip aber eine Affektion des Stoffes, so muß erklärt werden, woher dieser Zustand, die Lebendigkeit, in die Materie gekommen ist (3, 12-14), d.h. dieser Zustand wäre seinerseits zu begründen, weil der Stoff als solcher ohne Bestimmungen ist und also auch die Lebendigkeit nicht von sich her hat. Da die Materie passiv ist, formt sie sich nicht selber und pflanzt sich

zahlreichen wertvollen Anmerkungen). Das eine der „beiden Grundmomente des (...) Seins“, die „Hyle“, ist ein vornehmlich von Aristoteles geprägter Begriff, das andere, der göttliche „Logos“, von Heraklit (S. 25-26). Zu den vorsokratischen („Logos“, „Feuer“), platonisch-altakademischen (Demiurg, „Weltseele“) und aristotelisch-peripatetischen („Eidos“, „Physis“) Quellen der „stoischen Prinzipienlehre“ vgl. eb. S. 27-28. Entscheidend für Plotins Kritik bleibt, daß die Stoiker nicht von der grundsätzlichen Unzulänglichkeit eines materialistischen Weltbildes allgemein und speziell einer materialistischen Prinzipienlehre überzeugt waren. – Grundlegend sind in diesem Zusammenhang die Untersuchungen von H.J. Krämer in Platonismus und hellenistische Philosophie, bes. S. 108 ff. 142 Daß ein infiniter Regreß vermieden werden muß, steht für Plotin ebenso fest wie für Platon und Aristoteles (s. bes. Mph. 1070 a 4: „ἀνάγκη δὴ στῆναι.“). Gäbe es nicht in jeder Ursachenkette ein oberstes Prinzip, einen bei allem folgenden vorausgesetzten, selbst aber voraussetzungslosen Ursprung (eine ἀνυπόθετος ἀρχή), von dem alles übrige abhängt, so gäbe es überhaupt keine Ursachenreihe, denn keine Wirkung kann ohne Ursache sein. Das höchste oder erste Prinzip hat also seinen Grund in sich selbst (ist causa sui). Ohne den alles weitere beherrschenden Anfang einer Ursachenkette (die Arche in ihrer Doppelbedeutung von anfangen und herrschen) hinge die ganze Kette sozusagen in der Luft. Dies ist in Platons Seinslehre letztlich die Idee des Guten bzw. das Gute (vgl. Rep. 509 b 6-10) oder das Eine (Parm. 141 e) und in der Ersten Philosophie des Aristoteles das unbewegt Bewegende (τὸ ἀκίνητον κινοῦν, vgl. Mph. 1012 b 30-31). – Entsprechend ist auch in der Ethik ein oberstes Gut anzusetzen, um dessen willen alle anderen Handlungen unternommen werden; denn gäbe es für den Menschen keine Tätigkeit, die um ihrer selbst willen geschieht, sondern immer nur wegen eines ferneren Zieles, so wäre letztlich alles Handeln sinnlos (vgl. Arist. EN I; die vollkommenste Tätigkeit, durch die der Mensch dem Göttlichen ähnlich wird, ist die Theoria: EN X). – Die Notwendigkeit, einen infiniten Regreß durch die Ansetzung einer ersten Ursache zu vermeiden, gilt allgemein, und so auch in der Naturphilosophie.

39 nicht selber die Seele ein (3, 14-15), sondern die Psyche als das aktive Prinzip tritt einend und gestaltend an die nach ihr verlangende Hyle heran; sie ist also von anderer Art als diese. Dasjenige, was entweder die erste Materie oder die bereits geformte, aber noch unbelebte Materie mit Lebendigkeit soll affizieren können, kann demnach seinerseits nicht wiederum Stoff sein (3, 1518). Die stoische These, auch das logoshafte Moment des Körpers sei körperlich, kann nach diesen Überlegungen nicht aufrecht erhalten werden. Die Seele ist auch das Seinsprinzip der Körper (3, 18-19): Alles Körperliche ist von der PsycheHypostase ontologisch abhängig. Es befindet sich fortwährend in Bewegung und Veränderung, es entsteht, unterliegt vielfältigen Wandlungen und vergeht schließlich; kein Körper kann sich aus eigener Kraft oder durch die ausschließliche Wirkung anderer Körper im Sein erhalten, und dies würde auch für einen angenommenen Seelenkörper gelten, der grundsätzlich den gleichen Einwirkungen unterläge wie die übrigen Körper (3, 19-22). Die Körper existieren genau so lange, wie sie von einer Seele geeint und dadurch im Sein bewahrt werden143; verlieren sie diese Einheit, so hören sie sofort („ὡς τάχιστα“, 3, 20) auf, Körper zu sein, denn ihr hyletisches Moment ist an sich unbestimmter, potentiell seiender Stoff, während ihr formendes Moment als immaterielle Kraft für sich existiert. Weil die Seele der aktive Einheitsgrund der Körper ist, ist sie auch ihr Seinsgrund; und Einheitsprinzip kann die Seele sein, weil sie durch die Schau des reinen Geistes einheitliche Strukturen, gleichsam Bilder des Einen selbst, empfanden hat und an die naturhafte Wirklichkeit, die sie erzeugt, weitergibt und weil sie selbst geistartig, d.h. einfacher als alles Körperliche, ist.144 Anders als das Sein der Ideen, die – im Absoluten gründend – vollkommen unveränderlich für sich selbst bestehen, ist das körperliche Sein von Veränderung geprägt und zeigt dadurch seine Neigung zum und seine Verbindung mit dem Nichtseienden, denn das Vergehende ist nicht mehr, was es war, und das Entstehende ist noch nicht, was es sein wird. Das Körperliche hat nur einen Abglanz des wahren Seienden, den ihm die Seele vermittelt, es steht als ein immer Anderes zwischen Sein und Nichtsein, solange es mit der Seele verbunden ist; von dieser hängt es einseitig ab. Einte die Seele den chaotischen Stoff nicht, so bliebe er bloße Möglichkeit (passives Seinkönnen), statt zu aktualen Sinnendingen geformt zu werden (3, 22-24). Damit ist deutlich, daß die Seele nicht wiederum Stoff sein kann, denn unter dieser Voraussetzung gäbe es überhaupt nur potentiell Seiendes145 – oder es gäbe vielleicht noch nicht einmal die Hyle (3, 24-25): D.h. die erste Materie, die 143

Jede Form von Sein setzt Einheit voraus (s.o.). – Der Weltkörper und die Gestirne können nur deshalb als unvergänglich gedacht werden, weil sie immer mit einer rationalen Seele verbunden sind. 144 Es kann problematisch erscheinen, daß die Seelen qua Lebensprinzipien die Körper in einem bestimmten Augenblick „verlassen“, daß aber die Verbindung mit der Weltseele qua Einheitsprinzip nicht plötzlich abbricht, sondern allmählich schwächer wird, denn kein toter Körper ist sogleich Nichts, sondern der Verwesungsprozeß dauert einige Zeit. Möglicherweise ist die Wirkungskraft der Weltseele ungleich stärker und dauerhafter als die einer Einzelseele. 145 Als notwendige Voraussetzung für das Entstehen von Körpern kann die Seele nicht selber Körper sein. Vgl. hierzu auch die Ausführungen zu Kapitel 83.

40 innerhalb des plotinischen Weltbildes als radikal Vielheitliches am weitesten von dem einfachhin Einen entfernt steht, ist nur als von der Formkraft zu gestaltende oder dann gestaltete Materie, von sich her aber nicht aktual seiend. Ihrem wenn auch fernen und mittelbaren Verhältnis zum Einen selbst verdankt es die Hyle letztlich, daß sie nicht absolut und unaufhebbar nichtseiend, sondern potentiell seiend ist und durch die Aktivität psychischer Dynameis zusammen mit diesen den sichtbaren Kosmos mitbegründen kann. Der Stoff hat nur im Rahmen seiner einseitigen Abhängigkeitsrelation zur Form eine positive Bedeutung. In dem hierarchischen Kosmos, den man sich zur Verdeutlichung oder um der Belehrung willen (διδασκαλίας χάριν) bildlich als Pyramide vorstellen kann und über dessen Spitze das Eine-Gute steht, liegt nach der neuplatonischen Seinslehre vom obersten Punkt bis zur vielfältigsten Ebene ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis vor: Das Hen bedarf der verschiedenen Stufen des Seins nicht, es ist über sie erhaben146, während diese nur sind, sofern sie von dem überseienden Absoluten Einheit und damit Sein erhalten. Die Nous-Hypostase ist von Psyche, Physis und Hyle unabhängig, diese dagegen können ohne den göttlichen Geist nicht sein. Die Seele hängt mittelbar vom Einen ab und unmittelbar vom Geist, in dem sie ursprünglich unentfaltet eingeschlossen ist, um sich dann in einem unzeitlichen Akt aus ihm zu entwickeln147 – erst durch diese Entwicklung gibt es Individualität und Selbstsein; der Sinnenwelt und der Hyle bedarf die Seele nicht. Umgekehrt existieren die Körper nur in Abhängigkeit vom Einen und von den intelligiblen Hypostasen. Sie sind die letzte Manifestation der überseienden Arche und als solche auch geeint, seiend, gutartig und schön, wenn auch nicht von sich her. Die seelische und die naturhaft-stoffliche Sphäre haben gegenüber dem Geist nur ein abgeleitetes Sein und Leben. Zwischen den benachbarten Bereichen der Hierarchie besteht jeweils das Verhältnis von Urbild und Abbild (Schatten, Spur, Erscheinungsweise, Explikation), Grund und Begründetem, Erzeuger und Erzeugnis, Prinzip und Prinzipiat, Ursache und Wirkung. Der Begriff Emanation ist mißverständlich, denn aus dem Einen fließt nicht wirklich etwas hervor, so daß es dies verlöre und dann einen Mangel hätte (dies ist schon durch seine radikale Einfachheit ausgeschlossen), sondern es bewahrt seine Vollkommenheit (oder besser Übervollkommenheit), während das Seiende gleichsam148 aus ihm hervorgeht. Die Emanationsmetapher hat den Sinn, die unermeßliche Überfülle des Einen und die Angewiesenheit alles Seienden als Seiendem auf Es zu erhellen. Alles Seiende ist abgeleitet vom Einen und verweist auf Es.149 Ferner hat sie den Sinn, als absolute Metapher ein nicht begreifbares Begründungsverhältnis vorzustellen; denn begreifbar ist erst das Sein. – Das Kriterium dafür, welche Position jede Wesenheit in der Wirklichkeit einnimmt, ist das Maß seiner Einfachheit. Je einfacher es ist, umso näher ist es dem Einen und umso ursprünglicher ist es – nicht in räumlicher

146

Es wäre dem Einen egal, wenn es kein Seiendes gäbe. Vgl. VI 7, 13, 1: Die Seele stammt aus dem Nous. 148 Das Wort „οἷον“ ist an zahlreichen Stellen in den Schriften Plotins philosophisch bedeutsam, z.B. in V 1, 6-7: 6, 12. 13. 29. 33. 7, 11. 12. 15. 17. 23. 24. 41. Ähnlich „ὥσπερ“, z.B. V 1, 6, 29-30. 7, 31. 149 Vgl. K. Kremer, Plotin. Seele – Geist – Eines, S. XXXIV. 147

41 oder zeitlicher Bedeutung, sondern im Sinne eines metaphysischen Begründungssystems. Das Vielfältigere (die nächste Entfaltungsstufe) ist jeweils durch sein einfacheres Exemplum bedingt; im strengen Sinne voraussetzungslos-unbedingt ist allein das wirklichkeitsüberlegene, radikal transzendente Absolute, die bereits von Platon so bezeichnete ἀνυπόθετος ἀρχή150. Es ist der selbst unentsprungene Ursprung alles Seienden und als solcher autark gegenüber allem, was ist. Mit den Graden der Einfachheit, Unabhängigkeit und Ursprünglichkeit gehen Grade der Vollkommenheit einher: Auf das einfachhin Eine, das dank seiner unüberbietbaren Jenseitigkeit absolut unabhängig, die Quelle von allem und übervollkommen ist, folgen die zunehmend vielheitlichen und abhängigen Seinsstufen bis hin zur Hyle, die uneingeschränkte Vielheit, gänzlich abhängig und mangelhaft ist und aus der keine weitere Wirklichkeitsstufe, nicht einmal ein potentiell Seiendes, hervorgeht. – Die Hyle darf nicht neben dem Hen als gleich ursprüngliches, schlechtes oder böses Gegenprinzip mit eigener aktiver Kraft im Sinne eines Dualismus mißverstanden werden, sondern sie ist das gänzlich Abhängige, von sich her Machtlose, ja Nichtige, das in dem Sinne schlecht ist, daß ihm die Einheit und damit auch Sein, Gestalt, Ordnung und Schönheit fehlen. Es ist im privativen Sinne schlecht, also deshalb, weil in ihm das Agathon nicht gegenwärtig ist und wirkt (vgl. I 8). Die natürlichen Dinge hat die Weltseele aus der prote Hyle geformt und dadurch erst erschaffen; die Artefakte bildet der Handwerker oder Künstler (d.h. die individuelle Vernunftseele, die sich eines Körpers als Hilfsmittel bedient) in einem zweiten Schöpfungsakt aus vorgeformtem, bereits seiendem Material, das die erste Energeia besitzt und damit zugleich die zweite Dynamis, noch weiter geformt zu werden. Der Technites kann aus einem rohen Marmorblock zwar ein Kunstwerk gestalten und insofern die Tätigkeit der Weltseele vervollkommnen151, er ist aber andererseits von dieser abhängig, da er den Rohstoff, den er braucht, um seine Kunst auszuüben, nicht selbst erzeugen kann. Daher ist der Künstler lediglich zweiter Schöpfer. Das vollendete Kunstwerk aber ist Materie im Zustand der zweiten Energeia.152 – Weil die Seele des Kosmos und die vernünftigen Individualseelen gleichen Ursprungs und Wesens sind, können sie sich bis zu einem gewissen Grad ergänzen. Die Weltseele könnte nicht der Einheits- und Seinsgrund des Weltalls sein, wenn sie ein Körper, z.B. die Luft oder das feinstoffliche Pneuma, wäre153, da jeder Körper zu Zerstreuung und Auflösung tendiert, nicht aus eigener Kraft eine dauerhafte Einheit sein kann und die Welt folglich mit ihrem materiellen Prinzip vergehen würde (3, 25-28), denn seine Einheit kommt dem Körper nicht 150

Plat. Rep. 510 b 7 und 511 b 6-7. Vgl. auch V 8, 1, 36-38 und dazu W. Beierwaltes, Das wahre Selbst, S. 64 mit Anm. 186. 152 Die Lehre von der ersten Potenz, der ersten Aktualität, die zugleich eine zweite Potenz in sich birgt, und der zweiten Aktualität hat der Gründer des Peripatos entwickelt. 153 Vgl. A.A. Long & D.N. Sedley, op. cit., 47 M (Plutarch): Nach Chrysipp werden die Körper durch Luftströme zusammengehalten (geeint) und geformt. Vgl. eb. N (Galen). Eb. O (Diogenes Laertios): Die Welt ist ein Lebewesen, beseelt und vernünftig; der Äther bzw. sein reinster Teil (oder der Himmel oder die Sonne – also jedenfalls ein bestimmter, feinteiliger Körper) ist ihr leitendes Vermögen. 47 Q (Philon): Es können vier Arten des Einheitsprinzips unterschieden werden: der Habitus (die ἕξις), die Natur (φύσις), die (vernunftlose) Seele (ψυχή) und die vernunftbegabte Seele (λογικὴ ψυχή). Auch Steine und Hölzer werden durch einen Hauch zusammengehalten. – Vgl. dazu die Kapitel 82 und 83. 151

42 wesentlich zu – und ein warmer Hauch verflüchtigt sich noch leichter als viele andere Körper, was die Lehre von einer Pneumaseele als Einheitsprinzip umso problematischer erscheinen läßt. Wenn also alle Körper von sich her zu Auflösung und Zerteilung neigen (ihre eigene Einheit nicht dauerhaft bewahren können), dann sind sie offensichtlich auch nicht in der Lage, die Einheit und das Sein anderer Körper – zumal des Weltkörpers insgesamt – zu erhalten; die Welt wäre dann kein Kosmos, sondern ein vernunftlos, ordnungslos und ohne Regel Bewegtes (vgl. 3, 28-30) – oder genauer: Sie wäre, wenn ihr ein einender Grund fehlte, überhaupt keine wirkliche Welt (3, 34-35). Die das Weltall einende Seele ist demgemäß notwendigerweise immateriell. Das dauerhafte Sein der Welt setzt voraus, daß auch ihr Seinsgrund unvergänglich ist. – Jeder Körper braucht etwas, was ihn zusammenhält, weil er sich andernfalls sogleich auflöste und zu Nichts würde; die Auffassung, dieses Zusammenhaltende sei wiederum ein Körper, etwa die Pneumaseele, führt zu einem infiniten Regreß, der sich also nur vermeiden läßt, wenn man etwas Unkörperliches als einende Kraft der Körper annimmt und als Prinzip zugrundelegt154, und dieses Prinzip bezeichnen wir als Seele. Mit der einenden und seinsstiftenden Aktivität der Seele geht ihre Ordnungsfunktion einher: Sie eint den Stoff nicht auf irgendeine beliebige Weise, sondern vernunftgemäß und im Hinblick auf die Ordnung des Ganzen; anders als die immaterielle Seele kann kein Körper von sich her Ordnung („τάξις“, 3, 30), Vernunft („λόγος“, 3, 31) und Geist („νοῦς“, eb.) haben; die Psyche ist notwendige Voraussetzung der sichtbaren Welt und ihrer Geordnetheit (3, 30-35). Die Weltseele und die rationalen Einzelseelen haben Taxis, Logos und Nous, weil sie Entfaltungsmomente des reinen Nous und diesem wesensähnlich sind. Sie tragen gleichsam Bilder der vollkommenen Geordnetheit in sich und wirken im Hinblick auf dieses Paradigma, soweit ihnen dies möglich ist, in der Erscheinungswelt. Auch die irrationalen Einzelseelen sind nous-ähnlich, insofern nämlich auch sie materiefreie Substanzen sind, welche die Körper einen, ordnen, beleben usf. Keinem Körper ist seine Ordnung wesentlich, was sich daran erkennen läßt, daß er sie früher oder später verliert und dadurch zugrunde geht. Gerade das nach stoischer Doktrin weltgestaltende Feuer ist selbst nur wenig geordnet und strukturiert. Auf welche Weise aus seiner zerstörerischen Gewalt ein Kosmos, wie die Griechen ihn verstanden, entstehen kann, ist nicht einzusehen. Vernünftig oder geisthaft kann nur das der Nous-Hypostase Ähnliche sein, d.h. eine ebenfalls unkörperliche, transzendente, unentstandene und unvergängliche Wesenheit. Dies aber gilt für keinen Körper, unabhängig davon, wie feinstofflich er ist, sondern nur für die unmittelbar vom Geist stammenden Seelen. Das Körperliche ist hingegen vom Nous weit entfernt, d.h. ihm unähnlich; es konnte nicht direkt aus ihm entstehen, sondern nur mit Hilfe der Psyche als vermittelnder Zwischenstufe, die sowohl mit dem reinen Geist als auch mit dem Körperlichen Gemeinsamkeiten und 154

A.A. Long & D.N. Sedley, op. cit., 47 J (Nemesios). Vgl. auch eb. L (Alexander von Aphrodisias): Das Einheitsprinzip des Weltalls kann nicht der alles durchdringende stoische Hauch sein. Vielmehr werden die Körper durch ihre Form (ihr εἶδος) zusammengehalten.

43 Unterschiede hat, dem Ursprung aber ähnlicher ist als dem Erzeugnis. Ausschließlich die unstoffliche, rationale Weltseele kann den Kosmos phainomenos planvoll erschaffen, vernunftgemäß ordnen und in seiner Einheit erhalten. Ihr Vorbild bei diesen Tätigkeiten ist der Ideenkosmos, den sie intellektuell geschaut hat; er enthält in paradigmatischer Einfachheit alle Vielfalt der nebeneinander und nacheinander existierenden Erscheinungen (d.h. die Ideen als Urbilder, aber nicht auch die einzelnen Phainomena). Es ist das Vermögen der Weltseele, die idealen Momente des Mundus intelligibilis auf unvollkommene Weise sinnlich real werden zu lassen.155 Ein konsequenter Materialismus führt also mit Notwendigkeit zu Widersprüchen. Auch die Stoiker vertreten keinen reinen Materialismus; einige Aporien, die ihr System enthält, sind ihnen aber offensichtlich nicht bewußt geworden. – Da die beiden stoischen Annahmen, die Körperlichkeit der Seele einerseits und die Unbestimmtheit der Materie andererseits, nicht miteinander zu vereinbaren sind, folgert Plotin, daß eine der beiden Annahme – und zwar die unplatonische – falsch ist: Die Seele kann kein Körper sein.

§ 6: Die stoische Pneuma-Seele II

Die Stoiker nennen das Pneuma vernunftbegabt („ἔννουν“) und das Feuer vernunfthaft („νοερόν“)156 und zeigen Plotin zufolge dadurch an, daß auch sie ahnen, daß es eine Art von Seele („ψυχῆς εἶδος“) geben muß, also etwas, das – gemäß Plotin – vollkommener (seinsmächtiger: „κρεῖττον“) als die Körper und notwendige Voraussetzung für sie ist – jedoch ohne die notwendigen Konsequenzen aus dieser Ahnung zu ziehen; das Eidos ist ursprünglicher als die Körper („πρὸ τῶν σωµάτων“), selber also kein Körper (4, 1-4).157 155

Vgl. III 2, 1, 20 ff., bes. bis 4, 20: Das Weltall ist dem Geist gemäß, es stammt von ihm, der Geist ist seine Ursache und sein Urbild; die Körperwelt existiert nur in Abhängigkeit vom Geist. Der Geist und das Seiende sind der wahre und ursprüngliche Kosmos, der seine Einheit vollkommen bewahrt (die in dieser Formulierung implizierte Assoziation an Zeitlichkeit ist irreführend, aber kaum zu vermeiden), statt, wie sein Abbild, in distinkte Teile zu zerfallen. Die geistige Welt ist ohne Veränderung; sie hat keinen Mangel. Was im Geist ewig geeint ist, entfaltet sich bei der Entstehung der gestalteten Materie. Die Phänomene haben ihr Sein durch Partizipieren am Nous. Der κόσµος νοητός ist ausschließlich Vernunft, und was aus ihm hervorging, konnte nicht von gleicher Art, sondern mußte weniger vollkommen sein; es ist etwas zwischen dem uneingeschränkt Seienden und der ordnungslosen Hyle, eine von der Seele geleitete Mischung aus beidem. Als Bild des Geistes ist das Weltall schön und vollkommen. Das irdische Leben unterliegt der (räumlichen) Bewegung und Veränderung, das geistige aber ist davon frei. 156 Vgl. A. Graeser, Plotinus and the Stoics, S. 44. – Daß die Seele ein vernunfthafter, warmer Hauch sei, ist für Plotin eine widersinnige Feststellung, weil Wärme eine Qualität ist, die Körpern zukommen kann, während Vernünftigkeit, wie oben gesagt wurde, nur einer dem Nous ähnlichen, stofflosen Wesenheit eigen sein kann. – Vgl. auch VI 1, 26, 1115: Wenn Gott ein Körper ist, besteht er aus Form und Materie; dann sind diese Bestandteile ursprünglicher als Gott (sc. und Gott wäre nicht, wie beansprucht wird, das erste Prinzip). Hat er dagegen die Form vor der Materie, so ist er reiner Logos und unkörperlich. Siehe auch 27, 4-7. 157 Im Hintergrund steht auch hier die neuplatonische Seinshierarchie. Diese kehren die Stoiker um; vgl. auch das folgende und besonders das Kapitel 83.

44 Während die stoische Kosmogonie vorsieht, daß sich die Welt aus Feuer und Hauch entwickelt, diese Stoffe also für Prinzipien gehalten werden, können die Körper nicht wirklich erste Ursachen sein, sondern bedürfen ihrerseits eines Grundes in den Kräften der unkörperlichen Seele (4, 4-7). Wenn also bestimmte Körper vernunftartig zu sein scheinen, dann kommt diese Vernünftigkeit nicht den Körpern als solchen zu; sie setzt vielmehr eine immaterielle Wirkungskraft voraus, deren Träger das ist, was wir als Seele bezeichnen. – Die Stoiker leugnen die Abhängigkeit der sichtbaren Wirklichkeit von intelligiblen Kräften, weil sie davon ausgehen, daß nur Körper zu wirken vermögen. Sie schreiben den Prinzipien des Weltalls zwar mit Recht Vernunft zu, geraten aber in Widersprüche, wenn sie diese logoshaften Ursachen zugleich als Körper ansehen. Um eine unübersehbare Schwäche in ihrer Theorie zu beseitigen, führen die Stoiker neben dem nicht näher charakterisierten Hauch noch den bestimmtbefindlichen Hauch, „τὸ (...) πως ἔχον πνεῦµα“ (4, 12-13)158, ein. Dies ist aus folgendem Grunde notwendig (4, 8-21): Der Hauchseele wird aktives Wirken zugesprochen; von bloßen Körpern geht aber keine solche Wirkung aus, so daß sie nicht von sich her Seele sein können. Folglich ist neben den Körpern ein wirkendes Prinzip (eine φύσις δραστήριος, 4, 11) anzusetzen, ein Zusatz zum bloßen Hauch. Weil ein Hauch an sich unbelebt (ἄψυχον, 4,12), nicht notwendig lebendig ist, muß noch etwas hinzukommen, damit er als Seele fungieren – Erstursache in der Sinnenwelt sein – kann. Dieser Zusatz, der das Pneuma näher bestimmt, ist entweder seiend oder nichtseiend. Aus beiden Alternativen ergeben sich Folgen, die nicht im Sinne der Stoiker sind: Ist der Zusatz nichtseiend, so ist das πως ἔχον nur ein bedeutungsloses Wort, das als solches die Theorie nicht wirklich verbessern kann. Dann bestünde sachlich kein Unterschied zwischen dem bloßen Hauch und dem bestimmtbefindlichen Hauch, denn etwas Nichtseiendes, ein Zusatz, der gar nicht ist, kann das Pneuma nicht näher charakterisieren. – Ist er hingegen seiend und existiert neben der Materie als etwas von ihr Verschiedenes, dann ist er immateriell, eine unzusammengesetzte, rationale Form („λόγος (...) τις“, 4, 20), er hat also ein anderes Wesen als die (aus zwei Momenten bestehenden) Körper („οὐ σῶµα καὶ φύσις ἑτέρα“, 4, 20-21). Genau dies aber ist die plotinische Lösung: Dasjenige, was den Hauch zu einem „bestimmtbefindlichen“ macht, was ihn also gestaltend qualifiziert, heißt in platonisch-neuplatonischer Begrifflichkeit Seele; sie ist das Einheits-, Seins-, Ordnungsund Lebensprinzip. Nach den stoischen Prämissen läßt sich also nicht die materialistische Position beweisen, sondern Plotins eigene; der als notwendig erkannte Zusatz zum Pneuma ist das „Seelenprinzip“159. Zu der Einsicht, daß die Körper, zumal die dem Anschein nach spontan wirkenden, eines immateriellen Grundes bedürfen, gelangt also gerade derjenige, der von den stoischen Grundannahmen ausgeht und dann konsequent schlußfolgert.

158 159

Vgl. 4, 9; ferner SVF II 806 (Porphyrios bei Eusebios): „πνεῦµα πῶς ἔχον“. R. Harder, Plotins Schriften, Bd. Ib, S. 385.

45 § 7: Die Seele als Bewegungsprinzip

Plotin führt ein weiteres Argument dafür an, daß die Seele kein Körper sein kann: Jeder Körper ist durch bestimmte Qualitäten charakterisiert160; von zwei entgegengesetzten Beschaffenheiten kommt ihm aber jeweils nur eine zu, und nur diese kann er weitergeben: Ein Körper ist entweder warm oder kalt, hart oder weich, flüssig oder fest, er hat eine bestimmte Farbe, usw. (4, 22-25). Ein warmer Stoff wärmt ausschließlich, ein kalter bewirkt nur Kälte; Leichtes macht das, wozu es hinzutritt, ebenfalls leicht, Schweres schwer, usf.; es liegt nicht im Wesen des Feuers, Kälte zu bewirken, noch vermag Kaltes zu wärmen (4, 25-29).161 Kein Körper vermag eine Qualität zu bewirken, die seiner Natur entgegengesetzt ist. In diesem Sinne könnte man fragen: Wie ist es möglich, daß aus der Seele, die als feinstofflicher Hauch vorgestellt wird, feste Körper entstehen? Allenfalls, so sollte man annehmen, werden aus ihr andere feinteilige, warme Körper. Die Stoiker meinen, aus dem Feuer entstünden die übrigen Elemente durch zunehmende Verdichtung; aber was diese Kondensation initiiert, wenn es zunächst nur das Feuer gibt und auch nichts Unkörperliches real existiert, wird nicht einsichtig, zumal von bloßen Körpern keine Spontaneität ausgeht. Die Seele hat die Fähigkeit, auch entgegengesetzte Wirkungen auszuüben: Sie bewirkt in verschiedenen Lebewesen je Verschiedenes162 und auch in einem und dem selben Lebewesen Gegensätzliches: Sie macht einen Körper bald fest, bald flüssig, bald dicht, bald dünn, schwarz oder weiß, leicht oder schwer (4, 29-33). D.h. diejenige Kraft, die in den Körpern solche Veränderungen bewirkt, bezeichnen wir als Seele bzw. als eine ihrer Funktionen. Die Seele ist das Agens, das die Körper in zahlreiche, auch in gegensätzliche Zustände versetzt. – Als bewirkende Ursache einander entgegengesetzter Qualitäten ist die Seele offensichtlich selber nicht jeweils auf eine Hälfte des Gegensatzpaares oder auf eine Farbe und dergleichen festgelegt: Ein Seelenkörper müßte eine einzige Wirkung hervorbringen, entsprechend seiner körperlichen Beschaffenheit; da die Seele tatsäch-

160

Für die Stoa ist die Lehre bezeugt, daß die einfachen Körper jeweils nur eine Qualität haben: Das Feuer ist das heiße Element, das Wasser das feuchte, die Luft das kalte und die Erde das trockene: A.A. Long & D.N. Sedley, Die hellenistischen Philosophen, 47 B (Diogenes Laertios). Die auf unterschiedlichste Weise aus den Elementen zusammengesetzten Körper haben entsprechend auch mehrere verschiedene Qualitäten. 161 Vgl. Plat. Phd. 102 a – 107 b, bes. 103 c 10 – e 1: Das Warme ist dem Feuer wesentlich, wie dem Schnee das Kalte eigentümlich ist, so daß er nicht warm werden und weiterhin Schnee bleiben kann. Vgl. zum Verständnis des Passus auch K. Bormann, Platon, S. 124-126. 162 Da Plotin ausdrücklich von ζῷα (4, 30) spricht, denkt er vermutlich in erster Linie an Einzelseelen, die nacheinander verschiedene Lebewesen beseelen. Die Weltseele wirkt dagegen gleichzeitig in vielfältiger Weise auf zahlreiche unterschiedliche Sinnendinge ein.

46 lich jedoch Vielfaches bewirkt (4, 33-34), insbesondere auch Gegensätzliches, ist zu schließen, daß sie ein anderes Wesen hat als die Phänomene.163 Wie jeder Körper eine bestimmte Dichte, Farbe usw. hat, so kommt ihm auch eine bestimmte Bewegungsart zu (5, 2): Steine, in denen das Erdelement dominiert, und Regentropfen, die hauptsächlich aus dem Grundstoff Wasser bestehen, fallen, Dampf, in dem die Luft überwiegt, und feuerartige Körper steigen empor: Eine andere als diese naturgemäße Bewegung vollzieht ein Körper nur unter äußerem Zwang.164 – Auch ein angenommener Seelenkörper könnte also lediglich die eine, ihm eigene Bewegungsform ausführen und bei anderen Körpern verursachen, so wie heiße Luft in einem Ballon ausschließlich in der Lage ist, eine Aufwärtsbewegung zu bewirken, und Steine in einem Sack diesen immer nach unten ziehen – wobei die Ursachen dieser Bewegungen letztlich nicht die Körper selbst, sondern ihr Auftrieb bzw. ihre Schwerkraft sind, also die Bewegungen der Körper bestimmende Kräfte. Vielfältige und entgegengesetzte Bewegungen und Veränderungen könnten also nicht auf eine materielle Seele zurückgeführt werden. Die Seelen sind im umfassenden Sinne die Bewegungsprinzipien aller Körper; sie verursachen ganz unterschiedliche, auch einander entgegengesetzte Bewegungen (vgl. 5, 1). Dasjenige Prinzip, das die körperlichen Bewegungen ermöglicht und begründet, bezeichnen wir als Psyche. – Die Stoiker nennen als Ursachen der mannigfaltigen Bewegungsarten Vorsätze („προαιρέσεις“) und rationale Prinzipien (λόγοι)165 (5, 2-3). Dem stimmt Plotin zwar zu, betont aber gegen die Stoa, daß Prohairesis und Logoi nicht dem Körper zukommen (5, 3-4). Sie sind vielmehr unstoffliche, aktive Kräfte. Das Fassen von Vorsätzen ist eine Leistung der immateriellen Seele. Während es verschiedenartige Vorsätze und rationale Prinzipien gibt, ist der Körper einer und einfach (d.h. er ist warm oder kalt, feucht oder trocken usw., die entgegengesetzte Eigenschaft ist jeweils ausgeschlossen); der Körper hat von sich her keinen Anteil an einem solchen rationalen Prinzip, sondern er ist darauf angewiesen, daß es ihm gegeben wird (5, 4-7). Die Körper sind passiv und davon abhängig, daß ihnen die prägenden Formen bestimmte Qualitäten geben. Die Seelen haben die Freiheit, sich mit ihnen zu verbinden und ihre Bewegungspluralität, ihr Verfolgen unterschiedlichster Ziele, zu verursachen.166 Plotin weist also das (bei Aristoteles vorbereitete)167 stoische Dogma, der Logos sei dem Stoff immanent und wesenhaft mit ihm vereint und die Einheit von Gott und Materie sei unaufhebbar, zurück. Sinnenwesen, deren Seelen sie zur Ortsbewegung befähigen, können willentlich (vorsätzlich, intentional) ganz unterschiedliche Bewegungen ausführen. Pflanzen dagegen sind hiervon ausgeschlos163

Vgl. É. Bréhier, Notice zu IV 7, S. 180: Die Seele kann kein einfacher Körper sein, denn die Wirkungen eines einfachen Körpers sind selbst einfach. Auch nach Aristoteles kann die Substanz (= Seele) gegensätzlichen Bestimmungen zugrunde liegen. 164 Vgl. IV 5, 2, 36-43. 165 Hier folge ich erneut A.H. Armstrongs, nicht R. Harders Übersetzung. 166 Die Seele ist nämlich im Unterschied zu allem Körperlichen das sich selbst Bewegende. 167 Vgl. H.J. Krämer, Platonismus und hellenistische Philosophie, S. 111 mit Anm. 16.

