Die Natur des Schlechten bei Proklos: Eine Platoninterpretation und ihre Rezeption durch Dionysios Areopagites 9783110212310, 9783110212303

This book is the first systematic study of Neo-Platonist philosopher Proclus’ theory of the bad. Examining Proclus’ over

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Die Natur des Schlechten bei Proklos: Eine Platoninterpretation und ihre Rezeption durch Dionysios Areopagites
 9783110212310, 9783110212303

Table of contents :
Frontmatter
Inhaltsverzeichnis
A. Einleitung
B. Das Verhältnis von Schlechtem und Materie
C. Proklos’ Behandlung des Problems des Schlechten
D. Die Bestimmung der ethischen Schlechtigkeit bei Platon und Proklos: Willen und Unwissenheit, Selbstbestimmung und Determination
E. Die Rezeption des Proklos durch Dionysios Areopagites
F. Abschließende Beobachtungen
Backmatter

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Nestor Chr. Kavvadas Die Natur des Schlechten bei Proklos



Quellen und Studien zur Philosophie Herausgegeben von Jens Halfwassen, Dominik Perler, Michael Quante

Band 93

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Die Natur des Schlechten bei Proklos Eine Platoninterpretation und ihre Rezeption durch Dionysios Areopagites von

Nestor Chr. Kavvadas

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-021230-3 ISSN 0344-8142 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen

̕ΘΓϿΖȱ·ΓΑΉϧΖȱΐΓΙ,ȱ̙ΕϛΗΘΓȱ̍΅ΆΆ΅ΈκȱΎ΅Ϡȱ̓΅Α΅·΍ЏΘ΅ȱ̓ΓϾΔ΋ȱ

Danksagungȱ Dieses Buch ist die geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 2007 von der Fakultät für Philosophie und Geschichte der Eberhard-Karls Universität Tübingen angenommen wurde. An erster Stelle möchte ich meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Thomas Alexander Szlezák für die langwierige Betreuung dieser von ihm angeregten Arbeit danken; Ihm habe ich darüber hinaus zu verdanken, dass mir durch die jahrelange Teilnahme an seinen Seminaren und Kolloquien ein vorher ungeahnter Zugang zum Platonismus erschlossen und das genaue Interpretieren antiker Texte erstmals bekannt gemacht wurde. Großer Dank gebührt den Herren Prof. Dr. Bernd-Jochen Hilberath, Prof. Dr. Hans-Reinhard Seeliger und PD Dr. Dr. Bernhard Nitsche, die mir vor allem während der letzten Phase der Arbeit an dieser Dissertation unschätzbar geholfen haben. Meinen Eltern, ohne deren ständige Unterstützung diese Arbeit – neben vielen anderen Dingen – nicht zustande gekommen wäre, ist das Buch gewidmet; ein vom Herzen ausgesprochener Dank geht außerdem an Chrysanthi Poupi, Tasoula Kavvada, Ourania Kavvada und Giorgos Poupis. Bedanken möchte ich mich ebenso bei Marius Gnauk, Dr. Benjamin Gleede und Florian Jäckel, die die sprachliche Gestalt der Arbeit mit zeitaufwendigen Bearbeitungen verbessert haben, sowie bei Marcus Schaaf, der die mühevolle Aufgabe der Formatierung des Buches übernahm; ferner, bei den Herren Prof. Dr. Georg Wieland, Prof. Dr. Johannes Brachtendorf und Prof. Dr. Friedrich Hermanni für ihre Bereitschaft, die weiteren Gutachten zu erstellen, und bei Dr. Konstantinos Garitsis und Dr. Vasileios Tsakiris. Für den großzügigen Druckkostenzuschuß bin ich der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften zu Dank verpflichtet. Schließlich danke ich den Herren Prof. Dr. Jens Halfwassen, Prof. Dr. Dominik Perler und Prof. Dr. Michael Quante für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe „Quellen und Studien zur Philosophie“.

Inhaltsverzeichnis A. Einleitung ........................................................................................................1 1. Vorstellung des Themas .................................................................................1 1.1. Der Text ...........................................................................................1 1.2. Zum Aufbau der Schrift ................................................................2 2. Zum Stand der Forschung ..............................................................................3 2.1. Die Schrift De malorum subsistentia als Quelle der areopagitischen Theorie des Schlechten.............................................3 2.2. Die Schrift De malorum subsistentia als Kritik der plotinischen Theorie des Schlechten...................................................5 2.3. Die Schrift De malorum subsistentia als eigenständiger Gegenstand der Forschung...................................................................8 3. Ziel der Arbeit ................................................................................................ 14 B. Das Verhältnis von Schlechtem und Materie .................................... 17 1. Der Materiebegriff Plotins ........................................................................... 17 1.1. Die geistige Materie ..................................................................... 18 1.1.1. Die Notwendigkeit der geistigen Materie............... 19 1.1.2. Die Entstehung der geistigen Materie .................... 19 1.1.3. Die Bezeichnungen der geistigen Materie.............. 20 1.2. Die Materie der Sinnendinge...................................................... 21 1.2.1. Die Notwendigkeit des Vorhandenseins der Materie der Sinnendinge...................................................... 21 1.2.2. Die Erzeugung der Materie der Sinnendinge ........ 22 1.2.3. Die Materie und die Entstehung der Sinnendinge ........................................................................... 23 1.3. Die Merkmale der Materie der Sinnendinge und die Univozität des Materiebegriffs .......................................................... 24 2. Der Materiebegriff bei Proklos.................................................................... 26 2.1. Die Stellung der Materie in der ontologischen Hierarchie von Proklos....................................................................... 26 2.2. Die Notwendigkeit der Existenz von Materie ........................ 27 2.3. Die Entstehung der Materie....................................................... 27 2.3.1. Das Problem der zeitlichen Präexistenz der Materie vor der Schöpfung ................................................. 28

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Inhaltsverzeichnis

2.3.2. Ist die ewige Materie auch ontologisch unerzeugt?.............................................................................. 29 2.3.3. Die Erzeugung der Materie aus dem Einen und der ersten Unbegrenztheit........................................... 30 2.4. Materie und Werden.................................................................... 33 2.4.1. Die Unterscheidung dreier Bedeutungen von Materie.................................................................................... 33 2.4.2. Die Materie als Notwendigkeit (ΦΑΣ·Ύ΋) und Aufnahmeort (ЀΔΓΈΓΛχ) der Entstehung der Sinnendinge ........................................................................... 34 2.4.3. Die Formung und die Beseelung der Sinnenwelt.............................................................................. 36 2.5. Die ontologische Abstufung zwischen der Materie und der ersten Unbegrenztheit.................................................................. 37 2.6. Bezeichnungen der Materie........................................................ 37 2.7. Aristotelische Elemente im Materiebegriff.............................. 38 2.8. Der Materiebegriff und seine Beziehung zum Schlechten bei Proklos und Plotin........................................................................ 39 3. Die Identifikation der Materie mit dem Schlechten-an-sich durch Plotin und der Versuch einer Widerlegung dieser Identifikation durch Proklos...................................................................................................... 41 3.1. Die These und die Argumentation der Schrift „ΔΉΕϠȱΘΓІȱ ΘϟΑ΅ȱΎ΅ϠȱΔϱΌΉΑȱΘΤȱΎ΅ΎΣ“................................................................... 41 3.1.1. Die Möglichkeit einer Erkenntnis des Schlechten.............................................................................. 42 3.1.2. Die Verortung des Schlechten im Wahrnehmbaren und seine Identifikation mit der Materie.................................................................................... 43 3.1.3. Das Problem des „Wesens“ des Schlechten.......... 44 3.1.4. Die Notwendigkeit des Schlechten ......................... 44 3.2. Proklos’ Antwort auf die These Plotins (De malorum subsistentia 30-37) .................................................................................. 45 3.2.1. Vorstellung der Stellungnahme Plotins .................. 45 3.2.2. Das ontologisch-monistische Argument gegen die Identifikation der Materie mit dem ersten Schlechten (31, 5-18)............................................................ 46 3.2.2.1. Überprüfung der Gültigkeit des Arguments............................................................... 49 Exkurs: Die Art des Gegensatzes zwischen Gutem und Schlechtem ........................................ 50

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3.2.3. Das kosmologische Argument gegen die Identifizierung von Materie und erstem Schlechten ....... 55 3.2.4. Das exegetische Argument ....................................... 56 C. Proklos’ Behandlung des Problems des Schlechten ........................ 59 1. Die Auffassung der Gegensätzlichkeit zwischen Gutem und Schlechtem und die Natur des Schlechten..................................................... 59 1.1. Der Gegensatz von Gutem und Schlechtem als Gegensatz zwischen einzelnen Gütern und Übeln........................ 59 1.2. Die Notwendigkeit der Existenz eines Gegenteils des Guten..................................................................................................... 60 1.3. Unterscheidung von zwei Weisen der Beraubung.................. 60 1.4. Die Nichtexistenz eines An-sich-Schlechten als Prinzip aller Übel............................................................................................... 62 1.5. Die Natur des Schlechten........................................................... 62 1.5.1. Der Ort des Schlechten in der ontologischen Hierarchie............................................................................... 64 1.6. Das Schlechte als ЀΔΉΑ΅ΑΘϟΓΑ des Guten .............................. 67 1.7. Die Weise des Gegensatzes zwischen dem Guten und dem Schlechten bei Plotin ................................................................. 71 1.7.1. Die Notwendigkeit der Existenz eines Gegenteils des Guten........................................................... 73 2. Zum Verständnis der Verursachung der verschiedenen Übel .............. 74 2.1. Die Nichtexistenz einer einzigen Ursache der Übel ............. 75 2.2. Ablehnung der Verortung der Ursache der Übel unter den drei ersten Hypostasen................................................................ 77 2.3. Die Verursachung der Übel ....................................................... 78 2.4. Die Existenzweise der Übel ...................................................... 81 3. Die Übel der menschlichen Seele................................................................ 83 3.1. Die Manifestationsweise der Übel in der Menschenseele .... 83 3.2. Die Ursache der Übel in der Seele ........................................... 85 3.2.1. Selbstmächtigkeit (΅ЁΘΉΒΓϾΗ΍ΓΑ) und Unwissenheit bei der schlechten Wahl der Seele............. 86 3.2.2. Die Struktur der Wahl ............................................... 87 3.3. Die Übel der Seele im Denken Plotins.................................... 94 4. Die Vorsehung und die Existenz der Übel................................................ 98 4.1. Die Einordnung der Übel im Allgemeinen in die durch die Vorsehung geordnete Welt.......................................................... 99 4.2 Die Providenz und die Übel bei Körpern und Einzelseelen........................................................................................ 100 5. Zusammenfassende Bemerkungen ........................................................... 103

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Inhaltsverzeichnis

D. Die Bestimmung der ethischen Schlechtigkeit bei Platon

und Proklos: Willen und Unwissenheit, Selbstbestimmung und Determination ................................................................................................ 107 1. Platons These zum Verhältnis von Wille und Wissen im schlechten Handeln.......................................................................................... 108 1.1. Der Wille bei Platon .................................................................. 108 1.2. Die Unfreiwilligkeit des Unrechttuns und die Stellung Platons zum Problem der Unbeherrschtheit (ΦΎΕ΅Ηϟ΅)............. 109 1.2.1. Das Problem der Unbeherrschtheit...................... 111 1.2.2. Protagoras: Die Tugend als Messkunst und die Schlechtigkeit als Unwissenheit........................................ 112 1.2.3. Die Geschichte des Leontios ................................. 113 1.2.4. Wird im IV. Buch der Politeia der „Intellektualismus“ des Protagoras verlassen?............... 115 1.2.5. Die Wissenschaft des Guten und des Schlechten und die Möglichkeit der Unbeherrschtheit ................................................................ 117 2. Die Kritik des Aristoteles an der sokratisch-platonischen Behandlung der Unbeherrschtheit ................................................................ 118 2.1. Wissen und Freiheit von Zwang als Voraussetzungen des οΎΓϾΗ΍ΓΑ in der Nikomachischen Ethik................................. 119 2.2. Die Unbezwingbarkeit des Wissens (πΔ΍ΗΘφΐ΋) als Prämisse des Satzes „Niemand ist freiwillig schlecht“: Kritik des Aristoteles.................................................................................... 121 3. Selbstbestimmung und Determinierung in der Aneignung der Dialektik............................................................................................................. 123 3.1. Determinationsfaktoren: Die schlechte körperliche Verfassung als Ursache von seelischen Krankheiten .................. 125 3.1.1. Die Reaktionsmöglichkeiten des Menschen: Selbsterziehung zum Guten.............................................. 126 3.2. Die philosophische ΚϾΗ΍Ζȱund der Einfluss der sozialen Umwelt................................................................................................ 128 3.2.1. Merkmale der philosophischen Natur .................. 129 3.2.2. Das Aufwachsen einer philosophischen Natur im „schlechten“ Staat Athen............................................. 130 3.2.3. Der determinierende Einfluss der schlechten Erziehung auf die wachsende philosophische Natur.... 131 3.2.4. Die „Hilfe Gottes“ als Brechung der Determinierung................................................................... 133

Inhaltsverzeichnis

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3.2.5. Die philosophische Natur und die Aneignung der Dialektik ........................................................................ 135 4. Proklos’ Interpretation der „Wahl eines Lebens“ im Er-Mythos – Selbstbestimmung und Determination......................................................... 137 4.1. Argumente für die Wirklichkeit der Selbstmächtigkeit........ 139 4.2. Selbstmächtigkeit und Umläufe des Alls................................ 141 4.3. Selbstmächtigkeit und Gewohnheit ........................................ 143 4.4. Selbstmächtigkeit und Determination nach der Wahl der Seele..................................................................................................... 144 4.4.1. Dämon und ΘϾΛ΋ ..................................................... 145 4.4.2. Die Art der Notwendigkeit des Lebens nach der Wahl............................................................................... 147 5. Die schlechte Handlung bei Platon und Proklos.................................... 148 E. Die Rezeption des Proklos durch Dionysios Areopagites ..........153 1. Zum Charakter der Rezeption...................................................................153 2. Die Lehre des Areopagites vom Schlechten vor dem Hintergrund des Traktats De malorum subsistentia ................................................................155 2.1. Die Fragestellung: die Schlechtigkeit der Dämonen als Anlass der Frage nach der Existenz des Schlechten....................155 2.2. Leugnung der Existenz des Schlechten.................................157 2.3. Das Schlechte als parasitäre Usurpation der Kraft des Guten (Δ΅ΕΙΔϱΗΘ΅Η΍Ζ) und als unvollkommen Gutes ..............158 2.4. Der Ort des Schlechten in der ontologischen Hierarchie und die Ursachen der Übel ..............................................................159 2.5. Beobachtungen zur Tendenz der Rezeption der proklischen Vorlage durch Dionysios............................................161 3. Zur Entfaltung der Position von der Nicht-Existenz des Schlechten im Widerspruch zu Proklos........................................................161 3.1. Die Argumentation des Dionysios gegen die Notwendigkeit des Schlechten als Vergehen (ΚΌΓΕΣ)................161 3.2. Die Argumentation des Dionysios gegen die proklische Einordnung der Übel ins Seiende...................................................164 3.2.1. Dionysios und Proklos zur Vermischung des Schlechten mit dem Guten ...............................................164 3.2.2. Dionysios und Proklos zu den Ursachen des Schlechten............................................................................168 3.3. Doppeldeutigkeit des Ύ΅ΎϲΑȱbei Dionysios und Rolle der ontologischen Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf ............................................................................................169

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3.4. Die areopagitische Unterscheidung zwischen Sein und Geschichte in Bezug auf das Problem des Schlechten................170 4. Die Position des Dionysios: Das Schlechte als Abwendung vom Guten bei den Dämonen und den Menschen .............................................172 4.1. Die Struktur der Abwendung vom Guten.............................174 5. Rückblick: Die Bestimmung des Schlechten bei Proklos und Dionysios...........................................................................................................177 F. Abschließende Beobachtungen ............................................................181 Appendix ..........................................................................................................185 John Phillips, Order from Disorder: Proclus’ Doctrine of Evil and its Roots in Ancient Platonism............................................................................185 Literaturverzeichnis ......................................................................................189 Quellen...............................................................................................................189 Verwendete Sekundärliteratur........................................................................190 Register...............................................................................................................203

A. Einleitung 1. Vorstellung des Themas Der Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die Theorie des Proklos über das Schlechte, die im Traktat „ΔΉΕϠȱ ΘϛΖȱ ΘЗΑȱ Ύ΅ΎЗΑȱ ЀΔΓΗΘΣΗΉΝΖ“ (De malorum subsistentia) systematisch ausgeführt wird. Die Gedanken des Proklos zu diesem Thema weisen wichtige Eigentümlichkeiten im Vergleich zu der neuplatonischen Tradition auf, zumal der Traktat zum Teil (Kap. 30-37) der Widerlegung der These Plotins, wie sie die Schrift I.8 „ΔΉΕϠȱΘΓІȱΘϟΑ΅ȱΎ΅ϠȱΔϱΌΉΑȱΘΤȱΎ΅ΎΣ“ formuliert, gewidmet ist und auch die sonstige positive Darstellung der eigenen Thesen des Autors sehr oft in unausgesprochener Auseinandersetzung mit den jeweils entsprechenden Thesen Plotins erfolgt. 1.1. Der Text Die Schrift De malorum subsistentia ist nur in der von dem aus Flamen stammenden lateinischen Erzbischof von Korinth, Wilhelm von Moerbecke, im Jahr 1280 ausgearbeiteten lateinischen Übersetzung ganz erhalten. Zusammen mit den zwei anderen Opuscula (De decem dubitationibus circa providentiam, De providentia et fato et eo quod in nobis ad Theodorum Mechanicum) und dem Kommentar zum Parmenides, die ebenfalls durch Mörbecke übersetzt wurden, sowie der schon im 12. Jhd. übersetzten Elementatio Theologica, hat diese Übersetzung die unmittelbare Bekanntschaft des lateinischen Westens mit Proklos ermöglicht 1 . In ihr folgt Mörbecke seiner Übersetzungstechnik, die in einer absolut genauen, wortwörtlichen Wiedergabe des griechischen Textes besteht, und deren Ergebnis ein oft schwer verständlicher, als ungraziös bezeichneter Text ist, der aber zur Rekonstruktion des Originaltextes sehr viel beitragen kann 2 . Helmut Boese hat umfangreiche Abschnitte des Originals im von Proklos abhängigen Werk „ΔΉΕϠȱ ΘϛΖȱ ΘΓІȱ Ύ΅ΎΓІȱ ЀΔΓΗΘΣΗΉΝΖ“ des Isaakios Sebastokrator ge_____________ 1 2

Koch 1951, 23-26. Steel 1982, 43-49; Boese 1985, 15.

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A. Einleitung

funden und einen großen Teil des griechischen Textes rekonstruiert und herausgegeben 3 . Die Schrift De malorum subsistentia ist ein relativ kurzer Traktat (opusculum) über eine im neuplatonischen Denken besonders umstrittene, spezifische Frage. Die Form des opusculum verleiht Proklos eine besondere Freiheit in der Entfaltung seines Denkens über ein genau abgegrenztes, spezifisches Thema, im Unterschied zu den Kommentaren, in denen er u.a. dem Ablauf des platonischen Dialogs folgen muss 4 , sowie zu den groß angelegten systematischen Werken, wie der Theologia Platonica und der Elementatio Theologica, wo die Behandlung einer Einzelfrage an eine umfassende Struktur mit ihren eigenen Regeln angepasst und in diese einverleibt werden muss 5 . 1.2. Zum Aufbau der Schrift Die Schrift De malorum subsistentia zerfällt in vier Haupteile. In den Kapiteln 1-10 setzt sich Proklos mit der einleitenden Frage auseinander, ob es das Schlechte im Bereich des Seienden überhaupt gibt, indem er die wichtigsten Argumente für und gegen diese Annahme aufführt und bespricht. In den Kapiteln 11-29 wird die Frage behandelt, in welchen Stufen der ontologischen Hierarchie das Schlechte vorhanden sein kann; so werden die verschiedenen Seinsstufen in Bezug auf diese Frage nacheinander untersucht: Die Götter, die Engel, die Dämonen, die Heroen, die menschlichen Teilseelen, die Seelen der Tiere, die Natur als Ganzes und die einzelnen Naturdinge. Dieselbe Frage wird in Bezug auf die Materie in den anschließenden Kapiteln 30-37 gestellt, in Auseinandersetzung, wie gesagt, mit der einschlägigen Position Plotins; anschließend wird die zusammenhängende Frage behandelt, ob das Schlechte mit der Privation zu identifizieren ist (Kap. 38-39). Im vierten Teil des Traktats entfaltet der Autor die eigene Position zum Problem des Schlechten (Kap. 40-61). Als erstes wird das grundlegende Problem der Verursachung des Schlechten untersucht (Kap. 40-49), anschließend die Existenzweise des Schlechten (50), seine „Natur“ (51) und seine Bestimmung als Gegenteil und Beraubung des Guten (52-54). In den Kapiteln 55-57 werden die verschiedenen Formen des Schlechten in den Seelen und in den Körpern unterschieden. Schließlich wird die Frage nach der Möglichkeit einer Vereinbarung des Vorhan_____________ 3 4 5

Boese 1960, XXVIIf. Zu den Verpflichtungen, die der Kommentar als literarische Gattung impliziert s. Romano 1985. S. Opsomer-Steel 2003, 1-2.

2. Zum Stand der Forschung

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denseins des Schlechten mit der Lenkung des Alls durch die Providenz untersucht (58-61). Da die zwei ersten Hauptteile eher einleitend zur Thematik sind, während der Schwerpunkt der Abhandlung in der Widerlegung der plotinischen und in der Aufstellung der eigenen These liegt, werden in der vorliegenden Arbeit diese beiden letzten Hauptteile kommentierend analysiert, wobei die Ausführungen der beiden ersten Teile stets zum besseren Verständnis der zu interpretierenden Texte herangezogen werden. So wird im zweiten Teil dieser Arbeit – nach einer einleitenden Übersicht über die bisherige Forschung – der Versuch des Proklos, die plotinische These zu widerlegen, behandelt, während im dritten Teil die positive Stellungnahme des Proklos zum Problem des Schlechten ausgeführt wird. Im vierten Teil wird die proklische Theorie des ethisch Schlechten, die sich selbst als Interpretation der einschlägigen Position Platons versteht, mit dieser verglichen. Im fünften Teil wird die folgenreiche Rezeption des Traktats De malorum subsistentia durch Dionysios Areopagites thematisiert.

2. Zum Stand der Forschung 2.1. Die Schrift De malorum subsistentia als Quelle der areopagitischen Theorie des Schlechten Die Lehre des Proklos vom Schlechten hat vor allem seit der Aufdeckung der Abhängigkeit der zweiten Hälfte des 4. Buches der areopagitischen Schrift De divinis nominibus vom Traktat De malorum subsistentia das Interesse einiger Forscher geweckt. Diese Entdeckung haben H. Koch und J. Stiglmayr zur gleichen Zeit unabhängig voneinander gemacht 6 . Während Koch sich im Wesentlichen auf die Vorstellung der Beweise seiner Entdeckung und auf eine knappe Charakteristik der Arbeitsmethode des Dionysios beschränkt, vergleicht Stiglmayr in seinem langen, ausgearbeiteten Aufsatz detailliert die areopagitischen Ausführungen mit ihrer Vorlage und bietet so eine Darstellung derjenigen Gedankengänge des Proklos, die von Dionysios übernommen worden sind. Diese Entdeckung hat das wissenschaftliche Interesse für den Traktat des Proklos, der damals nur in lateinischer Übersetzung zugänglich war, entscheidend gefördert: Jetzt wusste man, dass die areopagitische Lehre vom Schlechten, die im griechischsprachigen Osten sowie im lateinischen Westen einen maßgeblichen Einfluss auf die Theologie und Philosophie des Schlechten ausübte, diese _____________ 6

S. Stiglmayr 1895; Koch 1895. Es muss allerdings gesagt werden, dass schon Engelhardt 1823, I, 271 auf dieses Abhängigkeitsverhältnis hinweist.

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A. Einleitung

Lehre, die von namhaften Vertretern beider Traditionen kommentiert und weiterentwickelt wurde, in ihren Grundzügen ein Werk des Proklos gewesen sei. In seiner Untersuchung Dionysios. Proklos. Plotinos (ƍüller 1918) hat H.F. Müller versucht, die inhaltliche Abhängigkeit beider Autoren von Plotin zu unterstreichen. Indem er diese „philosophische“ Abhängigkeit in den Mittelpunkt rückt, versucht er die literarische Abhängigkeit des Dionysios von Proklos sozusagen als eine Weiterleitung plotinischen Gedankenguts darzustellen. 7 Es ist der Arbeit Müllers gelungen, mehrere textliche Parallelen sowie ähnliche oder gemeinsame Gedankengänge vor allem zwischen Proklos und Plotin, aber auch direkt zwischen Dionysios und Plotin 8 , aufzufinden. Dabei hat Müller jedoch m.E. die Originalität – oder zumindest die inhaltlichen Unterschiede – des Traktats De malorum subsistentia verkannt 9 . Die weitgehende philosophische „Abhängigkeit“ des Proklos von Plotin lässt sich in allen grundlegenden Bereichen seines Denkens feststellen und ist Proklos, der sich als Glied einer von Plotin initiierten Tradition der treuen Platonexegese verstanden hat, wohl bewusst gewesen. Eine inhaltliche Affinität zwischen beiden Philosophen ist in De malorum subsistentia aus dem zusätzlichen Grund zu erwarten, dass der Traktat u.a. die Absicht hat, Plotins in der Schrift I.8 formulierte These zum Problem des Schlechten zu widerlegen. So muss Proklos, da es sich um eine Polemik innerhalb derselben philosophischen Schule handelt, nicht nur die zu widerlegende Position wiedergeben, sondern sich mit ihr sozusagen systemimmanent auseinandersetzen, d.h. ihre Gedankengänge kritisch nachvollziehen. Unter diesen Umständen würde m.E. ein Fokus eher auf die Differenzen zwischen beiden Autoren die Beziehungen zwischen ihren Thesen zum thematisierten Problem beleuchten. Die wissenschaftlichen Diskussionen, welche die Aufsätze von Stiglmayr und Koch entfacht hatten, haben sich vielleicht allzu lang um die Frage gedreht, ob eine literarische Abhängigkeit wirklich besteht; angesichts der umfangreichen textlichen Parallelen lässt sich dies nur als Konsequenz der „ideologischen“ Belastung des Themas nachvollziehen 10 . _____________ 7 8 9

Müller 1918, 21-36. Ebd., 58-61. Nach Müller habe Proklos auch in seiner Lehre vom Schlechten „aus Plotinos geschöpft und kaum einen Gedanken ausgesprochen, der sich nicht bei jenem findet“ (ebd., 21). 10 Für Literaturhinweise zu dieser Diskussion s. Schäfer 2002, 380-382 und 399-403. Noch wird die literarische Abhängigkeit des Dionysios von Proklos von L. Siasos bestritten, der aber den umstrittenen Abschnitt aus der Schrift De div. nom. nicht mit dem Traktat De mal. sub., sondern mit dem einschlägigen Kapitel der Theol. Plat. vergleicht, also mit einem Text, der als Vorlage des in Rede stehenden Ab-

2. Zum Stand der Forschung

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Eleuterio Elorduy hat in seinen Arbeiten versucht, das Abhängigkeitsverhältnis durch eine Identifizierung des Dionysios mit dem Lehrer Plotins Ammonios Sakkas umzukehren 11 . Seine These hat in der Forschung, soweit ich sehen kann, keinen Anklang gefunden 12 : Die wichtigsten Gegenargumente sind die Terminologie und die Ausdrucksweise des Dionysios, die die philosophischen Entwicklungen von Plotin bis Proklos eher voraussetzen, sowie der Mangel auch nur eines einzigen historischen Zeugnisses von der Existenz der areopagitischen Schriften vor dem Jahr 532. Eine wichtige Leistung des Buches von Elorduy besteht aber in der umfangreichen Sammlung von Parallelen zur Schrift De malorum subsistentia aus vielen Werken der platonischen Tradition, die zum besseren Verständnis des proklischen Textes sehr hilfreich ist 13 . Trotz der Unvertretbarkeit seiner Hauptthese hat Elorduy immerhin die interessante Frage nach der Möglichkeit einer Beeinflussung der späteren neuplatonischen Theorien des Schlechten durch die – freilich ihrerseits vom Platonismus zutiefst geprägte – damals schon vorherrschende christliche Theologie des Schlechten gestellt, eine Frage, die m.E. nicht ausreichend erforscht worden ist. E. Corsini widerlegt schließlich die These von Elorduy ausdrücklich und schlägt die Schrift des Salloustios De diis et mundo (XII, 1-6) als gemeinsame Quelle der zwei Autoren – neben der direkten Abhängigkeit des Dionysios von Proklos – vor 14 . Auf das Abhängigkeitsverhältnis bezieht sich darüber hinaus der Aufsatz von C. Steel „Proclus et Denys: De l’ existence du mal“ 15 . 2.2. Die Schrift De malorum subsistentia als Kritik der plotinischen Theorie des Schlechten Bis zu den 60er Jahren ist, soweit ich sehen kann, die Lehre des Proklos vom Schlechten vor allem durch Schröder als bedeutsame kritische Besprechung der Position Plotins gewürdigt worden. Das Werk von Schröder, gekennzeichnet durch außerordentliche Textkenntnis und Breite, _____________

11 12 13 14 15

schnittes nie in Frage kam (s. ̕΍ΣΗΓΖ 1984, 129-146). Denselben wenig ergiebigen Vergleich – allerdings diesmal nicht mit dem Ziel, die These von Koch-Stiglmayr zu bestreiten – unternimmt Chr. Terezis (̖ΉΕνΊ΋Ζ 1997). S. Elorduy 1959, 30-36. S. z.B. Corsini 1962, 25-27. Ebd., 50-202. S. Corsini 1962, 12-35. Steel 1997.

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A. Einleitung

bietet über die im Mittelpunkt stehende Kommentierung der Enneade I.8 hinaus einen geschichtlichen Überblick der Problematik des Schlechten in der antiken Philosophie bis zu Plotin samt ihrer weiteren Entfaltung im späteren Neuplatonismus, namentlich vor allem bei Porphyrios, Iamblichos, Salloustios, Proklos und Simplikios. In Schröders’ knappem Umriss des Traktats De malorum subsistentia konzentriert sich die Aufmerksamkeit des Autors auf die Widerlegung der plotinischen Identifikation der Materie als des Prinzips des Schlechten; Schröder betrachtet diese Widerlegung als im Grunde stichhaltig 16 . Der Autor hat auch die Quellen bzw. die Einflüsse in der proklischen Theorie des Schlechten aufgespürt, ohne allerdings in seiner auf Plotin konzentrierten Forschung diesen Bezügen im Einzelnen nachzugehen. So hat er die spätere Forschung wesentlich inspiriert: Auf ihn geht offensichtlich die von F.-P. Hager und dann vor allem von G. Bechtle entfaltete Zurückführung der Kernpositionen des Proklos zu diesem Thema auf Iamblichos zurück 17 , wie auch die durch Corsini entwickelte Beobachtung, dass Proklos manche von Iamblichos abweichenden Positionen des Salloustios teilt 18 , so wie die Einschätzung, dass Proklos sich in der Widerlegung der plotinischen These aristotelischer Gedanken bedient hat, die dann von C. Steel und J. Opsomer weiter verfolgt wurde 19 . F.-P. Hager untersucht in seinem Aufsatz „Die Materie und das Böse im antiken Platonismus“ die proklische Schrift vor allem als Gegenposition zur These Plotins 20 . Für Hager ist die plotinische Identifizierung der Materie als Prinzips des Schlechten die treueste Interpretation der Lehre Platons zu diesem Thema in der ganzen platonischen Tradition. Hager bietet eine Darstellung der Entwicklung der Problematik des Verhältnisses von Schlechtem und Materie von Platon bis Simplikios, wobei er die von Schröder zusammengestellte Textgrundlage wesentlich erweitert und u.a. die Verbindung zwischen den Einwänden des Iamblichos gegen die plotinische Lehre einerseits und dem Traktat De malorum subsistentia andererseits ausführlicher aufarbeitet 21 . Seine Analyse zum Hauptargument des Proklos wird weiter unten im Kapitel B (S. 52-54) naher untersucht. D. O’Meara geht in seinem Aufsatz „Das Böse bei Plotin“, wie auch in seinem Kommentar zur Enneade I.8, auf das Hauptargument der Schrift De malorum subsistentia des Proklos gegen die plotinische Position ausführ_____________ 16 17 18 19 20 21

Schröder 1916, 195-205. Ebd., 192-193; 197. Ebd., 194f., bes. 194, Anm. 1. S. 205. S. Hager 1962, 94-103. Ebd., 93-94.

2. Zum Stand der Forschung

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lich ein 22 . Seiner Meinung nach ist dieses Argument – unter Ausnahme einer nach dem Autor schwachen Schlussfolgerung, deren Ablehnung aber das Endergebnis des Argumentes nicht aufhebt 23 – stichhaltig, d.h. es bringt die auch von vielen seiner modernen Interpreten wahrgenommene Hauptschwierigkeit der plotinischen Position auf den Punkt, nämlich die Unmöglichkeit der Annahme, dass die Materie als Endglied einer aus dem Guten hervorgehenden Ableitungslinie das Schlechte selbst und Prinzip des Schlechten sein kann, ohne dass dabei das Gute dafür verantwortlich gemacht werde. Auf diesen Gedanken O’Mearas bezieht sich der Aufsatz „Proklus’ Argument aus De malorum subsistentia 31, 5-21 in der modernen Interpretation“ von C. Schäfer, der zeigen will, dass die Widerlegung des Proklos die plotinische Argumentation eigentlich nicht trifft 24 . In seinem Aufsatz „Proclus vs Plotinus on Matter (De mal. subs. 30-7)“ analysiert auch J. Opsomer die Argumente des Proklos gegen die plotinische Position. Im Anschluss an D. O’Meara und D. O’Brien konstatiert J. Opsomer, dass das ontologische Argument des Proklos eine gewisse Inkonsistenz in der plotinischen Metaphysik aufzeigt 25 . Er unterstreicht, dass das unterschiedliche Urteil über die Natur des Schlechten mit einem Unterschied zwischen beiden Philosophen in der Auffassung der Gesetze der Emanation zusammenhängt. Während für Plotin die Produktion der Materie von der unteren Seele eine Ausnahme darstellt, wo einige Gesetze wie die Anähnlichung des Produktes an seiner Ursache ausfallen, schreibt Proklos die Produktion der Materie dem Einen zu und unterstellt sie den allgemeinen Gesetzen der ontologischen Ableitung 26 . Aufgrund des erwähnten Ausnahmecharakters der Erzeugung der Materie kann Plotin diese mit der „übeltätigen“ (Ύ΅ΎΓΔΓ΍ϲΖ) Beraubung identifizieren. Proklos lehnt diese Identifizierung ab; wie Opsomer zeigt, verwendet er dabei in modifizierter Form Argumente, die der Widerlegung der platonischen Identifizierung von Materie und Beraubung durch Aristoteles entnommen sind 27 . Die gesamte proklische Auffassung der Materie als eines notwendigen, zur Form komplementären Aspektes des Seins führt Opsomer mit D. O’ Meara auf eine „eher aristotelische Timaios-Lektüre“ zurück 28 .

_____________ 22 23 24 25 26 27 28

S. O’ Meara 1997, 37-39 und 43-45; O’ Meara 1999, 30-39. S. ebd., 45. S. Schäfer 1999. Für eine Besprechung der Argumente beider Autoren s. w.u., 49-52. S. Opsomer 2001, 166-173. Ebd., 176-178. Ebd., 162-164. Ebd., 179ff.

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A. Einleitung

2.3. Die Schrift De malorum subsistentia als eigenständiger Gegenstand der Forschung In Abschnitten seiner Aufsätze „Philosophische Marginalien zu ProklosTexten“, „Die Entfaltung der Einheit – Zur Differenz plotinischen und proklischen Denkens“ und „Pronoia und Freiheit in der Philosophie des Proklos“ betrachtet Werner Beierwaltes die Theorie des Proklos über das Schlechte für sich, als eine in sich bedeutsame philosophische Leistung, ohne dabei den Rückbezug dieser Lehre auf die entsprechende Theorie Plotins zu übersehen. Er widmet den dritten der vier Abschnitte seines Aufsatzes „Philosophische Marginalien zu Proklos-Texten“ den damals durch H. Boese neu edierten Tria Opuscula, deren Bedeutsamkeit vornehmlich darin liege, dass sie „die Einheit der Problematik von Vorsehung, Geschick, Freiheit und Übel sichtbar machen“ 29 . Ziel seiner Ausführung ist, „das allen drei Schriften bestimmende Grundthema zu skizzieren“ 30 . Erstens stellt Beierwaltes in Anlehnung an die Schrift De dec. dub. den Ort der Vorsehung im proklischen System, sowie ihre Wirkung auf das Seiende vor: Die Vorsehung wird als „das Erscheinen (σΐΚ΅Η΍Ζ) der Sein setzenden und Sein bewahrenden Macht des Einen in allem Seienden“ 31 beschrieben. Das „Eine der Vorsehung“ 32 sei weder mit der Einheit der Materie, noch mit dem Einen selbst identisch, da es im Unterschied zum Letzteren allumfassend ist. Im Einen selbst gründend, „selbst aller Vielfalt enthoben zeugt“ das Eine der Vorsehung „doch alles und hat ‚auf Grund der Einung die Eine unbeschreibliche und von Nichts fassbare Mächtigkeit’” 33 . Das einheit- und seinsetzende Wirken der Vorsehung „kann auch als Bestimmung oder Ausgrenzung und damit als Gestaltung des Seienden gefasst werden“ 34 . In einem zweiten Schritt wendet sich W. Beierwaltes dem Traktat De malorum subsistentia zu und stellt die Frage nach der Vereinbarkeit der so beschriebenen Wirkmächtigkeit der Vorsehung mit der Ausübung der menschlichen Freiheit sowie mit dem Vorhandensein von Übel 35 . _____________ 29 30 31 32 33

Beierwaltes 1962, 68. Ebd. Ebd., 69. Ebd., 68. Ebd., 68-69, vgl. De dec. dub. 10, 20f.: „·ΉΑΑЗΑȱΈξȱϵΐΝΖȱΔΣΑΘ΅ȱΎ΅ΘΤȱΘχΑȱρΑΝΗ΍Αȱ ΘχΑȱΐϟ΅ΑȱσΛΉ΍ȱΈϾΑ΅ΐ΍ΑȱΦΔΉΕϟ·Ε΅ΚΓΑȱΎ΅ϠȱΦΔΉΕϟΏ΋ΔΘΓΑȱΘΓϧΖȱΔκΗ΍Α“. 34 Ebd., 69. 35 Diese Ausführungen (s. 72-74) sind in einer weiterentwickelten Version im Aufsatz „Pronoia und Freiheit in der Philosophie des Proklos“ einbezogen und werden so weiter unten besprochen.

2. Zum Stand der Forschung

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Die beiden damit gegebenen Aspekte des Problems des Schlechten, den ontologisch-kosmologischen einerseits und den ethischen andererseits, bearbeitet Beierwaltes weiter in den Aufsätzen „Die Entfaltung der Einheit – Zur Differenz plotinischen und proklischen Denkens“ und „Pronoia und Freiheit in der Philosophie des Proklos“ respektive. Im ersten Aufsatz behandelt Beierwaltes den proklischen Ansatz als Widerlegung Plotins. Beierwaltes sieht ein, dass „der Hauptgrund dafür, dass Proklos Materie und Ύ΅ΎϲΑ nicht identifiziert, demnach ein onto-theologischer ist: Wenn auch die Materie dem höchsten göttlichen Prinzip entspringt, dieses jedoch nicht für etwas Schlechtes verantwortlich gemacht werden darf (ΌΉϲΖȱΦΑ΅ϟΘ΍ΓΖ), dann kann die Materie zumindest nichts an und für sich Schlechtes sein“ 36 . Zurecht bemerkt Beierwaltes, dass das Hauptargument des Proklos gegen die plotinische Identifizierung der Materie als Prinzips des Schlechten die philosophische Intention Plotins nicht trifft, da bei Plotin der absolute Vorrang des Einen den Dualismus im Voraus ausschließt. Hier könnte man vielleicht ergänzen, dass Proklos zwar Plotin nicht als Dualist bekämpfen, aber auf der gemeinsamen Basis des Monismus an einem Punkt „korrigieren“ will, wo Letzterer seine monistische Intention nicht konsequent durchführt. Deswegen lässt sich ja fragen, „ob es nicht durchaus sinnvoll erscheinen kann, dass Proklos einen „Dualismus“ mit solcher Intensität vermeiden will (mag ihn Plotin nur durch die Sprache nahegelegt, de facto aber vermieden haben, da ςΑȱ [Φ·΅ΌϲΑ] und Ύ΅ΎϲΑ nicht gleichrangig sein können) und dass er Materie nicht als den Sitz des Bösen anzunehmen bereit ist“ 37 . Für Proklos besteht allerdings die dualistische Abweichung nicht nur in der Sprache Plotins, auch nicht in seiner Intention, die gerade bei der Widerlegung als monistisch vorausgesetzt wird: Er ist der Ansicht, dass Plotin angesichts dieser – jedem Monismus widerstrebenden – großen Schwierigkeit des Denkens in eine fundamentale Inkonsistenz geraten ist. Beierwaltes sieht deutlich, dass die Position des Proklos eine Konzentration der Verantwortung für das ethische Übel auf die Menschenseele zur Konsequenz hat, im Vergleich zu Plotin, der diese Verantwortung zwar bewahrt und ausarbeitet, aber durch seine Identifizierung der Materie als Prinzips des Schlechten sozusagen vermindert. 38 Das Problem des ethischen Übels im Zusammenhang eines durch die Vorsehung geordneten ΎϱΗΐΓΖ einerseits und der Freiheit bzw. Selbstmächtigkeit der Teilseele andererseits wird im Aufsatz „Pronoia und Freiheit _____________ 36 Beierwaltes 1973, 159f. 37 Ebd., 160, Fn. 2. 38 Es könnte dennoch gesagt werden, dass W. Beierwaltes die Bedeutsamkeit des Unterschiedes im Rahmen der Kosmo-Ontologie selbst einigermaßen unterschätzt. Zu dieser Bedeutung s. Lloyd 1990, 107-119.

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A. Einleitung

in der Philosophie des Proklos“ erörtert. Diese knappe Besprechung des Problems stellt, obschon sie sich auf einen skizzenhaften Überblick des Zusammenhanges beschränkt, einen bedeutenden ersten Zugang zu diesem in der bisherigen Literatur wenig berücksichtigten, für Proklos selbst aber offensichtlich sehr bedeutsamen Problemkomplex, dar. Gegenüber dem menschlichen ethischen Handeln (bzw. mit diesem verflochten) steht die Ήϡΐ΅ΕΐνΑ΋ (Geschick) als Wirkungsweise der Vorsehung im Wahrnehmbaren: „Weil Geschick zu dem gehört, was außerhalb der Seele ist und mit Notwendigkeit sich vollzieht, steht es nicht in unserer Macht. Nur aufgrund unserer inneren Freiheit, d.h. durch die Möglichkeit der Selbstbestimmung unserer ethischen Handlungen in der ΜΙΛχȱΑΓΉΕΤ sind wir nicht total in es verflochten“ 39 . In diesem Zusammenhang von Geschick und Selbstmächtigkeit ist der Mensch als „intelligibles, d.h. durch Nus bestimmtes Selbst“ 40 frei. Beierwaltes fasst unter dem Begriff Freiheit sowohl das allgemeine Vermögen „zu relativer Selbstbestimmung und damit auch zur Selbstverantwortlichkeit“, wie auch „den positiven Aspekt dieses Vermögens: die Entscheidung für das, was sein soll, das Φ·΅ΌϱΑ“ 41 . Für ihn ist Freiheit „positiv bestimmt, aber auch begrenzt durch das, was in unserer Macht steht (ΘϲȱπΚ’ȱψΐϧΑ)“ 42 . Letzteres ist erstens rein innerlich, da nur diese Innerlichkeit der Macht des Geschicks entzogen ist, und zweitens spontan und selbstursprünglich. Eine innere ethische Handlung, die in unserer Macht steht, entspringt also einer freiwilligen Entscheidung zu Gut oder Böse, „wenn auch letzteres immer nur als ein für den Handelnden vermeintlich Gutes intendiert wird“ 43 . Beierwaltes versucht auf die daraus entstehende Frage, ob nicht die Selbstmächtigkeit einer Entscheidung zum Schlechten durch Zurückführen dieser auf die Unkenntnis 44 aufgehoben wird, zu antworten, indem er den „Begriff der freien Entscheidung (ΔΕΓ΅ϟΕΉΗ΍Ζ)“ 45 als zentral für die proklische Freiheitsauffassung bezeichnet und erörtert. Die Prohairesis führt als potentia rationalis appetitiva bonorum verorumque et apparentium die Seele in beide Richtungen: Das Schlechte wird nie als solches, sondern als scheinbar Gutes gewählt. „Voraussetzung für das Glücken einer ethisch guten _____________ 39 40 41 42 43 44

Beierwaltes 1977, 101/2. Ebd., 105. Ebd. Ebd. Ebd. Weil die Tugend in einem bestimmten Wissen besteht, wobei Tugend und Wissen als Pole eines dynamischen Ineinanderseins außerhalb desselben undenkbar sind, ist die Entscheidung zum Guten die einzige wissende und somit freie, im wahren Sinne selbstursprüngliche Entscheidung. Die Entscheidung zum Schlechten ist als Folge einer bestimmten Unwissenheit nicht wahrhaftig selbstursprünglich. 45 Beierwaltes 1977, 106.

2. Zum Stand der Forschung

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Handlung ist der adäquate, rationale Gebrauch der Kriterien (ΎΕ΍ΘφΕ΍΅), die die Seele von Gott her empfangen hat. Für beide Möglichkeiten des Gebrauchs der Kriterien aber – zum Guten oder Bösen hin – liegt Entscheidung und Verantwortung beim Wählenden selbst: ψΐκΖȱ΅ЁΘΓϿΖȱ΅ϢΘ΍κΗΌ΅΍ȱΔΕΓΗϛΎΉΑ“ 46 . Die ethisch „indifferente“ Prohairesis muss dann der wahrhaftigen, nur der herrenlosen Tugend (ΦΈνΗΔΓΘΓΖȱ ΦΕΉΘφ) zugeordneten Freiheit gegenübergestellt werden: Letztere kann theologisch als „freies den Göttern dienen“ 47 oder metaphysisch als das Leben des Menschen, der durch die „abstrahierende Reduktion des Denkens in sich selbst“ 48 sich „aus den Fesseln des Kontingenten“ 49 befreit hat, umschrieben werden. Wichtige Schritte zu einem näheren Verständnis des Verhältnisses von Vorsehung, Geschick und Freiheit nimmt D. Cürsgen in seiner detaillierten Darstellung der proklischen Interpretation zum Er-Mythos vor, welche er im Rahmen seiner Gegenüberstellung von platonischer und proklischer Auffassung des Mythischen betrachtet. Hier sei vor allem die Beschreibung der Entscheidung der menschlichen Teilseele als ihrerseits indirekter Akt der Vorsehung erwähnt, dem dann kraft des Geschicks eine notwendige Folgenkette zukommt. 50 Wichtig ist auch die Einsicht Cürsgens in die Bedeutung von Stärke und Schwäche der menschlichen Teilseele: Während alle Wesen, die keine Entscheidungen treffen, eine vorgegebene Stärke besitzen, obliegt es der Entscheidungsfreiheit der Teilseele selbst, ihre „ontologische Stärke“ zu verwirklichen; so kann sie auch den eigenen ontologischen Status preisgeben. 51 Die kommentierte deutsche Übersetzung des Werkes De malorum subsistentia von M. Erler bietet sowohl in der knappen Einleitung wie auch im Kommentar meist nur punktuell Beiträge zum besseren Verständnis des Textes. Der Kommentar besteht vornehmlich aus Stellen aus der antiken platonischen Tradition, die entweder inhaltlich verwandt mit dem jeweiligen Textabschnitt oder hilfreich für das Verständnis desselben sind. So wird die Basis von Vergleichstexten etwa gegenüber Elorduy deutlich erweitert; dennoch ist ein beträchtlicher Teil dieser Stellen nicht wirklich relevant. 52 In vielerlei Hinsicht weiterführend für die Interpretation von De malorum subsistentia sind die Beiträge von C. Steel und J. Opsomer. In ih_____________ 46 47 48 49 50 51 52

Ebd. Ebd., 107. Ebd., 108. Ebd., 107. Cürsgen 2002, 312-313 und 362. Ebd., 310ff. Vgl. Baltes 1982, Sp. 171f.

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A. Einleitung

rem gemeinsamen Aufsatz „Evil without a cause: Proclus’ doctrine on the origin of evil, and its antecedents in hellenistic philosophy“, wird in einem ersten Teil die Theorie des Proklos über die Ursachen des Schlechten innerhalb der diesbezüglichen Diskussion in der Stoa, im mittleren Platonismus und zu Beginn des neuplatonischen Denkens bei Plotin genauer verortet. Das Problem der Vereinbarkeit von Wirkung der Providenz mit dem Vorhandensein des natürlichen Übels bzw. mit der menschlichen Freiheit und der ihr innewohnenden Möglichkeit des ethisch Schlechten haben die Stoiker danach mit der Ablehnung der Existenz natürlichen Übels im eigentlichen Sinn einerseits, und mit der Verortung des Schlechten im Bereich der relativ freien – d.h. zumindest nicht direkt von der Providenz abhängigen – Entschließungsmöglichkeit des Menschen andererseits lösen wollen, während manche Mittelplatoniker wie Numenius mit der Annahme eines zweiten schlechten Prinzips, namentlich der Materie/Unbestimmten Zweiheit, antworteten. Plotin habe zwar die Materie als Prinzip des Schlechten bezeichnet, aber durch die Unterordnung der Materie als letztes Produkt des Hervorganges aus dem Einen dieselbe nicht als zweites Prinzip gelten lassen. 53 Vor diesem Zusammenhang wird die einschlägige proklische Theorie als Versuch einer Lösung des erwähnten Problems dargestellt: Die These des Proklos von einer unbestimmten Vielheit der „Ursachen“ der vielen einzelnen Übel hängt mit seiner Intention zusammen, den Übeln keine selbständige bzw. eigentliche, sondern nur eine abhängige, parasitäre Nebenexistenz (Δ΅ΕΙΔϱΗΘ΅Η΍Ζ) zuzuschreiben. In überzeugender Weise wird gezeigt, dass die Grundlage der „uneigentlichen Verursachung“ der Parhypostasis bei Proklos die Unterscheidung des Aristoteles zwischen Verursachung per se und Verursachung per accidens ist 54 und dass der Gedanke einer „uneigentlichen Ursache“ direkt oder indirekt vom 24. Kapitel der Schrift De anima mantissa beeinflusst worden ist. 55 Nachdem Opsomer-Steel die proklische Zurückführung der Möglichkeit des Schlechten auf die Notwendigkeit der Produktion von Seinsstufen, die an den Ideen nicht ewig und unveränderlich teilnehmen können, vorgestellt und als Voraussetzung seines Versuchs, die Ableitung aller _____________ 53 Opsomer-Steel 1997, 231-243. 54 S. ebd., 251. 55 Opsomer-Steel 1997, 253-255. Es ließe sich hinzufügen, dass die von Opsomer selbst zitierte Bezeichnung der ΘϾΛ΋ als ΦΑ΅ϟΘ΍ΓΖȱ΅ϢΘϟ΅ durch Syrianos besonders nah an der Bezeichnung der Ursachen der Übel durch Proklos als „causisque et non causis entibus“ (De mal. sub. 50, 1-2) steht, was eher für eine indirekte, eben durch Syrianos vermittelte Beeinflussung spricht.

2. Zum Stand der Forschung

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Dinge von der Providenz mit dem Vorhandensein des Übels zu vereinbaren, dargestellt haben, stellen sie fest: „If divine providence ultimately produces and orders and knows evil insofar as it is good or made good (not insofar as it is evil, for that is outside its responsibility), than it seems that the Stoics hold the last word in this debate…Within the framework of this all-comprehensive theodicy, the Neoplatonic attempts to attribute more reality to evil simply seems to evaporate“ 56 . In seinem Aufsatz „Proclus on the existence of evil“ versucht C. Steel, nachdem er die proklische Theorie des Schlechten vor allem aufgrund von De malorum subsistentia skizziert hat, die Vertretbarkeit dieser Theorie innerhalb der heutigen philosophischen Diskussion darzulegen. Steel will zeigen, dass die sowohl in der neuzeitlichen Philosophie wie auch unter den Neuplatonismus-Forschern vorherrschende Abwertung der privatioboni Theorie zu einem respektlosen rationalistisch-optimistischen Versuch, die schreckliche Wirkmächtigkeit des Schlechten „wegzuerklären“, die Position des Proklos nicht trifft: Im Gegenteil wird bei Proklos das Schlechte dadurch, dass es ausschließlich als eine Perversion des Guten betrachtet und ihm keine positive Substantialität zugemessen wird, nicht als eine statisch vorhandene Wirklichkeit, sondern in seiner Dynamik als ein zu bekämpfendes Schlecht-Werden konzipiert. 57 Die englische Übersetzung des De malorum subsistentia durch J. Opsomer und C. Steel ist die erste moderne Übersetzung des Werkes, die den Anforderungen einer wissenschaftlichen Übersetzung gerecht wird: Die terminologischen Unterscheidungen des Proklos werden beachtet (die verschiedenen griechisch-lateinischen Termini werden stets durch dieselben verschiedenen englischen Wörter wiedergegeben), die mehreren schwierigen Stellen der lateinischen Übersetzung werden oft sehr überzeugend entschlüsselt. Problematisch jedoch scheint mir die Einschätzung des durch H. Boese teilweise wiederhergestellten griechischen Originals als „a rather hybrid reconstruction, intended solely as a means towards a better understanding of the Latin“ 58 . Ein einfacher Vergleich dieser wiederhergestellten Textpartien mit den entsprechenden Passagen der moerbeckeschen Übersetzung lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass sich das verlorene Original bei Isaakios tatsächlich über weite Passagen greifen läßt: Der _____________ 56 Opsomer-Steel 1997, 260. Die Bedeutsamkeit des direkten oder indirekten Einflusses der Stoiker auf Proklos in diesem Themenbereich würde noch deutlicher zu Tage treten, wenn seine Aussagen von der Nicht-Existenz natürlichen Übels im eigentliche Sinne aus seinem Politeia-Kommentar sowie die zentrale Rolle des πΚ’ȱ ψΐϧΑȱ bei der Behandlung des ethisch Schlechten im Kommentar zum ErMythos mit berücksichtigt würden. 57 Steel 1999, 102. 58 Opsomer-Steel 2003, 46.

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A. Einleitung

griechische Texte entspricht wortwörtlich dem gegenüberstehenden Text der lateinischen Übersetzung. Im ersten Teil der Einleitung mit dem Titel „The fate of the text“ geben die Autoren nach einer Diskussion über die Stelle des Textes in der chronologischen Ordnung der Werke des Proklos einen sehr informativen Überblick der abenteuerlichen Textgeschichte und eine Abwägung der Vor- und Nachteile der mörbeckschen Übersetzung (absolute Genauigkeit gegenüber einem schlechten, teilweise unverständlichen Latein). 59 In der Einleitung zu ihrer Übersetzung fügen Opsomer-Steel die in ihren früheren Aufsätzen erzielten Ergebnisse zusammen: Nach einer Vorstellung des in De malorum subsistentia zentralen Gegensatzes zwischen plotinischer und proklischer Theorie des Schlechten, die im Wesentlichen den Aufsatz Opsomers „Proclus vs Plotinus on Matter (De mal. subs. 30-7)“ zusammenfasst, wird die eigene Position des Proklos auf der Grundlage des gemeinsamen Aufsatzes der beiden Autoren „Evil without a cause“ knapp beschrieben, wobei die Verursachung der Übel im Zentrum steht. 60 Da der Inhalt dieses zentralen Teiles der Einleitung in den zwei erwähnten Aufsätzen zu finden ist, wird hier nicht näher darauf eingegangen. Dazu kommt eine Zusammenfassung der Kapitel des Traktats De malorum subsistentia und eine Darstellung der Prinzipien ihrer Übersetzung. 61 In den Fussnoten zur Einleitung und zur Übersetzung werden nicht nur in den erwähnten Aufsätzen enthaltene Informationen bzw. Deutungen aufgenommen, sondern bei der Erklärung von einigen Stellen auch Neues geleistet. 62

3. Ziel der Arbeit Die vorliegende Arbeit hat in ihrem Hauptteil den Traktat De malorum subsistentia zum Thema. Im zweiten Teil wird versucht, die Theorie des _____________ 59 Ebd., 1-10. 60 Ebd., 15-31. Folgende interessante Beobachtung in Bezug auf das Verhältnis von naturhaftem und seelischem Übel lässt sich jedoch im erwähnten Aufsatz nicht finden: „It is important to notice that Proclus never attempts to connect those two levels causally: neither is matter responsible for the vices of the souls, nor do the souls produce the evil that inheres in material bodies“ (ebd., 22). 61 Ebd., 32-47. 62 So z.B. im Fall der detaillierten Zurückführung der proklischen Bestimmung des Schlechten in De mal. sub. 51 auf eine Negation der Seinsbestimmungen auf allen Seinsstufen (ebd., 127-128, Anm. 356) oder der wertvollen Hinweise zur chronologischen Reihenfolge mancher in anderen Werken des Proklos verstreuten Analysen des Schlechten (ebd., 48, Anm. 10).

3. Ziel der Arbeit

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Proklos vom ethisch Schlechten mit den entsprechenden Positionen Platons ansatzweise zu vergleichen, da diese Theorie sich als Platoninterpretation versteht. Im dritten abschließenden Teil wird die Rezeption der in Rede stehenden Theorie durch Dionysios Areopagites thematisiert. Während die vorgestellten bisherigen Forschungen entweder die Form von Artikeln zu einzelnen Aspekten der proklischen Theorie des Schlechten bzw. zu wichtigen Abschnitten der Schrift De malorum subsistentia, oder von vorstellenden Einleitungen und knappen Kommentaren zu Einzelproblemen des Textes haben, will diese Arbeit auf der Basis des ganzen Traktats und unter Berücksichtigung der relevanten Abschnitte im Gesamtwerk des Proklos, eine zusammenhängende Analyse der proklischen Theorie des Schlechten bieten. Der Schwerpunkt wird, anders als im größten Teil der Forschung, weitgehend auf dem ethischen Aspekt der proklischen Theorie des Schlechten liegen; der Politeia-Kommentar des Proklos, der primär der Ethik gewidmet ist, wird berücksichtigt, gleichsam als Anwendung der in De malorum subsistentia formulierten Theorie, so dass die Probleme und Tendenzen derselben – vor allem die Neigung zur Beschränkung des im eigentlichen Sinne Schlechten auf den ethischen Bereich – auf einem breiteren Anwendungsfeld beobachtet und neue Ergebnisse gewonnen werden können. Ferner soll in dieser Arbeit die wenig behandelte Frage nach dem Verhältnis der proklischen Theorie des ethisch Schlechten zu derjenigen Platons diskutiert werden. Die mehrmals erörterte Rezeption der Schrift De malorum subsistentia durch Dionysios Areopagites wird hier unter einem neuen Blickwinkel untersucht werden: Der Vergleich mit der Vorlage hat nicht das Ziel, die – längst bewiesene – literarische und inhaltliche Abhängigkeit erneut zu diskutieren, sondern unter Voraussetzung der Abhängigkeit die bedeutendsten Divergenzpunkte zwischen den beiden Texten zu bestimmen und zu interpretieren, so dass durch die Unterstreichung des eigenen Charakters des Denkens des Dionysios die m.E. wirklich wichtigen Entlehnungen deutlicher hervortreten.

B. Das Verhältnis von Schlechtem und Materie 1. Der Materiebegriff Plotins Plotin erarbeitet seinen Materiebegriff, indem er sich die platonische und die aristotelische Materietheorie aneignet und sie in einer einheitlichen Struktur artikuliert. Im ersten Satz seiner Schrift „die beiden Materien“ definiert er die Materie „als eine Art ‚Unterlage’ und als ‚Aufnahmeort’ für die Formen“ 1 und spannt somit ihre grundlegende aristotelische Bestimmung mit der platonischen zusammen. 2 Indem er den Aufnahmeort (ЀΔΓΈΓΛχ) der Formen im Timaios mit der Materie identifiziert, übernimmt er hier – wie auch Proklos – die Interpretation des Aristoteles, 3 der diesem Begriff als erster einen konkreten ontologischen Inhalt gegeben hat. Bei Platon hat das Wort ЂΏ΋ nur die vorphilosophische Bedeutung von Nutzholz als Material für die Herstellung von Artefakten. 4 Wie die Definition, so sind auch die Strukturelemente des plotinischen Materiebegriffs das Produkt einer Zusammenspannung oder Modifizierung von platonischen und aristotelischen Elementen. _____________ 1 2

3

4

Plot. II.4.1,1. Siehe Arist. Phys., 192a31; Plat. Tim., 49a6; 51a5. Plotin glaubt, dass diese beiden Bestimmungen von der ganzen philosophischen Tradition akzeptiert seien. Die verschiedenen philosophischen Strömungen unterscheiden sich, nach ihm, erst in der Auslegung, in der ausführlicheren Definition des Zugrundeliegenden und der Beschreibung der Weise, in der es die Formen aufnimmt. Siehe Plot. II.4.1, 1-2; III.6.13, 12-18; III.6.14, 29-32; III.6.19, 15-18. Aristoteles (Phys., 209b11-13) setzte voraus, dass sein Materiebegriff mit dem platonischen Begriff „Aufnahmeort“ (ЀΔΓΈΓΛφ) identisch ist, als er Platon vorwarf, dass er die Materie mit dem Raum fehlerhaft identifiziere, indem er das Aufnehmende mit der Chora identifiziert. Sein Argument beruht auf den Stellen Tim. 51a8-b1, wo gesagt wird, der Aufnahmeort sei in einem gewissen Sinn Aufnehmendes (ΐΉΘ΅Ȭ Ώ΋ΔΘ΍ΎϱΑ), und Tim. 52a8-b5, wo der Aufnahmeort mit der Chora identifiziert wird. Diese Interpretation des Aristoteles ist, vielen Forschern zufolge (Gerson 1994, 109), im Prinzip richtig: Der Inhalt seines Materiebegriffs, der sich in den Rahmen der Fragestellung der Akademie einordnen lässt (s. hierzu Happ 1971, bes. 256-273), ist in hohem Maß dem Inhalt des platonischen Aufnehmenden gleich. Varessis 1996, 100-101.

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B. Das Verhältnis von Schlechtem und Materie

Der Materiebegriff hat im Denken Plotins zwei Bedeutungen, so sehr voneinander verschieden, dass die Beschreibung ihrer Einheit in einem Begriff schwer scheint: die geistige Materie und die Materie der Sinnendinge. 1.1. Die geistige Materie Die geistige Materie ist die Unbegrenztheit als Erzeugerin des Intelligiblen (ΑΓ΋ΘϱΑ) oder das Materialprinzip in der Geburt der intelligiblen Dinge. Sie „liegt ‚den dortigen Formen’ und den ‚unkörperlichen Substanzen’ zugrunde, und dies offenbar in dem Sinn, in dem die wahrnehmbare Materie den Körpern zugrundeliegt und in sie eingegangen ist“ 5 . Nach der Vorstellung dieses Begriffs stellt Plotin die mit ihm zusammenhängenden Probleme dar: Erstens muss die geistige Materie unbestimmt und gestaltlos sein, und zweitens müssen die intelligiblen Dinge als Erzeugnisse der Formen und der geistigen Materie zusammengesetzt sein. Die Bezeichnungen „unbestimmt“ und „gestaltlos“ sind aber negativ, „den Dingen der oberen Welt, die von höchster Vollkommenheit sind“ auf den ersten Anblick unangemessen – obwohl die intelligiblen Dinge (ΑΓ΋ΘΣ) in der platonischen Tradition ein zweites Prinzip der Unbestimmtheit haben – und der Begriff vom Zusammengesetzten hängt immer mit der den intelligiblen Dingen völlig fremden Vergänglichkeit zusammen, denn das Zusammengesetzte kann immer auseinanderfallen. 6 Plotin antwortet, dass man erstens „das Unbestimmte nicht...gering achten soll“, wenn es sich der Gestaltgebung anbietet, wie die geistige Materie es tut, im Gegensatz zu derjenigen der Sinnendinge, und dass zweitens der Begriff vom Zusammengesetzten bei den intelligiblen Dingen eine andere Bedeutung als bei den Sinnendingen hat, eine Bedeutung ohne Verbindungen mit dem Werden und der Vergänglichkeit. Während nämlich bei den Sinnendingen die eine Form an die Stelle der anderen auf derselben Materie einrückt, ist bei den intelligiblen Dingen jede Form mit der Materie ewig und unveränderlich zusammengesetzt. 7

_____________ 5 6 7

Szlezák 1979, 73. Plot. II.4.2. II.4.3. In beiden Antworten Plotins, vor allem aber in der zweiten, lassen sich Unzulänglichkeiten feststellen (siehe Szlezák 1979, 74-75).

1. Der Materiebegriff Plotins

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1.1.1. Die Notwendigkeit der geistigen Materie Die Notwendigkeit der geistigen Materie beruht auf der Notwendigkeit der Vielfalt der Formen: Wenn die Formen viele sind, müssen sie ein Gemeinsames haben, so dass sie ein einheitliches Ganzes bilden, und ein der jeweiligen Form Eigenes, so dass sie sich voneinander unterscheiden. Das Eigene ist ihre „Gestalt“, und das Gemeinsame ist die Materie als ein Gestaltetes, das die unterscheidende „Gestalt“ denkbar macht. 8 Ein zweites Argument für die Notwendigkeit der geistigen Materie ist die Analogie der Sinnenwelt zur intelligiblen Welt: Wenn die sinnliche Welt aus Form und Materie zusammengesetzt ist, dann muss dasselbe auch von der transzendenten Welt gelten, da die erstere eine Nachahmung (ΐϟΐ΋ΐ΅ 9 ) der letzteren ist. 1.1.2. Die Entstehung der geistigen Materie Die geistige Materie ist erzeugt. Dies bedeutet, in diesem Fall, dass sie ein – nicht zeitliches, sondern ewiges – ontologisches Prinzip außer sich selbst hat. Dieses Erzeugtsein bedeutet nicht ein ewiges Erzeugtwerden, sondern das ewige vom Prinzip her Abgeleitet-Sein. Das Prinzip der Materie ist „die Andersheit, die immer dort [d.h. im Intelligiblen] ist“ 10 und „die erste Bewegung“ 11 , oder „die Bewegung...und die Andersheit die aus dem Ersten kommen“ 12 . Diese zwei Namen bezeichnen ein Prinzip, obwohl Plotin sie anscheinend trotz ihrer ontologischen Gleichrangigkeit voneinander unterscheidet. 13 Vielleicht bezeichnen sie die beiden Aspekte ein und desselben Prinzips: Die Andersheit bringt das Prinzip statisch oder beschreibend betrachtet, die erste Bewegung den dynamischen Charakter des Prinzips zum Ausdruck. 14 Die Andersheit und die Bewegung entspringen, als Potenz, dem Guten und manifestieren sich als unbestimmtes und nicht gestaltetes Leben. Dieses Leben wird von einer Neigung zur Rückkehr zu seiner Quelle _____________ 8 9 10 11 12

Plot. II.4.4, 1-7. II.4.4, 7-20 II.4.5, 28-29: „ψȱοΘΉΕϱΘ΋ΖȱψȱπΎΉϧȱΦΉϟ“. II.4.5, 30: „ψȱΎϟΑ΋Η΍ΖȱψȱΔΕЏΘ΋“. II.4.5, 32: „ψȱΎϟΑ΋Η΍ΖȱΎ΅ϠȱψȱοΘΉΕϱΘ΋ΖȱψȱΦΔϲȱΘΓІȱΔΕЏΘΓΙ“. Der Begriff der Andersheit kommt in den Dialogen Platons vor (siehe Tim. 57d7-58a1 u. 74a5-7, Parm. 146a3-7, Soph. 256c5-e3) und hat auch in seiner mündlichen Lehre eine bedeutsame Position inne (siehe Arist. Phys. 201b18-28; Gaiser 1968, 190f.). 13 Plot. II.4.5, 31. 14 Siehe Schwyzer 1978, Sp. 567.

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B. Das Verhältnis von Schlechtem und Materie

durchdrungen, eine Rückkehr, die seine Erhellung, seine Bestimmung und somit seine Konstituierung zur intelligiblen Welt, zur Nous-Hypostase, bewirkt. 15 Diese erste Andersheit birgt, insofern sie Anderes als das Eine ist, die Vielfältigkeit in sich, nicht aber als eine gestaltete Vielheit, sondern als Bedingung der Möglichkeit der Erzeugung von Vielheit und ist insofern „unbestimmt“. 16 Die geistige Materie ist diese Möglichkeit der Erzeugung von Vielheit, namentlich der Vielheit der Formen, die aktiviert wird, wenn die geistige Materie zum Einen zurückkehrt und sich von ihm zur intelligiblen Welt strukturieren lässt. 1.1.3. Die Bezeichnungen der geistigen Materie Die geistige Materie teilt einerseits manche negative Bestimmungen mit der Materie der Sinnendinge: Sie ist unbestimmt und gestaltlos, das Unbegrenzte, das Zugrundeliegende, die Tiefe, dunkel, ferner etwas einfaches und einziges, eine und kontinuierlich und qualitätslos. 17 Ihre unterschiedliche Stellung in der ontologischen Skala unterscheidet sie aber in entscheidenden Punkten von der Materie der Sinnendinge. Sie ist ontologisch vorangehend, sie ist immer seiend und damit zeitlich unerzeugt, folglich eine Substanz 18 , im Unterschied zu der als Nicht-Seiendes bezeichneten Materie der Sinnendinge. Die Differenz zwischen den zwei Materien ist diejenige zwischen der intelligiblen Welt und den Formen in ihr einerseits, und der Sinnenwelt und den Formen in dieser andererseits, d.h. die Differenz zwischen Urbild (oder Wahrhaftigem 19 ) und Abbild. 20 Die geistige _____________ 15 Siehe Plot. VI.7.21, 4-6 u. Hadot 1960, 133-135. 16 Siehe Rist 1962, 99-100 u. Krämer 1964, 313. 17 Plot. II.4.2, 4 (ΦϱΕ΍ΗΘoΖ,ȱ ΩΐΓΕΚΓΖ); II.4.15, 18 (ΩΔΉ΍ΕΓΑ); II.4.5, 21 (ЀΔΓΎΉϟȬ ΐΉΑΓΑ); II.4.5, 7 (ΆΣΌΓΖ); II.4.5, 13 (ΗΎΓΘΉ΍ΑϱΑ); II.4.8, 13-14 (ΥΔΏΓІΑȱΎ΅ϠȱρΑȱΘ΍); II.4.8, 1 (ΐϟ΅...Ύ΅ϠȱΗΙΑΉΛφΖ,ȱΩΔΓ΍ΓΖ). Die drei letzten Bezeichnungen werden der Materie der Sinnendinge zugeschrieben, von der im Kapitel ƊƊ.4.8 die Rede ist, lassen sich aber auch auf die geistige Materie übertragen. 18 II.4.1, 16 (ΔΕΓΘνΕ΅); II.4.5, 28 (ΦΉϟ); II.4.5, 26; II.4.5, 22 (ΓЁΗϟ΅). 19 II.4.5, 19-20. 20 Dieses Urbild-Abbild Verhältnis hat im Fall der „Unbegrenztheit“ (ΩΔΉ΍ΕΓΑ) als grundlegende Bezeichnung der Materie eine eigenartige Konsequenz: Die Unbegrenztheit als Ermangelung der Grenze oder der Bestimmung steigt die ontologische Skala hinauf oder hinab in umgekehrter Proportion zur Teilhabe am wahrhaftigen Sein, so dass die Materie der Sinnendinge als letzte Stufe das ΅ЀΘΓΣΔΉ΍Ȭ ΕΓΑ ist, während die geistige Materie an der Unbegrenztheit nur teilhat. Was also den negativen Begriff von Unbegrenztheit anbelangt, ist die Materie der Sinnendinge das Urbild und die geistige Materie das Abbild (II.4.15, 17-23).

1. Der Materiebegriff Plotins

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Materie ist göttlich und, „wenn...[sie] das sie Bestimmende in sich aufnimmt, dann hat sie selbst bestimmtes, geisthaftes Leben, die andere [sc. die Materie der Sinnendinge] aber wird zwar zu einem Bestimmten, das aber nicht selbst lebendig und geistig, sondern nur ein geformtes Totes ist“. 21 1.2. Die Materie der Sinnendinge In der ontologischen Skala Plotins hat die Materie der Sinnendinge, im Unterschied zur geistigen Materie, die letzte Stelle inne – oder befindet sich, wie bei Proklos, unterhalb und außerhalb der Skala, analog zum Einen. Die Skala entspringt dem Einen, das an ihrer Spitze oder noch darüber steht, im Vorgang der Emanation, der einem System von Regeln unterliegt. Bei der Erzeugung der jeweils niedrigeren Stufe der Hierarchie wird die Ursächlichkeit des Einen durch die zwischen dem Einen und der erzeugten Stufe stehenden Hypostasen sukzessiv vermittelt. Zwischen dem Einen und der Materie stehen, in hierarchischer Reihenfolge, der Geist und die Seele. 22 1.2.1. Die Notwendigkeit des Vorhandenseins der Materie der Sinnendinge Die Notwendigkeit des Vorhandenseins der Materie der Sinnendinge ergibt sich aus dem Prinzip des Emanationsvorgangs, dass nichts in und für sich verbleiben kann, sondern das jeweils Höhere immer ein Niedrigeres erzeugen muss, bis die Emanation die letzte Stufe der ontologischen Skala erreicht hat. Wenn man annimmt, argumentiert Plotin, dass es ein Zweites nach dem Ersten gibt, dann muss man notwendigerweise auch annehmen, dass es die Materie als allerletzten Ausschlag des Hervorgangs aus dem Einen gibt. Nach der Materie kann es nichts anderes geben, 23 da sie als qualitätslos aller produktiven Kraft entblößt ist: Wenn sie die von der Seele vermittelten Formen nicht empfangen kann, um so mehr vermag sie diese nicht zu erzeugen. Sie wird Potenz benannt in dem Sinne, dass sie nie zur Aktualität übergehen kann. Ein zweites Argument für die Notwendigkeit des Vorhandenseins der Materie ist, dass sie die unerlässliche _____________ 21 II.4.5, 15-1: „Ώ΅ΆΓІΗ΅ȱ Θϲȱ ϳΕϟΊΓΑȱ ΅ЁΘχΑȱ ΊΝχΑȱ БΕ΍ΗΐνΑ΋Αȱ Ύ΅Ϡȱ ΑΓΉΕΤΑȱ σΛΉ΍,ȱ ψȱ Έξȱ БΕ΍ΗΐνΑΓΑȱΐνΑȱΘ΍ȱ·ϟ·ΑΉΘ΅΍,ȱΓЁȱΐχΑȱΊЗΑȱΓЁΈξȱΑΓΓІΑ,ȱΦΏΏΤȱΑΉΎΕϲΑȱΎΉΎΓΗΐ΋ΐνΑΓΑ“. 22 Die Sinnenwelt ist keine Hypostase, weil sie als aus Form und Materie zusammengesetzt betrachtet wird. 23 I.8.7, 1-4.

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B. Das Verhältnis von Schlechtem und Materie

Voraussetzung für die Existenz der Gegensatzpaare ist, die ihrerseits Strukturelement der Naturwelt sind. Plotin entwickelt dieses zweite Argument im Kapitel II.4.6. Grundlegendes Phänomen in der Naturwelt ist das Vergehen oder der gegenseitige Umschlag der in Gegensatzpaaren geordneten Elemente vom einen zum anderen. Wenn wir als Axiom annehmen, dass keine Substanz ins Nicht-Seiende untergehen kann und umgekehrt kein Seiendes vom absolut Nicht-Seienden erzeugt werden kann, dann kommen wir zum Schluss, dass das Vergehen einen Übergang vom einen Element zum anderen darstellt. Gerade dieser wechselseitige Übergang zwischen entgegengesetzten Elementen setzt ein Zugrundeliegendes voraus, an dem er stattfindet, also die Materie, denn aus der Materie und den Formen werden auch die Elemente zusammengesetzt, wie alle anderen die Naturwelt ausmachenden vergänglichen zusammengesetzten Dinge. 24 Die beiden Argumente sind komplementär, denn beide manifestieren die Notwendigkeit der Erzeugung der Naturwelt 25 aus dem Einen. Die Notwendigkeit der Materie der Sinnendinge ist analog zu derjenigen der geistigen Materie und unterscheidet sich von ihr insofern die beiden Welten unterschiedlich sind: Die geistige Materie ist die Voraussetzung für die ewige und unveränderliche Existenz der vielen verschiedenen Formen, während die Materie der Sinnendinge Voraussetzung für das Werden der Sinnenwelt ist, also für die Veränderung als Übergang von einer Form zu der anderen. 1.2.2. Die Erzeugung der Materie der Sinnendinge Die Materie der Sinnendinge wird von der Seele erzeugt. In der ontologischen Hierarchie Plotins steht die Seele an der Grenzlinie zwischen dem Intelligiblen und dem Sensiblen. Diese ihre Stellung zeigt sich vor allem darin, dass sie das Sensible erzeugt, indem sie sich vom Geist abwendet. Dieses Sich-Abwenden besteht in einer Bewegung, in der die Seele sich (vom Geist weg) zu sich selbst wendet. In dieser Bewegung zu sich selbst erzeugt die Seele ihr dunkles, nicht intelligibles, irrationales und gegenüber dem Seienden weit minderwertiges „Spiegelbild“, d.h. die Materie. Die Entstehungsweise der Materie ist das sich aus ihrer Bewegung ergebende Unbestimmter-Werden der Seele. Diese Bewegung der Seele, in der sie sich selbst konstituiert, wird „ΦϱΕ΍ΗΘΓΖȱ σΚΉΗ΍Ζ“ genannt; dieser Name _____________ 24 Diese Argumente sind in hohem Grad von denjenigen des Aristoteles für die Notwendigkeit der Existenz der Natur abhängig; vgl. Arist. Phys. 190a31-191a5, Met. 1069b3-9, De Gen. et Cor. 320a2-6. 25 Die Materie wird von der Seele erzeugt, so wie die Seele vom Geist.

1. Der Materiebegriff Plotins

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bezeichnet, nach E. Varessis 26 , das Materialprinzip der Seele, das einen Rang zwischen der geistigen Materie und derjenigen der Sinnendinge innehat und die Ursächlichkeit der geistigen Materie vermittelt. Aus diesem Materialprinzip fließt also die Materie der Sinnendinge direkt hervor und nicht aus der geistigen Materie. Die unmittelbare Erzeugung der Materie der Sinnendinge von einem im Intelligiblen gesetzten Prinzip wäre problematisch. Die an der Grenzlinie situierte „ΦϱΕ΍ΗΘΓΖȱ σΚΉΗ΍Ζ“ ermöglicht diesen Übergang. 27 1.2.3. Die Materie und die Entstehung der Sinnendinge Die Materie ist, wie gesagt, das notwendige Substrat für die Entstehung der Sinnendinge. Die Entstehung wird realisiert, wenn die Seele, die bei ihrer ersten Bewegung – dem Sich-Abwenden vom Geist und der Wende zu sich selbst – nicht aufhört, im Intelligiblen oder an der Grenze zwischen Intelligiblem und Sensiblem zu stehen, 28 aufgrund der Unfähigkeit der Materie, von sich selbst zu ihr zurückzukehren, gleichsam eine zweite Wende vollzieht, diesmal zu ihrem Spiegelbild. Durch diese zweite Bewegung verleiht die Seele ihrem gestaltlosen Spiegelbild Form: Indem sie sich zu ihm wendet, prägt sie ihm die Formen auf. Im Intelligiblen stehend, vermittelt sie die Formen. Diese vermittelten Formen sind Abbilder der seienden Formen. So entstehen die wahrnehmbaren Körper, zusammengesetzt aus der gestaltlosen Materie und den Abbildern der Formen. 29 _____________ 26 S. Varessis 1996, 304-311; vgl. Halfwassen 2004, 127. 27 Die Erzeugung der geistigen Materie und derjenigen der Sinnendinge ist der Gegenstand eines Streites zwischen den Forschern. Gemäß O’Brien 1981, 113 u. 121, werden sowohl die geistige Materie wie auch diejenige der Sinnendinge im Großen und Ganzen so erzeugt, wie es oben beschrieben wurde. Schwyzer 1973 betrachtet die Beziehung zwischen den „zwei Materien“ als eine einfache Homonymie (271) und behauptet, dass die Materie der Sinnendinge kausal unerzeugt ist, d.h. Plotin einen Dualismus von zwei eigenständigen Prinzipien vertritt (275f) (als kausal unerzeugt betrachtet die Materie auch Pistorius 1952, 122, sowie Benz 1990, 110f; 165). Diese These, wie auch die Corrigans von der mehrfachen Erzeugung der Materie (1986, S.167-181), wird in meiner Meinung nach überzeugender Weise von O’Brien 1971 widerlegt. Schließlich sieht Narbonne 1993 die Frage der Erzeugung der Materie als ein Problem, das für Plotin bis zum Ende ungelöst blieb, denn die Materie ist „dieses Erzeugtes-Unerzeugtes, und dies weil die Materie der Sinnenwelt, solange sie erzeugt ist, nicht imstande wäre, die unordnungstiftende Rolle weiterhin zu spielen, deren Erfüllung Plotin...von ihr fordert“ (268). 28 Plot. III.4.1, 5-16. 29 III.9.3, 7-16.

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B. Das Verhältnis von Schlechtem und Materie

1.3. Die Merkmale der Materie der Sinnendinge und die Univozität des Materiebegriffs Die Materie der Sinnendinge teilt, wie schon erwähnt, ihre Definition als „Zugrundeliegendes“ und „Aufnahmeort“, sowie eine Reihe von Bestimmungen, mit der geistigen Materie. Darüber hinaus misst Plotin der Materie der Sinnendinge die platonischen Bezeichnungen Mutter, AllEmpfangendes, Amme, Sitz, Chora zu; ferner die negativen Bezeichnungen unkörperlich, unsichtbar, qualitätslos, unaffizierbar und unvergänglich. Er besteht nachdrücklich darauf, dass die Materie weder Größe noch Volumen hat. 30 Die negativen Bezeichnungen gelten auch für die geistige Materie. Sie hängen mit der platonischen Auffassung des wahrnehmbaren und intelligiblen Seienden als zusammengesetzt aus Materie und Form zusammen. Eine Konsequenz dieser Auffassung ist die absolute Gestalt- und Qualitätslosigkeit der Materie: Wenn sie nämlich Form mit einschlösse, dann wäre auch sie zusammengesetzt aus Form und Materie, und die erste Materie wäre diese zweite Materie usw. ad infinitum. Die Gestaltlosigkeit der Materie bedeutet, dass sie dem Erkennen unzugänglich ist, denn die Erkenntnis ist immer Erkenntnis einer Form. Dem Licht der Form steht die Finsternis der Materie gegenüber, der sich nur mit einem „unechten Gedankengang“ (ΑϱΌУȱ ΏΓ·΍ΗΐХ) angenähert werden kann, mit einem Versuch des Denkens, seinem Objekt alle seine intelligiblen oder wahrnehmbaren Eigenschaften zu entziehen, um gleichsam zur Schau der Abwesenheit jeder Bestimmung zu gelangen. Diese Schau vergleicht Plotin mit der Erfahrung dessen, der seine Augen in der absoluten Dunkelheit öffnet. 31 Als gestalt- und qualitätslos ist die Materie einfach und kontinuierlich. Die Abwesenheit von qualitativen Bestimmungen involviert die Einfachheit, denn jede positive qualitative Bestimmung wird dem Ding gleichsam angehängt und macht es somit zu einem Zusammengesetzten aus Substanz und Akzidenz. Die Einfachheit bringt die Kontinuität, nämlich die absolute Gleichförmigkeit mit sich: Jeder Teil der Materie ist allen anderen gleich. Wenn also eine Bezeichnung einem Einfachen zugeschrieben wird, dann bestimmt sie es absolut und wesensmäßig, denn es ist unmöglich, dass sie es als qualitative Bezeichnung oder per accidens bestimmen würde. Umgekehrt, wenn eine Bezeichnung einem Einfachen zugemessen _____________ 30 III.6.19,1 (ΐ΋ΘνΕ΅), vgl. Tim. 51a4; III.6.10,9 (Δ΅ΑΈΉΛνΖ), vgl. Tim. 51a7; III.6.13,12 (Θ΍ΌφΑ΋), vgl. Tim. 49a6; III.6.13,18 (ρΈΕ΅), vgl. Tim. 52b1; III.6.13,18 (ΛЏΕ΅), vgl. Tim. 52a8; II.4.8,2 (ΐχȱ ΗЗΐ΅); II.4.12,23 (ΦϱΕ΅ΘΓΑ); II.4.8,2 (ΩΔΓ΍ΓΖ); III.6.7,3 (ΦΔ΅ΌνΖ); II.5.5,34 (ΦΑЏΏΉΌΕΓƭ); III.6.16,27 (ΐν·ΉΌΓΖ); II.4.11,25-27 (Ϸ·ΎΓΖ). 31 I.8.9, 19-26.

1. Der Materiebegriff Plotins

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wird, dann wird dieses Einfache als die Bezeichnung an sich betrachtet, als Prinzip und Ursache der Bezeichnung. Wenn gesagt wird, dass die Materie unbegrenzt ist, dann ist gemeint, dass die Materie „erstlich unbegrenzt“ oder die erste Unbegrenztheit ist 32 . Die Einheit des Materiebegriffs Plotins scheint problematisch, wenn man den großen Abstand zwischen dem Rang der beiden Materien in der ontologischen Hierarchie sowie ihre unterschiedlichen ontologischen Merkmale in Betracht zieht. Die Vermittlung durch die ΦϱΕ΍ΗΘΓΖȱ σΚΉΗ΍Ζ fungiert als ein Band, das die geistige Materie mit der Materie der Sinnendinge in einem Begriff vereinigt, indem es die hierarchische Ungleichheit überbrückt. Quelle der Einheit ist das platonische zweite Prinzip: Die drei Materien sind die drei Existenz- oder Erscheinungsweisen des zweiten Prinzips auf der Ebene des Geistes, der Seele und des Sensiblen reihum. Diese Einheit kommt in der Erzeugungsbeziehung zum Ausdruck, kraft deren die Materie auf jeder Stufe von der Materie der jeweils vorangehenden Stufe abhängt. Die Einheit des Materiebegriffs Plotins wird anscheinend problematisch, wenn er der Materie der Sinnendinge die mit der geistigen Materie radikal unvereinbaren Bezeichnungen „nicht seiend“ und „das Schlechte an sich“ (΅ЁΘϲȱΘϲȱΎ΅ΎϱΑ) zumisst. Hier entstehen zwei Probleme in Bezug auf die geistige Materie: 1. Ist es möglich, dass sie an der Form überhaupt nicht teilnimmt? In diesem Fall, ist sie dem Denken unzugänglich, wie auch die Materie der Sinnendinge der Wahrnehmung unzugänglich ist: Geistige Materie bedeutet nur Materie des Geistigen. 2. Ist es möglich, dass eine Substanz – wie Plotin die geistige Materie nennt – überhaupt nicht an der Form teilnimmt? Diese Probleme gehören zu derselben Kategorie wie die durch die Aussage Plotins hervorgerufenen, dass, was die Unbegrenztheit als grundlegende Bezeichnung der Materie betrifft, die Materie der Sinnendinge gleichsam das Urbild, die geistige Materie hingegen das Abbild ist. Zu demselben Problemkreis gehört die Zuschreibung von Bestimmungen des Typus „das Schlechte an sich“, die der Regel nach Attribute von Substanzen sind, zu der als nicht-seiend bezeichneten Materie der Sinnendinge.

_____________ 32 ƊƊ.4.15, 16-17. Außer der Materie ist auch das Eine einfach und qualitätslos. Plotin nennt die Materie „eine“, freilich nicht „das Eine selbst“. Die Beziehung der Materie zur Einheit ist ungleich ihrer Beziehung zu ihren übrigen Bezeichnungen. Es stellt sich allerdings die Frage, wie die Einheit der Materie zu verstehen ist. Vielleicht als Einheit dessen, was der Erkenntnis vollständig unzugänglich ist. Als unerkennbar und qualitätslos kann die Materie nicht vielfältig sein.

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B. Das Verhältnis von Schlechtem und Materie

2. Der Materiebegriff bei Proklos 2.1. Die Stellung der Materie in der ontologischen 33 Hierarchie von Proklos Wie in der gesamten neuplatonischen Tradition, so ist auch bei Proklos die Struktur des Seins hierarchisch. Ein wichtiger Unterschied zwischen Plotin und Proklos liegt darin, dass letzterer eine Unterscheidung zwischen dem „seienden Einen“ oder der Grenze, die zusammen mit der ihm entgegengesetzten Unbegrenztheit das Paar der den Geist und somit das All erzeugenden ersten Prinzipien ausmacht, und dem absolut transzendenten Einen vornimmt. In diesem Thema folgt er Iamblichos und seinen Vorgängern in der Akademie. 34 Aus dem Einen geht die zweite Hypostase hervor. Diese Hypostase ist bei Plotin der Geist, 35 während bei Proklos dieselbe Hypostase in die Dreiheit Seiendes, Leben und Geist zerfällt. 36 Für Proklos sind die nächsten Stufen der Skala die Seele, die Lebewesen, die Pflanzen, die toten Körper und, am Ende, die Materie, 37 während Plotin vier Hypostasen, namentlich das Eine, den Geist, die Seele und die Materie annimmt – wobei streng genommen das Eine keine Hypostase ist und die Materie auch nicht. Trotz allen partikulären Unterschieden zwischen den neuplatonischen Philosophen und trotz der intensiven Neigung des späten Neuplatonismus zu einer Vermehrung der Stufen der ontologischen Skala blieb die plotinische Abstufung des Seienden in diesen vier Ebenen im Allgemeinen als gemeinsames Prinzip des neuplatonischen Denkens bestehen, da die Vervielfältigung der Stufen sich als Unterteilen der vier Hypostasen vollzog. Die letzte Stelle der Materie in der Hierarchie ist ein gemeinsames Element der ganzen platonischen Tradition. _____________ 33 Das Adjektiv „ontologisch“ und die ihm verwandten Termini werden in der vorliegenden Arbeit verwendet, trotz ihrer Unzulänglichkeit im Rahmen des proklischen Denkens, das „Wirklichkeiten“ außerhalb des Seienden anerkennt und untersucht – namentlich das dem Seienden überlegene Eine und die ihm untergeordnete Materie (s. Rosan 1949, 63 Anm. 1) – weil es, meiner Meinung nach, als Benennung für die dem Seienden als solchen ( ϗȱϸΑ ) zukommenden Bestimmungen – also vor allem für die Bestimmungen, die den Platz des jeweiligen Seienden in der Hierarchie kundgeben – gebräuchlicher bleibt als das Adjektiv „henologisch“, durch das viele Autoren es ersetzen (s. z.B. Breton 1973, 192-196; Reale 1989, 25-27). 34 Diese Unterscheidung schreibt Proklos Speusippos zu (In Parm. [Steel] 501, 6167; Elem. Theol., 89-92; vgl. Isnardi Parente 1984, 305; Taran 1987 232). 35 S. Plot. V.1.3-4. 36 Diese Teilung ist auch bei Plotin selbst belegt (siehe Ɗ.7.2; VI.6.8, 17-18; VI.6.15, 2-3), bleibt aber bei ihm eher gelegentlich (Siehe Merlan 1976, 442f). 37 S. Dodds 1971, 232; vgl. Rosan 1949, 101-117.

2. Der Materiebegriff bei Proklos

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2.2. Die Notwendigkeit der Existenz von Materie Proklos nennt die Materie „letzte Natur“, „allerletztes“, „letztes der Seienden“, „das, was zuletzt geschaffen wurde“. 38 Ihre Existenz als letzte Stufe ist das notwendige Ergebnis des die Hierarchie konstituierenden Hervorgangs. Der bewegende Hebel des Hervorgangs ist das Prinzip, dass „alles Hervorbringende das ihm Untergeordnete aus Vollkommenheit und Machtüberfülle hervorbringt“ 39 . Dieser produktive Vorgang muss also bis zu demjenigen Produkt reichen, das die Kraft seinerseits zu produzieren nicht mehr hat, und erst da auslaufen. Die Materie ist dieses letzte Produkt. Als „letztes des Seienden“ 40 und „letzte Existenz“ 41 vermag die Materie nur vorläufig an den Formen teilzunehmen. Demzufolge setzt das Faktum ihrer Existenz die Existenz zweier verschiedenener Weisen der Teilnahme in der ontologischen Skala voraus: einer ewigen und unwandelbaren und einer vorläufigen. 42 Das Nichtbestehen der ersten hätte zur Folge, dass nichts an den „von allen getrennten...und nur teil an sich gebenden“ Formen teilnähme, während das Nichtbestehen der zweiten zur Folge hätte, dass auch die Materie als allerletzte Stufe des Seins ewig und unwandelbar an den Formen teilhätte und dadurch dem Guten und dem ewig Seienden, den höheren Stufen der Seinshierarchie, gleichgestellt würde. 43 Unter dem Blickwinkel der finalen Kausalbeziehungen zwischen den aufeinanderfolgenden Stufen der Hierarchie, existiert die Materie um des Werdens willen, während sie als allerletzte die einzige Stufe darstellt, um dessen willen es nichts mehr gibt. 44 2.3. Die Entstehung der Materie Wie in allen Bereichen seines Denkens entfaltet Proklos auch seine Theorie von der Entstehung der Materie als Auslegung Platons. Der wichtigste _____________ 38 De mal. sub. 28 (ultima natura); 36 (σΗΛ΅ΘΓΑȱΘЗΑȱΔΣΑΘΝΑ); 37 (σΗΛ΅ΘΓΑȱΘЗΑȱϷΑΘΝΑ); 7 (ultimum productum) (hier und bei allen Zitaten aus dem Traktat De mal. sub. dt. Übersetzung von Erler 1979, leicht modifiziert wo notwendig). 39 Elem. Theol. 27: „ΔκΑȱΘϲȱΔ΅ΕΣ·ΓΑȱΈ΍ΤȱΘΉΏΉ΍ϱΘ΋Θ΅ȱΎ΅ϠȱΈΙΑΣΐΉΝΖȱΔΉΕ΍ΓΙΗϟ΅ΑȱȱΔ΅Ε΅ΎΘ΍ΎϱΑȱ πΗΘ΍ȱΘЗΑȱΈΉΙΘνΕΝΑ“. 40 De mal. sub. 7 (entium ultimum). 41 Ebd. (ultima ypostasis). 42 Elem. Theol. 63: „ΔκΑȱΘϲȱΦΐνΌΉΎΘΓΑȱΈ΍ΘΘΤΖȱЀΚϟΗΘ΋Η΍ȱΘЗΑȱΐΉΘΉΛΓΐνΑΝΑȱΘΤΖȱΘΣΒΉ΍Ζ,ȱ ΘχΑȱΐξΑȱπΑȱΘΓϧΖȱΔΓΘξȱΐΉΘνΛΓΙΗ΍,ȱΘχΑȱΈξȱπΑȱΘΓϧΖȱΦΉϠȱΎ΅ϠȱΗΙΐΚΙЗΖȱΐΉΘνΛΓΙΗ΍“. 43 Ebd.; De dec. dub. V 28, 5-6; in Tim. I 372, 27 – 373, 7; vgl. Platon, Tim. 41b7-8; Steel 1987, 216-220. 44 De mal. sub. 36-37.

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B. Das Verhältnis von Schlechtem und Materie

Text findet sich in dessen Kommentar zum Timaios (I 381-396). Er beantwortet die relevanten Fragen, indem er den Satz Timaios 30a2-6 interpretiert. 45 2.3.1. Das Problem der zeitlichen Präexistenz der Materie vor der Schöpfung Die erste einleitende Frage betrifft die Vorzeitlichkeit der Materie vor der Welt. Die Anhänger von Plutarch und Attikos, sagt uns Proklos, behaupteten, dass die ungeformte, von der übeltäterischen (Ύ΅ΎΉΕ·νΘ΍Ζ) Seele „ungehörig und ordnungslos“ bewegte Materie dem Werk des Demiurgen zeitlich vorausging. 46 Proklos vertritt dagegen die Meinung von Porphyrios und Iamblichos, indem er die zeitliche Abfolge in der Erzählung des Timaios als eine Metapher betrachtet, die den ontologischen Unterschied zwischen den Ursachen des Paradeigma, der Chora und des Werdens einerseits und dem Demiurgen andererseits zum Ausdruck bringt: Die Präexistenz der drei kosmischen Prinzipien 47 besagt, dass sie durch Ursachen, die dem Demiurgen vorausgehen, erzeugt sind. Der Demiurg ordnet sie. 48 Proklos betont den Unterschied zwischen der Materie und dem „ungehörig und ordnungslos Bewegten“ („Ύ΍ΑΓϾΐΉΑΓΑȱ ΔΏ΋ΐΐΉΏЗΖȱ Ύ΅Ϡȱ ΦΘΣΎΘΝΖ“), das er mit dem vom Demiurgen geschmiedeten (Tim. 30b31b) 49 Körperlichen (ΗΝΐ΅ΘΓΉ΍ΈξΖ) identifiziert, trotz des „zeitlichen“ Abstands zwischen den beiden im Verlauf der platonischen Erzählung 50 . _____________ 45 Ein großer Teil der Ausführungen des Proklos (383, 22 – 385, 17 und 387, 5 – 391, 4) sind von Baltes 1978, 76-94, übersetzt und kommentiert worden. Die zentrale Bedeutung dieser Timaios-Stelle, die Gegenstand einer Vielfalt sich gegenseitig widersprechender Interpretationen gewesen ist, hat Proklos zu einem äußerst ausführlichen Kommentar, der jedes Wort auf seine Rolle, seine Stellung und seine genaue Bedeutung hin untersucht, veranlasst (s. 387, 5 – 391, 4). 46 In Tim. I 381, 26 – 382, 7. Diese Darstellung der Interpretation der zwei Philosophen geht auf Porphyrios und Iamblichos zurück (Baltes 1978, 76). 47 Plat. Tim., 52d3f. 48 In Tim. I 382, 12 – 383, 1; vgl. Baltes 1978, 90-91. 49 Auch hier in Auseinandersetzung mit Attikos und Plutarch, die das „ungehörig und ordnungslos Bewegte“ mit der Materie identifizieren (Baltes 1978, 79). 50 Das „ungehörig und ordnungslos Bewegte“ wird bei Proklos nicht mit der „ersten“ Materie identifiziert, sondern mit der sich schon in einer Vorstufe ihrer Gestaltung befindlichen Materie, in der sie durch die „Spuren“, d.h. die unvollendeten Abdrücke der Formen, bewegt wird (In Tim. Ɗ 387, 8-19). Schon „vor“ dem Werk des Demiurgen leuchtet das Paradeigma, durch sein bloßes Sein, seine Spiegelbilder oder Spuren der Formen auf die einfache Materie auf und prägt sie ihr ein

2. Der Materiebegriff bei Proklos

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2.3.2. Ist die ewige Materie auch ontologisch unerzeugt? Auf dieses einleitende Problem der Vorzeitlichkeit der Materie vor der Schöpfung folgt die grundlegende Frage, ob denn die Materie auch ontologisch unerzeugt ist (Φ·νΑ΋ΘΓΖȱ ΦΔϲȱ ΅ϢΘϟ΅Ζ): „Ob sie ungeworden und unabhängig von einer Ursache ist und ob man nach Platon folgende zwei Prinzipien des Alls ansetzen muss, die Hyle und den Gott, wobei weder der Gott die Hyle hervorbringt noch die Hyle den Gott, damit die eine in jeder Hinsicht immerwährend und gottfern (ΩΌΉΓΖ), der andere aber in jeder Hinsicht fern aller Materie (ΩΙΏΓΖ) und einfach sei (Übers. Baltes 1978, 78)“ 51 . Ein derartiger Dualismus von ersten Prinzipien kann weder im proklischen noch in den anderen neuplatonischen Systemen akzeptiert werden, da die ontologische Unabhängigkeit der Materie als auf das Eine nicht zurückzuführendes Prinzip die Bestimmung des Einen als Prinzip des Alls aufheben würde. Daher „gehört die Sache selbst zu den am heftigsten diskutierten“. 52 Die Anhänger von Plutarch und Attikos meinten, dass die Präexistenz der Materie vor der Welt, die einen zeitlichen Anfang hat, impliziert, dass _____________ (πΐΚ΅ϟΑΉ΍). Diese Spuren sind auf ungeordnete und nicht strukturierte Weise bei der Materie gegenwärtig (In Tim. I 387, 12-19). Als unaffizierbar ist die Materie zur Bewegung unfähig (De mal. sub. 34,19-20). Andernorts (In Tim. I 383, 4-14) erklärt Proklos die ungehörige und ordnungslose Bewegung des Körperlichen dadurch, dass es durch die Natur – und noch nicht durch den Geist oder die rationale Seele – bewegt wird. Wenn das Körperliche von der rationalen Seele beseelt wird und damit an der Seele und am Geist teilnimmt, dann wird auch die Bewegung geordnet. Die zwei verschiedenen Interpretationen der ungeordneten Bewegung sind schwer zu vereinbaren. Laut Baltes 1978, 93, geht die zweite Interpretation auf Porphyrios zurück; Proklos führt sie hier neben der eigenen an, ohne die beiden Erklärungen harmonisieren zu wollen. Mit Plutarch, Attikos und Porphyrios betrachtet auch Proklos das „ungehörig und ordnungslos Bewegte“ als ursprüngliche Realisierung des kosmischen Schlechten: Indem er es von der Materie unterscheidet, lehnt er schon die Zurückführung des Schlechten auf diese ab. 51 In Tim. I 384, 9 – 12: „ΉϢȱ ΦΔ’ȱ ΅ϢΘϟ΅Ζȱ πΗΘϠΑȱ Φ·νΑ΋ΘΓΖ,ȱ Ύ΅Ϡȱ ΉϢȱ ΈϾΓȱ Θ΅ϾΘ΅Ζȱ ΦΕΛΤΖȱ

52

ΌΉΘνΓΑȱΎ΅ΘΤȱ̓ΏΣΘΝΑ΅ȱΘЗΑȱϵΏΝΑ,ȱЂΏ΋ΑȱΎ΅΍ȱΌΉϱΑ,ȱΐφΘΉȱΘΓІȱΌΉΓІȱΘχΑȱЂΏ΋ΑȱΔ΅ΕΣ·ΓȬ ΑΘΓΖȱΐφΘΉȱΘϛΖȱЂΏ΋ΖȱΘϲΑȱΌΉϱΑ,ȱϣΑ΅ȱψȱΐξΑȱΦϬΈ΍ΓΖȱϖȱΔΣΑΘϙȱΎ΅ϠȱΩΌΉΓΖ,ȱϳȱΈξȱΩϼΏΓΖȱΔΣΑΘϙȱ Ύ΅ϠȱΥΔΏΓІΖ“ . In Tim. I 384, 13: „Θϲȱ ΔΕκ·ΐ΅ȱ ΘЗΑȱ ΗΚϱΈΕ΅ȱ Ί΋ΘΓΙΐνΑΝΑȱ πΗΘϟ“. In den nächsten

Zeilen weist Proklos auf einen anderen seiner Texte hin, wo er das Problem schon behandelt habe. Dieser Text ist, laut A.J. Festugière 1967 II 247 Anm. 3, der Abschnitt De mal. sub. 30-34, wo tatsächlich Stellen zur Entstehung der Materie vorkommen (31, 6-13; 34, 15-26; 34, 9-15), obwohl das Hauptthema ein anderes ist. Da die Schrift De mal. sub. später als der Kommentar zum Timaios verfasst worden ist (s. Boese 1960, IXf), ist der Hinweis vermutlich nachträglich von Proklos hinzugefügt worden.

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B. Das Verhältnis von Schlechtem und Materie

sie auch kausal unerzeugt ist. Aristoteles sagt auch, nach Proklos, dass die Materie unerzeugt ist, weil sie 1. nicht zusammengesetzt ist, 2. von keiner anderen Materie subsistiert wird und 3. in keine andere Materie aufgeht. 53 Proklos nimmt die Ewigkeit der Materie sowie die Ewigkeit der Welt an. Er akzeptiert auch die aristotelischen Argumente. Nach ihm beweisen aber diese Argumente nicht, dass die Materie kausal unerzeugt ist, sondern dass sie keinen zeitlichen Anfang hat. 54 Was das zweite Argument betrifft, könnte man tatsächlich bemerken, dass die Ursache der Materie nicht mit der Materie selbst identisch sein muss und auch nicht identisch sein kann, vielmehr ist sie ihr in der ontologischen Skala notwendigerweise übergeordnet. Die Existenz von zwei unerzeugten Prinzipien ist für Proklos unmöglich. Diese Prinzipien könnten nämlich nicht zwei sein, denn dies würde voraussetzen, dass jedes von ihnen eins wäre, und somit an dem Einen teilnähme; dieses Eins wäre also den beiden ontologisch übergeordnet und somit ihr Prinzip. 55 Das erste Prinzip muss also eins sein, und das Unerzeugt-Sein der Materie wird im Voraus ausgeschlossen. Ferner, hätte die Materie keine Ursache und wäre sie kein Prinzip, dann wäre sie zufällig vorhanden. Die Materie ist aber zugunsten des Werdens vorhanden; wenn sie also zufällig wäre, dann wäre auch die ganze Sinnenwelt zufällig, ohne eine sichere Grundlage. 56 2.3.3. Die Erzeugung der Materie aus dem Einen und der ersten Unbegrenztheit Proklos betrachtet die Materie als kausal erzeugt, und zwar aus dem Einen. Er stützt seine Ansicht, die er für eine treue Umschreibung des Denkens Platons hält, 57 auf die kombinierte Auslegung der Abschnitte Tim. 52d und Phil. 23c. Im Timaios werden das Sein, die Chora und das Werden als der Weltschöpfung präexistent dargestellt. Das Werden wird mit einem Kind und das Sein und die Chora mit dessen Vater und Mutter verglichen. Diese dem Paradigma entsprechende Stellung der Materie _____________ 53 54 55 56 57

In Tim. I 384, 1 – 7. Proklos bei Philop. De Aet. 404, 21-28. De mal. sub. 31, 11-13, zitiert unten S. 60. Proklos bei Philop. De Aet. 403-404 (vgl. dazu De Haas 1997, 9). Sein Ziel ist, „das Denken Platons aufzeigen, von welcher Art es auch immer ist“ („πΔ΍Ȭ ΈΉ΍ΎΑϾΑ΅΍ȱΘχΑȱΘΓІȱ̓ΏΣΘΝΑΓΖȱΈ΍ΣΑΓ΍΅ΑȱϳΔΓϟ΅ȱΘϟΖȱπΗΘ΍Α“; In Tim. Ɗ 384, 15-16). Bald darauf (In Tim. Ɗ 385, 17 – 386, 13) beruft sich Proklos auf die Übereinstimmung des Orpheus und der hermetischen Lehre mit Platon über dieses Thema – trotz der großen Differenz zwischen der hermetischen und der proklischen Entstehung der Materie (s. Festugière 1983, 35 u. 52f).

2. Der Materiebegriff bei Proklos

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impliziert ihre Herkunft „von einer anderen Seinsstufe, die noch vor dem Demiurgen rangiert“ 58 . Diese Seinsstufe ist, wie uns Philebos zeigt, diejenige der zwei Prinzipien: „Gott, sagten wir ja wohl, habe von dem Seienden einiges als unbegrenzt gezeigt, anderes als Grenze.“ 59 . Proklos versteht das ΈΉϟΎΑΙΐ΍ in diesem Satz als ein Verb, das den produktiven Akt bezeichnet. 60 Alles besteht aus Grenze und Unbegrenztheit. Auf der ontologischen Ebene der Körper entspricht die Materie der Unbegrenztheit und die Form der Grenze. 61 Das Verhältnis der „hiesigen“ Unbegrenztheit, der Materie in der Sinnenwelt, zu der im Intelligiblen stehenden Unbegrenztheit ist diesselbe Beziehung von Analogie und Kausation in einem, die die intelligiblen Urbilder mit ihren wahrnehmbaren Erzeugnissen verbindet. Ursache der Materie ist also die erste, vor dem Gemischten bestehende Unbegrenztheit. 62 Diese Unbegrenztheit wird ihrerseits vom Einen erzeugt und rangiert ontologisch vor dem „seienden Einen“, als das Proklos die Grenze (ΔνΕ΅Ζ) auslegt. 63 Diese Formulierung widerspricht nicht der festen Position des Proklos, dass einzige Ursache der Materie das Eins ist, 64 da „alles, was von den Niedrigeren produziert wird, umso mehr von den Vorangehenden und den größeren Ursachen produziert wird, von denen ja auch die Niedriegeren produziert wurden“ 65 . Das Eine ist _____________ 58 In Tim. I 384, 23: „ΦΔ’ȱΩΏΏ΋ΖȱΘΣΒΉΝΖȱΘϛΖȱΔΕϲȱΘΓІȱΈ΋ΐ΍ΓΙΕ·ΓІȱΘΉΘ΅·ΐνΑ΋Ζ“. 59 Phil. 23c9-10: „ΘϲΑȱΌΉϲΑȱπΏν·ΓΐνΑȱΔΓΙȱΘϲȱΐξΑȱΔνΕ΅ΖȱΈΉϧΒ΅΍ȱΘЗΑȱϷΑΘΝΑ,ȱΘϲȱΈξȱΩΔΉ΍ΕΓΑ“. 60 Vgl. De mal. sub. 35, 4ff u. Theol. Plat. III 9, 10-19. Die Richtigkeit dieser Interpretation ist allerdings zweifelhaft (M. Baltes 1978, 81f; vgl. F.P. Hager 1962, S.101f, der behauptet, Platon will hier sagen „dass der Demiurg, indem er das Ganze ordnete, das eine als begrenzt, das andere als unbegrenzt aufwies, nicht aber aus dem Nichts hervorbrachte“). Nach van Riel 2000, 402-406 folgt Proklos dem folgenden Gedankengang: Das Verb ΈΉϟΎΑΙΐ΍ impliziert für ihn, dass die zwei Prinzipien Manifestationen des Einen sind, wie seine vielen Ersetzungen durch πΎΚ΅ϟΑΝ in Paraphrasen des Satzes zeigen (z.B. Theol. Plat. III 7, 29-30), und die Manifestation ist ihrerseits, in unserem Kontext, mit der Produktion identisch. Das Verb ΈΉϟȬ ΎΑΙΐ΍ lässt tatsächlich eine solche Interpretation zu, da es in der vorplatonischen Literatur eine Bedeutung aufweist, die an der Grenze zwischen zeigen und machen/schaffen steht (s. Liddell-Scott; ein charakteristisches Beispiel ist m.E. Heraklits Fragment B53: „̓ϱΏΉΐΓΖȱΔΣΑΘΝΑȱΐξΑȱΔ΅ΘφΕȱπΗΘ΍,ȱΔΣΑΘΝΑȱΈξȱΆ΅Η΍ΏΉϾΖ,ȱΎ΅Ϡȱ 61 62 63 64 65

ΘΓϿΖȱ ΐξΑȱ ΌΉΓϿΖȱ σΈΉ΍ΒΉȱ ΘΓϿΖȱ Έξȱ ΦΑΌΕЏΔΓΙΖ,ȱ ΘΓϿΖȱ ΐξΑȱ ΈΓϾΏΓΙΖȱ πΔΓϟ΋ΗΉȱ ΘΓϿΖȱ Έξȱ πΏΉΙΌνΕΓΙΖ“). In Tim. I 384, 27-30. Zur Bedeutung des Wortes ΩΔΉ΍ΕΓΑ bei Proklos s. Whitta-

ker 1976, 160-162. In Tim. I 385, 1-12; Charles 1967, 152. De mal. sub. 34, 9-14; vgl. Trouillard 1958a, 351-353. Ɣheol. Plat. III, 7-9 et passim. Elem. Theol. 56: „ΔκΑȱ Θϲȱ ЀΔϲȱ ΘЗΑȱ ΈΉΙΘνΕΝΑȱ Δ΅Ε΅·ϱΐΉΑΓΑȱ Ύ΅Ϡȱ ΦΔϲȱ ΘЗΑȱ ΔΕΓΘνΕΝΑȱ Ύ΅Ϡȱ΅ϢΘ΍ΓΘνΕΝΑȱΔ΅ΕΣ·ΉΘ΅΍ȱΐΉ΍ΊϱΑΝΖ,ȱΦΚ’ȱЙΑȱΎ΅ϠȱΘΤȱΈΉϾΘΉΕ΅ȱΔ΅Εφ·ΉΘΓ“.