47 sen. – Gerade diese Fähigkeit scheint freilich andererseits eine Unvollkommenheit oder Bedürftigkeit zu signalisieren: Die vollkommensten Wesen, die im Mundus sensibilis erscheinen, die Gestirne, üben nur eine einzige Bewegungsart aus, aber nicht, weil sie, wie die bewußtlose Materie, von ihrer Natur dazu gezwungen würden, sondern weil sie als sichtbare Götter unbedürftig sind. Anders als Menschen und Tiere, deren Mangelhaftigkeit sie dazu zwingt, vielerlei zu erstreben, vielfältigen Bedürfnissen nachzugehen, sind die Gestirne darüber erhaben, eine andere als die vollkommenste Bewegung zu vollziehen. Sie kehren immer wieder an den Ausgangspunkt ihrer Kinesis zurück. Damit imitieren sie die Denkbewegung des sich selbst anschauenden göttlichen Geistes, der ewig in sich selbst ruht.

§ 8: Die Seele als Wachstumsprinzip

Es gehört zum Wesen des lebendigen Körpers, eine gewisse Zeit lang zu wachsen, bis er seine volle Größe erreicht hat. Das Werden des Körpers bringt eine zunehmende Ausdehnung im Raum mit sich. Das Prinzip dieses Wachstumsprozesses heißt Seele. Zu fragen ist, ob die Seele diese ihre Funktion erfüllen kann, wenn sie auch selbst körperlich ist. Plotin verneint dies (5, 7-11) aus folgendem Grund: Nimmt man hypothetisch an, eine materielle Seele verursache das Wachstum eines anderen Körpers, so ist die Folge, daß diese Seele auch selbst – proportional zu dem Körper, den sie wachsen läßt – wachsen muß; es ist also notwendig, daß zu dem Seelenkörper noch weiterer Stoff hinzukommt, der entweder seinerseits Seele (a) oder ein unbeseelter Körper („ἄψυχον σῶµα“) (b) ist (5, 12-15), der also nur mit der Weltseele, aber nicht mit einer individuellen Seele verbunden ist. Beide Alternativen führen zur Erklärungsnot: Im Fall (a) kann nicht gesagt werden, woher, auf welche Weise und warum weitere „psychische Materie“ hinzukommt (5, 15-16). Schwierig ist dies besonders aufgrund der wesentlichen Passivität oder Rezeptivität des Körperlichen. Sein „Hinzutreten“ zu etwas anderem setzt eine Aktivität voraus, die ihm fremd ist. So ergibt sich die Notwendigkeit eines Dritten, des aktiven Prinzips, das spontan wirken muß. – Wenn andererseits etwas Unbeseeltes mit der Seele verbunden werden soll (b), müßte man explizieren können, wie es, um dann mit der Seele eine Einheit zu bilden, selber Seele werden kann; wie kann der hinzukommende andersartige, fremde Stoff dennoch zu den gleichen Urteilen kommen wie die bereits vorhandene Seele, wie kann er die gleichen Vorstellungen und das gleiche Wissen haben? (5, 16-20) Urteilsfähigkeit und Wissen setzen Vernunftbegabung voraus, die der rationalen Seele zwar eigen ist, einem von sich her unbeseelten Körper jedoch nicht. Woher der Körper diese also erhalten sollte, bleibt unerklärt, solange keine zusätzliche, aktiv wirkende Ursache angenommen wird. Die Seele ist folglich zwar das Wachstumsprinzip der Körper, selbst aber unkörperlich, sie wächst selber nicht wie die Körper oder mit den Körpern.

48 Nicht die vegetative Seelenkraft168 wächst, wenn sie etwas wachsen läßt, sie nimmt nicht zu, wenn sie etwas zunehmen läßt, und ganz allgemein wird sie nicht, wenn sie etwas bewegt, in derjenigen Bewegung bewegt, die sie hervorruft, sondern entweder wird sie überhaupt nicht bewegt, oder es handelt sich um eine ganz andere Art von Bewegung oder Aktivität; das Wesen des Eidos muß also Aktivität sein, und es muß durch seine bloße Gegenwart wirken (III 6, 4, 38-42). Die Seele ist nicht vollkommen bewegungslos, reine Stasis, aber Kinesis bedeutet für sie nicht körperliche Bewegung, z.B. Ortsveränderung von A nach B, sondern unräumliche Veränderung. Als intelligible Wesenheit wirkt sie auf die Körper nicht durch Druck und Stoß, der an einer bestimmten Körperstelle ansetzt, sondern sie ist überall im Körper als ganze anwesend und wirkt demgemäß auch im ganzen Körper als ganze.169 Sie wächst nicht wie ein Körper, denn derartiges Wachstum setzt Materie voraus.170 Wie die Erfahrung zeigt, verändern sich alle Körper fortwährend, der eine schneller, der andere langsamer, so daß nach einiger Zeit der ihn ursprünglich konstituierende Stoff vollständig durch neuen ersetzt und nichts Identisches mehr übrig geblieben ist (5, 20-22). Derselbe Mensch z.B. ist nach einigen Jahrzehnten äußerlich kaum wiederzuerkennen. – Dies würde auch für einen Seelenkörper gelten171: Er wäre nicht dauerhaft mit sich identisch und hätte nichts unveränderlich Bleibendes. Ein solches langfristig Identisches ist jedoch notwendige Voraussetzung für Erinnerungen („µνῆµαι“)172 über lange Zeiträume, wie wir sie ohne Zweifel haben; Erinnerungen und das Wiedererkennen uns bekannter Menschen (auch wenn wir sie längere Zeit nicht gesehen haben) wären nicht möglich, wenn sich unsere Seelen ebenso radikal veränderten wie die Körper (5, 22-24). Diese Phänomene setzen vielmehr eine Seele mit einheitlichem und langfristig mit sich selbst identischem Bewußtsein voraus. Nur wer ein in seinem Wesen unveränderliches, bewußtes Selbst oder Ich hat, kann z.B. sagen: „Ich habe vor fünfzig Jahren mit Parmenides philosophiert.“ Aber kein Körper hat 168

Das „φυτικόν“ ist ein Oberbegriff, unter den neben anderem das Wachstumsprinzip („αὐξητικόν“) zu rechnen ist; vgl. H.J. Blumenthal, Plotinus’ Psychology, S. 44. 169 Dies wird weiter unten noch eingehender diskutiert werden. 170 Vgl. VI 4, 5, 18-22: Wenn die Masse größer wird, breitet sich die selbe Seele über die ganze Masse aus, die vorher in der kleineren Masse war; denn es wäre ganz und gar lächerlich, wenn man auch der Seele Masse beilegte. 171 Es ist anzunehmen, daß eine Pneumaseele, die also aus Feuer- und Luftelementen aufgebaut ist, sogar noch weit schneller umgestaltet wird als andere Körperteile, in denen das Wasser- oder das Erdelement überwiegt, ähnlich wie sich Mineralien langsamer verändern als beispielsweise Wolken oder das Wasser der Flüsse. 172 Die Mneme behandelt Plotin (zusammen mit der Aisthesis) in einer späteren Schrift des näheren: IV 6 [41]. Sie kommt aber auch sonst häufiger zur Sprache; vgl. hierzu IV 3, IV 4 und H.J. Blumenthal, Plotinus’ Psychology, S. 44 und 80-99: Plotin lehnt eine materialistische Auffassung vom Wesen der Erinnerung ausdrücklich ab (S. 81). Die Frage, ob die Erinnerung dem gesamten Lebewesen angehört oder der Seele allein (und welchem ihrer Vermögen insbesondere) (S. 83), beantwortet Plotin folgendermaßen: Die Mneme gehört der Seele an (S. 84); die Seele hat Erinnerungen, denn sie verändert sich nicht so wie der Körper (S. 85), sondern sie hat bleibende Selbstidentität. Ein höheres und ein niedrigeres Seelenvermögen haben unterschiedliche Erinnerungen (und Vorstellungen) (S. 86; vgl. auch 89 ff.): Eine niedrigere psychische Kraft hat affekthafte Erinnerungen, eine höhere ist dagegen in ihren Erinnerungen (wenn nicht vollständig, so doch zumindest weitgehend) frei von Affektionen (S. 91). Letztere ist jedoch nicht mit der Dianoia zu identifizieren (S. 92; auch 44). Das höhere Erinnerungsvermögen ist unverzichtbar, weil gerade das höhere Seelenvermögen die beständige individuelle Persönlichkeit ausmacht und folglich nicht ohne (dauerhafte) Erinnerungen sein kann (S. 94; auch 95). Außerdem behält die höhere Seele gemäß Plotin nach ihrer Trennung vom Körper und von den anderen Seelenteilen (also auch vom unteren Erinnerungsvermögen) einige Erinnerungen (eb.).

49 von sich her Bewußtsein oder gar Selbstbewußtsein.173 Unser Erinnerungsvermögen ist folglich als Fähigkeit einer immateriellen Seele aufzufassen, einer individuellen Wesenheit mit bleibendem Selbstbewußtsein – das nach Platon und Plotin auch über den physischen Tod und zahllose Reinkarnationen hinaus als eines und dasselbe besteht.174

§ 9: Die Seele ist ohne Quantität

In dem Abschnitt 5, 24-52 sucht Plotin zu zeigen, daß die Seele und die rationalen Formkräfte („οἱ λόγοι“) nicht quantitativ bestimmt, sondern wesentlich „ἄποσον“ sind; dieses Ergebnis wird am Ende des Passus klar formuliert. Wenn es richtig ist, kann die Seele kein Körper sein, denn jedem Körper kommt eine bestimmte Quantität zu, er hat eine bestimmte Größe und Ausdehnung im Raum, was auch von stoischer Seite nicht bestritten wird. Plotins Begründung seiner Position ist im einzelnen nicht ganz leicht nachzuvollziehen; wie weit können wir hierüber Klarheit gewinnen? Im Ausgang von der materialistischen Grundthese (5, 24) ergibt sich bei genauerer Betrachtung folgendes: Wird ein Körper geteilt, so unterscheidet sich offensichtlich jeder Teil von dem Ganzen (5, 24-26). Kein noch so großer Teil eines Körpers kann mit der Ganzheit, der er angehört oder angehörte, identisch sein; dies ergibt sich notwendig aus seinem Wesen als körperlicher Bestandteil.175 – Wie jedes andere Quantitative („ποσόν“), so würde auch ein Seelenkörper durch Teilung bzw. Verringerung seiner Masse sein ursprüngliches Sein verlieren, so daß er nicht mehr wie zuvor Seele wäre (5, 26-28).176 Ein Körper, der in zwei oder mehrere Stücke aufgespalten wird, verliert dadurch seine vorige Einheit und ist nicht mehr das, was er war, denn Einheitsverlust ist Seinsverlust177. Bestenfalls können die so entstandenen Teile – sofern sie ihrerseits wieder Einheiten sind – für sich weiterexistieren. Sie unterscheiden sich dann aber von dem Ganzen, das sie vor der Spaltung waren. Wenn sich Körper durch Teilung quantitativ verändern, so kann dies auch einen qualitativen Wechsel mit sich bringen: Ein Kunstwerk z.B. kann durch Zerstückung seine Schönheit einbüßen, also 173

Vgl. zu diesem Thema auch W. Beierwaltes, Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit, und J. Halfwassen, Geist und Selbstbewußtsein. 174 Siehe dazu IV 7, 9-14. 175 Vgl. IV 2, 1, 12-17: Bei den sinnlich wahrnehmbaren Größen („αἰσθητὰ µεγέθη“) ist kein Teil mit einem anderen Teil oder mit dem Ganzen identisch; vielmehr ist jeder Teil notwendigerweise kleiner als das Ganze. Jede dieser Größen hat ihren eigenen Ort, und dasselbe Sinnending kann nicht zugleich an mehreren Orten sein. 176 A. Graeser (Plotinus and the Stoics, S. 44) weist darauf hin, daß Plotin hier kritisch auf die stoische Pneumaseele anspielt, und vergleicht die Schrift IV 2. Ein feinteiliger, warmer Hauch verflüchtigt sich leicht; da er nicht in der Lage ist, seine eigene Einheit dauerhaft zu wahren, ist nicht einzusehen, wie er anderen Körpern über längere Zeit Einheit (oder Zusammenhang: „συνέχεια“, eb.; vgl. auch S. 38-39) geben kann. – Zu Plotins Timaios-Auslegung in IV 2 vgl. A. Graeser, op. cit., S. 38 mit Anm. 4. 177 Die Einheit hat einen Vorrang gegenüber dem Sein, und es besteht eine einseitige Abhängigkeit alles Seienden vom Einen selbst.

50 häßlich werden (die Bruchstücke einer Plastik sprechen uns nicht in gleicher Weise ästhetisch an wie das ganze Werk); ein Lebewesen kann seine Lebendigkeit verlieren und infolgedessen z.B. eine andere Farbe annehmen. – Gibt es andererseits Körper, die trotz einer Zerlegung, also eines quantitativen Wechsels, ihre qualitative Beschaffenheit bewahren (5, 28-29) – wenn man etwa von einer bestimmten Menge Wasser einen Teil wegnimmt, verändert sich weder die Wiebeschaffenheit des weggenommenen noch die des zurückgebliebenen Teils, und das gleiche gilt für zahlreiche ähnliche Fälle –, so zeigt sich hier, daß das Körpersein von dem Quantitätsein verschieden ist (5, 29-30), denn die Quantität hat sich verändert, während es im übrigen der qualitativ gleiche (wasserartige o.ä.) Körper geblieben ist. Der Körper kann seine Identität durch die Qualität, die von der Quantität verschieden ist, bewahren (5, 30-31)178. Wenn die Seele ein Körper ist, besteht sie aus realen Teilen; ist jeder noch so kleine Teil in gleicher Weise Psyche wie die ganze Seele, dann ist das Wesen (die οὐσία) der Seele von ihrer Größe unabhängig, was nicht sein dürfte, wenn die Seele ein Körper und damit eine Quantität wäre (5, 31-36). Denn Größe zu besitzen, ist dem Körper wesentlich, so daß ein Seelenkörper nicht beliebig klein sein dürfte. Ferner ist die Seele als ganze an vielen Stellen – nämlich in jedem beliebig kleinen Teil des Körpers, den sie ganz durchwirkt, denn sie ist ja das Lebensprinzip des gesamten Lebewesens, nicht lediglich dieses oder jenes Teiles –, was nicht möglich wäre, wenn sie selbst ebenfalls Körper wäre: Ein Körper kann nicht als ganzer (sc. zugleich und in derselben Hinsicht) in mehreren Dingen bzw. an mehreren Orten, die im Raum nebeneinander liegen, sein, noch kann ein Teil eines Körpers mit dem gesamten Körper identisch sein (5, 36-38).179 Nur eine immaterielle Seele ist in der Lage, als ganze (vollständig) im gesamten Körper gegenwärtig zu sein. Sie eint und beseelt alle Teile des Körpers und bewahrt dabei doch ihre eigene Einheit, denn nur so kann sie auch der Grund für die Einheit des Körpers sein. Um der 5, 31-36 dargestellten Schwierigkeit auszuweichen, könnte man sich darauf zurückziehen, die einzelnen Teile, aus denen das Lebensprinzip besteht, seien selber nicht Seele; dies käme allerdings der – abwegigen – Behauptung gleich, die Seele bestehe aus unseelischen Teilen („ἐξ ἀψύχων ψυχή“) (5, 38-40). Wie einem Ganzen Eigenschaften zukommen sollen, die keiner seiner Teile hat, und zwar so, daß auch nichts von außen hinzukommt, das die betreffenden Eigenschaften mitbringt, da dieses als ein zusätzlicher Teil des Ganzen bezeichnet werden müßte, wissen die Materialisten verständlicherweise nicht zu sagen.

178

Die Wiedergabe von A.H. Armstrong wird, anders als die R. Harders, dem griechischen Text voll gerecht. Textkritisch ist die Stelle unproblematisch. 179 Dieser Satz trennt die zusammengehörigen Abschnitte 5, 31-36 und 38-40, was R. Harder in seiner Ausgabe kenntlich macht. – Der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch stammt in der dann klassisch gewordenen Formulierung von Aristoteles, der ihn das sicherste Prinzip von allen nennt; der Sache nach finden wir ihn bereits in dem platonischen Spätdialog Sophistes (230 b und 263 d).

51 Das Phänomen von Zwillings- oder Mehrlingsgeburten dient Plotin als weiteres Argument für seine These (5, 42-48): Wenn aus einem Samen mehrere selbständige Lebewesen entstehen können, enthalten offensichtlich die einzelnen Teile des Samens jeweils ein Ganzes, ein vollständiges Lebewesen der Möglichkeit nach; daraus folgert Plotin, daß hier jeder Teil dasselbe ist wie das Ganze und daß deshalb eine Wesenheit anwesend sein muß, die nicht quantitativ bestimmt, sondern ohne Größe ist. In jedem Teil des Samens befindet sich ein vollständiges potentielles Lebewesen. Mit der Materie, die zur Zeugung erforderlich ist, muß daher etwas Immaterielles verbunden sein, das vollständig an mehreren Stellen sein kann. Dies kann als Seele oder auch als Logoi180 bezeichnet werden (5, 51-52); entscheidend ist, daß es die ihm zukommende Funktion, daß es seine Wirkung als Körper nicht erfüllen könnte. Im ganzen Samen ist alles ununterschieden vorhanden, und die rationalen Formkräfte („λόγοι“) befinden sich in ihm wie in einem Mittelpunkt (sc. der ausdehnungslos-unkörperlich ist); und dennoch ist die das Auge bildende rationale Formkraft von der die Hand bildenden verschieden, man erkennt ihr Anderssein an dem von ihr hervorgebrachten Sinnending (V 9, 6, 11-15). Von den Kräften („δυνάµεις“) in den Samen ist jede einzelne eine ganze rationale Formkraft („λόγος εἷς ὅλος“), zusammen mit den in ihr enthaltenen Teilen; sie hat das Körperliche (sc. nur) als ihre Materie (...), sie selbst aber ist in ihrer Gesamtheit Form (Eidos), und die rationale Formkraft ist mit dem zeugenden Seelenvermögen identisch (6, 15-19). Die Seele in den Samen nennen einige Physis (...)181; sie verändert und gestaltet die Materie nicht durch mechanisches Stoßen oder durch Hebelkräfte182, sondern durch die Wirkung der rationalen Formkräfte (6, 22-24). – II 6, 1, 10-12 liegt eine vergleichbare Äußerung vor: Im Samen ist alles beisammen, jedes einzelne ist alles, und es ist nicht die Hand gesondert und gesondert der Kopf; hier (sc. im Körper) aber trennen sie sich voneinander, denn (sc. hier sind sie nur Körper und damit) Abbilder und keine wahre Wirklichkeit. Das Motiv, daß jeder einzelne Teil einer Ganzheit alles ist, findet sich auch – und zwar primär – auf der Seinsstufe des reinen Geistes, und so liegt im Falle der rationalen Formkräfte eine Wiederholung dieses Gedankens vor. Nicht nur enthält die Nous-Hypostase alle paradigmatischen Aspekte der Realität (Ideen) in sich183, sondern jede einzelne Idee hat Nous-Status und schließt die Totalität 180

Der Kontext legt es nahe, hier speziell an die σπερµατικοὶ λόγοι der Stoiker zu denken; vgl. dazu A.A. Long & D.N. Sedley, Die hellenistischen Philosophen, 46 A 1 (Aetios): Gemäß der Stoa ist Gott ein vernunfthaftes, schöpferisches Feuer, das die samenartigen Prinzipien („τοὺς σπερµατικοὺς λόγους“) umfaßt, nach denen alles dem Schicksal entsprechend geschieht. – Aus dem göttlichen, aktiven Feuer als dem ursprünglichsten Element entsteht die geordnete Welt, die Gott also zunächst in keimhafter, unentwickelter Form in sich trägt. – A.A. Long & D.N. Sedley, op. cit., 46 B 2 (Diogenes Laertios): Gott ist das samenartige Prinzip der Welt. – Zur Identität von Gott, Logos und Feuer vgl. op. cit., Bd. 1, S. 277-278 (Kommentar zu Kapitel 46). 181 Gemeint sind die Stoiker, vgl. Kap. 83. 182 R. Harder (Plotins Schriften, Bd. Ib, S. 433) nennt die Epikureer als mögliche Zielgruppe der Kritik. Ähnlich A.H. Armstrong, Bd. V, S. 303, Anm. 2. Grundsätzlich ist jede Form des Materialismus von dieser Kritik betroffen. Vgl. auch III 8, 2 (bes. die Zeilen 3-4); materielle Wirkungen können niemals im strengen Sinne Erstursachen sein. 183 V 9, 5, 12-13: „νοῦς (...) ἔστιν ἄρα ὄντα.“ 5, 15-16: „αὑτὸν ἄρα καὶ ἐν αὑτῷ.“ 5, 26-28: „ὁ νοῦς ἄρα τὰ ὄντα ὄντως, οὐχ οἷά ἐστιν ἄλλοθι νοῶν· οὐ γάρ ἐστιν οὔτε πρὸ αὐτοῦ οὔτε µετ’ αὐτόν“. 5, 29-30: „ὀρθῶς ἄρα τ ὸ γ ὰ ρ α ὐ τ ὸ ν ο ε ῖ ν

52 des Ideenkosmos in sich ein: Die Idee ist Geist, das denkende Sein, aber nicht die einzelne Idee als vom Geist unterschiedene, sondern jede einzelne ist Geist; und zwar ist die konkrete Totalität aller Ideen der gesamte Geist, jede einzelne Idee aber ist der Geist als einzelner, wie die Wissenschaft als Ganzheit gleich allen Lehrsätzen ist, jeder einzelne Lehrsatz aber ein Teil der Gesamtwissenschaft, nicht als wäre er räumlich von ihr unterschieden, sondern jeder einzelne hat seine Kraft (sc. erst) in dem Ganzen184. – Wie in der Formkraft (dem λόγος) im Samen (sc. zuerst) alle Momente beisammen und in dem selben Punkt sind und keines einem anderen widerstreitet, mit ihm uneins oder ihm hinderlich ist, dann aber in der Masse jeder Teil an einen anderen Ort kommt und dann auch die Teile einander hemmen und einander (sc. sogar) aufzehren – ebenso ist auch aus dem einen Geist und aus der von ihm stammenden Formkraft dieses Weltall entstanden und auseinandergetreten, und so sind mit Notwendigkeit zwar die einen Dinge (sc. in ihm) einander freundlich und wohlwollend, die anderen aber verhaßt und feindlich185, und sie schädigen einander teils absichtlich, teils auch unabsichtlich.186 Geht man von der Existenz einer unkörperlichen Seele aus, so stellt sich das Problem nicht, wie ein seine Einheit bewahrender Seelenkörper als ganzer in jedem Teil des von ihm beseelten Körpers gegenwärtig sein kann. Als unstoffliche und damit quantitätfreie Wesenheit hat die Psyche keine im Raum nebeneinanderliegenden Bestandteile. Die Anwesenheit der ganzen Seele in jedem einzelnen Punkt des Körpers ist also nur für den denkbar, der sich von einer materiellen Seelenvorstellung gelöst hat.187 Die Seele ist an sich einfach und ungeteilt, teilt sich aber an den Körpern188. Am Anfang des Traktates IV 2 faßt Plotin die Ergebnisse von IV 7 zusammen: Die Seele ist weder ein Körper noch eine Harmonie oder eine Entelechie im aristotelischen Sinne; positiv ist sie als intelligible Wesenheit zu bestimmen. Von diesen Einsichten ausgehend, hebt Plotin nun die Seele einerseits von dem primär Teilbaren, den Erscheinungen, und andererseits von dem primär Unteilbaren, den völlig teillosen, unausgedehnten und raumtranszendenten Ideen ab, die nicht in den Dingen sind, sondern an denen die Einzeldinge partizipieren („µετέχουσι“, 1, 27) und von denen sie einseitig abhängen. Die Seele, die eine Mittelstellung zwischen beiden Bereichen einnimmt, ist zwar nicht primär teilbar wie die Körper, aber sie wird an den Körpern (d.h. durch ihre Verbindung mit den Körpern) teilbar (1, 33ἐ σ τ ί τ ε κ α ὶ ε ἶ ν α ι “ (Parmenides, Fr. B 3). 5, 32-33: „οὐδὲν γὰρ ἔξω τῶν ὄντων (...), µένει δὲ ἀεὶ ἐν αὑτοῖς“. 6, 1-3: „Νοῦς µὲν δὴ ἔστω τὰ ὄντα, καὶ πάντα ἐν αὑτῷ οὐχ ὡς ἐν τόπῳ ἔχων, ἀλλ’ ὡς αὑτὸν ἔχων καὶ ἕν ὤν αὐτοῖς. π ά ν τ α δὲ ὁ µ ο ῦ (Anaxagoras, Fr. B 1) ἐκεῖ καὶ οὐδὲν ἧττον διακεκριµένα.“ 6, 8-10: „ὁ νοῦς ἐστιν ὁ µ ο ῦ π ά ν τ α καὶ αὖ οὐχ ὁµοῦ, ὅτι ἕκαστον δύναµις ἰδία. ὁ δὲ πᾶς νοῦς περιέχει ὥσπερ γένος εἴδη καὶ ὥσπερ ὅλον µέρη.“ Ähnlich auch im siebenten Kapitel. 184 V 9, 8, 2-7. Die Wissenschaft, an die hier in erster Linie zu denken ist, ist die euklidische Geometrie. 185 Vgl. die empedokleische Lehre von Philia, dem kosmischen Einheitsprinzip, und Neikos, der Ursache der Vielheit in der Welt. 186 III 2, 2, 18-27. Vgl. noch III 7, 11, 23-29. 187 Zur Größelosigkeit der Seele können neben IV 7, 5, 35-36 und 5, 51 noch 8, 24-26 und 12, 16 verglichen werden. 188 Vgl. Plat. Tim. 35 a 1-4, von Plotin IV 2, 2, 49-52 zitiert. Wie Plotin diese berühmte Stelle versteht, erfahren wir in IV 2.

53 34: „µεριστὴ µὲν οὐ πρώτως, ὥσπερ τὰ σώµατα, µεριστή γε µὴν γιγνοµένη ἐν τοῖς σώµασιν“.). Wird ein Körper zerlegt, so wird auch das Eidos in ihm (die mit ihm verbundene, ihn durchwirkende Seele) – in gewissem Sinne – geteilt, sie ist aber in jedem der Teile als ein Ganzes („ὅλον γε µὴν ἐν ἑκάστῳ τῶν µερισθέντων“)189. Die Seele wird eine Vielheit und bleibt doch dieselbe; jeder ihrer Teile ist ganz vom anderen getrennt, da sie ja durchaus teilbar geworden ist (1, 36-38). So zeigt sich erneut: Von der Seele als einer Wesenheit zu sprechen, die zwar nicht absolut teillos und unteilbar ist (wie der Nous), die aber in verschiedenen Dingen als ganze präsent ist und wirkt, ergibt offensichtlich nur dann einen Sinn, wenn man ihr die Stofflichkeit abspricht. Die Seele stammt aus der idealen Wirklichkeit (1, 42-43: „ἀπ’ ἐκείνης οὖσα“) und ist daher – durch ihre Ähnlichkeit mit ihr – unteilbar; sie wendet sich aber von dieser ab und zur Körperwelt hin und gelangt dadurch in die Mitte zwischen dem primär Unteilbaren und dem primär Teilbaren. Sie ist „οὐσία“ (1, 55) und verbindet sich doch mit Körpern, und diese Verbindung bringt es mit sich, daß sie sich teilt („µερίζεσθαι“, 1, 56). – Freilich erhält auch die herabgestiegene Seele nicht in gleicher Weise wie ein Körper reale Teile, sondern es handelt sich um ein analoges Bild. Durch ihre Verbindung mit dem Körper verliert die Seele niemals wirklich die ihr wesentliche Einheit, das „εἶναι µία“ (1, 57-59). Während die Teile eines Körpers verschiedene Stellen im Raum (unterschiedlich große Teilräume) einnehmen, ist die Seele nur insofern „teilbar“, als sie in allen Teilen des Körpers, den sie beseelt, gegenwärtig ist, und bleibt dabei doch zugleich unteilbar, weil sie in jedem Teil des Körpers als ganze Seele anwesend ist (1, 59-66). Die Seele selbst ist nicht geteilt, sondern sie wahrt ihre Einheit; aber die Körper können sie wegen ihrer eigenen Teilbarkeit (da sie selbst jederzeit aus realen Teilen bestehen) nicht ungeteilt aufnehmen, und so ist die Teilung eine Affektion der Körper, nicht der Seele (1, 72-76). – Wesenseigen kann der Seele ihre Einheit aber nur deshalb sein, weil sie aus dem Intellekt stammt und selber intelligibel ist. Als Bild des Geistes bleibt auch die inkarnierte Seele einfach und ungeteilt. Die Seele muß in dem geschilderten Sinne teilbar und unteilbar sein, denn wäre sie nach Art der Körper, d.h. physikalisch, teilbar, so könnten sich nicht eine Affektion und das Bewußtsein von dieser Affektion an verschiedenen Körperstellen befinden; dann hätte jeder lebendige Körper nicht eine, sondern unbegrenzt viele Seelen (2, 1-11). Die Seele ist zugleich ungeteilte Einheit und (gedanklich) geteilte Vielheit (2, 40-41). Vielheit ist die Seele, weil die Sinnendinge viele (und aus Vielem zusammengesetzt) sind, eine, damit ein Zusammenhang besteht (d.h. damit die Einheit der einzelnen Körper sowie des Weltkörpers gewahrt bleibt) (2, 45-46).

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IV 2, 1, 34-36. – Die Seele ist den Ideen ähnlich und kann daher, anders als die Körper, an verschiedenen Orten als ganze gegenwärtig sein. Aber im Unterschied zur Seele steigen die Ideen nicht in das Reich der Sinne herab, um sich mit den Körpern zu vermischen, sondern sie verharren, ewig transzendent, in sich selbst.

54 § 10: Die Bedeutung der Seele für die sinnliche Wahrnehmung

Die Unkörperlichkeit der Seele ist notwendige Voraussetzung für Sinneswahrnehmung („τὸ αἰσθάνεσθαι“)190, Denken („τὸ νοεῖν“)191, Wissen („τὸ ἐπίστασθαι“)192, Tugend („ἀρετή“)193 und alles Werthafte („τι τῶν καλῶν“)194 (6, 1-3). Diese von Plotin detailliert begründete These exponiert den Gang der Untersuchung bis 8, 45195. – Zunächst also zur Aisthesis196:

190

Statt der Verbalform verwendet Plotin in gleicher Bedeutung auch das Substantiv „αἴσθησις“, vgl. 6, 16; 7, 2. 4. – Vgl. W. Beierwaltes, Das wahre Selbst, S. 32-33 (nach VI 7, 29, 25-26): Sinneswahrnehmungen sind „im Sinne Plotins „trübe Gedanken““. 191 In archaischer Zeit bedeutet „νοεῖν (...) nicht primär das abstrakte Denken“; es bildet – anders als hier bei Plotin – keinen strengen „Gegensatz zur sinnlichen Wahrnehmung“, sondern „besagt das Gewahrsein, das Kennen der Wirklichkeit, d.h. etwas als das kennen, was es ist“; „νοεῖν ist sowohl Denken als auch Wahrnehmen“ (K. Bormann, Parmenides, S. 70-72). Auf der anderen Seite unterscheidet Parmenides durchaus „zwischen dem νοεῖν, welches das Seiende kennt, und dem rein menschlichen νοεῖν“ (S. 71), wenngleich diese Unterscheidung in seiner Begrifflichkeit noch nicht klar zum Ausdruck kommt. – Seit Platon bedeutet νοεῖν in strenger philosophischer Terminologie, die Parmenides noch nicht in gleicher Weise zur Verfügung stand, die er aber vorbereitet hat, das rein geistige Erfassen der intelligiblen Realität, das nicht die sinnliche Wahrnehmung zu Hilfe nimmt, sondern durch sie behindert wird und ihr insofern entgegengesetzt ist. Die Noesis, die gottähnliche Tätigkeit des Menschen, ist die intellektuelle Schau der transzendenten Wesensgründe aller Dinge, das Denken dessen, was unveränderlich ist. – S.a. W. Beierwaltes, Das wahre Selbst, S. 16-17. 192 Wirkliches Wissen (Episteme) bezieht sich Platon zufolge immer auf Unveränderliches; von Veränderlichem können wir dagegen nur eine wahre oder falsche Meinung (Doxa) haben, die ebenso wandelbar ist wie ihre Objekte (siehe hierzu besonders das Gleichnis von der geteilten Linie in der Politeia 509 d – 511 e). – So ist die im Theaitetos (151 e 1-7) gebotene Bestimmung des Wissens als Wahrnehmung („οὐκ ἄλλο τί ἐστιν ἐπιστήµη ἢ αἴσθησις.“ – „αἴσθησις, φῄς, ἐπιστήµη; – Ναί.“), deren kritische Diskussion einen großen Teil des Dialogs einnimmt (bis 186 e), der Auffassung Platons diametral entgegengesetzt: Während die Aisthesis die Phänomene erfaßt, erlangen wir wirkliches Wissen allein durch vernünftige Betrachtung der immer sich selbst gleichen jenseitigen Washeiten, durch Erkenntnis der Momente des Kosmos noetos. Diese beiden Seinsbereiche sind so sehr voneinander verschieden, daß die Seele (primär die Weltseele, dann aber auch die ihr ähnlichen Einzelseelen) als Vermittlerin zwischen ihnen unabdingbar ist. Aus dem Gesagten ergibt sich, daß Wissen im strengen Sinne auch von wahrer Meinung verschieden ist, da ihre Blickrichtungen entgegengesetzt sind (vgl. Theait. 187 a – 201 c, bes. 201 a – c); daran ändert sich auch nichts, wenn die wahre Meinung zusätzlich als „vernunftgemäß“ charakterisiert wird (201 cd). – Der bedeutendste Vorbereiter der platonischen Lehre vom unwandelbar Seienden ist Parmenides; vgl. dazu auch den sich an den Theaitetos anschließenden Dialog Sophistes. 193 Das Wort Arete hat ein sehr weites Bedeutungsfeld. Es heißt ganz allgemein Vortrefflichkeit, Tüchtigkeit oder Bestbeschaffenheit. So kann Platon von der ἀρετή der Hunde und der Pferde sprechen (Rep. 335 b 8), ebenso von der Bestbeschaffenheit der Augen (353 b 6) und der Ohren (b 8-10) sowie aller übrigen Dinge, denen eine eigentümliche Leistung (ein bestimmtes „ἔργον“) zukommt (b 2-3. 12-13) (vgl. noch 403 d 2-4). Die Arete der Seele – denn um letztere geht es Platon hier in erster Linie – ist die Gerechtigkeit (353 e 7-8): Die Seele im Zustand der Vortrefflichkeit ist gerecht. Und auch für den am besten beschaffenen (wohlgeordneten) Staat ist die Gerechtigkeit konstitutiv (432 b 3-5; zur gleichen Struktur von Staat und Einzelseele vgl. 441 c 4 ff.). – Nicht immer also ist Arete wie an der gegenwärtigen Stelle in IV 7, 6 als Tugend (ethische Vortrefflichkeit) zu übersetzen. (Vgl. auch III 6, 2.) Aus den vielen einzelnen Aretai ragen als wichtigste Besonnenheit, Tapferkeit, Weisheit und Gerechtigkeit heraus; um sie dreht sich in der Tugendlehre alles, weshalb sie auch als Kardinaltugenden bezeichnet werden. – Vgl. zur Wortgeschichte auch H. Görgemanns, Platon, S. 124-125. 194 „Καλός“ bedeutet „schön“ im umfassenden Sinne, also je nach Zusammenhang nicht nur körperlich schön oder ästhetisch ansprechend, sondern auch brauchbar, nützlich oder sittlich gut, edel und nicht zuletzt seinsmäßig vollkommen. 195 6, 3 – 7, 28: zur sinnlichen Wahrnehmung (und zur Erinnerung an sinnlich Wahrgenommenes); 8, 1-23: zum Denken, das wahres Wissen ermöglicht; 8, 24-45: zu den Tugenden und dem Schönen.

55 Entscheidend für Plotins Argumentation ist die notwendige Einheit des Wahrnehmungsvermögens; diese Einheit im Sinne teilloser Einfachheit kann kein Körper leisten, da er, wie gezeigt wurde, immer aus realen, voneinander trennbaren Bestandteilen zusammengesetzt ist. – Das Wahrnehmende muß selber gerade auch dann eines sein („ἓν αὐτὸ δεῖ εἶναι“) und jeden Gegenstand mit einem und demselben Vermögen erfassen, wenn durch mehrere Sinnesorgane mehrere Wahrnehmungen (zugleich) stattfinden bzw. mehrere Qualitäten eines einzigen Gegenstandes – etwa seine Farbe, sein Geruch und seine Härte – (zugleich) wahrgenommen werden (a), oder auch, wenn durch ein einziges Sinnesorgan ein vielgegliederter Gegenstand, wie etwa ein Gesicht, wahrgenommen wird, denn auch bei einer solchen komplexen sinnlichen Anschauung werden ihre verschiedenen Teile letztlich nicht von verschiedenen Wahrnehmungsvermögen erfaßt, sondern alles zusammen von einem Vermögen (b) (6, 3-8) – andernfalls könnte es nicht eine zusammenhängende, einheitliche und ganze Anschauung sein. Unser sinnliches Wahrnehmen ist immer ein komplexes Erlebnis, das aus zahlreichen Einzelheiten besteht, unabhängig davon, ob mehrere Sinne gleichzeitig affiziert werden oder nur einer197. Dennoch erfahren wir eine solche Wahrnehmungsmannigfaltigkeit jederzeit als eine198, ihre Momente sind immer zu einer Ganzheit zusammengefügt (synthetisiert). Dies weist darauf hin, daß es sozusagen einen Punkt199 geben muß, in dem die vielfältigen Sinneseindrücke zusammentreffen oder vereinigt werden. Die voneinander getrennten, körperlichen Sinnesorgane sind zwar notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung einer sinnlichen Anschauung.200 Das Vermögen, das ihre mannigfaltigen Informationen gleichsam in einem Zentrum zusammenfaßt und dadurch erst ein einheitliches Erfassen und eine sinnliche Erkenntnis ermöglicht, gebraucht sie als Werkzeuge201. Um die genannte Synthesis ausführen zu können, darf dieses Vermögen selbst nicht von der Art sein, daß es 196

Diese spielt der Sache nach bereits in vorsokratischer Zeit eine beachtenswerte Rolle; vgl. die (sprachwissenschaftlich ausgerichtete) Arbeit von Th. Schirren, Aisthesis vor Platon, bes. S. 129 ff. Aber erst bei Platon – so lautet ein Ergebnis der Untersuchung – hat Aisthesis die uns geläufige Bedeutung Wahrnehmung (S. 261). – Vgl. auch H.J. Blumenthal, Plotinus’ Psychology, S. 67-79. Eine Monographie mit dem Titel Plotinus on Sense-Perception hat E.K. Emilsson vorgelegt; vgl. bes. S. 101-104; 107-112. Darüberhinaus ist W. Beierwaltes, Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit, S. 102-103 und besonders 184-190, zu nennen. – Auch Aristoteles hat den Sinneswahrnehmungen wiederholt seine Aufmerksamkeit gewidmet, was auch für die diesbezügliche Position Plotins wichtig ist; vgl. De anima II 5 – III 2 und De sensu. 197 Letzteres dürfte in Reinform nur selten der Fall sein, auch wenn wir uns für gewöhnlich nicht aller Sinneseindrücke, die uns simultan erreichen, in gleicher Weise bewußt sind. Wir können uns aber auf die Informationen, die ein Sinn vermittelt, konzentrieren, so daß die anderen unbewußt bleiben. 198 Von pathologischen Fällen (Schizophrenie), die für die Gehirnforschung und die naturwissenschaftliche Ergründung des menschlichen Bewußtseins höchst lehrreich sein können, sei hier abgesehen. 199 Euklid definiert den Punkt als dasjenige, was keine Teile hat (Elem. I, Def. 1). Diese Definition hat Proklos ausführlich kommentiert (In Eucl. Elem. I, 85-96): Der Punkt ist unausgedehnt (85). Das Einfachere ist stets ontologisch ursprünglicher als das Zusammengesetzte, Vielfältigere und Teilbare und dessen Voraussetzung (85-86). Was mit der Materie verbunden ist, hat weniger Einfachheit als das Immaterielle (86). Der Punkt ist Einheitsprinzip (90). 200 Vgl. IV 5, 1, 3-13: Jede Wahrnehmung muß sich durch einen Körper vollziehen; sinnliche Erkenntnis wird durch körperliche Organe ermöglicht (die zwischen der Seele und den Phänomenen vermitteln). Vgl. ähnlich IV 4, 23, 13-15. 201 Vgl. IV 7, 1, 5-6. 21. 24: Der Körper als ganzer bzw. seine Teile sind unser (d.h. der Seele) Werkzeug. Siehe auch IV 7, 8, 2-5. – Vgl. ferner Plat. Theait. 184 c 5 – 187 a 9, besonders 185 d 6 – 186 a 1.

56 die Informationen der Augen, der Ohren und der anderen Organe an verschiedenen Stellen im Raum empfängt; um sie in einem Punkt zusammenfassen zu können, darf es seinerseits nicht aus räumlich voneinander getrennten Teilen bestehen, woraus sich seine notwendige Immaterialität ergibt.202 Zudem ist die Synthesis eine Aktivität, die kein Körper von sich her zu leisten vermag; dieser ist wesentlich passiv (rezeptiv, bloßes Instrument), während die Verbindung vielfältiger Sinneseindrücke zu einem (als solchem erkennbaren) Anschauungsganzen Spontaneität voraussetzt. Also schon das verständige Erfassen der gegebenen Realität vermittels der fünf Sinne kann eine rein materialistische Erkenntnistheorie nicht einsichtig machen. Bereits bei der sinnlichen Wahrnehmung ist eine Verbindung zum Intelligiblen gegeben. – Nicht die Sinnesorgane verstehen, begreifen, erkennen und urteilen, denn sie haben von sich her weder Verstand oder Erkenntnisvermögen noch Urteilskraft oder Begriffe, sondern erst und allein die Seele. Mehrere Wahrnehmungen, die durch verschiedene Sinnesorgane aufgenommen oder vermittelt werden, können nur voneinander unterschieden werden (so daß wir in der Lage sind zu urteilen, daß wir dieses sehen und jenes hören), wenn sie an einem und demselben Punkt („εἰς τὸ αὐτό“) zusammentreffen (6, 8-11).203 Um diesen Sachverhalt deutlicher zu machen, vergleicht Plotin die Wahrnehmungen, welche die Sinnesorgane affizieren, mit den Radien eines Kreises, das eigentliche Wahrnehmungsorgan aber, zu dem die Sinneseindrücke gelangen, mit dem Kreismittelpunkt („κέντρον“), der wahrhaft einer ist („ἓν ὂν ὄντως“) (6, 11-15), mithin eine teillos-unausgedehnte Wesenheit, vergleichbar dem mathematischen, nicht dem physikalischen Punkt.204 Hier sind die Inhalte der sinnlichen Wahrnehmungen ohne Erstreckung, auf geistige Weise repräsentiert. Wäre das Einheit und Ordnung bewirkende Zentralorgan ein Körper, also im Raum ausgedehnt, so würde es verschiedene Sinneswahrnehmungen an unterschiedlichen Stellen haben, etwa an den beiden Enden einer Strecke; dann aber wäre die Einheit eines Sinneseindrucks nicht ohne weiteres gegeben, sondern die verschiedenen Wahrnehmungen müßten letztlich doch an einem Punkt, der dann wiederum unausgedehnt wäre, etwa in der Mitte der Strecke, zusammentreffen, oder die beiden räumlich getrennten Stellen hätten unterschiedliche, voneinander unabhängige Wahrnehmungen, 202

Neben den Sinnendingen und der (affektionsfreien) Seele vermittelt notwendig ein Drittes, das den Sinnendingen ähnlich ist, sich aber auch der Seele angleichen kann; identisch ist es mit keinem von beiden: Die Wahrnehmungen müssen durch Vermittlung körperlicher Organe zustande kommen – entweder des ganzen Körpers oder eines bestimmten Teils des Körpers (IV 4, 23, 19-37). 203 Vgl. VI 4, 6, 8-20. 204 Das gleiche Bild verwendet Plotin auch in anderem Sinne: Die Bewegung der Seele kann mit einer Kreisbewegung verglichen werden, wobei der Mittelpunkt des Kreises dann das Seinsprinzip der Seele symbolisiert, den im Einen begründeten göttlichen Geist (VI 9, 8). Vgl. auch V 1, 11, 8-15. – Die Gemeinsamkeit dieser Vergleiche besteht darin, daß jeweils das Prinzip mit dem Mittelpunkt identifiziert wird – der Punkt hat also Ursprungscharakter –, das weniger einfache Prinzipiat aber mit den Radien oder der Peripherie des Kreises, die aus unzähligen Punkten bestehen, also eine unermeßliche Vielheit darstellen. Die Seele ist nicht aus körperlichen Teilen zusammengefügt; der Geist ist das einheitlichste Seiende; uneingeschränkte Einfachheit aber kommt allein dem Absoluten zu.

57 jeder Teil des αἰσθητικόν würde einen anderen Teil des Gegenstandes wahrnehmen, so daß die Erfahrung einer einheitlichen Sinneswahrnehmung unerklärt bliebe (6, 15-19). Ein einheitlicher Sinneseindruck („ἓν (...) τὸ αἴσθηµα“) setzt also voraus, daß die sinnlich gegebene Mannigfaltigkeit der Aspekte, aus denen er sich zusammensetzt, in einem Punkt zusammentreffen und geeint werden (6, 19-21). Wie der Kontext zeigt, denkt Plotin primär an das Sehvermögen; dies ist nicht erstaunlich, denn für den Platoniker ist der Gesichtssinn seit dem Sonnengleichnis in der Politeia das vornehmste Sinnesorgan.205 So erläutert Plotin die zunehmende Konzentration einer sinnlichen Vielfalt und damit ihre zunehmende Vereinfachung am Beispiel des Sehaktes (6, 21-24): In einem ersten Schritt wird die gesamte sichtbare Außenwelt, die sich innerhalb des Gesichtskreises befindet, in den Pupillen zusammengefaßt. Durch diese Einung ist allerdings noch keine vollkommene Einfachheit erreicht. In einem zweiten Schritt werden daher die sinnlichen Anschauungsgegenstände in und von dem Leitenden206, dem eigentlichen Wahrnehmungsorgan, gleichsam zu teillosen Gedanken („οἷον ἀµερῆ νοήµατα“) zusammengefaßt, auf einer unausgedehnten, immateriellen Seinsstufe, die nicht auf eine bestimmte Stelle im Körper festgelegt ist. Sowohl das Erkenntnisvermögen als auch die Erkenntnisgegenstände (Phänomene) „in ihm“ sind folglich mit Notwendigkeit ausdehnungslos-intelligibler Natur. Nur so sind auf Einsicht beruhende Urteile über die natürliche Wirklichkeit möglich. Im Hintergrund steht hier der Grundsatz, daß Gleiches durch Gleiches erkannt wird bzw. die Forderung der Wesensähnlichkeit von Erkennendem und Erkanntem (vgl. V 1, 1, 34-35). Diese Lehre geht auf Empedokles zurück (DK I, 31 B 109): Denn durch Erde sehen wir die Erde, durch Wasser das Wasser, durch Luft die göttliche Luft, durch Feuer aber das vernichtende Feuer; die Liebe ferner durch Liebe und den Streit durch traurigen Streit. Die hier formulierte erkenntnistheoretische Maxime wurde dann mutatis mutandis immer wieder aufgenommen, etwa von Platon207, Aristote-

205

IV 6, 1, 12 nennt Plotin das Sehen die deutlichste (oder lichteste) Sinneswahrnehmung, ἡ ἐναργεστάτη αἴσθησις. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die strukturelle Ähnlichkeit von Sehen und Denken. – Vgl. H.J. Blumenthal, Plotinus’ Psychology, S. 68: Plotin sagt nur wenig zu Geruch, Geschmack und Tastsinn, und auch über das Hören ist er nicht sehr viel ausführlicher. Vgl. die Traktate II 8 und IV 5 (eb.). H.J. Blumenthal weist darauf hin (S. 69), daß die griechischen Denker ganz allgemein dazu tendierten, das Sehen als die paradigmatische Sinneswahrnehmung aufzufassen. Entscheidend bleibt für Plotin aber auch hier der platonische Einfluß. 206 „Τὸ ἡγεµονοῦν“ (6, 23) oder τὸ ἡγεµονικόν sind stoische Termini technici für den leitenden Seelenteil: Gemäß der Auffassung dieser Schule besteht die Seele der Menschen wie die der Tiere aus acht Teilen; vgl. A.A. Long & D.N. Sedley, Die hellenistischen Philosophen, 53 H (Aetios): Fünf von ihnen verteilen sich auf die Sinnesorgane, einer sorgt für die Funktionen der Genitalien, ein weiterer ermöglicht die Sprache, der achte schließlich wird als führender Teil bezeichnet. Er ist der oberste und genetisch der erste, aus dem die anderen pneumatischen Seelenvermögen herauswachsen, den Armen eines Tintenfisches vergleichbar. Bei den Menschen ist dieser Teil vernunftbegabt, bei den Tieren vernunftlos. Der leitende Seelenteil wird im Herzen lokalisiert, vgl. op. cit., 53 D (Galen). Vgl. auch 53 G (Calcidius) und 53 U (Galen). 207 Vgl. das Sonnengleichnis und das Gleichnis von der geteilten Linie, Rep. 507 d – 509 b und 509 d – 511 e, sowie Tim. 45 c 3-4.

58 les208, Plotin209 und J.W. Goethe210. – Die Seele muß dem Geist und dem Einen, aber auch der Materie ähnlich werden, um jeweils erkennen zu können. Das kann sie als mittlere Wesenheit zwischen Kosmos aisthetos und Kosmos noetos.211 – Dieses Prinzip des Ähnlichseins oder Ähnlichwerdens gilt Plotin zufolge auf jeder Seinsstufe. Es würde im übrigen auch im umgekehrten Fall, der gleich im Anschluß diskutiert wird, seine Gültigkeit bewahren (vgl. 6, 27-28). Die alternative Denkmöglichkeit verwirft Plotin ausdrücklich und zeigt, zu welchen Konsequenzen sie führt (6, 24 ff.): Wenn das Wahrnehmungsorgan eine bestimmte Größe hätte, verteilten sich die Wahrnehmungsgegenstände auf verschiedene Teile des Wahrnehmenden, so daß jeder Teil des aufnehmenden Vermögens einen anderen Teil der sinnlichen Anschauung aufnähme; dann aber könnten wir nicht eine einheitliche und ganze Sinneswahrnehmung haben, sondern sie bliebe fragmentiert (6, 24-26); dem widerspricht jedoch die Erfahrung. – Nimmt man ferner an, daß den unzähligen Teilen des wahrgenommenen Sinneseindrucks ebenso viele Teile in dem wahrnehmenden Seelenkörper entsprechen, so hat entweder jeder dieser Seelenteile ebenso wie seine Unterteile (d.h. die noch kleineren Masseeinheiten der stofflichen Seele) eine eigene Wahrnehmung, oder die Unterteile sind ohne Sinneswahrnehmung (6, 27-33). Die zweite Alternative scheidet aus (6, 33), denn ein größerer Körper mit einer bestimmten Eigenschaft kann sich nicht aus kleineren Körpern konstituieren, von denen keiner diese Eigenschaft besitzt. Vereinigte andererseits jeder beliebig kleine Seelenteil die gesamte gegenwärtige sinnliche Mannigfaltigkeit in sich, dann hätten wir von jedem Wahrnehmungsobjekt unzählige Bilder in der Seele (6, 33-37), was mit der Erfahrung der Einfachheit und synthetischen Einheit unserer sinnlichen Anschauungen nicht in Einklang zu bringen wäre. Wie hätte man sich im übrigen die Aktivität oder Passivität eines körperlichen Wahrnehmungsorgans vorzustellen? Die Stoiker antworten mit einem anschaulichen Vergleich212: Wie mit einem Stempel ein Siegel in Wachs eingedrückt wird, so die Sinneseindrücke in einen formbaren Stoff, z.B. Blut oder Luft (6, 37-41).213 Diese materialistische Erklärung der Sinneswahrnehmung bleibt unbefriedigend, weil einerseits ein Abdruck in einem feuchten Körper wie Blut oder Wasser keinen 208

Vgl. H.J. Blumenthal, Plotinus’ Psychology, S. 76 mit Anm. 22. – Zu Empedokles, Platon und Aristoteles vgl. H.H. Joachim, Aristotle. The Nikomachean Ethics, S. 170-172. 209 Vgl. H.J. Blumenthal, op. cit., S. 76 mit Anm. 23 und 24. – I 6, 9, 30-34: Denn niemals würde ein Auge die Sonne sehen, wenn es nicht der Sonne ähnlich wäre, und die Seele erkennte das Schöne nicht, wenn sie nicht auch selbst schön wäre. Zuerst muß also jeder dem Göttlichen ähnlich werden und jeder schön, wenn er Göttliches und Schönes betrachten will. 210 Wär’ nicht das Auge sonnenhaft, / Die Sonne könnt’ es nie erblicken; / Läg’ nicht in uns des Gottes eigne Kraft, / Wie könnt’ uns Göttliches entzücken? – Werke, Bd. 2, S. 645. 211 Vgl. auch C. Zintzen, Bemerkungen zur neuplatonischen Seelenlehre, S. 51. – Vgl. ferner P.P. Matter, Zum Einfluß des platonischen Timaios auf das Denken Plotins, S. 73 mit Anm. 119; A. Graeser, Plotinus and the Stoics, S. 75-77 mit weiterführenden Anmerkungen. 212 Freilich ist der nun folgende Vergleich der Seele mit einer Wachstafel keine stoische Erfindung, vgl. Plat. Theait. 191 c 3 – e 2 (und ff.). 213 Zu diesen Stoffen vgl. A.A. Long & D.N. Sedley, op. cit., 53 E (Galen). – Genau genommen besteht die Seele für die Stoiker jedoch nicht aus Blut oder reiner Luft, sondern aus einer Mischung von Feuer und Luft, die sich vollständig durchdringen.

59 Bestand hätte, sondern alsbald zerrinnen müßte, so daß es keine Erinnerung gäbe (1), während andererseits Einprägungen in einen festen Stoff dazu führten, daß die Abdrücke Bestand hätten (2)214: Dann aber könnten nach einiger Zeit keine neuen Sinneseindrücke hinzukommen, weil es keine „freien Stellen“ mehr auf der „Seelentafel“ gäbe, die Wahrnehmung würde also unmöglich (2a), oder die neuen Eindrücke würden die früheren entfernen (sozusagen ausradieren oder überschreiben), woraus wiederum die Unmöglichkeit langfristiger Erinnerung folgte (2b) (6, 41-46).215 Aus der Wirklichkeit der Erinnerung und aus unserer Fähigkeit, nacheinander vieles mit den Sinnen wahrzunehmen, ohne daß dabei die früheren Eindrücke den folgenden hinderlich wären, schließt Plotin, es sei unmöglich, daß die Seele – als das letztlich die Aisthesis ermöglichende Prinzip – ein Körper ist (6, 46-49). Es kommt hinzu, daß bei diesem Modell die aktive, ordnende und so erst Weltverständnis ermöglichende Rolle des Wahrnehmungsvermögens unberücksichtigt bleibt.216 Die Sinnlichkeit hat keine Spontaneität. Die wahrnehmende Seelenkraft gleicht sich ihre Gegenstände an. Sie erleidet keine körperlichen Prägungen, sondern sie nimmt die Prägung (τύπωσις), die der Körper erfahren hat, in sich auf (IV 3, 26, 5-7). Die körperlichen Organe empfangen also Einwirkungen, die von der Seele verändert werden; in diesem Sinne erreicht die modifizierte Prägung auch die Seele, also sozusagen erst nach ihrer Entmaterialisierung, welche die Psyche selbst bewirkt. Aus dem Sinneseindruck, der dem Körper zustößt, „macht“ die Seele für sich ein Urteil (26, 8-9).217 Das von den Sinnen empfangene Anschauungsmaterial ist in der Seele ohne Größe präsent („οἱ τύποι οὐ µεγέθη“, 26, 29), nicht als Stoff, sondern als ein Denkbares.218 Die sichtbare, vielfältig geteilte Materie der Außenwelt eint die Seele und paßt sie sich, einer unteilbaren Wesenheit, dadurch an. Was zunächst eine Wahrnehmung (ein „αἴσθηµα“) war, ist sodann eine intelligible Vorstellung (ein „φάντασµα“)219, welche die Seele 214

In diesem Fall wäre sozusagen mit einem photographischen Gedächtnis zu rechnen. Gegen die beiden zuletzt vorgebrachten Kritikpunkte wüßte sich ein Stoiker möglicherweise zu verteidigen: Vielleicht ist es vorstellbar, daß die Sinneseindrücke in der Seele so stark verkleinert repräsentiert sind, daß sie sich durchaus in unvorstellbar großer Zahl nebeneinander befinden können; dann würden die neuen Wahrnehmungen nicht alle früheren verdrängen – daß sie einige verdrängen, könnte zudem das Phänomen des Vergessens erklären. Unser Erinnerungsvermögen kann ja an seine Grenzen stoßen. Indessen dürfte es schwerfallen zu erklären, wie eine solche Verkleinerung bewirkt wird. 216 Vgl. IV 3, 26, 25-34 und III 6, 3, 28-30. 217 Auch nach stoischer Doktrin urteilt die Seele, genauer: ihr vernünftiger Teil: A.A. Long & D.N. Sedley, op. cit., 53 A 5 (Origenes); allerdings fehlt diesem die Einfachheit einer immateriellen Substanz. – Vgl. VI 4, 6, 8-11: Die beurteilten Dinge sind jeweils andere, aber nicht das Urteilende; der Urteilende bleibt derselbe, wenn er auch bei immer wieder anderen Eindrücken Richter ist, denn nicht er selbst ist es, der Einwirkungen erleidet, sondern die Natur des so beschaffenen Körpers. Eb. 16-19: Das Sehvermögen und das Gehör unterscheiden sich von der Vernunftkraft (dem „λογισ-µός“); diese bringt sich den Eindruck, der in einem anderen stattfindet, zum Bewußtsein. Dieses Bewußtsein bewahrt durch alle vielfältigen Vorstellungen hindurch seine Identität. 218 Vgl. A. Graeser, Plotinus and the Stoics, S. 24-25. Plotin gebraucht zwar auch selbst die Begriffe τύπωσις und τύπος, leugnet aber, daß sie wörtlich (d.h. materialistisch) zu verstehen sind. – Nur weil Plotin unter Typoi keine körperlichen Eindrücke versteht, kann er V 3, 2, 24-25 davon sprechen, die Seele nehme solche Typoi sowohl von den Erscheinungen als auch aus dem Bereich des reinen Geistes (dies meint „ἐφ’ ἑκάτερα“) verstehend auf. 219 Vgl. SVF II 56: Die „φαντασία“ (Vorstellung) ist nach stoischer Auffassung eine „τύπωσις ἐν ψυχῄ“ (ebenso II 55). Nach dem Bericht des Sextus Empiricus verstand Kleanthes dies so, wie Plotin es wiedergibt und zurückweist (s.o.), 215

60 unabhängig von den fünf Sinnen haben kann (s. IV 3, 29, 22-26), d.h. die Sinne müssen jetzt nicht erneut zu Hilfe genommen werden. Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Erinnerungsvermögen sind folglich drei verschiedene, aber eng miteinander verbundene psychische Kräfte. Auch das sinnliche Wahrnehmen ist kein bloßes Geschehenlassen, sondern eine Aktivität, und zwar in dem Maße, in dem die Seele daran beteiligt ist. – In den Phainomena kann die Seele die Abbilder der schon früher von ihr geschauten Nooumena erblicken; als die verinnerlichten Erkenntnisobjekte, als die materiefreien (und damit einfacheren) Vorstellungsinhalte der Seele sind sie den transzendenten Paradigmen wieder näher gebracht, und zwar durch die Tätigkeit der Seele, die ontologisch zwischen Ideen und Körperwelt steht und daher die Verbindung herstellen kann. – Plotin kann nicht nur von einem die Erscheinungen auffassenden „αἰσθητικόν“ sprechen, sondern analog auch von einem, das die intelligible Realität schaut; die Seele besitzt aufgrund ihres „Amphibiencharakters“220 die Fähigkeit, die beiden Sphären miteinander zu verknüpfen (VI 7, 6, 1-11). Beide Bereiche sind ihr zugänglich, in diesem wie in jenem kann sie Einsichten erlangen. Deshalb kann sie auch begreifen, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen und inwiefern die geformte Materie an die reinen Wesensformen erinnert oder auf sie verweist. In IV 6 [41]221 erneuert Plotin seine Ablehnung der Theorie, bei der Sinneswahrnehmung erleide ein Seelenkörper Einprägungen (1, 1-2. 9-10). Die Beschreibung des Sehvorgangs zeigt, daß unserem sinnlichen Erkenntnisvermögen eine Aktivität nicht abzusprechen ist, ein tätiges Sich-nachaußen-Richten, denn die erblickten Gegenstände befinden sich notwendigerweise in einer bestimmten Entfernung von uns, und es ist kein Abbild von ihnen in die Seele „eingeprägt“ (1, 14-40). Nur eine spontane Seele kann z.B. das Sichtbare vom Hörbaren unterscheiden; von dem Wahrgenommenen hingegen geht keine Aktivität, etwa ein Stoß, aus, sondern die Seele eint und ordnet die gesehenen Körper, die gehörten Töne etc. und ermöglicht durch diese ihre Tätigkeit eine sinnliche Erkenntnis, ein verstehendes Erfassen der Wirklichkeit (2, 1-18; s.a. 3, 16 ff.: Die Seele wirkt auf die Phänomene ein, nicht umgekehrt.). Die Seele verursacht die Einheit (nicht Identität) des Mannigfaltigen im Bewußtsein. – Daraus folgt für die Erinnerung, daß sie nicht durch Affizierbarkeit und durch den Fortbestand von „Abdrücken“ in der Seele erklärt werden kann, sondern nur durch eine von sich aus wirkende, unstoffliche und durch Übung verbesserbare Kraft der Psyche, wenn diese auch nicht immer in gleicher Weise aktiv ist, so daß wir uns nicht an alles ohne Mühe erinnern können (Kap. 3; vgl. 1, 2-11). Kurz gesagt: Da die Sinneswahrnehmungen keine Abdrücke in

wogegen bereits Chrysipp an dieser Auffassung Kritik übte und es vorzog, die Phantasia als eine Veränderung der Seele („ἑτεροίωσις ψυχῆς“ bzw., nach II 55, „ἀλλοίωσις“) – oder genauer des leitenden Seelenteils – zu bestimmen. – Plotin freilich kann auch dem nicht zustimmen, denn auch Chrysipp überwindet die materialistische Psychologie mit all ihren problematischen Implikationen, die Plotin bewußt zu machen sucht, nicht. Vgl. III 6, 3, 27-35 (zur wesentlichen Unveränderlichkeit der Seele) und A. Graeser, Plotinus and the Stoics, S. 32-33. – Zu Wahrnehmung, Vorstellung und Erinnerung sowie zur Abdruck-Theorie mit dem tabula-rasa-Motiv Zenons und ihrer Modifikation durch Chrysipp nebst den Konsequenzen dieser Änderung, schließlich zur Bedeutung des Logos in diesem Kontext vgl. M. Pohlenz, Die Stoa I, S. 54-63 und II, S. 32-36. – Zur tabula rasa s.a. Arist. De an. 429 b 31 – 430 a 2. 220 Vgl. dazu ausführlich unten. 221 Vgl. H.J. Blumenthal, Plotinus’ Psychology, S. 71.

61 der Seele sind, können die Erinnerungen kein Festhalten solcher Abdrücke sein (3, 55-57). – Man kann also sinnvollerweise nicht davon sprechen, die – wesentlich leidensunfähige – Seele habe Sinneseindrücke. Vielmehr werden die körperlichen Organe affiziert, die Seele aber verhält sich nicht passiv, sondern sie ordnet, eint, erkennt und beurteilt die mannigfaltig gegebenen Teile der Außenwelt.222 Bei der Wahrnehmung bedient sie sich der Sinneswerkzeuge; um sich zu erinnern, bedarf sie ihrer nicht mehr.223 An der sinnlichen Wahrnehmung sind die Seele und der Körper beteiligt, aktiv und insgesamt leitend ist jedoch die Seele allein. Beide sind zwar notwendig, aber nicht gleichrangig.