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B. Das Verhältnis von Schlechtem und Materie

die Ursache der Materie im ursprünglichen Sinn des Wortes, es ist also dasjenige, dem die Materie ihr Vorhandensein letztendlich verdankt. 66 Gerade weil sie nur vom Einen erzeugt wird, ist die Materie „am einfachsten“, daher jenseits von jeder Bestimmung und nicht-seiend (denn das Seiende ist gemischt) wie das Eine. 67 In einer sekundären Bedeutung von Ursache wird die jeweils niedrigere Stufe in der Seinshierarchie durch die jeweils oberen Stufen verursacht. In diesem Sinne wird die Materie indirekt durch alle ihr vorangehenden Stufen produziert und unmittelbar durch die nächstvorhergehende „Natur des Alls“ 68 , die „das Bewegungs- und Zeugungsprinzip [ist]..., das zwischen Körper und Seele steht und von den Körpern untrennbar ist, während die Seele die Körper transzendiert“ 69 , und vielleicht der unteren vegetativen Seele Plotins entspricht. Indem er wie gesagt einer auf Iamblichos zurückgehenden, allgemeinen exegetischen Richtung des späten Neuplatonismus 70 folgt, meint Proklos, dass die Aussagen des Timaios bezüglich der ersten Prinzipien auf der Basis von Philebos, wo sie „ganzheitlicher“ vorgestellt werden, interpretiert werden müssen. 71 Der Verstehenshorizont des Philebos wird aber durch die indirekte Überlieferung des Denkens Platons, wie sie Proklos bekannt war, eröffnet. 72 In der mündlichen platonischen Lehre wird die Materie auf die erste Unbegrenztheit oder unbegrenzte Zweiheit, das zweite Prinzip gegenüber dem Einen, zurückgeführt. Die unbegrenzte Zweiheit oder Materie ist das eine Prinzip der Vielheit sowohl auf der Ebene der Sinnendinge, wo sie als Prinzip des Werdens, des Vergehens, der Ortsveränderung und der räumlichen Ausdehnung fungiert, wie auch auf der Ebene des Intelligiblen, wo sie als Materialprinzip der Erzeugung aller Formen fungiert. 73 Proklos entfernt sich allerdings von Platon, indem er mit allen Neuplatonikern die Zweiheit auf das Eine zurückführt, und ferner die ontologische Skala zwischen der _____________ 66 In Tim. I 386, 13-14. 67 S. In Tim. I 256, 9-13; In Alcib. 189f; s. Elem. Theol. 51; Trouillard 1972, S.76. 68 In Tim. I 386, 14-19. Bei diesem Prozess spielt jede produktive Hypostase ihre vermittelnde Rolle zwischen den ursprünglichen Ursachen und dem Endprodukt „insofern sie ist und gemäß der eigenen Existenz; denn gemäß dieser [Existenz] nimmt sie an der allerersten Ursache teil“ („Ύ΅ΌϱΗΓΑȱ πΗΘϠȱ Ύ΅Ϡȱ Ύ΅ΘΤȱ ΘχΑȱ ο΅ΙΘϛΖȱ ЂΔ΅ΕΒ΍Αаȱ Ύ΅ΘΤȱ ·ΤΕȱ Θ΅ϾΘ΋Αȱ ΐΉΘνΛΉ΍ȱ ΘϛΖȱ ΔΕΝΘϟΗΘ΋Ζȱ ΅ϢΘϟ΅Ζ“) (In Tim. I 386, 18-19; Trouillard 1958a, 347ff; ders. 1977a, 107-109). 69 Baltes 1978, 92; vgl. In Tim. I 389, 10-16. 70 Van Riel 1997, 31-46; Festugière 1969, 287ff. 71 In Tim. I 262, 30 u. 263, 6-14. 72 Reale 1985, CII-CIV; zur proklischen Auffassung der Prinzipienlehre Platons s. Halfwassen 2006. 73 Varessis 1996, 136-143.

2. Der Materiebegriff bei Proklos

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unbegrenzten Zweiheit und der Materie in besonders zahlreiche, mit je eigenen Termini bezeichneten Stufen teilt. 74 2.4. Materie und Werden 2.4.1. Die Unterscheidung dreier Bedeutungen von Materie Hier muss die Unterscheidung zwischen universaler und spezieller Materie präliminarisch aufgeführt werden. Die universale Materie ist die „erste Materie“ oder „einfache Materie“, die „freilich die Materie jeden Werdens und der Möglichkeit nach Alles ist“ 75 . Sie kann alle Formen bedingungslos empfangen, da sie als „Materie im einfachen Sinne“ die Materie aller Formen ist. Sie ist (zeitlich) unerzeugt und unvergänglich, bleibt also unaffizierbar im Werden und Vergehen der von ihr empfangenen Formen und daher absolut gestaltlos 76 – ist aber nichtdestoweniger fähig, Formen aufzunehmen, im Gegensatz zur plotinischen Privation-Materie. Dieser Materiebegriff beruht auf dem Timaios. 77 Die „letzte Materie“ oder „eine Materie“ ist die Materie einer einzelnen Form; sie ist in der unmittelbar vorangehenden Stufe des Entstehungsvorgangs gehörig vorbereitet worden, so wie die Steine vor der Erbauung des Hauses angemessen verarbeitet werden, so dass sie bei der Erbauung zur Materie der Form „Haus“ werden. 78 Die spezielle Materie steht immer schon auf einer gewissen Stufe des Entstehungsvorgangs und ist somit immer schon in einem gewissen Grad gestaltet, eine Mischung von erster Materie und Form: Sie ist Materie in relati_____________ 74 In Parm. 1119, 4ff u. 1121, 32ff; in Tim. 384-385. Auch die platonische unbestimmte Zweiheit ist innerlich differenziert, und zwar gemäß der ontologischen Stufe, auf der sie sich jeweils aktualisiert (oder, besser, der sie als zweites Prinzip zugrundeliegt). Obwohl wir nur wenig Information über eine dementsprechend differenzierte Terminologie bei Platon besitzen (vgl. immerhin die ΉϥΈ΋ȱΘΓІȱΐΉ·ΣȬ ΏΓΙȱ Ύ΅Ϡȱ ΐ΍ΎΕΓІ bei Arist., Metaph. 1085a9-12), lässt sich annehmen, dass die Zweiheit sich innerlich in Zweiheit der „Formenzahlen, Idealgrößen, mathematischen Zahlen, geometrischen Größen und der Sinnendige“ abstuft (Szlezák, Happ 188). Wenn den verschiedenen Stufen dieser Abstufung nicht verschiedene Funktionen zugewiesen wären, dann müsste die wichtigste Funktion der Zweiheit, d.h. die Verursachung des Schlechten, auch auf der Ebene der Formen gegenwärtig sein, was unmöglich ist (Happ 147-152 bei Szlezák 188 u. Happ 170 bei Szlezák 189). 75 Proklos bei Philop. De Aet., 404, 14-16: „ΔΣΑΘΝΖȱπΗΘϠΑȱЂΏ΋ȱΔΣΗ΋Ζȱ·ΉΑνΗΉΝΖȱΎ΅ϠȱσΗΘ΍Αȱ ΈΙΑΣΐΉ΍ȱΔΣΑΘ΅“. 76 Ebd., 404, 16-22. 77 De Haas 1997, 5. 78 De Aet., 404, 3-10.

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B. Das Verhältnis von Schlechtem und Materie

vem Sinn, insofern sie die Möglichkeit einer weiteren Gestaltung in sich birgt. Sie ist daher zur Form relativ und somit vergänglich, (zeitlich) erzeugt und leidend. Dieser Materiebegriff beruht auf der Physik des Aristoteles. 79 Eine dritte Bedeutung der Materie ist das „zweite Zugrundeliegende“, die zu den vier Elementen gestaltete erste Materie. 80 Wenn Proklos in De malorum subsistentia von Materie spricht, meint er meistens die „einfache Materie“, die übrigens die grundlegende Bedeutung des Wortes Materie ausmacht; in Analogie zu ihr trägt die spezielle Materie ihren Namen. 2.4.2. Die Materie als Notwendigkeit (ΦΑΣ·Ύ΋) und Aufnahmeort (ЀΔΓΈΓΛχ) der Entstehung der Sinnendinge Die Materie ist mit der Entstehung durch ein Verhältnis von ontologischer Abhängigkeit verbunden: Sie ist um der Entstehung willen vorhanden (ρΑΉΎΣȱΘΓΙ), und die Entstehung ist das, um dessen willen sie vorhanden ist (ΓЈȱ ρΑΉΎ΅). Dieses Verhältnis drückt sich auch als ewige Koexistenz von Materie und Entstehung aus. 81 Es wird durch die zwei wichtigsten, aus dem Timaios herkommenden Bestimmungen der Materie in De malorum subsistentia beschrieben: 1. Notwendig (ΦΑ΅·Ύ΅ϟ΅) für die Entstehung, 2. Aufnahmeort (ЀΔΓΈΓΛφ) der Entstehung und somit Mitursache (ΗΙΑ΅΍Θϟ΅) 82 der Weltschöpfung. Die Materie ist für die Vervollständigung des Alls notwendig. Vom Einen erzeugt, nimmt sie diejenigen Formen auf, die von sich selbst her nicht gegründet werden können, insofern sie ihnen die Möglichkeit anbietet, in ihr gegründet zu werden, so dass die beiden verschiedenen Weisen der Teilnahme realisiert werden. 83 _____________ 79 Arist., Phys. 192a25-b4; 200a24-b8. 80 Mit ihr identifiziert Porphyrios das „ungehörig und ordnungslos Bewegte“ (bei Philoponos De Aet., 164, 12ff). 81 Ebd., 404, 1-6ź De mal. sub. 36, 18-22. 82 Die Mitursache ist von der „wahrhaftigen Ursache“, die „das Ding selbst“ verursacht, zu unterscheiden. Sie ist eine notwendige Voraussetzung für die Entstehung des Dinges, und somit auch für die Existenz der wahrhaftigen Ursache als solchen (s. Phaid. 99b u. Pol. 281d). 83ȱȱ Vgl. De mal. sub. 36, 20-26. Unter dem Blickwinkel der Teilnahmebeziehungen könnte die Seinshierarchie in drei Abschnitte geteilt werden: das Gute, an dem alle Dinge teilnehmen wollen, während es selbst an keinem Anderen teilhat, die aufeinanderfolgenden Stufen der Skala bis zu der Materie, die an denȱ jeweils vorangehenden Stufen teilnehmen wollen, während die ihnen jeweilsȱnachstehenden Stufen an ihnen teilnehmen wollen, und die Materie,ȱ die an den ihr überlegenen Stufen teilnehmen will, während kein Anderes an ihr teilhaben will, da sie die allerletzte Stufe ist (36, 28-32). Dieses Verlangen der Materie nach den ihr überle-

2. Der Materiebegriff bei Proklos

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Im Timaios ist die Notwendigkeit (ΦΑΣ·Ύ΋) der erste Aspekt des zweiten, materiellen kosmologischen Prinzips der Entstehung. 84 Das „ungehörig und ordnungslos Bewegte“ in Tim. 30a2-6 ist, nach E. Varessis, mit der Notwendigkeit (ΦΑΣ·Ύ΋) zu identifizieren 85 . In seiner Interpretation dieser Stelle lehnt aber Proklos, wie oben erwähnt, diese Identifizierung ab. Man könnte sagen, dass Proklos die Notwendigkeit des Materialprinzips als Konsequenz einer teleologischen Perspektive ansieht, deren Endziel die Vervollständigung des Alls, des „glückseligen Gottes“, ist86 ȭ im Unterschied zu Platon, der die Notwendigkeit gleichsam im Inneren des Materialprinzips sieht, in der unumgänglichen Tatsache ihrer Gegenwart als eines ungestalteten Präexistenten am Anfang des Alls, eine Tatsache, mit der sich das rationale Prinzip auseinandersetzen muss. In ihrem Namen kommt die Notwendigkeit, dass sie vom Geist überzeugt und besiegt wird, zum Ausdruck. 87 Dieser Unterschied manifestiert sich auch darin, dass Proklos statt des poetischen, mit religiösen Konnotationen beladenen platonischen Namens des Materialprinzips ΦΑΣ·Ύ΋, 88 das neutralere Adjektiv ΦΑ΅·Ύ΅ϧΓΖȱverwendet. _____________

84 85 86 87

genen Stufen, kombiniert mit der absoluten Armut der allerletzten Stufe, macht sie zum geeigneten Aufnahmeort für das Werden: „Θϲȱ ·ΤΕȱ πΑΈΉξΖȱ ΅ЁΘϛΖȱ ΘЗΑȱ Φ·΅ΌЗΑȱ ΗΙΑΘΉΏΉϧȱ ΔΕϲΖȱ ΘχΑȱ ΘЗΑȱ ΅ϢΗΌ΋ΘЗΑȱ Έ΋ΐ΍ΓΙΕ·ϟ΅Α“ (36, 26-27). Die Materie ist unbegrenzt und maßlos nicht bloß als der Grenze und des Maßes beraubt, sondern als Träger eines Willens zur Grenze und Maß (32, 9-22).ȱȱȱ Die folgende kurze Vorstellung des platonischen Denkens über die Materie beruht auf Varessis 1996, 99-146. Varessis 1996, 106-109. De mal. sub. 32, 5-8. S. Plat. Tim., 47e5-48a5: „Als eine Mischung nämlich ist die Entstehung dieser Weltordnung erzeugt worden, aus dem Zusammentritt von Notwendigkeit und Vernunft. Indem dabei Vernunft über Notwendigkeit herrschte, dadurch dass sie sie dazu überzeugte, das Meiste des da Entstehenden zum Bestzustand zu führen: Auf die Weise und gemäß dieser Abrede, durch Nachgeben der Notwendigkeit auf besonnene Überredungskunst hin, so ist zu Anfang dieses All zusammengetreten.“ („ΐΉΐΉ΍·ΐνΑ΋ȱ·ΤΕȱΓЇΑȱψȱΘΓІΈΉȱΘΓІȱΎϱΗΐΓΙȱ·νΑΉΗ΍ΖȱπΒȱΦΑΣ·Ύ΋ΖȱΘΉȱ Ύ΅Ϡȱ ΑΓІȱ ΗΙΗΘΣΗΉΝΖȱ π·ΉΑΑφΌ΋аȱ ΑΓІȱ Έξȱ ΦΑΣ·Ύ΋Ζȱ ΩΕΛΓΑΘΓΖȱ ΘХȱΔΉϟΌΉ΍Αȱ ΅ЁΘχΑȱ ΘЗΑȱ ·΍·ΑΓȬ ΐνΑΝΑȱΘΤȱΔΏΉϟΗΘ΅ȱπΔϠȱΘϲȱΆνΏΘ΍ΗΘΓΑȱΩ·Ή΍Α,ȱΘ΅ϾΘϙȱΎ΅ΘΤȱΘ΅ІΘΣȱΘΉȱΈ΍’ȱΦΑΣ·Ύ΋ΖȱψΘΘΝΐνΑ΋Ζȱ ЀΔϲȱΔΉ΍ΌΓІΖȱσΐΚΕΓΑΓΖȱΓЂΘΝȱΎ΅Θ’ȱΦΕΛΤΖȱΗΙΑϟΗΘ΅ΘΓȱΘϱΈΉȱΘϲȱΔκΑ.“) (bei allen Zitaten

aus dem Werk Platons mit Ausnahme des Timaios und der Politeia, dt. Übersetzung von Fr. Schleiermacher: Platon, Werke in acht Bänden Griechisch und Deutsch. Deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, Darmstadt 1990 – der Timaios in Übersetzung von Hieronymus Müller; bei Zitaten aus der Politeia, dt. Übersetzung von R. Rufener: Platon, Der Staat. Übersetzt von Rüdiger Rufener, Einführung, Erläuterungen, Inhaltsübersicht und Literaturhinweise von Thomas Alexander Szlezák, Düsseldorf/Zürich 2000). 88 S. Schreckenberg 1964, 81-100.

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B. Das Verhältnis von Schlechtem und Materie

Der zweite Aspekt ist die Chora, das Materialprinzip als Prinzip des Körperlichen (ΗΝΐ΅ΘΓΉ΍ΈνΖ). Die Chora heißt im Timaios Aufnahmeort und Amme des Werdens. Sie nimmt das Werden in zwei Weisen auf: 1. Als die Streckbarkeit im Raum gewährt sie den körperlichen Phänomenen ihren Ort, ihren Sitz; 2. als das absolut gestaltlose und somit jeder Gestaltung empfängliche, unwandelbare Substrat des sich wandelnden Wahrnehmbaren. Als gestaltlose ist die Chora den Sinnen sowie dem Denken unzugänglich, allein einer eigenartigen Abstraktion, dem „unechten Gedankengang“ akzessibel. 89 Der Begriff der ersten oder „einfachen“ Materie hat im Großen und Ganzen denselben Inhalt wie die Chora. 2.4.3. Die Formung und die Beseelung der Sinnenwelt Gemäß der proklischen Auslegung sind die Ursachen des Alls, in hierarchischer Reihenfolge: 1. Das Gute, Ursache der Materie, der Formgebung und der Ordnung, 2. das Paradeigma, Ursache der Formgebung und der Ordnung und 3. der Demiurg oder das Demiurgische, Ursache der Ordnung (In Tim. I 387, 23-30). 90 Auch hier gilt das Prinzip, je höher eine Ursache in der ontologischen Skala steht, umso tiefer in der Skala reicht ihre kausale Aktivität. Die Entstehung der Welt findet in zwei ontologisch aufeinanderfolgenden Stufen statt. Subjekt oder Wirkursache ist in beiden Stufen der Demiurg. In der ersten, „körperschaffenden“ (ΗΝΐ΅ΘΓΙΕ·΍ΎϱΑ) Stufe 91 wird die einfache Materie zum Körper geformt. In der proklischen Exegese lässt sich das Körperliche im Timaios nicht mit der Materie identifizieren. Dass Platon es als sichtbar bezeichnet, zeigt, dass es nicht die Materie ist, denn sie ist gestaltlos und folglich unsichtbar. 92 Das Körperliche ist mit dem „ungehörig und ordnungslos“ Bewegten identisch, das seinerseits von der Materie nachdrücklich unterschieden wird. In der zweiten, „ordnenden“ (ΎΓΗΐ΋Θ΍ΎϱΑ) Stufe 93 wird das Körperliche von der rationalen Seele beseelt und damit zur rationalen Welt ausgerichtet. Die Spuren werden von der vollgeordneten Form, deren Vorläufer sie gewesen sind, aufgehoben. _____________ 89 Siehe Sambursky 1962, 50ff. 90 Paradeigma und „Demiurgisches“ machen eine Einheit aus: Bei Proklos wird „der Demiurg als das weltsetzend wirksame Moment in das Sein der Ideen aufgehoben“, wie J. Halfwassen in Bezug auf Plotin und – mit Abwandlungen – auf die späteren Neuplatoniker feststellt (Halfwassen 2000, 42 und 54-62); zur Grundlegung dieser Interpretation in der Nouslehre des Proklos vgl. Halfwassen 1994, 61-63. 91 In Tim. I 383, 3. 92 In Tim. I 387. 93 In Tim. 383, 3.

2. Der Materiebegriff bei Proklos

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2.5. Die ontologische Abstufung zwischen der Materie und der ersten Unbegrenztheit Die Materie lässt sich, wie gezeigt, nicht mit der Unbegrenztheit identifizieren, obwohl sie selbst unbegrenzt ist. Sie ist vom Einen durch die Unbegrenztheit erzeugt und steht mit ihr in der Beziehung eines Erzeugnisses zu einem Urbild. Die erste Unbegrenztheit und die Grenze sind die Prinzipien des Alls; 94 die Materie ist seine letzte Stufe. Wenn man sich die ontologische Skala in zwei Begriffsreihen (ΗΙΗΘΓ΍Λϟ΅΍) geteilt vorstellt, wobei die Grenze Spitze der ersten und die Unbegrenztheit der zweiten ist, dann stellt die Materie das unterste Extrem der zweiten Begriffsreihe dar. Zwischen ihnen vermittelt, von oben nach unten, folgende Abstufung: Bewegung, Andersheit, Unähnlichkeit, Kreis des Anderen, Werden. 95 Die Begriffe der zweiten oder linken Begriffsreihe werden oft in De malorum subsistentia als der Materie verwandt verwendet und bieten so eine Bestimmung der Materie an bzw. eine Verdeutlichung ihrer absoluten Unbestimmtheit. Diese Begriffe sind Manifestationen der Materie auf den verschiedenen ontologischen Stufen – wie auch die ihnen jeweils entgegenstehenden Begriffe Manifestationen der Grenze sind: Durch die zwei Prinzipien wird das Seiende als gemischt vom Einen konstituiert. 96 Die zwei Prinzipien durchdringen das All, denn „jede Einung und Ganzheit und Gemeinschaft der Seienden und alle göttlichen Maße“ hängen von der Grenze ab, während „jede Teilung und Befruchtung und der Hervorgang zur Vielheit“ 97 von der Unbegrenztheit subsistiert wird. 98 „Das Bestimmende und das Unbegrenzte sind ursprünglich keine vorgegebene Wirklichkeiten, sondern Gesetze der Realisierung, die sich in ihren Produkten auf verschiedene Weisen äquilibrieren. Das eine von ihnen (die Forderung des Unbegrenzten) ist mit dem Hervorgang, oder, besser gesagt, mit dem Fortgang identisch, das andere (die Forderung der Struktur) gehört zur Wende oder Rückkehr zu den Prinzipien“ . 99 2.6. Bezeichnungen der Materie Mannigfaltige Bezeichnungen, von werturteilsmäßig negativen bis zu positiven, werden von der Materie prädiziert. Die meisten davon sind wertmä_____________ 94 95 96 97

Elem. Theol. 89-90. Trouillard 1967, 922. In Tim. I 176, 23ff. In Parm. 1133, 36-41: („ΔκΗ΅ȱΐξΑȱ·ΤΕȱρΑΝΗ΍ΖȱΎ΅ϠȱϳΏϱΘ΋ΖȱΎ΅ϠȱΎΓ΍ΑΝΑϟ΅ȱΘЗΑȱϷΑΘΝΑȱΎ΅Ϡȱ ΔΣΑΘ΅ȱΘΤȱΌΉϧ΅ȱΐνΘΕ΅...ΔκΗ΅ȱΈξȱΈ΍΅ϟΕΉΗ΍ΖȱΎ΅Ϡȱ·ϱΑ΍ΐΓΖȱΔΓϟ΋Η΍ΖȱΎ΅ϠȱψȱΉϢΖȱΔΏϛΌΓΖȱΔΕϱΓΈΓΖ“). 98 Beierwaltes 1980, 38-39. Siehe auch ders. 1965, 54-55; Trouillard 1972, 75 u. 78-79; ders. 1967, 923). 99 Trouillard 1967, 920.

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B. Das Verhältnis von Schlechtem und Materie

ßig neutral und betonen ihre absolute Unbestimmtheit: „Maßlosigkeit und die Unbestimmtheit an sich“ (immensuratio et autoindeterminatio) 100 , „in sich qualitätslos“ (ΩΔΓ΍ΓΑ) 101 , „ungeformt“ (ΦΑΉϟΈΉΓΑ), „Zugrundeliegendes, und nicht in einem Zugrundeliegenden“ (ЀΔΓΎΉϟΐΉΑΓΑ,ȱ ΦΏΏ’ȱ ΓЁΎȱ πΑȱ ЀΔΓΎΉ΍ΐνΑУ), „einfach, und nicht in einem anderen“ (ΥΔΏΓІΑ,ȱ ΦΏΏ’ȱ ΓЁΎȱ ΩΏΏΓȱ πΑȱ ΩΏΏУ) 102 , „die Unbegrenztheit an sich“ (΅ЁΘΓΣΔΉ΍ΕΓΑ), „unbewegt“ (ΦΎϟΑ΋ΘΓΑ), der Kraft zu tun (ΔΓ΍ΉϧΑ) und zu leiden (ΔΣΗΛΉ΍Α) entblößt, aber auch „allerletzte Natur“ (πΗΛΣΘ΋ȱΚϾΗ΍Α), „Nicht-Seiendes“ (ΐχȱ ϷΑ), „Allerletztes unter den Seienden“ (σΗΛ΅ΘΓΑȱ ΘЗΑȱ ϷΑΘΝΑ), „unvollkommen“ (ΦΘΉΏνΖ), „unschön“ (impulcra), „das Hässliche an sich“ (le turpe ipsum), „das Ordnungslose“ (le inordinatum), „die Finsternis an sich“ (auto-tenebra), „dunkelsten Grund des Alls“ (quod obscurissimum ipsum...fundum omnis); „Aufnahmeort“ (ЀΔΓΈΓΛφ), „Amme“ (Θ΍ΌφΑ΋) und „Mutter“ (ΐφΘ΋Ε) des Werdens und daher als Mitursache notwendig für die Vervollständigung des Alls durch die Entstehung der Sinnendinge. 103 Die Bezeichnung „notwendig“ ist von zentraler Bedeutung im Materiebegriff. Sie wird im Abschnitt De malorum subsistentia 36, 1 – 37, 5 ausgeführt, wo Proklos die eigene Ansicht über den ontologischen Status der Materie ausdrücklich formuliert. Das Notwendige ist in sich weder gut noch schlecht, es existiert aber um des Guten willen. 2.7. Aristotelische Elemente im Materiebegriff Proklos übernimmt von der aristotelischen Theorie der Materie folgende Elemente, indem er sie kleineren oder größeren Modifikationen unterzieht, damit sie in seinen Materiebegriff eingefügt werden können: 1. Die Materie als Substrat, auf dem sich die Gegensatzpaare betätigen, deren _____________

100 De mal. sub. 28, 17. 101 Ebd. 33, 17. Diese Bestimmung, die Proklos wahrscheinlich Plotin entnimmt, stammt aus dem stoischen Denken (die Belegstellen bei Baeumker 1890, 332333). Das Adjektiv „qualitätslos“, das bei den Stoikern die Gestaltlosigkeit und Passivität der Materie (im Gegensatz zur Formursache als aktiver Kraft) zum Ausdruck bringt, bedeutet für Proklos zum einen, dass die gestaltlose Materie absolut keine positive Bestimmung haben kann – also auch nicht die Bestimmung „schlecht“ – und zum anderen, dass die Materie der Kraft zu Tun und Leiden entblößt ist (dabei etymologisiert er wahrscheinlich das Wort ΩΔΓ΍ΓΖȱmerkwürdigerweise vom Φ -privativum und dem Verb ΔΓ΍З) (De mal. sub. 33, 16-17). 102 De mal. sub. 30, 4-6. Im Kapitel 30 präsentiert Proklos die Ansicht Plotins, die er weiter unten widerlegt; diese Bezeichnungen der Materie sind aber nichtsdestoweniger auch bei ihm akzeptabel. 103 Ebd. 30, 11 u. 21-23; ebd. 8 u. 9; ebd. 37, 4; ebd. 28, 17; ebd. 29, 18-21; ebd. 24, 21; ebd. 32, 5-8 u. 34, 1-4.

2. Der Materiebegriff bei Proklos

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allgemeine Form auf der Prinzipienebene das Paar Form – Beraubung ist; 104 2. Die Unterscheidung zwischen Materie und Beraubung: Aristoteles wirft bekanntlich Platon vor, dass er diese Unterscheidung sowie die eng damit zusammenhängende Unterscheidung zwischen absolut und relativ Nicht-Seiendem nicht vornimmt. 105 Die Materie ist nur relativ nicht-seiend, denn sie strebt, trotz ihrer Unbestimmtheit, nach der Form, ist also für die Gestaltung empfänglich, während die Beraubung das absolut Nicht-Seiende, die Abwesenheit der Form ist. 106 Im Unterschied zu Plotin nimmt Proklos diese Unterscheidung auf; 107 3. Die schon erwähnte Unterscheidung zwischen erster und spezieller Materie. 2.8. Der Materiebegriff und seine Beziehung zum Schlechten 108 bei Proklos und Plotin Der Vergleich zwischen den vorgestellten Lehren der zwei Philosophen über das Thema der Materie und vor allem über ihre Beziehung zum ers_____________ 104 105 106 107 108

Arist. Phys., 189b1, 189a29, 191a4-5, 194b8-9, 192a3-6. Arist. Phys., 191b36ff, 192a6-8. Siehe Happ bei Szlezák 1973, 210. Arist. Phys., 192a3-6, 192a13-14, 191a6-7. De mal. sub. 38. Die Wiedergabe des Wortes „Ύ΅ΎϱΑ“ im Deutschen ist eher problematisch, da der griechische Terminus ein außerordentlich breites semantisches Spektrum deckt, das sich von den natürlichen Zerstörungen und den Krankheiten, d.h. den der Funktion der Naturgesetze innewohnenden Phänomenen, bis zur Ungerechtigkeit oder Unzucht, d.h. den Aktualisierungen der individuellen menschlichen Selbstbestimmung erstreckt. Schäfer 2002, 19ff. führt 16 semantische Nuancen des Wortes an, die hauptsächlich in Texten der Zeit von Homer bis Euripides vorkommen. Das Übel, das Böse, das Schlechte sind diejenigen Wörter, die, obgleich sie das Ύ΅ΎϱΑ nur unzulänglich wiedergeben, in der Sekundärliteratur oft mehr oder weniger undifferenziert verwendet werden. Am häufigsten kommt das Wort „das Böse“ vor. K.-H. Volkmann-Schluck, und mit ihm auch andere Forscher, lehnt aber die Wiedergabe „das Böse“ in vor- oder nichtchristlichen Texten ab, denn er meint, dass das durch dieses Wort ausgedrückte Element der vorsätzlichen und ethisch verantwortlichen Wahl in diesen Texten nicht vorkommt. Beierwaltes 1973, 152f Anm. 2 wendet ein, dass dieses Element auch im plotinischen Bösen beinhaltet ist, da „nach Plotin in zunehmendem Maße die Freiheit des Einzelnen für das schlechte Handeln verantwortlich gemacht wird“ (vgl. Schäfer 2002, 23; Schwyzer 1973, 272 Anm. 28). Hier wird das Ύ΅ΎϲΑ mit „das Schlechte“ übersetzt, weil dies m.E. mit seinem breiteren Bedeutungsfeld der Vieldeutigkeit des griechischen Wortes eher gerecht wird, als das primär auf den ethischen Bereich beschränkte Wort „das Böse“; die Pluralform ΘΤȱΎ΅ΎΤ wird stets mit dem Plural „die Übel“ wiedergegeben, da dies die einzige sprachlich mögliche Lösung ist.

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B. Das Verhältnis von Schlechtem und Materie

ten Prinzip, zu der ihr unmittelbar vorangehenden Hypostase und zu den ihr vorangehenden Begriffen in der Ableitungslinie der Zweiheit, der sie im Rahmen der pythagoreischen Begriffsreihen zugeordnet wird, könnte ihre Meinungsverschiedenheit in Bezug auf das Verhältnis von Materie und Schlechtem gewissermaßen erläutern. Ein erster, für unser Thema ausschlaggebender Unterschied betrifft die Entstehung der Materie. Gemäß Proklos wird die Materie unmittelbar vom Guten erzeugt; die Unbegrenztheit, die zusammen mit dem Einen als Erzeuger der Materie aufgeführt wird, steht „vor dem seienden Einen“ (ΔΕϲȱ ΘΓІȱ οΑϲΖȱ ϷΑΘΓΖ), d.h. geht der Grenze, der sie sich als Prinzip der zweiten Hypostase entgegensetzt, ontologisch voran. Diese unmittelbare Zurückführung der Materie auf das Eine hat einerseits die Vermittlung mancher Eigenschaften des Einen an die Materie zur Folge – Eigenschaften, die also nur diese zwei Hypostasen, wenn auch in umgekehrter Weise, besitzen – und andererseits eine Gleichförmigkeit im Inneren der Ableitungslinie der Unbegrenztheit: Die erste Unbegrenztheit, die geistige Materie, die „seelische Materie“ und die Materie der Sinnendinge bilden einen Kreis. Als mit der Unbegrenztheit kontinuierliches, direktes Erzeugnis des Einen auf der Stufe der Seele lässt sich die Materie nicht mit dem absolut Schlechten identifizieren. Plotin lockert das kausale Band zwischen dem Einen und der Materie, insofern er die Erzeugung der Materie durch die untere Seele als einen Prozess beschreibt, der sich von demjenigen der Erzeugung der anderen Hypostasen durch die jeweils vorangehende Hypostase unterscheidet. Die Seele produziert nicht in Vollkommenheit wie das Eine und der Geist, sondern in Schwachheit, aufgrund einer gewissen Armut oder Bedürftigkeit und kraft einer Bewegung zu sich selbst. Durch diesen Riss in der vom Einen ausgehenden Produktionskette will Plotin zeigen, dass das erste Prinzip in der Erzeugung der Materie unbeteiligt bleibt, so dass die Identifizierung der letzteren mit dem Schlechten-an-sich (΅ЁΘΓΎ΅ΎϱΑ) ermöglicht wird. Ein zweiter wichtiger Unterschied betrifft die Möglichkeit der Materie, bestimmt zu werden. Für beide Philosophen ist die Materie selbst der Möglichkeit entblößt, zu der sie erzeugenden Hypostase zurückzukehren und von ihr bestimmt zu werden (diese selbstmächtige Rückkehr ist die Vervollständigung der Produktion des Geistes und der Seele). Bei Plotin wird die Seele „gezwungen“ sich zum zweiten Mal der Materie zuzuwenden, um sie zu bestimmen; die Materie ist aber als verbleibende Beraubung auch der Möglichkeit der passiven Bestimmung entblößt, wie die Verderblichkeit und die Vorläufigkeit der materiellen Formen (πΑϾΏΝΑȱ ΉϢΈЗΑ) zeigen, im Gegensatz zu der die Bestimmung tatsächlich empfangenden geistigen Materie. Bei Proklos ist die Materie aber von einer Nei-

3. Die Identifikation der Materie mit dem Schlechten-an-sich durch Plotin

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gung zur Bestimmung gekennzeichnet und nimmt daher die auf sie projizierten Formen auf; ihre Identifikation mit der Beraubung wird nicht akzeptiert. Die plotinische Unterscheidung der Materie der Sinnendinge vom materiellen Prinzip des Geistes und der Seele gehört mit der Differenz im Prozess ihrer Entstehung zusammen und fungiert gleichsam als Trennwand, die die Materie der Sinnendinge von den ihr vorangehenden Hypostasen isoliert, so dass ihre Identifizierung mit dem Schlechten sich nicht auf diese ausdehnt.

3. Die Identifikation der Materie mit dem Schlechten-an-sich durch Plotin und der Versuch einer Widerlegung dieser Identifikation durch Proklos Plotin stellt in seinem Traktat „ΔΉΕϠȱΘΓІȱΘϟΑ΅ȱΎ΅ϠȱΔϱΌΉΑȱΘΤȱΎ΅ΎΣ“ (Enn. I.8) seine These für die Identifikation der Materie der Sinnendinge mit dem Schlechten-an-sich, die Weise und die Bedeutung dieser Identifikation sowie die sie untermauernden Argumente dar. Diese seine These nahm Proklos nicht an und versuchte sie in den Kapiteln 30-36 seines systematischen Traktats De malorum subsistentia zu widerlegen. 3.1. Die These und die Argumentation der Schrift „ΔΉΕϠȱΘΓІȱΘϟΑ΅ȱΎ΅Ϡȱ ΔϱΌΉΑȱΘΤȱΎ΅ΎΣ“ Am Anfang seines Traktats analysiert Plotin die allgemeine Frage nach der Herkunft des Schlechten 109 in fünf Teilfragen, die ihn im Laufe der Schrift I.8 beschäftigen werden: ob und wie es der menschlichen Erkenntnis zugänglich ist, ob es dem Seienden zugezählt wird, ob es das Seiende im allgemeinen oder eine bestimmte Gattung des Seienden überfällt, in welchem Sinn es gegenteilig zum Guten ist und „was denn das Schlechte, die Natur des Schlechten überhaupt ist“ 110 . Nur diese letzte Frage, sokratischer oder platonischer Form, nach dem Wesen des zu untersuchenden Gegenstandes kann die Erkenntnis der Herkunft der einzelnen Übel und ihrer Stellung im All ermöglichen. _____________ 109 Die Frage hat viele Autoren der Kaiserzeit beschäftigt, sowohl Platoniker wie Plutarch (De animae procreatione in Timaeo, Kap. 6, 1015A), Maximos von Tyros (Discursus 41), Kelsos (Contra Celsum IV, 65) und Numenios (Fr. 52, 48-49), wie auch Christen wie Tertullian (De praescriptione haereticorum, 7,5), Augustin (De civitate Dei XII, 6) und Boethius (De consolatione philosophiae I, 4,30). 110 Plot. I.8.1, 3-4: „ΘϟȱΔΓΘ’ȱπΗΘϠȱΘϲȱΎ΅ΎϲΑȱΎ΅ϠȱψȱΘΓІȱΎ΅ΎΓІȱΚϾΗ΍Ζ“.

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B. Das Verhältnis von Schlechtem und Materie

3.1.1. Die Möglichkeit einer Erkenntnis des Schlechten Unmittelbar nach der Formulierung dieser Frage wird ihre Schwierigkeit festgestellt: Ein Fragetypus, der das Wesen – d.h. die Form – zum Ziel hat, soll etwas erforschen, das keine Form hat. Die Unzweckmäßigkeit des Fragetypus tut die Unzweckmäßigkeit des menschlichen Erkennens kund: Gemäß dem allen Platonikern gemeinsamen Axiom, Erkenntnis realisiere sich als Berührung zwischen Gleichem bzw. Ähnlichem, können die erkennenden Kräfte des Menschen, der Geist und die Seele, die Formen sind, nur Formen erkennen und somit nicht das Schlechte. Eine Lösung dieser Aporie bietet das erkenntnistheoretische Axiom „ΘЗΑȱπΑ΅ΑΘϟΝΑȱψȱ΅ЁΘχȱ·νΑΓ΍Θ’ȱΪΑȱπΔ΍ΗΘφΐ΋“ an 111 . Demzufolge gehört die Erkenntnis des Schlechten mit der des Guten zusammen, denn Gutes und Schlechtes sind Gegenteile – obwohl die Weise der zwischen ihnen bestehenden Gegensätzlichkeit einer weiteren Bestimmung bedarf, da das Gute als erstes Prinzip kein Gegenteil im üblichen Sinne hat. „Nun, wie wir an der Richtschnur nicht nur die Lotrechte erkennen, sondern auch das nicht Lotrechte, auf dieselbe Weise erkennen wir auch an der Tugend das, was sich ihr nicht fügt“ 112 . Die unvollständige Schlechtigkeit (Ύ΅Ύϟ΅) erkennen wir, indem wir die einzelne Form mit der universalen Form vergleichen: Die Schlechtigkeit besteht in der Abwesenheit gewisser Bestandteile der universellen Form bei der einzelnen, und wir erkennen sie, insofern wir uns dieser Abwesenheit vergewissern 113 . Die vollständige Schlechtigkeit „erkennen“ wir durch die vollständige Abstraktion jedes Guten und jeder Form. Diese vollständige Abstraktion ist aber ein Erkenntnisvorgang, der die Grenze des Geistes als Formen erkennender Form überschreitet. Indem er das Gestaltlose einverleibt, gerät der Geist in eine Ekstase, die gleichsam das Umgekehrte der Ekstase in der Schau des Einen ist, und verlässt sein Licht, um sein Gegenteil zu sehen – oder zu erleiden. 114 _____________ 111 Vgl. Arist., An. Pr. 24a21. 112 Plot. I.8.9, 3-4: „ͷΗΔΉΕȱΎ΅ΑϱΑ΍ȱ[·ΑΝΕϟΊΓΐΉΑ]ȱΘϲȱϴΕΌϲΑȱΎ΅Ϡȱΐφ,ȱΓЂΘΝȱΎ΅ϠȱΘϲȱΐχȱπΑ΅ΕΐϱΊΓΑȱ ΘϜȱΦΕΉΘϜȱ [Ύ΅Ύϟ΅Α]“ (hier und bei allen Zitaten aus dem Werk Plotins dt. Übersetzung von R. Harder: Plotins Schriften, übersetzt von R. Harder. Neubearbeitung...von R. Beutler u. W. Theiler, 6 Bd.e, Hamburg 1956-1971; die Übersetzung wurde leicht modifiziert wo notwendig). 113 I.8.9, 8-14: „̏νΕΓΖȱΓЇΑȱϳΕЗΑΘΉΖȱΘХȱΔ΅ΕϱΑΘ΍ȱΐνΕΉ΍ȱΘϲȱΦΔϲΑȱΏ΅ΐΆΣΑΓΑΘΉΖ,ȱϵȱπΗΘ΍ȱΐξΑȱ πΑȱΘХȱϵΏУȱΉϥΈΉ΍,ȱπΎΉϧȱΈξȱΩΔΉΗΘ΍Α,ȱΓЂΘΝȱΎ΅Ύϟ΅ΑȱΏν·ΓΐΉΑ,ȱπΑȱΦΓΕϟΗΘУȱΘϲȱπΗΘΉΕ΋ΐνΑΓΑȱ Ύ΅Θ΅Ώ΍ΔϱΑΘΉΖ.ȱ̍΅ϠȱΈχȱπΔϠȱΘϛΖȱЂΏ΋ΖȱΓϩΓΑȱ΅ϢΗΛΕϱΑȱΘ΍ȱΔΕϱΗΝΔΓΑȱϢΈϱΑΘΉΖ,ȱΓЁȱΎΕ΅ΘφΗ΅Ȭ ΑΘΓΖȱ πΑȱ ΅ЁΘХȱ ΘΓІȱ Ώϱ·ΓΙ,ȱ ГΗΘΉȱ ΎΕϾΜ΅΍ȱ Θϲȱ ΘϛΖȱ ЂΏ΋Ζȱ ΅ϨΗΛΓΖ,ȱ ΅ϢΗΛΕϲΑȱ Κ΅ΑΘ΅ΊϱΐΉΌ΅ȱ ΘϜȱΘΓІȱΉϥΈΓΙΖȱπΏΏΉϟΜΉ΍“.

114 I.8.9, 15-26.

3. Die Identifikation der Materie mit dem Schlechten-an-sich durch Plotin

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3.1.2. Die Verortung des Schlechten im Wahrnehmbaren und seine Identifikation mit der Materie Vom Schlechten kann gesagt werden, „es ist Ungemessenheit gegen Maß, Unbegrenztheit gegen Grenze, Ungestaltetheit gegen gestaltende Kraft und ewige Bedürftigkeit gegen Selbstgenügsamkeit, ist immer unbestimmt und niemals ruhend, jeglicher Einwirkung unterworfen, nie zu ersättigen, vollständige Armut; und diese Bestimmungen sind ihm nicht zufällige Begleitumstände, sondern sie machen sozusagen seine Substanz aus; und welchen Teil von ihm du auch ins Auge faßt, er ist seinerseits all das; die übrigen Dinge dagegen, welche an ihm nur teilhaben und ihm sich angleichen, die können zwar als schlecht in Erscheinung treten, aber nicht wesenhaft schlecht sein“ 115 . Eine Übersicht über das Gute, den Geist und die Seele – also das jenseits des Seienden und das Seiende – wird zeigen, dass das Schlechte bei ihnen nicht vorkommt (Kap. 1-2). Anschließend wird die Sinnenwelt untersucht. Das Wahrnehmbare wird als Nicht-Seiendes bestimmt, freilich nicht im Sinne von absolut Nicht-Seiendem, sondern vom Anderen des Seienden. Diese Andersheit wird hier als eine Beziehung zwischen Urbild und Abbild bestimmt: Das nicht-seiende Sinnending ist nur ein Bild des seienden Intelligiblen, „oder gar in noch höherem Grade nichtseiend“, und wird von der Andersheitsbeziehung zwischen dem Seienden und der Bewegung und Stillstand um es, d.h. der Seele, unterschieden.116 Die „Hypostase“ des Schlechten wird von Plotin mit der Materie identifiziert. Die Materie ist als das den Formen Zugrundeliegende zum einen absolut gestaltlos und somit am Guten – dessen Seinsweise auf der Stufe der Sinnendinge geradezu die Abbilder der Formen ist – unteilhaftig, zum anderen absolut einfach und qualitätslos. Weil sie absolut einfach und qualitätslos ist, wird sie wie gesagt durch ihre Bezeichnungen an sich bestimmt; ihre Bezeichnungen kommen ihr nicht per accidens zu. Wenn sie also als schlecht, weil am Guten unteilhaftig, bezeichnet wird, dann muss sie das „erste Schlechte und das an sich Schlechte“ (Ύ΅ΎϲΑȱΘϲȱΔΕЗΘΓΑȱΎ΅Ϡȱ Ύ΅Ό’ȱ΅ЀΘϲȱΎ΅ΎϱΑ) sein. 117 _____________ 115 I.8.3, 13-20: „ΦΐΉΘΕϟ΅ΑȱΉϨΑ΅΍ȱΔΕϲΖȱΐνΘΕΓΑȱΎ΅ϠȱΩΔΉ΍ΕΓΑȱΔΕϲΖȱΔνΕ΅ΖȱΎ΅ϠȱΦΑΉϟΈΉΓΑȱΔΕϲΖȱ ΉϢΈΓΔΓ΍΋Θ΍ΎϲΑȱ Ύ΅Ϡȱ ΦΉϠȱ πΑΈΉξΖȱ ΔΕϲΖȱ ΅ЄΘ΅ΕΎΉΖ,ȱ ΦΉϠȱ ΦϱΕ΍ΗΘΓΑ,ȱ ΓЁΈ΅ΐϜȱοΗΘЏΖ,ȱ Δ΅ΐΔ΅ΌνΖ,ȱ ΦΎϱΕ΋ΘΓΑ,ȱΔΉΑϟ΅ȱΔ΅ΑΘΉΏφΖаȱΎ΅ϠȱΓЁȱΗΙΐΆΉΆ΋ΎϱΘ΅ȱΘ΅ІΘ΅ȱ΅ЁΘХ,ȱΦΏΏ’ȱΓϩΓΑȱΓЁΗϟ΅ȱ΅ЁΘΓІȱ Θ΅ІΘ΅,ȱΎ΅ϠȱϵȱΘ΍ȱΪΑȱ΅ЁΘΓІȱΐνΕΓΖȱϥΈϙΖ,ȱΎ΅Ϡȱ΅ЁΘϲȱΔΣΑΘ΅ȱΘ΅ІΘ΅аȱΘΤȱΈ’ȱΩΏΏ΅,ȱϵΗ΅ȱΪΑȱ΅ЁΘΓІȱ ΐΉΘ΅ΏΣΆϙȱΎ΅ϠȱϳΐΓ΍ΝΌϜ,ȱΎ΅ΎΤȱΐξΑȱ·ϟΑΉΗΌ΅΍,ȱΓЁΛȱϵΔΉΕȱΈξȱΎ΅ΎΤȱΉϨΑ΅΍.“.

116 I.8.3, 9. 117 I.8.3, 39-40.

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B. Das Verhältnis von Schlechtem und Materie

Die Qualitätslosigkeit der Materie widerspricht nicht ihrer Bezeichnung als schlecht, denn das Schlechte wird von der Materie nicht als eine Qualität prädiziert, sondern als ihr Sein selbst oder ihre Natur – die Materie hat nämlich eine Natur, obwohl sie qualitätslos ist. 118 Die Materie ist vielmehr schlecht, gerade weil sie qualitätslos ist, d.h. jeder Qualität und somit jeder Form beraubt. Sie ist eine „Natur, welche der Form entgegengesetzt ist“ (πΑ΅ΑΘϟ΅ȱΘХȱΉϥΈΉ΍ȱΚϾΗ΍Ζ). 119 3.1.3. Das Problem des „Wesens“ des Schlechten Wie das Obige zeigt, postuliert Plotin mit besonderem Nachdruck die Existenz eines nach O’Meara 120 „transzendentalen“ Prinzips aller Übel. Als Prinzip geht es den einzelnen Übeln voraus; letztere sind auf es zurückzuführen, d.h. sind schlecht, insofern sie an ihm teilhaben. Es handelt sich also um eine Beziehung, die analog ist zu derjenigen zwischen dem Guten und seinen Erzeugnissen. Dieses Prinzip identifiziert Plotin, wie gesagt, mit der Materie, indem er auf die gleich am Anfang des Traktats gestellte Frage – „was denn das Schlechte...überhaupt ist“ (Θϟȱ ΔΓΘ’ȱ πΗΘϠΑȱ Θϲȱ Ύ΅ΎϲΑ) antwortet, das Wesen des Schlechten bestimmend. Es stellt sich hier die Frage, wie es möglich sein soll, dass von der Materie das Schlechte in genau derselben Weise prädiziert wird, wie bei Plotin den Wesenheiten ihre wesentlichen Bestimmungen zugeschrieben werden. Das Paradox liegt darin, dass die Materie der Sinnendinge kein Wesen ist, sondern relativ Nicht-Seiendes, während das Schlechte seinerseits als vollständige Beraubung des Guten eine ebenso vollständige Beraubung des Seins ist. Plotin ist das Paradox freilich bewusst, sagt er doch selbst, dass die wesensmäßigen Bestimmungen des Schlechten „gleichsam die Substanz“ (ΓϩΓΑȱΓЁΗϟ΅) 121 der Materie, die „Substanz des Schlechten, sofern es auch vom Schlechten irgendwie eine Substanz geben kann“ 122 , ausmachen sollten. 3.1.4. Die Notwendigkeit des Schlechten Plotin behandelt das Thema der Notwendigkeit des Schlechten, indem er den Satz auslegt, mit dem Sokrates auf die Äußerung des Theodoros ant_____________ 118 119 120 121 122

I.8.10, 2-6. I.8.10, 12-16. O’Meara 1997, 36. I.8.3, 17. I.8.3, 38: „Ύ΅ΎΓІȱΈχȱΓЁΗϟ΅Α,ȱΉϥȱΘ΍ΖȱΎ΅ϠȱΈϾΑ΅Θ΅΍ȱΎ΅ΎΓІȱΓЁΗϟ΅ȱΉϨΑ΅΍“.

3. Die Identifikation der Materie mit dem Schlechten-an-sich durch Plotin

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wortet, dass die Übel der Menschen sich verminderten, wenn sie sich von Sokrates überzeugen ließen: „Das Schlechte, o Theodoros, kann weder ausgerottet werden, denn es muss immer etwas dem Guten entgegengetetztes geben, noch auch bei den Göttern seinen Sitz haben. Unter der sterblichen Natur aber, und in dieser Gegend zieht es umher jener Notwendigkeit gemäß“ 123 . Einleitend versucht Plotin die Bedeutung der sterblichen Natur und „dieser Gegend“ zu verdeutlichen, indem er sagt, dass sie sich nicht etwa auf die Erde beziehen, sondern die Bosheit bezeichnen, 124 deren Ort das „aus dem Geist und der Notwendigkeit“ bestehende All ist, das gerade deswegen sterbliche Natur genannt wird, weil es als erzeugt nicht an sich unsterblich ist, sondern immerwährend vom Erzeugenden erhalten wird. 125 In der Stelle des Theaitetos wird die Notwendigkeit der Existenz der Übel auf die Notwendigkeit der Existenz eines Gegenteils (ЀΔΉΑ΅ΑΘϟΓΙȱ Θ΍ΑΓΖ) des Guten zurückgeführt. Plotin versucht zu verstehen, in welchem Sinn oder in welcher Weise die Übel das Gegenteil vom Guten sind, sowie den Grund, aus dem die Existenz eines solchen Gegenteils notwendig ist. 126 3.2. Proklos’ Antwort auf die These Plotins (De malorum subsistentia 30-37) Proklos widmet der Widerlegung der plotinischen Identifizierung der Materie mit dem ersten Schlechten acht Kapitel seines systematischen Traktats über das Problem des Schlechten. Sein gänzlich verlorener Kommentar zur Schrift I.8, Teil seines – mit Ausnahme weniger Fragmente – nicht erhaltenen Enneadenkommentars, war wohl die Vorlage dieser Kapitel. 3.2.1. Vorstellung der Stellungnahme Plotins Proklos fasst im 30. Kapitel von De malorum subsistentia die zu widerlegende plotinische These 127 in zwei für die Schrift I.8 grundlegende Aussagen _____________ 123 Plat. Theait. 176a5-8: „ΦΏΏ’ȱ ΓЄΘ’ȱ ΦΔΓΏνΗΌ΅΍ȱ ΘΤȱ Ύ΅ΎΤȱ ΈΙΑ΅ΘϱΑ,ȱ Иȱ ̋ΉϱΈΝΕΉȱ Ȭȱ ȱ ЀΔΉΑ΅ΑȬ ΘϟΓΑȱ ·ΣΕȱ Θ΍ȱ ΘХȱ Φ·΅ΌХȱ ΦΉϠȱ ΉϨΑ΅΍ȱ ΦΑΣ·Ύ΋ȱ –ȱ ΓЄΘ’ȱ πΑȱ ΌΉΓϧΖȱ ΅ЁΘΤȱ ϡΈΕІΗΌ΅΍,ȱ ΘχΑȱ Έξȱ ΌΑ΋ΘχΑȱΚϾΗ΍ΑȱΎ΅ϠȱΘϱΑΈΉȱΘϲΑȱΘϱΔΓΑȱΔΉΕ΍ΔΓΏΉϧΑȱπΒȱΦΑΣ·Ύ΋Ζ“; vgl. Plot. I.8.6, 1-4.