§ 11: Die Lehre von der διάδοσις

Im siebenten Kapitel erörtert Plotin die Bedeutung der einfachen, immateriellen Seele für die Sinneswahrnehmung unter einem anderen Gesichtspunkt: Anhand des Phänomens körperlicher Schmerzen kommt er zu dem gleichen Ergebnis wie im vorigen Kapitel (vgl. 7, 1-2). Wenn ein Mensch beispielsweise am Zeh Schmerzen hat, so ist die unangenehme Empfindung eindeutig lokalisierbar, der Mensch hat an dieser bestimmten Stelle des Körpers Schmerzen; die Wahrnehmung des Schmerzes findet aber nicht am Zeh statt, sondern im leitenden Seelenvermögen, dem „ἡγεµονοῦν“ (Plotin übernimmt also auch hier die Begrifflichkeit der kritisierten Schule); soweit stimmt Plotin mit den Stoikern überein (7, 2-5).224 Dabei ist es einerlei, ob man die oberste Kraft der Seele wie die Stoiker als Hegemoun oder Hegemonikon (o.ä.) bezeichnet und im Herzen lokalisiert225 oder ob man sie wie die Platoniker als – bildlich gesprochen – im Kopf226, eigentlich aber an gar keinem bestimmten Ort im Körper befindliches Logistikon anspricht. Jedenfalls muß, von der genauen Begrifflichkeit abgesehen, erklärt werden, wie der Schmerz vom Zeh (oder irgendeine andere Affektion von einem anderen Ort im Lebewesen) zu dem Organ gelangt, das den Affekt wahr-

222

Zur Affektionsfreiheit (Apatheia) der Seele vgl. III 6, 1-5. Vgl. die klare Unterscheidung von Aisthesis und Mneme IV 3, 26-29, bes. 26, 1-12 und 29 passim. 224 A.H. Armstrong verweist (Bd. IV der Übersetzung, S. 359, Anm. 1) auf SVF II 854. Dort lesen wir in einem Referat des Aetios: Die Stoiker lokalisieren die Affektionen in den affizierten Stellen (des Körpers), die Wahrnehmungen (dieser Affektionen) dagegen im Leitenden. 225 Zu einer Begründung vgl. A.A. Long & D.N. Sedley, Die hellenistischen Philosophen, 53 U (Galen). 226 Das λογιστικόν befindet sich im Kopf und kann von dort sozusagen den ganzen übrigen Körper überblicken, das θυµοειδές ist in der Brust, das ἐπιθυµητικόν im Bereich des Bauches (Plat. Tim. 69 c 5 – 73 a 8; s.a. 89 e 3 – 90 d 7). Mit der Lokalisierung des Denkvermögens im Kopf kommt Platon heutigen Vorstellungen sehr viel näher als die Peripatetiker, Stoiker und Epikureer, wenn auch die intelligible Vernunftkraft vom Gehirn, einem mit naturwissenschaftlichen Methoden erforschbaren Körper, wesensverschieden bleibt. Die Ansicht, daß Mut und Zorn ihren Sitz im Bereich der Brust haben, die Begierden aber unterhalb des Zwerchfells, ist, nicht zuletzt dank Platons Erläuterungen, leicht nachvollziehbar. Sie illustriert zudem, daß die drei Dynameis mit ihren jeweiligen Funktionen einerseits wohlunterschieden (durch den Hals bzw. das Zwerchfell getrennt, vgl. Tim. a.a.O.), andererseits aber in einem Körper geeint gegenwärtig sind. Vgl. auch Tim. 44 d 3 – 45 b 2. 223

62 nimmt, so daß er ins Bewußtsein treten kann (7, 5-7). Ist es leichter, dieses Problem schlüssig zu lösen, wenn wir annehmen, die Seele sei ein Körper, oder wenn wir dies leugnen? Die stoische Erklärung lautet: Zuerst wird der warme seelische Hauch (das ψυχικὸν πνεῦµα) am Zeh affiziert, von diesem dann der Hauch der angrenzenden Körperregion und so weiter bis zum Leitenden; der Begriff der „Weitergabe“ (διάδοσις) ist dabei zentral (7, 7-10): Den ganzen Körper durchziehen Pneumastränge, die alle Sinneswahrnehmungen zum Zentralorgan leiten, wo sie aufgenommen und „verstanden“ werden227. Der den ganzen Körper durchziehende Hauch entspricht bei dieser Theorie in etwa dem Nervensystem, das von den Stoikern so genannte Führungsvermögen dem Gehirn. Der Arzt Herophilos und sein jüngerer Zeitgenosse Erasistratos hatten im dritten Jahrhundert vor Christus grundlegende Einsichten in die Funktionen des Nervensystems und die Bedeutung des Gehirns als seines Zentrums gewonnen; Galen hatte ihre Entdeckungen im zweiten Jahrhundert nach Christus benutzt und weiterentwickelt; sie waren zu Plotins Zeit wohlbekannt.228 Die Platoniker sahen durch diese Entdeckungen Platons Intuition bestätigt, die Vernunft sei im Kopf lokalisiert.229 – Plotin äußert sich zu dieser Lehre wie folgt (IV 3, 23, 9-47)230: Die Nerven haben ihren Ursprung im Gehirn, weshalb man das Prinzip der Sinneswahrnehmung, des Antriebs und überhaupt des ganzen Lebewesens im Gehirn angesetzt hat, weil man annahm, daß da, wo die Ursprünge der Organe (Werkzeuge) sind, auch das sein müsse, was diese Organe gebrauchen soll. (...) Das Denkvermögen (der Logos) wird oberhalb des Wahrnehmungs- und Antriebsvermögens angesetzt, also am höchsten Punkt des ganzen Lebewesens, im Kopf – aber nicht als sei es im Gehirn, sondern in eben dem Wahrnehmungsvermögen, das im Gehirn seinen Sitz hat. (...) Das Denkvermögen ist im Gehirn nicht wie an einem Ort, sondern weil das dort befindliche Wahrnehmungsvermögen seine Wirkung erfährt.231 – D.h. als eine unkörperliche Kraft ist das λογιζόµενον nicht wirklich wie z.B. eine Nervenzelle an einer bestimmten Stelle im Gehirn oder gar mit diesem identisch, sondern es wird – vorbehaltlich – dort lokalisiert, weil sich seine Wirkungen auf Körperliches und speziell auf das zellebrale Nervensystem dort am unmittelbarsten zeigen. Die den Körper letztlich bewegende Kraft

227

Das Präfix δια- bringt das Durchdringen des Körpers deutlich zum Ausdruck. – Das Wort διάδοσις findet sich noch nicht in den Fragmenten der Alten Stoiker, sondern erst bei einem Vertreter der sogenannten Jüngeren Stoa, Epiktet, dem freilich eine uns nicht erhaltene Schrift des Poseidonios vorgelegen haben mag (A. Graeser, Plotinus and the Stoics, S. 46). – Vgl. A.A. Long & D.N. Sedley, op. cit., 53 B 8 (Hierokles): Im leitenden Vermögen entsteht eine Wahrnehmung aller Teile sowohl des Körpers als auch der Seele. – Zu den verschiedenen Arten des Pneumas in Menschen, Tieren, Pflanzen und anorganischer Materie vgl. unten zu Kap. 83. 228 Vgl. A.H. Armstrong, Bd. IV, S. 104-105, Anm. 229 Vgl. eb. S. 105, Anm. 230 Vgl. auch H.J. Blumenthal, Plotinus’ Psychology, S. 75 mit Anm. 20 und E.K. Emilsson, Plotinus on Sense-Perception, S. 105-106 mit Anm. 34. 231 23, 33-34: „ἐκεῖ (...) τὸ λογιζόµενον οὐχ ὡς ἐν τόπῳ, ἀλλ’ ὅτι τὸ ἐκεῖ ἀπολαύει αὐτοῦ.“ – Zur Übersetzung vgl. P. Henry et H.-R. Schwyzer, editio minor, app. crit. ad locum. – Vgl. auch die den Blick weitenden Überlegungen von K. Düsing in dem anregenden Aufsatz Über das Verhältnis von Geist und Gehirn.

63 wird anschaulicherweise im Gehirn (als dem „Zentralorgan“) geortet – wenngleich diese Dynamis streng genommen überall im Körper anwesend ist (23, 19-20). Wenn eine Körperstelle der anderen in ununterbrochenem Kontakt den Schmerz „mitteilt“, wie es diese Theorie vorsieht, so läßt sich mit Plotin schließen, daß aus der einen Wahrnehmung unzählige Wahrnehmungen des Schmerzes im Körper entstehen müssen, die das Zentralorgan alle wahrnimmt, und dazu noch seine eigene (IV 7, 7, 10-15). Dann aber würde der Schmerz, entlang der ihn gleichsam transportierenden Pneumabahn, einen großen Teil des Körpers durchziehen, d.h. es gäbe viele Schmerzempfindungen (im Fuß, das ganze Bein hindurch usw.), so daß das Hegemoun keine Affektion am Zeh wahrnähme, sondern an sich selbst, was zur Folge hätte, daß dem leitenden Seelenvermögen der Ursprung des Schmerzes verborgen bliebe bzw. daß dem Menschen nicht bewußt werden könnte, welche Körperstelle eigentlich schmerzt (7, 16-22). Die Wahrnehmungsseele selbst darf daher nicht affiziert werden, sondern ihr, der überall Gegenwärtigen, wird das Affiziertwerden einer bestimmten Körperstelle bewußt. Dies ist ihr aber nur möglich, weil sie apathisch bleibt, d.h. nicht wie ein Körper in Mitleidenschaft gezogen wird. Nur ein unkörperliches, überall gegenwärtiges Wahrnehmungsorgan kann dennoch wissen, wo der Schmerz entstanden ist.232 Die geschilderte Vorstellung widerspricht offenkundig den Tatsachen, weshalb die Diadosis-Theorie zurückzuweisen ist (7, 22-23). Ihre Unhaltbarkeit ist im Wesen der Körper begründet: Ein Körper ist bloße Masse (ὄγκος), bei jeder körperlichen Größe ist jeder Teil von jedem anderen Teil verschieden, die Bestandteile sind nebeneinander im Raum; daher kann kein Körper ohne weiteres Kenntnis (γνῶσις) vom Affekt eines anderen Körpers haben (7, 24-26). Das Wahrnehmungsorgan („τὸ αἰσθανόµενον“) ist – im Unterschied zu allen Körpern – notwendig überall in allen Teilen das selbe und mit sich identisch (7, 26-28). – Die Materie hat von sich her keine Einheit; was die Hyle eint und die Einheit der Körper bewahrt, ist die Morphe.233 Nicht der Stoff, sondern nur eine unkörperliche Wesenheit kann das Einheitsprinzip der einzelnen Körper wie des Weltkörpers sein.234 Es scheint Plotin bewußt zu sein, daß seine Ablehnung der stoischen Diadosis-Theorie in IV 7, 7 allzu knapp geraten ist. Daher bietet er wenig später eine ergänzende Kritik, nämlich im zweiten Kapitel von IV 2 [4]. Am Anfang des Traktates knüpft Plotin deutlich an die Untersuchungen in IV 7 an und führt sodann die Klärung des Wesens der Seele weiter. Zwischen der Seinsstufe der primär teilbaren Körper, der natürlichen Wirklichkeit oder materiellen Welt (Physis, Hyle), und der des ersten Seienden, des primär unteilbaren hypostasierten Geistes (Nous) steht die Psyche235, die durch 232

Vgl. auch P.P. Matter, Zum Einfluß des platonischen Timaios auf das Denken Plotins, S. 31-33 mit den Anmerkungen, und H.J. Blumenthal, Plotinus’ Psychology, S. 72-74. 233 Vgl. oben, § 1. 234 Nach stoischer Auffassung ist das Pneuma das Einheitsprinzip der Körper, vgl. A.A. Long & D.N. Sedley, op. cit., 47 F (Galen), G (Plutarch), I und L (Alexander von Aphrodisias), M (Plutarch), N (Galen), O (Diogenes Laertius, mit mehreren Varianten), Q und R (Philon); 48 C 1 (Alexander von Aphrodisias). Die Einheit einer pneumatischen Seele kann aber nicht in dem Körper selbst begründet sein. 235 Vgl. H.J. Krämer, Der Ursprung der Geistmetaphysik, z.B. S. 312, 325, 336.

64 Gemeinsamkeiten mit beiden Bereichen verbunden ist und sich zugleich auf charakteristische Weise von ihnen unterscheidet, um so einen selbständigen Seinsmodus zu bilden. Aufgrund ihres geistigen Ursprungs ist sie an sich unteilbar, sie wird jedoch teilbar, wenn sie eine Verbindung mit dem Körperlichen eingeht. So ist die inkarnierte Seele teilbar und unteilbar zugleich. Auch als an den Körpern geteilte verliert sie ihre Einheit nicht, denn diese kommt ihr nicht beiläufig zu (vgl. VI 4, 4, 27-28. 32-34), da sie sich – was keinem Körper möglich ist – zwar in jedem Teil befindet, aber jeweils als ganze.236 Die Allgegenwart des Seienden als Ganzem ist Thema der Doppelschrift VI 4-5.237 Das Problem, wie etwas vollständig in jedem Teil eines Körpers anwesend sein kann, betrifft sowohl den Geist als auch die Seelen. Letztere treten in VI 5 in den Hintergrund. – Der Körper findet die Seele vor als eine, die schon vor ihm (sc. also auch unabhängig von ihm) überall gegenwärtig ist (VI 4, 1, 4-5; vgl. 4, 38-39).238 Die Seele ist teillos, ohne Größe und kein Körper (1, 11-12. 14. 30-31; vgl. 5, 2122), und deshalb kann sich nicht ein Teil von ihr an dieser Stelle im Raum befinden und ein anderer an jener, sondern ihre Wirkung zeigt sich als ganze im ganzen Körper, und dies läßt erkennen, daß sie selbst überall als ganze gegenwärtig ist, soweit es sinnvoll ist, bezüglich einer unausgedehnten Wesenheit das Wort überall zu verwenden. Nähme die Seele einen bestimmten Raum ein, wäre sie also hier oder dort, so hätte sie, wie jeder Körper, Teile. Was aber selbst keinen Ort hat, muß dem anderen teillos und als Ganzheit gegenwärtig sein (vgl. 3, 27-29). Die folgende Überlegung macht die Art der ungeteilten Gegenwärtigkeit der Seele im Körper deutlicher (VI 4, 7, 9-22): Wenn eine Hand z.B. eine hölzerne Stange hält und sie so unter Kontrolle hat, dann hält sie die ganze Stange in gleicher Weise, obwohl sie nicht aus den gleichen Teilen besteht wie diese, sondern quantitativ von ihr ganz verschieden ist; die Kraft (δύναµις) der Hand erstreckt sich über die ganze Länge der Holzstange, obschon die Hand nicht jede Stelle des Holzes umgreift; und auch wenn man der Stange noch weitere Teile hinzufügt oder sie verlängert, so kann die Kraft der Hand möglicherweise (d.h. innerhalb bestimmter Grenzen, denn die Kraft ist nicht unendlich 236

Vgl. ähnlich IV 1: Die Seelen sind durch ihr Eintreten in die Körper geteilt (3-4); im geistigen Kosmos ist die Seele zwar ungeschieden und ungeteilt, es liegt aber in ihrem Wesen, (sc. in der Körperwelt) geteilt zu werden (8-9); sie ist an den Körpern geteilt, weil sie dabei (sc. von ihrem geistigen Ursprung) abfällt und so der Teilung verfällt (10-12). Allerdings bleibt sie auch jetzt ungeteilt, weil sie sich nicht gänzlich (sc. von ihrem Ursprung) abgesondert hat, sondern etwas von ihr nicht herabgekommen ist, das der Teilung nicht unterliegt (12-13; zu dem nicht herabgekommenen Seelenteil als Innovation Plotins vgl. ausführlich Th.A. Szlezák, Platon und Aristoteles in der Nuslehre Plotins, S. 167205). Aber auch hier unten ist sie nicht nur geteilt, sondern auch ungeteilt, denn das, was von ihr geteilt wird, wird auf ungeteilte Weise geteilt („ἀµερίστως µερίζεται“) (18-20), d.h. ohne daß ein reales Nebeneinander entstünde. Denn indem sich die Seele in den ganzen Körper hineinbegibt, bleibt sie ungeteilt, sofern sie als ganze in den ganzen Körper gelangt, ist aber geteilt, sofern sie im ganzen Körper (d.h. an jeder Körperstelle) ist. Die erst sekundär eintretende „Teilung“ der Seele verändert ihr einheitliches Wesen nicht. – Eine wesentliche Veränderung der herabsteigenden Seele wird – mit ausdrücklicher Berufung auf Platon – als erster Jamblich annehmen; Damaskios wird ihm folgen und seine Theorie weiterentwickeln. 237 Hierzu liegt seit einigen Jahren ein von Ch. Tornau verfaßter, umfangreicher philologischer Kommentar vor, der bei jeder eingehenden Beschäftigung mit VI 4-5 des näheren zu konsultieren ist. 238 Vgl. auch IV 3, 9, 42-51.

65 groß) alle Teile tragen, ohne selbst aus ebenso vielen Teilen zu bestehen. Entfernt man nun in Gedanken die körperliche Masse der Hand, aber nicht die Kraft, die vorher in der Hand war und die Stange hochhielt, so ist diese Kraft weiterhin ungeteilt in dem Ganzen und in jedem Teil des aufrecht gehaltenen Körpers. – So hat die Seele die Wirkung einer unkörperlichen Kraft oder mehrerer solcher Kräfte: Sie durchwirkt einen Körper vollständig, ohne realiter an ihm zerstückt zu sein. Denn die Dynamis, von der Plotin spricht, ist offensichtlich eine psychische Kraft, ein nicht lokalisierbares Vermögen der Seele, die sich des Körpers (oder eines Körperteils wie der Hand) als Werkzeug bedient. – Die Seele selbst kann als eine reine Kraft bezeichnet werden, die vom Körper getrennt ist (vgl. 7, 44-45: „δύναµις µόνον (...) σώµατος χωρὶς οὖσα“) oder welche die körperliche Welt ihrem Wesen nach transzendiert und sich auch dann, wenn sie sozusagen239 in die Sinnenwelt herabsteigt, nicht im wörtlichen Sinne mit der Materie „vermischt“ wie zwei Körper, die eine physikalische oder eine chemische Verbindung eingehen240. – Wie jeder Körper teilbar ist, so ist das Unkörperliche als solches unteilbar (vgl. 8, 18-19), so daß es seine Einheit und Ganzheit nicht verlieren kann. Während alles Ausgedehnte (alles Körperliche) an der Seele teilhat, bleibt sie selber unausgedehnt (13, 5-6).241 Eine Seele ist in jedem Teil eines Körpers gegenwärtig, insofern sie jeden Teil zu der Gesamtheit hinordnet, ihn zu einem integralen Bestandteil eines seienden Ganzen macht, den Körper belebt, wenn dieser potentiell lebendig ist, also ein individuelles Lebensprinzip aufzunehmen vermag, ihn bewegt, sofern er die körperlichen Instrumente, die zur Bewegung erforderlich sind, hat, usw. In einigen Körpern können alle seelischen Funktionen aktualisiert werden, in anderen nur eine Auswahl; dies hängt davon ab, um was für einen Körper es sich jeweils handelt.242 Die Seele ist eine teillose Substanz mit sie charakterisierenden, nicht raumgebundenen Kräften oder Aktivitäten. Trotz ihrer inneren Differenziertheit zerfällt sie nicht in Bestandteile, die sich durch Koordinaten im Raum bestimmen ließen. Sie ist überall dort ganz gegenwärtig, wo sich ihr Wirken manifestiert, wo etwas auf sie als sein Prinzip verweist. Es ist nicht ein Teil der Seele beim Sehen, ein anderer beim Hören gegenwärtig, sondern das selbe (nämlich die eine ganze Seele), wenn auch jeweils eine andere psychische Kraft in jedem der beiden Organe zur Wirkung kommt (IV 3, 3, 14-17).

239

Vgl. 16, 7-17: Die Teilhabe an jener oberen Wesenheit bedeutet kein Herabkommen jener Wesenheit in die Sinnenwelt und keine Trennung von sich selbst, sondern ein Eintreten dieser unteren Wesenheit in jene obere und die Partizipation an ihr. Statt von einem „Herabkommen“ der Seele müssen wir folglich (richtiger) von einem Eintreten des Körperlichen in jene obere Welt und von einer Teilhabe am Leben und an der Seele sprechen. Also bedeuten das „Herabkommen“ der Seele und ihr „Eintreten in den Körper“, daß sie dem Körper etwas von sich, d.h. von ihrem Wesen und ihrer Kraft, mitteilt, aber nicht, daß sie jetzt zu ihm gehört, während ihr „Fortgehen“ bedeutet, daß der Körper nicht mehr mit ihr Gemeinschaft hat. – Es ist also eine angemessenere Vorstellung, der Körper befinde sich in der Seele, nicht diese in jenem; vgl. 4, 29-30: Die Körper treten in sie (die Seele) ein. Siehe auch IV 3, 22, 7-9 (mit explizitem Lob des Gewährsmannes: „Πλάτων καλῶς (...) θείς (...)“ ) nach Tim. 36 d 8 – e 5. Vgl. auch VI 4, 12, 34-50. 240 Zu den verschiedenen Arten der Verbindung s.u. 241 Zu der Einsicht, daß die Gegenwart des Seienden als ganzem an vielen Orten nur dem begreiflich wird, der sich von körperlichen Vorstellungen gelöst hat, vgl. Plat. Parm. 130 e 4 – 132 b 2. 242 Vgl. 15, 1-18.

66 Im übrigen ist die Annahme immaterieller Dynameis weder unzeitgemäß noch auf philosophisches Denken im engeren Sinne beschränkt. In der Physik werden heute vier Kräfte mit ihren eigentümlichen Wirkungen unterschieden, die elektromagnetische Kraft, die „leichte Kraft“, die „schwere Kraft“ und die Gravitation, wobei letztere die meisten Rätsel aufgibt, weil viele mit ihr zusammenhängende Fragen – noch, wie man gerne hinzufügt – unbeantwortet sind. Statt von Kräften ist häufiger auch von Wechselwirkungen die Rede, weil die Einwirkung eines Körpers nie ohne eine entsprechende Gegenwirkung eines anderen Körpers bleibt. Es wird erwogen, diesen Kräften oder Wechselwirkungen den Status unkörperlicher Entitäten zuzuschreiben, weil sie sich in eine rein materialistische Naturerklärung nicht recht einordnen lassen oder weil es nicht gelingt darzustellen, welche Art von Körperlichkeit ihnen zukommen könnte. Überhaupt ist der Materiebegriff in der modernen (anders als in der klassischen) Physik problematisch geworden. In diesen Zusammenhang gehört auch die seit der Antike immer wieder gestellte und diskutierte Frage, ob das Licht materieller oder immaterieller Natur ist. Experimentelle Forschungen scheinen keine eindeutige Lösung zu ermöglichen. Kehren wir nun zu IV 2 zurück. Im zweiten Kapitel zeigt Plotin die Notwendigkeit dafür auf, daß die Seele sowohl µεριστή als auch ἀµέριστος ist, indem er einsichtig macht, daß die Annahmen, sie sei entweder nur das eine oder nur das andere, jeweils in die Aporie führen (2, 1-4). – Wenn die Seelen wie die Körper voneinander verschiedene Teile hätten, könnte die Affektion eines Teiles nicht von einem anderen Teil wahrgenommen werden, sondern allein die Teilseele im affizierten Körperteil könnte eine Wahrnehmung von der Affektion haben (2, 4-9).243 Dann gäbe es in jedem Menschen nicht eine, sondern viele Individualseelen – und ebenso viele Weltseelen im Weltkörper –, die voneinander getrennt wären (2, 9-11) und als nicht auf irgendeine Weise miteinander geeinte keine gemeinsamen Wahrnehmungen haben könnten. Es fehlte dann das einende Band zwischen den körperlichen Teilen, und ein einheitliches Bewußtsein von der Sinneswahrnehmung wäre nicht möglich. Die Teile müssen also eine wirkliche Einheit bilden, zur Einheit („εἰς ἕν“) zusammengefaßt sein (2, 11-12). Das bewußte sinnliche Erkennen, das etwas anderes ist als die bloße körperliche Affektion, setzt die einfache Seele als den einen Träger des Bewußtseins voraus. An dieser Stelle setzt die eigentliche Kritik am stoischen Diadosis-Modell ein, welches das nicht zu erklären vermag, was hier erklärt werden muß, nämlich die Empfindungseinheit244, die in jedem lebendigen Körper gegeben ist. 243

Es fällt auf, daß Plotin das gleiche Beispiel gebraucht wie in IV 7, 7. – Αἴσθησις (2, 6) bedeutet nicht „Bewußtsein“ (R. Harder), sondern “perception“ (A.H. Armstrong). 244 Sympatheia, „das ‚Zusammen-Affiziert-Sein’“ (HWPh, Bd. 10, Sp. 752; vgl. eb. 751-762, bes. bis 753), bedeutet auch soviel wie Wirkungszusammenhang. Er besteht nach Plotin sowohl in den einzelnen Lebewesen als auch im ganzen Kosmos, dem Weltlebewesen, in dem die Teile aufeinander Einflüsse ausüben. Vgl. bes. IV 4, 26. 31-45. In IV 4, 32 heißt es: Das Weltall ist ein einheitliches Lebewesen, das alle in ihm befindlichen Lebewesen in sich enthält (32, 4-5 nach Plat. Tim. 30 d 3 – 31 a 1; vgl. 69 c 1-3); es hat eine einheitliche Seele, die sich auf alle seine Teile erstreckt (32, 6); die Einheit des Alls ist eine Wirkungsgemeinschaft, ist Einheit wie ein Lebewesen (32, 13-14), d.h. wie ein lebendiger Organismus, in dem Gleiches auf Gleiches (oder vorsichtiger: Ähnliches auf Ähnliches) wirkt (s.a. 35, 54-55); der

67 (1) Es ist nicht einzusehen, wie sich bei einem Seelenpneuma ein leitender von anderen Teilen unterscheiden oder erkennbar abheben soll, denn eine quantitative Sonderung (in mehrere Stücke von bestimmter Größe) oder eine qualitative Unterscheidung ist offensichtlich nicht möglich, wenn homogene, kontinuierliche Pneumastränge, die zusammen ein Ganzes bilden, den Körper durchziehen (vgl. 2, 14-18). Aber genau dies ist die stoische Vorstellung: Die Teile der Seele fließen aus ihrem Sitz im Herzen wie aus der Quelle eines Brunnens hervor und verteilen sich im ganzen Körper; sie erfüllen alle Glieder kontinuierlich mit lebendigem Hauch und leiten sie mit unzähligen verschiedenen Kräften245. Es ist also an einen Körper gedacht, der überall die gleiche Beschaffenheit hat. Die Sinneswahrnehmungen gelangen durch die anderen Seelenteile zum Leitenden und Herrschenden246, aber wie sich dieses als das eigentliche Wahrnehmungsorgan nicht nur in seiner Funktion, sondern auch qualitativ und quantitativ von der übrigen Seele abhebt, wie dies bei einem Körper nahe läge, bleibt fraglich. (2a) Wenn nur das ἡγεµοῦν ein Wahrnehmungsvermögen besitzt, können ausschließlich diejenigen Affektionen (etwa Töne oder Stöße) wahrgenommen werden, die unmittelbar auf das Leitende treffen; befindet sich dieses aber im Inneren des Körpers (speziell im Herzen), so können z.B. Affektionen an der Körperoberfläche überhaupt nicht wahrgenommen und bewußt werden, weil die zum Herzen hinführenden Teile keinen Wahrnehmungssinn haben (vgl. 2, 18-23). Und selbst wenn das körperliche Hegemoun direkt affiziert wird, erreicht der Sinneseindruck entweder genau genommen nur einen Teil dieses Körpers – der sich bei näherer Analyse als unausgedehnter Punkt erweisen muß, dann aber ist das Wahrnehmungsorgan, wie Plotin fordert, immateriell –, während die anderen Teile an der Aisthesis nicht beteiligt sind, oder es liegt ein Fall vor, der dem IV 7, 7 genannten ähnlich ist: Neben einer ursprünglich affizierten Körperstelle gibt es infolge der „Weitergabe“ der Sinneswahrnehmung unzählige weitere, mittelbar affizierte Stellen, von denen jede ihre eigene Wahr-

entfernte Teil (sc. des Lebewesens) erfährt eine Einwirkung, ohne daß das dazwischen liegende Stück beteiligt ist und etwas erleidet (32, 16-17) – also gerade nicht so, wie es die körperliche Diadosis der Stoiker vorsieht; denn die gleichartigen Dinge liegen nicht nebeneinander, sondern sie sind durch Andersartiges, was sich dazwischen befindet, getrennt, aber aufgrund ihrer Gleichartigkeit sind sie dennoch Teile einer Empfindungseinheit (32, 17-19). Teilweise ähnlich Kap. 35, 8-13: Das Weltall ist ein einheitliches Lebewesen und muß als solches Empfindungsgemeinschaft mit sich selbst haben; der Ablauf seines Lebens ist notwendigerweise vernunftgemäß; sein Leben ist von Harmonie und vernünftiger Ordnung bestimmt. – All dies läßt sich nur verstehen, wenn das gesamte Lebewesen von immateriellen Kräften, die Gleichartiges verbinden, durchwirkt und geprägt ist (vgl. die „λόγοι“ und „δυνάµεις“ Kap. 36, 1-2 und ff.). – Schließlich erklärt Plotin auch magische Wirkungen durch die Sympatheia, durch den bestehenden Einklang des Gleichen und Gegensatz des Ungleichen sowie durch die mannigfache Vielfalt der Kräfte, die doch zur Einheit des Weltlebewesens zusammenwirken (40, 1-4). – Vgl. zur Wirkung der Sympatheia noch III 1, 5, 7-9 und II 3, 7, 10-28. – Plotin verwirft den vor allem von der Stoa in Anspruch genommenen Begriff der Sympatheia zwar nicht grundsätzlich, grenzt sich aber durch die der Weltseele (und den ihr wesensähnlichen Einzelseelen) zugesprochene Unkörperlichkeit entscheidend von der stoischen Kosmologie ab. Nach der erforderlichen antimaterialistischen Korrektur kann Plotin die Lehre zwanglos in das platonische Weltgebäude integrieren. Vgl. in diesem Zusammenhang auch M. von Pergers Monographie „Die Allseele in Platons Timaios“. – Die Sympatheia-Lehre war auch bei Plotins Ablehnung des Atomismus IV 7, 3, 1-6 von Bedeutung, vgl. „ὁµοπαθείᾳ“, „συµπαθοῦς“, „συµπαθής“. 245 A.A. Long & D.N. Sedley, op. cit., 53 G 6 (Calcidius). 246 Eb. G 7. – Vgl. nochmals 53 H (Aetios).

68 nehmung hat, wobei aber die Information, wo sich der Ausgangspunkt der Affektion befindet, nicht bis zum Leitenden gelangen kann (2, 23-31) und folglich nicht bewußt wird. – Die Alternative (2a) widerspricht also entweder der Erfahrung, oder sie ist, genauer betrachtet, gar nicht im Sinne der Stoiker, weil sie die Annahme eines unstofflichen αἰσθητικόν247 nahelegt. (2b) Hat hingegen jeder Teil der Seele die Fähigkeit zur sinnlichen Wahrnehmung, so stellt sich die Frage, wodurch sich das ἡγεµοῦν vor den anderen auszeichnet (so daß diesen lediglich eine vermittelnde Funktion zugesprochen wird) bzw. warum eine Vermittlung bis zum Zentralorgan überhaupt als erforderlich angesehen wird, wenn sich die anderen Teile nicht wesentlich von ihm abheben, sondern bezüglich der Aisthesis die gleiche Aufgabe erfüllen (2, 31-33). Ein zusätzliches Problem besteht darin, daß die Informationen mehrerer Sinne im Rahmen dieser Theorie nicht zu einer einheitlichen sinnlichen Erkenntnis verbunden werden können (2, 33-35). – Das leitende Vermögen müßte also vor allem die Fähigkeit haben, eine von außen kommende, heterogene Mannigfaltigkeit zu einen. Weshalb diese Fähigkeit keinem Körper zukommen kann, wurde im vorigen Kapitel erläutert. Wie Plotin, so bestehen auch die Stoiker darauf, daß die Sinneswahrnehmungen in bestimmter Weise geeint werden müssen; dies zeigt der oben erwähnte Vergleich der Seele mit einem Tintenfisch: Alle sinnlichen Eindrücke müssen zu einem und dem selben Zentrum gelangen. Die Stoiker übersehen dabei jedoch, daß kein Körper in der Lage ist, die geforderte Einheit zu bewirken, weil in ihm selbst, dem zwar zeitweilig bis zu einem gewissen Grade Geeinten, aber immer real Teilbaren und auch immer real Geteilten, das Vielheitsprinzip überwiegt. Kein Körper kann gleichzeitig an verschiedenen Orten sein, ohne seine Einheit zu verlieren. Wie die Seele nicht nach Art der Körper teilbar ist, so kann sie andererseits auch nicht in jeder Hinsicht einfach, schlechterdings unteilbar und eine Einheit, also ohne alle Vielheit und Geteiltheit, sein, denn dann wäre sie außerstande, irgendeinen Körper vollständig zu durchwirken; wäre sie nicht in dem oben erläuterten Sinne im ganzen Körper und in jedem seiner Teile präsent, sondern, als selber völlig teillose, nur in einem ausdehnungsfreien Punkt, so würde unmöglich der Körper als ganzer von ihr beseelt (2, 35-39; s.a. 39-55). Indem somit die Psyche – in verschiedenen Hinsichten – teilbar und unteilbar zugleich ist, unterscheidet sie sich von den Körpern und vom reinen Nous wesentlich. Durch die Grundannahme, die Seele sei vollkommen unkörperlich, vermeidet Plotin somit ein weiteres Mal die Schwierigkeiten, in welche die Stoiker – wie alle Verfechter einer materialistischen Psychologie – infolge ihrer gegenteiligen Position unweigerlich geraten.

247

Vgl. die αἰσθητικὴ ψυχή IV 4, 19, 5.