124 125 126 127

I.8.6, 4-13. I.8.7, 4-11. I.8.6, 20-22. Freilich werden hier weder Plotin noch die Schrift Ɗ.8 ausdrücklich erwähnt, es steht aber fest, dass dieser Text die Quelle der hier aufgeführten Ansichten ist. Das Referat des Proklos umschreibt Abschnitte der Schrift I.8 (vgl. De mal. sub. 30, 3-7 mit I.8.10, 4-16; 30, 8-11 mit I.8.3, 12-16; 30, 14-21 mit I.8.3, 22-24), und seine Formulierungen weisen manchmal direkt auf den plotinischen Text hin: Die

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B. Das Verhältnis von Schlechtem und Materie

zusammen. Die erste besagt, dass das erste Schlechte, als Gegensatz zum Guten, absolute „Maßlosigkeit, das Unbegrenzte selbst, unvollkommen und unbestimmt“ 128 ist und mit der Materie identisch. Diese Eigenschaften werden von der Materie nicht als accidentia oder Qualitäten prädiziert, was der Qualitätslosigkeit der Materie widerspräche, sondern wesensmäßig, als ihr Sein, was – wie schon gezeigt – eine notwendige Konsequenz ihrer Einfachheit ist. Die zweite Aussage, die der ersten logisch vorangeht und sie bedingt, postuliert ein Schlechtes-an-sich als Prinzip aller an ihm teilnehmenden sekundär schlechten Dinge, analog zur Zurückführung alles einzelnen Guten auf das erste Gute als ihr Prinzip. Die beiden Gedanken werden durch die Behauptung Plotins bekräftigt, dass das Schlechte bei den Seelen sich auf die Materie zurückführen lässt, nämlich als Fall in die Materie und Angleichung an sie, wie auch das Schlechte bei den Körpern, das in der Überwältigung der Form durch die Materie besteht. 3.2.2. Das ontologisch-monistische Argument gegen die Identifikation der Materie mit dem ersten Schlechten (31, 5-18) Seine Auseinandersetzung mit Plotin eröffnet Proklos mit seinem stärksten Argument gegen dessen These, das sich gegen die erste Aussage im Kapitel 30 richtet, zugleich aber darauf zielt, auch die zweite umzuwerfen. Es zeigt die Unmöglichkeit der Identifikation einer Hypostase mit dem erstlich Schlechten im Rahmen eines monistischen Systems, wo das Gute erstes Prinzip ist. 129 „(5) Aber, wenn die Materie [etwas] Schlechtes ist, - man muss nähmlich wieder zu der Alternative übergehen - dann ergeben sich zwei Möglichkeiten: Entweder muss man das Gute (6) zur Ursache des Schlechten machen, oder aber zwei Anfangsgründe der Seienden annehmen. Denn ein jedes, (7) das irgendwie besteht, ist notwendig entweder Anfangsgrund von allem oder stammt aus dem Anfangsgrund. Stammt die Materie aber (8) vom Anfangsgrund, dann tritt auch sie aus dem Guten hervor in das Sein; (9) ist sie aber selbst Anfangsgrund, dann müssen wir zwei Anfangsgründe den

_____________ Eigenschaften der Materie bestimmen sie (De mal. sub. 30, 12-13) „ΓЁΎȱ ΩΏΏ΅ȱ ϷΑΘ΅ȱ Δ΅Ε’ȱπΎΉϟΑ΋,ȱΦΏΏ’ȱπΎΉϟΑ΋“ (Ɗ.8.3, 20-21: „ΓЁΛȱρΘΉΕ΅ȱϷΑΘ΅ȱπΎΉϟΑ΋Ζ,ȱΦΏΏ’ȱπΎΉϟΑ΋“), die sekundären Übel werden solche (30, 18) „ΐΉΘ΅ΏφΜΉ΍ȱ ύȱ ϳΐΓ΍ЏΗΉ΍“ (Ɗ.8.8, 39: „ϳΐΓ΍ЏΗΉ΍ȱ ύȱ ΐΉΘ΅ΏφΜΉ΍“) am ersten Schlechten, die Materie aber ist (30, 5-6) „ЀΔΓΎΉϟΐΉΑΓΑ,...ΦΏΏ’ȱΓЁΎȱΩΏΏΓȱπΑȱΩΏΏУ“ (Ɗ.8.10, 8-9: „ψȱΈξȱЂΏ΋ȱΓЁΎȱπΑȱΩΏΏУ,ȱΦΏΏΤȱ ΘϲȱЀΔΓΎΉϟΐΉΑΓΑ“). 128 De mal. sub. 30, 11: „ΦΐΉΘΕϟ΅ȱΎ΅Ϡȱ΅ЁΘΓΣΔΉ΍ΕΓΑȱΎ΅ϠȱΦΘΉΏξΖȱΎ΅ϠȱΦϱΕ΍ΗΘΓΑ“. 129 Dieses Argument behandelt O’Meara in seinem Artikel „Das Böse bei Plotin (Enn. I,8)“; Schäfer antwortet mit dem Artikel „Proklos’ Argument aus De malorum subsistentia 31,5 – 21 in der modernen Interpretation“.

3. Die Identifikation der Materie mit dem Schlechten-an-sich durch Plotin

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Seienden zugrunde legen, welche miteinander (10) kämpfen, nämlich das erstlich Gute und das erstlich Schlechte. Das ist aber (11) unmöglich. Die ersten [Prinzipien] können nämlich nicht zwei sein: Woher denn [gäbe es] überhaupt [die Zwei], gäbe es nicht die Einheit? (12) Wenn nämlich ein jedes von ihnen beiden eines ist, dann muss es vor beiden das Eine geben, durch welches diese (13) beiden je eines sind, und nur einen Anfangsgrund. Auch aus dem Guten kann das Schlechte nicht kommen. Wie nämlich die Ursache (14) der guten Dinge in höherem Maße gut ist, so muss wohl auch das, was das Schlechte hervorbringt, (15) in höherem Maße schlecht sein. Auch würde das Gute nicht mehr sein Wesen behalten, (16) wenn es den Anfangsgrund des Schlechten hervorbringt. Wenn das Erzeugte sich überall dem Erzeugenden anzugleichen pflegt, dann müsste das Schlechte selber gut sein, gut gemacht nämlich durch Teilnahme an seiner Ursache, so dass das Gute (17) schlecht sein wird als Ursache des Schlechten, und das Schlechte gut, weil es vom Guten (18) hervorgebracht ist.“ 130

Proklos versucht, die These Plotins zu einem ausweglosen Dilemma zu führen: Wenn jedes Ding entweder Prinzip oder Erzeugnis des Prinzips ist 131 und das Gute Prinzip ist, dann müsste das Schlechte entweder ein Prinzip oder aus dem Guten hervorgegangen sein. Die erste Option dieses Dilemmas ist also der Prinzipiendualismus, der sowohl bei Plotin wie auch im Ganzen des neuplatonischen Gedankes im Voraus ausgeschlossen ist. Nichtdestoweniger führt Proklos hier ein ontologisches Argument gegen den Dualismus (V. 11-13) an, das später durch ein theologisches Argument ergänzt wird, demzufolge die Existenz eines „anderen“ (ΩΏΏ΋Ζ) ersten Prinzips, d.h. eines „anderen“ Gottes, einen Krieg des schlechten Prinzips gegen das gute bedeuten und somit den Streit und den Aufruhr in _____________ 130 „ȱΎ΅ΎϲΑȱψȱЂΏ΋ – iterum enim ad altera transeundum – ΈΙΓϧΑȱΌΣΘΉΕΓΑȱΦΑΣ·Ύ΋,ȱύȱ ΘϲȱΦ·΅ΌϲΑȱΘΓІȱΎ΅ΎΓІȱΔΓ΍ΉϧΑȱ΅ϥΘ΍ΓΑ,ȱύȱΈϾΓȱΘЗΑȱϷΑΘΝΑȱΦΕΛΣΖ.ȱ̝ΑΣ·Ύ΋ȱΐξΑȱ·ΤΕȱΔκΑȱΘϲȱ ϳΔΝΗΓІΑȱЀΚΉΗΘАΖȱύȱΦΕΛχΑȱΉϨΑ΅΍ȱΘЗΑȱϵΏΝΑȱύȱπΒȱ ΦΕΛϛΖаȱΘχΑȱ ΈξȱЂΏ΋ΑȱπΒȱΦΕΛϛΖȱΐξΑȱ ΓЇΗ΅Α,ȱΦΔϲȱΘΓІȱΦ·΅ΌΓІȱΎ΅Ϡȱ΅ЁΘχΑȱσΛΉ΍ΑȱΘχΑȱΉϢΖȱΘϲȱΉϨΑ΅΍ȱΔΣΕΓΈΓΑ,ȱΦΕΛχΑȱΈξȱΓЇΗ΅Α,ȱ ΈϾΓȱψΐϧΑȱΘЗΑȱϷΑΘΝΑȱЀΔΓΆΣΏΏΉ΍ΑȱΦΕΛΤΖȱΐ΅ΛΓΐνΑ΅ΖȱΦΏΏφΏ΅΍Ζ,ȱΘϱȱΘΉȱΔΕЏΘΝΖȱΦ·΅ΌϲΑȱΎ΅Ϡȱ ΘϲȱΔΕЏΘΝΖȱΎ΅ΎϱΑаȱΦΏΏ’ȱΦΈϾΑ΅ΘΓΑаȱΓЄΘΉȱ·ΤΕȱΈϾΓȱΘΤȱΔΕЗΘ΅аȱΔϱΌΉΑȱ·ΤΕȱϵΏΝΖ,ȱΐΓΑΣȬ ΈΓΖȱΓЁΎȱΓЄΗ΋Ζ;ȱ̈Ϣȱ·ΤΕȱοΎΣΘΉΕΓΑȱΘΓϧΑȱΈΙΓϧΑȱρΑ,ȱΈΉϧȱΔΕϲȱΦΐΚΓϧΑȱΉϨΑ΅΍ȱΘϲȱρΑ,ȱСȱΘ΅ІΘ΅ȱ ςΑȱΩΐΚΝ,ȱΎ΅Ϡȱΐϟ΅ΑȱΦΕΛφΑ.

ȱȱ

̒ЄΘ’ȱπΎȱΘΓІȱΦ·΅ΌΓІȱΘϲȱΎ΅ΎϱΑаȱБΖȱ·ΤΕȱΘϲȱΘЗΑȱΦ·΅ΌЗΑȱ΅ϥΘ΍ΓΑȱΐΉ΍ΊϱΑΝΖȱΦ·΅ΌϱΑ,ȱΓЂΘΝȱΈχȱ Ύ΅Ϡȱ Θϲȱ ΘΓІȱ Ύ΅ΎΓІȱ ·ΉΑΑ΋Θ΍ΎϲΑȱ ΐΉ΍ΊϱΑΝΖȱ ΪΑȱ Ήϥ΋ȱ Ύ΅ΎϱΑаȱ Ύ΅Ϡȱ ΓЁΈξȱ Θϲȱ Φ·΅ΌϲΑȱ σΘ΍ȱ ΘχΑȱ ο΅ΙΘΓІȱΚϾΗ΍ΑȱρΒΉ΍,ȱΘχΑȱΘΓІȱΎ΅ΎΓІȱΔ΅ΕΣ·ΓΑȱΦΕΛφΑ. Si autem ubique genitum assimilari

amat ad generans, et ipsum utique malum bonum erit, bonificatum propter transumptionem cause ipsius; ȱ Θϲȱ ΐξΑȱ Φ·΅ΌϲΑȱ σΗΘ΅΍ȱ Ύ΅ΎϲΑȱ БΖȱ ΘΓІȱ Ύ΅ΎΓІȱ ΅ϥΘ΍ΓΑ,ȱ Θϲȱ Έξȱ Ύ΅ΎϲΑȱ Φ·΅ΌϲΑȱБΖȱπΎȱΘΓІȱΦ·΅ΌΓІȱΔ΅Ε΋·ΐνΑΓΑ“.

131 S. Arist. Phys., 203b6: „nun sei alles entweder [selbst] ursprünglicher Anfang oder Folge eines solchen Anfangs“ („ΧΔ΅ΑΘ΅ȱ·ΤΕȱύȱΦΕΛχȱύȱπΒȱΦΕΛϛΖ“).

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B. Das Verhältnis von Schlechtem und Materie

den Bereich des Göttlichen einführen würde; so würde aber seine Seligkeit und Vollkommenheit aufgehoben. 132 Wenn der Dualismus ausgeschlossen ist, dann ist das Gute das einzige erste Prinzip. Notwendigerweise wird also die zweite Option des Dilemmas angenommen, der Prinzipienmonismus, der als gemeisame Grundlage des Denkens der beiden Philosophen das Feld ist, auf dem Proklos wirklich intendiert, die These Plotins als unhaltbar, weil latent dualistisch, nachzuweisen. Wenn also das Gute einziges Prinzip von allen Dingen (ơ) und damit auch der Materie (Ƣ) ist, und wenn man die folgenden beiden Sätze: (a) Jede Ursache ist in höherem Grad das, was ihr Erzeugnis ist 133 , und (b) jedes Erzeugnis gleicht sich an seine Ursache an, als Gesetze der Produktion der Dinge von ihrem Prinzip annimmt, dann führt die Identifizierung der Materie mit dem ersten Schlechten zu zwei unhaltbaren Schlüssen: Vom Blickpunkt des Gesetzes (a) aus gesehen, hat diese Identifizierung zur Folge, dass das Gute als Ursache des ersten Schlechten in höherem Grade schlecht sein müsste; vom Blickpunkt des Gesetzes (b) aus gesehen, hat sie zur Folge, dass das erste Schlechte als Erzeugnis des Guten sich ihm angleichen müsste, also kraft der Teilhabe an seiner Ursache gut werden müsste. Dieses Argument stellt die Achse der proklischen Widerlegung dar. Auf ihm beruht sein Gedanke, dass die Identifizierung der Materie als aus dem ersten Prinzip herausfließender „Hypostase“ mit dem Schlechten die Struktur eines monistischen Systems durchschlägt. In diesem Gedanken kommen die Vorbehalte und Einwände zusammen, die dieser Identifikation gegenüber von den Platonikern nach Plotin – erstmals schon von Porphyrios – geäußert worden sind. 134 Wie die aufeinanderfolgenden Ver_____________ 132 De mal. sub. 36, 7-12. 133 Arist. Metaph. 993b24-26; vgl. Lloyd 1976, 152-155. 134 Obwohl er die plotinische Identifizierung der Materie mit dem Schlechten annimmt (Sent. 30, 3-5), unterlässt es Porphyrios, sie konsequent anzuwenden (s. Hager 1962, 93f). Iamblichos lehnt die plotinische These ausdrücklich ab (De comm. math. scient. IV S. 15, 12) und führt manche Positionen ein, die dem Traktat des Proklos zugrundeliegen, wie die Ablehnung der Existenz eines „metaphysischen“ Schlechten als einziger per se Ursache aller Übel, der folgliche Ausschluss der Übel aus der Kausalkette der Seienden (De comm. math. scient. IV S. 18, 1-12; De myst. IV 7 S. 190, 6), ihre Beschränkung auf die Einzelseelen und die Körper (De comm. math. scient. IV S. 18, 1-12) und die Zurückführung der Übel der Menschenseele – die als die Übel par excellence betrachtet werden – auf die versagende ΔΕΓ΅ϟΕΉΗ΍Ζ (De myst. IV 10 S. 194, 3-7; bei Proklos, In Tim. III 334, 4ff) sowie den Begriff Δ΅ΕΙΔϱΗΘ΅Η΍Ζ. Demzufolge ist Iamblichos eine wichtige Quelle des Proklos (s. Schröder 1916, 192-193 und 197; Hager 1962, 9395; Bechtle 1999, 63-82, bes. 81). Salloustios, der der Schule des Iamblichos an-

3. Die Identifikation der Materie mit dem Schlechten-an-sich durch Plotin

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suche der modernen Forscher für eine Auflösung dieser Schwierigkeit zeigen, ist sie eine der wichtigsten Probleme des plotinischen Denkens. Dieses Argument begründet ferner den Versuch des Proklos, die Schwierigkeit dadurch zu überwinden, dass er die Materie vom Schlechten abkoppelt, indem er sie einerseits in sein monistisches System vollständig einverleibt, andererseits die Wirklichkeit der Übel so bestimmt, dass sie kein Glied der ontologischen Kette ausmachen. Aufgrund der grundlegenden Bedeutung dieses Arguments scheint es zweckmäßig, die Ausführungen derjenigen Forscher, die durch eine Ablehnung der Gültigkeit des erwähnten Arguments die Schwierigkeit im plotinischen Denken zu überwinden versuchten, hier kritisch zu besprechen. Ihre Einwände tragen wesentlich zum besseren Verständnis des Arguments bei, da sie seine Prämissen und Konsequenzen hervorheben. 3.2.2.1. Überprüfung der Gültigkeit des Arguments Weder O’Meara 135 noch Schäfer 136 sind bereit anzuerkennen, dass der zweite unhaltbare Schluss von den Prämissen Plotins gültig abgeleitet ist. Tatsächlich beugt Plotin diesem Schluss gleichsam vor, indem er die Materie vom Gültigkeitsbereich des Gesetzes ausschließt, demzufolge jedes Erzeugnis sich seiner Ursache angleicht; 137 allerdings erscheint diese Ausnahme eher beliebig. _____________ gehört, behauptet in De deis et mundo XII, 1-6 dass, wenn die Götter gut und Quelle des Alls sind, das Schlechte nicht zum Seienden gehört, sondern als Abwesenheit des Guten in manchen menschlichen Tätigkeiten erscheint, und zwar nicht weil der Mensch es als solches will, sondern weil er nicht vermag, es vom erwünschten Guten zu unterscheiden. Diese These ist auffallend ähnlich derjenigen des Proklos (wenn auch m.E. nicht ähnlich genug, um eine direkte Abhängigkeit des letzteren von Salloustios zu belegen, wie E. Corsini will; s. Corsini 1962, hierzu 16ff; vgl. Manno 1986, 210-213). Wahrscheinlich systematisierte Proklos Gedanken und Argumente, die die ganze späte neuplatonische Tradition – in der Frage des Schlechten von Plotin abweichend – erarbeitet hatte (s. Schröder 1916, 186-205; Blumenthal 1981, 212-221, bes. 220). Seine unmittelbare Quelle ist anscheinend Syrianos gewesen (Bechtle 1999, 64), dessen Gedanken über das Schlechte viele der aufgeführten Thesen zusammenfassen (s. Sheppard 1982, 9-11). 135 O’Meara 1997, 45. 136 Schäfer 1999, 178. 137ȱȱPlot. I.8.4, 22-25 u. III.6.7. Nach Schäfer ist selbst bei Proklos dieser Satz keine Regel des Emanationssystems, sondern gilt bloß ut in pluribus, worauf die Wahl des Wortes amat im Satz ubique genitum assimilari amat ad generans hindeute. Meiner Meinung nach entkräftet hier amat den Infinitiv assimilari nicht, sondern bringt vielmehr seine beständige Wiederholung zum Ausdruck. Hier gibt es wahrschein-

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B. Das Verhältnis von Schlechtem und Materie

Die erste Zurückführung auf das Unmögliche wird von O’Meara als gültig akzeptiert, d.h. als Feststellung eines im Rahmen des plotinischen Systems unbehebbaren Widerspruchs: Wenn alles aus dem Guten fließt, dann hätte die unterste Emanationsstufe als „das letzte Echo des Guten“ betrachtet werden müssen und nicht als der absolute Mangel oder sogar das absolute Gegenteil des Prinzips. 138 Die von O’Meara formulierte Aporie ergibt sich daraus, wie Plotin den Gegensatz zwischen Gutem und Schlechtem in I.8.6 auslegt. Proklos setzt anscheinend diese Schlussfolgerung voraus, wenn er sagt, dass die Materie keineswegs deswegen schlecht wäre, weil sie als allerletzte Hypostase des Guten beraubt ist. Schäfer unternimmt die Verteidigung der These Plotins und zugleich die Zurückweisung ihrer Widerlegung durch Proklos. Er will zeigen, dass erstens die Weise des Gegensatzes zwischen dem Guten und der Materie als letzter Stufe bei Plotin so aufgefasst ist, dass sich die Materie mit dem Schlechten als absolutem Gegenteil des Guten identifiziere (und keine bloß abgeschwächte Manifestation des Guten darstelle), und zweitens diese Art des Gegensatzes die Ausnahme der Produktionsbeziehung zwischen dem Guten und der Materie von der Gültigkeit des Produktionsgesetzes (a) zur Folge habe. Er stützt seine beiden Thesen einerseits auf die Darstellung der Skala der ganzen Zahlen als Beispiel einer Abstufung, wo, seiner Meinung nach, sich die letzte Stufe notwendigerweise in einer Gegensatzbeziehung zu den vorangehenden befindet, die mit der Beziehung der plotinichen Materie zum Guten vergleichbar wäre, und andererseits auf die Zurückführung des Gegensatzes „Gut – Schlecht“ auf den Gegensatz „Seiend – Nicht-Seiend“. Exkurs: Die Art des Gegensatzes zwischen Gutem und Schlechtem Die Schlussfolgerung Schäfers kann folgendermaßen zusammengefasst werden: Wenn man irgendeine Stufe der Skala der ganzen Zahlen betrachtet, sieht man, dass sie sich herabsteigend gemäß der Formel Μ = Λ-1 entwickelt, wobei Λ die jeweils gegebene Zahl, 1 die Elementareinheit des Systems und Μ die nächste Stufe bezeichnet. Diese Entwicklung führt notwendigerweise zur letzten Anwendung der Produktionsformel 1-1 = 0, _____________ lich das Verb Κ΍ΏνΝ wieder (s. Boese 1960, 281), das bei ontologischen Aussagen vorkommt ohne ihre Gültigkeit zu schwächen (so z.B. im Satz „ΚϾΗ΍Ζȱ ΎΕϾΔΘΉȬ ΗΌ΅΍ȱΚ΍ΏΉϧ“ Heraklit Fr. 69 M. Conche, Héraclite Fragments Paris PUF 1986 [123 Diels-Kranz]). Dies bestätigt auch das Adverb „ubique“, das gerade die uneingeschränkte Gültigkeit des assimilari unterstreicht.ȱȱ 138 O’ Meara 1997, 44.

3. Die Identifikation der Materie mit dem Schlechten-an-sich durch Plotin

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deren Ergebnis die letzte Stufe oder die Unterlage der Skala ist. Auf diesen Parallelismus stützt Schäfer seine Thesen. Die 0 ist nicht die kleinste Zahl, sondern das Gegenteil von Zahl. Ihre Beziehung zu den ganzen Zahlen ist die absolute Andersheit, obwohl sie von ihrer Skala, gemäß ihrer Produktionsformel produziert wird. Dieser die Grenze der Gattung überschreitende Gegensatz kann auch auf die Beziehung zwischen Gutem und Materie bzw. Schlechtem übertragen werden: Es handelt sich nicht um einen „aggressiven“ Gegensatz – wie derjenige zwischen Tugend und Bosheit – sondern vielmehr um einen Gegensatz, der sich als radikale Andersheit oder Differenz auslegen lässt. Hier stellt Schäfer das Verhältnis von Seiendem und Nicht-Seiendem als den grundlegenden Aspekt des Gegensatzes zwischen Gutem und Materie-Schlechtem dar: 139 „Gutes und Schlechtes, Sein und ‚Nicht-Sein’“ unterscheiden sich „bei Plotin als eigene Bestimmungsklassen gerade weil sie kein Gemeinsames, kein einendes Substrat haben, auch kein gemeinsames ‚Betätigungsfeld’ oder keinen gemeinsamen Gegenstandsbereich o.ä, auf dessen Grundlage ihr diametrales Aufeinandertreffen als antagone Gegensätze stattfinden könnte“. 140 In einer solchen Beziehung zwischen asymptotischen Wirklichkeiten, und nicht mehr zwischen Seinsrängen, gilt das Produktionsgesetz (a) nicht. Es stellt sich hier zunächst die Frage, inwiefern das Vergleichsbeispiel wirklich geeignet ist. Schäfer behauptet, die Skala der ganzen Zahlen könne als Beispiel von Nutzen sein, weil sie ja für Plotin selbst eine genauso selbstverständliche Wirklichkeit wie die ontologische Abstufung darstellt. Bei Plotin aber ist die Konstitutionsweise der Skala der Zahlen wesentlich anders als die von Schäfer beschriebene: Die Zahlen werden nacheinander vom Einen erzeugt, das die Spitze (und nicht die vorletzte Stufe) ihrer Skala ist. Dieser Parallelismus kann also im Rahmen des plotinischen Denkens nicht durchgeführt werden, da Schäfer bei seiner Annäherung an die Skala der Zahlen von eher „modernen“ Prämissen ausgeht. 141 Dieser Vergleich stellt jedoch die wichtige Frage, ob der Gegensatz des Schlechten zum Guten wirklich analog zu demjenigen zwischen der Null und der ganzen Zahl ist, ob er also einen Gegensatz zwischen Seien_____________ 139 Das Verhältnis von Seiendem und Nicht-Seiendem ist bei Plotin allerdings tatsächlich ein Aspekt der Beziehung zwischen Gutem und Schlechtem. 140 Schäfer 1999, S.183. 141 Wenn man die beiden Skalen auf der Basis von „modernen“ Prämissen betrachten will (wie oberflächlich es auch sein mag, undifferenziert von „modernen“ Gedanken im allgemeinen zu reden), ließen sich die zu vergleichenden Skalen als zwei logisch konstruierte Strukturen für die Ordnung der Daten der sinnlichen oder geistigen Wahrnehmung beschreiben, die absolut inkommensurabel wären, so dass ein Vergleich keinen Schluss in Bezug auf die innere logische Kohärenz der einen oder der anderen erbringen würde.

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B. Das Verhältnis von Schlechtem und Materie

dem und Nicht-Seiendem (und keinen „aggressiven“ Gegensatz innerhalb einer Gattung, wie derjenige zwischen Tugend und Bosheit) darstellt. Im Unterschied zu der Beschreibung dieses Gegensatzes bei Schäfer muss man bemerken, dass trotz der tatsächlich absoluten Trennung des Guten von der Materie nicht im allgemeinen gesagt werden kann, das Gute und die Materie hätten bei Plotin kein gemeinsames Betätigungsfeld: An sich getrennt voneinander als Sein und Nicht-Sein, existieren sie dennoch auf der ontologischen Ebene der Sinnenwelt, die Produkt ihrer Mischung ist, in einer gewissen Weise zusammengeflochten. Auf dieser ontologischen Ebene befinden sie sich in einer Kampfbeziehung, die sich sowohl bei den Naturkörpern als Kampf zwischen Materie und Form wie auch im Menschen als Kampf zwischen der Geistseele und dem Körper aktiviert. Wenn aber die Übel auf ein erstes „transzendentes“ Prinzip zurückzuführen sind, genauso wie alles Gute sich vom einen Guten ableitet, dann ist es schwierig zu verstehen, warum der Gegensatz zwischen den produktiven Ursachen eine neutrale Andersheit sein sollte, während derjenige zwischen ihren Produkten ein Kampf ist. 142 Die Materie ist bei Plotin das „mit dem Seienden“ (ϳΐΓІȱΘХȱϷΑΘ΍) Nicht-Seiende und nicht das nihil negativum; sie kann also mit der Null nicht parallelisiert werden. F.P. Hager versucht das Argument des Proklos durch dieselbe Zurückführung des Gegensatzes zwischen Gutem und Schlechtem auf denjenigen zwischen Seiendem und Nicht-Seiendem zu widerlegen. Er behauptet, dass keine Dualismusgefahr besteht, denn das Schlechte ist Verneinung des Seienden oder des Geistes, d.h. des zweiten (und nicht des ersten) Guten. Es stellt also kein zweites Absolutes dar – ist es doch keine Verneinung des Einen-Absoluten, sondern eher ein gegenüber dem Sein relatives nicht-Sein, das somit dem Einen-Guten untergeordnet werden kann. Das Paradox der Verursachung des Schlechten durch das Gute werde behoben, wenn man in Betracht ziehe, dass das Gute überwesentlich und das Schlechte als Negation des Seins „unterwesentlich“ ist, so dass die Beziehung zwischen beiden außerhalb unseres Erkenntnisfeldes steht und folglich die Verursachung des Schlechten durch das Gute außerhalb des Gültigkeitsbereichs der Emanationsgesetze steht. 143 Die angeführte Widerlegung beruht auf einem bestimmten Verständnis der Unterscheidung zwischen dem überwesentlichen Einen oder ers_____________ 142 Viele Texte Plotins widersprechen übrigens auch der Ansicht Schäfers, dass das Schlechte bei ersterem kein tatkräftiges, aktives Prinzip wäre: Die Aktivität der Materie wird anschaulich u.a. in I.8.8 dargestellt, wo von der Anziehung und dem Verderben der Seele durch die Materie die Rede ist, sowie auch in ƊI.4.15, wo die Materie als Urbild der Unbegrenztheit bezeichnet wird. 143 Hager 1962, 95-96.

3. Die Identifikation der Materie mit dem Schlechten-an-sich durch Plotin

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ten Guten, das kein Gegenteil haben kann, und dem sekundär Guten oder Geist oder Seienden, dem das Schlechte entgegensteht. Diesem Verständnis zufolge wäre das erste Gute von seinen Erzeugnissen, d.h. der Skala des Seienden, so scharf getrennt, dass der Gegensatz des Schlechten als Nicht-Seienden zum (sekundär) Guten sich außerhalb vom Einen abspielt. Es kann folglich sein, dass das Schlechte – indem es einem Gegensatz innerhalb des Seienden zugeordet wird und kein Gegenteil des ersten Guten bildet – im Rahmen der uns unbekannten Gesamtbeziehung von Gutem und Seiendem einen gewissen Sinn hat und so im Plan des Guten eingeordnet und letztendlich gut ist. Eine derart scharfe Trennung zwischen erstem und zweitem Guten hätte zur Folge, dass der Name „das Gute“ oder „das Eine“ als ein bloß konventionell gebrauchtes Zeichen betrachtet würde, das das „jenseits des Wesens“ Stehende zeigt, ohne dass der Inhalt des Wortes mit der zu zeigenden „Sache“ etwas zu tun hätte, wie es z.B. bei den Eigennamen meistens der Fall ist. Plotin drückt sich tatsächlich oft in einer Weise aus, die die Interpretation zulässt, diese Trennung sei so scharf, dass der Gegensatz zwischen sekundär Gutem und Schlechtem das erstlich Gute überhaupt nicht berührt. 144 Wenn er aber, vor der Aufführung seiner Ansicht, dass das Gute in einer gewissen Weise ein Gegenteil haben kann, rhetorisch fragt: „Indessen, wenn das Gute Wesenheit ist, wie kann es da einen Gegensatz zu ihm geben? Oder gar zu dem, das noch jenseits von Wesenheit liegt?“ 145 , lässt er verstehen, dass das Folgende sowohl das sekundär wie auch das primär Gute betrifft, und setzt anscheinend dabei eine unterschiedliche Interpretation dieser Trennung und des aussagenden Wertes der Namen des Guten voraus: Die Namen des „jenseits des Wesens“ Stehenden können es freilich nicht definieren, bringen es aber zu einem gewissen Grad zum Ausdruck. Der Begriff des Guten steht also mit dem erstlich Guten in einer gewissen Beziehung. Als das Gegenteil dieses Begriffes ist also das Schlechte das Gegenteil auch des erstlich Guten. Im System Plotins lässt sich meiner Meinung nach der Gegensatz zwischen Gutem und Schlechtem nicht auf denjenigen zwischen Seienden oder Wesen und Nicht-Seienden oder Nicht-Wesen zurückführen, was eine Unterordnung des Schlechten unter das Gute im Sinne F.P. Hagers voraussetzt. Die Widerlegung des Proklos impliziert mit Recht, dass Plotin das Schlechte bloß Nicht-Seiendes oder Nicht-Wesen nennt, ohne dass er in seinen Ausführungen die Konsequenzen dieser Bezeichnung ziehe. Wenn die Übel von ihm als auf ein „transzendentes“ aktives Prinzip zu_____________ 144 Plot. VI.9.3, bes. 49-54. 145 I.8.6, 27-28: „ΦΏΏ’ȱΉϢȱΓЁΗϟ΅ȱΘΦ·΅ΌϱΑ,ȱΔЗΖȱπΗΘ΍Αȱ΅ЁΘХȱΘ΍ȱπΑ΅ΑΘϟΓΑ;ȱύȱΘХȱπΔνΎΉ΍Α΅ȱΓЁΗϟ΅Ζ;“.

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B. Das Verhältnis von Schlechtem und Materie

rückführbar verstanden werden, welches seinerseits im Folgenden mit der Materie als letzter Stufe der ontologischen Skala und notwendigem Substrat der Sinnenwelt identifiziert wird, dann werden der Materie Prädikate zugeschrieben, die mit der Definition des Schlechten als Nicht-Seiendes unvereinbar sind – Einheit, Aktivität einer Ursache und eines Urbildes, Hypostase (Vorhandensein) eines nachdrücklich „wirklichen“ Substrats der Sinnenwelt – die im Gegenteil auf ein Verständnis des Schlechten als Wesens hinweisen. Auch Plotin selbst scheint, wie gezeigt, dieses Problem wahrgenommen zu haben. Mit seinem Argument will Proklos vielleicht andeuten, dass die Weise des Gegensatzes von Gutem und Schlechtem bei Plotin weder diejenige eines Gegensatzes innerhalb einer Gattung ist, noch aber allein oder zuallererst eines Gegensatzes zwischen Seiendem und Nicht-Seiendem, sondern vielmehr zwischen zwei ersten Prinzipien, wobei die Zurückführung des einen auf das andere äußerst problematisch ist. Er versucht also einen mit der grundlegenden monistischen Position Plotins unvereinbaren, latenten Prinzipiendualismus in seiner Theorie des Schlechten hervorzuheben. 146 Die Gegenargumente Hagers scheinen die von Proklos kritisierten plotinischen Thesen gegen Proklos bloß zu wiederholen: Auf den Einwand des Proklos, Plotin bleibe nicht seiner Bestimmung des Schlechtenan-sich als das Nicht-Seiende treu, indem er das mit der Materie identifizierte Schlechte-an-sich so beschreibe, als ob es ein zweites Prinzip wäre, antwortet F.P. Hager, dass Plotin das Schlechte-an-sich doch als NichtSeiendes bestimmt. Er scheint also das Argument des Proklos zu umgehen, ohne seinen Blickwinkel rekonstruieren zu wollen. _____________ 146 Für manche Versuche zur Aufhebung des Problems s. O’Brien 1996, 171-195; Ders. 1971, 113-146; Hager 1962, 73-103; Benz 1990, 120 u. 125. Nach Inge 1948 Bd.2, 132f (ihm folgt auch Rist 1961, 155; 160), der die Ursache des in Rede stehenden Problems im Zusammenfallen der Bewertungsskala mit der ontologischen Skala sieht (in letzterer gibt es keine „minus signs“, während es in ersterer absolut negative Wirklichkeiten - also solche, die nicht sein sollten - durchaus gibt) und nach Bréhier 1961, der die Identifizierung der Materie mit dem ersten Schlechten auf die Ethik beschränken und somit relativieren will, indem er behauptet, sie gelte nur in Bezug auf die vom Einen her absteigende Seele und nicht für die zum Einen aufsteigende, behauptet auch Costello 1967, 483-497, dass bei Plotin die Materie nur in ethischer und nicht in ontologischer Hinsicht schlecht sei. Diese Unterscheidung der Bewertungsskala von der Seinshierarchie ist aber Plotin eher fremd. Für ihn leitet sich das ethisch Schlechte oder das Schlechte bei den Seelen von einem ihm äußeren Prinzip ab, von der Materie, die eine primär ontologische – und nicht ethische – Wirklichkeit darstellt: Folglich lässt sich ihre Identifizierung mit dem ersten Schlechten nicht auf die ethische Ebene beschränken (vgl. Benz 1990, 120; O’Meara 1999, 37; ƍƜƭƯƲ 2002, 103f).

3. Die Identifikation der Materie mit dem Schlechten-an-sich durch Plotin

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3.2.3. Das kosmologische Argument gegen die Identifizierung von Materie und erstem Schlechten Dieses Argument des Proklos lässt sich folgenderweise zusammenfassen: „Da er die Materie im Timaios nämlich ‚Mutter’ und ‚Amme des Werdens’ und ‚Nebenursache’ der Weltschöpfung nennt, ist jedem klar, dass er sie als etwas Gutes auffasst, denn er nennt die ganze Welt einen ‚glücklichen Gott’, die Materie aber einen Teil der Welt“ 147 . Als Aufnahmeort (ЀΔΓΈΓΛφ) der Entstehung der Sinnendinge ist die Materie für die Vervollständigung des Alls notwendig. 148 Das Notwendige wird als das definiert, was um eines Anderen willen vorhanden ist, wobei aber nichts anderes um des Notwendigen willen existiert: Es ist folglich nicht gut, weil es nicht πΚΉΘϲΑ ist. Es ist nicht schlecht, denn seine Zielursache ist das Gute und es „bezieht sich auf es“ 149 ; „das eine [sc. das Notwendige] ist solches, ohne welches [der Kosmos] nicht sein kann, das andere [sc. das Schlechte] ist Fehlen des Seins“ 150 . Diese Bedeutung des Notwendigen beschreibt, wie schon erwähnt, die kosmologische Rolle der Materie. 151 Das Verlangen (σΚΉΗ΍Ζ) nach dem Guten ist konstitutiv für die Existenz des Notwendigen; es kann das Gute nur „im Anderen“ (πΑȱ ΩΏΏУ) besitzen und nur kraft dieser Neigung. 152 Diese Neigung, die sich in der Empfänglichkeit der Materie als Zugrundeliegendes für die Formen der Sinnendinge ausdrückt, erklärt, warum die Materie mit dem Schlechten nicht identifiziert wird, obwohl ihr auch bei Proklos kosmologische Bestimmungen wie Maßlosigkeit, Unbestimmtheit und Unbegrenztheit zugewiesen werden, die als Negationen der Bezeichnungen des Guten auch das Schlechte bezeichnen: Die in diesen Bestimmungen enthaltene Negation kann, laut Proklos, erstens einen kämpfenden Gegensatz, zweitens bloße Abwesenheit und drittens _____________ 147 De mal. sub. 34, 2-5: „̳ΑȱΐξΑȱ·ΤΕȱΘХȱ̖΍ΐ΅ϟУȱΐ΋ΘνΕ΅ȱΎ΅ϠȱΘ΍ΌφΑ΋Αȱ΅ЁΘχΑȱΘϛΖȱ·ΉΑνΗΝΖȱ Ύ΅ΏЗΑȱΎ΅ϠȱΗΙΑ΅΍Θϟ΅ΑȱΘϛΖȱΘΓІȱΎϱΗΐΓΙȱΈ΋ΐ΍ΓΙΕ·ϟ΅Ζ omni manifestus est tanquam bonum ipsam ponens, totum quidem mundum felicem deum nominans, materiam autem mundi particulam“. 148 Ebd. 32, 1-3. 149 Ebd. 36, 17-18: „πΔ’ȱ΅ЁΘϲȱΘχΑȱΦΑ΅ΚΓΕΤΑȱσΛΉ΍“. 150 Ebd. 32, 4-5: „ΘϲȱΐνΑȱ[sc.ȱΘϲȱΦΑ΅·Ύ΅ϧΓΑ]ȱπΗΘ΍ȱΘΓ΍ΓІΘΓΑȱΓЈȱΛΝΕϠΖȱΉϨΑ΅΍ȱΦΈϾΑ΅ΘΓΑ,ȱΘϲȱ ΈξȱΘΓІȱΉϨΑ΅΍ȱΗΘνΕ΋Η΍Ζ“. 151 Die Verflechtung von wertenden und kosmologischen Aspekten in einem Begriff ist im Rahmen der werthierarchischen Ontologie des Proklos nicht überraschend; vgl. Ninci 1980, 210-220. 152 De mal. sub. 36, 29-32. vgl. ebd. 36, 22.

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B. Das Verhältnis von Schlechtem und Materie

den das Mangelnde verlangenden Mangel bedeuten. 153 Im Fall der Materie hat die Negation die dritte Bedeutung. 154 3.2.4. Das exegetische Argument 155 Proklos widmet der Interpretation einiger platonischen Stellen zum Verhältnis von Materie und Schlechtem die Kapitel 34 und 35 des Traktats De malorum subsistentia. Er stellt fest, dass die These Platons auf den ersten Blick schwer zu finden und eindeutig zu formulieren ist: „Es scheint aber auch Platon zu beiden Argumentationsrichtungen [sc. zu der Identifikation der Materie mit dem Schlechten und zu ihrer Ablehnung] gleichsam hingezogen zu werden“ 156 . Proklos will jedoch zeigen, dass Platon keine widersprüchlichen Positionen vertritt, indem er durch die angemessene Auslegung der einschlägigen Stellen die Einheit seiner These hervorhebt. Den Eindruck von Widersprüchlichkeit bewirkt die Gegenüberstellung der Stellen aus dem Timaios, wo die Materie – nach Proklos – Mutter oder Amme des Werdens (·νΑΉΗ΍Ζ) und Mitursache der Schöpfung der Welt genannt wird, die ihrerseits als glückseliger Gott (ΉЁΈ΅ϟΐΝΑȱ ΌΉϱΖ) bezeichnet wird, und der Stellen aus dem Politikos, wo gesagt wird, die Welt besitze „von dem, welcher sie eingerichtet...alles Schöne; alles aber, was Widerwärtiges und Unrechtes unter dem Himmel geschieht, stammt ihr selbst von ihrer vorigen Beschaffenheit her“ 157 , und dass „das Körperliche...mit großer Unordnung behaftet war, ehe es zu der jetzigen Weltordnung gelangte“ 158 . Der proklischen Interpretation zufolge betreffen die negativen Bewertungen im Politikos nicht die Materie, denn das Körperliche (ΗΝΐ΅ΘΓΉ΍ΈνΖ) ist nicht die Materie – d.h. die Notwendigkeit (ΦΑΣ·Ύ΋) oder die Chora im Timaios, – son_____________ 153 Ebd. 32, 9-12. 154 Die Materie vermag nicht zu kämpfen – da sie weder agieren noch leiden kann –, kann aber auch nicht einfache Abwesenheit von Maß, Bestimmung und Form sein, weil sie die Formen empfängt (ebd. 32, 12-16). 155 Die Unterscheidung zwischen ontologischen und kosmologischen Argumenten einerseits und exegetischen andererseits ist hier – wie überall bei Proklos – bloß oberflächlich, denn die ersteren werden mit platonischen Stellen begründet und die letzteren sind freilich vom Inhalt her ontologisch oder kosmologisch. Proklos selbst versteht den ganzen Traktat De mal. sub. (s. Kap. 1), so wie sein ganzes Denken, als Platonexegese. 156 Ebd. 34, 1-2: „Videbitur autem utique et ipse Plato velut trahi ad ambas rationes“. 157 Plat. Pol., 273b7 – c1: „Δ΅ΕΤȱΐξΑȱ·ΤΕȱΘΓІȱΗΙΑΌνΑΘΓΖȱΔΣΑΘ΅ȱΎ΅ΏΤȱΎνΎΘ΋Θ΅΍аȱΔ΅ΕΤȱΈξȱ ΘϛΖȱσΐΔΕΓΗΌΉΑȱρΒΉΝΖ,ȱϵΗ΅ȱΛ΅ΏΉΔΤȱΎ΅ϠȱΩΈ΍Ύ΅ȱπΑȱΓЁΕ΅ΑХȱ·ϟ·ΑΉΘ΅΍“. 158 Plat. Pol., 273b4-7: „ΘϲȱΗΝΐ΅ΘΓΉ΍ΈνΖ...ΔΓΏΏϛΖȱώΑȱΐΉΘνΛΓΑȱΦΘ΅Βϟ΅ΖȱΔΕϠΑȱΉϢΖȱΘϲΑȱΑІΑȱ ΎϱΗΐΓΑȱΦΚ΍ΎνΗΌ΅΍.“.

3. Die Identifikation der Materie mit dem Schlechten-an-sich durch Plotin

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dern das „ungehörig und ordnungslos Bewegte“, das mit der ersten Materie nicht zu identifizieren ist, da es laut Timaios – im Gegensatz zur qualitätslosen und damit unsichtbaren Materie – sichtbar ist 159 . Die ungehörige und ordnungslose Bewegung, die mit der „vorigen Beschaffenheit“ (σΐΔΕΓΗΌΉΑȱ ρΒ΍Ζ) im Politikos identifiziert wird, ist freilich nicht die an sich unbewegte Materie, 160 sondern eine Bewegung um sie herum, ein verworrenes hin und her der Spuren der verschiedenen Formen auf oder um die Materie, „vor“ dem ordnenden Eingreifen des Demiurgs. 161 Diese Interpretation führt Proklos zum Schluss, dass Platon die Zurückführung der Übel auf die Materie nirgendwo annimmt, was übrigens dem grundlegenden Axiom seines Denkens, demzufolge Gott die Ursache der Übel nicht sein kann, widerspräche, da die Materie der im Philebos – nach Proklos – von Gott erzeugten Unendlichkeit zuzuordnen ist.

_____________ 159 Plat. Tim., 30a3. 160 De mal. sub. 34, 15-20. 161 Ebd. 34, 21-26.

C. Proklos’ Behandlung des Problems des Schlechten 1. Die Auffassung der Gegensätzlichkeit zwischen Gutem und Schlechtem und die Natur des Schlechten Proklos versteht die Gegensätzlichkeit zwischen Gutem und Schlechtem anders als Plotin. Er stellt sogar in Plotins Verständnis der Gegensätzlichkeit, das der Ganzheit der Ausführungen in I.8 zugrundeliegt, einen latenten Prinzipiendualismus fest. Das Anliegen seiner eigenen Konzeption, das er in offener Auseinandersetzung mit Plotin verdeutlicht, besteht darin, den Gegensatz von Gut und Schlecht in der Weise zu beschreiben, dass das Schlechte in das Ganze seiner monistischen Ontologie eingefügt werden kann, ohne dass es seine „Wirklichkeit“ einbüßt. 1 1.1. Der Gegensatz von Gutem und Schlechtem als Gegensatz zwischen einzelnen Gütern und Übeln Proklos lehnt zunächst die Existenz eines ΅ЁΘΓΎ΅ΎΓІ als absolutem Gegenteil des Guten ab. Wenn das Schlechte dem Seienden zugezählt wird, ist es unmöglich, dass seine Existenz als Gegenteil des primär Guten angenommen werden könnte, denn (1) die Gegenteile verderben sich gegenseitig, und es ist daher unmöglich, dass Etwas von seinem Gegenteil erzeugt wird; insofern also alles Seiende vom Guten erzeugt wird, kann das Schlechte als Gegenteil des Guten nicht dem Seienden zugehören, und (2) die Gegensätze gehören einer gemeinsamen Gattung an, die ihnen ontologisch vorangeht und deren Teile sie sind; dem erstlich Guten aber geht nichts voran . 2 Ferner, wenn es das absolute Gegenteil des Seienden (ΐ΋Έ΅ΐЗΖȱϷΑ) – als absolute Beraubung – überhaupt nicht gibt, ist um so mehr die Exis_____________ 1 2

De mal. sub. 5, 25-26. Ebd. 37, 12-21. In dieser seiner Schlussfolgerung übersieht Proklos die Abwandlung des aristotelischen Begriffs des Gegensatzes, die Plotin vornimmt (aus der aristotelischen Definition: „ΘΤȱ·ΤΕȱΔΏΉϧΗΘΓΑȱΦΏΏφΏΝΑȱΈ΍ΉΗΘ΋ΎϱΘ΅ȱΘЗΑȱπΑȱΘХȱ΅ЁΘХȱ ·νΑΉ΍ȱπΑ΅ΑΘϟ΅ȱϳΕϟΊΓΑΘ΅΍“, Cat 6a17-18, lässt Plotin die Worte „ΘЗΑȱπΑȱΘХȱ΅ЁΘХȱ·νȬ ΑΉ΍“ aus und schreibt: „πΑ΅ΑΘϟ΅ȱΘΤȱΔΏΉϧΗΘΓΑȱΦΏΏφΏΝΑȱΦΚΉΗΘ΋ΎϱΘ΅“, Ɗ.8.6., 40-41), um das erste Schlechte als Gegenteil des Guten darstellen zu können, und kehrt darin zur „peripatetischen Orthodoxie“ zurück (Opsomer 2001, 100-102).

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C. Proklos’ Behandlung des Problems des Schlechten

tenz eines Gegenteils des Guten unmöglich, insofern das erstlich Gute dem Seienden vorangeht oder jenseits davon steht. 3 1.2. Die Notwendigkeit der Existenz eines Gegenteils des Guten Den Satz des Sokrates in Theaitetos 176a5-6 („das Schlechte, o Theodoros, kann auch nicht ausgerottet werden, denn es muss immer etwas dem Guten entgegengesetztes geben“ 4 ) erklärend, führt Proklos die Notwendigkeit der Existenz eines Gegenteils zum Guten auf die Notwendigkeit des Wirkens von zwei Arten der Teilhabe am Guten und an den Formen in der ontologischen Hierarchie zurück, einer ewigen und unveränderlichen und einer vorläufigen und wandelbaren. 5 Die vorläufige Teilnahme am Guten impliziert aber zwangsläufig eine Art Beraubung der Teilnahme am Guten. 6 1.3. Unterscheidung von zwei Weisen der Beraubung Proklos nimmt eine Unterscheidung zwischen der Beraubung als bloßer Abwesenheit einer Form und der in Rede stehenden Beraubung der Teil_____________ 3 4

5

6

De mal. sub. 3, 1-11. Platon, Theaet. 176a5-6: „ΦΏΏ’ȱ ΓЄΘ’ȱ ΦΔΓΏνΗΌ΅΍ȱ ΘΤȱ Ύ΅ΎΤȱ ΈΙΑ΅ΘϱΑ,ȱ Иȱ ̋ΉϱΈΝΕΉаȱ ЀΔΉΑ΅ΑΘϟΓΑȱ·ΣΕȱΘ΍ȱΘХȱΦ·΅ΌХȱΦΉϠȱΉϨΑ΅΍ȱΦΑΣ·Ύ΋“. Proklos führt zwar den folgenden Gedanken als Argument für den das Schlechte unter die seienden Dinge stellenden Diskurs (Ώϱ·ΓΖ) aus, den er als eine bloß mögliche Lösung zum Problem der Existenz des Schlechten vorstellt (De mal. sub. 4-7), bevor er sein eigenes Verdikt ausdrücklich ausspricht (De mal. sub. 8-10); es kann aber angenommen werden, dass dieser spezifische Gedanke seine Ansicht wirklich zum Ausdruck bringt, weil er einerseits eine Voraussetzung seines Verdikts darstellt und andererseits sich mit der Ausführung über die Gegensätzlichkeit von Gutem und Schlechtem in den Kapiteln 51-54 vollständig übereinstimmt. De mal. sub. 7, 1-12; Elem. Theol. 63, 1-3; Elem. Theol. 7, 1-2; In Tim. I 372, 25 – 373, 21. Wenn das Gute das an ihm selbst vorläufig Teilnehmende nicht hervorbrächte, dann hätte das ewig Teilnehmende den letzten Platz auf der ontologischen Skala inne, und wäre damit nicht gut (In Tim. I 372, 27-31). Dieses Argument scheint ein Zirkelschluss zu sein, denn das Abnehmen des Gutseins bei den untersten Stufen der Seinshierarchie wird als Prämisse verwendet, um die Notwendigkeit der vorläufigen Teilnahme aufzuzeigen, die ihrerseits aber gerade für dieses Abnehmen verantwortlich ist. De mal. sub. 7, 25-27; In Tim. I 376, 15 – 377, 7. Die Schlussfolgerung, mit der Proklos die Notwendigkeit der Existenz eines relativen Gegenteils des Guten erweist, ist strukturell derjenigen ähnlich, die Plotin für seine These verwendet, dass die letzte Stufe der Ableitungshierarchie am Guten absolut unteilhaftig und damit sein absolutes Gegenteil sein muss (I.8.7, 16-23).

1. Die Auffassung der Gegensatzlichkeit zwischen Gutem und Schlechtem

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nahme am Guten vor. 7 Die erste „ist“ als Nicht-Seiendes an sich und hängt in keiner Weise von dem ab, dessen Beraubung sie „ist“, es sei denn insofern sie seine völlige Abwesenheit voraussetzt; ferner stellt sie ein einfaches oder absolutes Nichts dar, das Nicht-Seiende im Sinne von nihil negativum. 8 Aber der Mangel der Teilnahme am Guten ist „an ihm selbst...nun nicht fähig zu sein, noch ist er gänzlich gelöst von der Natur, deren Mangel er ist“, sondern „erhält auf gewisse Weise von ihr Kraft und tritt durch die Verflechtung mit ihr in die Ordnung der Dinge, welche im Gegensatz zum Guten stehen“. 9 Dieses Entgegensetzen kommt darin zum Ausdruck, dass diese Art von Beraubung beim jeweiligen Seienden aus dessen eigener Kraft schöpft, die im jeweiligen Seienden vom eigenen einzelnen Guten erzeugt wird (so wie „das Gute in allen Seienden die allererste Kraft erzeugt hat“), um diese Kraft gegen das einzelne Gute zu verwenden. 10 Die erste Weise der Beraubung ist die Beraubung oder Abwesenheit einer Form, 11 wie sie bei Aristoteles dargestellt wird, die sich nicht aktiv dem Guten entgegensetzen kann, da sie als absolut Nicht-Seiendes auch über keine Möglichkeit verfügt, aktiv zu werden. 12 Die zweite Weise ist die partielle Beraubung eines einzelnen Guten, die dieses Gute als sein Gegenteil „bekämpft“, indem sie sich seine Kraft aneignet. 13 Nur mit diesem modifizierten Beraubungsbegriff kann die Bestimmung des Schlechten als Beraubung gegen das den Vertretern der unabhängigen Existenz des Schlechten durch Proklos zugeschriebene Argument verteidigt werden, demzufolge das Schlechte keine bloß partielle _____________ 7

8 9

Es muss hier daran erinnert werden, dass Proklos die von Plotin vertretene Identifizierung der Materie mit der Beraubung ( I.8.7, 7,16-23) ablehnt und zwar mit dem Argument, dass die Materie der Form zugrundeliegt, während die Beraubung in der Anwesenheit der Form verschwindet. Auch hier eignet er sich also eine aristotelische These an (vgl. Opsomer 2001, 176-182). De mal. sub. 7, 27-28; 8, 19-22. Ebd. 7, 27-30: „΅ЁΘχȱΎ΅Ό’ȱο΅ΙΘχΑȱΉϨΑ΅΍ȱΐχȱΈΙΑ΅ΐνΑ΋ȱΐ΋ΈξȱΦΔΓΏΉΏΙΐνΑ΋ȱΔΣΑΘϙȱΘϛΖȱ ΚϾΗΉΝΖ,ȱ ϏΖȱ πΗΘ΍ȱ ΗΘνΕ΋Η΍Ζ,ȱ ΘΕϱΔΓΑȱ Θ΍Α΅ȱ ΈΙΑ΅ΐΓΙΐνΑ΋ȱ Δ΅Ε’ȱ ΅ЁΘϛΖ,ȱ Έ΍Τȱ ΘχΑȱ ΔΕϲΖȱ ΅ЁΘχΑȱ πΔ΍ΔΏΓΎχΑȱΉϢΖȱΘχΑȱΘЗΑȱπΑ΅ΑΘϟΝΑȱΔΕϲΖȱΘϲȱΦ·΅ΌϲΑȱΎ΅ΌϟΗΘ΅Θ΅΍ȱΘΣΒ΍Α“.