69 § 12: Die Unkörperlichkeit der Seele als notwendige Bedingung für Denken und Wissen

Das Denken ist von der sinnlichen Wahrnehmung grundlegend zu unterscheiden: Während diese als das Erfassen der Phänomene durch die Seele, die sich eines Körpers bedient, bestimmt werden kann, ist jenes das Erfassen (sc. seiner Gegenstände) ohne Körper; und wenn der Denkakt eine Tätigkeit ist, bei der kein Körper zu Hilfe genommen wird, dann muß auch das, was denken soll, unkörperlich sein (8, 2-7).248 In den beiden vorangehenden Kapiteln (IV 7, 6-7) hat Plotin begründet, warum schon die sinnliche Erkenntnis ein Erkenntnisvermögen voraussetzt, das sich durch seine teillose Einfachheit von jeglichem Körper unterscheidet. Wenn aber schon – teilweise mit neuzeitlichen Begriffen formuliert – die in Raum und Zeit mannigfach zerteilten sinnlichen Objekte nur von einem immateriellen Subjekt zur Einheit synthetisiert und mit Bewußtsein erkannt werden können, dann darf auch dem Erkenntnissubjekt des Denkbaren, des rein Geistigen, die teillose Einfachheit nicht fehlen. Daß es vollkommen materiefreie Denkinhalte gibt, können die Stoiker trotz ihres sehr weit reichenden Materialismus nicht von der Hand weisen (8, 8-10). Woran ist hier zu denken? Gott, den Logos, das schöpferische, vernünftige Feuer oder auch die Physis verstehen die Stoiker als Körper. Doch sehen sie sich andererseits gezwungen zuzugeben, daß es vier Gattungen von Unkörperlichem gibt249: (1.) das Sagbare (λεκτόν), (2.) den leeren Raum (das κενόν), (3.) den Ort (τόπος) und (4.) die Zeit (den χρόνος).250 Als unkörperlich gelten sie, weil sie, anders als jeder Körper, nicht die Fähigkeit besitzen, durch Berührung zu wirken oder zu leiden. Das Wirkende ist letztlich die Vernunft, das Leidende die Materie.251 Damit durch diese innerhalb des stoischen Systems unvermeidliche Konzession der Materialismus nicht untergraben wird, formulieren seine Vertreter, Sagbares, der leere Raum, Ort und Zeit seien oder existierten (εἶναι, ὑπάρχειν) nicht, sondern sie subsistierten (ὑφεστάναι) lediglich, was bedeutet, daß sie im Vergleich mit dem wahrhaft Seienden, den Körpern, ontologisch untergeordnet, aber nicht gänzlich nichtig, sind.252 Obschon ihnen also kein eigentliches Sein zukommt, sind sie doch Gegenstand philosophischer Erwägungen und damit offensichtlich

248

Den Unterschied zwischen „αἴσθησις“ und „νόησις“ (vgl. 8, 8) hat Platon im Gleichnis von der geteilten Linie (Rep. 509 d – 511 e) grundsätzlich geklärt: Die Sinneswahrnehmung und das reine (d.h. körperunabhängige) Denken sind zwei ganz verschiedene Erkenntnisweisen, die sich auf ebenso ungleiche Seinsbereiche beziehen. Der hierarchischen Struktur der seienden Wirklichkeit entspricht eine gnoseologische Stufung: Was mehr ontologische Vollkommenheit besitzt, ist klarer aufzufassen als das auf abgeschwächte Weise Seiende, so daß die sich immer gleich bleibenden Ideen das eigentlich Erkennbare sind. Sie sind zugleich das eigentlich Wißbare, der Gegenstand der Episteme, im Kontrast zu den Erscheinungen, von denen es ihrer Veränderlichkeit wegen lediglich eine wahre oder falsche Meinung (Doxa) gibt. Vgl. Rep. 477 a 3: „τὸ µὲν παντελῶς ὂν παντελῶς γνωστόν“. 249 Vgl. zum folgenden auch M. Hossenfelder: Die Philosophie der Antike 3, S. 79-81. 250 Vgl. A.A. Long & D.N. Sedley, Die hellenistischen Philosophen, Kap. 33 (zu den Lekta), 49 (zum Ort und zum leeren Raum) und 51 (zur Zeit); s.a. 27 D (Sextus Empiricus) und den Kommentar zu Kap. 27. 251 A.A. Long & D.N. Sedley, op. cit., 55 E (Seneca). 252 Vgl. A.A. Long & D.N. Sedley, op. cit., 27 G (Galen kritisch).

70 denkbar und aussagbar. Daß ein Etwas253 wirklich ist, statt nur zu subsistieren, und zugleich unkörperlich ist, können die Materialisten jedoch nicht einräumen. Es kann indessen zweifelhaft erscheinen, daß Plotin mit den 8, 9-10 genannten νοητά τινα und ἀµέγεθα auf diese vier unkörperlichen Gattungen der Stoiker anspielt. Das durch reines Denken (die Noesis) Erfaßbare, das ohne Zuhilfenahme der sinnlichen Anschauung Denkbare (Noeton), dessen Wirklichkeit nicht bestritten werden kann, weil davon nicht allein die Existenz der gesamten phänomenalen Realität, sondern auch das psychische Sein – und damit zugleich die Möglichkeit menschlichen Denkens – abhängt, ist der Ideenkosmos254. Die Begriffe νόησις für die Ideenschau und νοητά für die geschauten Ideen sind Schulterminologie. So meint Plotin hier möglicherweise, daß die Existenz dieser durch reines Denken erfaßbaren Wesenheiten auf keine Weise geleugnet werden kann, da ihre Notwendigkeit mit Vernunftgründen bewiesen ist – wohl wissend, daß hierüber ein Konsens mit der Stoa nicht zu erzielen ist. Dafür spricht auch Plotins These (8, 14-16), die obersten Denkakte richteten sich auf das, was gänzlich vom Körperlichen rein ist. Während für den Platoniker das vollkommen körperlos, ewig und unwandelbar Seiende zugleich der Gegenstand der Noesis im engeren Sinne ist, wäre es nicht recht verständlich, inwiefern die vier von den Stoikern angesetzten Gattungen des Unkörperlichen Gegenstand von πρῶται νοήσεις sein sollen; der vornehmste Denkgegenstand ist im Rahmen der stoischen Kosmotheologie vielmehr das Weltprinzip, das göttliche, vernunfthafte und schöpferische Feuer – dieses aber ist ein Körper. Stoikern und Platonikern ist also jedenfalls die Einsicht gemeinsam, daß wir Unkörperliches denken und darüber sprechen können, wie groß die Unterschiede in den Seinslehren beider Schulen im übrigen auch sein mögen. Dieses Zugeständnis genügt Plotin: Wenn wir etwas Größeloses, Unteilbares und Immaterielles denkend erfassen können, dann muß dasjenige Erkenntnisorgan, mit dem wir es erfassen, ebenfalls größelos, unteilbar und immateriell sein; das Erfassen eines Objektes ohne reale Teile, ohne räumliche Ausdehnung durch ein real teilbares, sich im Raum erstreckendes und damit wesensfremdes Subjekt müßte in seiner Möglichkeit unbegreiflich bleiben (vgl. 8, 10-11). Den hier erneut zur Anwendung kommenden Grundsatz, Gleiches werde durch Gleiches erkannt, setzt Plotin dabei als gültig voraus. – Wenn die Stoiker aber sagten, ein teilloser Denkinhalt werde nicht von der ganzen körperlichen und folglich vielteiligen und vielfach teilbaren Denkseele (dem Hegemonoun) erkannt, sondern von einem selber unteilbaren Stück des leitenden Seelenkörperteils, 253

Mit dem Begriff des Etwas (τί) ist sowohl das Körperliche als auch das Unkörperliche umgriffen; vgl. eb. 27 B (Alexander von Aphrodisias) und D (Sextus Empiricus). 254 Die Gültigkeit der klassischen Ideenlehre bezweifelt Plotin nicht. Als er begann, seine Schriften zu verfassen, also im Alter von annähernd 50 Jahren, hatte er diese und viele andere Lehren zusammen mit möglichen Angriffen gegen sie gründlich durchdacht und im Kreise seiner Schüler diskutiert und war so zu gefestigten Positionen gelangt. Vgl. das vierte Kapitel von V 9, das mit den Worten schließt: Daß es einen Geist geben muß (...), läßt sich aus den angeführten und aus vielen anderen Beweisen ersehen. Der Nous aber ist gemäß Plotin der Inbegriff der Ideen (V 9, 3, 7-8. 5, 12-13. 26-34. 6, 1-3. 7-10. 7, 8 – 9, 16. In den Kapiteln 10-14 wird die Frage erörtert, wovon es Ideen gibt, wovon nicht; vgl. die diesbezüglichen Anmerkungen von A.H. Armstrong im fünften Band seiner Übersetzung, S. 308 ff.). – Zu der platonischen, der stoischen entgegengesetzten Ordnung der Seinsbereiche, zwischen denen eine einseitige Abhängigkeitsrelation besteht, vgl. die Bemerkungen zu Kapitel 83.

71 dann wäre dieser denkende, teillose Teil kein Körper mehr (vgl. 8, 12-14), denn jeder Körper besteht aus Teilen – die Stoiker hätten sich dann also selbst widerlegt und wären gezwungen, der plotinischen Position wider Willen zuzustimmen: Nur eine unausgedehnte, unkörperliche psychische Kraft kann die unausgedehnten, unkörperlichen Wesenheiten erkennen; nur eine geisthafte Seele ist fähig, den nousähnlichen oder den rein noetischen Seinsbereich diskursiv oder intuitiv zu erfassen.255 Die vom Körperlichen freien und insofern „reinen“ Erkenntnisgegenstände sind für ein potentiell erkennendes bzw. denkendes Subjekt nur dann aktual erkennbar, wenn dieses seinen Objekten aktual ähnlich ist, d.h. wenn es ebenfalls körperfrei ist oder das, was an ihm körperlich war, seine stofflichen Zusätze, von sich entfernt hat (8, 14-17). Reine νοητά erfordern ein reines νοοῦν, um erkannt werden zu können. Eine unkörperliche Seinsweise kommt einmal dem Mathematischen und dem Psychischen zu, primär aber den intelligiblen Wesensformen der Erscheinungen, den εἴδη oder ἰδέαι256. Diese transzendieren den Mundus sensibilis immer, d.h. in überzeitlicher Ewigkeit, und stehen nicht in direktem Kontakt mit ihm, sondern die beiden Hypostasen257 sind durch die Psyche ver-

255

Vgl. auch Arist. De an. 407 a 9-19 sowie P.P. Matter, Zum Einfluß des platonischen Timaios auf das Denken Plotins, S. 31 mit Anm. 27 und 28. 256 Beide Wörter sind von der Wurzel ϝιδ- (vgl. lateinisch videre) bzw. von ἰδεῖν abgeleitet: Die Idee ist das eigentlich Schaubare oder Erkennbare, das den wahren Kern des Menschen an sich ziehende, begeisternde und beglückende Schaunis. 257 Zu diesem Begriff vgl. die Arbeiten von R.E. Witt (ΥΠΟΣΤΑΣΙΣ) und H. Dörrie (Ὑπόστασις, Wort- und Bedeutungsgeschichte); ferner U.R. Pérez Paoli, Der plotinische Begriff von ὙΠΟΣΤΑΣΙΣ und die augustinische Bestimmung Gottes als Subiectum, bes. S. 1-28; Ch. Horn, Plotin über Sein, Zahl und Einheit, S. 15-29; J. Hammerstaedt, s.v. Hypostasis, in: RAC XVI. – Zur Wertung von H. Dörries Arbeit vgl. die Beurteilung H.J. Krämers, Der Ursprung der Geistmetaphysik, S. 312, Anm. 450, aber auch Ch. Horn, op. cit., S. 28, Anm. 48. – Es dürfte angemessen sein, mit H.J. Krämer (op. cit., S. 295 und 312) von vier Hypostasen bei Plotin zu sprechen: Hen, Nous, Psyche und Hyle; ein ganz ähnliches Modell findet sich im übrigen schon in der Älteren Akademie, namentlich bei Speusipp, vgl. H.J. Krämer, op. cit., S. 325; s.a. die „Stufenfolge“ bei J. Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen, S. 200, und ferner F.-P. Hager, Der Geist und das Eine, S. 272. In Plotins Schriften finden wir diese vier verschiedenen, auseinander hervorgehenden Wirklichkeitsbereiche. Zu bedenken ist hierbei allerdings, daß bezüglich des Einen nur im uneigentlichen Sinne von einer Wirklichkeitsstufe oder Hypostasis die Rede sein kann, weil es streng genommen überwirklich oder vor aller Wirklichkeit ist. – Daß es nicht mehr als drei den Kosmos aisthetos transzendierende Hypostasen gibt, sagt Plotin im Rahmen seiner Kritik an den Gnostikern expressis verbis – er findet nämlich in der Philosophie Platons keinen Grund zu einer Hypostasenvermehrung; vgl. J. Halfwassen, Geist und Selbstbewußtsein. Studien zu Plotin und Numenios, S. 34-36. – Ch. Horn (op. cit., S. 15-29, bes. ab S. 19) hat gezeigt, daß bei Plotin das Wort Hypostasis „die (relative) Selbständigkeit oder Unabhängigkeit von etwas zum Ausdruck bringt – soweit eine Derivationskonzeption dies zuläßt“ (S. 22). Mit Recht weist Ch. Horn darauf hin, daß die Selbständigkeit der Hypostasen relativ ist, denn sie ist in allen vier Fällen erläuterungsbedürftig: Schon der reine Geist ist nicht vollkommen autark, denn er hängt in seinem Sein vom Einen ab; die Seele ist unmittelbar vom Geist und mittelbar vom Einen abhängig; die Körperwelt setzt die Existenz aller drei jenseitigen Hypostaseis voraus. Das Absolute aber kann nur uneigentlich als selbständig bezeichnet werden: Es ist, wie über alles andere, etwa Sein, Leben und Denken, so auch über seine eigene Unabhängigkeit erhaben, denn schon bevor es Autarkie geben kann, muß es das Hen, das mehr (vollkommener) als Selbständigkeit ist, geben. Das Eine als das Ursprünglichste von allem kann als das Selbständigste von allem angesehen werden, ist aber aufgrund seiner reinen Unbezüglichkeit zugleich schon über alle Selbständigkeit, die in der seienden Realität ist, hinaus. Das Absolute ist nur „gleichsam eine Hypostase“ oder „gleichsam Wesenheit“ (F.-P. Hager, op. cit., S. 302 nach VI 8, 7, 47. 52; 20, 10-11).

72 mittelt.258 Die Einzelseelen können sich mit einzelnen Körpern verbinden259, wodurch sie ihre ursprüngliche Reinheit verlieren, denn sie sind dann nicht mehr für sich und dem Nous zugewandt, so daß für sie die Erkenntnis der Ideen erschwert oder, wenn sie noch mehr in der Sinnlichkeit versinken, sogar unmöglich wird. Sie sind ihrem geistigen Ursprung zu unähnlich geworden, sie haben sich von ihm entfremdet. Ihr Erkenntnisvermögen haben sie in diesem Zustand zwar nicht verloren, aber seine Aktualisierung oder Reaktivierung erfordert nun einige Anstrengung. Eine Katharsis der von ihrem Prinzip entfernten und abgewandten Seele ist notwendig geworden. Sie kann in zwei Schritte gegliedert werden, zunächst die Reinigung (Abtrennung) der gesamten Seele vom Körper, die sich im Augenblick des sogenannten Todes ereignet, aber bereits während des Lebens vorbereitet werden kann, und sodann die Lösung der Vernunftseele von den vernunftlosen Seelenvermögen – und auch darauf können wir uns schon jetzt durch eine philosophische, das Denken in den Vordergrund stellende Lebensweise vorbereiten.260 Allein das λογιστικόν als das Noushafteste im Menschen kann das wesenhaft von allem Somatischen Entfernte schauen, und zwar am leichtesten und am längsten, wenn es auch selbst den Körpern fern bleibt. Oder sind die Stoiker der Ansicht, die Formen in der Materie (τὰ εἴδη ἔνυλα), die mit dem Stoff verbundenen und mit ihm einen Körper bildenden Formen, seien der Gegenstand reiner Denkakte („νοήσεις“) (8, 17-18)? Dies ist gar nicht ohne weiteres möglich, denn Gegenstand des reinen Denkens (für das es gerade charakteristisch ist, daß von der sinnlichen Wahrnehmung und insgesamt von der Materie abgesehen wird) können diese Eide erst werden, wenn sie von den Körpern getrennt (und so auch ihrerseits rein) sind, wobei es der Geist ist, der diese Trennung durchführt (8, 18-19). Die spontane Handlung des Absonderns der Form vom Stoff geht nicht vom Körper oder von seiner hyletischen Komponente aus, sondern von dem noushaften Bestandteil. Der Geist der Seele261 ist das absondernde Agens. – Die Abtrennung beispielsweise des Kreises, des Dreiecks, der Linie oder des Punktes (als reinen Formen) geschieht ohne alles Körperliche bzw. Stoffliche; um dasjenige rein für sich erfassen zu können, was vom Körper getrennt ist, muß sich auch die Seele vom Körper lösen, was impliziert, daß sie selbst kein Körper sein kann (8, 19-23); sie muß sich auf sich selbst und auf die ihr eigene Geisthaftigkeit konzentrieren.

258

Vgl. Plotin. Seele – Geist – Eines, hrsg. von K. Kremer, S. XVII-XVIII. Vgl. bes. IV 8 [6]: Über den Abstieg der Seele in die Körperwelt. 260 Dieser Gedanke wird im Rahmen der Beschäftigung mit Porphyrios wieder aufgegriffen und dort ausführlicher behandelt werden. 261 Der Geist der Seele ist nach Aristoteles das, womit die Seele diskursiv denkt und vermutet; er ist nicht mit dem Körper vermischt (De an. 429 a 22-25). – Daß Plotin hier vom νοῦς τῆς ψυχῆς spricht, ist durch den Zusammenhang deutlich. Gerade im gegenwärtigen Kapitel finden sich zahlreiche Formen von νοεῖν, die sich auf die Tätigkeit der Vernunftseele, nicht etwa des göttlichen Geistes, beziehen. 259

73 § 13: Die Unkörperlichkeit der Tugenden, des Schönen und der denkenden Seele

Die Tugend (Virtus, ἀρετή, sittliche Vortrefflichkeit) ist aus stoischer Sicht nichts anderes als der Geist in einer bestimmten Beschaffenheit262, d.h. ein bestimmter Zustand der Vernunftseele; wie diese, so gilt auch ihre Arete als körperlich. „Die Tugend“ bzw. die einzelnen Tugenden sind vernunft- und damit naturgemäße körperliche Verfassungen. Die Aretai sind qualitativ bestimmt.263 Die Frage, ob es nur eine Arete oder eine Mehrzahl ethischer Vortrefflichkeiten gebe, scheinen die Stoiker nicht einheitlich beantwortet zu haben. Nach Ariston von Chios ist die Tugend ihrem Wesen nach eine einzige; allerdings nahm Ariston, ähnlich wie Zenon von Kition, doch eine gewisse Differenzierung vor264, so daß er zumindest mehrere Aspekte der einen Arete unterschied. Im Anschluß an Chrysipp kann von einer Vielzahl der Tugenden gesprochen werden265. Die einzelnen Aretai hängen also (innerhalb eines Wertesystems) eng zusammen, sind jedoch nicht miteinander zu identifizieren. Zenon kann die Aretai auch als die verschiedenen Ausprägungen oder Aspekte der einen, umfassenden Klugheit deuten266. Allen Tugenden liegt die gleiche geistige Verfassung zugrunde. – In den Handlungen eines Menschen zeigt sich seine verwirklichte Phronesis bald als Besonnenheit, bald als Gerechtigkeit usw. Sie beruht aber in jedem Fall auf der harmonischen, ausgeglichenen Beschaffenheit des Hegemonoun dieses Menschen, also darauf, daß sein Logos gut ausgebildet ist. Wer seine Vernunft optimal ausgebildet hat, ist im Besitz der ethischen Vortrefflichkeit mit allen in ihr enthaltenen Facetten oder Momenten, und damit ist er zugleich im Besitz der Eudaimonia, denn die Arete ist das einzige, was um seiner selbst willen erstrebenswert oder wählenswert ist; sittlich gut sein bedeutet glücklich sein.267 – Die Einheitlichkeit der Lehren verschiedener Stoiker ist hier also größer als es zunächst erschien: Die eine vollkommene Arete hat eine Vielzahl von Gestalten, die sich aus der Vielzahl der Situationen ergibt, in denen wir bald besonnen oder tapfer, bald klug oder gerecht handeln müssen. In jeder Situation tritt eine Gestalt der komplexen Bestbeschaffenheit in den Vordergrund. Die Tugend ist eine bestimmte Disposition (διάθεσις) und Kraft (δύναµις) des leitenden, zentralen Seelenvermögens, sie ist konsistente, beständige, unveränderliche Vernunft (λόγος).268 Als eine 262

A.A. Long & D.N. Sedley, Die hellenistischen Philosophen, 29 B (Seneca). Op. cit., 29 E (Galen). 264 Op. cit., 61 B 2-6 (Plutarch). 265 Eb. B 7. – Vgl. 61 C 1 (Plutarch): Zenon spricht von mehreren verschiedenen Tugenden, z.B. Klugheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit (diese vier sind nach 61 H 6, Stobaios, die ersten oder wichtigsten Aretai, denen die anderen untergeordnet sind; vgl. 60 E 7-8, Seneca, und K, Stobaios), die zwar nicht voneinander getrennt, aber doch inhaltlich unterschieden werden können. 266 Vgl. eb. 61 C 2 und ähnlich D (Stobaios). 267 Vgl. SVF III 305 (Stobaios) (leicht gekürzt): Die Stoiker sagen, es gebe im leitenden Seelenteil eine Mehrzahl von Tugenden, die nicht voneinander getrennt werden können; jede Tugend sei ein Körper, denn der Verstand und die Seele seien Körper; sie halten nämlich den warmen Hauch, der fest mit uns verbunden ist, für die Seele. 268 A.A. Long & D.N. Sedley, op. cit., 61 B 8 (Plutarch). 263

74 Beschaffenheit des vernunfthaften, warmen Hauches im Bereich des Herzens, eines rationalen Pneumastroms in einem bestimmten Zustand, ist die Virtus auch selber stofflich. – Was gut ist269, ist körperlich, weil es Wirkungen ausübt und alles, was Wirkungen ausübt, körperlich ist.270 Was gut ist, ist ferner nützlich; um aber nützlich zu sein, muß es irgendeine Wirkung ausüben; und wenn es eine Wirkung ausübt, ist es wiederum ein Körper. Die Weisheit ist ein Gut; daraus folgt, daß sie notwendig körperlich ist. Seine Zurückweisung dieses Dogmas begründet Plotin 8, 24-45. Die vier wichtigsten Aretai der Stoiker stimmen weitgehend mit den von Platon in der Politeia angeführten Kardinaltugenden – Besonnenheit, Tapferkeit, Weisheit und Gerechtigkeit271 –, deren Verwirklichung notwendige Voraussetzung für das gelingende Leben des Einzelnen wie für die Gründung und Erhaltung eines guten Staates ist, überein. Die charakteristische Abweichung besteht darin, daß die Weisheit (σοφία) der praktischen Klugheit (φρόνησις) weichen mußte. Sophia ist in Platons Philosophenstaat die eigentümliche Tugend der Herrscher, also derjenigen Menschen in der voll entwickelten Polis, denen nach langer Vorbereitung die Erkenntnis der unveränderlich bestehenden, die empirische Welt begründenden, seienden Einheiten möglich wurde und die auf diese Weise Einsicht in das Wesen aller Wirklichkeitsbereiche und in das Verhältnis der einzelnen Bereiche zueinander erlangten. Eine Hinwendung zu der durch reines Denken erfaßbaren Realität sowie die Fähigkeit des Transzendierens und der intellektuellen Anschauung sind demgemäß notwendige Voraussetzungen für den, der sich erfolgreich um Weisheit bemüht. Es liegt auf der Hand, daß einer so verstandenen Weisheit innerhalb einer materialistischen Ontologie bzw. einer nicht metaphysisch fundierten Tugendlehre keine Bedeutung zukommen kann. Weil sich für den Stoiker seine Vernünftigkeit vorzüglich in sittlich guten Handlungen manifestiert, ist für ihn die Phronesis als praktische (d.h. auf das vernunftgemäße Handeln gerichtete und sittlich wertvolles Handeln erst ermöglichende) Klugheit die Tugend par excellence.272 Auch Sophrosyne, Andreia und Dikaiosyne erscheinen im übrigen vor einem platonischen Hintergrund in einem anderen Licht als im Stoizismus, wenn auch die Namen die gleichen sind und inhaltlich eine gewisse Ähnlichkeit und Übereinstimmung vorliegt. Wer in der Philosophenpolis besonnen, tapfer oder gerecht handelt, bedarf dazu nicht unbedingt einer bewußten Seinserkenntnis, und doch vollzieht sich sein Handeln und Erleben in einer Gemeinschaft, die auch ohne sein Wissen

269

Den folgenden Gedankengang referiert Seneca; siehe A.A. Long & D.N. Sedley, op. cit., 60 S. Vgl. oben und op. cit., 45 B (Sextus Empiricus), C (Nemesios) und G (Aristokles bei Eusebios). 271 S. bes. Rep. 427 c 6 – 444 a 9 sowie die Bücher V-VII und dazu K. Bormann, Platon, S. 157-167 und S. 44-80. – Plotin nennt drei der bedeutendsten Tugenden und weist ausdrücklich darauf hin, daß es noch weitere gibt: „ἀρεταὶ (...), σωφροσύνη καὶ δικαιοσύνη ἀνδρεία τε καὶ αἱ ἄλλαι“ (8, 27-28; s.a. 8, 24. 29-30. 34). Eine inhaltliche Bestimmung dieser drei Tugenden sowie der Einsicht (des „φρονεῖν“) bietet Plotin I 2, 3, 14-19. 272 Hierzu vgl. nochmals A.A. Long & D.N. Sedley, op. cit., 61 C 1-2 (Plutarch). – Vgl. auch die kurze, aber treffende Charakterisierung der Stoiker V 9, 1, 10-16. – In bestimmten Zusammenhängen können „σοφία“ und „φρόνησις“ freilich eng nebeneinander stehen, wenn sich nämlich letztere zu ersterer erhoben hat und zur Einsicht geworden ist; siehe I 2, 6, 11-16. 7, 6-7. 270

75 von der Episteme einiger Mitbürger geprägt und getragen ist. – Überdies ist in Platons Idealstaat nicht allein die Weisheit des Philosophen etwas anderes als die Klugheit eines guten Bürgers, sondern auch die Besonnenheit beider unterscheidet sich, da sie im einen Fall auf Wissen, im anderen auf richtiger Meinung beruht. So kann begrifflich zwischen den bürgerlichen und den höheren Tugenden differenziert werden.273 Die ideale Staatsform ist mit der Herrschaft der Wächter noch nicht erreicht, sondern erst mit der Philosophenpolis, denn erst hier ist Wissen in einer anspruchsvollen Bedeutung die Basis der politischen Entscheidungen. Die Tugenden können nicht eine Art warmer Hauch sein274, d.h. Pneuma in einem bestimmten Zustand, so daß etwa die Tapferkeit die Unaffizierbarkeit des warmen Hauches (durch beängstigende Eindrücke) wäre und die Besonnenheit die gute, ausgewogene Mischung seiner Bestandteile, des Feuer- und des Luftelementes (8, 28-31). Die Frage, was ein pneumatischer Körper mit Besonnenheit zu tun habe, warum er besonnen (8, 34) oder gerecht (8, 37-38) sein müsse, läßt sich schlechterdings nicht beantworten. – Der Grund hierfür besteht darin, daß die Tugenden nichts anderes sind als Ideen.275 Platon kann die Kardinaltugenden definieren276; Definitionen (als Wesensbestimmungen verstanden) beziehen sich aber nicht auf Sinnenfälliges, sondern immer auf Ideen. Die Tugendideen sind wie alle anderen Momente des göttlichen Geistes in bestimmter Weise angeordnet und aufeinander bezogen. Eine Seele ist im Besitz der ethischen Vortrefflichkeit und in dem besten ihr möglichen Zustand, wenn sie an diesen Ideen partizipiert und nach dem Paradigma der geistigen Welt geordnet ist, soweit eine Seele dazu fähig ist. Folglich setzt eine feste, bewußt reflektierte sittliche Grundhaltung nicht eine bestimmte Beschaffenheit der jederzeit in Bewegung befindlichen Elemente im Körper voraus, sondern die zu wirklichem Wissen führende Einsicht in das unveränderliche Wesen der Besonnenheit, Gerechtigkeit usw.; eine derartige Wesenserkenntnis des Intelli-

273

Vgl. zu dieser Unterscheidung und zum Wesen beider Virtutes I 2, 1, 16-26. 2, 13 – 3, 22; auch Kap. 4-7 und die von P. Henry und H.-R. Schwyzer zu diesen Passus angegebenen Stellen bei Platon. 274 Plotin spricht genauer von einer Art Pneuma oder Blut. Allerdings scheinen die Stoiker nicht gelehrt zu haben, die Seele (der Ort der Tugenden) sei Blut, sondern lediglich, das Pneuma, aus dem sie besteht, nähre sich von dem Blut oder sei eine Ausdünstung aus dem Blut (H.J. Blumenthal, Plotinus’ Psychology, S. 51 mit Anm. 14). Möglicherweise folgert Plotin hieraus, die Seele sei Blut (1); oder er faßt etwas achtlos zwei Dinge zusammen, als seien sie dasselbe, obwohl die Stoiker sie lediglich miteinander verbanden, ohne sie zu identifizieren (2); oder er ist sich des Unterschiedes zwischen Pneuma und Blut zwar bewußt, meint aber, jeder, der behauptet, die Seele sei Pneuma, Blut oder irgendetwas Ähnliches (also jedenfalls ein bestimmter Stoff), gelange unvermeidlich zu absurden Konsequenzen (3) (vgl. eb.). Es ist indessen auch denkbar, daß die Identifikation von Pneuma und Blut auf eine Ungenauigkeit in der doxographischen Tradition, der Plotin seine Kenntnis der stoischen Lehre verdankt, zurückzuführen ist, d.h. die beiden Vorstellungen von der Seele wurden schon vor Plotin vermischt, ohne daß Plotin die einzelnen Schritte der Überlieferung genau nachvollziehen konnte (4) (op. cit., S. 51-52). Sowohl die dritte als auch die vierte Erklärungsvariante wirkt einleuchtend; völlige Klarheit dürfte hier jedoch nicht zu erzielen sein. 275 I 2, 6, 16-19. Vgl. V 9, 10, 6-9: In der geistigen Welt („ἐκεῖ“) gibt es auch Ideen von Handlungen und Erleidungen, soweit sie naturgemäß sind („ποιήσεις τε καὶ πείσεις αἱ κατὰ φύσιν“). Hiermit ist auf die Tugendideen angespielt, besonders auf die Besonnenheit, die Platon in der Politeia durch das Herrschen der Vernunft und das Beherrschtwerden des Vernunftlosen erläutert. 276 Vgl. z.B. Rep. 434 c 7-10 und dazu I 2, 1, 19-21. 6, 19-20.

76 giblen erfordert aber ein dem zu Erkennenden ähnliches, mithin gleichfalls immaterielles und beständiges Erkenntnisvermögen. Umgekehrt ist die geforderte vernünftige Erkenntnis nur dem möglich, dessen Seele bereits bis zu einem gewissen Grade gut geordnet ist. Dennoch liegt hier kein circulus vitiosus vor, denn der Schüler mit guter Charakteranlage muß noch kein bewußtes Ideenwissen haben (ein latentes Wissen trägt, wie die Anamnesislehre zeigt, jede vernünftige Seele in sich), ein guter Lehrer kann ihn aber darauf vorbereiten, es zu erwerben. Einsichtsfähigkeit und guter Charakter bedingen sich gegenseitig, weshalb die allmähliche Charakterbildung von einem immer anspruchsvolleren Unterricht begleitet wird: Auf die musische Ausbildung, die auch den Literaturunterricht einschließt, folgt eine ausführliche Beschäftigung mit den mathematischen Fächern und darauf das Philosophiestudium im engeren Sinne. Nur wer sich in all diesen Disziplinen und danach auch in langjährigem Dienst für den Staat bewährt hat, gelangt in den Besitz des erforderlichen Vorwissens und der charakterlichen Festigkeit, dank derer er dann an das µέγιστον µάθηµα und an die höchste Einsicht herangeführt werden kann.277 – Am Anfang steht also eine gewisse gute Anlage und Begabung ohne aktuales Wissen über das Seiende; wird diese gefördert, so kann später Wissen im strengen Sinne hinzukommen, und dann kann sich die Neigung zum Guten verfestigen und zur Arete – und damit zu einem bleibenden Gut – werden. Gerade der stoische Weise verliert seine ethische Vortrefflichkeit niemals. Er bewahrt sie sogar, wenn er verachtet, arm und ohne Freunde ist oder unter schweren Krankheiten leidet, denn Ansehen, Reichtum, Freundschaft und Gesundheit sind entweder gar keine Güter, weil es nur ein einziges Gut gibt (so die rigorose Ältere Stoa), oder solche Güter, die zwar behilflich, aber nicht notwendig sind, wenn es darum geht, glücklich zu sein (so die gemäßigte Mittlere Stoa, z.B. Panaitios); letztlich bedeutet ihr Besitz oder Fehlen keinen Unterschied, es sind also ἀδιάφορα. Die Unverlierbarkeit der Arete ist aber, wenn überhaupt, am ehesten unter der Voraussetzung nachvollziehbar, daß sie keine Beschaffenheit eines Körpers ist, sondern die im Laufe des Lebens zunehmend verfestigte Eigenschaft einer Seele, die gegenüber körperlichen Eindrücken unaffizierbar ist, weil ihr die Körper wesensfremd bleiben. Die Tugenden sind, so formuliert Plotin selbst (8, 42-45), mit Notwendigkeit ewig und bleibend, wie die Gegenstände der Geometrie. Aber als ewige und bleibende Wesenheiten können sie keine Körper sein. Und dann muß auch das, worin die Aretai sind, von gleicher Art sein wie sie – also keine Körper, denn das Wesen jedes Körpers ist nicht Beharren, sondern Fließen (Veränderung). – Die Ideen sind wie das Mathematische immerseiend und unveränderlich. Die Tugenden sind in der Seele gegenwärtig – die Idee der Gerechtigkeit beispielsweise ist in der Seele eines gerechten Men277

Plat. Rep. VII. – Platon nimmt offensichtlich nicht an, es könnte gelegentlich auch Schüler geben, die den Bildungsweg schneller als vorgesehen durchschreiten, sondern selbst die Begabtesten im Staat brauchen Zeit, um charakterlich und intellektuell zu reifen. Das platonische Curriculum setzt bei den angehenden Staatslenkern von vornherein sehr gute Anlagen voraus, die aber Geduld und Beständigkeit in keinem Fall überflüssig machen.

77 schen gleichsam repräsentiert und bestimmt sein Denken und Tun, freilich ohne dabei ihre Transzendenz zu verlieren –, in der Seele, die ihnen gleichen muß, also ebenfalls immerseiend und ohne Wandel ihres Wesens bleibt. Die Seele erfaßt also wirklich die Gegenstände ihrer Betrachtung, die Tugenden und die anderen geistigen Wesenheiten, als ewig seiende (vgl. 8, 38-40). Es gibt verschiedene Arten und Vollkommenheitsgrade der Schönheit, denen unterschiedliche Seins- und Erkenntnisstufen zugeordnet sind; dabei verweisen alle defizienten, abbildhaften Modi des Schönseins auf die paradigmatische, reine Schönheit selbst, die ihrerseits im überschönen Absoluten gründet278. Im Gegensatz zu den schönen Körpern (vgl. 8, 31-32), die einerseits durch Methexis am Eidos und andererseits durch die Formkraft der Seelen schön sind, ist das von sich her Schöne279, das anderem einen Abglanz seiner unvergänglichen Schönheit mitzuteilen vermag, größelos („ἀµέγεθες“, 8, 24). Das wahrhaft Schöne – „schön“ im ontologischen Sinne, d.h. als „seinsvollkommen“, verstanden – sind die Ideen, denn als das unentstandene, wandellose, unvergängliche Seiende gibt es für sie nichts Seiendes, was ihre Vollkommenheit einschränken könnte. Die Ideen begreift Plotin als die teillos-intelligiblen Inhalte der Nous-Hypostase; sie sind als solche nicht sinnlich wahrnehmbar, sondern denkbar. Wenn aber die gedachten Ideen ohne Ausdehnung und Größe sind, dann ist es auch das Denken von ihnen, die „νόησις“ (8, 25). Ein solcher Denkakt im ausdehnungsfreien Bereich ist aber wiederum nur einer teillosen Denkkraft möglich, einem vernünftigen und unkörperlichen Seelenvermögen (8, 25-26). Wenn das Logistikon Ideen denkt, ahmt es die Aktivität seines Ursprungs auf unvollkommene Weise nach.280 Es ist gegenüber dem Geist, der immer denkt, zwar mangelhaft, ihm als sein Prinzipiat aber doch wesensverwandt, womit seine Nousartigkeit zum Ausdruck gebracht ist.

§ 14: Die Spontaneität der Seele

Noch einmal thematisiert Plotin die Grundannahme, Körper könnten von sich her aktiv sein und auf andere Körper vielerlei Wirkungen ausüben. Gegen die Ansetzung von sich aus tätiger Körper bzw. einer spontanen materiellen Psyche wendet Plotin ein: (1.) Die Körper wirken nicht aus eigenem Vermögen, sondern sie erwecken diesen Anschein aufgrund der ihnen innewohnenden Kräfte, die aber unkörperlich und damit von ihnen selbst verschieden sind (81, 4-6)281. Die Körper sind für diese Kräfte lediglich Instrumente, derer sie sich bedienen, um in der körperlichen Welt wirksam zu werden. 278

Vgl. bes. I 6, aber auch V 9, 2. V 9, 2, 21-23: Der immer aktuale göttliche Geist (vgl. hierzu auch 5, 1-11) ist von sich selbst her schön. 280 Vgl. I 2, 3, 24-30. 281 Zu der Kapitelzählung 81 – 85 vgl. P. Henry et H.-R. Schwyzer, Editio maior, Bd. II, S. XVIII – XX: Der Archetyp aller Handschriften der Enneaden, die den Traktat IV 7 überliefert haben, war in der Mitte des achten Kapitels durch eine große Lücke verderbt, die glücklicherweise mit dem ausgefüllt werden konnte, was Eusebios aus Plotin in seine 279

78 (2.) Zu den Aktivitäten der Seele gehören Denken („νοεῖν“), Wahrnehmen („αἰσθάνεσθαι“), Überlegen („λογίζεσθαι“), Begehren („ἐπιθυµεῖν“) und einsichtige, edle Fürsorge („ἐπιµελεῖσθαι ἐµφρόνως καλῶς“)282; all diese Tätigkeiten erfordern eine andere Wesenheit (οὐσία) (sc. als die körperliche) (81, 6-9). Für die Sinneswahrnehmung und das Denken wurde dies oben ausführlich nachgewiesen. – Auch die seelische Funktion, die als Überlegen wiedergegeben werden kann, ist eine Form des Denkens, und zwar das sukzessive Durchlaufen verschiedener Inhalte in der Zeit; sie gehört also in den Bereich der Dianoia283, des diskursiven oder verständigen Nachdenkens. Wie das von Plotin gewählte Wort nahelegt, ist es die eigentliche Tätigkeit des Logistikon, und dies bedeutet zugleich: des Menschen. Das der Ratio überlegene Denken, der Intellectus, ist dem Menschen zwar unter bestimmten Voraussetzungen möglich, hebt ihn aber aus seiner eigenen Sphäre hinaus, denn die Noesis ist die Aktivität und das Wesen des göttlichen Geistes, der für den menschlichen Geist exemplarisch ist. Das Überlegen setzt eine unkörperliche Dynamis voraus, da seine Objekte, etwa die Forschungsgegenstände des Mathematikers, von dieser Art sind. – Daß die Seele einen begehrenden Teil hat, ist traditionelle platonische Lehre284. Ausschließlich Körper, die mit einer Einzelseele verbunden sind, zeigen Begierden und haben Organe, mit deren Hilfe sie diese befriedigen können, leblose Körper hingegen nicht. Daraus kann gefolgert werden, daß es nicht in der Natur des Körpers als solchem liegt, sinnliche Bedürfnisse zu haben – sondern im Wesen einer bestimmten Art von Seele. – Die Fürsorge schließlich wird als einsichtig und edel (sittlich schön) gekennzeichnet, wodurch sie in das Gebiet der Tugenden und der guten Handlungen eingeordnet und so, gemäß den Erträgen des vorangehenden Kapitels, dem materiellen Bereich entzogen ist. – Die genannten psychischen Aktivitäten lassen sich also einem Körper nicht zuschreiben, sondern die Körper sind durch immaterielle Dynameis bestimmt und auf sie angewiesen, um wirken zu können (81, 11-12). Sie sind es also nicht selbst, die wirken. – In den folgenden Gedankengängen sind die Schlüsselbe-

Praeparatio Evangelica eingefügt hatte. Fragt man, auf welchen Handschriften der Text beruht, so ist IV 7 in vier Abschnitte einzuteilen. (A) 1, 1 – 8, 28 (εἰ – δικαιοσύνη = Eus. Praep. Evang. XV 22, 1-49). Dieser Abschnitt ist sowohl in zahlreichen Enneaden-Handschriften als auch in Handschriften des Eusebios erhalten. (B) 8, 28 – 84, 28 (ἀνδρία – ἁρµονία = Eus. Praep. Evang. XV 22, 49-67). Dieser Abschnitt ist in nur drei Enneaden-Handschriften (JMV) und in Handschriften des Eusebios erhalten. (In der lateinischen Übersetzung des Ficinus, dem wir die Kapitelnummerierung verdanken, und in der ersten Ausgabe fehlte dieser Abschnitt. Als erster hat ihn F. Creuzer aus dem Codex M und aus Eusebios eingefügt.) Im Abschnitt B, und nur in diesem, hängen die Handschriften JMV von Eusebios ab. (...) Es hängen also alle Zeugen des Abschnittes B von dem Archetypen des Eusebios ab. (C) 85, 1-50 (τὸ – µεταλαµβάνῃ = Eus. Praep. Evang. XV 10, 1-9). Dieser Abschnitt ist lediglich in mehreren Handschriften des Eusebios erhalten, ausgenommen die letzten Worte 85, 49-50 σῳζόµενον καθόσον ἂν αὐτοῦ µεταλαµβάνῃ, die auch in zahlreichen EnneadenHandschriften zu lesen sind. Auch in diesem Abschnitt beruht der Text ausschließlich auf dem Archetypen des Eusebios. (D) 9, 1 – 15, 12 (ἡ δὲ – ἀπολωλυῖαι). Dieser Abschnitt ist in zahlreichen Enneaden-Handschriften zu lesen, wird aber von Eusebios nicht zitiert. 282 Zum Text vgl. A.H. Armstrong, Bd. IV, S. 364, Anm. 2; ich folge dem Text von P. Henry und H.-R. Schwyzer in der Editio minor. – Zu dem möglichen platonischen Einfluß auf diese Zusammenstellung einiger Seelenvermögen (die sicherlich selektiv zu verstehen ist) vgl. A.H. Armstrong, op. cit., S. 365, Anm. 283 Vgl. H.J. Blumenthal, Plotinus’ Psychology, S. 44 und 100-111. 284 Für Plotin vgl. eb. S. 44 und 45-66.

79 griffe Qualität (ποιότης) und Kraft (δύναµις). Plotin will zeigen, daß beide mit Notwendigkeit unkörperlich sind.285 Erstes Argument (81, 12-17): (a) Qualität und Quantität sind voneinander verschieden. (b) Jeder Körper ist quantitativ (hat eine bestimmte Größe und Ausdehnung im Raum). (c) Aber nicht jeder Körper ist qualitativ286, z.B. die Materie. (d) Stimmen die Stoiker diesen Voraussetzungen zu, so können sie auch die Schlußfolgerung nicht leugnen: Da die Qualität etwas anderes ist als das Quantitative, ist sie auch vom Körperlichen verschieden, weil es im Wesen des Körpers liegt, quantitativ zu sein. – Daß dieselbe Hyle einerseits Körper ist und andererseits nicht qualitativ, ist schwerlich Plotins eigene Auffassung. Er folgt der von Aristoteles ausgebildeten Lehre, nach der zwei Arten der Materie zu unterscheiden sind287, der völlig ungeformte, nichtseiende erste Stoff, der zwar ohne Qualitäten, aber auch kein wirklicher Körper ist, und der von der Morphe gestaltete, seiende zweite Stoff, der ein aktualer Körper und damit zugleich auch qualitativ bestimmt ist. Jeder Körper ist, wie Plotin VI 1, 26, 18-19 formuliert, aus Materie und Qualität zusammengesetzt; d.h. jeder Körper hat bestimmte Eigenschaften, ist qualitativ bestimmter Stoff. – Die Stoiker hingegen, auf deren Doktrin sich Plotin ein weiteres Mal einläßt, um sie von ihren eigenen Voraussetzungen her zu widerlegen, sprechen von einer qualitätlosen Materie (ἄποιος ὕλη), die doch Körper sei (vgl. 81, 29), denn sie ist das, worauf eingewirkt wird, das Leidensfähige („τὸ (...) πάσχον“), was nach stoischer Auffassung immer ein Körper ist288. Sie nennen die Hyle einen nicht qualitativ bestimmten Körper und eine Größe289. Wenn alles, was (wirkt oder) eine Einwirkung erfährt, Körper ist (so die Stoa) und die Materie das ist, worauf eingewirkt wird (so Platoniker, Aristoteliker und Stoiker übereinstimmend), dann kann diese nicht unkörperlich sein (so die stoische Konklusion). Zweites Argument (81, 17-23): (a) Bei keinem Körper, der zerteilt wird, sind die Teile quantitativ dasselbe wie das Ganze vor der Teilung; jeder Teil einer Ganzheit ist von dem Ganzen verschieden. (b) Dagegen sind die Teile dem Ganzen qualitativ gleich. Eine kleine Portion Honig ist gleichermaßen süß wie eine größere Menge; die Qualität wird um nichts verringert. (c) Daraus schließt Plotin, weder die Süßigkeit noch irgendeine andere Qualität sei ein Körper.290 – Denn wenn die Süßigkeit 285

Vgl. 81, 4-6. 11-12. 15-17. 22-23. 27-28. 29-31. 286 Die Konjektur von Vigier in 81, 14 (ποιόν statt ποσόν) dürfte unumgänglich sein. 287 Es ist hier nur von der Materie im sinnenfälligen Bereich die Rede; die intelligible Materie ist ein Thema, auf das hier nicht eingegangen werden braucht; vgl. dazu II 4 und die Anm. von A.H. Armstrong, Bd. II, S. 108-109. 288 A.A. Long & D.N. Sedley, Die hellenistischen Philosophen, 44 B (Diogenes Laertios); D und E (Calcidius); 45 G (Aristokles); S. 325, Kommentar zu Kap. 45: „Wenn nur Körper in der Lage sind, zu wirken oder Wirkungen zu erleiden, dann müssen Gott und die Materie beide körperlich sein, weil sie am allergrundlegendsten das sind, was wirken bzw. was Wirkungen erleiden kann.“ – Vgl. A. Graeser, Plotinus and the Stoics, S. 13-15 (mit weiterführenden Literaturhinweisen). 289 II 4, 1, 13-14. P. Henry und H.-R. Schwyzer verweisen auf SVF II 309 und 326. – Ob es sinnvoll ist, einen solchen Körper zu konzipieren, bleibt allerdings fraglich, denn die aristotelische Lösung erscheint einsichtiger. Wenn die Stoiker von ihr abwichen, so könnte das daran liegen, daß sie eine weitere Einschränkung ihrer materialistischen Grundthese vermeiden wollten. 290 Vgl. im Gegensatz dazu A.A. Long & D.N. Sedley, op. cit., 28 L 1 (Simplikios): Die Stoiker sagen, die Qualitäten der Körper seien körperlich.

80 ein Körper wäre, müßte sie proportional zur Masse abnehmen oder zunehmen. Sie ist folglich etwas Unkörperliches, das an jeder Stelle eines homogenen Körpers in gleicher Weise, nämlich als Ganzes, gegenwärtig ist. Das Qualitative („τὰ (...) ποιά“) ist einfach und unzusammengesetzt, folglich ohne Materie und damit unkörperlich und wirkungskräftig; die Materie liegt ihm zugrunde, um Wirkungen von ihm zu erfahren.291 Drittes Argument (81, 23-28): (a) Wären die Kräfte Körper, so müßten die starken Kräfte große Massen haben, die aber, die nur wenig bewirken können, kleine Massen. (Die Wirkungskräfte müßten also proportional zu den Massen sein.) (b) Wenn aber die Kräfte großer Massen klein sind, während kleine und kleinste Massen sehr große Kräfte haben – sc. und dies ist tatsächlich mitunter der Fall –, dann muß (c) die Wirkung („τὸ ποιεῖν“) etwas anderem zugeschrieben werden als der Größe – folglich etwas Größelosem. Viertes Argument (81, 28-31): (a) Die Materie ist immer dieselbe.292 (b) Sie bewirkt aber verschiedene Dinge, wenn sie Qualitäten aufnimmt.293 (Dieses Aufnehmen ist nur scheinbar eine Aktivität des Stoffes, denn seine Aufnahmefähigkeit ist ein passives Vermögen. Diese Potenz kann nur aktualisiert werden, wenn das, was er aufzunehmen vermag, an ihn hinantritt. Er ist also aufgrund seiner Passivität davon abhängig, durch etwas anderes qualitativ bestimmt zu werden und sodann durch dieses andere in bestimmter, von dem Hinzugekommenen abhängiger Weise zu wirken. Der Stoff bedient sich demnach nicht der Qualitäten, um „seine“ Wirkung auszuüben, sondern die angemessene Vorstellung ist, daß die Qualitäten die Materie gebrauchen. – Die von sich her untätige und unbewegliche Materie liegt den Qualitäten zugrunde; die Qualitäten aber (...) geben den Teilen der Materie, in denen sie entstehen, Form und Gestalt.294) (c) Dasjenige, was sich aus eigenem Antrieb mit der Materie verbindet und die Ursache verschiedener, auch entgegengesetzter Wirkungen ist, müssen unstoffliche, unkörperliche, rationale Formkräfte (Logoi) sein. Die hier erörterten Kräfte sind also Funktionen und Wirkungen der Seele und wie diese immateriell. Die Logoi sind Formprinzipien, von der Seele in Vielheit auseinandergelegte, nicht transzendente Ideen (εἴδη), die den transzendenten, von der Seele erkannten Ideen nur ähnlich sind. – Sie sind also verschieden von den transzendenten Ideen von Qualitativem, die nach Platon auch 291

VI 1, 29, 1-6. Das unveränderliche Zugrundeliegen der prote Hyle kann Plotin ohne weiteres zugeben; indessen bestünde er darauf, daß sie kein Körper ist und daß kein Körper ohne Veränderung sein kann. Zudem ist der Hyle der Prinzipiencharakter abzusprechen. Sie ist nicht das ontologisch Erste, sondern im Gegenteil das Letzte (sie bringt nichts aus sich hervor), Vielfältigste (sie ist reine Vielheit) und Mangelhafteste (ihr fehlt alles, sogar die allgemeinste Bestimmung, das Sein, so daß sie reine Unbestimmtheit ist). 293 Die Hyle ist eine Art Zugrundeliegendes („ὑποκείµενόν τι“) und der Aufnahmeort (die ὑποδοχή) der Formen (εἴδη) (II 4, 1, 1-2. 5). P. Henry und H.-R. Schwyzer nennen ad locum Arist. Phys. 192 a 31 und Plat. Tim. 49 a 6. A.H. Armstrong (Bd. II, S. 106, Anm. 1) weist auf den Unterschied zwischen dem platonischen und dem aristotelischen Begriff hin, der größer sei als Plotin hier erkennen läßt. Entscheidend ist indessen, ob die hier gemeinte Hyle Körper ist oder nicht, und in diesem Punkt stimmen Platon, Aristoteles und Plotin überein (vgl. Bd. II, S. 107, Anm. 4). 294 A.A. Long & D.N. Sedley, op. cit., 47 M 2 (Plutarch). – Zur Hyle als Hypokeimenon s.a. 55 E (Seneca). 292

81 anzusetzen sind; zur Verdeutlichung kann ein kurzer Passus aus dem Phaidon hinzugenommen werden295: Das Warme und das Kalte ist nicht mit dem Feuer und dem Schnee identisch. Vielmehr sind das Warme selbst und das Kalte selbst Ideen, die Phänomene Feuer und Schnee dagegen sind ihre Ideate. Da die qualitative Bestimmung kalt dem Schnee wesentlich zukommt, ist seine Partizipation an der Idee des Kalten wesensbestimmend für ihn, er hat also notwendigerweise an ihr teil, solange er existiert; und entsprechendes gilt für das Feuer. Andere Körper haben an diesen Ideen nur akzidentiell teil, weil ihnen die eine oder andere Qualität nur beiläufig angehört. – Die εἴδη, welche die Hyle aufnimmt, sind somit als die rationalen Formkräfte der Psyche zu verstehen. Die stoische Behauptung, die Seele als das Lebensprinzip der lebendigen Körper müsse aus warmem Hauch oder Blut bestehen, weil die Lebewesen beim Verlust des warmen Hauches oder des Blutes sterben, wird dadurch widerlegt, daß nicht nur diese beiden, sondern noch viele andere Dinge notwendige Voraussetzungen für die Lebendigkeit sind, für die nicht beansprucht wird, sie seien das Lebensprinzip (81, 32-35). Diesem Argument würden die Stoiker allerdings wohl nicht ohne weiteres zustimmen, denn sie könnten entgegnen, ein Körper sei genau so lange lebendig, wie das Pneuma überall im Körper anwesend ist, jeden Teil vollständig durchdringt und alle Teile zusammenhält. Gegen diese Vorstellung wendet sich Plotin im folgenden Kapitel eingehender.

§ 15: Die Einheit von Seele und Körper296

Wenn die Seele und der Körper für eine gewisse Zeit zusammen existieren und eine Einheit bilden, so ist nach den Bedingungen der Möglichkeit und nach der Beschaffenheit dieser Einheit zu fragen. Wie diese Frage beantwortet wird, hängt entscheidend davon ab, ob die Seele auch selbst ein Körper oder das immaterielle Prinzip der Körper (etwa als Eidos oder rationale Formkraft) ist. Erneut legt Plotin in diesem Kapitel offen, daß die materialistische Grundthese in die Aporie führt, d.h. daß im Ausgang von ihr dasjenige nicht schlüssig erklärt werden kann, was zu erklären wäre. Dabei ist zu konzedieren, daß die stoische Position intuitiv plausibler erscheinen kann als die Plotins: Von zwei wesensgleichen Dingen (zwei Körpern) scheint der eine auf den anderen einwirken zu können; beide können miteinander verbunden oder vermischt sein. Unterscheiden sich die beiden Dinge dagegen wesentlich voneinander (weil das eine Körper ist, das andere nicht), so wird der Versuch, die Möglichkeit ihrer Mischung und ihres gegenseitigen Durchdringens einsichtig zu machen, zum Problem. Plotin ist sich dessen durchaus bewußt.297 Gleichwohl begründet er in 82, warum die Seele nicht gleichzeitig den Körper so durchdringen kann, wie es die stoische Theorie vorsieht, und die Funktionen erfüllen kann, die ihr zugeschrieben werden.

295

103 c 10 – e 5. Ein großer Teil dieses Kapitels (1-15 und 20-22) wird auch als Stoikerfragment II 799 geführt. 297 Vgl. Vita Plotini 13, 10-17. 296

82 Chrysipp unterscheidet, wie Alexander von Aphrodisias referiert, drei Arten der Mischung (παράθεσις, σύγχυσις und κρᾶσις; allgemein kann auch von µῖξις gesprochen werden, denn dieses Wort ist nicht durchgängig auf einen bestimmten Vermengungsmodus beschränkt)298: (1.) Zwei – oder auch mehrere – Substanzen (οὐσίαι) werden durch Zusammenlegen bzw. Nebeneinanderstellen ihrer Bestandteile gemischt; die Oberflächen berühren sich, wobei die eigentümlichen Beschaffenheiten der Mischungselemente aber erhalten bleiben. Als Beispiel dient die Vermengung von Bohnen und Weizenkörnern. (2.) Anders als im ersten Fall können die Bestandteile nicht wieder voneinander getrennt und so die Mischung rückgängig gemacht werden, wenn sich die Substanzen selbst und ihre Qualitäten dergestalt vollständig vermischen und durchdringen, daß ein neuer Körper entsteht (wie bei einer chemischen Reaktion). Bei der Herstellung eines Arzneimittels etwa existieren die ursprünglichen Stoffe in der neuen Substanz nicht mehr, sondern sie sind in ihr aufgelöst. (3.) Es ist, so behaupten die Stoiker, auch möglich, daß sich die Substanzen und ihre Qualitäten gänzlich miteinander vermischen, sich gegenseitig vollständig durchdringen und die gleiche Ausdehnung haben, dabei aber dennoch – hierin vergleichbar mit der Parathesis – die ursprünglichen Substanzen und Qualitäten in der Verschmelzung erhalten bleiben und sich wieder voneinander trennen lassen.299 – Zu der dritten Mischungsart gehört auch die Vereinigung von Körper und Seele300: Diese durchdringt jenen vollständig und bewahrt dabei doch – im Unterschied zum (2.) Fall – ihre eigene Substanz, so daß beide wieder getrennt werden können. Kein Stück der Pneumaseele bleibt ohne Anteil an dem Körper, der sie umgibt und den sie eint. – Im übrigen kommt der warme Hauch seinerseits dadurch zustande, daß sich die Elemente Feuer und Luft verbinden und einander völlig durchdringen.301 Das Pneuma wiederum verbindet sich mit dem Wasser- und dem Erdelement und verleiht ihnen so Einheit und eine gewisse Beständigkeit; so entstehen die festen Körper.302 Plotin stimmt mit den Stoikern darin überein, daß die Seele den ganzen Körper vollständig durchdringt und (als sein Einheits-, Ordnungs-, Lebens- und Bewegungsgrund) überall präsent sein muß. Dies war auch bei der Sympatheia-Theorie vorausgesetzt.303 Der Grundsatz gilt für die Einzelseelen und für die Weltseele gleichermaßen. Ferner unterstreicht Plotin, daß das Körpervolumen durch die Beseelung nicht im geringsten zunimmt. Er gibt jedoch zu bedenken, daß weder das Pneuma noch das Blut304 den gesamten Körper auf die erforderliche Weise durchdringt, sondern allein die Psyche (81, 35), die daher, wie 82 bekräftigen soll, unkörperlich und zugleich (für sich) unteilbar und (an den Körpern) teilbar sein muß.

298

A.A. Long & D.N. Sedley, Die hellenistischen Philosophen, 48 C 1-4. – Die Mischung ist Thema der SVF II 463481. – Vgl. besonders Arist. De gen. et corr. I 10, aber auch Alexander von Aphrodisias, De mixtione und De anima. Vgl. ferner R.B. Todd, Alexander of Aphrodisias on Stoic Physics, S. 21-29 (zu Alexanders komplexem Verhältnis zum stoischen Denken) und 29 ff. 299 Vgl. A.A. Long & D.N. Sedley, op. cit., 48 D (Stobaios). 300 Eb. 48 C 10 (Alexander von Aphrodisias). 301 Eb. 47 H (Galen). 302 Eb. G (Plutarch) und I 1 (Alexander von Aphrodisias); s.a. L 1 (ders.) und O (Diogenes Laertios). 303 Vgl. oben, § 11. 304 Zum Blut als Seelensubstanz vgl. oben, § 13.

83 Bei der Verschmelzung („κρᾶσις“) der Körper verlieren diese ihre Aktualität, sie sind dann nicht mehr in Wirklichkeit („ἐνεργείᾳ“)305 das, was sie zuvor waren; so wäre auch ein gänzlich mit dem (übrigen) Körper vereinigter Seelenkörper nicht mehr aktual Seele, so daß wir gar keine Psyche hätten (82, 3-7). Hierzu kann ein Passus aus der aristotelischen Schrift Über Entstehen und Vergehen verglichen werden (327 b 22-31): Es ist möglich, daß Dinge, die vor ihrer Vermischung aktual waren, danach nur noch potentiell („δυνάµει“) sind (also weder in Wirklichkeit noch in gar keinem Sinne mehr das, was sie waren). Die Mischungsbestandteile können wieder voneinander getrennt werden. – Plotin nennt als Beispiel die Verschmelzung von Süßem und Bitterem, in der das zuvor Süße nicht mehr süß ist (82, 6). Da es hierbei allerdings zweifelhaft ist, ob sich die beiden Bestandteile wieder trennen lassen, scheint nicht exakt der von Aristoteles genannte Fall vorzuliegen. Besser paßt der folgende Gedankengang des Alexander Aphrodisiensis306: Wenn die (sc. als stofflich vorgestellte) Seele so mit dem Körper verbunden wäre, daß sie ihn als ganze vollständig durchdringt und mit dem Körper eine Einheit bildet, dann wäre nicht mehr der eine Teil des Lebewesens Seele, der andere Körper, sondern aus beiden wäre ein anderes Wesen geworden, während die ursprünglichen Bestandstücke nicht mehr existierten und sich wesentlich verändert hätten, wie bei einem Gemisch aus Honig und Milch. Dann herrschte nicht mehr das eine, während ihm das andere folgt, es wäre nicht das eine wertvoller, das andere geringer; der Körper hätte dann keine Seele, und die Seele wäre nicht im Körper. Denn es wäre dann auch keineswegs das eine die Seele des Lebewesens, das andere der Körper, sondern das Lebewesen wäre nur die Mischung aus diesen beiden und ein Eines und Ganzes, sich selbst Gleiches, wie ein Trank aus Wein und Honig – dies aber wäre widersinnig. Denn der eine Teil des Lebewesens ist die Seele, der andere der Körper, so daß das eine vom anderen verschieden ist. Daher trennen sie sich auch (sc. beim Tode)307 voneinander. – Die Krasis von Körper und Seele führte demgemäß zu Konsequenzen, die auch für die Stoiker nicht akzeptabel sind: Die Unterscheidung zwischen den beiden Wesenheiten würde beseitigt; es läge ein einziger homogener und undifferenzierter Stoff vor. Die Psyche muß aber ihre Eigentümlichkeit gegenüber dem, was von ihr Wirkungen erfährt, bewahren, um auf den Körper einend, leitend, belebend usw. einwirken zu können, allgemein: um die ihr zukommenden Aktivitäten und Funktionen ausführen zu können, die nicht einem Körper als solchem zuzuschreiben sind. Plotin leugnet also, daß eine stoffliche Seele mit dem übrigen Körper so verbunden sein kann, wie die Seele mit dem von ihr geeinten Körper verbunden sein muß. Ein vollständiges wechselseitiges Durchdringen zweier Körper bei gleichzeitiger Bewahrung des Wesens der verbundenen Substanzen ist unmöglich. Dabei ist es unerheblich, ob die angenommene Hauchseele ein sehr viel geringeres Volumen hätte als der von ihr zusammengehaltene Körper oder ein ähnliches. – Die Allgegen305

Plotin behandelt das Thema Möglichkeit und Wirklichkeit in der Schrift II 5 [25]. Vgl. R. Harder, Plotins Schriften, Bd. IIb, S. 429-430. 306 De anima 116, 5-13 in der Ausgabe der Scripta minora von I. Bruns. Der Abschnitt ist dem Kapitel entnommen, in dem Alexander die Unkörperlichkeit der Seele begründet. – Vgl. É. Bréhier, Ennéades IV, S. 182. 307 Wie Platon, so definieren auch die Stoiker den Tod als die Trennung der Seele vom Körper: A.A. Long & D.N. Sedley, op. cit., 45 D 1 (Nemesios); 46 E 1 (Plutarch); 53 F (Sextus Empiricus). Zu Platon vgl. Phd. 67 d 4-5 und Gorg. 524 b 2-4.

84 wart des Lebensprinzips in einem Körper ist etwas ganz anderes als z.B. ein Wein-Wasser-Gemisch, denn der Wein ist vom Wasser nicht in seiner Existenz abhängig, das Wasser verbindet sich nicht spontan mit dem Wein, und das Volumen der Mischung ist keineswegs mit dem des reinen Weines identisch, was zeigt, daß das Wasser nicht den selben Raum einnimmt wie der Wein.308 Wäre die Seele einerseits Körper und andererseits in einem anderen Körper an jeder Stelle anwesend, so bedeutete dies, daß sich zwei Körper gleichzeitig an der selben Stelle befinden, was schon von Aristoteles ausdrücklich zurückgewiesen wurde309. Daß die sich aus feurigen und luftartigen Elementarkörpern konstituierende Hauchseele als Körper konzipiert ist, nicht etwa als ein immaterielles Gestalt- oder Strukturprinzip310, läßt sich nicht leugnen. Das vollständige Durchdringen zweier Körper kann, nimmt man das „ὅλον δι’ ὅλων“ ernst, nach Plotin nur so verstanden werden, daß beide Mischungsbestandteile an der selben Stelle sind, den selben Raum einnehmen, wobei sich die Masse und das Volumen aber nicht vermehren, wenn der pneumatische zu dem anderen Körper hinzukommt (82, 7-10). Dies ist indessen unmöglich: Da jeder Körper Masse hat, vermehrt seine Addition die Gesamtmasse unweigerlich. – Hingegen ist es durchaus möglich, die Konstanz der Masse und des Volumens eines Körpers, der zuerst belebt, dann unbelebt ist (oder umgekehrt), und die Anwesenheit und Wirksamkeit der ganzen Seele an jeder noch so kleinen Stelle des Körpers zu erklären, wenn diese als immaterielle Substanz und Kraft begriffen wird. Nach stoischer Vorstellung durchdringt das Pneuma den von ihm belebten Körper gänzlich, selbst wenn es kleiner ist (82, 13-14). Es ist aber ausgeschlossen, daß ein kleinerer Körper die gleiche Ausdehnung hat wie ein größerer311; und selbst wenn ein Pneumastrom einen Körper ganz durchzöge und (durch seine Anwesenheit) an jeder Stelle zerstückte, so daß nichts am Körper unzerstückt bliebe, so müßte die Teilung dieses Körpers letztlich bis zu Punkten gehen312, was wiederum nicht möglich ist (82, 14-18), weil der (mathematische) Punkt unausgedehnt ist und ein Körper nicht aus masselosen, immateriellen Bestandteilen zusammengesetzt sein kann. Plotin hat der stoischen Lehre von der durchdringenden Mischung in der Schrift II 7 [37] eine ausführlichere Behandlung gewidmet.313 Von der bloßen Nebeneinanderstellung wird auch hier die eigentliche Mischung, gegenseitige Durchsetzung und völlige Verschmelzung der Ingredienzien abgehoben, aus der eine homogene Ganzheit hervorgeht, wobei jeder noch so kleine Teil dieser 308

Zu dem zuletzt genannten Punkt vgl. II 7, 1, 15-19. De an. 418 b 17: Es ist nicht möglich, daß zwei Körper zugleich an dem selben Ort sind. Ähnlich Phys. 209 a 6-7: Es ist unmöglich, daß der Ort ein Körper ist; denn sonst wären zwei Körper an dem selben Ort. – R.B. Todd, Alexander of Aphrodisias on Stoic Physics, nennt (S. 82) einige Textstellen bei Alexander, an denen gegen die Lehre argumentiert wird, ein Körper könne einen anderen Körper vollständig durchdringen oder zwei Körper könnten am selben Ort sein. 310 Dies erwägen A.A. Long & D.N. Sedley, op. cit., im Kommentar zu Kapitel 48, S. 350. Dieser aristotelisierende Versuch, das stoische Problem zu beseitigen, der geradewegs zu Plotins Lösung führt, läßt sich jedoch nicht recht in eine materialistische Gesamtkonzeption integrieren. 311 Vgl. II 7, 1, 20-21. 312 Vgl. II 7, 1, 11-15. 313 Vgl. A. Graeser, Plotinus and the Stoics, S. 18-22 und 39. 309

85 Ganzheit etwas von jedem Mischungsbestandteil enthält (1, 4-8). – Entscheidend ist, daß bei der Vermischung von Körpern deren Massen immer zu addieren sind; die Größe (bzw. die Dichte und das Gewicht) nimmt zu, und die verbundenen Körper oder ihre Teile nehmen nicht den selben Raum ein: Die Materie beider Körper muß sich an verschiedenen Stellen befinden (2, 17-20); eine Größe, die mit einer anderen Größe zusammentrifft, verschwindet nicht (2, 25-26). Dies gilt für alle stofflichen Mischungsformen, die sich sinnvollerweise unterscheiden lassen. – Dies bedeutet jedoch nicht, daß die geforderte δι’ ὅλων κρᾶσις überhaupt unmöglich ist. Sie findet dann statt, wenn einer der beiden Mischungsbestandteile unkörperlich ist. Das stoische Lehrstück ist also auf ähnliche Weise zu modifizieren wie die Doktrin von der kosmischen Empfindungseinheit. – Die Qualitäten durchdringen die Körper, ohne sie zu zerschneiden; dies ist möglich, weil sie selbst unkörperlich sind (2, 27-29)314. Ausschließlich Immaterielles (Seelen, Logoi, Qualitäten) durchdringt einen Körper völlig, ist in ihm allgegenwärtig und an jeder Stelle wirksam. Die Materie dagegen ist entweder nur potentiell seiend oder bereits wirklicher Körper. In der Abhandlung De mixtione hat Alexander von Aphrodisias die peripatetischen Einwände gegen die stoische ὅλον δι’ ὅλων – Theorie, die auch Plotin vorbringt, zusammengestellt und ausführlich kommentiert. Wie es zu Mischungen („κράσεις“) kommt, erklären nicht alle Stoiker auf die gleiche Weise; Chrysipps Position scheint aber bei ihnen die angesehendste zu sein (216, 6-9)315, und von ihr geht Alexander aus. Er nennt und erläutert die nachstehenden Kritikpunkte: (1.) Daß ein Körper einen anderen vollständig durchdringt und die gleiche Ausdehnung hat, ist unmöglich; ein Ort kann einen Körper nur aufnehmen, wenn er nicht bereits von einem anderen Körper besetzt ist; zwei Körper können nicht zugleich am selben Ort sein (218, 15-24). Die Körper können nur von Orten aufgenommen werden, an denen sich aktual keine anderen Körper befinden, also von leeren Zwischenräumen (den sogenannten Poren); so aber kommt es nur zu Nebeneinanderstellungen, nicht zu eigentlichen Verschmelzungen (218, 24 – 219, 3). Bei der Zusammenstellung von Quantitativem ist die Gesamtheit notwendig größer als die einzelnen Komponenten; (...) dies liegt im Wesen der Körper (219, 12-22). Ein Körper, der einen anderen Körper in sich aufnimmt, darf – nach der stoischen Theorie – dadurch um nichts größer werden; aber es gibt keine Körper, bei denen die Masse des Gemischs die gleiche ist wie die der einzelnen Mischungsbestandteile; denn wo die Masse (sc. während des Vereinigungsvorgangs) gleich zu bleiben scheint, liegt keine Mischung von Körpern vor, sondern in diesen Fällen sind entweder Form und Materie beteiligt, wie die Seele und der Körper, oder Körper und Qualität, wie das Eisen und die Wärme, oder es findet eine Veränderung von etwas zu etwas anderem statt, wie bei der Asche (d.h. irreversible Substanzveränderung); doch weder die Qualitäten noch die Formen sind Körper (220, 3-10).