10 11 12 13

Ebd 7, 27-37. Ebd. 38, 22-24. Ebd. 52, 5-7. Ebd. 52, 7-10. Auf dieser Unterscheidung von zwei „Arten“ der Beraubung beruht auch die – anders als bei Plotin konzipierte – Verknüpfung des Gegensatzes von Gutem und Schlechtem mit demjenigen von Seiendem und Nicht-Seiendem: Den zwei Weisen der Beraubung des Guten entsprechen die zwei Bedeutungen von Nicht-Seiendem, das „ΐ΋Έ΅ΐЗΖȱϷΑ“ und das „ϳΐΓІȱΘХȱϷΑΘ΍ȱΐχȱϷΑ“ oder die „οΘΉΕΓ΍Ȭ ϱΘ΋Ζ“; dem Schlechten als partieller Beraubung eines einzelnen Guten entspricht das Nicht-Seiende in seiner zweiten Bedeutung.

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C. Proklos’ Behandlung des Problems des Schlechten

Beraubung (im überlieferten aristotelischen Sinn) oder Mangel am Guten und somit geringeres Gutes sein kann, weil das geringere Gute, wenn es wächst, besser wird, während die Übel, wie z.B. die Ungerechtigkeit, wenn sie wachsen, schlechter werden. 14 Die Bestimmung des Schlechten als partielle Beraubung, die sich aber dem Guten aktiv entgegensetzt, widerspricht dem letzten Satz nicht. Die Bestimmung des Schlechten als partielle Beraubung des einzelnen Guten des jeweiligen konkreten Seienden kann mit der erwähnten These, dass das erste Gute kein Gegenteil hat, kohärent harmonisiert werden: „Nichts kann also dem erstlich Guten entgegengesetzt sein, auch nicht allen denen, welche Anteil geben, sondern nur denen, die nicht immer auf die gleiche Weise Anteil nehmen“. 15 1.4. Die Nichtexistenz eines An-sich-Schlechten als Prinzip aller Übel Die aufgeführten Gedanken des Proklos über die Nichtexistenz eines Gegenteils des erstlich Guten und die Auffassung des Schlechten als Gegenteil des jeweils einzelnen Guten derjenigen einzelnen Seienden, die am Guten nicht ewig und unveränderlich teilnehmen können, machen zusammen einen von zwei Anhaltspunkten für die Ablehnung der plotinischen Zurückführung aller Übel auf ein „transzendentes“ Prinzip aus.16 Nach Proklos müsste ein Schlechtes-an-sich als das Gegenteil des erstlich Guten konzipiert werden, und die Nichtexistenz des letzteren hat das Nichtbestehen des ersteren zur Folge. 17 Ferner existiert auch nicht das „überhaupt nicht Seiende“, das Gegenteil zum Seienden oder sekundären Guten. Die einzelnen Übel sind, nach Proklos, Manifestation des Nicht-Seienden, das auf den niedrigeren Stufen der ontologischen Hierarchie mit dem Seienden, als dessen eigenartige Beraubung oder Gegenteil, zusammengeflochten ist. 1.5. Die Natur des Schlechten Die Behandlung der Natur des Schlechten im Kapitel 51 von De malorum subsistentia scheint der obigen These des Proklos zu widersprechen. 18 Am _____________ 14 Ebd. 6, 3-24. 15 Ebd. 37, 21-23: „ΓЁΈξΑȱ ΩΕ΅ȱ Θϲȱ πΑ΅ΑΘϟΓΑȱ ΘХȱ ΔΕЏΘΝΖȱ Φ·΅ΌХ,ȱ ΦΏΏ’ȱ ΓЁΈξȱ ΘΓϧΖȱ ΐΉΘΉȬ ΛΓΐνΑΓ΍ΖȱΔκΗ΍Α,ȱΦΏΏ’ȱΓϩΖȱΐχȱБΗ΅ϾΘΝΖȱψȱΐνΌΉΒ΍Ζ“. 16 Die andere Stütze dieser These macht, wie weiter unten gezeigt werden wird, die proklische Interpretation der Kausalität des Schlechten aus. 17 De mal. sub. 37, 9-12. 18 Hager 1962, 103.

1. Die Auffassung der Gegensatzlichkeit zwischen Gutem und Schlechtem

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Anfang des Kapitels ist die Rede vom Schlechten-an-sich, das vollständige Beraubung des Guten ist. Wir können folglich die „Natur und die Form“ des – gleichwohl – gestaltlosen Schlechten „an sich“ (Ύ΅Ό’ȱο΅ΙΘφΑ) erkennen, indem wir die dem Guten zugeschriebenen Bestimmungen verneinen. 19 In diesem Punkt scheint Proklos Plotin zu folgen, sowohl in der Beschreibung der Möglichkeit einer Erkenntnis des Schlechten wie auch im Gebrauch des Begriffs ΅ЁΘΓΎ΅ΎϱΑ (das Schlechte an sich) . 20 Im Verlauf des Kapitels werden die Bestimmungen der Natur des Schlechten, Produkte der schon erwähnten negativen Methode, angeführt: Das Schlechte ist unbegrenzt (ΩΔΉ΍ΕΓΑ), Schwäche (ΦΗΌνΑΉ΍΅), Asymmetrie (ΦΗΙΐΐΉΘΕϟ΅), Lüge (ΜΉІΈΓΖ), Hässlichkeit (΅ϢΗΛΕϱΘ΋Ζ), verderbend (ΚΌ΅ΕΘ΍ΎϱΑ), spaltend (Έ΍΅΍ΕΉΘ΍ΎϱΑ), unvollkommen (ΦΘΉΏνΖ), unbestimmt (ΦϱΕ΍ΗΘΓΑ), unfruchtbar (Ω·ΓΑΓΑ), untätig (ΦΕ·ϱΑ), Ursache der Unähnlichkeit und der Spaltung und der Unordnung (ΦΑΓΐΓ΍ϱΘ΋ΘΓΖȱ Ύ΅Ϡȱ ΐΉΕ΍ΗΐΓІȱ Ύ΅Ϡȱ ΦΘ΅Βϟ΅Ζȱ ΅ϥΘ΍ΓΑ). 21 Durch diese Bestimmungen wird aber das Schlechte als die absolute Privation der Eigenschaften des Guten vorgestellt, deren Existenz Proklos ausdrücklich abgelehnt hat. 22 Dieser Widerspruch könnte behoben werden, wenn man annimmt, dass Proklos hier nur auf der Ebene des Denkens den Begriff des reinen Schlechten zusammensetzt, ohne die wirkliche Existenz eines Schlechtenan-sich als realistische Entsprechung des Begriffes zu vertreten. Er konzentriert also diejenigen Eigenschaften, die die mit dem Guten gemischten einzelnen Übel in ihrer wirklichen Aktivität bestimmen – nicht aber alle zugleich noch in ihrer reinen Form – und verabsolutiert sie: So konstituiert er einen gleichsam künstlichen Begriff, dessen Ziel es ist, als ein Erkennungskriterium des Schlechten in seiner wirklichen, gemischten Existenz zu fungieren. Man könnte freilich einwenden, dass die Unterscheidung zwischen Begriffen mit realer Existenz und solchen, die nur im Denken „existieren“, in einem idealistischen System wie dem proklischen, wo die gegenseitige Gleichsetzung von Erkennbarem oder Intelligiblem und Wirklichem oder Wahrem Grundaxiom ist 23 , besonders problematisch ist. Proklos aber stellt auch anderswo in De malorum subsistentia den Begriff eines absoluten Schlechten dar, um die Entwicklung _____________ 19 De mal. sub. 51, 4-8; vgl. In Parm. 833, 5-19, wo als Voraussetzung der Möglichkeit der Erkenntnis des Schlechten ein im Geist vorhandenes Urbild der Erkenntnis des Schlechten postuliert wird, das aber kein Urbild des Schlechten selbst ist – da ein solches Urbild nach Proklos überhaupt nicht existiert. 20 Plot. I.8.1. 21 De mal. sub. 51, 11-17; ebd. 51, 22-26. 22 S. Hager 1962, 103. 23 S. O’Meara 1986, 15.

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C. Proklos’ Behandlung des Problems des Schlechten

seiner Argumentation zu erleichtern und lehnt im Folgenden seine Existenz ab. 24 In Kapitel 51 lehnt er zwar die Existenz eines Schlechten-ansich nicht ausgesprochen ab, deutet aber an, dass es hier um einen Begriff der oben beschriebenen Art geht: „Oder woher anders könnte bei ihm [sc. dem Schlechten] eine jede der Eigenschaften kommen, wenn nicht aus dem Fehlen jener Güter? Dort nämlich gibt es die Güter zuerst, von welchen das Gute in uns Teil und Abbild ist. Dessen Fehlen aber ist das Schlechte. Deshalb [ist das Schlechte] auch Fehlen von jenen [sc. Eigenschaften], denen, wie wir meinen, das Gute gleicht. Was soll man noch weiter sagen, wenn auch das Schlechte in den Körpern nicht nur das Fehlen des Guten in ihnen bedeutet, sondern auch das Fehlen des vorrangigen Guten bei den Seelen? Denn das Gute in den Körpern ist ein Bild des Guten in den Seelen. Verdorben zu werden also und Mangel sind Abfall von nichts anderem als von der intelligiblen Kraft; denn auch die Form ist Erzeugnis des Geistes, und das, was Form gibt, ist wesensgemäß geistig.“ 25 Man merkt, dass in diesem Abschnitt nicht die Rede von wirklicher Anwesenheit des Schlechten als Beraubung des jeweiligen Guten bis zur Stufe der rationalen Seele ist (V. 39-42), was mit der Auffassung des Schlechten als partieller Beraubung von einzelnem Guten in Einklang steht, da es eine einzelne rationale Seele als partielle Privation ihrer geistigen Kraft überfällt. Ferner wird der Gegensatz der Übel zu den „ersten guten Dingen“ (ΔΕЏΘΝΖȱΦ·΅ΌΣ) aus ihrem wirklichen Gegensatz zu den einzelnen Guten geschlossen (V. 34-36) und nicht als wirkliche Gegenwart des Schlechten bei den ersten Hypostasen postuliert. 1.5.1. Der Ort des Schlechten in der ontologischen Hierarchie Seine These vom Nichtbestehen eines Schlechten-an-sich als erstem Prinzip aller Übel und vom Bestehen einzelner Übel als Gegenteile oder partielle Beraubungen von einzelnen Gütern bei denjenigen einzelnen Seienden, die es nicht vermögen, am Guten ewig und unveränderlich teilzunehmen, wendet Proklos auch in den Kapiteln 11-29 von De malorum subsistentia an, wo er, nach seiner Antwort auf die Frage nach der Existenz des Schlech_____________ 24 De mal. sub. 9, 4-15. 25 Ebd. 51, 32-41: „ύȱ ΔϱΌΉΑȱ ΅ЁΘХȱ ΘΓϾΘΝΑȱ Θξȱ Ύ΅Ϡȱ ΘЗΑȱ ΘΓ΍ΓϾΘΝΑȱ ρΎ΅ΗΘΓΑ,ȱ ΉϢȱ ΐχȱ Θ΅ϧΖȱ ΘЗΑȱΦ·΅ΌЗΑȱπΎΉϟΑΝΑȱΗΘΉΕφΗΉΗ΍Α;ȱπΎΉϧȱ·ΤΕȱΘΤȱΦ·΅ΌΤȱΔΕЏΘΝΖ,ȱЙΑȱΐΓϧΕ΅ȱΎ΅ϠȱΉϢΎЏΑȱ πΗΘ΍ȱ Ύ΅Ϡȱ Θϲȱ πΑȱ ψΐϧΑȱ Φ·΅ΌϱΑ,ȱ ΓЈȱ ψȱ ΗΘνΕ΋Η΍Ζȱ Θϲȱ Ύ΅ΎϱΑаȱ ГΗΘΉȱ Ύ΅Ϡȱ πΎΉϟΑΝΑ,ȱ ΓϩΖȱ Θϲȱ Φ·΅ΌϲΑȱπΓ΍ΎνΑ΅΍ȱΚ΅ΐνΑ.ȱ̍΅ϠȱΘϟȱΈΉϧȱΏν·Ή΍Α,ȱϵΔΓΙȱΎ΅ϠȱΘϲȱπΑȱΗЏΐ΅Η΍ΑȱΎ΅ΎϲΑȱΓЁȱΘΓІȱπΑȱ ΅ЁΘΓϧΖȱΐϱΑΓΑȱΦ·΅ΌΓІȱΗΘνΕ΋ΗϟΖȱπΗΘ΍Α,ȱΦΏΏΤȱΎ΅ϠȱΔΕϲȱΘΓϾΘΓΙȱΘΓІȱπΑȱΜΙΛ΅ϧΖ;ȱΎ΅Ϡȱ·ΤΕȱ ΘϲȱπΑȱΗЏΐ΅Η΍ΑȱΦ·΅ΌϲΑȱΉϢΎАΑȱΘΙ·ΛΣΑΓΑȱΘΓІȱπΑȱΜΙΛ΅ϧΖ. Corrumpi igitur et speciei priva-

tio non alterius alicuius decidentia quam intellectualis utique erit potentie, quoniam et species est ekgonon intellectus et le speciei-factivum intellectuale utique secundum substantiam est“.

1. Die Auffassung der Gegensatzlichkeit zwischen Gutem und Schlechtem

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ten überhaupt 26 , die aufeinanderfolgenden Stufen der Hierarchie des Seienden – von den Göttern bis zu den materiellen Körpern – auf ihre Empfänglichkeit für das Schlechte ausführlich untersucht. Die zu beantwortende Frage lautet, „in welchen Dingen...das Schlechte besteht und wie und woher es Existenz hat“ 27 oder wo das Schlechte residiert. Die Existenz des Schlechten auf der Ebene der Götter wird ausgeschlossen, und das Hauptargument dafür ist die lückenlose Kontinuität ihrer Natur mit dem sie erzeugenden Guten. Diese Kontinuität wird von Proklos mit der Kontinuität der Sonnenstrahlen mit der sie erzeugenden Sonne verglichen, 28 ein Bild, das zur Veranschaulichung des Emanationsprozesses bei den Neuplatonikern oft verwendet wird 29 . Ferner ist es ausgeschlossen, dass die Götter in ihrer Kraft oder ihrer Energie eine Veränderung zum Schlechten erleiden, während sie in ihrem Sein dennoch gut verbleiben würden, und zwar aufgrund ihrer Stellung oberhalb der Zeit als Voraussetzung jeden Umschlags. 30 Ähnlich ist das Hauptargument gegen die Gegenwart des Schlechten auf der Ebene der Engel, des ersten unter den drei Rängen der dämonischen Seelen: 31 „Das Verkündende, welches seinen Ort im zweiten Rang hat, ist das, was das Verkündete bereits vor dem Wirken auf anderes war. Deshalb ist das Geschlecht der Engel auf hervorragende Weise an die Götter angeglichen, von welchen es abhängt...“ 32 . Ein zweites Argument ist das Gesetz der proklischen Seinshierarchie, laut dem der erste Rang innerhalb jeder Gattung das Abbild des ersten Prinzips trägt – also den unteren Rängen die Ursächlichkeit des ersten Prinzips mitteilt – und somit gut ist. 33 Auf der Ebene der Dämonen und der Heroen ist die Existenz des Schlechten deshalb ausgeschlossen, weil beide Ränge von ihrer Definition her ewig und unwandelbar und folglich immer naturgemäß handeln; wenn sie also schlecht wären, müsste _____________ 26 27 28 29 30 31

Ebd., Kap. 1-11. Ebd. 11, 1: „πΑȱΘϟΗ΍ȱΈξȱΘЗΑȱϷΑΘΝΑȱΘϲȱΎ΅ΎϲΑȱΎ΅ϠȱϵΔΝΖȱЀΔνΗΘ΋ȱΎ΅ϠȱΔϱΌΉΑ“. Ebd. 11, 26-33. Z.B. Plot. I.7.1, 24-28. De mal. sub. 12, 18-31. De dec. dub. 25, 1-11. Diese drei Ordnungen, nämlich die Engel, die Dämonen und die Helden, werden auch „bessere Gattungen“ oder „dreifache Hegemonie“ genannt (s. De mal. sub. 15, 11-12). Proklos unterteilt die Seelen in drei Gattungen, die ihrerseits wiederum dreiteilig sind: die göttlichen Seelen, die alle Götter der Mythologie einbeziehen, die menschlichen Seelen und, dazwischen, die dämonischen Seelen (s. Dörrie 1973, 57; Trouillard 1975, 131-135). 32 De mal. sub. 14, 22-25: „et totaliter nuntians quodcumque in secundo ordine hoc est, quod nuntiatum erat ante eam que in alia operationem. Unde utique angelicum fylon (id est tribus) assimilatur differenter diis a quibus dependet“. 33 Ebd. 15, 1-13.

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C. Proklos’ Behandlung des Problems des Schlechten

den Göttern die Produktion einer schlechten Natur unterstellt werden, was unmöglich ist. 34 Das Schlechte wird in den zwei niedrigeren Rängen der darauffolgenden Dreiheit der Seelen lokalisiert, die aus den Rängen der göttlichen Seelen, der menschlichen Seelen und der Seelen der Tiere besteht. 35 Die Basis der Ausführungen bilden der Mythos aus dem Phaidros 36 und der Mythos von Er. Im Gegensatz zu den bisher besprochenen Seienden, die ja nicht „in hoc loco“ 37 residieren, fallen die Seelen der zwei ersten Ränge von der seligen Koexistenz mit den Göttern ab und werden in der Sinnenwelt erzeugt – dieser Fall ist aber an sich noch nicht schlecht und muss nicht unbedingt schlechte Konsequenzen haben: So fallen zwar die göttlichen Seelen ab, werden aber nicht wirklich vom Schlechten beeinträchtigt. Umgekehrt haben die Seelen der beiden ersten Ränge die Möglichkeit, zurückkehrend zur Versammlung der Götter aufzusteigen. 38 Der Abstieg der Seelen wird als Fall vom „Feld der Wahrheit“ (ΔΉΈϟΓΑȱΘϛΖȱΦΏ΋ΌΉϟ΅Ζ) zum Ort der Gegenstände der Meinung (ΈΓΒ΅ΗΘΣ) oder der Seinsvergessenheit interpretiert, 39 während die Rückkehr dann realisiert wird, wenn der Geist die Sinne bei der Führung des inneren Lebens ersetzt. 40 Die Verdunkelung der Seele während des Falls wird durch das Wasser des Flusses der Vergessenheit versinnbildlicht, das die Seelen im platonischen Mythos trinken. 41 Bei den göttlichen Seelen kann das Schlechte unmöglich existieren, da sie den obersten Rang der Dreiheit ausmachen. Während ihrer Zeugung beeinträchtigt die „Vergessenheit“ nur ihre Energie, ohne ihren „Habitus“ zu erreichen; das wirklich Schlechte kommt also bei ihnen nicht vor. 42 Es überfällt den unmittelbar darauffolgenden Rang der Seelen, denn die Vergessenheit der Schau des „dortigen“ Seienden beeinträchtigt bei ihnen auch ihren „Habitus“, d.h. die inneren Kräfte der Seele: 43 „Denn das bedeu_____________ 34 Ebd. 17, 6-8 u. 25-27; Ebd. 18, 3-6. Über die Zurückführung des Schlechten auf übeltäterische Dämonen bei etlichen Platonikern s. Dörrie 1977, 81-82. 35 In Tim. III 259, 11ff.; ebd. II 228, 15ff; ebd. III 254, 7ff. 36 Proklos verfasste einen heute verlorenen Kommentar zum Phaidros. Gedankengut aus diesem Kommentar verwendet er im Buch IV der Theol. Plat. (s. H.D. Saffrey – L.G. Westerink (Hgg.) 1981, XXXVII-XLV). Zur Interpretation des Phaidrosmythos in De mal. sub. s. Courcelle 1974, 276f. 37 Ebd. 20, 3. 38 Ebd. 20, 7-8. 39 Ebd. 24, 15-18; In Alcib. 20f; In Tim. III 43, 7. 40 De mal. sub. 24, 29-32. 41 Ebd. 24, 18-23; s. Vernière 1964, 29-30. 42 De mal. sub. 21, 6-28. 43 Ebd. 23, 1-6.

1. Die Auffassung der Gegensatzlichkeit zwischen Gutem und Schlechtem

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tet ‚schlecht’: Fehlen des dauernden Zustandes (ρΒ΍Ζ), der in der jeweiligen Vortrefflichkeit liegt. Wenn dies eintritt, kann die zugrundeliegende Natur verkehrt und das völlige Gegenteil ihrer eigentlichen Vortrefflichkeit werden. Wenn aber durch die Sitten (όΌΉΗ΍) das eine besser, das andere schlechter wird, was Wunder, dass aus diesen selbst die Natur des Schlechten kommt?“. 44 Das Schlechte überfällt auch die Seelen der Tiere, und zwar als Gegensatz zum Logos, der die Kraft der ihnen übergeordneten rationalen Seele darstellt. 45 Im Folgenden wird die Möglichkeit der Existenz des Schlechten in der Natur untersucht. Diese Möglichkeit wird bezüglich der Natur als Ganzem ausgeschlossen, denn einerseits ist alles, was als Ganzes existiert – wie in De malorum subsistentia wiederholt gesagt wird 46 – direkt auf das Prinzip zurückzuführen und kann folglich nicht für das Schlechte empfänglich sein, und andererseits hat die Natur von ihrer Definition her die Aufgabe „das zu bewahren, in dem sie ist, und es immer zusammenzuhalten“ 47 . Diese Aufgabe vollzieht das Gute, im Gegensatz zum verderbenden Schlechten. 48 Aber das Schlechte befällt die einzelnen naturhaften, materiellen Körper wenn die Form dabei versagt, die zugrundeliegende Materie zu beherrschen. 49 Diese Niederlage zeigt sich als Hässlichkeit und als Krankheit. 50 Tätigkeitsbereich des Schlechten sind also die einzelnen menschlichen und tierischen Seelen sowie die einzelnen materiellen Naturen. 1.6. Das Schlechte als ЀΔΉΑ΅ΑΘϟΓΑ des Guten Wie gesagt bestimmt Proklos den Gegensatz des Schlechten zum Guten als Beraubung des Guten. Diese Beraubung ist aber so konzipiert, dass sie gegen das Gute „kämpft“ und sich damit von der einfachen Beraubung als vollständiger Abwesenheit der Form eindeutig unterscheidet. Die Beziehung von Gutem und Schlechtem – oder genauer vom Guten und Schlechten eines einzelnen Seienden – wird also als Beraubung mit Ge_____________ 44 Ebd. 26, 15-19: „Hoc autem est malum: habitus qui in virtute privatio, qua utique presente et perverti subiectam naturam et totum contrarium fieri ad suam virtutem possibile. Si autem et moribus hec quidem meliora fiant, hec autem peiora, quid mirum et ex hiis ipsis advenire mali naturam?“. 45 Ebd. 25, 8-14. Wie weiter unten gezeigt wird, wird das Schlechte dynamisch, d.h. als Beziehung, verursacht, und zwar durch die Wende einer Stufe des Seienden zur unteren Stufe – anstatt zu der sie gutmachenden oberen. Die Menschenseelen verschlechtern sich, insofern sie sich der Welt des Werdens, statt dem Geist, zuwenden. 46 Ebd. 59, 4-7; 28, 21-26 et passim. 47 Ebd. 27, 6-7: „salvare id in quo et continere semper“. 48 Ebd. 5, 1-4; vgl. Platon, Resp. 608e 3-4. 49 De mal. sub. 27, 7-11. 50 Ebd. 28, 9-11.

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C. Proklos’ Behandlung des Problems des Schlechten

gensatzcharakter bestimmt. 51 Sooft in De malorum subsistentia vom Schlechten als Gegenteil oder Beraubung vom Guten die Rede ist, müssen die zwei Begriffe in ihrem modifizierten Sinn verstanden werden – so wie auch das Schlechte im Singular als Bezeichnung der unzähligen einzelnen Übel und keines realen Begriffs verstanden werden muss. Proklos bleibt jedoch mit dieser semantischen Modifikation anscheinend unzufrieden, vielleicht weil die zwei Begriffe mit ihrer überlieferten aristotelischen Bedeutung zu sehr beladen waren. Gegen Ende von De malorum subsistentia stellt er erneut ihre modifizierte Bedeutung ausführlich dar, 52 daraufhin benutzt er sie aber wieder in ihrer traditionellen Bedeutung und lehnt beide ab, um das platonische Wort „ЀΔΉΑ΅ΑΘϟΓΑ“ 53 , dem er deren modifizierte Bedeutung überträgt, an ihrer Stelle einzuführen: „Weder ist Fehlen das, was etwas tun kann oder überhaupt Kraft hat, noch ist das entgegengesetzt, was an sich weder Kraft noch Tätigkeit hat; sondern es ist so irgendwie entgegengesetzt (ЀΔΉΑ΅ΑΘϟΓΑ) zu nennen, was an sich zwar ein Fehlen ist, da es aber nicht völliges Fehlen ist, sondern zugleich mit dem Zustand Anteil an der Kraft nimmt, die von dort kommt, und der Tätigkeit, deshalb wird es im Bereich der Gegensätzlichkeit angesiedelt, und es ist weder völliges Fehlen noch ist es Gegenteil, sondern nur dem Guten ‚irgendwie entgegengesetzt’ (ЀΔΉΑ΅ΑΘϟΓΑ)“ . 54 Diese modifizierte Bedeutung der Beraubung als Gegensatz, die ihrerseits den Inhalt des Begriffes „ЀΔΉΑ΅ΑΘϟΓΑ“, wie gezeigt, ausmacht, stellt Proklos als Beraubung „der allerersten Triade des Guten: Wille, Kraft, Wirkung“ 55 dar. Das Schlechte ist freilich der Kraft entblößt, da sie gut ist und ihr Werk in der Erhaltung dessen besteht, dem sie innewohnt, im Gegensatz zum verderbenden Schlechten; es ist auch der Energie entblößt, denn _____________ 51 Ebd. 7, 25-30. 52 Ebd. Kap. 51-54. 53 Diese Bestimmung des Gegensatzes von Gutem und Schlechtem kommt in den Schriften des Proklos mehrmals vor (z.B. De mal. sub. 2, 28; 9, 13; 54, 17; 55, 12; De prov. 63, 8). 54 De mal. sub. 54, 15-21: „ΓЄΘΉȱ·ΤΕȱΗΘνΕ΋Η΍ΖȱΘϲȱΔΓ΍ΉϧΑȱΘ΍ȱΈΙΑΣΐΉΑΓΑȱύȱϵΏΝΖȱΈΙΑΣΐΉȬ ΑΓΑ,ȱ ΓЄΘΉȱ πΑ΅ΑΘϟΓΑȱ Θϲȱ Ύ΅Ό’ȱ ΅ЁΘϲȱ ΐφΘΉȱ ΈϾΑ΅ΐ΍Αȱ ΐφΘΉȱ πΑνΕ·Ή΍΅Αȱ σΛΓΑаȱ ΦΏΏ’ȱ ΓЁΘΝΗϟȱ ΔΝΖȱ ЀΔΉΑ΅ΑΘϟΓΑȱ ΅ЁΘϲȱ ,ȱ ϶ȱ Ύ΅Ό’ȱ ο΅ΙΘϲȱ ΐνΑȱ πΗΘ΍ȱ ΗΘνΕ΋Η΍Ζаȱ ϵΘ΍ȱ Έξȱ ΓЁȱ Δ΅Ȭ ΑΘΉΏφΖȱπΗΘ΍ȱΗΘνΕ΋Η΍Ζ,ȱΦΏΏ’ȱϳΐΓІȱΘϜȱρΒΉ΍ȱΐΉΘ΅Ώ΅ΐΆΣΑΓΑȱΈΙΑΣΐΉΝΖȱπΎΉϧΌΉΑȱΎ΅ϠȱΘΓІȱ πΑΉΕ·ΉϧΑ,ȱ ΉϢΖȱ ΘχΑȱ ΘϛΖȱ πΑ΅ΑΘ΍ЏΗΉΝΖȱ ΐΓϧΕ΅Αȱ Ύ΅ΌϟΗΘ΅Θ΅΍,ȱ Ύ΅Ϡȱ ΓЄΘΉȱ ΗΘνΕ΋Η΍Ζȱ πΗΘϠȱ Δ΅ΑΘΉΏχΖȱ ΓЄΘΉȱ πΑ΅ΑΘϟΓΑ,ȱ ΦΏΏ’ȱ ЀΔΉΑ΅ΑΘϟΓΑȱ ΘХȱ Φ·΅ΌХ“. Auch im 38. Kapitel von

De mal. sub., wo er die Zurückführung der Übel auf die Beraubung mit dem Argument ablehnt, dass letztere eine bloße Abwesenheit oder Negation ohne jegliche aktive Kraft (V. 19-29) wäre, bezieht sich Proklos auf den traditionellen Privationsbegriff. Er widerspricht sich also hier nicht, wie die sukzessive Annahme und Ablehnung der Bestimmung des Schlechten als Beraubung denken lässt; er scheint aber etwas inkonsequent im Gebrauch seiner Terminologie zu sein. 55 Ebd. 54, 3-4: „ΘϛΖȱΔΕΝΘϟΗΘ΋ΖȱΘΓІȱΦ·΅ΌΓІȱΘΕ΍ΣΈΓΖ,ȱΆΓΙΏφΗΉΝΖ,ȱΈΙΑΣΐΉΝΖ,ȱπΑΉΕ·Ήϟ΅Ζ“.

1. Die Auffassung der Gegensatzlichkeit zwischen Gutem und Schlechtem

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„ΔκΗ΅ȱ πΑνΕ·Ή΍΅ȱ ΈΙΑΣΐΉΝΖȱ πΗΘϠΑȱ σΎΘ΅Η΍Ζ“ und ist somit gut. 56 Es kann aber Handlungen bewirken, es ist in der Welt, sowohl bei den Körpern wie auch bei den Seelen, wirkmächtig gegenwärtig; dies ist auf seine konstitutive Eigenschaft zurückzuführen, die Kraft des je einzelnen Guten des Seienden, dem es innewohnt, zu usurpieren: 57 Bei den Körpern ist die Krankheit als Störung der Ordnung die schlechte Regelung der Beziehung zwischen denselben Komponenten des Körpers, die seine Gesundheit ergeben würden, wenn sie naturgemäß aufeinander bezogen wären (und sie ergeben sie doch immerhin, trotz der Gegenwart des Schlechten, zu einem gewissen Grad, insofern der Körper weiterhin besteht), m.a.W. die schlechte Verwendung der Kräfte des Körpers. Gleichfalls besteht das Schlechte bei den Seelen in der naturwidrigen Entgleisung ihrer guten Kräfte („ΘϜȱ ΘΓІȱ Ώϱ·ΓΙȱ ΈΙΑΣΐΉ΍ȱ Ύ΅Ϡȱ Θ΅ϧΖȱ ΉЀΕνΗΉΗ΍Αȱ Ύ΅ΘΤȱ ΘЗΑȱ πΔ΍ΌΙΐ΍ЗΑ“ 58 ) aus ihrer vorbestimmten Funktion. Die rationale und die irrationale Kraft der Seele, gut an sich und soweit ihr Verhältnis zueinander naturgemäß strukturiert ist, „ernähren“ das Schlechte in der Seele, wenn dieses Verhältnis in (partielle) Beherrschung des rationalen Teils durch den irrationalen verfällt: Das Schlechte existiert „bei den Seelen einerseits, weder in den rationalen; denn alle [jene] streben nach dem Guten; noch bei den irrationalen; denn auch diese agieren naturgemäß; sondern in ihrer Asymmetrie zueinander. Bei den Körpern andererseits, weder in der Form; denn sie will die Materie beherrschen; noch in dieser [sc. der Materie]; denn sie sehnt sich danach, geordnet zu werden; sondern in der Asymmetrie der Form zur Materie“ 59 . Die Usurpation der Kraft des Guten durch das Schlechte und die analoge Entkräftung des Guten kann freilich nie absolut werden, weil dies die vollständige Auflösung, gleichsam das Verschwinden des Seienden, dem das jeweilige Gute und das jeweilige Schlechte innewohnen, bedeuten würde 60 . Wir haben es immer mit einer Mischung von beiden zu tun, da das Schlechte keine selbständige Hypostase haben kann, zu tun. 61 Bei diesem Prozess verbleibt die Kraft an sich gut, wobei das Schlechte „nur“ ihre Energie überfällt. 62 Das umgekehrte Verhältnis zwischen der Verstärkung des Guten und derjenigen des Schlechten hat zur Folge, dass die wirkmächtige Kraft und _____________ 56 57 58 59

Ebd. 53, 15-18. Ebd. 53, 1-5. Ebd. 53, 12. In Tim. I 380, 31 – 381, 6: „πΑȱΐξΑȱΘ΅ϧΖȱΜΙΛ΅ϧΖȱΓЄΘΉȱπΑȱΘ΅ϧΖȱΏΓ·΍Ύ΅ϧΖаȱΔκΗ΅΍ȱ·ΤΕȱ ΘΓІȱΦ·΅ΌΓІȱϴΕν·ΓΑΘ΅΍аȱΓЄΘΉȱπΑȱΘ΅ϧΖȱΦΏϱ·Γ΍ΖаȱΎ΅Ϡȱ·ΤΕȱ΅ЈΘ΅΍ȱΎ΅ΘΤȱΚϾΗ΍ΑȱπΑΉΕ·ΓІΗ΍Αаȱ ΦΏΏ’ȱ πΑȱ ΘϜȱ ΔΕϲΖȱ ΦΏΏφΏ΅Ζȱ ΅ЁΘЗΑȱ ΦΗΙΐΐΉΘΕϟθ.ȱ πΑȱ Έξȱ ΗЏΐ΅Η΍Αȱ ΓЄΘΉȱ πΑȱ ΘХȱ ΉϥΈΉ΍аȱ ΎΕ΅ΘΉϧΑȱ·ΤΕȱπΌνΏΉ΍ȱΘϛΖȱЂΏ΋ΖаȱΓЄΘΉȱπΑȱΘ΅ϾΘϙаȱπΚϟΉΘ΅΍ȱ·ΤΕȱΘΓІȱΎΓΗΐΉϧΗΌ΅΍аȱΦΏΏ’ȱπΑȱ ΘϜȱΦΗΙΐΐΉΘΕϟθȱΘΓІȱΉϥΈΓΙΖȱΔΕϲΖȱΘχΑȱЂΏ΋Α.“ (vgl. In Remp. 38, 9-14).

60 De mal. sub. 52, 19-21; 38, 16-17; 7, 46-47. 61 In Tim. I 374, 13-22. 62 In Tim. I 380, 30-31.

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C. Proklos’ Behandlung des Problems des Schlechten

die tätige Wirksamkeit des Schlechten in einem umgekehrten Analogieverhältnis zu seinem Wachstum stehen. 63 Auf den ersten Blick erscheint diese Schlussfolgerung des Proklos als logisch nicht notwendig, denn man würde eher erwarten, dass die Energie des Schlechten in dem Maße steigen würde, wie es mehr Kraft aus dem Guten schöpft; das Schlechte verdirbt aber und zerstört die Kraft, die es dem Guten entnimmt und sich aneignet, indem es sie umstimmend realisiert, und entkräftet somit allmählich das Seiende, dem es innewohnt, so dass es in dieser Weise auch sich selbst schwächt. 64 In ähnlicher Weise usurpiert das Schlechte auch den Willen oder das Gewollt-Sein des Guten. Obwohl es nämlich absolut ungewollt ist – wir wollen wohl nicht das, was uns verdirbt, sondern das, was uns erhält – stellt sich das Schlechte kraft seiner Mischung mit dem Guten als gut vor und wird damit von dem Betrogenen gewollt. 65 Proklos misst also der Wahl des Wortes „ЀΔΉΑ΅ΑΘϟΓΑ“ anstatt des einfachen „πΑ΅ΑΘϟΓΑ“ bei Platon eine entscheidende Bedeutung zu: „ЀΔΉΑ΅ΑΘϟΓΑ“ bedeutet nicht bloß Gegenteil, sondern was oben als modifizierte Bedeutung von Beraubung aufgeführt worden ist. 66 Diese Bedeutung macht die _____________ 63 De mal. sub. 52, 21-31. 64 Vgl. Steel 1999, 99-101. Diesen Schluss untermauert Proklos auch mit einem Hinweis auf die Politeia (De mal. sub. 52, 10-15), und zwar auf das Gespräch, wo Sokrates dem Thrasymachos zeigt, dass die Ungerechtigkeit als solche keine Quelle der Macht, sondern eher der Ohnmacht ist, denn sie bewirkt die zerstörerische Spaltung und macht den Menschen sowohl als Individuum wie auch als Bürger handlungsunfähig. Wenn eine Gruppe von Ungerechten wirksam handelt, dann gerade weil sie ein gewisses Maß an Gerechtigkeit bewahren, die „verhinderte, dass sie nicht gleichzeitig sich selbst so Unrecht taten wie denen, gegen die sie auszogen; durch sie brachten sie das zustande, was sie erreicht haben“ („ϋȱ΅ЁΘΓϿΖȱπΔΓϟΉ΍ȱΐφΘΓ΍ȱΎ΅ϠȱΦΏΏφΏΓΙΖȱ ·ΉȱΎ΅ϠȱπΚ’ȱΓЃΖȱϖΗ΅ΑȱΧΐ΅ȱΦΈ΍ΎΉϧΑ,ȱΈ΍’ȱϋΑȱσΔΕ΅Β΅ΑȱΨȱσΔΕ΅Β΅Α“) (Plat., Resp. 352c 56); sie sind „doch erst zur Hälfte durch Ungerechtigkeit verdorben“ („ψΐ΍ΐϱΛΌ΋ΕΓ΍“) „denn die ganz Schlechten und vollkommen Ungerechten sind auch völlig unfähig, etwas auszurichten“ („πΔΉϠȱ Γϣȱ ·Ήȱ Δ΅ΐΔϱΑ΋ΕΓ΍ȱ Ύ΅Ϡȱ ΘΉΏνΝΖȱ ΩΈ΍ΎΓ΍ȱ ΘΉΏνΝΖȱ ΉϢΗϠȱ Ύ΅Ϡȱ ΔΕΣΘΘΉ΍Αȱ ΦΈϾΑ΅ΘΓ΍“) (Plat., Resp. 352c 7-8). Die Ungerechtigkeit ist insofern wirksam, als sie ihre Kraft aus der Gerechtigkeit schöpft. 65 De mal. sub. 54, 5-10. 66 Bei Platon selbst wird das in seinem Werk siebenmal vorkommende Wort ЀΔΉȬ Α΅ΑΘϟΓΑȱ(s. Index to Plato II, 916) eher als Äquivalent zum πΑ΅ΑΘϟΓΑȱverwendet (mit Ausnahme der Stelle Pol. 306e3, wo es „fast entgegengesetzt“ bedeutet), wie es auch bei Aristoteles der Fall ist (s. Bonitz, Index Aristotelicus, Sp. 790). Zum ersten Mal werden die zwei Wörter bei Ammonios (In De interpr. 92, 21-22) semantisch voneinander unterschieden, wobei aber dem Wort ЀΔΉΑ΅ΑΘϟΓΑ eine von der hier besprochenen ganz verschiedene Bedeutung zugewiesen wird (siehe C. Steel 1999, S.101).

1. Die Auffassung der Gegensatzlichkeit zwischen Gutem und Schlechtem

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proklische Auffassung der Art des Gegensatzes zwischen Gutem und Schlechtem aus, die wie gezeigt für den Begriff des Schlechten im Allgemeinen konstitutiv ist. Proklos folgt in dieser Hinsicht einer Tradition, die schon von den Vorsokratikern ausgeht – charakteristische Beispiele sind der Gegensatz von Gutem und Schlechtem in den pythagoreischen Begriffsreihen 67 und der Gegensatz von ̘΍Ώϟ΅ und ̐ΉϟΎΓΖ als Prinzipien des kosmischen Werdens bei Empedokles 68 – und im platonischen und aristotelischen Denken fortgesetzt wird; Proklos folgt also dieser Tradition, indem er das Schlechte ursprünglich als Gegenteil des Guten auffasst 69 und diesen Gegensatz so bestimmt, dass das Schlechte in seine ausschließlich aus dem Guten fließende ontologische Skala doch eingeordnet werden kann – also als relativen Gegensatz. Diese Relativität zeigt sich in den folgenden Grundzügen der schon vorgestellten Gegensätzlichkeit: 1. Das Schlechte bildet kein eigenständiges Gegenteil des Guten, kein Schlechtes-an-sich (΅ЁΘΓΎ΅ΎϱΑ), aus dem die einzelnen Übel als dessen Abbilder – analog zur Emanation der einzelnen guten Dinge aus dem Guten – aus seinem Gegenteil quellen würden, zum einen, weil das Gute kein Gegenteil hat, zum anderen, weil das absolut Schlechte nur als künstlicher Un-Begriff ohne eine eigene Entsprechung auf der Ebene der Wirklichkeit „sein“ kann. 2. Das Schlechte gibt es nur im Plural, als einzelne relative Übel, die sich den einzelnen relativen Gütern derjenigen Seienden entgegensetzen, die von Natur aus am Guten nicht ewig und unwandelbar teilzunehmen vermögen. Die Übel schöpfen aus ihren Gegenteilen die Kraft, die diese Entgegensetzung als Tätigkeit voraussetzt. 3. Die Übel existieren nicht im eigentlichen Sinn in den Seienden, die sie überfallen. Sie existieren nämlich weder im Wesen noch in der Kraft oder in der Tätigkeit der Einzelseelen, sondern erscheinen als Asymmetrie zwischen diesen Ebenen, als Störung also der naturgemäßen hierarchischen Beziehung zwischen ihnen. Dasselbe gilt auch von der Form und der Materie der materiellen Körper. 1.7. Die Weise des Gegensatzes zwischen dem Guten und dem Schlechten bei Plotin Der Begriff der ЀΔΉΑ΅ΑΘϟΝΗ΍Ζȱals gegensätzlicher Beraubung wird in Auseinandersetzung mit der in Plotin, Enn. I.8 aufgeführten Auslegung des Gegensatzes von Gutem und Schlechtem vorgestellt. _____________ 67 Arist., Metaph. 986a 21-28. 68 Ebd. 985a21-26. 69 Steel 1999, 89.

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C. Proklos’ Behandlung des Problems des Schlechten

Plotin schließt im Voraus die Möglichkeit einer Identifikation des in Rede stehenden Schlechten mit der menschlichen ethischen Bosheit aus, da letztere das Gegenteil der Tugend ist, also eines einzelnen guten Dinges und nicht des Guten selbst. 70 Der Tugend kommt das Gute als Qualität zu und kann daher als Gegenteil der Bosheit betrachtet werden, der das Schlechte gleichfalls als Qualität zukommt: Der Gegensatz ist vordergründig eine Beziehung zwischen Qualitäten, die an etwas Gemeinsamem teilnehmen und dadurch derselben Form oder Gattung zugeordnet werden 71 , und kann keine Beziehung zwischen einzelnen Substanzen sein. Dies betrifft aber das Gute nicht, da es freilich keine Qualität noch eine einzelne Substanz ist, sondern vielmehr jenseits vom Wesen steht und Quelle des Wesens ist: Es muss also untersucht werden, ob es sein Gegenteil gibt. 72 Von der aristotelischen Definition des Gegensatzes als Beziehung ausgehend („das, was am meisten voneinander entfernt ist, von dem, was in die gleiche Seinsgattung gehört, das bestimmen sie als gegensätzlich“ 73 ), die er im Satz „das am weitesten voneinder Abstehende...[kann] als Gegensatz gelten“ 74 modifizierend aufnimmt, sagt Plotin, dass die Entgegensetzung um so mehr zwischen denen besteht, die überhaupt nichts gemeinsam haben, so dass sie nicht derselben Gattung zugehören: Diese sind voneinander allerdings noch weiter entfernt als die Gattungsgleichen (ϳΐΓ·ΉΑϛ), und sind folglich auch „entgegengesetzter“ 75 , wenn Maßstab der Entgegensetzung die Entfernung (Έ΍ΉΗΘ΋ΎνΑ΅΍) ist. Das Schlechte ist also das Gegenteil des Guten, denn „alles, was je in beiden enthalten ist, ist einander entgegengesetzt“ 76 und „gänzlich voneinander geschieden“ 77 . Plotin übersieht vorsätzlich die Worte „ΘЗΑȱπΑȱ ΘХȱ΅ЁΘХȱ·νΑΉ΍“ und lässt sie aus der aristotelischen Definition der Entgegensetzung herausfallen. Für Aristoteles aber müssen die Gegenteile derselben Gattung zugehören, weil sonst der Abstand zwischen ihnen so _____________ 70 Plot. I.8.6, 17-20. Vorher ist aber gezeigt worden, dass die Übel für Platon die (menschliche) Bosheit sind und alles, was sich daraus ergibt (Ɗ.8.6, 12-13). Es stellt sich folglich die Frage, ob Plotin hier eine Verbesserung der platonischen These vornimmt oder bloß die vorangehende Auslegung des platonischen Satzes (Plat. Theait. 176a2-8) als unzutreffend verwirft, um sie durch die richtige hier zu ersetzen. 71 Plot. I.8.6, 36-38. 72 I.8.6, 27-28. 73 Arist., Cat. 6a17-18: „ΘΤȱ·ΤΕȱΔΏΉϧΗΘΓΑȱΦΏΏφΏΝΑȱΈ΍ΉΗΘ΋ΎϱΘ΅ȱΘЗΑȱπΑȱΘХȱ΅ЁΘХȱ·νΑΉ΍ȱ πΑ΅ΑΘϟ΅ȱϳΕϟΊΓΑΘ΅΍“ (dt. Übers. H.G. Zekl, Aristoteles, Kategorien – Hermeneutik, Hamburg 1998). 74 Plot. I.8.6, 40-41: „πΑ΅ΑΘϟ΅ȱΘΤȱΔΏΉϧΗΘΓΑȱΦΏΏφΏΝΑȱΦΚΉΗΘ΋ΎϱΘ΅“. 75 I.8.6, 36-41. 76 I.8.6, 34-35: „ΔΣΑΘ΅ȱΘΤȱπΑȱΘϜȱΚϾΗΉ΍ȱοΎ΅ΘνΕθȱπΑ΅ΑΘϟ΅“. 77 I.8.6, 38: „ΛΝΕϟΖ“.

1. Die Auffassung der Gegensatzlichkeit zwischen Gutem und Schlechtem

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groß wäre, dass sie unvergleichbar wären: 78 Das Έ΍ΉΗΘ΋ΎνΑ΅΍ ist also nicht der einzige Maßstab der Entgegensetzung. Proklos lehnt wie gesagt diese Modifikation der aristotelischen Definition ab und kehrt zu der ursprünglichen zurück. Das Gute und das Schlechte sind Prinzipien des einzelnen Guten bzw. Übels, die folglich auch einander entgegengesetzt sind, wie z.B. die Grenze der Unbegrenztheit oder das Maß der Maßlosigkeit. 79 Diese Entgegensetzung drückt sich vor allem darin aus, dass das Sein vom Schlechten unwahr prädiziert wird, während das Sein des Guten das wahre Sein ausmacht oder erzeugt; diese Entgegensetzung erscheint also als Gegensatz zwischen Wesen und Nicht-Wesen. 80 Plotin fasst seine Beschreibung dieser Art des Gegensatzes folgendermaßen zusammen: „Es sind also solche Dinge, welche völlig voneinander geschieden sind, nichts Gemeinsames haben und am weitesten voneinander abstehen, nach ihrer eigenen Wesensanlage einander Gegensätze; denn ihre Gegensätzlichkeit beruht nicht auf ihrer Beschaffenheit oder ihrer Zugehörigkeit zu sonst einer Klasse des Seienden, sondern darauf, dass sie am weitesten voneinander geschieden sind, dass sie aus entgegengesetzten Bestandteilen sich zusammensetzen, und dass sie das Entgegengesetzte hervorbringen.“81 1.7.1. Die Notwendigkeit der Existenz eines Gegenteils des Guten Die Frage nach dem Grund, aus dem die Existenz eines Gegenteils des Guten notwendig ist, bleibt größtenteils unbeantwortet; seine Notwendigkeit ergibt sich allerdings nicht aus einer allgemeinen Regel, denn die Existenz einer Sache macht zwar diejenige seines Gegenteils eventuell möglich, keineswegs aber notwendig. Es muss also ein spezifischer Grund gefunden werden, aus dem ausgerechnet das Gute die Existenz seines Gegen_____________ 78 Arist., Met. 1055a3-10; 25-27. Andernorts akzeptiert Aristoteles eine Gegensatzbeziehung außerhalb der Grenzen einer Gattung (Met. 1018a25-27, 30-31), vor allem als Beziehung zwischen Gattungen. Als Gegensatz zwischen Gattungen bestimmt er auch das Verhältnis von Gutem und Schlechtem (Cat. 14a20-25), versteht aber diese Gattungen als einer gemeinsamen, umfassenden Gattung und jedenfalls derselben Kategorie zugehörig. Die Tugend und die Bosheit gehören also gemeinsam zur Gattung der „ρΒΉΝΑ“ (Habitus), die wiederum zu der Kategorie „ΔΓ΍ϱΑ“ (Qualität) gehört (Cat. 8; siehe auch Ross 1924 Bd. I, S.315; O’Meara 1999, S.128). 79 Plot. I.8.6, 33-44. 80 I.8.6, 44-47. 81 I.8.6, 54-59: „ΘΤȱ ΩΕ΅ȱ ΔΣΑΘϙȱ ΎΉΛΝΕ΍ΗΐνΑ΅ȱ Ύ΅Ϡȱ ΐ΋ΈξΑȱ σΛΓΑΘ΅ȱ ΎΓ΍ΑϲΑȱ Ύ΅Ϡȱ ΔΏΉϟΗΘ΋Αȱ ΦΔϱΗΘ΅Η΍ΑȱσΛΓΑΘ΅ȱπΑȱΘϜȱΚϾΗΉ΍ȱ΅ЁΘЗΑȱπΑ΅ΑΘϟ΅аȱπΔΉϟΔΉΕȱψȱπΑ΅ΑΘϟΝΗ΍ΖȱΓЁΛȱϗȱΔΓ΍ϱΑȱΘ΍ȱ ΓЁΈξȱ ϵΏΝΖȱ ϳΘ΍ΓІΑȱ ·νΑΓΖȱ ΘЗΑȱ ϷΑΘΝΑ,ȱ ΦΏΏ’ȱ ϗȱ ΔΏΉϧΗΘΓΑȱ ΦΏΏφΏΝΑȱ ΎΉΛЏΕ΍ΗΘ΅΍ȱ Ύ΅Ϡȱ πΒȱ ΦΑΘ΍ΌνΘΝΑȱΗΙΑνΗΘ΋ΎΉȱΎ΅ϠȱΘΤȱπΑ΅ΑΘϟ΅ȱΔΓ΍Ήϧ“.

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C. Proklos’ Behandlung des Problems des Schlechten

teils notwendigerweise mit sich bringt. 82 Der vorgeschlagene Grund sind die folgenden Regeln, die die Emanation der ontologischen Skala aus dem Guten regieren: 1. Das Gute, wie auch jede Stufe der Skala, kann nicht in sich bleiben, und 2. jede Stufe der Skala ist gegenüber der jeweils vorangehenden und sie erzeugenden hierarchisch niedriger, nimmt also am Guten weniger teil. Es ergibt sich aus diesen Regeln, dass es eine allerletzte Hypostase geben muss, die am Guten und damit auch an seiner Zeugungskraft absolut unteilhaftig ist, so dass sie keine weitere Stufe erzeugen kann und daher der Schlusspunkt der Skala ist. 83 „Nun ist aber das, was auf das Gute folgt, mit Notwendigkeit vorhanden; folglich auch jenes Letzte.“ 84

2. Zum Verständnis der Verursachung der verschiedenen Übel Im Rahmen der proklischen Auffassung der Kausalität wäre es offensichtlich problematisch, den Übeln eine Ursache zuzuschreiben, da jedes Verursachte auf die ihm unmittelbar vorangehende Hypostase als auf seine nächste Ursache zurückzuführen ist und, in Bezug auf die ganze ontologische Skala als Ursachenkette, letztendlich auf das Gute als auf seine erste Ursache. Die Übel sind also zwangsläufig gleichsam ohne alle Ursache (ΦΑ΅ϟΘ΍΅), denn nur auf diese Weise kann Gott unschuldig (ΦΑ΅ϟΘ΍ΓΖ) am Schlechten bleiben, wie Platon fordert. 85 Die oben behandelte Nichtexistenz eines Schlechten-an-sich, des absolut Schlechten oder des Schlechten in reiner Form als Prinzips aller einzelnen Übel, bringt schon das Nichtbestehen einer einzelnen Ursache aller Übel mit sich. Indem er der „Ursache“ des Schlechten die Einheit abspricht, bezweifelt Proklos dessen ontologische Wirklichkeit, denn jede wirkliche Ursache ist notwendigerweise eine, unter vielfältigen Blickwinkeln als Wirk-, Form-, Material- und Zielursache betrachtet. Die ontologische Skala ist zugleich eine Ursachenkette, und das Schlechte muss als der Ursache entblößt auch unhypostatisch sein. Das Anliegen des Proklos ist aber, die Übel unter die seienden Dinge zu stellen, ihre Wirklichkeit zu retten – ohne freilich die Strukturen seines monistischen Systems zu sprengen. 86 Dieses sein Anliegen versucht er zu realisieren, indem er eine modifizierte Verursachung und eine mit ihr zu_____________

82 83 84 85 86

I.8.6, 21-27. I.8.7, 16-23; Ninci 1980 I, 205-208. Plot. I.8.7, 21-22: „̳ΒȱΦΑΣ·Ύ΋ΖȱΈξȱΉϨΑ΅΍ȱΘϲȱΐΉΘΤȱΘϲȱΔΕЗΘΓΑ,ȱГΗΘΉȱΎ΅ϠȱΘϲȱσΗΛ΅ΘΓΑ“. Platon, Resp. 617e 5; vgl. In Tim. I 375, 6-28. De mal. sub. 5, 25-26.