314

Vgl. oben den Kommentar zu Kapitel 81. 315 Die Stellenangaben beziehen sich auf die Ausgabe der Scripta minora von I. Bruns (Suppl. Arist. II 2). – Alexanders Kommentar ist so klar und ausführlich, daß er nicht seinerseits in extenso erläutert werden muß; es genügen gelegentliche Ergänzungen. Teilweise sind sinntreue Paraphrasen einer wörtlichen Wiedergabe vorzuziehen.

86 (2.) Ein sehr kleiner Körper kann unmöglich die gleiche Ausdehnung haben wie ein sehr viel größerer, wie ein Krug Wein, der vielen Maßen Wasser an Größe gleichkommt316 (220, 14-16). Während Körper, die verbrannt werden (z.B. Weihrauchkörner) und sich dann weit verbreiten und in der Luft ausdehnen, eine Wesensveränderung317 durchlaufen, die sich nicht rückgängig machen läßt, beanspruchen die Stoiker für bestimmte Verbindungen (wie die von Pneuma und übrigem Soma) neben der Verschmelzung doch zugleich, daß das jeweilige Wesen der Bestandteile erhalten bleibt und die Einheit wieder aufgehoben werden kann; folglich ist der Vergleich mit dem Weihrauch unpassend (220, 16-23). – Zwei oder auch mehrere Körper, welche die gleiche Ausdehnung haben und vollständig miteinander vermischt sind, können nicht, wie die Stoiker dies für die κρᾶσις (in Abhebung von der σύγχυσις) beanspruchen, selbst in ihrer ursprünglichen Beschaffenheit erhalten bleiben und ihre eigenen Qualitäten bewahren (220, 26-34). Nach dieser Lehre bliebe den Stoffen trotz ihrer völligen Verschmelzung die Möglichkeit erhalten, sich wieder voneinander zu trennen (sc. wie sich die Seele vom Körper trennt) (220, 34-37). Dies ist jedoch nicht möglich, denn wenn die verschmolzenen Körper durch und durch gemischt sind und keiner von ihnen in der Mischung einen Teil hat, der nicht mit einem anderen vermischt ist, dann ist es ausgeschlossen, daß jeder von ihnen von seiner eigenen Oberfläche umgeben ist; denn jeder ihrer Teile wäre, wenn er von seiner eigenen Oberfläche umgeben wäre, nicht mit dem anderen vermischt (220, 37 – 221, 4). Ein Beispiel verdeutlicht dies: Es ist nicht möglich, daß die Oberfläche des Weines die des Wassers ist oder umgekehrt, so daß die Krasis keine durchdringende Verschmelzung wäre, sondern die Stoiker bezeichneten dann die Verschmelzung der einen Teile mit den anderen Teilen als Nebeneinanderstellung; dies vermeiden sie (sc. sinnvollerweise) und sagen, die (sc. bloße) Mischung sei etwas anderes als die Verschmelzung (221, 4-7). – Wenn nun aber kein Teil der vermischten Stoffe seine eigene Gestalt und Oberfläche bewahrt hätte, sondern der Körper ganz homogen geworden wäre, dann läge keine Parathesis mehr vor, sondern eine durchdringende Krasis; denn die ursprünglichen Körper blieben bei der Mischung nicht mehr erhalten, sondern sie würden miteinander verschmolzen und zerstört (221, 7-11). Müssen einerseits die Körper, die wieder voneinander getrennt werden sollen, (sc. in ihrem Wesen) erhalten bleiben und dürfen nicht irreversibel verschmolzen werden – denn dadurch unterscheidet sich ihnen zufolge die Mischung (κρᾶσις) von der Verschmelzung (σύγχυσις) –, und ist es andererseits notwendig, daß die durch und durch vermischten Körper (sc. zu einem neuen Körper) verschmelzen, so ist es ausgeschlossen, daß die durch und durch vermischten Körper wieder voneinander getrennt werden können (221, 11-15). – Alexander leugnet also, daß es neben παράθεσις und σύγχυσις eine dritte Mischungsform im Bereich der Körper gibt, die mit der ersten die wesentliche Erhaltung und Trennbarkeit und gleichzeitig mit der zweiten das vollständige gegenseitige Durchdringen der Ingredienzien gemeinsam hat. Das eine schließt das andere aus. Er leugnet damit zugleich, daß die Einheit von Seele und Körper von der Art sein kann, wie sie in einer materialistischen Theorie erklärt wird. –

316

Dies ist mit Sicherheit kein zufälliges Beispiel, sondern eine Anspielung auf die bekannte Behauptung Chrysipps, ein Tropfen Wein könne sich mit dem Meer oder sogar mit dem ganzen Kosmos vermischen; A.A. Long & D.N. Sedley, op. cit., 48 A (Diogenes Laertios) und B (Plutarch). 317 Vgl. 220, 19: „µεταβάλλοντα“. Schon bei Aristoteles bedeutet µεταβολή in strenger philosophischer Terminologie Wesensveränderung, κίνησις dagegen Bewegung, Veränderung mit Erhaltung der ursprünglichen Wesenseigenschaften.

87 Wenn die verschmolzenen Körper mit Notwendigkeit untrennbar voneinander sind (...), wir aber bei einigen sehen, daß sie sich trennen, dann ist klar, daß die Krasis nicht auf die Weise vor sich geht (bzw. nicht in der Form existiert), wie die Stoiker behaupten (221, 20-25). (3.) Wenn die Krasis so vor sich geht, daß sich die verschmelzenden Stoffe gegenseitig zerteilen, was besonders bei Flüssigkeiten leicht geschieht, dann kann daraus zweierlei folgen: (a) Lassen die sich gegenseitig zerteilenden Körper irgendwelche ungeteilten Stücke zurück, so sind diese Stücke nicht (sc. mit den anderen) verschmolzen, und die wechselseitige Durchdringung ist nicht, wie gefordert, vollständig, so daß auch hier letztlich nur eine Parathesis vorläge; (b) bleibt hingegen kein ungeteiltes Stück in der Mischung zurück, dann sind die Körper gänzlich zerteilt, und zwar nicht in Teile (sc. denn jeder körperliche Teil ist qua Körper weiterhin teilbar318), sondern in Einteilungen („εἰς διαιρέσεις“); und weil jeder Körper durch die Zusammensetzung dessen, in das er jeweils geteilt ist, wieder entsteht, wäre das so Zerteilte weder aus Teilen noch aus Körpern, sondern aus Einteilungen zusammengesetzt, denn die Einteilung ist kein Körper, sondern eine Eigenschaft des Körpers (221, 25 – 222, 3). – Aus der Behauptung, die Teilung gehe bis ins Unendliche, folgt, daß man nicht sagen kann, ein Körper sei (sc. zu irgendeinem Zeitpunkt) aktual gänzlich (d.h. ohne unzerstückten Rest) geteilt, und so seien auch mehrere Körper durch und durch vermischt, da sie aktual bis ins Unendliche geteilt seien319 (222, 4-6). Wenn die Körper nämlich (aktual) unendlich teilbar wären, weil die Teilung niemals aufhört, sondern von dem, was geteilt wird, immer etwas übrig bleibt, was (sc. in noch kleinere Stücke) zerteilt werden kann, dann wäre es nicht möglich, daß ein Körper ganz geteilt wird und an ihm nichts mehr übrig bleibt, was eine Teilung erleiden kann; und dann wären die Mischungsbestandteile niemals durch und durch vermischt, selbst wenn sie sich (sc. bis zu einem gewissen Grad) miteinander vermischen, die gleiche Ausdehnung haben und sich gegenseitig zerteilen, aber unfähig sind, sich gegenseitig so zu zerteilen320, daß nicht irgendwelche Teile von ihnen unzerstückt zurückbleiben; denn in bezug auf die unzerteilten Teile wären sie noch nicht miteinander vermischt (222, 6-13). Wenn die Stoiker behaupteten, die Körper seien unendlich teilbar, weil jeder zerteilte Körper unendlich geteilt werden könne, dann wären ihnen zufolge die miteinander vermischten Körper aktual unendlich geteilt; sind sie nämlich ganz und gar vermischt, so sind sie auch ganz und gar zerteilt (222, 14-17). Mischungsbestandteile, die gänzlich zerteilt sind, sind unendlich zerteilt321; und wenn die Dinge, in die sie zerteilt sind, auch selbst Größen wären (a), dann wäre jedes der auf diese Weise vermischten Dinge unendlich groß – denn was aus unendlich vielen Teilen besteht, die jeweils eine gewisse Größe und Ausdehnung haben, ist unendlich groß; jeder der vermischten Körper besteht nämlich aus unendlich vielen Teilen, die (sc. jeder für sich) eine gewisse Größe haben, weil etwas aus eben dem, in was es zerteilt wird, auch selbst bestehen muß; sind dagegen die Dinge, die bei der Teilung der ganz und gar zerteilten Körper übrig geblieben sind, keine Größen (b), da sie doch wohl nicht behaupten werden, es gebe irgendwelche 318

Vgl. oben, § 1. Zu dieser Übersetzung vgl. den Text von R.B. Todd, op. cit., S. 130. 320 In Zeile 12 wurde I. Bruns’ Konjektur übernommen. 321 In Zeile 17 folge ich der Konjektur von R.B. Todd, op. cit., S. 130. 319

88 kleinsten und unteilbaren Körper322, dann bestünde die Größe (sc. des Mischungsproduktes) nicht aus Größen (222, 17-25) – dies aber ist unmöglich, weil beliebig viele unausgedehnte Teile nie einen Körper bilden können. Dieser Kritik an der materialistischen ὅλον δι’ ὅλων – Theorie liegt die aristotelische Lehre von ὕλη und εἶδος zugrunde; der erste Stoff und die Form sind immateriell, der zweite Stoff ist Körper323 (vgl. 223, 1-6). Von der Lehre, daß ein Körper einen anderen Körper vollständig durchdringt, hängt letztlich die Überzeugungskraft der gesamten stoischen Naturphilosophie ab, weil diese Lehre überall eine Rolle spielt – in der Psychologie, in der Lehre von Schicksal und Vorsehung, in der Prinzipienlehre sowie bei dem Dogma von der Einheit und Sympatheia aller Dinge (227, 5-11); all dies ist also von der peripatetischen Kritik betroffen. Der von Plotin geforderte Modus des Geeintseins und Durchwirktseins des Körpers durch die Seele setzt voraus, daß letztere eine einfache, intelligible Substanz ist. Es hat sich gezeigt, daß ein rein materialistisches Modell von einer wirklichen Einung und Verschmelzung beider Wesenheiten, die dabei doch ihre eigentümliche Identität bewahren, ungenügend bleiben muß. Daher lautet Plotins Resümee (82, 20-22): Es ist also nicht möglich, daß ein Körper einen anderen ganz und gar durchdringt; die Seele aber durchdringt den Körper vollständig; folglich ist sie unkörperlich.

§ 16: Die notwendige Ordnung von ἕξις, φύσις, ψυχή und νοῦς324

Die Stoiker schreiben dem Pneuma vier verschiedene Erscheinungsformen zu, die aufgrund von stofflichen Prozessen sukzessiv auseinander entstehen: Auf eine bestimmte Beschaffenheit oder Zuständlichkeit der Materie (ἕξις)325 folgt gemäß dieser Seinsordnung zunächst die vegetative Kraft bzw. die schaffende Natur (φύσις), darauf die Seele (ψυχή) und zuletzt der Geist (νοῦς)326. Als ihr 322

Zu einer Kritik am Atomismus vgl. oben den § 4. Vgl. oben, § 1; zu der abweichenden Prinzipienlehre der Stoa vgl. ebenfalls oben. 324 Vgl. SVF II 804. 325 Vgl. SVF II 368 (Achilles) (gekürzt): (...) Geeinte Körper nennt man diejenigen, die von einer Hexis zusammengehalten werden, z.B. einen Stein oder ein Stück Holz; und die Hexis ist ein warmer Hauch, der einen Körper zusammenhält. Verbindungen nennt man hingegen solche Körper, die nicht von einer Hexis zusammengehalten werden, z.B. ein Schiff und ein Haus; denn das Schiff besteht aus vielen Brettern und das Haus aus vielen Steinen. (...) Es gibt hierbei jedoch zwei Arten. Denn die einen Dinge bestehen aus begrenzten und an Zahl erfaßbaren Körpern, wie ein Chor, die anderen aus unbegrenzten, wie ein großer Haufen. (...) 326 3 8 , 1-3. 5-9. – Vgl. A.A. Long & D.N. Sedley, Die hellenistischen Philosophen, 53 A 2-3 (Origenes): Z.B. Hölzer und Steine werden nur von einer Hexis zusammengehalten, Tiere und Pflanzen dagegen von einer vegetativen Kraft oder von einer Seele. Eb. 47 F (Galen): Die aus Luft und Feuer bestehende Pneumasubstanz ist das Zusammenhaltende. Ähnlich G (Plutarch); M 1 (ders.): Die Hexeis sind nichts anderes als Luftströme, von denen die Körper zusammengehalten werden. N (Galen): Es gibt zwei Arten von innewohnendem Pneuma, die vegetative und die seelische Art. Einige (sc. die Stoiker) führen noch eine dritte Art ein, die einen bestimmten Zustand der Materie betreffende. Von der zuletzt genannten Art ist dasjenige Pneuma, das die Steine zusammenhält, das vegetative nährt die Lebewesen und die Pflan323

89 einendes, gestaltendes und zusammenhaltendes Prinzip ist der warme Hauch in allen Körpern anwesend und aktiv, aber auf unterschiedliche Weise, dem jeweiligen Körper entsprechend. Das den ganzen Körper durchströmende Pneuma eines Tieres etwa ermöglicht u.a. die Sinneswahrnehmungen, das der anorganischen Materie aber wegen ihrer abweichenden Beschaffenheit nicht, denn es weist nicht die Gliederung in acht Teile auf, die für den Atemstrom der Tiere und Menschen charakteristisch ist. Ein Körper, der eine höhere, differenziertere Pneumastufe enthält, hat auch die unteren, aber nicht umgekehrt. So haben die Knochen des Menschen an der Hexis teil, und wie die Pflanzen, so gehören auch Nägel und Haare in den Bereich der Physis.327 Das Pneuma der tierischen und der menschlichen Embryonen ist vegetative Kraft; bei der Geburt, d.h. beim Verlassen des warmen Mutterleibes und Eintreten ins Kalte (ψυχρόν), wird es gleichsam „abgeschreckt“ und abgehärtet wie Stahl und dadurch erst zur Seele (ψυχή), da es im Kalten feinteiliger wird (83, 1-3)328. Um das oben vorgestellte epigenetische Schema der Stoa zu vervollständigen, kann ergänzt werden, daß sich die Vernunft in dem vorher irrationalen leitenden Seelenteil des Menschen erst während der Pubertät entwickelt (oder aktualisiert)329; und der Same dürfte zunächst Hexis sein und dann bei der Befruchtung in Physis übergehen. – Gegen diese Vorstellung von der Entstehung der Seele aus der Physis ist mehreres einzuwenden: (1.) Viele Lebewesen („ζῷα“) entstehen im Warmen und haben also eine Seele, die nicht durch Abkühlung entstanden ist (83, 4-5)330. Auf welche im Warmen entstehenden Lebewesen spielt Plotin hier an? É. Bréhier gibt den entscheidenden Hinweis (Ennéades IV, S. 183): Plutarch spricht in der Schrift De Stoicorum Repugnantiis ausführlicher über diesen Aspekt der stoischen Naturphilosophie. Gemeint sind die Kapitel 38 und 41: Dort heißt es, niemand nehme an, daß Gott vergänglich und entstanden ist; als Beispiel zitiert Plutarch den Stoiker Antipater von Tarsos331. Chrysipp aber behauptet im Kontrast dazu, keiner der Götter sei unvergänglich außer dem Feuer, sondern alle seien gleichermaßen entstanden und vergänglich332. Die Sonne, der Mond und die übrigen Götter (...) seien entstanden, nur Zeus sei ewig333. – Weiter unten kommt Plutarch auf die Entstehungsweise zen, das seelische bewirkt in den beseelten Wesen, daß die Lebewesen Sinneswahrnehmungen haben und sich auf vielfältige Weise bewegen. Vgl. O (Diogenes Laertios); P und Q (Philon). – Vgl. auch M. Pohlenz, Die Stoa, Bd. I, S. 83. 327 Vgl. A.A. Long & D.N. Sedley, op. cit., 47 P (Philon) und M. Hossenfelder, Die Philosophie der Antike 3, S. 83. 328 Vgl. A.A. Long & D.N. Sedley, op. cit., 53 B 1-3 (Hierokles): Das vegetative Pneuma des Embryos wird mit der Zeit feinteiliger, die eigentliche Verwandlung in eine Seele findet aber erst bei der Geburt statt. 329 SVF II 834 (Philon); 835 (Jamblich): Über den Geist und alle höheren Vermögen der Seele sagen die Stoiker, der Logos entstehe nicht sogleich, sondern er bilde sich später aus den Sinneswahrnehmungen und den Vorstellungen, etwa im Alter von vierzehn Jahren. – Eine Variante finden wir bei Aetios; s. A.A. Long & D.N. Sedley, op. cit., 39 E 4: Die Vernunft, nach der wir als vernunftbegabt bezeichnet werden, wird von den Vorbegriffen während der ersten sieben Lebensjahre vervollständigt. 330 Hier gibt R. Harders Übersetzung den Sinn genauer wieder als die A.H. Armstrongs, da Plotin nicht das Wort πνεῦµα gebraucht, sondern ψυχή; diese aber entsteht erst durch die Abkühlung, was aus der englischen Übersetzung nicht deutlich hervorgeht. 331 Plut. Stoic. repugn. 1051 E 7 – F 4. 332 Plut. Stoic. repugn. 1051 F 4 – 1052 A 2. 333 Eb. 1052 A 6-8 und ähnlich weiter bis A 11.

90 der göttlichen Gestirne des näheren zu sprechen334: Einerseits erklärt Chrysipp, zur Beseelung komme es durch eine Abkühlung, andererseits hält er die Sonne für beseelt, die feuerartig und aus einer Ausdünstung entstanden ist, die sich in Feuer verwandelt hat (...): Das Feuer verwandelt sich durch die Luft (sc. als Übergangszustand) in Wasser; und daraus dampft, wenn das Erdartige niedersinkt, Luft auf; und wenn sich die Luft verdünnt, breitet sich rings umher der Äther aus335; und die Sterne werden zusammen mit der Sonne aus dem Meer entzündet. Nun sind aber das Anzünden und die Abkühlung sowie Ausbreitung und Verdichtung denkbar große Gegensätze; Abkühlung und Verdichtung bringen Wasser und Erde hervor, Entflammung und Verdünnung dagegen Feuer und Luft; aber Chrysipp macht einmal das Anzünden, ein anderes Mal die Abkühlung zur Ursache der Beseelung.336 – Aus all dem ergibt sich, daß die Sonne und die übrigen Gestirne die von Plotin gemeinten Lebewesen sind und daß sie – im Rahmen einer konsistenten Theorie, die von stoischen Prämissen ausgeht – nicht durch Abkühlung entstehen können. Da sie aber andererseits beseelt sind, kann die Beseelung nicht ganz allgemein auf einer Verringerung der Körpertemperatur beruhen. Plotin kritisiert die Stoiker hier also nicht von platonischen oder aristotelischen Prämissen her, sondern er folgt Plutarchs Vorwurf, daß sie sich selbst widersprechen. (2.) Chrysipp ist der Auffassung, daß der Embryo im Mutterleib von der vegetativen Kraft ernährt wird wie eine Pflanze; bei der Geburt werde das Pneuma dann von der Luft abgekühlt und abgehärtet, verändere sich und werde zum Lebewesen; daher sei die Seele (ψυχή) nicht unpassend nach der Abkühlung (ψῦξις) benannt worden337. Andererseits meint er, die Seele sei eine dünnere und feinteiligere Erscheinungsform des Pneumas als es die Physis ist; damit widerspricht er sich offensichtlich selbst, weil nicht ein feinteiliger und dünner Körper infolge von Abkühlung und Verdichtung aus einem dichteren Körper entstehen kann338. Es ist nicht einzusehen, wie das selbe Pneuma im Kalten feinteiliger sein kann als im Warmen; zu erwarten wäre vielmehr das Gegenteil. Eine Zunahme der Feinteiligkeit und eine gleichzeitige Zunahme der Festigkeit der inneren Spannung des selben Körpers sind offenkundig unvereinbar. (3.) Durch eine solche Entwicklungstheorie wird die Struktur der Wirklichkeit umgekehrt. Das vollkommen und ursprünglich (vor allem anderen) Seiende ist der reine Geist als Inbegriff der Ideen339; er ermöglicht alles andere, was – in direkter oder indirekter Abhängigkeit von ihm – ist; die psychische Wirklichkeit geht in einem unzeitlichen Geschehen aus ihm hervor und aus dieser die

334

Eb. 1053 A 2-10. Anders als bei Aristoteles ist der Äther für die Stoiker keine quinta essentia, sondern eine Art Feuer; vgl. H. Cherniss, Plutarch’s Moralia XIII, Part II, S. 571, Anm. e. 336 Plut. Stoic. repugn. 1053 A 10 – B 4. 337 Eb. 1052 F 1-5. – H. Cherniss weist (op. cit., S. 570, Anm. a) darauf hin, daß diese Etymologie älter ist als die Stoa und vergleicht Plat. Krat. 399 d 10 – e 3 und Arist. De an. 405 b 28-29. Freilich hat eine solche Vorstellung von der Seele nicht im geringsten etwas mit platonischer oder aristotelischer Psychologie zu tun, sondern entstammt den Spekulationen vorsokratischer Naturphilosophen. 338 Plut. Stoic. repugn. 1052 F 5 – 1053 A 2. 339 Er kann auch – in einem nichträumlichen Sinne – als Ort der Ideen bezeichnet werden. 335

91 erfahrbare Welt (83, 9-10), in der sich die sichtbaren Götter (die Gestirne), Menschen, Tiere, Pflanzen und die leblosen Körper unterscheiden lassen. Seele und Erscheinungen sind nicht zeitlich später als der Geist, wohl aber weniger vollkommen und insofern (d.h. durch Seinsminderung) aus ihm hervorgegangen, in ihm begründet und von ihm abgeleitet. – Die platonisch-neuplatonische Lehre von der Struktur der Wirklichkeit als ganzer formuliert Plotin häufiger, in VI 1 auch in ausdrücklicher Abhebung von der Stoa: Die Masse (d.h. irgendein Körper), das Viele kann nicht Prinzip sein, sondern nur das Masselose, das Eine, was ohne Größe ist, denn die Vielheit setzt die Einheit voraus; alles Seiende, was Größe hat, besitzt seine Einheit nicht von sich her, sondern durch Partizipation an und in Abhängigkeit von dem Einen selbst, dem an sich Einen, durch das es geeint wurde (vgl. 26, 28-33). Das primär und eigentlich Seiende muß vor dem sein, was erst von ihm geeint wird, weil sonst gar keine Einung möglich wäre (vgl. 26, 33-35). Daß jede Vielheit und alles Seiende immer ein Einfacheres voraussetzt, ist die Grundeinsicht der Philosophie Plotins und der Schlüssel zu ihrem Verständnis.340 Die Stoiker verstoßen gegen den Grundsatz, daß das Prinzip immer mindestens ebensoviel Seinsvollkommenheit haben muß wie seine Prinzipiate, weil andernfalls unerklärbar bleibt, woher die Vollkommenheit und die Vielfalt an Dynameis der sekundären Wesenheit stammt. Z.B. ist die Psyche das Prinzip bestimmter Sinneswahrnehmungen, die nicht auf die Physis zurückgeführt werden können. Offensichtlich kann die Psyche dieses Vermögen also nicht von der Physis her haben, aus der sie sich angeblich entwickelt hat. Es entspricht daher der Natur der Dinge anzunehmen, daß immer das Geringere auf das Vollkommenere folgt (83, 10-11), wie es Plotins Derivationssystem vorsieht. Wenn die Hexis die ursprünglichste Seinsstufe ist und die anderen erst später aus ihr entstanden sind, so ist es möglich, daß Seele, Geist und Gott gar nicht existierten, weil das Potentielle nicht ist und nicht zur Aktualität gelangt, wenn nicht vorher das Aktuale ist (vgl. 83, 11-15). Das Mögliche kann nur unter der Bedingung in die Wirklichkeit überführt werden, daß etwas anderes diese Wirklichkeit bereits hat und sie dem zunächst nur Möglichen mitteilt. Denn was würde das Mögliche dazu veranlassen, wirklich zu werden, was wäre das „ἄγον“, wenn nicht vorher etwas anderes als es bereits wirklich existierte? (83, 15-16) Daß sich das Mögliche selber in die Wirklichkeit überführt, ist ausgeschlossen; aber selbst wenn dies nicht abwegig wäre, dann wäre es doch nur so denkbar, 340

Zu der neuplatonischen Seinsordnung vgl. auch III 8 passim, besonders 2, 27-29: In den Tieren und in den Pflanzen sind die rationalen Formkräfte (Logoi) das Schöpferische, und die Natur (Physis) ist selber rationale Formkraft. (Sc.: Denn nur als rationale Formkraft, nicht als bloßer Stoff, kann sie schöpferisch sein.) 5, 1-2: Die Seele ist früher als die Natur. 8, 1-2: Die Bewegung von der Natur zur Seele und von dieser zum Geist ist ein Aufstieg. 8, 18-19: Es herrscht Einheit von erstem Leben und erstem Geist. 9, 1: Der Geist ist aber nicht das Erste, denn (9, 3-6): (1.) Die Vielheit ist später als das Eine. (2.) Der Geist ist Zahl; der Ursprung der Zahl aber (...) ist das wahrhaft Eine. (3.) Der Geist ist Denkendes und Gedachtes zugleich, also zweierlei zugleich; wenn er aber zweierlei ist, so ist es notwendig, das vor der Zweiheit zu erfassen. Dasjenige, woraus der Geist und das mit ihm verbundene Denkbare (9, 12-13) stammen, ist das Gute und Einfachste (9, 16-17; s.a. Kap. 11). Es ist der Urgrund der Aufgliederung, des Lebens, des Geistes und überhaupt von allem (9, 38-39); es ist der Urgrund der Vielheit (9, 42). – Überall ist das Erzeugende einfacher als das Erzeugte; wenn dieses also den Geist erzeugt hat, muß es einfacher sein als der Geist (9, 42-44).

92 daß das sich selbst aktualisierende Mögliche bei diesem Vorgang auf etwas hinblickt, was nicht bloß der Möglichkeit nach, sondern in Wirklichkeit ist (83, 16-17), d.h. das ist, wozu das Potentielle aktual werden soll. Bei einem Verwirklichungsprozeß von (B) ist also immer ein bereits Wirkliches (A) notwendig vorausgesetzt, unabhängig davon, ob (A) während der Aktualisierung von (B) aktiv ist – auch diese Aktivität von (A) ist nach Plotin unabdingbar – oder ob sich (A) bei einer angenommenen Selbstaktualisierung von (B) passiv verhält. Ohne ein Vorbild zu haben, dem es sich in seinem Verwirklichungsprozeß angleicht, könnte das Mögliche gar keine Vorstellung davon haben, was es bedeutet, wirklich zu werden oder zu sein. Ein Orientierungspunkt ist notwendig, der vorgibt, von welcher Art das Ziel des Verwirklichungsprozesses ist. Früher ist also (sc. mit Notwendigkeit) das Vollkommenere, das ontologisch Überlegene („τὸ κρεῖττον“), das ein vom Körper verschiedenes Wesen hat und immer in Aktualität ist (83, 20-22). Immer aktual und vollkommen, reine Energeia ohne irgendwelche unverwirklichten Möglichkeiten, ist der reine Geist, der auch als Gott bezeichnet werden kann341. Eine vergleichbare Kritik übte bereits Platon im zehnten Buch der Nomoi an bestimmten naturphilosophischen Vorstellungen von der Hierarchie der Wirklichkeit und dem Rang ihrer Konstituenten. Die meisten Menschen verkennen das Wesen und das Vermögen der Seele und wissen nicht, daß sie zu den Prinzipien gehört, ursprünglicher als alle Körper ist und mehr als alles andere (z.B. die Elemente) jede Veränderung und Umgestaltung der Körper beherrscht (892 a 2-7). Aus diesem Wesen der Seele folgt, daß auch das mit ihr Verwandte früher sein muß als das, was dem Körper zukommt, weil die Seele ursprünglicher ist als der Körper; als Beispiele werden Meinung, Fürsorge, Geist, Kunst und Gesetz angeführt: All dies ist, wie die Seele, ursprünglicher als die Körper (a 7 – b 5). Der Nous ist ursprünglicher als die Physis (b 6-8). Um den Prinzipiencharakter der Seele gegenüber den Körpern zu beweisen, klärt Platon zuvor einige Grundgegebenheiten. Die einen Dinge bewegen sich, die anderen verharren in Ruhe, und beides geschieht in einem bestimmten Raum (893 c 1-3). Es lassen sich zehn Bewegungsarten unterscheiden, insbesondere diejenige, die nur immer anderes bewegen kann, sich selbst aber nicht, sondern von etwas anderem bewegt wird, und diejenige, die immer sowohl sich selbst als auch ein anderes bewegen kann; letztere ist der wahre Grund der Veränderung und Bewegung aller Dinge (893 c 3 – 894 c 9)342. Wie die Funktionen von Hexis, Physis, Psyche und Nous nach der stoischen Lehre alle dem Pneuma zukommen und jeder Körper von einer bestimmten Art des warmen Hauches durchströmt ist, aber nicht jeder Körper von der gleichen Art, so kommen gemäß der platonisch-neuplatonischen Psychologie diese Funktionen sämtlich der Seele zu, allerdings unterscheiden sich hier entsprechend die Seelen, die mit verschiedenartigen Körpern verbunden sind, wesentlich voneinander. Die anorganischen Körper werden nach der einen Vorstellung von der Hexis geeint, gestaltet und im

341 342

Arist. Mph. XII. Vgl. hierzu K. Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre, S. 173-201.

93 Sein erhalten, nach der anderen von der Weltseele343 (also nicht von einer individuellen Seele). Das Prinzip der pflanzenhaften Lebendigkeit, des Wachsens, Nährens und Zeugens, ist entweder eine vegetative Pneumakraft oder eine einteilige irrationale Einzelseele, die als ἐπιθυµητικόν bezeichnet werden kann. Die sinnliche Wahrnehmung, die Vorstellung und die durch bestimmte Triebe erforderliche Bewegung ermöglicht entweder ein psychischer warmer Hauch oder eine θυµοειδές genannte, vernunftlose Seelenkraft. Die Ursache der Vernünftigkeit und dessen, was unmittelbar daraus folgt, etwa einer Sprache, mit der auch abstrakte Sachverhalte zum Ausdruck gebracht werden können, ist schließlich nach dem materialistischen Modell ein als Geist bezeichnetes Feuer-LuftGemisch und im Rahmen der konkurrierenden Theorie ein vernunfthaftes, rein intelligibles und individuelles Seelenvermögen. Somit besteht also durchaus eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen beiden Systemen. Das Pneuma stimmt, was seine Funktionen betrifft, in vielem mit dem überein, was im Platonismus ψυχή heißt. – Allerdings ist diese Psyche eine immaterielle Substanz von teilloser Einfachheit und als solche unentstanden und unvergänglich. Als ursprünglich transzendente Wesenheit kann sie nicht Forschungsgegenstand der Naturphilosophie sein. Auch kann sie sich nicht (mittelbar) aus der Hexis und (unmittelbar) aus der Physis erst entwickelt haben, also entstanden sein, und überdies das Sein des Nous begründen. Während die Stoiker aus der Hexis sukzessiv immer höherrangige, differenziertere und komplexere Seinsstufen in einem zeitlichen Prozeß entstehen lassen, ohne einsichtig zu machen, wie dies möglich sein soll, sieht die von Plotin vertretene Theorie eine zunehmende Seinsminderung der nicht zeitlich, sondern ontologisch „späteren“ Seinsstufen vor und berücksichtigt vor allem den Grundsatz, daß nicht aus weniger Vollkommenem Vollkommeneres spontan hervorgehen kann. Damit stellt Plotin die Seinsordnung der Materialisten vom Kopf auf die Füße.

343

Der platonischen Weltseele (vgl. Tim. 34 ff. und Nom. X) entspricht im Stoizismus freilich am ehesten der (materielle) demiurgische Gott, das göttliche Pneuma; vgl. A.A. Long & D.N. Sedley, op. cit., 44 C (Sextus Empiricus) und 46 E-F (Plutarch); zu der vernünftigen Weltseele in der Stoa s.a. 47 O (Diogenes Laertios) und 54 B (Cicero).

94

95 2. Die Seele ist kein Epiphänomen des Körpers

§ 17: Die Seele als Harmonie

Plotin erachtet seine These von der notwendigen Unkörperlichkeit der Seele nun als hinreichend gut begründet (83, 23-25). Ob die Seele aber auch unsterblich ist, hängt davon ab, von welcher Art ihre Immaterialität ist. Als Harmonie des Körpers (Kap. 84) und als Entelechie (Kap. 85) wäre die Seele unkörperlich und doch zugleich auch entstanden und vergänglich, weil ihre Existenz nicht als von der Existenz eines Körpers unabhängig gedacht werden könnte. Dann wäre die Seele also keine Substanz, keine Wesenheit, die selbständig für sich existieren kann, sondern ein „Etwas des Körpers“344, das zusammen mit diesem entsteht und vergeht oder sogar erst nach ihm entsteht und schon vor ihm zugrunde geht. Wie es beim Anschlagen der gestimmten Saiten eines Saiteninstruments zu einer Harmonie, einer Art Affektion („τι οἷον πάθηµα“, 84, 6) der Saiten, kommt, so entstehen das Leben und die mit einer Harmonie vergleichbare Seele durch eine bestimmte Mischung (κρᾶσις) der unterschiedlichen (entgegengesetzten) Bestandteile des Körpers345, etwa des warmen und des kalten oder des trockenen und des feuchten Grundstoffes. Wie das Musikinstrument und die gestimmten Saiten früher vorhanden sein müssen als die Harmonie, ebenso wäre der Körper demnach früher (ursprünglicher) als Seele und Leben und könnte folglich auch ohne diese sein, während diese die Existenz des Körpers zur notwendigen Voraussetzung hätten.346 – Plotin widerspricht dieser Vorstellung von der Beschaffenheit der Seele in knapper Form mit sieben Argumenten, die teils platonischer, teils aristotelischer Provenienz, teils auch von Plotin selbst hinzugefügt sind.347 (1.)348 Die Seele ist (sc. gegenüber dem Körper) das Frühere, die Harmonie aber (sc. gegenüber dem Saiteninstrument) das Spätere (84, 11-12).349 Die Seele ist das Einheits-, Seins-, Form-, Ordnungs-, 344

84, 2: „σώµατος δέ τι“. 345 Vgl. Plat. Phd. 86 b 9 – c 1; Arist. De an. 407 b 30 ff. (vgl. dazu W. Theiler, Aristoteles. Über die Seele, S. 78-79 und 98-99). – Die Pythagoreer, denen häufiger die Auffassung, die Seele sei die Harmonie des Körpers, zugeschrieben wird, sahen vermutlich die Seele als Harmonie aus Zahlen, also nicht als Produkt des sterblichen Körpers, an. Darauf deutet Plotin 84, 3-4 hin: „τοῦτο γὰρ ἁρµονίαν τῶν ἀµφὶ Πυθαγόραν λεγόντων ἕτερον τρόπον (...)“. Die hier kritisierte Position wurde wohl von Empedokles und in stoischen Kreisen vertreten; vgl. R. Harder, Plotins Schriften, Bd. Ib, S. 386. Dafür spricht wohl auch der in der Stoa geläufige Begriff Krasis, der hier verwendet wird. 346 Vgl. zu diesem Einwand gegen die Unsterblichkeit der Seele und zu seiner Widerlegung Plat. Phd. 85 e 1 ff., 91 e 2 ff. und dazu unten den § 20. 347 Neben den hier und im folgenden zu nennenden Stellen im Phaidon verwendet Plotin auch Material aus Aristoteles, De anima I 4; vgl. das (4.) und das (5.) Argument. Zum Eudemos als weiterer möglicher Quelle vgl. W. Jaeger, Aristoteles, S. 43 mit Anm. 2. 348 Vgl. Plat. Phd. 91 e 2 – 92 e 4 und dazu unten den § 20. Die platonische Anamnesislehre impliziert die Präexistenz der Seele vor dem Körper. 349 Vgl. Plat. Phd. 92 b 8 – c 2.

96 Lebens- und Bewegungsprinzip des Körpers350, und als solchem kommt ihr die ontologische Priorität zu. Dieses Ergebnis der zurückliegenden Untersuchungen wird jetzt als gesicherte Erkenntnis behandelt, weshalb Plotin auf diesen Punkt nicht mehr näher eingeht.351 (2.)352 Die (rationale) Seele herrscht, gebietet dem Körper353 und widerstreitet ihm vielfach, was sie nicht machte, wenn sie seine Harmonie wäre (84, 12-13), denn als solche würde sie von ihm beherrscht, wäre jederzeit von ihm bestimmt und könnte nicht in Opposition zu ihm treten.354 Was die Befriedigung körperlicher Bedürfnisse verhindern kann, so daß beispielsweise derjenige, der Durst hat, aus „guten“ (d.h. vernünftigen) Gründen doch nicht trinkt, steht nicht unter den Bedingungen des Organismus und ist nicht durch ihn determiniert; es befindet sich vielmehr außerhalb des körperlichen Systems. Es steht zwar in Beziehung zum Körper, ist aber von anderer Art und ihm überlegen. Körperliches Verlangen gehört nicht zu seinen Wesenszügen, sondern ist ihm fremd. Es ist materieunabhängig und nichts, was der Körper erst ermöglicht oder als Folgeerscheinung seiner Existenz mit sich bringt. (3.)355 Die Seele ist Substanz („οὐσία“), die Harmonie dagegen nicht (84, 14), weshalb die Gleichsetzung der Substanz Seele mit der Eigenschaft bzw. dem Akzidenz Harmonie einem Kategorienfehler gleichkommt. (4.)356 Die Mischung der Körper, aus denen wir bestehen, ist, wenn sie in guter Proportion (d.h. harmonisch, wohlgeordnet) ist, die Gesundheit (84, 14-16) – und nicht die Seele. Ein Körper, in dem verschiedene Stoffe in bestimmter Weise gemischt sind, hat die Eigenschaft, (mehr oder weniger) gesund zu sein. Die Gesundheit (oder Harmonie der Teile) gehört aber nicht wesentlich zu einem Körper, sondern sie ist ein Akzidenz, denn auch wenn der Körper krank wird (sein inneres Gleichgewicht oder seine harmonische Ordnung schwächer wird), bleibt er Körper. Dagegen ist es für jeden Körper, solange er Körper ist, wesentlich, mit einer Seele verbunden zu sein, die auf ihn einwirkt (und nicht bald mehr, bald weniger Seele ist), denn eine Seele eint ihn (vereinigt die Bestandteile der Mischung) und gibt ihm dadurch Sein und ein gewisses, mehr oder weniger hohes Maß an Ordnung. Die Seele und ihre Wirkungen sind bei der Herstellung und Erhaltung der Gesundheit (Harmonie) des Körpers schon vorausgesetzt. 350

Einheitsprinzip: Vgl. z.B. IV 7, 1, 9-11: Der Körper ist zusammengesetzt und also vergänglich. 1, 14-15: Die Seele ist das Einheitsprinzip für die Materie. 3, 2-4: ἕνωσις, ἕν, ἑνοῦσθαι. 3, 25-27. 3, 28-29. Seinsprinzip: Vgl. z.B. IV 7, 3, 18-19: „ἐπεὶ οὐδ’ ἂν εἴη σῶµα οὐδὲν ψυχικῆς δυνάµεως οὐκ οὔσης.“ 3, 20: Wenn alles Sein Körper wäre, würde es bald zugrunde gehen. 3, 23-25. 34-35. Formprinzip: Vgl. z.B. IV 7, 3, 14-15. 23-25. Ordnungsprinzip: Vgl. z.B. IV 7, 2, 2022: „τὸ τάξον“, „τάξιν (...) ψυχῆς“. 3, 28-31. 35. Lebensprinzip: Vgl. z.B. IV 7, 2, 5-6. 9 ff. 3, 15-18. 351 Vgl. die obigen Ausführungen zum Wesen des Körpers und der Seele und besonders die Seinsordnung nach dem § 16. 352 Vgl. Plat. Phd. 94 b 4 – 95 a 3 und dazu unten den § 20. 353 Vgl. Plat. Nom. 896 c 2-3: Während die Seele über den Körper herrscht, wird dieser naturgemäß von ihr beherrscht. 354 Vgl. Plat. Rep. 435 b 9 ff. 355 Vgl. Plat. Phd. 92 e 5 – 94 b 3 und dazu unten den § 20. 356 Vgl. Arist. De an. 408 a 1-3.

97 (5.)357 An jedem einzelnen Teil des Körpers, der anders gemischt (von anderer Beschaffenheit) ist, wäre eine andere Seele, so daß viele Seelen in einem Körper wären (84, 16-17), wenn die Seele durch körperliche Mischungen entstünde.358 Diese Vielheit von Seelen bedürfte dann wiederum eines sie einenden Prinzips, das von anderer Art sein müßte als die Seelenstoffe. (6.) Wäre die Seele eine Harmonie, so müßte vor ihr noch eine andere Seele vorhanden sein, die (sc. als Ordnungsprinzip) diese Harmonie bewirkte (sc. und nur diese wäre für Plotin Seele im eigentlichen Sinne), wie bei den Instrumenten der Musiker, der den Saiten die Harmonie aktiv verleiht und die Proportion von sich her hat, nach der er die Harmonie bewirkt, denn weder die Saiten noch die Körper können sich von sich aus in Harmonie versetzen (84, 18-23), denn ihnen fehlt die dazu erforderliche Spontaneität. (Diesen Einwand bezeichnet Plotin als den wichtigsten.) Eine HarmonieSeele könnte nicht ihre eigene Ordnung (d.h. Einheit in der Vielheit der Funktionen und Wirkungsrichtungen) aktiv bewirken. Ein selbsttätiges Einheits- und Ordnungsprinzip muß vom Körper oder von körperlichen Mischungsverhältnissen ebenso unterschieden sein wie die Vernunft des Musikers, der zwar auf bzw. mit seinem Instrument eine Harmonie erzeugen kann, aber auch unabhängig von dem Instrument und der Harmonie existiert, wie die Seele unabhängig von einem so oder anders beschaffenen Körper existieren kann. (7.) Auch die Vertreter dieser Lehre lassen aus Unbeseeltem (sc. einem toten Körper) Beseeltes (sc. ein Lebewesen) entstehen und aus Ungeordnetem zufällig Geordnetes, und sie lassen nicht die Ordnung aus der Seele (sc. als einem rationalen Ordnungsprinzip), sondern die Seele aus zufälliger Ordnung zur Existenz kommen, was aber weder bei den Einzeldingen noch im Ganzen möglich ist.359 Vielmehr muß das, was die Seele besitzt und anderem zuteilt, z.B. Geordnetheit, in dem, worin die Seele ihrerseits gründet, in noch höherem Maße vorhanden sein. Mehr Einheit in der Vielheit (Ordnung) als die Seele hat aber kein Körper, sondern der Nous als konkrete Totalität aller Ideen.360 Aus ihm geht – nicht zufällig – die Ordnung seines Prinzipiats oder Abbildes hervor, das als solches seine Ordnung wiedergibt oder imitiert, und aus diesem wiederum der geordnete Stoff als Körper.

357

Vgl. Arist. De an. 408 a 13-18: Es ist abwegig zu sagen, die Seele sei die Proportion der Mischung (das Mischungsverhältnis), denn die Mischung der Elemente hat nicht überall die gleiche Proportion, etwa beim Fleisch und bei den Knochen. Daraus ergäbe sich also, daß man viele über den ganzen Körper verteilte Seelen hat, wenn alle Körperteile aus den gemischten Elementen bestehen und die Proportion der Mischung Harmonie und Seele ist. – Das aristotelische Argument erscheint bei Plotin in äußerst knapper Form. 358 Vgl. zu dieser Theorie auch die stoische Lehre von der Vermischung von Seele und Körper und dazu oben den § 15. 359 4 8 , 23-28. Vgl. oben den § 16. 360 Die Ganzheit des Ideenkosmos ist nicht nachträglich oder zufällig entstanden, sondern das Ganze ist (nicht zeitlich, aber ontologisch) früher als die Teile. Die Ideen stehen wesenhaft in Relation zueinander und bilden so eine ursprünglich zusammengewachsene (konkrete) Totalität oder wesenhafte Ganzheit von nur begrifflich unterschiedenen Momenten.

98 § 18: Die Seele als Entelechie

Aristoteles bezeichnet die Seele als ἐντελέχεια des Körpers.361 Danach verhält sich die Seele in dem Zusammengesetzten (dem Körper, der aus Hyle und Eidos besteht) zum Körper wie die Form zum Stoff; sie ist die Form eines natürlichen, organischen Körpers, welcher der Möglichkeit nach Leben hat.362 Nach der hier von Plotin kritisierten Vorstellung ist die Form des Körpers vom Körper abhängig; sie entsteht mit ihm und geht mit ihm zugrunde: Die (äußerlich sichtbare) Form wird mit dem Körper (z.B. einer Statue aus Erz) geteilt (85, 5-9) – das so verstandene Eidos ist, auch ohne selber körperlich zu sein, wie der Körper real teilbar, weil es nur an, zusammen mit und in Abhängigkeit von einem Körper existiert, also nicht selbständig für sich existiert, keine Substanz ist. An jedem Teil des Körpers befindet sich ein Teil des Eidos. Wäre dieses Eidos die Seele, so könnte sie nicht, wie Plotin es zuvor als notwendig erwiesen hat, an jeder Stelle des Körpers als ganze gegenwärtig sein und wirken, sondern in jedem Teil des Körpers könnte – wenn überhaupt – nur ein Teil der seelischen Kräfte wirksam sein. Die Seele wäre dann nur „etwas am Körper“, aber nicht das Prinzip des Körpers, und sie würde mit ihm zerlegt. Dies ist der (1.) von insgesamt neun Punkten der Kritik Plotins an Aristoteles, die É. Bréhier363 zusammengestellt hat. (2.) könnte es keine Entrückung im Schlaf und noch nicht einmal den Schlaf selber geben (85, 911), denn (a) wäre die Seele mit dem Körper unlösbar verbunden und könnte sich auch im Schlaf nicht von ihm entfernen, und (b) kann der Schlaf als ein Leben der Seele in ihr selbst und unabhängig vom Körper angesehen werden. Die Unabhängigkeit der Seele vom Körper ist demnach erforderlich, um das Phänomen Schlaf – als den dem Wachen entgegengesetzten Zustand – zu erklären, denn der Körper kennt als solcher keinen Übergang von einer Art oder Stufe des mehr oder weniger bewußten Erlebens zu einer anderen, wie ihn das Einschlafen und das Aufwachen mit sich bringen. Eine vom Körper abhängige Seele müßte, solange der Körper existiert, immer in gleicher Weise im Zustand des Wachens oder des Schlafens sein – falls sie überhaupt einen bestimmten Bewußtseinszustand haben könnte, denn dieser müßte in seiner Möglichkeit und Herkunft noch eigens erklärt werden. 361

Vgl. De an. 414 a 19-28: Diejenigen haben die richtige Meinung, denen die Seele weder ohne Körper noch irgendein Körper zu sein scheint; denn sie ist zwar kein Körper, wohl aber etwas am Körper, und deshalb ist sie im Körper, und zwar in einem qualitativ bestimmten Körper; nicht so, wie die Früheren sie in einen Körper einfügten, ohne auch zu bestimmen, in welchem und in einem wie beschaffenen, obwohl ein Beliebiges auch nicht dem Anschein nach ein Beliebiges aufnimmt. Und so geschieht es auch vernunftgemäß; denn die Erfüllung („ἐντελέχεια“) eines jeden Dinges pflegt in dem der Möglichkeit nach Bestehenden und dem zugehörigen Stoff innezuwohnen. Daß die Seele also eine Art Erfüllung ist und der Logos dessen, was die Möglichkeit hat, qualitativ bestimmt zu sein, erhellt aus dem Gesagten. 362 IV 7, 85, 1-5; vgl. Arist. De an. 412 a 27 – b 1: Die Seele ist die erste Entelechie eines natürlichen Körpers, welcher der Möglichkeit nach Leben hat. So beschaffen ist aber ein organischer Körper (d.h. ein Körper, der mit geeigneten Werkzeugen ausgestattet ist und sich so in der Welt zurechtfinden und sinnvoll handeln kann). 363 Plotin. Ennéades IV, S. 184. Vgl. dort S. 184-185 auch zum folgenden.

99 (3.) Als Entelechie könnte sich die rationale Seele ebensowenig wie als Harmonie (s.o., § 17) den körperlichen Begierden entziehen oder widersetzen, weil die Seele vom Körper und seinen Strebungen unabweislich abhängig wäre und als ganze jederzeit einer einheitlichen, gleichmäßigen und widerspruchslosen, vom Körper bestimmten Affektion unterliegen müßte (vgl. 85, 11-14). Dies ist jedoch, wie sich schon empirisch leicht zeigen läßt, keineswegs der Fall. (4.) Weil ein vom Körper abhängiges Eidos eingestandenermaßen nicht die Ursache von (sc. körperunabhängigen) Gedanken („νοήσεις“) sein kann, führen die Vertreter der Entelecheia-Lehre (d.h. die Peripatetiker) selbst noch eine andere Seele, nämlich den Nous, der unsterblich sei, ein; die rationale Seele (λογιζοµένη ψυχή) muß also auf andere Weise als diese Entelechie sein, wenn man dieses Wort überhaupt gebrauchen soll (85, 14-18). Hier zeigen sich für Plotin also deutlich die Unzulänglichkeit der Lehre und die Notwendigkeit, sie in Richtung auf seine eigene Theorie hin zu korrigieren. Körperunabhängiges Denken, das sich auf immaterielle Denkgegenstände richtet, setzt ein Denkendes voraus, das auch selber immateriell und nicht von Körperlichem abhängig ist, damit nicht gegen den erkenntnistheoretischen Grundsatz ὅµοιον ὁµοίῳ verstoßen wird. – Die Erwähnung des unsterblichen Nous erinnert an De anima III 4-5. Der sogenannte Geist der Seele („ὁ (...) καλούµενος τῆς ψυχῆς νοῦς“) (...) ist nicht mit dem Körper vermischt, denn sonst bekäme er eine bestimmte Beschaffenheit, er wäre (sc. wie die Körper) entweder kalt oder warm, oder er hätte ein Werkzeug wie das Wahrnehmungsvermögen (429 a 22-26). Es ist richtig zu sagen, die Seele sei der Ort der Formen („τὴν ψυχὴν εἶναι τόπον εἰδῶν“), nur daß es nicht die ganze Seele ist, sondern die Geistseele („ἡ νοητική“), und nicht in der Erfüllung („ἐντελεχείᾳ“), sondern der Möglichkeit nach („δυνάµει“) ist sie die Formen (429 a 27-29). Das Wahrnehmungsvermögen besteht nicht ohne den Körper, der Geist dagegen ist von ihm getrennt (429 b 4-5). – In dem kurzen fünften Kapitel (430 a 10-25) spricht Aristoteles von dem Geist, der abgetrennt (sc. vom Körper), leidensunfähig und unvermischt (sc. mit der Materie) ist. Der unsterbliche und immer seiende Geist ist seinem Wesen nach Betätigung („τῇ οὐσίᾳ ὢν ἐνέργεια“), der vollkommene, göttliche Geist denkt also (anders als der menschliche Geist) immer aktual (vgl. Mph. XII). – Hier verbessert Plotin Aristoteles (der die Seele als Entelechie des Körpers bezeichnet) sozusagen durch Aristoteles selbst (der in De anima III das Wesen des Nous der Seele bestimmt, der dem göttlichen Geist wesensähnlich ist und ihn bzw. seine Tätigkeit unvollkommen nachahmt). Es drängt sich ein Vergleich mit der Wesensähnlichkeit von Vernunftseele und Ideen gemäß der neuplatonischen Konzeption auf, denn für Plotin ist auch das nicht inkarnierte Logistikon, d.h. das wahre Selbst des Menschen, abgetrennt, leidensunfähig und unvermischt sowie unsterblich, von der Art des Geistes, göttlich und immer seiend. (5.) kann sinnlich Wahrgenommenes auch dann noch in der Seele gegenwärtig sein, wenn die Objekte der Sinneswahrnehmung selbst entfernt sind (nämlich als Erinnerungsgegenstände); dies setzt nicht (im Sinne der Stoiker) materielle Abdrücke in einer stofflichen Seele voraus (s.o.), sondern eine unkörperliche und körperunabhängige Repräsentation; die Wahrnehmungsseele ist daher nicht Entelechie wie etwas, das nicht von den Körpern getrennt werden kann (vgl. 85, 19-23). Die Seele kann Eindrücke haben und bewahren, auch wenn kein Körper dabei ist.

100 Wäre die Seele vom Körper grundlegend abhängig und durch sein Wesen bestimmt, so könnte sich (6.) ihr Verlangen nicht auf Immaterielles, dem, wodurch sie beherrscht wird, Entgegengesetztes, richten (85, 23-25). Es gäbe dann also allein körperliche, keine auf Geistiges gerichteten Strebungen, was augenscheinlich eine kontrafaktische Behauptung wäre. Die Seele einer Pflanze kann sich vollständig in einen Teil, etwa die Wurzel, zurückziehen (wenn der Rest der Pflanze zugrunde geht) und ist also – nach dem (7.) Argument Plotins – nicht als unabtrennbare Entelechie in dem ganzen Pflanzenkörper anwesend und auf diesen in seiner Gesamtheit und auf jeden einzelnen Teil angewiesen; anders als eine Statue wächst ein lebendiger (individuell beseelter) Körper und verändert so sichtbar seine Gestalt; die Seele ist in dem anfangs sehr kleinen Körper ebenso vollständig gegenwärtig und wirksam wie in dem später viel größeren (85, 25-35). Der (8.) Einwand macht geltend, daß eine vom Körper abhängige (und den ihn betreffenden Veränderungen folgende) Seele wie dieser teilbar wäre; die notwendige Teillosigkeit oder Unteilbarkeit der Seele gehört aber zu den gesicherten Ergebnissen der bisherigen Untersuchung (85, 35-36). Dieselbe Seele verbindet sich (9.) nacheinander mit verschiedenen Körpern, sie belebt verschiedene Lebewesen; dies könnte sie als Entelechie im aristotelischen Sinne nicht, weil sie als solche an einen bestimmten Körper gebunden wäre und sich nicht später auch mit einem andersartigen Körper mit anderer Gestalt verbinden könnte (denn als Entelechie hätte sie nicht das Vermögen, die Materie bald so, bald wieder anders zu formen); die Seele ginge mit dem ersten Körper zugrunde; im Hintergrund dieses Arguments kann zum einen die Seelenwanderungslehre stehen, zum anderen spielt Plotin wohl auf die Metamorphose der Tiere und der Pflanzen an (vgl. 85, 36-39). Mehrere dieser Argumente beziehen sich sehr deutlich auf Schwierigkeiten, auf die schon Aristoteles selbst hingewiesen hat.364 Offensichtlich aufgrund solcher Schwierigkeiten, die der EntelechieLehre anhaften, hat Aristoteles seine Auffassung vom Wesen der Seele, wie oben angemerkt, noch in derselben Schrift teilweise modifiziert (und sich damit, wie Plotin wohl gesehen hat, platonischen Vorstellungen ein Stück weit genähert). – Die verschiedenen Wesenszüge und Funktionen, die Plotin der Seele zugeschrieben hat (und die teilweise auch der Stagirite nicht leugnet) – sie wirkt an jeder Stelle des Körpers als ganze, ist der Träger eines mehr oder weniger deutlichen Bewußtseins, kann zu körperlichen Begierden in Opposition treten, hat Gedanken, die sich auf Unkörperliches richten, erinnert sich an nicht mehr körperlich Gegenwärtiges, hat auf Immaterielles bezogene, vernünftige Strebungen, ist teillos und kann nacheinander Körper von unterschiedlicher Gestalt beleben – diese Wesenszüge und Funktionen der Seele widerlegen sämtlich die ἐντελέχεια-Theorie, wie Plotin sie verstanden hat.

364

Vgl. É. Bréhier, op. cit., S. 184.

101 3. Die Unsterblichkeit der Seele

§ 19: Plotins Unsterblichkeitsbeweis. Einleitung

Die Ergebnisse der bisherigen Untersuchung werden nun zusammengefaßt und ergänzt (85, 40-50): (a) Die Seele hat ihr Sein nicht dadurch, daß sie die Form von etwas ist. (b) Sie erhält ihr Sein auch nicht dadurch, daß sie in irgendeiner Weise auf den Körper gegründet ist. (c) Der Körper kann die Seele nicht erzeugen. (d) Die Seele ist weder Körper noch eine Affektion des Körpers. – Positiv ist festzuhalten: (a) Die Seele ist Wesenheit (οὐσία), d.h. sie existiert selbständig für sich (und ist insofern Ousia im Sinne der ersten Kategorie des Aristoteles). (b) Sie ist schon, bevor sie diesem bestimmten Lebewesen angehört365, folglich auch unabhängig von der Verbindung mit seinen übrigen Konstituenten. (c) Die Seele ist Handeln („πρᾶξις“) und Hervorbringen („ποίησις“) – oder genauer: Sie ist das Prinzip freier Handlungen und selbsttätigen Hervorbringens, eine schöpferische Kraft; viele Vermögen sind in ihr und stammen aus ihr. (d) Sie ist eine von den Körpern getrennte Wesenheit, sie ist auf seiende Weise Seiendheit (ὄντως οὐσία), d.h. sie ist weder entstanden noch vergänglich, sondern immer seiend. Sie gehört nicht dem Bereich zwischen dem vollkommen Seienden und dem schlechterdings Nichtseienden an, also den Körpern, die werden und vergehen, sondern der immer und wahrhaft seienden Wirklichkeit.366 Sie ist dem eidetischen Sein ähnlicher als dem materiellen und gehört jenem ursprünglich zu.367 Das Körperliche wird nur durch seine Teilhabe an dem, was im strengen Sinne ist, im Sein erhalten, soweit es daran teilhaben kann. Die Wesensähnlichkeit von Seele und Idee, die Plotin am Beginn des zehnten Kapitels unmißverständlich ausspricht (10, 1-2; s.a. 10, 18-19), zeigt sich in den Ausführungen des neunten Kapitels auch daran, daß nicht an allen Stellen leicht zu erkennen ist, welche der beiden Wesenheiten jeweils gemeint ist. Der zwei Hypostasen in sich schließende Mundus intelligibilis wird als Ganzheit aufgefaßt, seine Einheit steht im Vordergrund.368 Die Weltseele erhält das Weltall im Sein und bewahrt seine Ordnung; dies ist aber nur unter der Voraussetzung möglich, daß sie unentstanden und unvergänglich ist, denn ginge sie zugrunde, so verginge notwendigerweise und irreversibel auch die gesamte von ihr abhängende Welt der Erscheinungen (9, 2-5).

365

Zur Präexistenz der Seele vgl. den zweiten Unsterblichkeitsbeweis in Platons Phaidon; dazu unten; s.a. IV 7, 12, 8-

11. 366

85, 48-49 zitiert Plotin aus dem Timaios: 28 a 3-4. Den Zusammenhang bildet dort die Charakterisierung der Sinnenwelt einerseits und der Ideenwelt andererseits. 367 Vgl. zu einer ausführlicheren Darstellung unten die Kapitel IV 7, 9 und 10. 368 In ihm befinden sich „Züge, die auf die Hypostase der Seele zutreffen, und solche des Nus in enger Verbindung neben einander“ (Th.A. Szlezák, Platon und Aristoteles in der Nuslehre Plotins, S. 170).

102 Um nach der Unkörperlichkeit nun auch die Unvergänglichkeit der Seelen – der Weltseele, der Gestirnsseelen und der menschlichen Einzelseelen, aber auch der Tier- und Pflanzenseelen – zu beweisen, verwendet und systematisiert Plotin Gedanken und Argumente aus mehreren platonischen Dialogen. Platon hat wiederholt versucht, die Unsterblichkeit der Seele zu demonstrieren, und zwar im Phaidon369, im Phaidros370 sowie im zehnten Buch der Politeia371. Die Mehrzahl von Beweisen hat verschiedene Gründe: Sie kann andeuten, daß Platon zumindest einen Teil der Argumente nicht für gänzlich überzeugend hielt, etwa weil die Prämissen unklar oder ihre Gültigkeit fraglich geblieben waren. Sodann ist der Adressatenbezug zu berücksichtigen: Wieviel Platon von seiner Lehre enthüllt, ist immer davon abhängig, wer seine (bzw. des Sokrates) Gesprächspartner im Dialog sind und ob er sich schriftlich – in allgemein zugänglichen Büchern, deren Verbreitung er nicht kontrollieren kann – oder mündlich – vor einem überschaubaren Zuhörerkreis in der Akademie – äußert.372 Es wird sich zeigen, daß Platon auch im vierten Unsterblichkeitsargument im Phaidon Entscheidendes nur andeutet. Auch wird sich ergeben, daß die Beweise zum Teil einander ergänzen. – Zudem scheint Platon bezüglich der Frage, ob nur die vernünftigen oder alle Seelen unsterblich sind, zu schwanken: Während er im Phaidros anscheinend die Unsterblichkeit aller Seelen behauptet373, weist er gerade dies im Timaios ausdrücklich zurück: Nur die vernünftigen Seelen sind unsterblich374. Ob es sich hierbei wirklich um einen Widerspruch handelt, wird im Zusammenhang mit dem Bewegungsbeweis im Phaidros geklärt werden. – Plotin unternimmt es nun seinerseits, einen auf sicheren Prämissen beruhenden, in sich schlüssigen und daher überzeugenden Beweis für die Unsterblichkeit einer jeden Seele zu führen. Die Beweise für die Unsterblichkeit der Seele aus dem Phaidon375, der an das vierte Argument anknüpfende Beweis des Phaidros und das andersartige Argument aus Politeia X stehen bei Plotins 369

70 c 4 – 72 d 10; 72 e 1 – 77 b 1 (vgl. Men. 80 d 5 – 86 c 6); 78 b 4 – 84 b 7; 102 a 11 – 107 b 10. – Vgl. hierzu den Kommentar von C.J. Rowe, Plato. Phaedo, S. 154 ff.; K. Bormann, Platon, S. 96-130; R. Hackforth, Plato’s Phaedo, bes. S. 58 ff.; D. Frede, Platons >PhaidonPhaidonArete bei Platon und AristotelesPhaidonPhaidonRepubblica< VII, 534 B 3 – D 2, Milano 1989). - ders., ἘΠΕΚΕΙΝΑ ΤΗΣ ΟΥΣΙΑΣ. Zu Platon, Politeia 509 B, in: AGPh 51 (1969), 1-30. - ders., Neues zum Streit um Platons Prinzipientheorie, in: Philosophische Rundschau 27 (1980), 138. - ders., Zum neuen Platon-Bild, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 55 (1981), 1-18. - ders., Neue Literatur zum neuen Platonbild, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 14 (1989), 59-81. - ders., Zur aktuellen Diskussion um den Philosophiebegriff Platons, in: Perspektiven der Philosophie 16 (1990), 1-20. - ders., Altes und neues Platonbild, in: Methexis 6 (1993), 95-114. - ders., Das neue Platonbild, in: ZphF 48 (1994), 1-20. - ders., Die Idee der Einheit in Platons „Timaios“, in: Perspektiven der Philosophie 22 (1996), 287304. - ders., Zu neuen Büchern über Platon, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 22 (1997), 49-68. - Kullmann, W., Platons Schriftkritik, in: Hermes 119 (1991), 1-21. - Manuwald, B., Platon. Protagoras. Übers. und Komm., Göttingen 1999 (Werke. 6, 2). - Merki, H., Von der platonischen Angleichung an Gott zur Gottähnlichkeit bei Gregor von Nyssa, Diss. Freiburg (Schweiz) 1952 (Beigabe zum 113. Jahresbericht der Stiftsschule Einsiedeln im Studienjahr 1951/52). - Merlan, Ph., Religion and Philosophy from Plato’s Phaedo to the Chaldean Oracles, in: JHPh 1 (1963), 163-176. - Moreau, J., L’âme du monde de Platon aux Stoiciens, Hildesheim 1965. - O’ Brien, D., Immortal and necessary being in Plato and Plotinus, in: The Perennial Tradition of Neoplatonism, ed. J.J. Cleary, Leuven 1997, 39-103. - Oehler, K., Die Lehre vom noetischen und dianoetischen Denken bei Platon und Aristoteles. Ein Beitrag zur Erforschung der Geschichte des Bewusstseinsproblems in der Antike, München und Hamburg 1962, 21985 (Zetemata 29). - ders., Die neue Situation der Platonforschung. Krämers Wiederentdeckung der Philosophie Platons in >Arete bei Platon und Aristoteles