2. Zum Verständnis der Verursachung der verschiedenen Übel

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sammenhängende modifizierte Existenzweise der Übel ausarbeitet – so wie er die Bestimmungen aufhebt, die dem Schlechten, wenn dieses als einfaches Gegenteil des Guten zu betrachten wäre, zukommen würden, zugleich aber seine privative Entgegensetzung zum Guten rettet, indem er den Begriff des ЀΔΉΑ΅ΑΘϟΓΑ konstruiert. 87 Proklos behandelt das Problem der Ursächlichheit des Schlechten in den Kapiteln 40-50 von De malorum subsistentia, so wie in mehreren umfangreichen Abschnitten seiner Kommentare. 2.1. Die Nichtexistenz einer einzigen Ursache der Übel Die Behandlung der Ursächlichheit des Schlechten fängt folgendermaßen an: „Es sind die Ursachen der Übel zu besprechen, ob es für diese eine einzige und für alle gleiche Ursache gibt, oder nicht“. 88 Proklos versucht zu zeigen, dass die Übel nicht eine einzige Ursache haben, indem er die drei Optionen der Gegenthese, nämlich die Bestimmung der einen Ursache der Übel als erstem Prinzip, als Form und als Seele, zurückweist. Diese drei Optionen sind im Rahmen eines platonischen Systems die einzig möglichen: „Denn, kurz gesagt, wenn man eine einzige Ursache der Übel annehmen muss, dann kann man nicht umhin, diese für göttlich, geistig oder seelisch zu halten: Die Götter nämlich und Intellekten und Seelen haben die Stellung der Ursache inne.“ 89 Proklos umgeht also hier die Frage, ob die Zurückführung der Übel auf eine Ursache überhaupt möglich ist, und geht direkt zu der Frage über, was diese Ursache sein könnte, obwohl die erste Frage der letzteren logisch vorangeht. Im Kapitel 47 aber, nachdem er auf die letztere geantwortet hat, kehrt er zur ersteren zurück und führt die folgenden drei Argumente gegen die Möglichkeit der Existenz einer einzigen Ursache der Übel auf: 1. Als Gegenteile der guten Dinge dürfen die Übel, im umge_____________ 87 Wenn Proklos die Existenz einer oder mehrerer Ursachen der Übel absolut ablehnen würde, wäre er gezwungen, ihr gänzliches Nichtbestehen zu postulieren, da der im De mal. sub. angeführte (50, 6-7) und im Timaioskommentar ausgelegte und verteidigte platonische Satz „Δ΅ΑΘϠȱ ·ΤΕȱ ΦΈϾΑ΅ΘΓΑȱ ΛΝΕϠΖȱ ΅ϢΘϟΓΙȱ ·νΑΉΗ΍Αȱ ΗΛΉϧΑ“ (Plat. Tim., 28a 5-6) ein Axiom seines Denkens ist (In Tim. I 262, 1-29; siehe Opsomer-Steel 1997, 255). Proklos will aber das Schlechte nicht als „ΐ΋Έ΅ΐЗΖȱ ϷΑ“, sondern vielmehr als „ϳΐΓІȱΘХȱϷΑΘ΍ȱΐχȱϷΑ“ bestimmen, und gemäß diesem seinem Anliegen wird er die Kausalität des Schlechten entwickeln. 88 De mal. sub. 40, 1-3: „̴ΔϱΐΉΑΓΑȱΈ’ȱΪΑȱΉϥ΋ȱΌΉΝΕφΗ΅΍...,ȱΉϥΘΉȱΎ΅Ϡȱ ΘΓϾΘΝΑȱρΑȱΘ΍ȱΎ΅ϠȱΘ΅ЁΘϱΑȱπΗΘ΍ȱΔΣΑΘΝΑȱ΅ϥΘ΍ΓΑ,ȱΉϥΘΉȱΐφ“. 89 Ebd. 40, 17-20: „Et enim totaliter, si unam causam malorum ponendum, divinam ipsam aut intellectualem aut animealem existimare oportet: dii enim et intellectus et anime cause ordinem acceperunt“.

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kehrten Verhältis zu ihnen, nicht eine einzige Ursache haben, 90 2. die Übel sind ungleich, asymmetrisch und feindlich zueinander, im Gegensatz zu den Produkten einer und derselben Ursache, 91 und 3. der platonische Sokrates stimmt überein, indem er sagt, dass „ΘЗΑȱΈξȱΎ΅ΎЗΑȱΩΏΏ’ȱΩΘΘ΅ȱΈΉϧȱ Ί΋ΘΉϧΑȱ ΘΤȱ ΅ϥΘ΍΅,ȱ ΦΏΏ’ȱ ΓЁȱ ΘϲΑȱ ΌΉϱΑ.“ 92 . Gemäß Proklos ist der Plural „ΩΏΏ΅“ im angeführten Satz gewollt, und Platon will durch ihn gerade unterstreichen, dass die Ursachen der Übel viele sind, nicht eine – in Gegenüberstellung zu dem vom Gott abgeleiten Guten –,93 während das unbestimmte Pronomen „irgendwelche (ΩΘΘ΅) das Partielle und das Unbestimmte der Ursachen der Bosheit manifestiert“ 94 . Das zweite Argument ist scheinbar ein Zirkelschluss, denn seine erste Prämisse wird vom zu Beweisenden (Ί΋ΘΓϾΐΉΑΓΑ) abgeleitet: Die Übel sind ungleich, denn sie sind nicht von derselben Ursache erzeugt, sind also nicht von einer einzigen inneren ontologischen Struktur konstituiert. 95 Auch das erste Argument, das als (umgekehrt) analogisch ebenso schwach ist, scheint denselben Gedanken zu beinhalten. 96 Proklos will hier sagen, dass das Schlechte nicht eine einzige Ursache haben kann, weil es keine _____________ 90 91 92 93 94

De mal. sub. 47, 3-4. Ebd. 47, 4-9. Plat. Resp., 379c 6-7. De mal. sub. 47, 11-15; ebd. 41, 10-13. In Remp. I 38, 3-9: „ȱ ΩΘΘ΅ȱ Θϱȱ ΘΉȱ ΐΉΕ΍ΎϲΑȱ Ύ΅Ϡȱ Θϲȱ ΦϱΕ΍ΗΘΓΑȱ πΐΚ΅ϟΑΉ΍ȱ ΘЗΑȱ ΘϛΖȱ Ύ΅Ύϟ΅Ζȱ΅ϢΘϟΝΑ“. 95 In empirischer Hinsicht ist diese Prämisse nicht besonders überzeugend. Die verschiedenen Übel sind zwar äußerlich einander unähnlich, insofern sie die jeweils unterschiedliche Form des jeweiligen Seienden als das ihm eigene Gute usurpieren, weisen aber andererseits gewisse gemeinsame negative Merkmale auf (wie z.B., dass sie spaltend, verderbend, schwach usw. sind), die auf eine strukturelle Ähnlichkeit der Übel hinweisen – zumal Proklos selbst, wenn auch in übertragenem Sinn, von einer Natur des Schlechten spricht. Diese Ähnlichkeit stellt sogar ein starkes Argument für die plotinische Zurückführung aller Übel auf eine einzige Ursache dar (vgl. O’Meara 1997, 39). Proklos lehnt aber die Einheit der Übel der Seele nur auf der ontologischen Ebene ab: Er akzeptiert also nicht, dass alle einzelnen Übel einheitliche Erzeugnisse eines einzigen Prinzips sind (De mal. sub. 47). Er akzeptiert aber den gemeinsamen Charakter oder die gemeinsame Struktur aller Übel der Seele als Hinwendung zum Niedrigeren, sowie die gemeinsame Struktur aller Übel überhaupt als gegensätzliche Beraubung oder ЀΔΉΑ΅ΑΘϟΝΗ΍Ζ zum Guten. Er nimmt also – im Unterschied zu Plotin – ihre gemeinsame Struktur als eine Dynamik, eine Wende, und nicht als Ableitung von einer Hypostase wahr. 96 Siehe Hager 1962, S.94. Diese morsche Rechtfertigung ist aber keinesfalls das zentrale Argument des Proklos gegen die Existenz einer Ursache der Übel, wie Hager vorauszusetzen scheint.

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Hypostase ist; es ist kein Produkt der inneren Entfaltung des Seienden, sondern etwas Äußerliches, das seine niederen Stufen überfällt. 97 Die Zurückführung der Übel auf eine Ursache würde eine latent dualistische Hypostasierung des Schlechten zur Folge haben, die er Plotin unterstellt. Proklos will das Schlechte bestimmen, ohne ihm Erkennungsmerkmale einer Substanz zuzuschreiben – wie Plotin es tat. Indem er zeigt, dass die Ursachen der Übel viele sind, beabsichtigt er zu betonen, dass sie innerlich zersplittert, der inneren Einheit entblößt sind, welche die Ursachen der guten Dinge kennzeichnet: „Welches nämlich könnte die Einheit, welches die Begrenzung oder welche die ewige Formkraft der Übel sein, deren Sein von Natur durch Ungleichheit und Unbestimmtheit bis hin zu den letzten unteilbaren Seienden (ΦΘϱΐΓ΍Ζ) besteht?.“ 98 2.2. Ablehnung der Verortung der Ursache der Übel unter den drei ersten Hypostasen Die Übel können nicht ein erstes Prinzip als Ursache haben, da dies in einem monistischen System im Voraus ausgeschlossen ist. Das erste Prinzip ist eines, namentlich das Gute selbst, das seine Güte allen seinen Produkten vermittelt. 99 Ebenso unmöglich ist die Zurückführung der Übel auf eine oder mehrere Formen. Es kann keine Form der Übel geben, weil alle Formen im guten Geist residieren, und alle „ΘϛΖȱΦΉϠȱБΗ΅ϾΘΝΖȱπΛΓϾΗ΋Ζȱ Ύ΅Ϡȱ ΦΎ΍ΑφΘΓΙȱ ΚϾΗΉΝΖ“ 100 und somit dem Schlechten unzugänglich sind, denn „sich immer einerlei und auf gleiche Weise zu verhalten und dasselbe zu sein, das kommt nur dem Göttlichsten unter allem allein zu“ 101 . Ferner will der Demiurg, _____________ 97 De mal. sub. 48, 19-20; 50, 34. 98 De mal. sub. 47, 14-16: „ΔΓϟ΅ȱ·ΤΕȱΐΓΑΤΖȱύȱΔΓϧΓΖȱϵΕΓΖȱΎ΅ϠȱΘϟΖȱ΅ϬΈ΍ΓΖȱΏϱ·ΓΖȱΘЗΑȱΎ΅ΎЗΑ,ȱ ΓϩΖȱ Θϲȱ ΉϨΑ΅΍ȱ ΚϾΗΉ΍ȱ πΗΘϠȱ Έ΍’ȱ ΦΑΓΐΓ΍ϱΘ΋ΘΓΖȱ Ύ΅Ϡȱ ΦΓΕ΍ΗΘϟ΅Ζȱ ΐνΛΕ΍ȱ ΘЗΑȱ ΦΘϱΐΝΑ;“. Die Wörter ΉϨΑ΅΍ sowie ΚϾΗΉ΍ werden hier nicht in ihrem eigentlichen Sinn verwendet. 99 Ebd. 41, 2-11. 100 Ebd. 43, 6-7. 101 Plat. Pol. 269d 5-6: „Θϲȱ Ύ΅ΘΤȱ Θ΅ЁΘΤȱ Ύ΅Ϡȱ БΗ΅ϾΘΝΖȱ σΛΉ΍Αȱ ΦΉϠȱ Ύ΅Ϡȱ Θ΅ЁΘϲΑȱ ΉϨΑ΅΍ȱ ΘΓϧΖȱ ΔΣΑΘΝΑȱΌΉ΍ΓΘΣΘΓ΍ΖȱΔΕΓΗφΎΉ΍ȱΐϱΑΓ΍Ζ“; vgl. De mal. sub. 43, 15-16; In Parm. 829, 22 – 831, 24. Die Existenz von Formen der Übel im Geist hat angeblich der Plotinschüler Amelios vertreten (siehe Asclepius, in Nic. arithm. bei Saffrey – Westerink Th. Pl. I S. 153 u. Anm. 2 zu Seite 87: „Amelios aber, ich weiß nicht wovon ausgehend, meint, dass es auch Bestimmungen der Übel beim Demiurgen gäbe“; „̝ΐνΏ΍ΓΖȱΈν,ȱΓЁΎȱΓϨΈ΅ȱΔϱΌΉΑȱ ϳΕΐ΋ΌΉϟΖ,ȱ Ύ΅Ϡȱ ΘЗΑȱ Ύ΅ΎЗΑȱ ΓϥΉΘ΅΍ȱ Ώϱ·ΓΙΖȱ ΉϨΑ΅΍ȱ Δ΅ΕΤȱ ΘХȱ Έ΋ΐ΍ΓΙΕ·Х.“). Es ist dennoch nicht zwingend, dass die Argumente, die Proklos den Vertretern dieser These hier zuschreibt, auf Amelios oder irgendeinen Philosophen zurückgehen, da er die möglichen Argumente für oder gegen eine These selbst zu entwerfen pflegt. Eine

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C. Proklos’ Behandlung des Problems des Schlechten

„bei dem alle Formen und die Zahl der Formen ihren Ort haben“ 102 , dass „alles gut und nach Möglichkeit nicht schlecht sei“ 103 , und beim Demiurg darf keine Inkongruenz zwischen Wollen und Tun angenommen werden. 104 Die übeltäterische Seele, von der Platon in den Nomoi spricht, 105 kann nicht als solche, d.h. wesensmäßig, die Ursache der Übel sein, 106 denn ihr Wesen als Erzeugnis des Geistes ist notwendigerweise immer gut.107 Das Schlechte überfällt die Kraft und die Energie derjenigen Seele, deren „Habitus“ die Veränderungsmöglichkeit zum Besseren 108 und zum Schlechteren ist 109 . 2.3. Die Verursachung der Übel Proklos führt die unechte Kausalität der Übel auf den Ebenen aus, wo er eine wahrhafte Kausalität der Übel abgelehnt hat, nämlich in den drei ersten Hypostasen mit Ausnahme der Seele und den vier aristotelischen Ursachen, mit Ausnahme der Materialursache. Da die Übel mit den Gü_____________

102 103 104 105 106 107 108 109

Stelle bei Platon lässt sich für die in Rede stehende These heranziehen: Im Theaitetos spricht Sokrates zum einen von zwei Vorbildern, die in der Welt aufgestellt sind, dem Göttlichen der größten Glückseligkeit, und dem Ungöttlichen des Elends („Δ΅Ε΅ΈΉ΍·ΐΣΘΝΑ...πΑȱΘХȱϷΑΘ΍ȱοΗΘЏΘΝΑ,ȱΘΓІȱΐξΑȱΌΉϟΓΙȱΉЁΈ΅΍ΐΓΑΉΗΘΣΘΓΙ,ȱΘΓІȱ ΈξȱΦΌνΓΙȱΦΌΏ΍ΝΘΣΘΓΙ“) (176e 3-4), und sagt zum anderen, dass das Übel notwendigerweise immer da ist „und in dieser Gegend umherzieht jener Notwendigkeit gemäß“ („ΦΉϠȱ ΉϨΑ΅΍ȱ ΦΑΣ·Ύ΋“,ȱ „Ύ΅Ϡȱ ΘϱΑΈΉȱ ΘϲΑȱ ΘϱΔΓΑȱ ΔΉΕ΍ΔΓΏΉϧȱ πΒȱ ΦΑΣ·Ύ΋Ζ“) (176a 6-8). Daraus könnte man den Schluss ziehen, dass es eine Form der Übel gibt, der sie ihre Ewigkeit verdanken würden. Proklos wendet aber ein, dass das Wort „Δ΅ΕΣΈΉ΍·Ȭ ΐ΅“ von den Übeln bloß metaphorisch ausgesagt wird (De mal. sub. 43, 17-19), während die Ewigkeit nicht den Übeln als solchen zukommt – da die Ewigkeit nicht zum Ort des Werdens, wo die Übel herumschweifen, sondern zum Seienden gehört –, sondern ihnen von der Ordnung des Alls mitgeteilt wird (ebd. 44, 4-11). Die Ordnung des Alls ordnet (ΎΓΗΐΉϧ) auch die Übel, die dadurch in Bezug auf die Ordnung des Alls nicht mehr schlecht sind, sondern allein in Bezug auf die durch sie überfallenen Einzelseienden. Ebd. 43, 20: „Δ΅Ε’ȱСȱΘΤȱΉϥΈ΋ȱΔΣΑΘ΅ȱΎ΅ϠȱϳȱΘЗΑȱΉϢΈЗΑȱΦΕ΍ΌΐϱΖ“. Plat. Tim., 30a 1-2: „Φ·΅ΌΤȱΐξΑȱΔΣΑΘ΅,ȱΚΏ΅ІΕΓΑȱΈξȱΐ΋ΈξΑȱΉϨΑ΅΍ȱΎ΅ΘΤȱΈϾΑ΅ΐ΍Α“; vgl. In Tim. I 372, 19-25; ebd. I 379, 26 – 380, 2. De mal. sub. 43, 19-32 Plat. Leg., 896a-e, bes. 896e5-6: „ΈΙΓϧΑȱΐνΑȱ·νȱΔΓΙȱσΏ΅ΘΘΓΑȱΐ΋ΈξΑȱΘ΍ΌЗΐΉΑ,ȱΘϛΖȱΘΉȱ ΉЁΉΕ·νΘ΍ΈΓΖȱ[sc.ȱΜΙΛϛΖ]ȱΎ΅ϠȱΘϛΖȱΘΦΑ΅ΑΘϟ΅ȱΈΙΑ΅ΐνΑ΋ΖȱπΒΉΕ·ΣΊΉΗΌ΅΍“. Diese These schreibt Proklos Plutarch und Attikos zu (In Tim. I 381, 26ff.). De mal. sub. 45, 11-18. Ebd. 46, 19-21 u. 45, 9-10. Opsomer- Steel 1997, 247-249; 251.

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tern gemischt als Ergebnis einer Störung in der Beziehung zwischen zwei in sich guten Substanzen „existieren“, kann es wie gezeigt angenommen werden, dass das Gute Ursache der Übel ist, allerdings „insofern sie Anteil an Gutem, Kraft zum Sein und Grenze erlost haben“ 110 ; die Übel als solche, d.h. als am Guten unteilhaftig, unbegrenzt und aller Kraft entblößt, werden aus einer anderen, schwachen Ursache (πΒȱ ΩΏΏ΋Ζȱ ΅ϢΘϟ΅Ζȱ ΦΗΌΉΑΓІΖ 111 ) verursacht. Auch die metaphorisch genommenen Formen der Übel können als Ursachen der Übel betrachtet werden; im Gegensatz zu den wahrhaftigen Formen der guten Dinge, befinden sie sich außerhalb der Seele und sind ihr ontologisch unterlegen, sie sind das, „was vereinzelt und außerhalb seiner selbst, ungeordnet, unbestimmt und unstimmig zur eigenen Natur ist“ 112 . Im Gegensatz zu den ewigen und unveränderlichen wahrhaftigen Formen der guten Dinge sind die „Paradigmen“ der Übel „grenzenlos, unbestimmt und bewegen sich in anderen, wobei auch diese unbegrenzt sind.“ 113 . Als Wirkursachen der Übel können zwar die Einzelseelen und die materiellen Körper betrachtet werden, nicht aber im eigentlichen Sinne; 114 denn sie sind Wirkursachen der Übel nicht als solche, weil sie wesensmäßig nur das Gute tun – da zum Wesen der Seele die Rückkehr zum Geist und zum Wesen der Körper die Gestaltung gehört. Ferner ist jede Wirkursache eine mit dem Wesen des Wirkenden übereinstimmende Kraft, Wirkursache der Übel ist aber der Mangel an Kraft. 115 Als ihre Formursachen können metaphorisch, wie gezeigt, ihre „Formen“ betrachtet werden. 116 Im uneigentlichen Sinn kann das Gute auch Zielursache der Übel genannt werden, denn das Gute ist das Ziel jeder Energie; diejenigen, die die Übel tun, halten sie fälschlicherweise für gut und meinen, ein gutes Ziel zu erreichen, indem sie sie tun. 117 Die Ursachen der Übel als solcher – und nicht als guter bzw. als mit den Gütern gemischter – können nur metaphorisch oder unecht in die drei ersten Hypostasen oder in die vier aristotelischen Ursachen situiert werden. Diese Metaphern und Sinnentstellungen können freilich nicht als Lösung des Problems der Verursachung der Übel betrachtet werden. Zusammenfassend ist die einzig positive Aussage des Proklos über ihre Ursa_____________ 110 Ebd. 42, 5-6: „Ύ΅Ό’ȱϵΗΓΑȱΦ·΅ΌΓІȱ ΐΓϧΕ΅ΑȱσΏ΅ΛΉȱΎ΅ϠȱΘ΅ІΘ΅ȱΎ΅ϠȱΈϾΑ΅ΐ΍ΑȱΉϢΖȱΘϲȱΉϨΑ΅΍ȱ Ύ΅ϠȱΔνΕ΅Ζ“; vgl. 41, 16 – 42, 23. 111 Ebd. 42, 9. 112 Ebd. 48, 13-15: „ϵΗ΅ȱ Ύ΅ΌνΎ΅ΗΘ΅ȱ Ύ΅Ϡȱ σΒΝȱ ο΅ΙΘЗΑ,ȱ ΩΘ΅ΎΘ΅ȱ ϷΑΘ΅ȱ Ύ΅Ϡȱ ΦϱΕ΍ΗΘ΅ȱ Ύ΅Ϡȱ ΔΏ΋ΐΐΉΏϛȱΘϜȱο΅ΙΘЗΑȱΚϾΗΉ΍“. 113 Ebd. 48, 19-20: „ΦΏΏ’ȱΩΔΉ΍Ε΅ȱΎ΅ϠȱΦϱΕ΍ΗΘ΅ȱΎ΅ϠȱπΑȱΩΏΏΓ΍ΖȱΚΉΕϱΐΉΑ΅,ȱΎ΅ϠȱΘΓϾΘΓ΍ΖȱΦΔΉϟΕΓ΍Ζ“. 114 Ebd. 48, 1-4. 115 Ebd. 48, 17-18. 116 Ebd. 48, 5-7. 117 Ebd. 49, 1-7.

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che, dass sie viele, partiell, unbestimmt und einzeln 118 , unbegrenzt und ohne eigenständige Existenz 119 , dem Seienden äußerlich 120 , ferner einander ungleich und anders bei den Seelen, anders bei den Körpern sind 121 . Sie sind also der den Ursachen eigenen Merkmale beraubt und daher „Ursachen und wieder nicht Ursachen“ 122 . Um die Verursachung der Übel zu erklären, arbeitet Proklos eine unechte Kausalität aus. Unerlässliche Voraussetzung, jedoch kein ausreichender Grund für die Verursachung der Übel ist das Zusammengesetztsein der Einzelseelen und der materiellen Körpern, die sie überfallen. Seelen und Körper haben „eine Natur erlost..., die einen schlechteren und einen besseren Teil hat, welche voneinander getrennt sind.“. 123 Die Einzelseele besteht aus einem rationalen und einem irrationalen Teil, während der materielle Körper aus Form und Materie besteht. Im Zusammengesetzten lauert die Möglichkeit einer „ΦΗΙΐΐνΘΕΓΙȱ ΎΓ΍ΑΝΑϟ΅Ζȱ Ύ΅Ϡȱ ΐϟΒΉΝΖ“ 124 . Letztere lässt sich auch als Versagen bei der Vereinigung der Teile des Zusammengesetzten formulieren, wobei „Vielzahl und Andersheit hervorleuchteten wegen der Herabminderung der Einheit“ 125 . Wenn sich diese negative Möglichkeit realisiert, wird die jeweilige Seele oder der jeweilige Körper zugleich geschwächt, da „jede Kraft im Einen ist“ (ΔκΗ΅ȱ·ΤΕȱΈϾΑ΅ΐ΍ΖȱπΑȱΘХȱοΑϟ) 126 . Diese „Armut an Kraft“ (σΑΈΉ΍΅ȱ ΘϛΖȱ ΈΙΑΣΐΉΝΖ), ein Schlüsselbegriff bei der Verursachung der Übel, gehört mit der Asymmetrie oder Ungehörigkeit und mit der Entgegensetzung oder dem Aufruhr innerlich zusammen. 127 Sie stellen drei gleichzeitige Aspekte der Verursachung der Übel _____________ 118 119 120 121 122 123 124

125 126 127

Ebd. 47, 14-15. Ebd. 48, 19-20. Ebd. 50, 34. Ebd. 47, 4-11. Ebd. 50, 1-2: „causisque et non causis entibus“. Ebd. 50, 36-37: „σΏ΅ΛΉȱ ΚϾΗ΍Αȱ ,ȱ ϏΖȱ Θϲȱ ΐξΑȱ ΛΉϧΕΓΑ,ȱ Θϲȱ Έξȱ ΎΣΏΏ΍ΓΑ, et hoc divisim ab invicem“. Ebd. 48, 18; vgl. In Remp. II 91, 6-15; In Tim. I 380, 27 – 381, 6. Es soll hier betont werden, dass die innere und äußere Vielheit des Zusammengesetzten keineswegs in sich schlecht ist, also in sich kein Nachlassen der Einheit impliziert, solange die Mischung im Zusammengesetzten symmetrisch ist. Auch ist die „niedrigere“ Partei im Zusammengesetzten nicht in sich schlecht: Auch sie nimmt nämlich am Guten teil, nur weniger als die „bessere“. Diese Auffassung hängt eng zusammen mit der grundlegenden proklischen These der Nichtexistenz eines Schlechten in reiner Form. De mal. sub. 50, 45-46: „ΘϲȱΔΏϛΌΓΖȱΎ΅ϠȱψȱοΘΉΕϱΘ΋ΖȱπΒνΏ΅ΐΜΉȱΈ΍ΤȱΘχΑȱΘϛΖȱοΑЏΗΉΝΖȱЂΚΉΗ΍Α“. Ebd. 50, 47. Ebd. 4, 16-20.

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dar, sie sind in einem unechten Sinn ihre Ursachen und ihr Ergebnis zugleich. 128 Man könnte dennoch einwenden, dass sie weder ihre Ursache noch ihr Ergebnis sind, sondern vielmehr drei gleichzeitige Aspekte des Schlechten selbst, und nicht seiner Verursachung; eher beschreiben sie das Schlechte, als dass sie eine Antwort auf die Frage über das, was es verursacht, gäben. Ebensowenig antworten die erwähnten Bestimmungen der Ursachen der Übel (wie unbegrenzt, unbestimmt usw.), die ihrerseits auch Bestimmungen der Übel selbst sind, auf diese Frage. Der Begriff der „Schwäche“ ist unter den drei Momenten der Verursachung der Übel, und vor allem der Übel bei den Seelen, zentral 129 . Es könnte angenommen werden, dass sie ein Nachlassen derjenigen Kraft ist, die das jeweilige Seiende ver-eint, und somit für die Bewirkung der Asymmetrie und der Entgegensetzung verantwortlich ist. Aber selbst der Begriff der Schwäche beschreibt nur die Tätigkeit der Übel: Insofern die Übel jeder Eigenständigkeit entblößt sind, usurpieren sie die Kraft der von ihnen überfallenen Seienden, und dadurch entkräften sie sie. 130 Die Frage nach dem Grund der Verursachung der Übel bleibt offen. Das Unterbleiben einer Antwort ist die Folge der Nichtexistenz einer oder mehrerer „vorangehender“ (ΔΕΓ΋·ΓΙΐνΑΝΑ) per se Ursachen der Übel 131 , gleichsam einer Wirkursache, die durch ihre Kraft ein Ergebnis auslösen würde. Die Übel können nicht derartige Ursachen haben, weil sie in diesem Fall in die ontologische Skala eingeordnet werden müssten – da nur ein Seiendes eine „vorangehende“ Ursache sein kann – und damit indirekt vom ersten Prinzip abgeleitet wären. 2.4. Die Existenzweise der Übel Die Existenzweise der Übel wird von Proklos aufgrund ihrer unechten Verursachung 132 als „Δ΅ΕΙΔϱΗΘ΅Η΍Ζ“ 133 bezeichnet. Die Perversionen, _____________ 128 129 130 131 132 133

Ebd. 50, 35-48. Ebd. 46, 11-13; 24, 1-3; 25, 14-15 et passim. Ebd. 52, 3-5; 7, 31-37. Ebd. 49, 7; 50, 4. Opsomer-Steel 1997, 249-250. Der Begriff kommt zum ersten Mal bei Porphyrios vor (Sent. 42, 19), bezeichnet aber die Existenz des Schlechten erst bei Ɗamblichos, dem Zeugnis des Simplikios zufolge (Ɗn Cat. 418, 3-6). Mit dieser Bedeutung taucht das Wort auch bei Gregor von Nyssa auf (De hominis opificio: PG 44, 164a).

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wie die Ungerechtigkeit und die ihr ähnlichen „Formen“ 134 , existieren als Parhypostasen. Die Parhypostase ist die einzig mögliche Existenzweise für etwas, das so verursacht wird, wie im vorhergehenden Abschnitt des Traktats beschrieben wurde. 135 Indem er hier die ontologischen Bestimmungen, die sich von der jeweiligen Stufe der Skala des Seienden prädizieren lassen – denn jedes Seiende muss Henaden oder Formen als per se Ursachen haben und zu ihnen zurückkehren – negiert, zeigt er, dass die Parhypostase kein Seiendes, kein „ΘϱΈΉȱ Θ΍“ ist, da jedes Wesen gut ist, 136 sondern eine absolut abhängige Existenz hat 137 . Im Kapitel 54 sagt Proklos, dass der Begriff Δ΅ΕΙΔϱΗΘ΅Η΍Ζ dieselbe Bedeutung wie der Begriff „ЀΔΉΑ΅ΑΘϟΓΑ“ hat – oder genauer gesprochen die Existenzweise des ЀΔΉΑ΅ΑΘϟΓΑȱ zum Ausdruck bringt – insofern der letzte Begriff eine partielle (und keine absolute) Beraubung bezeichnet, die „ϳΐΓІȱΘϜȱρΒΉ΍“, deren Beraubung sie ist, „ΐΉΘ΅Ώ΅ΐΆΣΑΉ΍ȱΈΙΑΣΐΉΝΖȱπΎΉϧΌΉΑ“, und dadurch „ΉϢΖȱΘχΑȱ ΘϛΖȱ πΑ΅ΑΘ΍ЏΗΉΝΖȱ ΐΓϧΕ΅Αȱ Ύ΅ΌϟΗΘ΅Θ΅΍“. 138 Aus der Kombination dieser zwei Definitionen der Parhypostase ergibt sich, dass sie die Existenzweise einer partiellen adversativen Beraubung bezeichnet, die dadurch „ist“, dass sie Kraft von dem schöpft, dessen Beraubung sie ist und von dem sie absolut abhängt.

_____________ 134 135 136 137 138

In Alcib. 117, 17 – 119, 5; Theol. Plat. I 18, 85. De mal. sub. 50, 31; Ebd. 50, 1-9. Beierwaltes 1962, 70f. Lloyd 1987, 152-154. De mal. sub. 54, 16-22; vgl. A.C. Lloyd 1987, 154-155. Mit Recht kritisiert A.C. Lloyd die Übersetzung der Δ΅ΕΙΔϱΗΘ΅Η΍Ζ mit „contre-existence“ (von Isaac 1982, 21; vgl. Trouillard 1981a, 43-52, hier 46, der mit „contre-subsistence“ übersetzt) mit dem Argument, dass sie die proklische Unterscheidung zwischen der Natur der Übel, die als Entgegensetzung bezeichnet wird, und ihrer Existenzweise, der Parhypostasis, außer Acht lässt. Im letzten Begriff kommt nicht primär die Entgegensetzung des Schlechten zum Guten zum Ausdruck, sondern seine parasitäre Abhängigkeit von ihm, die auch im 7. Kapitel von De mal. sub. besprochen wird (vgl. auch Abbate 1998, 112: Der Begriff Parhypostasis bezeichnet „la non autonomia dell’ esistenza del male ed al contempo il subentrare del male negli enti in modo puramente accidentale“). Dennoch scheint die von Lloyd vorgeschlagene (157) und auch von Steel 1994, 80 übernommene Wiedergabe „parasitic existence“ das griechische Wort zu überinterpretieren (vgl. dazu Arist. Eth. Nic. 1096a21-22, wo vom ΔΕϱΖȱ Θ΍ gesagt wird, „Δ΅Ε΅ΚΙΣΈ΍ȱ·ΤΕȱΘΓІΘ’ȱσΓ΍ΎΉȱΎ΅ϠȱΗΙΐΆΉΆ΋ΎϱΘ΍ȱΘΓІȱϷΑΘΓΖ“).

3. Die Übel der menschlichen Seele

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3. Die Übel der menschlichen Seele 3.1. Die Manifestationsweise der Übel in der Menschenseele Die menschlichen Seelen sind Teile der einen Seele, die gemäß Proklos sowie gemäß Plotin an der Grenzlinie zwischen dem Geist und der Sinnenwelt steht. Die Seele vermittelt zwischen beiden, zwischen den Formen und ihren materiellen Abbildern 139 . Die menschlichen Seelen, diejenigen der Tiere und die materiellen Körper machen die unteren Stufen der ontologischen Skala aus, die von den Übeln in einer sich nach dem jeweiligen Rang unterscheidenden Weise befallen werden. 140 Das Interesse des Proklos wendet sich vor allem den Übeln der menschlichen Seelen zu, die er oft für die einzigen wirklichen Übel zu halten scheint. Die Offensichtlichkeit ihrer Wirklichkeit bildet sogar ein Argument für die Wirklichkeit der Übel überhaupt. 141 Die Zusammensetzung der menschlichen Seele aus irrationaler oder unterer und rationaler oder höherer Seele und ihre daraus folgende Möglichkeit einer Wandlung zum besseren oder zum schlechteren, bildet, wie gezeigt, die Voraussetzung, nicht jedoch den Grund der Verursachung der Übel in der menschlichen Seele. Die Übel manifestieren sich als Krankheit, Asymmetrie und Aufruhr, m.a.W. als Nachlassen der Einheit der Teile der Seele. Das zentrale Moment in der Manifestation der Übel ist die Schwäche, das Nachlassen der vereinheitlichenden Kraft der Seele. Die Wende der Seele zum Schlechten wird als Gegensatz oder Versagen der Hinwendung zum Guten beschrieben: „Denn von den Gütern sieht die Seele Urbilder, wenn sie sich zu sich selber und zu dem wendet, was besser ist als sie selbst, bei dem es das, was erstlich gut ist, gibt, und wo die obersten Enden der Seienden ‚in heiligem Grunde’ sind und das, was getrennt gegründet ist. Zu den [Urbildern] der Übel aber sieht sie, wenn sie [von sich weg] auf das schaut, was außerhalb von ihr ist und nach ihr kommt, was vereinzelt und außerhalb seiner selbst, ungeordnet, unbestimmt und unstimmig zur eigenen Natur ist, was die Güter nicht wahrnehmen kann.“ 142 Das Ergebnis dieser Wende ist, dass „die Seelen dem angeähn_____________ 139 Nach Trouillard 1977b, 307-330 macht die vermittelnde Stellung der Seele ihre grundlegende Bestimmung aus (329f), von der her ihre verschiedenen Definitionen zu verstehen sind (307-309) (vgl. ders. 1966, 20-23). Zum Seelenbegriff bei Proklos s. auch Merlan 1960, 21-23; 27-30. 140 De mal. sub. 20; Ebd. 56, 1-2. 141 Ebd. 4, 2-7. 142 De mal. sub. 48, 9-15: „Ύ΅Ϡȱ·ΤΕȱΘЗΑȱΐξΑȱΦ·΅ΌЗΑȱΘΤȱΔ΅Ε΅ΈΉϟ·ΐ΅Θ΅ȱΆΏνΔΉ΍ȱψȱΜΙΛχȱ ΗΘΕ΅ΚΉϧΗ΅ȱΔΕϲΖȱο΅ΙΘχΑȱΎ΅ϠȱΘΤȱο΅ΙΘϛΖȱΎΕΉϟΘΘΝ,ȱΔ΅Ε’ȱΓϩΖȱΘΤȱΔΕЏΘΝΖȱȱπΑȱΥ·ΑХȱΆΣΌΕУȱΎ΅Ϡȱ΅ЁΘΤȱΛΝΕ΍ΗΘЗΖȱϡΈΕΙΐνΑ΅.ȱ̖ЗΑȱΈ’ȱ΅ЇȱΎ΅ΎЗΑȱ

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licht werden, das schlecht ist; dann tauschen sie dessen Lebensweise ein, anstatt dass sie versuchen, dem ähnlich zu werden, was höher steht als sie.“. 143 Die Seele steht an der Grenze, die die intelligible Welt von der Sinnenwelt trennt und sie zugleich vereinigt, indem sie zwischen ihnen vermittelt: Sie ist Abbild des Geistes und Urbild der Sinnendinge. 144 Folglich erfüllt sie das ihr geziemende Ziel, wenn sie sich dem Geist hinwendet, wenn sie also zu derjenigen Hypostase zurückkehrt, von der her sie ihren Hervorgang ins Sein empfangen hat. Die Rückkehr ist „die abstrahierende Reduktion des Denkens in sich selbst“ 145 : Die menschliche Seele bedenkt sich selbst reflexiv als logisches Wesen 146 und gelangt dadurch zur Schau (πΔ΍ΆΓΏφ) 147 des Geistes als ihres transzendenten und zugleich immanenten Fundaments, ein Erkennen, das die Aufhebung und zugleich die Verwirklichung ihrer logischen Kraft ausmacht. 148 Durch das Denken – oder besser: als Denken – gelangt die Seele zu ihrem wahren Selbst, zu dem, was ihr wirklich eigen ist, nämlich zum Geist und durch ihn zum Einen selbst. 149 Auf diesem Weg muss die Seele die sinnliche Wahrnehmung und die Meinung (ΈϱΒ΅), die diese anbietet, überwinden. Statt der Sinne beherrscht der Geist das innere Leben und kontrolliert die Vorstellungen der Sinne. Anders gesagt wird die naturgemäße Beziehung zwischen dem rationalen und dem irrationalen Teil der Seele eingesetzt, so dass die Seele zum vereinheitlichten Ganzen wird. Dieser naturgemäßen Beziehung entspricht die dem Wirklichen angemessene, d.h. wahrhafte Selbsterkenntnis der Seele sowie die wahrhafte Erkenntnis des Seienden. 150 Die Vereinheitlichung der Seele als symmetrische Unterordnung ihres irrationalen Teils unter den rationalen und ihre Rückkehr zum Geist als Selbstdenken sind zwei Aspekte der einen Wende der Seele nach oben. Die Rückwendung der Seele misslingt, wenn sie sich den Sinnendingen zuwendet. Dann wird die symmetrische Hierarchie im Inneren der _____________ ΦΔΓΆΏνΔΓΙΗ΅ȱΉϢΖȱΘΤȱσΒΝȱο΅ΙΘϛΖȱΎ΅ϠȱΘΤȱΐΉΌ’ȱο΅ΙΘφΑ,ȱϵΗ΅ȱΎ΅ΌνΎ΅ΗΘ΅ȱΎ΅ϠȱσΒΝȱο΅ΙΘЗΑ,ȱ ΩΘ΅ΎΘ΅ȱϷΑΘ΅ȱΎ΅ϠȱΦϱΕ΍ΗΘ΅ȱΎ΅ϠȱΔΏ΋ΐΐΉΏϛȱΘϜȱο΅ΙΘЗΑȱΚϾΗΉ΍,ȱΨȱΎ΅ϠȱΦΑΉΔ΅ϟΗΌ΋Θ΅ȱΘЗΑȱ Φ·΅ΌЗΑ“. 143 Ebd. 48, 7-9: „ϳΐΓ΍ΓϾΐΉΑ΅΍ȱ ·ΤΕȱ ΅ϡȱ ΜΙΛ΅Ϡȱ ȱ ΦΑΘ΅ΏΏΣΘΘΓΑΘ΅΍ȱ ΘχΑȱ ΘΓϾΘΝΑȱΊΝχΑȱΘϛΖȱΔΕϲΖȱΘϲȱΎΕΉϧΘΘΓΑȱϳΐΓ΍ЏΗΉΝΖ“.

144 145 146 147 148 149

Elem. Theol. 170; De prov. 18, 6-7. S. Beierwaltes 1977, 108. De prov. 18, 3-6. Ebd.19, 15. Courcelle 1971, 160-162. S. Beierwaltes 1977, 108; zum theologischen und kosmologischen Inhalt der Rückwendung als Aufstieg zum Einen vgl. Grondijs 1960, 9-13; Saffrey 1976, 209-211. 150 De mal. sub. 24, 31-32.

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Seelen beeinträchtigt und die Seele durch die Leidenschaften – maßloser Schmerz, Lust oder Zorn usw. – und durch unkontrollierbare Triebe und Vorstellungen beherrscht. 151 Die irrationale Seele ist aber keineswegs die Ursache der Übel, da sie wesensmäßig gut ist; die „Ursache“ ist ihre asymmetrische Beziehung zur rationalen Seele. Kraft der Asymmetrie überfallen die Übel beide Teile: Dies zeigt die Unterteilung der Übel der Seele in Übel der rationalen und solche der irrationalen Seele. Bei der ersten, kann das Schlechte als Beraubung des Geistes (Hässlichkeit/Unwissenheit), bei der zweiten als Beraubung des Logos (Krankheit/Streit) 152 – d.h. des jeweils eigenen Guten – beschrieben werden. Diese Teilung hebt allerdings die „Einheit“ der Übel der Seele, wie sie sich im Begriff der Hinwendung der Seele (zum schlechteren) ausdrückt, nicht auf: Wenn die Sinnesvorstellungen in der irrationalen Seele vom Logos nicht beherrscht werden, dann „kontaminieren“ sie das theoretische Denken in der rationalen Seele. 3.2. Die Ursache der Übel in der Seele Proklos scheint die offene Frage nach dem Grund der Verursachung der Übel mit einem Willensakt, einer Wahl (΅ϣΕΉΗ΍Ζ) oder Hinwendung der menschlichen Seele zu beantworten – eine Antwort, die ihrerseits eine Kette von weiteren Fragen hervorruft. 153 Da sie die Möglichkeit besitzt, sich entweder dem Geist oder dem Sinnlichen zuzuwenden, wählt sie (΅ϡΕΉϧΘ΅Ʃ) die Hinwendung zum schlechteren. Diese Wahl ist, gemäß Proklos, die Ursache des Falles der Seelen im Mythos im Phaidros. 154 Dieser Fall in die Welt des Werdens ist aber noch nicht schlecht, es sei denn, man würde das Werden selbst als schlecht betrachten. 155 Zum „wirklichen“ Schlechten gerät die Seele erst kraft der Wahlentscheidungen, die sie nach ihrem Fall vollzieht. Der Zustand der Seele in der Sinnenwelt, in diesem Feld der Vergessenheit, wo sie sich mit „ΘΕΓΚχȱΈΓΒ΅ΗΘφ“ ernährt, ist freilich minderwertig im Vergleich zu ihrem Zustand im „überhimmlischen Ort“ (ЀΔΉΕΓΙΕΣΑ΍ΓΖȱ ΘϱΔΓΖ), im „Feld der Wahrheit“ (ΘϛΖȱ ΦΏ΋ΌΉϟ΅Ζȱ ΔΉΈϟΓΑ), wo sie mit den _____________ 151ȱȱIn Alcib. 244-246; Trouillard 1981a, 46-47; Évrard 1988, 67.ȱ 152 153 154 155

De mal. sub. 56, 1-5. Ebd. 48, 9-16. Ebd. 33, 17-25. Ebd. 21, 13-14; vgl. Hermeias In Phaidr. 93, 13-23. Die Geburt der Seele in der Welt des Werdens kann sogar auch positive Konsequenzen haben (s. In Remp. II 159, 19 – 160, 11; Trouillard 1983).

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Göttern gemeinsam wandert. 156 Wenn aber der Schaden bei diesem Fall sich auf die Energie der Seele beschränkt – wie es bei den göttlichen Seelen der Fall ist, die, obwohl sie in die Welt des Werdens fallen, dem „wirklichen“ Schlechten unzugänglich sind, da sie den ersten Rang in der Dreiheit der Einzelseelen ausmachen – dann ist das Schlechte nur scheinbar vorhanden. 157 Das „wirkliche“ Schlechte überfällt die menschlichen und die tierischen Seelen, bei denen nicht nur die Energie, sondern auch ihre Kraft oder ihr Habitus aufgrund der Wahl der Seele verdorben wird. 158 Abschließend lässt sich sagen: Der Fall der Seele in die Welt des Werdens ist die Voraussetzung der Verursachung des „wirklichen“ Schlechten in ihr; 159 der Grund der Verursachung ist die Wahl der Hinwendung zum schlechteren, die ebenfalls der Grund des Falls der Seele gewesen ist. 3.2.1. Selbstmächtigkeit (΅ЁΘΉΒΓϾΗ΍ΓΑ) und Unwissenheit bei der schlechten Wahl der Seele Es stellt sich hier die Frage, inwiefern diese Wahl eine Tat des freien Willens, also eine willentliche Entscheidung der Seele oder eine Folge der Unwissenheit ist. Proklos scheint sich für die erste These auszusprechen, wenn er seine aufgeführte Auslegung des Falls der Seelen im Phaidros gegen die plotinische These, dass die Anziehungskraft der Materie Ursache des Falls ist, mit dem Argument verteidigt, dass sie die Selbstmächtigkeit und die Selbstbewegung der Seele rettet. 160 Andererseits aber ist die Ursache der Wahl die Schwäche der Seele, die ja nicht deswegen fällt, weil sie im „überhimmlischen Ort“ nicht bleiben will – da sie sogar nach ihrem Fall immer noch dahin zurückkehren will –, sondern weil sie in der „dorti_____________ 156 De mal. sub. 24, 13-18. 157 Ebd. 21, 15-28; 22, 12-14 (das insusceptivum mali, worum es hier geht, sind die göttlichen Seelen); vgl. 39, 8-14. 158 Ebd. 23, 2-6: vgl. 39, 8-14. 159 S. Hager 1962, 108. 160 De mal. sub. 33, 23-24; vgl. In Tim. 377, 7-29 u. 388, 22 – 389, 11. Zur Selbstbewegung (΅ЁΘΓΎϟΑ΋ΘΓΑ) und Selbständigkeit (΅ЁΘΓΑΓΐϟ΅) der Seele s. Trouillard 1957a; ders. 1957b, bes. 336f. Ein weiteres Argument des Proklos ist, dass der Fall der Seelen vom „überhimmlischen Ort“ im Phaidros ihrer Ankunft in die materielle Welt zeitlich vorangeht, und daher der Grund des Falls nicht in der Materie, sondern bei den Seelen liegen muss (De mal. sub. 33, 1-10). Hager 1962, 108 behauptet, das Argument zeige ein oberflächliches Verständnis des Phaidrosmythos als Erzählung von zeitlich aufeinanderfolgenden Fakten; Proklos aber versteht das zeitlich Frühere oder Spätere im Mythos als Sinnbild des ontologisch Vorangehenden oder Nachstehenden (s. Ramnoux 1976).

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gen Schau“ zu verbleiben nicht vermag. 161 Dieser Vorgang wird mit den archaischen Termini „ΎϱΕΓΖ“ und „ЂΆΕ΍Ζ“ formuliert: Aufgrund ihrer Schwäche wird die Seele durch die Schau gesättigt und gerät zur „ЂΆΕ΍Ζ“, die ihren Fall bewirkt. 162 Auch wenn nach dem Fall sie die „wirklichen“ Übel überfallen, will die Seele immerhin zum „überhimmlischen Ort“ zurückkehren, was ihr vor der Vervollständigung ihrer Reinigung nicht erlaubt ist. 163 Für Proklos ist das Schlechte schlechthin ungewollt, weil es das „Verderbende des jeweiligen Dinges“ (οΎΣΗΘΓΙȱ ΚΌ΅ΕΘ΍ΎϱΑ) 164 ist; daher ist die Möglichkeit der Existenz einer Zielursache des Schlechten abzulehnen. Als das „Rettende des jeweiligen Dinges“ (οΎΣΗΘΓΙȱ ΗΝΗΘ΍ΎϱΑ) ist das Gute das einzig Begehrte (πΚΉΘϱΑ). 165 Wenn jemand das Schlechte anstrebt, dann weil er es fälschlicherweise für gut hält. 166 Die Wahl des Schlechten ist also Folge der Unwissenheit oder der Schwäche der Erkenntnis, eines Betrugs, eines Fehlers des Erkennens der Seele und nicht einer Tat ihres freien Willens. Es ergibt sich scheinbar ein Widerspruch zwischen den beiden Auffassungen Proklos’ hinsichtlich der schlechten Wahl der Seele, und es stellt sich die Frage, ob er wirklich oder doch behebbar ist. 3.2.2. Die Struktur der Wahl Bevor diese Frage beantwortet wird, muss der Begriff der Wahl untersucht werden. Die „Wahl“ ist bei Proklos die Energie einer logischen Kraft, der Vorentscheidung (ΔΕΓ΅ϟΕΉΗ΍Ζ) 167 , die mit dem Willen (ΆΓϾΏ΋Η΍Ζ) 168 identifiziert wird. Die logischen Kräfte zerfallen in erkennende und wollende, wobei die Prohairesis zu den zweiten gehört: „Die Wahl (ΔΕΓ΅ϟΕΉΗ΍Ζ) ist also...eine vernünftige Kraft die nach Gutem strebt, entweder wahrem Guten oder solchem, das nur gut zu sein scheint… Wegen dieser Wahl steigt die Seele auf und ab, verfehlt ihr Ziel und hat Erfolg. Indem sie die Wirkung dieser Kraft sahen, haben die Alten deren Hinneigung zu beidem ‚Zweiweg’ in uns genannt. Deshalb ist wohl auch _____________ 161 De mal. sub. 46, 3-13; Beierwaltes 1962, 72. 162 De mal. sub. 12, 11-13. Es stellt sich übrigens die Frage, ob die Freiwilligkeit der Wahl sich mit der Notwendigkeit des Falls der Seelen für die Vervollständigung des Alls vereinbaren lässt. 163 Ebd. 19, 21-26. 164 S. In Remp. II 89, 16ff. 165 De mal. sub. 54, 4-10. 166 Ebd. 49, 5-7. 167 De prov. 36, 1-5. 168 In Remp. II 358,18.

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das, was wählt, und die Selbstmächtigkeit dasselbe.“ 169 Die Prohairesis kann die Seele zum besseren oder zum schlechteren hinführen, denn jede Tat der Seele, jede „Wahl“ ist auch Tat der Prohairesis. 170 Die Seele hat „ΘϲȱΉϨΑ΅΍“, sagt Proklos, „πΑȱ ΅ЁΘХȱ ΘΓϾΘУȱ ΘХȱ ΔΕΓ΅΍ΕΉϧΗΌ΅΍“. 171 Die Realisierung der Prohairesis (oder des Willens, oder des πΚ’ȱ ψΐϧΑ 172 ) als Wahl setzt einen Erkenntnisvorgang voraus, der entscheidet, ob etwas wahrhaft oder nur scheinbar gut ist, angenommen, dass die Prohairesis eine wollende Kraft ist, die sich sowohl dem wahrhaften wie auch dem nur scheinbaren Guten zuwendet. 173 Die gute oder schlechte Wahl hängt also vom gelungenen bzw. misslungenen Ausgang dieses Erkenntnisvorgangs ab, von der Fähigkeit bzw. Unfähigkeit der Seele richtig einzusehen, welches der beiden Teile des Dilemmas wahrhaft gut ist. Wir werden scheinbar zum Schluss geführt, dass die schlechte Wahl letztendlich ein Ergebnis von Unwissenheit oder Schwäche des Erkennens ist. Proklos schreibt aber die Verantwortung für den Fehler des Erkennens der Seele selbst zu: „Es geziemt sich also, dass die Seele sich selbst anschuldigt, weil sie die untrüglichen Kriterien, die sie ja besitzt, nicht benutzte, sondern die schlechten Kriterien zur Unterscheidung der Güter von ihren Gegenteilen; obwohl sie die wahren Kriterien des Seienden von Gott her bekommen hat, hat sie ihr Sein nicht gemäß ihnen, sondern benutzt die schlechteren [sc. Kriterien].“ 174 Die Seele selbst wählt die Kriterien aus, aufgrund deren die Unterscheidung zwischen wahrhaftem und bloß scheinbarem Guten erfolgt; von dieser Unterscheidung hängt wiederum die Wahl des einen oder des anderen ab. Die Seele wählt folglich das Gute oder das Schlechte indirekt zwar, doch „frei“. 175 _____________ 169 De prov. 59, 1-6: „est ergo...electio potentia rationalis appetitiva bonorum verorumque et apparentium..., propter quam ascendit et descendit et peccat et dirigit. Huius potentie operationem videntes, biviam in nobis vocaverunt ad ambo ipsius inclinationem. Quare erit electionale et in nobis idem...“. 170 Rist 1975, 103-104. 171 Das Sein (ΘϲȱΉϨΑ΅΍) wird der Seele zuteil, insofern sie sich, zum Nous zurückkehrend, bestimmen lässt, wobei ihre Rückwendung von der ΔΕΓ΅ϟΕΉΗ΍Ζȱ angeleitet wird; wenn die ȱΔΕΓ΅ϟΕΉΗ΍Ζ sie zum Niedrigeren hinführt, fällt sie ins Nichtsein herab. Daraus lässt sich dennoch nicht mit Rist 1975, 104 ableiten, dass bei Proklos „in some sence we are our prohairesis“, also das Selbst irgendwie mit der Proairesis zusammenfällt. 172 In Remp. II 358, 16-18. 173 De prov. 59, 1-2. 174 In Remp. II 278, 11-16: „ΓЁΎΓІΑȱο΅ΙΘχΑȱ΅ϢΘ΍κΗΌ΅΍ȱΔΕΓΗφΎΉ΍ȱΘχΑȱΜΙΛφΑ,ȱБΖȱΐχȱΛΕ΋Ȭ Η΅ΐνΑ΋Αȱ ΓϩΖȱ σΛΉ΍ȱ ΎΕ΍Θ΋ΕϟΓ΍Ζȱ ΦΜΉϾΗΘΓ΍Ζ,ȱ ΦΏΏΤȱ ΘΓϧΖȱ ΐΓΛΌ΋ΕΓϧΖȱ Ύ΅ΑϱΗ΍ȱ ΘЗΑȱ Φ·΅ΌЗΑȱ Ύ΅ϠȱΘЗΑȱπΑ΅ΑΘϟΝΑ,ȱΎ΅ϟΘΓ΍ȱΌΉϱΌΉΑȱΏ΅ΆΓІΗ΅ȱΘΤȱϷΑΘΝΖȱΎΕ΍ΘφΕ΍΅ȱΘЗΑȱϷΑΘΝΑȱΎ΅ϠȱπΑȱΘΓϾΘΓ΍Ζȱ ΐχȱσΛΓΙΗ΅ȱΘϲȱΉϨΑ΅΍,ȱΘΓϧΖȱΈξȱΛΉϟΕΓΗ΍Α...ΛΕΝΐνΑ΋.“.

175 Ein passendes Beispiel einer derartigen Kriterienauswahl verwendet Thomas von Aquin: Wenn jemand entscheiden muss, ob er Unzucht treiben wird oder nicht,

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Diese Beschreibung der Wahl bringt folgende Schwierigkeiten mit sich: a) Die Auswahl eines Kriteriums, von der die „Wahl“ indirekt abhängt, kann als eine zweite Wahl betrachtet werden, die selbst die Frage über die Vollzugsweise dieser Wahl erneut aufwirft usw. ad infinitum. b) Bezüglich der Frage, ob die schlechte Wahl der Seele gewollt ist oder nicht, führt das vorgestellte Schema einen freien Willensakt (΅ϣΕΉΗ΍Ζ) auf einen Fehler des Erkennens (d.h. der Unterscheidung zwischen Gutem und nur scheinbar Gutem) zurück, der seinerseits auf eine zweite freie Tat (Kriterienauswahl) zurückgeführt wird usw. ad infinitum. Diese Schwierigkeiten lassen sich jedoch überwinden, wenn man a) das wollende und das erkennende Moment zusammen als im Begriff der Prohairesis als rationaler wollender Kraft vereinigt betrachtet, und b) die Auswahl des Kriteriums der Diagnose als Grundlage der Prohairesis, und damit strukturell anders als die „erste“ Wahl, betrachtet. Gemäß der These a) ist das wollende Moment der Prohairesis nicht ohne einen erkennenden Charakter: Es richtet sich von Natur aus zum Guten hin, entweder zum wahrhaft oder zum bloß scheinbar Guten und niemals zum Schlechten als solchem – es verfügt also über eine Art Vorkenntnis des Guten, oder eher über eine Art Rezeptivität für das durch eine andere seelische Instanz gefällte Urteil. 176 Andererseits schließt das diagnostische Moment das wollende Element ein, da sein Ausgang von einem Auswahlakt abhängt. Diese Auswahl der Kriterien, aufgrund deren die Unterscheidung zwischen wahrhaftem und bloß scheinbarem Guten erfolgt, vereinigt in sich das wollende mit dem erkennenden Moment, sowohl wenn sie richtig ist wie auch wenn sie falsch ist. Als Grundlage der Prohairesis umfasst sie untrennbar ihre beiden Momente. Die falsche Kriterienauswahl ist weder nur eine Tat der Unwissenheit oder der Schwäche des Erkennens, da der Seele die wahrhaften Kriterien des Guten vom Gott gegeben, 177 d.h. ihr irgendwie bekannt sind, noch eine rein willensmäßige Tat, denn die falschen Kriterien werden gerade ausgewählt, weil sie fälschlicherweise für richtig gehalten werden 178 . Das volitionale Moment ist also in sich kognitiv und das kognitive Moment in sich volitional fundiert: Die Prohairesis ist rationalis und appetitiva zugleich. Die falsche Kriterienauswahl lässt sich als ein gewollter Selbstbetrug oder als ein _____________ kann er unter zwei Kriterien für die Bewertung der zwei Optionen wählen: Das erste, „wahrhaftige“ Kriterium ist das Gesetz, das die Unzucht verbietet; das zweite, „schlechte“ Kriterium schreibt vor, dass der Genuss verfolgt werden muss [Summa Theologica, Madrid 1962, Teil II, quaestio 77, articulus 2 (utrum ratio possit superari a passione contra suam scientiam) S. 504; Davidson 1985, 60]. 176 De prov. 59, 1-2. 177 In Remp. II, 277,15. 178 De mal. sub. 49, 5-7.

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Betrug des Willens der Seele beschreiben. 179 Angenommen also, dass die Kriterienauswahl als Grundlage der Prohairesis von zentraler Bedeutung bei der Verursachung der Übel ist, ist das Ungewolltsein der Übel mit der Verantwortung der Seele für sie vereinbar. 180 Die falsche Kriterienauswahl lässt sich weder auf die Unwissenheit noch auf eine gewollte Auswahl noch auf irgendeinen anderen Grund zurückführen. Sie ist das Versagen des Auswahlvorgangs des richtigen Kriteriums, der die Seele zum wahrhaften Guten hinführen würde. Wie die Übel im Allgemeinen, so lassen sich auch die Übel der Seele als „Verfehlen des angemessenen Ziels“ (ΦΘΉΙΒϟ΅ȱΘΓІȱΔΕΓΗφΎΓΑΘΓΖȱΘνΏΓΙΖ) nicht auf einen Grund zurückführen. Die Verursachung der Übel kann zwar beschrieben, nicht aber begründet werden. Dies tritt noch deutlicher hervor, wenn die inhaltliche Bestimmung der Kriterien der Beurteilung berücksichtigt wird: „Die unfehlbaren Kriterien sind die Vernunft und der Geist, die falschen aber sind die Einbildungskraft und die Sinneswahrnehmung; und derjenige, der die ersteren verwendet, erkennt das Seiende und sein Gegenteil, nämlich das NichtSeiende, derjenige aber, der die Kriterien umgekehrt verwendet, verwirft das Seiende als Nichtseiendes und akzeptiert das Nichtseiende als Seiendes.“ 181 Geist und Vernunft sind deswegen die unfehlbaren Kriterien, weil sie als unkörperlich mit der unkörperlichen Tugend, die das Gute für die Seele ist, so wie mit dem unkörperlichen Sein, das im Guten überhaupt gründet, verwandt sind und diese somit anerkennen können, wobei die körperlichen (weil an die Sinnesorgane gebundenen) Sinne die Seele zu den ihnen verwandten sinnlichen Güter führen, wie z.B. zu Reichtum, zu Macht und zum Wohl des Körpers. Letztere sind aber in Bezug auf die Seele und ihr wahres Wohl gleichgültig (ΦΈ΍ΣΚΓΕ΅), auch wenn sie bisweilen um des Guten willen erstrebenswert sind. 182 Durch die Verwendung der Sinneswahrnehmung als Kriterium schätzt die Seele diese gleichgülti_____________ 179 Nach Dihle 1985, 46-56 u. 138-149, verfügt das gesamte antike Denken bis Augustin über keine klare Unterscheidung zwischen rationalem Denken und ethischer Absicht als selbtständigen Komponenten des Willens: Jede wahrhaft rationale Wahl ist zugleich auch gut, und folglich wird jede „vorsätzliche“ schlechte Tat als irrational und somit bloß scheinbar freiwillig wahrgenommen. 180 In Remp. II 277, 11. 181 In Remp. II 277, 18-23: „̍Ε΍ΘφΕ΍΅ȱΐξΑȱ·ΤΕȱΩΔΘ΅΍ΗΘ΅ȱΏϱ·ΓΖȱΎ΅ϠȱΑΓІΖ,ȱπΔΘ΅΍ΗΐνΑ΅ȱ Έξȱ Κ΅ΑΘ΅Ηϟ΅ȱ Ύ΅Ϡȱ ΅ϥΗΌ΋Η΍Ζаȱ Ύ΅Ϡȱ ϳȱ ΐξΑȱ πΎΉϟΑΓ΍Ζȱ ΛΕЏΐΉΑΓΖȱ ·΍·ΑЏΗΎΉ΍ȱ Θϲȱ ϸΑȱ Ύ΅Ϡȱ Θϲȱ ΘΓϾΘУȱ πΑ΅ΑΘϟΓΑȱ Θϲȱ ΐχȱ ϷΑ,ȱ ϳȱ Έξȱ ΘΓϾΘΓ΍Ζȱ πΑ΋ΏΏ΅·ΐνΑΝΖȱ Ύ΅Θ΅Μ΋ΚϟΊΉΘ΅΍ȱ ΐξΑȱ ΘЗΑȱ ϷΑΘΝΑȱБΖȱΐχȱϷΑΘΝΑ,ȱΦΔΓΈνΛΉΘ΅΍ȱΈξȱΘΤȱΐχȱϷΑΘ΅ȱБΖȱϷΑΘ΅“. 182 Ebd. 277, 28 – 278, 2: „ΔΣΏ΍ΑȱΦΏ΋Ό΍ΑΤȱΐξΑȱΦ·΅ΌΣ,ȱΈ΍’ȱЙΑȱΜΙΛχȱΘΉΏΉ΍ΓІΘ΅΍ȱΎ΅ϠȱΊϜȱ Ύ΅ΘΤȱ ΚϾΗ΍Α,ȱ Ύ΅ΎΤȱ Έξȱ ϷΑΘΝΖ,ȱ Έ΍’ȱ ЙΑȱ ο΅ΙΘφΑȱ ΘΉȱ ΉϢΖȱ Θϲȱ σΗΛ΅ΘΓΑȱ Ω·Ή΍ȱ Ύ΅Ϡȱ ΘΤȱ ο΅ΙΘϛΖаȱ ΦΈ΍ΣΚΓΕ΅ȱΈξȱϵΗ΅ȱΐ΋ΈνΘΉΕ΅ȱΘΓϾΘΝΑȱϷΑΘ΅ȱΘЗΑȱΦ·΅ΌЗΑȱρΑΉΎ΅ȱΊ΋ΘΉϧΑȱΉϢЏΌ΅ΐΉΑ“.ȱȱ

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gen Dinge als hochrangig (Θϟΐ΍΅) ein, und „insofern sie die wahrhaftigen Güter übersieht, fällt sie den wirklichen Übeln anheim“. 183 Weil die geistigen Kriterien der Seele wesensmäßig innewohnen (Ύ΅Θ’ȱ ΓЁΗϟ΅ΑȱπΑϱΑΘ΅) und ihr eigen sind, vermag die Seele durch diese Kriterien die in Bezug auf die Tugend an sich gleichgültigen Dinge so zu bewerten, dass sie in ihren Entscheidungen dasjenige wählt, was ihrem Fortschritt zur Tugend jeweils dienlich sein wird; 184 durch die Verwendung von sinnlichen Kriterien aber, die der Seele von außen her zukommen und ihr untergeordnet sind, wird diese dagegen von den gleichgültigen Dingen hingerissen und verleitet, so dass sie ihren eigenen Vorrang vor den äußerlichen Dingen, die Mittel zu ihr sein sollen, nicht anerkennen kann. 185 Die hierarchische Beziehung zwischen der Seele, die die äußerlichen Dinge zu ihrem Zweck einsetzt, und diesen Dingen als ihren Werkzeugen wird beeinträchtigt, indem die Mittel zum Zweck werden. 186 Wenn hingegen die Seele reflexiv ihre eigene Natur betrachtet, erkennt sie die Selbstkonzentration als Ziel ihrer Tätigkeit und wählt unter den äußerlichen Dingen dasjenige aus, das als Werkzeug zu ihrem eigenen Ziel fungieren könnte; unter den äußeren Umständen (z.B. Armut und Reichtum, Gesundheit und Krankheit) ist die Mitte (ΐνΗΓΑ) vorzuziehen. 187 Es ist wichtig, dass diese Betrachtung der Kriterienwahl auf eine Freisprechung Gottes von jeder Verantwortung für das Schlechte hinausläuft: „Denn dies enthebt Gott in überdeutlicher Weise von jeder Beschuldigung wegen der Übel, führt aber auf die Seele selbst die Ursache ihrer Verfehlungen zurück“ 188 . Das Paradox der Verantwortung der Seele für eine ungewollte aber auch selbstmächtige Auswahl ist im Licht der Differenz zwischen der Selbstmächtigkeit und der Freiheit der Seele im Denken des Proklos besser zu verstehen. Seine Unterscheidung findet Proklos auch bei Platon, als Unterscheidung zwischen der Selbstmächtigkeit (πΚ’ȱψΐϧΑ) der Seele und der Freiwilligkeit (οΎΓϾΗ΍ΓΑ) ihrer Tätigkeit. „Es wäre ja überflüssig zu erweisen, dass es nach Platon die Selbstmächtigkeit gibt, da er überall sagt, dass die Wahlentscheidungen der Seelen Ursachen alles Guten und Schlechten für sich selbst sind, und _____________ 183ȱȱEbd. 278, 5-6:ȱ„ΘΤȱΈξȱΦΏ΋Ό΍ΑЗΖȱΦ·΅ΌΤȱΔ΅ΕΓΕЗΗ΅,ȱΔΉΕ΍ΔΉΘχΖȱ·ϟΑΉΘ΅΍ȱΘΓϧΖȱϷΑΘΝΖȱΎ΅ΎΓϧΖ“. 184 Ebd. 278; vgl. 286f. 185 Ebd. 186 Ebd. 278, 16-18: „Da sie die Ordnung umgeworfen hat und die Werkzeuge denen, die sie gebrauchen, vorangestellt hat, sollte sie nicht Gott, sondern sich selbst beschuldigen“ („̖χΑȱΓЇΑȱ ΘΣΒ΍ΑȱΦΑ΅ΘΕνΜ΅Η΅ȱΎ΅ϠȱΘΤȱϷΕ·΅Α΅ȱΘЗΑȱΛΕΝΐνΑΝΑȱΔΕΓΘ΍ΌΉϧΗ΅ȱΐχȱΌΉϲΑȱΦΏΏ’ȱο΅ΙΘχΑȱ ΅ϢΘ΍ΣΗΌΝ“); vgl. 286, 8-13 u. 286, 26 – 287, 5.

187 Ebd. 286, 26 – 287, 18. 188 Ebd. 278, 22-24: „Θ΅ІΘ΅ȱ·ΤΕȱπΑ΅Ε·νΗΘ΅Θ΅ȱΌΉϲΑȱΐξΑȱπΒ΅΍ΕΉϧȱΔΣΗ΋Ζȱ΅ϢΘϟ΅ΖȱΎ΅ΎЗΑ,ȱ πΔ’ȱ΅ЁΘχΑȱΈξȱΦΑ΅ΚνΕΉ΍ȱΘχΑȱΜΙΛχΑȱЙΑȱΥΐ΅ΕΘΣΑΉ΍ȱΘχΑȱ΅ϢΘϟ΅Α“.

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C. Proklos’ Behandlung des Problems des Schlechten

die Tugend herrenlos nennt.“ 189 Gute und schlechte Wahl sind aber keineswegs deswegen in gleicher Weise frei, denn „ihm nach ist die Freiwilligkeit nicht dasselbe wie die Selbstmächtigkeit; sondern die Freiwilligkeit gehört allein den Guten, wenn ja das Leben der Schlechten unfreiwillig und ungewollt ist; aber auch die Verfehlungen gehören zu unserer Selbstmächtigkeit und rühren von unseren Wahlentscheidungen her. Denn auch diese wählen wir und begehen sie aufgrund einer Wahl, aber wegen der Unwissenheit“. 190 Unwissenheit bedeutet also zwar Unfreiwilligkeit, aber nicht Ausnahme vom Bereich der Wahlentscheidung. Der unfreiwillige Charakter der Verfehlungen sei im 9. Buch der Nomoi (860df.) erwiesen worden, während ihre Abhängigkeit von unseren Wahlentscheidungen sich aus dem Satz „΅ϢΘϟ΅ȱ οΏΓΐνΑΓΙ,ȱ ΌΉϲΖȱ ΦΑ΅ϟΘ΍ΓΖ“ 191 ergibt. Die Zurückführung des Schlechten auf die Unwissenheit hebt also nach Proklos die Verantwortung des Menschen nicht auf. Der Bereich der Entscheidungen und Handlungen, die in unserer Macht liegen, ist breiter als der Bereich der Freiheit im eigentlichen Sinn, und den Unterschied zwischen beiden macht das Wissen aus. Nur die Tugend ist eigentlich herrenlos, weil sie „die Seele von den bittersten Herrschern befreit, in deren Knechtschaft die Seele alles Guten beraubt wird. Denn sie ist dem Zorn, den Begierden, den Phantasien, den Sinneswarnehmungen, den materiellen Dämonen und den Menschen, die sie mit dem Gegenstand ihrer Leidenschaften versorgen, versklavt; von all denen befreit, von Natur aus, die Tugend.“. 192 Die Schlechtigkeit ist dagegen sklavisch und macht die Seele zu Sklavin; 193 sie könnte nur insofern herrenlos genannt werden, als sie – obzwar unfreiwillig – unserer Selbstmächtigkeit gehört. 194 _____________ 189 In Remp. II 355, 11-15: „ͣΘ΍ȱ ΐξΑȱ ΓЇΑȱ σΗΘ΍ȱ ΘΓІΘΓȱ Έχȱ Θϲȱ πΚ’ȱ ψΐϧΑȱ ΈΉ΍ΎΑϾΑ΅΍ȱ Ύ΅ΘΤȱ ̓ΏΣΘΝΑ΅ȱ ΔΉΕ΍ΘΘϱΑ,ȱ Δ΅ΑΘ΅ΛΓІȱ ΘΤΖȱ ΅ϡΕνΗΉ΍Ζȱ ΘЗΑȱ ΜΙΛЗΑȱ ΅ϢΘϟ΅Ζȱ Ών·ΓΑΘΓΖȱ ΅ЁΘ΅ϧΖȱ ΉϨΑ΅΍ȱ ΘЗΑȱΘΉȱΦ·΅ΌЗΑȱΔΣΑΘΝΑȱΎ΅ϠȱΘЗΑȱΎ΅ΎЗΑȱΎ΅ϠȱΘχΑȱΦΕΉΘχΑȱΦΈνΗΔΓΘΓΑȱΎ΅ΏΓІΑΘΓΖ“. 190 Ebd., 15-20: „Ύ΅Θ’ȱ΅ЁΘϲΑȱΓЁΎȱσΗΘ΍ȱΘϲȱοΎΓϾΗ΍ΓΑȱΎ΅ϠȱΘϲȱπΚ’ȱψΐϧΑȱΘ΅ЁΘϱΑаȱΦΏΏΤȱΘϲȱΐξΑȱ οΎΓϾΗ΍ΓΑȱπΑȱΐϱΑΓ΍ΖȱπΗΘϠΑȱΘΓϧΖȱΦ·΅ΌΓϧΖ,ȱΉϥΔΉΕȱΦΎΓϾΗ΍ΓΖȱΎ΅ϠȱΦΆΓϾΏ΋ΘΓΖȱϳȱΘЗΑȱΎ΅ΎЗΑȱ ΆϟΓΖаȱ πΚ’ȱ ψΐϧΑȱ Έξȱ Ύ΅Ϡȱ ΦΔϲȱ ΘЗΑȱ ψΐΉΘνΕΝΑȱ ΅ϡΕνΗΉΝΑȱ Ύ΅Ϡȱ ΘΤȱ Υΐ΅ΕΘφΐ΅Θ΅.ȱ ̍΅Ϡȱ ·ΤΕȱ Θ΅ІΘ΅ȱ΅ϡΕΓϾΐΉΌ΅ȱΎ΅ϠȱοΏϱΐΉΑΓ΍ȱΔΕΣΘΘΓΐΉΑ,ȱΦΏΏΤȱΈ΍’ȱΩ·ΑΓ΍΅Α“.

191 Platon, Resp. 617e4-5. 192 Ebd. 276, 5-10: „ΦΈνΗΔΓΘΓΑȱ Έξȱ ΘχΑȱ ΦΕΉΘφΑ...Έ΍ϱΘ΍ȱ ΘχΑȱ ΜΙΛχΑȱ πΏΉΙΌνΕ΅Αȱ ΦΔΓΘΉΏΉϧȱ ΘЗΑȱΔ΍ΎΕΓΘΣΘΝΑȱΈΉΗΔΓΘЗΑ,ȱΓϩΖȱψȱΈΓΙΏΉϾΓΙΗ΅ȱΘЗΑȱΦ·΅ΌЗΑȱΗΘνΕΉΘ΅΍ȱΔΣΑΘΝΑ.ȱ̇ΓΙȬ ΏΉϾΉ΍ȱ ·ΤΕȱ ΌΙΐΓϧΖ,ȱ πΔ΍ΌΙΐϟ΅΍Ζ,ȱ Κ΅ΑΘ΅Ηϟ΅΍Ζ,ȱ ΅ϢΗΌφΗΉΗ΍Α,ȱ Έ΅ϟΐΓΗ΍Αȱ ЀΏ΅ϟΓ΍Ζ,ȱ ΦΑΌΕЏΔΓ΍Ζȱ ΘΓϧΖȱ ΘЗΑȱ Δ΅ΌЗΑȱ ΔΓΕ΍ΗΘ΅ϧΖаȱ ЙΑȱ ΦΕΉΘχȱ ΔνΚΙΎΉΑȱ πΏΉΙΌΉΕΓІΑ“. Proklos schöpft an

dieser Stelle seines Kommentars die tiefe Bedeutung der Worte Platons nicht aus, wie J. Adam bemerkt (Adam 1963 II, 455); er intergriert aber diese Bedeutung in sein Denken, indem er die höchste Freiheit als freiwillige Knechtschaft (πΌΉΏΓȬ ΈΓΙΏΉϟ΅) zu den Göttern bestimmt (s. De prov. 24, 9f.). 193 Ebd., 11-12. 194 Ebd, 3-6. In diesem Abschnitt setzt sich Proklos mit einer Interpretation des Amelios auseinander, derzufolge die Schlechtigkeit in gleicher Weise wie die Tu-

3. Die Übel der menschlichen Seele

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Die Selbstmächtigkeit oder das πΚ’ȱ ψΐϧΑȱ ist die Möglichkeit der Seele, zwischen dem Guten und dem Schlechten zu wählen, 195 während die Freiheit die gelungene Aktualisierung dieser Möglichkeit ist, d.h. die Auswahl des eigenen Guten, das – wie gezeigt – in der Rückwendung der Seele zum Geist als Erfüllung ihres naturgemäßen Ziels besteht. 196 Es könnte gesagt werden, dass die Selbstmächtigkeit der Seele zwischen Freiheit und Unfreiheit wählt. Ihr Ziel, das kraft der ontologischen Verfassung der Seele selbst bestimmt ist, ist die Freiheit als Rückwendung zum Geist. 197 Die falsche Kriterienauswahl als indirekte Auswahl des Schlechten und somit der Unfreiheit stellt also eine „Verfehlung“ (ΦΘΉΙΒϟ΅) des „Ziels“ (ΘνΏΓΖ) der Selbstmächtigkeit dar. 198 Indem sie die Unfreiheit wählt, hebt sich die _____________ gend herrenlos sei, da die Entgegengesetzten derselben Wahlfähigkeit zuzuordnen seien (Ebd., 275, 30 – 276, 18). 195 Im Gegensatz zur Freiheit gilt von der Selbstmächtigkeit nach Proklos: „ΘΓІȱπΚ’ȱ ψΐϧΑȱΦΘΣΎΘΓΙȱϷΑΘΓΖȱΎ΅ϠȱΦΗΘ΅ΌΐφΘΓΙȱΈ΍ΤȱΘχΑȱΔΕΓ΅΍ΕΉΘ΍ΎχΑȱΊΝχΑȱΚΉΕΓΐνΑ΋ΑȱΩΏΏΓΘΉȱ πΔ’ȱΩΏΏ΅ȱΎ΅ΘΤȱΘχΑȱϷΕΉΒ΍ΑȱΘχΑȱο΅ΙΘϛΖ“ (In Remp. II 261, 18-20).

196 De prov. 24, 3-5: (dt. Übers. von W. Beierwaltes 1962, 73) „Jegliche Seele hat, soweit sie an Tugend teilhat, auch am Frei-Sein teil; soweit sie aber an Bosheit und Schwäche teilhat, hat sie auch am Knecht-Sein gegenüber anderen teil“ („ΔκΗ΅ȱΘΓϟΑΙΑȱΜΙΛχȱΎ΅Ό’ȱϵΗΓΑȱΦΕΉΘϛΖȱΐΉȬ ΘνΛΉ΍ȱΎ΅ϠȱΘΓІȱπΏΉΙΌνΕ΅ȱΉϨΑ΅΍ȱΐΉΘνΛΉ΍аȱΎ΅Ό’ȱϵΗΓΑȱΈξȱΎ΅Ύϟ΅ΖȱΎ΅ϠȱΦΗΌΉΑΉϟ΅Ζ,ȱΎ΅ϠȱΘΓІȱ ΈΓΙΏΉϾΉ΍ΑȱΩΏΏΓ΍Ζ“); vgl. ders. 1977, 106-108; Trouillard 1977b 327. Wie es in Be-

zug auf die Pluralform beim In Alcib. 56-58 von Trouillard 1958b, 90f gezeigt worden ist, ist auch hier das „anderen“ (ΩΏΏΓ΍Ζ) ein Nachhall des die Materie bezeichnenden „ΘΤȱΩΏΏ΅“ in Plot. II.4.13, 31: Die sich verschlechternde Seele wird von der Materie als einer unbestimmten Vielheit, die sich nicht in Einheit zu stabilisieren vermag, versklavt. 197 Die Belegstellen bei Beierwaltes 1962, 73, Anm. 177; vgl. ders. 1977, 107. Die freie Seele ist vom „unfreiwilligen Leben“ (ΦΎΓϾΗ΍ΓΑȱΊΝφΑ) im Körper zum freiwilligen Leben in der Gesellschaft der Götter, wo sie „ΐΉΘΉΝΕΓΔΓΕΉϧȱΘΉȱΎ΅ϠȱΔΣΑΘ΅ȱ ΘΓΑȱΎϱΗΐΓΑȱΈ΍Γ΍ΎΉϧ“, befreit (s. De prov. 24, 10-18). 198 Die ontologische Vorbestimmung der Selbstmächtigkeit zur Freiheit hat zur Folge, dass die schlechte Wahl der Seele mit der Strafe, nämlich ihrer Angleichung an das Niedrigere, zusammenfällt – analog zur guten Wahl, die die Angleichung der Seele an das Bessere in sich birgt. „Denn es ist nicht möglich, dass eine [Seele], die Geringeres wählt, im Höheren bleibt, sondern sie wird sofort zum Finsteren und Hässlichen gezogen. Das gilt nicht für das, was sie tun, alleine, sondern auch ohne die Tat bergen die Entscheidungen der Seele in sich selbst ihre Strafe. Eine jede Entscheidung nämlich führt die Seele zu dem, was ihr ähnlich ist.“ („̒Ёȱ·ΣΕȱπΗΘ΍ȱΘΤȱΛΉϟΕΓΑ΅ȱοΏΓΐνΑ΋ΑȱΐνΑΉ΍Αȱ πΑȱ ΘΓϧΖȱ ΎΕΉϟΘΘΓΗ΍Α,ȱ ΦΏΏ’ȱ ΉЁΌϿΖȱ πΔϠȱ Θϲȱ ΗΎΓΘΉ΍ΑϲΑȱ Ύ΅Ϡȱ ΅ϢΗΛΕϲΑȱ ΚνΕΉΘ΅΍аȱ Ύ΅Ϡȱ ΓЁΛȱ ΅ϡȱ ΔΕΣΒΉ΍Ζȱ ΐϱΑΓΑ,ȱ ΦΏΏΤȱ Ύ΅Ϡȱ ΘΓϾΘΝΑȱ ΛΝΕϠΖȱ ΅ϡȱ ΘϛΖȱ ΜΙΛϛΖȱ ΅ϡΕνΗΉ΍Ζȱ σΛΓΙΗ΍Αȱ πΑȱ ΅ЁΘ΅ϧΖȱ ΘχΑȱΈϟΎ΋ΑаȱΔκΗ΅ȱ·ΤΕȱ΅ϣΕΉΗ΍ΖȱΔΕϲΖȱΘϲȱϵΐΓ΍ΓΑȱΩ·Ή΍ȱ΅ЁΘφΑ“) (De mal. sub. 59, 17-21).

In der schechten Wahl aktiviert sich die selbstmächtige Seele gegen die eigene Natur. Keine ihr äußere Instanz, die eine der Wahl entsprechende Strafe auferlegen würde, ist also erforderlich; „denn wie die gutförmige Wahl zur Frucht ihrer selbst

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C. Proklos’ Behandlung des Problems des Schlechten

Selbstmächtigkeit selbst auf. Das Paradox dieser Auswahl taucht hier erneut auf: Der Akt der Selbstaufhebung der Selbstmächtigkeit (΅ЁΘΉΒΓϾΗ΍ΓΑ) ist ein Ergebnis sowohl der Unwissenheit wie auch des selbstbestimmten Wollens, wobei die Unwissenheit ihrerseits gewollt und das Wollen unwissend ist. Die Hervorhebung der Selbstmächtigkeit als Faktor der Wahl des Schlechten durch die Seelen und ihre folgerichtige ethische Verantwortung ist in Bezug auf das Denken des Proklos in seiner Ganzheit sehr wichtig. Es ist charakteristisch, dass das Wort „Ύ΅ΎϱΑ“ oder „Ύ΅ΎΣ“ in der großen Mehrheit der Fälle, wo es in seinen Texten vorkommt, als Objekt des Verbs „ΔΕΣΘΘΉ΍Α“ verwendet wird. Die Tat ist immer die je nach den äußeren Umständen mehr oder weniger gelungene Verwirklichung einer Wahl. 199 Diese Übel sind gemäß Proklos die Übel par excellence: „Das Übel hat seinen Ort unter den Seienden, insofern es aus der Seele kommt“. 200 3.3. Die Übel der Seele im Denken Plotins Die Zurückführung der Übel der Seele als die Übel par excellence auf eine Wahl der Seele wird von Proklos in Auseinandersetzung mit Plotin ausgeführt. Letzterer vertritt in I.8 die Zurückführung der Übel der Seele als nachgeordneter Übel auf die Materie, das „metaphysische“ Schlechte. Diese zweitrangige Stellung der Übel der Seele zeigt nach Plotin, dass die Bosheit als menschliche Eigenschaft nicht das Gegenteil des Guten ist, sondern der Tugend, die kraft ihrer Teilhabe am Guten gut ist. Die Tugend wird als „ein Gut, welches uns instand setzt, die Materie zu bewältigen“ definiert; als ihr Gegenteil, wird die Schlechtigkeit der Seele von der Materie abgeleitet. 201 Das erste Schlechte ist weder ein konkretes, einzelnes Übel wie dasjenige der Seele, noch kann es das sein; vielmehr ist es „jenes Schlechte, das noch nicht irgend eines von diesen einzelnen Übeln ist, die ihrerseits gleichsam Unterarten von jenem sind“, d.h. die Voraussetzung der Möglichkeit des Schlechten. 202 Das „sekundär Schlechte“ der Seele ist schlecht kraft seiner Angleichung oder Teilhabe am erstlich Schlechten. 203 _____________

199 200 201 202 203

wird, so auch die (moralisch) schlechte zur Strafe ihrer selbst“ („БΖȱ·ΤΕȱψȱΦ·΅ΌΓΉ΍ΈχΖȱ΅ϣΕΉΗ΍Ζȱ ο΅ΙΘϛΖȱ·ϟ·ΑΉΘ΅΍ȱΎ΅ΕΔϱΖ,ȱΓЂΘΝΖȱψȱΐΓΛΌ΋ΕΤȱο΅ΙΘϛΖȱΔΓ΍Αφ.“) (Ɗn Tim. I 378, 19-20; vgl. Beierwaltes 1977, 107). De mal. sub. 59, 8-10. Ebd. 58, 25-26: „malum habebit locum in entibus secundum quod ex anima“. Plot. I.8.6, 17-20. I.8.5, 14-17: „πΎΉϧΑΓȱ϶ȱΓЁΈξΑȱΐνΑȱΔΝȱΘΓϾΘΝΑ,ȱΘ΅ІΘ΅ȱΈξȱΓϩΓΑȱΉϥΈ΋ȱπΎΉϟΑΓΙ“. I.8.8, 37-44.

3. Die Übel der menschlichen Seele

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Wie schon in den Kapiteln I.8.2 und 3 gezeigt, ist die Seele nicht an sich schlecht; sie wird schlecht – und zwar nicht ganz, sondern lediglich ihr irrationaler Teil. 204 Letzterer wird zwangsläufig schlecht, weil er nur gemischt mit einem materiellen Körper existieren kann, von dem er mittels einer eigenartigen Mitteilung durch Mischung die Maßlosigkeit der Materie empfängt. 205 Von der Maßlosigkeit als Mangel und Übermaß her kommen ihrerseits die Schlechtigkeiten der Seele – wie die Unzucht und die Feigheit. 206 Mit der Maßlosigkeit empfängt die irrationale Seele „unwillentliche Widerfahrnisse“ (ΦΎΓϾΗ΍΅ȱΔ΅Όφΐ΅Θ΅) 207 , also erleidet die ganze Seele ihr äußere, von ihrer Vernunft und ihrem Willen unabhängige Einflüsse, die ihre eigene freie Energie behindern können. 208 Die ungewollten Leiden können die Schlechtigkeit in die rationale Seele einführen, indem sie sie dazu führen, dass sie das als gut oder schlecht beurteilt, was die irrationale Seele verfolgt oder vermeidet, und damit einen Fehler begeht. 209 Trotz der großen Differenz zwischen den beiden Philosophen im Ganzen des in Rede stehenden Problems, nehmen beide die fehlerhafte Bewertung einer Neigung als gut oder schlecht als zentrales Moment bei der Verursachung der Schlechtigkeit in der menschlichen Seele wahr. Ferner stimmt Proklos mit Plotin darin überein, dass die sich dem Schlechteren zuwendende Seele durch den Einfluss der Materie schlecht wird. 210 _____________ 204 I.8.4, 5-6. 205 I.8.4, 14-17. 206 I.8.4, 8-10. Die Schlechtigkeiten werden hier als Übermaß oder Mangel des jeweiligen Habitus der Seele verstanden, im Unterschied zum Maße, dem der tugendhafte Habitus entspricht (vgl. Arist. Eth. Nic. II, 6-8). Ferner werden die einzelnen Schlechtigkeiten als Arten einer einzigen allgemeinen Schlechtigkeit der Seele, der ΔΓΑ΋Εϟ΅, verstanden. Diese These von der Einheit der Schlechtigkeiten in Analogie zu der Einheit der Tugenden geht auf die Stoiker (SVF I, 200-201) und, über sie, auf Platon (Prot. 328 d ff.) zurück. 207 Plot. I.8.4, 10-11. 208 III.1.10. 209 „Unwillentliche Begebnisse, welche falsche Vorstellungen erwecken, so dass die Seele das für gut oder für schlecht hält, was dieser Seelenteil sucht oder was er meidet.“ („ΦΎΓϾΗ΍΅ȱΔ΅Όφΐ΅Θ΅,ȱΈϱΒ΅Ζȱ ΜΉΙΈΉϧΖȱ πΐΔΓ΍ΓІΑΘ΅ȱ Ύ΅ΎΣȱ ΘΉȱ ΑΓΐϟΊΉ΍Αȱ Ύ΅Ϡȱ Φ·΅ΌΤȱ Ψȱ ΚΉϾ·Ή΍ȱ ΘΉȱ Ύ΅Ϡȱ Έ΍ЏΎΉ΍.“) (Plot. I.8.4, 11-12). Harder zufolge ist die rationale Seele Subjekt des ƭƯƬƟƦƥƩƭ, wobei die irrationale Seele das Subjekt von ΚΉϾ·Ή΍ und Έ΍ЏΎΉ΍ ist. Die „ΦΎΓϾΗ΍΅ȱΔ΅Όφΐ΅Θ΅“ sind irrationale und unfreiwillige Neigungen zu bzw. Abneigungen gegenüber Genuss oder Leid (Plot. I.2.5). 210 In Tim. I 375, 15-18: „Denn die Hässlichkeit der Materie erfüllt die Einzelseelen mit Mißgestaltung, aufgrund ihres Verweilens bei der Materie, und deswegen wird auch dem Vernunftwidrigen eine gewisse Nebenexistenz zuteil“ („Έ΍ϱΘ΍ȱΘϲȱΘϛΖȱЂΏ΋Ζȱ΅ϨΗΛΓΖȱΦΑ΅ΔϟΐΔΏ΋Η΍ȱΘΤΖȱΐΉΕ΍ΎΤΖȱΜΙΛΤΖȱ ΦΗΛ΋ΐΓΗϾΑ΋ΖȱΈ΍ΤȱΘϛΖȱΔΉΕϠȱ΅ЁΘχΑȱΈ΍΅ΘΕ΍ΆϛΖ,ȱΈ΍ΤȱΘΓІΘΓȱΎ΅ϠȱΘϲȱΔ΅ΕΣΏΓ·ΓΑȱΏ΅·ΛΣΑΉ΍ȱ Θ΍Α΅ȱ Δ΅ΕΙΔϱΗΘ΅Η΍Α.“); vgl. In Alcib. 56-58; Trouillard 1958b, 90, zeigt, dass laut

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C. Proklos’ Behandlung des Problems des Schlechten

Die Frage, die sie unterschiedlich beantworten, ist, was „zunächst“ kommt: die Wende der Seele oder der Einfluss der Materie. Die Hinwendung zum Schlechten wird freilich bei Plotin auf die Materie zurückgeführt, da sie die „ungewollten Leiden“ bewirkt, die zum Fehler bei der irrationalen Seele führen. Die rationale Seele verfügt aber, im Gegensatz zu der zwangsläufig – kraft ihrer Mischung mit dem Körper – schlecht werdenden irrationalen Seele, über die Möglichkeit, sich gänzlich dem Geist, d.h. dem Guten, zuzuwenden, von der Materie abzuwenden und so vollständig vom Geist bestimmt zu werden, 211 oder im Gegenteil sich der materiellen Welt des Werdens zuzuwenden, die Materie, die ihre Schlechtigkeit nicht nur dem, das in ihr ist, sondern auch dem, das sie schaut mitteilt, zu schauen und sich an sie anzugleichen. 212 Ferner wird das Schlechte in der rationalen Seele in I.8.4, 17-35 kraft der Hinwendung der rationalen Seele zur Materie verursacht, eine Hinwendung, die auch als Verletzung der Seele (V.18), Abwendung vom Geist (V.28) und Ausgang der Seele von sich selbst (V.28) beschrieben wird. Indem sie sich vom Geist abwendet und aus sich selbst hinaus steigt, wird die Seele von der Unbestimmtheit angefochten, die in diesem Kontext eine Beraubung der Bestimmung durch den Geist und keine Mitteilung der Materie darstellt, und gerade kraft dieser Unbestimmtheit wendet sie sich der Materie zu. Anderswo behauptet Plotin, dass die Ursache der Übel bei den Seelen ein Willensakt der Selbstbehauptung in der Autonomie ist, durch den diese sich vom Geist abwenden, 213 und führt sogar selbst die Entstehung der Materie auf diesen Akt der Selbstbehauptung zurück. 214 Diese Abschnitte suggerieren den Gedanken, dass diese (Ab-)wendung der Seele 215 statt der Materie das erstlich Schlechte ist. Plotin zieht trotzdem diesen Schluss nicht: „Denn auch wenn die Seele selber die Materie erst erzeugt hat, indem sie von ihr affiziert wurde, und wenn sie sich mit ihr gemein gemacht hat und schlecht geworden ist, so ist doch die Materie die Ursache, indem sie vorhanden ist; denn die Seele hätte gar nicht in einem Werdeprozess in sie eintreten können, wenn sie nicht dank der Anwe_____________ 211 212 213 214 215

Proklos die der Einung der Seele sich widersetzende, unordentliche Vielheit ihr von der Materie mitgeteilt wird. Plot. I.8.4, 25-28. I.8.4, 5-25. V.1.1, 1-6. III.9.3, 8-16. O’Meara 1999, 114-115. O’Meara interpretiert die Abwendung der Seele vom Geist, ihren Ausgang aus sich selbst und ihre daraus folgende „Verletzung“ durch die Unbestimmtheit als eine Bewegung der Seele, die von ihrer Wende zur Materie zu unterscheiden sei; sie gehe sogar dieser Wende voraus als ihre Voraussetzung oder Ursache. Meiner Meinung nach handelt es sich hier um zwei Aspekte ein und derselben Bewegung, da Plotin sie als gleichzeitig beschreibt.

3. Die Übel der menschlichen Seele

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senheit der Materie ins Werden geraten wäre.“ 216 Das ist eine der wichtigsten Schwierigkeiten im Ganzen seines Denkens. Was von der ganzen Seele gilt, gilt auch von den Einzelseelen: Zumindest in I.8 ist die Ursache dieser Wende der Seele die Materie. Plotin will durch diese Zurückführung das Verschulden der Menschenseele an ihren Übeln relativieren: „Man darf nicht annehmen, dass wir Ursprung des Schlechten seien, indem wir aus uns selber schlecht wären, sondern das Schlechte ist vor uns; und was bei den Menschen etwa Schlechtes eindringt, das dringt nicht mit ihrem Willen ein, sondern es gibt zwar ein ‚Entrinnen vor dem Schlechten’ in der Seele für die, welche es vermögen, aber nicht alle vermögen es.“ 217 Das Verb „Ύ΅ΘνΛΝ“ hebt das Ungewollte der Übel der Seele hervor. Die Seele fällt ins Schlechte, weil sie die den Seelen „ΚϾΗΉ΍ȱ ύȱ ΘϾΛ΅΍Ζ“ erteilte Möglichkeit, dies durch die Wende zum Geist zu vermeiden, nicht besitzt. 218 Ferner beschränkt sich die zwangsläufige Verursachung der Übel auf die irrationale Seele, während die Beeinflussung oder das Schlecht-Werden der rationalen Seele nur eventuell stattfindet. Diese Relativierung des Verschuldens der Seele für die Übel sowie der Gegenwart der Übel bei der rationalen Seele ist mit der These Plotins verbunden, dass ein Teil der in den Körper hinabgestiegenen Seele dennoch immerfort im Geist 219 – der freilich keineswegs mit dem Schlechten in Berührung kommen darf – verbleibt. Proklos lehnt diese These Plotins ab und behauptet, dass die menschliche Seele in ihrer Ganzheit verkörpert ist. 220 Diese seine Modifizierung der plotinischen Psychologie erlaubt ihm, die Seele als schuldig zu betrachten, ohne dass dies eine Einführung der Übel in den Geist zur Folge hätte. 221 Für Plotin dagegen müsste die Seele _____________ 216 Plot. I.8.14, 51-54: „Ύ΅Ϡȱ ·ΤΕȱ ΉϢȱ ΅ЁΘχȱ ψȱ ΜΙΛχȱ ΘχΑȱ ЂΏ΋Αȱ π·νΑΑ΋ΗΉȱ Δ΅ΌΓІΗ΅,ȱ Ύ΅Ϡȱ ΉϢȱ πΎΓ΍ΑЏΑ΋ΗΉΑȱ ΅ЁΘϜȱ Ύ΅Ϡȱ π·νΑΉΘΓȱ Ύ΅Ύφ,ȱ ψȱ ЂΏ΋ȱ ΅ϢΘϟ΅ȱ Δ΅ΕΓІΗ΅аȱ ΓЁȱ ·ΤΕȱ ΪΑȱ π·νΑΉΘΓȱ ΉϢΖȱ ΅ЁΘχΑȱΐχȱΘϜȱΔ΅ΕΓΙΗϟθȱ΅ЁΘϛΖȱΘχΑȱ·νΑΉΗ΍ΑȱΏ΅ΆΓІΗ΅“. 217 I.8.5, 26-30: „ΓЁȱΌΉΘνΓΑȱψΐκΖȱΦΕΛχΑȱΎ΅ΎЗΑȱΉϨΑ΅΍ȱΎ΅ΎΓϿΖȱΔ΅Ε’ȱ΅ЁΘЗΑȱϷΑΘ΅Ζ,ȱΦΏΏΤȱ ΔΕϲȱ ψΐЗΑȱ Θ΅ІΘ΅аȱ Ψȱ Έ’ȱ ΪΑȱ ΦΑΌΕЏΔΓΙΖȱ Ύ΅ΘΣΗΛϙ,ȱ Ύ΅ΘνΛΉ΍Αȱ ΓЁΎȱ οΎϱΑΘ΅Ζ,ȱ ΦΏΏ’ȱ ΉϨΑ΅΍ȱ ΐξΑȱΦΔΓΚΙ·χΑȱΎ΅ΎЗΑȱΘЗΑȱπΑȱΜΙΛϜȱΘΓϧΖȱΈΙΑ΋ΌΉϧΗ΍,ȱΔΣΑΘ΅ΖȱΈΉȱΓЁȱΈϾΑ΅ΗΌ΅΍“.

218 ƊV.8.4, 31-35. 219 ƊV.8.8, 1-6. Da er die Bezeichnung der rationalen Seele als Ursache der Übel ausschließen will, unterscheidet Plotin – Rist 1975, 104-113, zufolge – zwischen der als Akt der rationalen Zielsetzung bestimmten Prohairesis und der Selbstmächtigkeit, die er als eine Freiheit des Willens in ihrem Unterschied zur Vernunft bestimmt, und führt das Verfehlen als grundsätzlich irrationale Krankheit des Willens auf die zweite zurück. 220 Elem. Theol. 211, 10-11; Trouillard 1959, 1-5; Steel 1978, 69-73. O’Meara 1989, 149-152, hegt dennoch einige Zweifel, ob bei Proklos die These der vollständigen Einkörperung aller Seelen gilt. 221 In Tim. III 333, 28ff; In Tim. III 334, 4ff.

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C. Proklos’ Behandlung des Problems des Schlechten

zwangsläufig mit dem erstlich Schlechten als Prinzip der Übel identifiziert werden, wenn die Seele als an ihren Übeln wirklich schuldig betrachtet werden sollte. Proklos aber, der die Existenz eines Schlechten-an-sich (΅ЁΘΓΎ΅ΎϱΑ) nicht akzeptiert, kann das Verschulden der Seele vertreten, ohne sie deswegen als wesensmäßig schlecht zu bestimmen. 222

4. Die Vorsehung und die Existenz der Übel Proklos antwortet auf das Problem der Vereinbarkeit der Verwaltung des Alls durch die Vorsehung mit der Wirklichkeit der Existenz der Übel im letzten Abschnitt von De malorum subsistentia (58-61). Sein Anliegen ist, dieses Zusammenbestehen als vertretbar zu verstehen und somit die zwei entgegengesetzten möglichen Lösungen – die er als nicht zufriedenstellend darstellt – zu überholen. 223 Die erste bestätigt die Wirklichkeit der Übel in der sublunaren Welt, die aber vom Tätigkeitsbereich der Providenz ausgenommen wird, wobei für die zweite die Vorsehung das All regiert und daher überhaupt nichts wirklich schlecht ist. 224

_____________ 222ȱȱDie Einkörperung der ganzen menschlichen Seele wurde schon von Iamblichos

gegen Plotin vertreten. Aus dieser These zieht Iamblichos den Schluss, dass die Seele in ihrer Ganzheit für die eigenen Wahlentscheidungen verantwortlich ist, und legt somit die Betonung nachdrücklich auf ihren freien Willen. Dieser Gedanke muss also den (direkten oder indirekten) Entlehnungen des Proklos von Iamblichos zugezählt werden (s. Dalsgaard Larsen 1975, 21f; Rist 1975, 103ff; Bechtle 1999, 63-64 u. 81-82). Ferner folgt Proklos Iamblichos, indem er auch die Konsequenzen der Einkörperung für die Seele mildert undȱ denȱ Tätigkeitsbereich des Schlechten in ihr bis zu ihrer Kraft einschränkt (s. Blumenthal 1983, 77f).ȱȱȱ 223 De mal. sub. 58, 6-7. 224 Ebd. 58, 1-6. Die erste Lösung (vgl. De dec. dub. 26, 5-8) wird den Stoikern zugeschrieben (s. Dörrie 1977, 71-76), die zweite den Peripatetikern (siehe Steel 1999, 85; diese Zuschreibung kritisiert Menn 1999, 103-104, der meint, dass die angeführten Lösungen nicht von bestimmten Philosophen übernommen sind, sondern vielmehr von Proklos selbst als mögliche Optionen konstruiert wurden). Die Lösung der Peripatetiker ist eine Version der peripatetischen Antwort auf die Frage über das Verhältnis von Providenz einerseits und der Kontingenz und der menschlichen Freiheit andererseits (De dec. dub. 6;ȱDe prov. 63), die von Hager 1975, bes. 172-175 (vgl. Mignucci 1985, 237-245) Alexander von Aphrodisias zugeschrieben wird.

4. Die Vorsehung und die Existenz der Übel

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4.1. Die Einordnung der Übel im Allgemeinen in die durch die Vorsehung geordnete Welt Für Proklos ist die Vorsehung – Grundzug jedes göttlichen Wesens 225 – „göttliche Teilgabe am göttlichen Guten und damit Vermittlung des Guten selbst...Weil also Pronoia ‚im Einen gründet’ (De dec. dub. 10, 3), wirkt sie durch eben diesen Grund – als dessen Vermittlung – in Allem, so dass Pronoia geradezu als die Bezeichnung für das Wirken des durch die Götter vermittelten Einen selbst gedacht werden kann“. 226 Aufgrund ihrer Verwandtschaft mit dem Einen setzt die Vorsehung als Prinzip der Einheit, des Gutseins, der Schönheit und der Form das Seiende und erhält es, dergestalt die Grundlage der Welt konstituierend. 227 Demzufolge ist die Argumentation, mit der Proklos die Vorsehung mit der Wirklichkeit der Übel zu vereinbaren versucht, in ihren Grundzügen eine Zusammenfassung seiner schon vorgestellten Antwort auf die Frage, wie das Schlechte als gegenwärtig in einer indirekt aus dem Guten fließenden Welt philosophish bestimmt werden kann. Die Hauptargumente sind folgende: 1. Das Schlechte ist niemals als absolut, in reiner Form vorhanden, sondern immer bei einem einzelnen Seienden, mit seinem Guten gemischt; dieses Seiende ist also schlecht und gut zugleich, so dass seine Bosheit wirklich ist und sich mit der Tätigkeit der Vorsehung verbinden lässt. 228 2. Gott, der Träger der Vorsehung, ist zwar die produktive Ursache der Ganzheit der Seienden, nicht aber die einzige produktive Ursache; auf den ihm gegenüber niedrigeren Seinsstufen wird seine Kausalität von dem Geist, der Seele und der Natur hintereinander vermittelt, deren produktive Kausalitäten sich von derjenigen Gottes sowie voneinander unterscheiden. Wenn also die Übel die Kausalität der Einzelseelen als Störungen befallen, dann sind sie demzufolge nicht auf die Providenz zurückzuführen 229 – allerdings auch nicht auf die wesensmäßige Kausalität der Seelen, da sie ihr Versagen darstellen. 3. Als mit dem Guten eines einzelnen Seienden gemischt, können die Übel auf ihre Stelle in dem von der Vorsehung geordneten All hin unter zwei verschiedenen Blickwinkeln untersucht werden, nämlich dem Blickwinkel des von ihnen befallenen einzelnen Seienden und dem des Alls: „Was Wunder, wenn…dasselbe für die einzelnen Teile schlecht, für die Ganzheiten aber gut ist, und _____________ 225 Beierwaltes 1977, 90 (Elem. Theol. 120; 104, 32); Steel 1987, 118-120; Saffrey 1984, 181. 226 Beierwaltes 1977, 91. Laut Trouillard 1960, 81 bezeichnet das Wort ̓ΕϱΑΓ΍΅ die dem Geist vorangehende Aktivität – und nicht die Providenz als Fürsorge. 227 De dec. dub. 10, 12-15; ebd. 17, 18ff; ebd. 18, 10f. 228 De mal. sub. 58, 8-16. 229 Ebd. 58, 16-26.

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C. Proklos’ Behandlung des Problems des Schlechten

sogar auch für die einzelnen Teile nur insofern schlecht, als es von diesen selbst kommt, insofern es aber von den Ganzheiten kommt, nicht schlecht?“. 230 4.2 Die Providenz und die Übel bei Körpern und Einzelseelen Proklos untersucht im Folgenden unter diesem doppelten Blickwinkel die Übel, die wie gesagt die Körper und die Einzelseelen überfallen. Auf der Ebene der Körper sind sie nur für den einzelnen vergehenden Körper schlecht, nicht aber für die ganze Natur, denn das Vergehen eines einzelnen Körpers bedeutet die Entstehung eines anderen, 231 welches „von der Natur als Ganzheit her Form und Bestimmung hat“ 232 . Das „wirkliche“ Schlechte überfällt aber die Einzelseele, 233 „insofern man etwas aus sich selber und nicht [dem Ganzen] folgend tut“, 234 insofern sie also daran scheitert, ihr ontologisch bestimmtes Ziel, das die Rückwendung zum Geist ist, zu erfüllen und sich den Sinnendingen zuwendet. Dieses „wirkliche“ Schlechte lässt sich kaum in die Welt der Vorsehung eingliedern, es sei denn, seine eventuellen Konsequenzen werden mitgerechnet. Falls es sich also nicht als Tat manifestiert, ist die schlechte Wende oder Auswahl selbst zugleich eine Angleichung an das Schlechtere und somit die Strafe der Seele, so dass die Ordnung der Vorsehung unmittel_____________ 230 Ebd. 58, 25-28: „quid mirum, si...malum quidem erit singularibus, totis autem bonum, magis autem et singularibus secundum quod quidem ab ipsis malum, secundum quod autem a totis non malum?“. 231 Ebd. 60 1-4 u. 17-26; in Tim. 379, 11-26; dieser Gedanke geht auf Aristoteles zurück, s. Arist., Metaph. 1075a23-25: „Ich meine z.B., daß alle Wesen sich jedenfalls auflösen müssen, und so gibt es noch anderes, woran alles teilhat, um zum Ganzen „ (Übers. Th.A. Szlezák); („Ών·ΝȱΈ’ȱΓϩΓΑȱΉϥΖȱ·ΉȱΘϲȱΈ΍΅ΎΕ΍ΌϛΑ΅΍ȱΦΑΣ·Ύ΋ȱΧΔ΅Η΍ΑȱπΏΌΉϧΑ,ȱ Ύ΅ϠȱΩΏΏ΅ȱΓЂΘΝΖȱσΗΘ΍ΑȱЙΑȱΎΓ΍ΑΝΑΉϧȱΧΔ΅ΑΘ΅ȱΉϢΖȱΘϲȱϵΏΓΑ“). Wenn das Gute das ein jedes Seiende Erzeugende und Erhaltende ist, das Schlechte aber das Verderbende, dann ist das Schlechte als das Verderbende um des Laufes des Werdens willen notwendig, „da ja jedes Werden geschieht durch das Vergehen eines anderen“ („quoniam omnis generatio per alterius fit corruptionem“)(De mal. sub. 5, 9-10) und das Werden seinerseits notwendig für die Vollständigkeit und Vollkommenheit der Welt ist. 232 Ebd. 60, 20-21: „ΉϨΈΓΖȱσΛΉ΍ȱΎ΅ϠȱΏϱ·ΓΑȱπΎȱΘϛΖȱϵΏ΋ΖȱΚϾΗΉΝΖ“. 233 Manche Übel werden durch sie betätigt „zur Bestrafung von anderem Seienden...damit derjenige, der nicht immer dasselbe tut, zu irgendeinem Übel geführt wird“ („ad aliorum vindictam...non idem agentem malum in quodcumque agere“) (ebd. 59, 2-3); diese scheinbaren Übel folgen der Ordnung des Alls, da sie eine Seele zu dem ihr angemessenen Platz hinführen und folglich völlig gut sind. Ihre gemeinten Täter dürften die Dämonen oder Helden sein, denen in den Abschnitten 17, 12-25 u. 19, 17-29 eine solche züchtigende Rolle zugewiesen wurde. 234 De mal. sub. 59, 5: „qua autem ut a se ipso et non assequens facit“.

4. Die Vorsehung und die Existenz der Übel

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bar wiederhergestellt wird; 235 falls das Schlechte, das der Seele als Möglichkeit latent einwohnt („ΐΉΏΉΘЏΐΉΑΓΑȱ Ύ΅Ϡȱ ΉϥΗΝȱ ΜΙΛϛΖȱ ΐνΑΓΑ“ 236 ), Tat wird und sich dadurch als solches zeigt, 237 ist seine Manifestation gleichzeitig eine Reinigung, denn sie führt die Seele zur Reue, zur „Besonnenheit“ (conscientia/ΗΙΑΉϟΈ΋Η΍Ζ) und zum Selbsttadel. Es ist also von der Providenz erlaubt „damit sie befreit werden von der Sehnsucht, mit der sie schwanger gehen, und dem inneren, heimtückischen, von Übeln aufgedunsenen Zustand, und sie einen Umlauf eines besseren Lebens beginnen“. 238 In seinem Kommentar zur Politeia, in der Einheit mit dem Titel „Wie man diejenige göttlichen Mythen verteidigen könnte, die die Götter der Übel scheinbar anschuldigen“ 239 , teilt Proklos die „sogenannten“ Übel in diejenigen, die sich aus der selbständigen freien Wahl der Menschen herleiten – und die er für die einzig wirklichen hält –, und in diejenigen, die davon unabhängig sind, wie z.B. Armut, Krankheit, Tod usw., und nicht wirklich schlecht sind. Diese Unterscheidung stammt aus dem Stoizismus. Die erwähnten vermeintlichen Übel (d.h. die naturhaften Übel) sind „für die wahrhaftig Philosophierenden“ 240 nicht schlecht, noch freilich in Bezug auf Gott; 241 sie sind nur minderwertiges Gutes, das vom Demiurg in die auf das Gute hin blickende Ordnung des Alls eingeordnet wird 242 und unter die sogenannten Übel der pythagoreischen Begriffsreihe, also das „metaphysische“ Schlechte, fällt. 243 „Die Rede der Pythagoreer, die das Seiende in zwei Begriffsreihen teilt“, die „sich nicht scheute, die eine als Begriffsreihe des Guten zu bezeichnen, die

_____________ 235 236 237 238

239 240

241 242 243

Ebd. 59, 16-33. Ebd. 59, 9. Ebd. 59, 8-16. Ebd. 59, 14-16: „ϣΑ΅ȱΘϛΖȱπΑȱ΅ЁΘ΅ϧΖȱ[sc.ȱΘ΅ϧΖȱΜΙΛ΅ϧΖ]ȱВΈϧΑΓΖȱΎ΅ϠȱЀΔΓϾΏΓΙȱetȱinflatoȱ malisȱρΒΉΝΖȱΦΔ΅ΏΏ΅·ΉϧΗ΅΍ȱΏΣΆΝΗ΍ΑȱΦΕΛχΑȱΔΉΕ΍ϱΈΓΙȱΎ΅ϠȱΊΝϛΖȱΎΕΉϟΘΘΓΑΓΖ“; vgl. In Tim. I 380, 2-27. Wie die Seele vom Bewusstwerden der Schlechtigkeit des eigenen Habitus durch die Umkehr zur Reinigung gelangt, wird im De mal. sub. nicht ausgeführt. Ɗ 96 – 100, 18: „̓ЗΖȱΩΑȱΘ΍ΖȱЀΔξΕȱΘЗΑȱΌΉϟΝΑȱΦΔΓΏΓ·φΗ΅΍ΘΓȱΐϾΌΝΑȱΘЗΑȱΈΓΎΓϾΑΘΝΑȱ ΘΓϿΖȱΌΉΓϿΖȱ΅ϢΘ΍κΗΌ΅΍ȱΘЗΑȱΎ΅ΎЗΑ“. In Remp. 100, 10-11. Um diese seine Ansicht zu untermauern, weist Proklos paradoxerweise auf die Stelle Leg. 661b-d hin, wo Platon ganz im Gegenteil sagt, „dass das, was man Übel nennt, Güter für die Ungerechten sind, für die Gerechten aber Übel“ („ΘΤȱΐξΑȱΎ΅ΎΤȱΏΉ·ϱΐΉΑ΅ȱΦ·΅ΌΤȱΘΓϧΖȱΦΈϟΎΓ΍ΖȱΉϨΑ΅΍,ȱΘΓϧΖȱΈξȱΈ΍Ύ΅ϟΓ΍ΖȱΎ΅ΎΣ“). In Tim. I 374, 8-9: „bei Gott ist aber nichts schlecht, auch nicht die sogenannten Übel“ („ΌΉХȱΐξΑȱ ΓЇΑȱΓЁΈνΑȱπΗΘ΍ȱΎ΅ΎϱΑ,ȱΓЁΈξȱΘЗΑȱΏΉ·ΓΐνΑΝΑȱΎ΅ΎЗΑа“ ). In Remp. 98, 16-22; In Tim. I 374, 27 – 375, 5. Arist., Metaph. 986a 24-26.

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C. Proklos’ Behandlung des Problems des Schlechten

andere aber des Schlechten“, 244 besagt gemäß Proklos nicht, dass die „minderwertige Begriffsreihe“ (Ύ΅Θ΅ΈΉΉΗΘνΕ΅ȱ ΗΉ΍ΕΤ) wirklich schlecht, also eine gegensätzliche Beraubung des Guten, wie der „ungerechte und unzüchtige Habitus der Seele“ ist. Sie nennt sie schlecht „weil sie der anderen nachsteht und weder erstlich gutschaffend ist noch gleich weit [sc. wie die andere] von der einen Ursache alles Schönen und aller Güter entfernt ist“. 245 Die minderwertige Begriffsreihe ist ein Ausfluss des Guten und kann daher nicht schlecht sein. 246 Sie ist weniger gut als die überlegene Begriffsreihe (ΐΉϟΊΓΑ΅ȱ ΗΙΗΘΓ΍Λϟ΅Α). Diese Unterscheidung entspricht dem proklischen Anliegen, die Begriffsreihe der platonischen Zweiheit, 247 vom ersten Unbegrenzten bis auf die Materie, vom Begriff des Schlechten abzukoppeln. 248 Wirkliches Schlechtes ist nur das ethische Schlechte, das von dem natürlichen Schlechten und seinem metaphysischen Prinzip getrennt wird, im Gegensatz zu Plotin, bei dem das natürliche und das ethische Schlechte eine Einheit mit einem metaphysischen Prinzip bilden. 249 Diese Trennung wird vorausgesetzt, wenn vom (natürlichen und metaphysischen) Schlechten gesagt wird, dass „es unmöglich war, dass es nicht neben-existiert wenn es das Werden gibt, da es [sc. das Schlechte] für die Vollständigkeit des Alls notwendig ist“ 250 . In De malorum subsistentia wendet zwar Proklos diese Unterscheidung nicht an, scheint sie aber vielerorts zu implizieren und das ethisch Schlechte für das einzig wirkliche zu halten. In der letzten Einheit von De malorum subsistentia über die Providenz werden scheinbar nur die Übel der Einzelseelen als wirklich aufgefasst, wie auch in In Remp. Ɗ 96 – 100, 18. Die Übel der Körper sind unter dem Blickwinkel des Alls gut und lassen sich damit in die Produktionskette, deren Prinzip das Gute ist, oder in die von der Providenz geordnete Welt _____________ 244 In Remp. 97, 19-22. „͟ȱΘЗΑȱ̓ΙΌ΅·ΓΕΉϟΝΑȱΏϱ·ΓΖȱϳȱΘΤΖȱΈ΍ΘΘΤΖȱΘЗΑȱϷΑΘΝΑȱΗΙΗΘΓ΍Λϟ΅Ζȱ Έ΍΅΍ΕΓϾΐΉΑΓΖ...ΘχΑȱΐξΑȱΘΓІȱΦ·΅ΌΓІȱΎ΅ΏΉϧΑȱΓЁΎȱΦΔ΋ΒϟΓΙ,ȱΘχΑȱΈξȱΘΓІȱΎ΅ΎΓІ“. 245 Ebd. 97, 29 – 98, 2: „БΖȱΦΔΓΏΉ΍ΔΓΐνΑ΋ȱΘϛΖȱοΘνΕ΅ΖȱΎ΅ϠȱΓЄΘΉȱΔΕЏΘΝΖȱΓЇΗ΅Αȱ Φ·΅Ȭ ΌΓΙΕ·ϲΑȱ ΓЄΘΉȱ ΘχΑȱ ΅ЁΘχΑȱ Ώ΅ΛΓІΗ΅Αȱ ΦΔϱΗΘ΅Η΍Αȱ ΔΕϲΖȱ ΘχΑȱ ΐϟ΅Αȱ ΘЗΑȱ Ύ΅ΏЗΑȱ ΔΣΑΘΝΑȱ Ύ΅ϠȱΦ·΅ΌЗΑȱ΅ϢΘϟ΅Α“.

246 Ebd. 98, 2-4. 247 Ebd. 98, 29 – 99, 2. 248 Diese Absicht lässt sich schon bei Syrianos feststellen (s. In Met. 184f; Sheppard 1982, 9-11). 249 Vgl. In Tim. 313, 17ff: „Denn weder die Krankheit noch die Armut noch irgendein anderes solches ist wirklich schlecht, sondern die Schlechtigkeit der Seele und die Unzucht und die Feigheit und die ganze Untugend. Daran aber sind wir selber schuld“ („Ύ΅ΎϲΑȱ·ΤΕȱϷΑΘΝΖȱπΗΘϠΑȱ ΓЁȱΑϱΗΓΖȱΓЁΈξȱΔΉΑϟ΅ȱΓЁΈξȱΩΏΏΓȱΘΓ΍ΓІΘΓΑȱΓЁΈνΑ,ȱΦΏΏΤȱΔΓΑ΋Εϟ΅ȱΜΙΛϛΖȱΎ΅ϠȱΦΎΓΏ΅Ηϟ΅ȱ Ύ΅ϠȱΈΉ΍Ώϟ΅ȱΎ΅ϠȱψȱΒϾΐΔ΅Η΅ȱΎ΅Ύϟ΅.ȱ̖ΓϾΘΝΑȱΈξȱψΐΉϧΖȱο΅ΙΘΓϧΖȱ΅ϥΘ΍Γ΍“). 250 In Tim. I 381, 10f.: „ΓЁȱ·ΤΕȱώΑȱ·ΉΑνΗΉΝΖȱΓЄΗ΋ΖȱΐχȱΎ΅ϠȱΘΓІΘΓȱΔ΅ΕΙΚΉΗΘΣΑ΅΍,ȱΦΑ΅·Ύ΅ϧΓΑȱ ϸΑȱΔΕϲΖȱΘχΑȱΘΉΏΉ΍ϱΘ΋Θ΅ȱΘЗΑȱϵΏΝΑ“.

5. Zusammenfassende Bemerkungen

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einordnen, was von den Übeln der Einzelseelen nicht gilt. Aber die schlechte Wahl selbst, die fehlerhafte Kriterienauswahl als zentraler Akt in der Verursachung des Schlechten, dient keiner Notwendigkeit; sie könnte und dürfte nicht sein. 251 Sie vermag freilich nicht die Ordnung der Vorsehung zu beeinträchtigen, da sie ihre Strafe in sich selbst birgt; sie wird aber von der Providenz nicht bewältigt, d.h. sie lässt sich nicht durch die Providenz erklären, denn ihr Ort ist das ΅ЁΘΉΒΓϾΗ΍ΓΑ der menschlichen Seele im Moment seiner Selbstaufhebung.

5. Zusammenfassende Bemerkungen In seinem Versuch, das Schlechte zu verstehen und begrifflich zu erfassen, untersucht es Proklos in Bezug auf seine herkömmliche Definition als Gegensatz und Beraubung des Guten, auf seine Verursachung, auf die Weise seiner Gegenwart in den Körpern und vor allem in den Menschenseelen und auf seine Vereinbarkeit mit der Allherrschaft der göttlichen Vorsehung hin. Wie im Ganzen seines Werks denkt und schreibt Proklos, zumindest im eigenen Selbstverständnis, auch in De malorum subsistentia als Interpret Platons und vor dem Hintergrund der ganzen platonischen Tradition, primär des Denkens Plotins und Iamblichos. Dabei ist er ein origineller Philosoph, sowohl was die systematische Gesamtkonzeption als auch was die Bearbeitung von Einzelproblemen anbetrifft. In De malorum subsistentia stellt er sich gegen die plotinische Identifikation des Schlechten mit der Materie. Seine Argumentation beruht dabei teilweise auf Einwänden und Argumenten der nachplotinischen Platoniker, vor allem des Iamblichos. Diese Identifizierung hat laut Proklos zur Folge, dass das Gute die Ursache des Schlechten-an-sich wäre, da die Materie letztendlich vom Guten selbst erzeugt ist. Dies ist unmöglich, denn jede Ursache ist in höherem Grad das, was ihr Erzeugnis ist. Sein Hauptargument gegen die plotinische These will ihre Unvereinbarkeit mit den Grundannahmen des plotinischen Systems, die Proklos selbst teilt, aufzeigen. Wenn das zweite Prinzip Platons sich vom Einen-Guten ableitet, wie Plotin im Unterschied zu Platon glaubt, dann auch alle Stufen der Seinshierarchie, selbst die letzte. Alle Produkte des Guten müssen in einem gewissen Grad gut sein, bis auf die allerletzte Materie, die weder gut noch schlecht ist. Die Identifizierung einer Stufe mit dem Schlechten-an-sich ist damit kaum vereinbar. Wenn es ein Schlechtes-ansich als Prinzip aller Übel gäbe und dieses mit der Materie der Sinnendinge _____________ 251 Die Providenz agiert als Korrektiv, indem sie die Äußerung der schlechten Wahl in einer Tat zulässt, die ihrerseits eine Anregung zur Reinigung sein kann.

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C. Proklos’ Behandlung des Problems des Schlechten

zu identifizieren wäre, dann wäre man gezwungen, sie nicht mehr als Stufe der vom Guten erzeugten Seinshierarchie zu betrachten, sondern vielmehr als vom Guten unabhängiges, selbständiges zweites Prinzip des Alls. Die Abkoppelung der Materie vom Schlechten ist Konsequenz ihrer Erzeugung vom Einen-Guten durch die erste Unbegrenztheit. Proklos hebt dies hervor und erklärt die vollständige Unbestimmtheit der Materie durch deren Abstammung von letzterer. Die Nähe der allerletzten Stufe der Seinshierarchie, der Materie, zum Einen-Guten ist eine auffälige Eigentümlichkeit seines Denkens. 252 Gemäß seinem Anliegen, das Schlechte vom zweiten Prinzip und der Materie abzukoppeln, ohne seine Wirklichkeit zu verneinen, lehnt Proklos die durch Plotin vertretene Existenz eines einheitlichen Schlechten-an-sich als Ursprung aller einzelnen Übel ab, da Einheit und Ursprung-Sein nur Seiendem zukommen. Das Schlechte ist für ihn ein Sammelbegriff für die vielen verschiedenen Übel. Er bestimmt es als ein „mit dem Seienden gemeinsam“ Nicht-Seiendes, als partielle, d.h. mit der Form gemischte Beraubung, die bei dem einzelnen Seienden-Guten aus dessen eigener Kraft schöpft, um diese Kraft gegen das einzelne Gute zu verwenden. Darin besteht die Gegensätzlichkeit des Schlechten zum Guten. Proklos will die Verursachung des Schlechten bzw. des jeweiligen einzelnen Übels so beschreiben, dass kein Seiendes als Ursache der Übel bezeichnet wird, denn dies würde bedeuten, dass das Eine-Gute bzw. das zweite Prinzip ihre letzte Ursache sei. Nur in übertragenem Sinn haben die Übel Ursachen: Letzteren spricht Proklos nebst dem Sein auch die Einheit und die Kraft ab. Bei der metaphorischen Verursachung der Übel ist der Begriff der Schwäche zentral. Die Übel erscheinen bei den Einzelseelen und den materiellen Körpern als Abnehmen der Kraft, die das Zusammengesetzte vereint. Dadurch ergibt sich eine Beeinträchtigung der angemessenen Herrschaft des rationalen Teils der Seele über den irrationalen bzw. der Form über die Materie. Die Existenzweise des so verursachten Übels bestimmt Proklos als Nebenexistenz. Das Schlechte in den menschlichen Seelen interessiert Proklos mehr als alle anderen Aspekte dieses Themas. Grund dieser Übel ist eine fehlerhafte Wahl der Seele: Statt des wahrhaft Guten wählt sie das nur scheinbar Gute, und dadurch wendet sie sich der ihr untergeordneten Materie zu. So verfehlt sie ihre eigentliche Bestimmung, die Rückwendung zum Geist. Obwohl die Unwissenheit ein Grund der falschen Wahl ist, schreibt sie _____________ 252 Eine Untersuchung über das Verhältnis zwischen dem Einen und dem zweiten Prinzip, die im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich ist, würde zeigen, inwiefern dieses Verhältnis die Abkoppelung der Materie vom Schlechten bedingt, wie die Systematik des Proklos erwarten ließe.

5. Zusammenfassende Bemerkungen

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Proklos der Selbstmächtigkeit des Menschen zu. Im Gegensatz zum naturhaften Schlechten, das im Gesamtplan der Providenz seine Rolle zu spielen hat, lässt sich das ethische, selbstverschuldete Schlechte in keiner Weise begründen: Es hätte nicht sein sollen. In einem Abschnitt seines Kommentars zur Politeia bezeichnet es Proklos als das einzig „wirkliche“ Schlechte; das naturhafte Schlechte sei ein minderes Gutes.

D. Die Bestimmung der ethischen Schlechtigkeit bei Platon und Proklos: Willen und Unwissenheit, Selbstbestimmung und Determination Wie bisher gezeigt, ist die schlechte Entscheidung als Bestimmung des ethisch Schlechten, welches das im eigentlichen Sinne Schlechte ist, das Zentrum der proklischen Bestimmung des Schlechten überhaupt. Proklos schreibt seine – für die Bestimmung der ethischen Entscheidung in seinem System vorauszusetzende – Unterscheidung zwischen Selbstmächtigkeit und Freiheit, wie gesagt, Platon zu. Dies tut er in einer Art Nachwort zu seiner Interpretation des Er-Mythos im zehnten Buch der Politeia. 1 Bei der Interpretation der Wahl der Seelen im gleichen Mythos führt er seine oben besprochene Beschreibung der Wahlentscheidung aus. 2 Dennoch beruht meines Erachtens diese seine Beschreibung sowie die erwähnte Unterscheidung nicht allein auf dem kommentierten Mythos, sondern stellt eher eine Zusammenfassung der Gedanken des Proklos zu dieser Thematik dar. 3 Angesichts des Anspruchs des Proklos, auch in dieser Thematik „nur“ Platon zu interpretieren, könnte angenommen werden, dass diese seine Gedanken eine Art Gesamtinterpretation der Handlungstheorie Platons vor allem zum Verhältnis von Selbstmächtigkeit und Freiheit in Bezug auf das rechte bzw. schlechte Handeln sein wollen. So wird im Folgenden versucht, anhand von einschlägigen Dialogabschnitten die aufgeführten Gedanken des Proklos auf ihren Anspruch hin zu untersuchen, getreue Platon-Exegese zu sein. In einem weiteren Schritt wird die ausführliche Interpretation des Proklos zur Wahl der Lebenslose im 10. Buch der Politeia in Bezug auf die leitende Fragestellung behandelt. Es muss im Voraus festgehalten werden, dass die Position Platons in Bezug auf diese Aspekte des Problems des Schlechten nicht einfach zu bestimmen ist, wie die große Vielfalt der Interpretationen in der einschlägigen Literatur zeigt. 4 Obwohl die Ungerechtigkeit als Gegenteil der Ge_____________ 1 2 3 4

In Remp. II, 355-356. Ebd., 277-279. Vgl. die Erörterung dieser Thematik im Traktat De providentia et fato et eo quod in nobis ad Theodorum Mechanicum. Zur Diskussion bis 1970 s. Hager 1970, 1-14.

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D. Die Bestimmung der ethischen Schlechtigkeit bei Platon und Proklos

rechtigkeit ein sehr häufiges Gesprächsthema darstellt, bleiben dennoch in den Dialogen mehrere wichtige Aspekte des Gesamtproblems des Schlechten unerläutert, „denn es ist geziemend, mehr über das Gute als über das Schlechte zu reden“ 5 . Wegen der Komplexität der Fragestellung und der im Rahmen dieser Arbeit unüberschaubaren Menge der Sekundärliteratur werden die Gedanken Platons, die es hier mit den Interpretationen des Proklos zu vergleichen gilt, nur ansatzweise geschildert, auf der Basis einiger Dialogabschnitte und einer knappen Auswahl aus der Sekundärliteratur. 6 Dasselbe gilt von den notwendigen Bezugnahmen auf die Kritik des Aristoteles.

1. Platons These zum Verhältnis von Wille und Wissen im schlechten Handeln 1.1. Der Wille bei Platon Als erste stellt sich die Frage nach der Rolle des Willens in Bezug auf die Zuwendung des Menschen zum Guten oder zum Schlechten, bzw. auf den Zustand (ρΒ΍Ζ) der Tugendhaftigkeit oder ethischen Schlechtigkeit bei Platon. Die Schwierigkeit dieser Frage liegt zum Teil am Mangel eines Begriffs, der den modernen Theorien des Willens entsprechen würde 7 . Das mit dem Wort ΆΓϾΏ΋Η΍Ζ, das der Bedeutung „Willen“ am nächsten steht, bezeichnete Seelenvermögen ist bei Platon so konstituiert, dass es naturmäßig dem Guten – wie das Sehen den Farben – zugeordnet ist. 8 Die ΆΓϾΏ΋Η΍Ζ ist somit das Streben zum Guten, nicht aber das Vermögen zur Unterscheidung zwischen Gutem und Schlechtem bzw. zwischen dem _____________ 5 6 7

8

Tim. 87c3-4: „Έ΍Ύ΅΍ϱΘΉΕΓΑȱ·ΤΕȱΘЗΑȱΦ·΅ΌЗΑȱΔνΕ΍ȱΐκΏΏΓΑȱύȱΘЗΑȱΎ΅ΎЗΑȱϥΗΛΉ΍ΑȱΏϱ·ΓΑ“. Sehr knapp sind auch die Angaben der Zeugnisse der ungeschriebenen Lehre Platons zum zweiten Prinzip als Prinzip des Schlechten. Der in diesem Kapitel vorgelegten (und im Rest dieser Arbeit impliziten) Platonlektüre liegt im Ganzen die Platonhermeneutik Th.A. Szlezáks zugrunde (vgl. dieses Kapitel mit Szlezák 2004, 5-22 u. 121-126). Dazu s. Kahn 1988, 235-236; vgl. Stenzel 1928, 296: „Wenn das Gute ‚erkannt’ wird, so löscht es die für uns Moderne entscheidende letzte, wichtigste Freiheit des Handelns aus; der uns so nahe liegende Gedanke, dass ich das Gute wissen und erkennen, aber es nicht verwirklichen, also wissend schlecht, das heißt schlecht handeln könnte, dieser Gedanke wird im platonischen Denken ebenso wenig anerkannt wie im sokratischen“. Platon, Charm. 167b8-e5; dazu s. Carone 1998, 273f.; vgl. Symp. 205a5-8: Der Wille (ΆΓϾΏ΋Η΍Ζ) und die Liebe (σΕΝΖ) für das Gute sind „allen Menschen gemein“ (ΎΓ΍ΑϲΑȱ ΔΣΑΘΝΑȱΦΑΌΕЏΔΝΑ); zu Resp. 438a1-5 als möglichen Widerspruch zu dieser These s. Irwin 1995, 206f.; dagegen Carone 2001, 119f.; vgl. Lorenz 2004, 96-102.

1. Platons These zum Verhältnis von Wille und Wissen im schlechten Handeln 109

wahrhaftig Guten und dem nur scheinbar solchen. Voraussetzung der Zuwendung der ΆΓϾΏ΋Η΍Ζ zu ihrem naturgemäßen Ziel ist daher das ΑΓІΑȱ σΛΉ΍Α, die Steuerung der ΆΓϾΏ΋Η΍Ζ durch die ΚΕϱΑ΋Η΍Ζ. 9 In dieser Steuerung wird die wesensmäßige Bestimmung der ΆΓϾΏ΋Η΍Ζ erfüllt. Diese Bestimmung wird freilich umgekehrt mangels der leitenden ΚΕϱΑ΋Η΍Ζ verfehlt, so dass der ethische Fehler (Υΐ΅ΕΘϟ΅) und die Unwissenheit (Ω·ΑΓ΍΅) als Δ΅ΕΤȱ ΘχΑȱ ΆΓϾΏ΋Η΍Α und in diesem Sinne notwendig oder zwangsmäßig (ΦΑ΅·Ύ΅ϧΓΑ) bezeichnet werden können. 10 Die ΆΓϾΏ΋Η΍Ζ scheint also auf den ersten Blick dem Begriff des freien Willens nicht zu entsprechen, da sie einerseits in sich von Natur dem Guten zugeordnet und andererseits in ihrer Realisierung von der Lenkung durch das Wissen abhängig ist. 11 1.2. Die Unfreiwilligkeit des Unrechttuns und die Stellung Platons zum Problem der Unbeherrschtheit (ΦΎΕ΅Ηϟ΅) Die Ethik Platons wird mit Recht als Wissensethik, die platonische Tugend als Tugendwissen bezeichnet. Dieser Charakter der platonischen Ethik kommt im Satz „Niemand handelt freiwillig schlecht“ zugespitzt zum Ausdruck; freiwillig (οΎЏΑ) handelt derjenige, der in Wissen und ohne Zwang handelt. 12 Demnach handelt der Mensch nur aus Unwissenheit, also unfreiwillig, schlecht. Der Satz, dass kein Mensch freiwillig schlecht ist, wird in mehreren Dialogen, von den früheren bis zu den _____________ 9

Leg. 688b8; ebd. 687e5-7. Die ΆΓϾΏ΋Η΍Ζ ist angewiesen auf ein Vermögen (ΈϾΑ΅Ȭ ΐ΍Ζ), auf eine Kunstfertigkeit (ΘνΛΑ΋) – nämlich die Tugend (ΦΕΉΘφ) –, die durch

Lernen und Übung erworben werden muss, damit sie zu ihrem Ziel gelangen kann und nicht sich selbst durch „ungewolltes“ Unrechttun zerstört (Gorg. 509d3-e7; vgl. Segvic 2000, 10-11). 10 Crat. 420d4-7. 11 Vgl. Zeitler 1983, 43f. Die Realisierung der auf das Gute bezogenen ƢƯƽƫƧƳƩƲ wird in Gorgias (466d5-468d5) von der Willkür derjenigen, die „bewirken, was ihnen dünkt, das Beste zu sein“ („ΔΓ΍ΉϧΑȱ Ψȱ ΈΓΎΉϧȱ ΅ЁΘΓϧΖȱ ΆνΏΘ΍ΗΘ΅ȱ ΉϨΑ΅΍“) (467b3-4) unterschieden, und zwar am Beispiel der Rhetoren und der Tyrannen, die „nichts tun, was sie wollen, dass ich es gerade heraus sage; jedoch tun sie freilich, was ihnen dünkt, das Beste zu sein“ („ΓЁΈξΑȱ·ΤΕȱΔΓ΍ΉϧΑȱЙΑȱΆΓϾΏΓΑΘ΅΍ȱ[Κ΋ΐϟ]ȱБΖȱσΔΓΖȱΉϢΔΉϧΑ,ȱΔΓ΍ΉϧΑȱΐνΑΘΓ΍ȱϵ,Θ΍ȱ ΪΑȱ΅ЁΘΓϧΖȱΈϱΒϙȱΆνΏΘ΍ΗΘΓΑȱΉϨΑ΅΍“) (466e1-2); s. Carone 2004, 61-67. 12 Vgl. Gorg. 488a2-4; Soph. 230a5-9; vgl. Arist., Eth. Nic. 1111a21-24. Es könnte gesagt werden, dass die aristotelische Definition des οΎΓϾΗ΍ΓΑ auch für Platon gilt, wenn auch die Begriffe Wissen und Zwang für letzteren eine andere Bedeutung als bei Aristoteles haben.

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D. Die Bestimmung der ethischen Schlechtigkeit bei Platon und Proklos

Nomoi, vertreten und mehrfach begründet. 13 Er gehört zum Grundbestand platonischer Überzeugungen. Es könnte gesagt werden, dass dieser Satz sich aus folgenden moralischen Grundannahmen Platons ergibt: 1. Jeder Mensch will das – wahrhaftig oder scheinbar – Gute. 14 2. Das begründete Wissen über das Gute und das Schlechte hat die Vorherrschaft über alle anderen seelischen Bewegungen 15 inne. Wenn also ein Mensch zwischen einer gerechten und einer ungerechten Handlung in begründetem Wissen über die wahrhaftige Gut- bzw. Schlechtheit beider Handlungen – so wie über das Gute und Schlechte überhaupt – wählen muss, dann kann er sich nicht für die schlechte Handlung entscheiden. Der Besitz dieses Wissens über das Gute und das Schlechte überhaupt und in der jeweils konkreten Handlung schließt daher die Möglichkeit einer schlechten Handlung aus. Gegenüber dieser Position hat vor allem Aristoteles vertreten, dass diese der Selbstbestimmung des Menschen nicht Rechnung trage, so dass die Kontrolle des Menschen über sein ethisches Leben und somit jede Verantwortung letztlich aufgehoben wird. Wenn die ethische Schlechtigkeit als Ergebnis des Mangels an Wissen nicht freiwillig ist, dann kann auch die Tugend sozusagen als automatisches Ergebnis des Vorhandenseins desselben Wissens nicht freiwillig sein. Sokrates habe gesagt, es „steht nicht bei uns, den Zustand der Werthaftigkeit oder Minderwertigkeit eintreten zu lassen“. 16 An mehreren Stellen versucht Aristoteles den Satz „Niemand handelt freiwillig schlecht“ zu widerlegen. 17 Diese Widerlegungen stellen aber eine Auseinandersetzung mit der platonischen Auffassung des Verhältnisses von Wollen und Wissen bzw. von Selbstbestimmung und Determinierung dar, da diese Auffassung mit diesem Satz steht und fällt. So versucht auch Proklos anhand dieses Satzes und in impliziter Auseinandersetzung mit Aristoteles zu zeigen, dass seine Gedanken zum angesprochenen Themenbereich sowohl als Platoninterpretation wie auch in sich _____________ 13 Eine Auflistung der Belege findet sich bei Horn 2004, 168-182. 14 S. Symp. 205a5-8. Das Unrechttun ist in sich, d.h. von eventuellen Strafen oder Vorwürfen abgesehen, das Schlechte bzw. das Schädliche für die Seele (s. Resp. 609b9-c1). 15 S. Prot. 357c2-4. 16 Ps.-Aristoteles, Magna Moralia 1187a5ff: „...ΦΏΏ’ȱ ГΗΔΉΕȱ ̕ΝΎΕΣΘ΋Ζȱ σΚ΋,ȱ ΓЁΎȱ πΚ’ȱ ψΐϧΑȱ·ΉΑνΗΌ΅΍ȱΘϲȱΗΔΓΙΈ΅ϟΓΙΖȱΉϨΑ΅΍ȱύȱΚ΅ϾΏΓΙΖ“. Man kann m.E. davon ausgehen, dass hier die Magna Moralia Aristoteles’ Auffassung von der sokratischen Lehre im Großen und Ganzen wiederspiegeln; Neuhausen 1967, 2 zufolge, kann angenommen werden, dass der zitierte Satz vom Verfasser als Konsequenz der ethischen Grundvoraussetzungen auch bei Platon – und nicht nur bei Sokrates – angesehen wird. 17 Z.B. Eth. Nic. 1113b-1115a.

1. Platons These zum Verhältnis von Wille und Wissen im schlechten Handeln 111

(die zwei Aspekte fallen für ihn zusammen) stichhaltig sind. 18 Daher werden wir im Folgenden das Problem des Verhältnisses von Wollen und Wissen bzw. von Selbstbestimmung und Determinierung in Platons Bestimmung der ethischen Schlechtigkeit ausgehend von diesem Satz untersuchen und dabei die Frage stellen, ob die Unterscheidung zwischen Selbstmächtigkeit (πΚ’ȱ ψΐϧΑ) und Freiwilligkeit (οΎΓϾΗ΍ΓΑ), durch die Proklos seine Auffassung der Willensentscheidung mit diesem Satz zu vereinbaren versucht, der Sache nach bei Platon anzunehmen ist. 1.2.1. Das Problem der Unbeherrschtheit Wenn das Wissen über das Gute und das Schlechte – neben der Freiheit von Zwang – ausreichende Voraussetzung der Freiwilligkeit einer Handlung ist, dann stellt scheinbar eine wissentlich und ohne Zwang getane schlechte Handlung einen Widerspruch zur platonischen These von der Unfreiwilligkeit des Unrechttuns dar. So kann das Phänomen der Unbeherrschtheit (ΦΎΕ΅Ηϟ΅) als Ernstfall dieser These betrachtet werden. D. Davidson schlägt folgende Definition der Unbeherrschtheit vor: „Indem der Handelnde x tut, handelt er dann und nur dann unbeherrscht, wenn: a) der Handelnde x absichtlich tut, (b) der Handelnde glaubt, eine alternative Handlung y sei möglich, und (c) der Handelnde urteilt, dass unter Berücksichtigung aller Umstände die Ausführung von y besser wäre als die Ausführung von x“ 19 . Dieses Phänomen spielt tatsächlich eine wichtige Rolle in der Diskussion über die hier aufgeworfene Frage sowohl bei Platon wie auch bei Aristoteles. Für letzteren ist die Möglichkeit der Unbeherrschtheit eine direkte Konsequenz der Freiwilligkeit der ethischen Schlechtigkeit und damit, wie gesagt, der Freiwilligkeit der Tugend. Zunächst werden folgende Fragen gestellt: 1. Kann unter platonischen Voraussetzungen eine schlechte Tat gegen die „bessere Einsicht“ des Handelnden und ohne äußeren Zwang vollzogen werden? 2. Wenn ja, wie ist der Satz „ΓЁΈΉϠΖȱ οΎАΑȱ Ύ΅ΎϱΖ“ mit dieser Möglichkeit zu vereinbaren? Dabei lässt sich fragen, inwiefern die Auseinandersetzung Platons mit dem Phänomen der Unbeherrschtheit mit der Bestimmung der schlechten Wahlentscheidung der Seele durch Proklos übereinstimmt. Auf den ersten Blick scheinen die Dialoge keine einheitliche Antwort auf unsere Fragen zu geben, wie ein Vergleich der einschlägigen Abschnitte aus Protagoras und Politeia zeigen kann. _____________ 18 Proklos, In Remp. II 355ff. 19 Davidson 1985, 44.

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D. Die Bestimmung der ethischen Schlechtigkeit bei Platon und Proklos

1.2.2. Protagoras: Die Tugend als Messkunst und die Schlechtigkeit als Unwissenheit Im letzten Teil des Protagoras liefert Platon eine ausführliche Begründung der Zurückführung des schlechten Handelns allein auf die Unwissenheit. 20 Sokrates versucht seine Position, dass die Kardinaltugenden in der Weisheit zusammengefasst und daher lehr- und lernbar sind (nachdem er am Anfang des Dialogs die Gegenposition der Unlehrbarkeit der Tugend vertreten hatte 21 ), gegen Protagoras mit dem Argument zu verteidigen, dass die Weisheit in einer Messkunst besteht, welche die Lustgefühle bzw. die Schmerzen – die Sokrates mit dem Guten bzw. dem Schlechten, die Meinung der Menge folgend, identifiziert 22 –, in jeder Entscheidungssituation richtig messend zu vergleichen und dementsprechend das größte Lustgefühl oder den kleinsten Schmerz zu wählen vermag. 23 Die Aussage, dass ein Mensch vom Lustgefühl „besiegt“ werden und somit gegen die eigene Einsicht handeln könne, ist sinnlos (wenn auch geläufig unter der Menge), da das Lustgefühl doch das Ziel jeder Handlung ist. 24 Diese falsche Aussage will nur die Tatsache zum Ausdruck bringen, dass ein Mensch, der die Messkunst nicht beherrscht, durch zufällige Faktoren – z.B. weil die kurz bevorstehenden Lustgefühle größer als die zeitlich entfernten zu sein scheinen, genau so wie die Objekte des Sehens bei kürzerer räumlicher Entfernung 25 – zum falschen Messen verleitet werden kann. Letzter Grund des Fehlers ist dabei immer die mangelhafte Beherrschung der Messkunst. 26 Ob Sokrates hier den Hedonismus als eigene Position oder nur angesichts der konkreten Situation des Gesprächs mit der durch Protagoras vertretenen Menge vertritt, ist in der Protagorasinterpretation umstrit_____________ 20 21 22 23 24 25 26

Prot. 352b1-359a1. Ebd. 320b4-5. Ebd. 351c2-e11. Ebd. 357a5-b2. Ebd. 355c2-8. Ebd. 356c5-7. Ebd. 357c1-e2 : „Ihr habt selbst eingestanden, wer bei der Wahl der Lust und Unlust, das heißt des Guten und Schlechten, fehle, der fehle aus Mangel an Erkenntnis, und nicht nur an Erkenntnis, sondern noch weiter habt ihr ja zugegeben, dass es eine messende sei…so dass also dieses Zu-schwach-sein-gegen-die-Lust der größte Unverstand ist“ („БΐΓΏΓ·φΎ΅ΘΉȱπΔ΍ΗΘφΐ΋ΖȱπΑΈΉϟθȱ πΒ΅ΐ΅ΕΘΣΑΉ΍Αȱ ΔΉΕϠȱ ΘχΑȱ ΘЗΑȱ ψΈΓΑЗΑȱ ΅ϣΕΉΗ΍Αȱ Ύ΅Ϡȱ ΏΙΔЗΑȱ ΘΓϿΖȱ πΒ΅ΐ΅ΕΘΣΑΓΑΘ΅Ζȱ –ȱ Θ΅ІΘ΅ȱΈνȱπΗΘ΍ΑȱΦ·΅ΌΣȱΘΉȱΎ΅ϠȱΎ΅ΎΣȱ–ȱΎ΅ϠȱΓЁȱΐϱΑΓΑȱπΔ΍ΗΘφΐ΋Ζ,ȱΦΏΏΤȱΎ΅ϠȱΉϢΖȱΘϲȱΔΕϱȬ ΗΌΉΑȱ σΘ΍ȱ БΐΓΏΓ·φΎ΅ΘΉȱ ϵΘ΍ȱ ΐΉΘΕ΋Θ΍ΎϛΖ...ГΗΘΉȱ ΘΓІΘ’ȱ πΗΘϠΑȱ Θϲȱ ψΈΓΑϛΖȱ ϊΘΘΝȱ ΉϨΑ΅΍,ȱ Φΐ΅Όϟ΅ȱψȱΐΉ·ϟΗΘ΋...“).

1. Platons These zum Verhältnis von Wille und Wissen im schlechten Handeln 113

ten. 27 Was aber in Bezug auf die hier gestellten Fragen diesem Gespräch an genuin platonischen Annahmen entnommen werden kann, ist die Zusammenfassung aller Tugend in einer Messkunst bzw. die Zurückführung aller ethischen Schlechtigkeit auf mangelnde Beherrschung derselben. 28 Sokrates sagt, das Ergebnis seiner Argumentation zusammenfassend: „Niemand wird, er wisse nun oder glaube nur, dass es etwas Besseres, als er tut, und auch ihm Mögliches gibt, noch jenes tun, da das Bessere in seiner Macht steht; und dieses Zu-schwach-sein-gegen-sich-selbst ist also nichts anderes als Unverstand, und das Sich-selbst-beherrschen nichts anderes als Weisheit.“ 29 Die Möglichkeit der Unbeherrschtheit scheint also in diesem Zusammenhang ausdrücklich zurückgewiesen zu werden. Davidsons angeführte Definition der Unbeherrschtheit scheint ja eine direkte Negation des soeben zitierten Satzes zu sein. 1.2.3. Die Geschichte des Leontios In der Geschichte des Leontios im 4. Buch der Politeia haben wir ein Beispiel der Auffassung Platons von der Möglichkeit eines falschen Handelns im Wissen um das Richtige: „Leontios, der Sohn des Aglaion, kam vom Peiraieus herauf, außen an der nördlichen Mauer entlang. Da sah er beim Platz des Scharfrichters einige Leichen liegen und hätte diese zwar gerne angeschaut, empfand aber doch Unwillen und wendete sich ab. Eine Weile kämpfte er und verhüllte sich; schließlich wurde er aber von der Begierde übermannt, lief mit weit aufgerissenen Augen zu den Leichen und rief: ‚Schaut sie euch an, ihr Unseligen, und sättigt euch an dem herrlichen Anblick’.“ 30 Leontios ist von seinem πΔ΍ΌΙΐ΋Θ΍ΎϲΑȱ dazu verführt _____________ 27 Für die Annahme von Hedonismus als Position des Sokrates argumentiert z.B. Bravo 2003, 187-191. 28 Szlezák 1985, 175f. Anm. 32 vertritt, „dass Platon hier Eigenes mit fremden Begriffen umkreist, so (a) die Beschreibung der Wirkungen der projektierten ‚Messkunst’ 356d3-e2 (eine kurze Umschreibung der Eudaimonia als Wirkung der Philosophie), (b) das Insistieren auf dem πΔ΍ΗΘφΐ΋-Charakter dieser Kunst (357b6), (c) die Unbezwingbarkeit und Herrschaft der πΔ΍ΗΘφΐ΋, die das Gute und das Schlechte kennt, über die anderen Kräfte im Menschen (352c3-7), (d) die Ablösbarkeit der Idee einer Meßkunst vom Lustbegriff der Menge, auf die die Erwähnung einer Größenmeßkunst und einer Zahlenmeßkunst (356d-357a) weist...Die ‚Meßkunst’ ist also neben der ‚königlichen Kunst’ aus dem Euthydemos und der ‚Wissenschaft vom Guten und Schlechten’ aus dem Charmides eine weitere Maske platonischer Dialektik“. 29 Prot. 358b7-c3: „ΓЁΈΉϠΖȱΓЄΘΉȱΉϢΈАΖȱΓЄΘΉȱΓϢϱΐΉΑΓΖȱΩΏΏ΅ȱΆΉΏΘϟΝȱΉϨΑ΅΍ȱύȱΨȱΔΓ΍Ήϧ,ȱΎ΅Ϡȱ 30

ΈΙΑ΅ΘΣ,ȱ σΔΉ΍Θ΅ȱ ΔΓ΍Ήϧȱ Θ΅ІΘ΅,ȱ πΒϲΑȱ ΘΤȱ ΆΉΏΘϟΝаȱ ΓЁΈξȱ Θϲȱ ϊΘΘΝȱ ΉϨΑ΅΍ȱ ΅ЀΘΓІȱ ΩΏΏΓȱ Θ΍ȱ ΘΓІΘ’ȱπΗΘϠΑȱύȱΦΐ΅Όϟ΅,ȱΓЁΈξȱΎΕΉϟΘΘΝȱο΅ΙΘΓІȱΩΏΏΓȱΘ΍ȱύȱΗΓΚϟ΅“. Platon, Resp. 439e6-440a3: „̎ΉϱΑΘ΍ΓΖȱϳȱ̝·Ώ΅ϬΝΑΓΖȱΦΑ΍АΑȱπΎȱ̓Ή΍Ε΅΍ЗΖȱЀΔϲȱΘϲȱΆϱΕΉ΍ΓΑȱ ΘΉϧΛΓΖȱπΎΘϱΖ,ȱ ΅ϢΗΌϱΐΉΑΓΖȱ ΑΉΎΕΓϿΖȱ Δ΅ΕΤȱ ΘХȱ Έ΋ΐϟУȱΎΉ΍ΐνΑΓΙΖ,ȱ Χΐ΅ȱ ΐξΑȱ ϢΈΉϧΑȱπΔ΍ΌΙΐΓϧ,ȱ Χΐ΅ȱΈξȱ΅ЇȱΈΙΗΛΉΕ΅ϟΑΉ΍ȱΎ΅ϠȱΦΔΓΘΕνΔΉ΍ȱο΅ΙΘϱΑ,ȱΎ΅ϠȱΘνΝΖȱΐξΑȱΐΣΛΓ΍ΘϱȱΘΉȱΎ΅ϠȱΔ΅Ε΅Ȭ

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D. Die Bestimmung der ethischen Schlechtigkeit bei Platon und Proklos

worden, gegen die Einsicht seines ΏΓ·΍ΗΘ΍ΎϲΑ zu handeln; aber unmittelbar nachher – genauer gesagt schon während der Handlung – reagiert sein ΌΙΐ΍ΎϲΑ als Verbündeter des ΏΓ·΍ΗΘ΍ΎϱΑ, und so tadelt er sich selbst. Diese seltsame Geschichte soll ein Beispiel der inneren Konfliktsituation sein, die die im 4. Buch einzuführende Dreiteilung der Seele begründet31 . In der Dreiteilung liegt für Platon die Voraussetzung für das Verständnis einer schlechten Tat gegen die eigene Einsicht. 32 Das Hinschauen des Leontios auf die Leichen deutet wahrscheinlich das Hinschauen des πΔ΍ΌΙΐ΋Θ΍ΎϲΑ 33 auf das Sterbliche an. Die Teile der Seele werden „dem Verwandten, auf das sie sich richten,...selbst gleich: dem Unsterblichen und Sterblichen respektive (585c)“. 34

_____________ Ύ΅ΏϾΔΘΓ΍ΘΓ,ȱ ΎΕ΅ΘΓϾΐΉΑΓΖȱ Έ’ȱ ΓЇΑȱ ЀΔϲȱ ΘϛΖȱ πΔ΍ΌΙΐϟ΅Ζ,ȱ Έ΍ΉΏΎϾΗ΅Ζȱ ΘΓϿΖȱ ϴΚΌ΅ΏΐΓϾΖ,ȱ ΔΕΓΗΈΕ΅ΐАΑȱΔΕϲΖȱΘΓϿΖȱΑΉΎΕΓϾΖ,ȱ‚ȱ͑ΈΓϿȱЀΐϧΑ’,ȱσΚ΋,ȱ‚ИȱΎ΅ΎΓΈ΅ϟΐΓΑΉΖ,ȱπΐΔΏφΗΌ΋ΘΉȱΘΓІȱ Ύ΅ΏΓІȱΌΉΣΐ΅ΘΓΖ’“. Ein weiteres Beispiel findet sich in der Lobrede des Alkibiades

an Sokrates im Symposion. Alkibiades sagt, dass er die Begegnungen mit Sokrates vermeidet, weil letzterer ihn an die Unfreiheit seiner inneren Situation immer wieder erinnert (215e6: „dass ich mich in einem knechtischen Zustand befände“ – „БΖȱ ΦΑΈΕ΅ΔΓΈΝΈЗΖȱ Έ΍΅ΎΉ΍ΐνΑΓΙ“), an die Wahrheit, dass er sich zunächst mit dieser seiner inneren Bedürftigkeit auseinandersetzen müsse, bevor er sich mit den Angelegenheiten der Stadt befasst (216a5-6: „dass mir selbst noch gar vieles mangelt und ich doch, mich vernachlässigend, der Athener Angelegenheiten besorge.“ - „ϵΘ΍ȱΔΓΏΏΓІȱπΑΈΉχΖȱЖΑȱ ΅ЁΘϲΖȱ σΘ΍ȱ πΐ΅ΙΘΓІȱ ΐξΑȱ ΦΐΉΏЗ,ȱ ΘΤȱ Έ’ȱ ̝Ό΋Α΅ϟΝΑȱ ΔΕΣΘΘΝ“; s. Symp. 215e6-216b5). Alkibiades ist sich also dieser Wahrheit stets bewusst, vergisst sie aber trotzdem willentlich oder verdrängt sie und tut somit das Schlechte, obwohl er in einem gewissen Sinne das Gute für sich weiß (s. Crosby 2002, 349f.). 31 „Diese Geschichte…beweist uns doch, dass der Unwille manchmal mit den Begierden im Widerstreit steht, so wie zwei verschiedene Kräfte miteinander streiten.“ („̒ЈΘΓΖȱ ΐνΑΘΓ΍…ϳȱ Ώϱ·ΓΖȱ Η΋ΐ΅ϟΑΉ΍ȱ ΘχΑȱ ϴΕ·χΑȱ ΔΓΏΉΐΉϧΑȱ πΑϟΓΘΉȱ Θ΅ϧΖȱ πΔ΍ΌΙΐϟ΅΍Ζȱ БΖȱ ΩΏΏΓȱ ϸΑȱ ΩΏΏУ.“) (440a7-8). 32 Wie Carone 2001, 133 Anm. 50 schreibt, „hat Platon sogar in Rep. 4 darauf bestanden, dass der beste Zustand der Seele, der die Tugend ist, eher ein Zustand der Einheit als einer der Trennung ist, s. 443e1:ȱ Δ΅ΑΘΣΔ΅Η΍Αȱ ρΑ΅ȱ ·ΉΑϱΐΉΑΓΑȱ πΎȱ ΔΓΏΏЗΑ. Vielmehr scheint seine Berufung auf die Psychologie der Dreiteilung hauptsächlich insofern relevant zu sein, als sein Interesse der Analyse von Konflikt und Schlechtigkeit gilt“. 33 Vgl. Resp. 586a7-8: „Wie das Vieh schauen sie stets nur abwärts: Zur Erde und über die Tische gebückt, fressen sie und bespringen sich auf der Weide“ („̅ΓΗΎ΋ΐΣΘΝΑȱΈϟΎ΋ΑȱΎΣΘΝȱ ΦΉϠȱΆΏνΔΓΑΘΉΖȱΎ΅ϠȱΎΉΎΙΚϱΘΉΖȱΉϢΖȱ·ϛΑȱΎ΅ϠȱΉϢΖȱΘΕ΅ΔνΊ΅ΖȱΆϱΗΎΓΑΘ΅΍ȱΛΓΕΘ΅ΊϱΐΉΑΓ΍ȱΎ΅Ϡȱ ϴΛΉϾΓΑΘΉΖ“).

34 Szlezák 1976, 46.

1. Platons These zum Verhältnis von Wille und Wissen im schlechten Handeln 115

1.2.4. Wird im IV. Buch der Politeia der „Intellektualismus“ des Protagoras verlassen? Der scheinbare Widerspruch zwischen den beiden besprochenen Stellen in Bezug auf das Problem der Unbeherrschtheit hat eine Vielfalt von Interpretationen hervorgerufen. Die verschiedenen Möglichkeiten des Umgangs mit diesem auf den ersten Blick offenkundigen Widerspruch zwischen Protagoras und Politeia sind in Bezug auf die hier gestellten Fragen von besonderer Bedeutung, denn die Unterscheidung des Proklos zwischen Selbstmächtigkeit (πΚ’ȱψΐϧΑ) und Freiwilligkeit (οΎΓϾΗ΍ΓΑ) stellt eine Antwort auf die Aporie dar, die in diesem Widerspruch sichtbar wird. Gemäß mehreren Interpreten hätte Platon in der Politeia die sokratische Ablehnung der Möglichkeit von Unbeherrschtheit, die er in Protagoras noch verteidigt hatte, endgültig hinter sich gelassen. 35 Dann wäre die sokratische Gleichsetzung von Tugend und Wissen, die jede Möglichkeit der Unbeherrschtheit ausschließe, hier überwunden. Damit aber hätte auch der Satz „Niemand handelt freiwillig schlecht“ überwunden sein müssen; dieser Satz wird jedoch in den späteren Dialogen weiterhin vertreten36 . Gegen diese Position hat G.R. Carone für eine einheitliche Interpretation der einschlägigen Abschnitte aus Protagoras und Politeia argumentiert. 37 Da ihre Argumentation m.E. einerseits in sich überzeugend ist, andererseits in ihrer vereinheitlichenden Sicht und vor allem in der Hervorhebung des Rangunterschieds zwischen Meinung und Wissenschaft in Bezug auf die Unbeherrschtheit der proklischen Interpretation nahe steht, wird auf diese Argumentation kurz eingegangen. G.R. Carone geht von einer Unterscheidung zwischen Formen von Unbeherrschtheit in den zwei Dialogen aus: Als synchron wird die Unbeherrschtheit bezeichnet, wenn die Seele gegen die gegenwärtige Einsicht ihres ΏΓ·΍ΗΘ΍ΎϲΑ handelt, als diachron, wenn sie gegen ihre vorherige oder

_____________ 35 Carone 2001, 107-109, bietet eine Bibliographie der wichtigsten Veröffentlichungen, die diese Ansicht vertreten (s. z.B. Irwin 1995, 209: in Resp. 438a „lehnt Platon die sokratische Behauptung ab, dass unsere ganze zielgerichtete Tätigkeit in unserem Verlangen nach dem Guten besteht, und in unserem Glauben, dass die Handlung, die wir wählen, besser als unsere anderen Optionen ist“). Für diese Interpretation argumentiert auch Crosby 2002; vgl. Lorenz 2004, 96ff. 36 S. Phil. 22b; Tim. 86d-e; Leg. 731c. 37 Zur Möglichkeit der Annahme einer Kontinuität zwischen der vorgestellten, im Protagoras aufgeführten Position und der in jeder Gesetzgebung angenommenen Vorsätzlichkeit der Übertretungen s. Leg. 860d1-864c9; vgl. Horn 2004, bes. 178181; Baumgarten 1998, 257-260.

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D. Die Bestimmung der ethischen Schlechtigkeit bei Platon und Proklos

gewöhnliche richtige Meinung handelt. 38 Die erste Form sei sowohl in Protagoras wie auch in Politeia (und in den übrigen Dialogen) ausgeschlossen. Leontios handele nicht gegen die gegenwärtige Meinung seines ΏΓ·΍ΗΘ΍ΎϲΑ darüber, welche die beste Option sei; sein ΏΓ·΍ΗΘ΍ΎϲΑ sei – nach Carone – gerade momentan durch das πΔ΍ΌΙΐ΋Θ΍ΎϲΑ überredet worden, die „Meinung“ des letzteren über die beste Option aufzunehmen. 39 Umgekehrt sei auch im Protagoras anzunehmen, dass derjenige, der die Messkunst nicht besitzt, seine Meinung, die auf den bloßen Phänomenen beruht, immer wieder verändert. Gerade diese diachrone Unbeherrschtheit sei sowohl in der Politeia wie auch im Protagoras möglich, und zwar bei denjenigen Seelen, welche die Wissenschaft über das Gute und das Schlechte, die ΐΉΘΕ΋Θ΍Ύχ im Protagoras bzw. die Dialektik in der Politeia, nicht besitzen. 40 Eine Seele, die diese Wissenschaft besitzt, hat darin ein festes, genaues Wissen über die bessere und die schlechtere Option in allen einzelnen „Entscheidungssituationen“. Im Gegensatz zu den Meinungen, lässt sich dieses Wissen in keinem Fall durch das Verlangen der unteren Teile der Seele „überreden“. Es gehört zum Rangunterschied zwischen Meinung und Wissenschaft, dass letztere diese Überredung und selbst den Konflikt mit dem Verlangen der unteren Seelenteile ausschließt. Auf diese Tatsache weist im Protagoras die Veranschaulichung dieser Konflikts- oder Überredungssituation durch das Motiv der „perspektivi_____________ 38 Meiner Meinung nach ist diese Unterscheidung vor allem insofern problematisch, als sie das Problem nur verlagert: Denn im Moment der Überredung des vernünftigen Seelenteils durch die Meinung des unvernünftigen Teils, die einer diachronen ΦΎΕ΅Ηϟ΅ notwendigerweise vorangeht, geschieht eben eine synchrone Unbeherrschtheit, wo die schlechte Handlung in der Annahme einer durch die irrationale Seele gelenkten Meinung statt der rechten Meinung besteht. 39 Allerdings muss angemerkt werden, dass diese Interpretation Carones bzw. die Rede von einer Übernahme der Meinung des πΔ΍ΌΙΐ΋Θ΍ΎϲΑ durch das ΏΓ·΍ΗΘ΍ΎϲΑ vom platonischen Text selbst nicht bestätigt wird. 40 Das Ergebnis ihrer Argumentation gibt Carone folgendermaßen wieder: „Zusammenfassend habe ich für die These argumentiert, dass die Politeia sich vom Protagoras im Wesentlichen nicht abtrennt in ihrer Antwort auf das Problem der Unbeherrschtheit. Es ist in der Politeia genau so unmöglich wie im Protagoras, dass man das Wissen darüber besitzen könnte, welche der verfügbaren Ketten von Handlungen unter Berücksichtigung aller relevanten Faktoren die beste ist, und trotzdem sich gegen dieses Wissen entscheidet. Es ist ferner unmöglich, dass ein solches Wissen im Lauf der Zeit durch sich gegenseitig widersprechende Meinungen umgestürzt wird und dadurch Meinungsveränderungen und Reue verursacht. Ferner bewahrt die Politeia mit dem Protagoras die Behauptung, dass jede Handlung (und wohl jedes motivierende Verlangen) am Guten orientiert ist. In dieser Hinsicht ist es auch unmöglich, dass man gegen die eigene Meinung über das, was man unter Berücksichtigung aller relevanten Faktoren im Moment der Handlung für das Beste hält, handeln sollte“ (Carone 2001, 146f).

1. Platons These zum Verhältnis von Wille und Wissen im schlechten Handeln 117

schen Täuschung“ hin, welches in der Politeia ebenfalls eingesetzt wird. 41 Der Besitz der Messkunst gewährleistet immer die richtige Messung, die keine Unbeherrschtheit zulässt. 42 1.2.5. Die Wissenschaft des Guten und des Schlechten und die Möglichkeit der Unbeherrschtheit Der in den Dialogen gegebene Umriss der Dialektik erlaubt meiner Meinung nach den Schluss, dass der Besitzer dieser Messkunst der Unbeherrschtheit überlegen ist. 43 Als Ergebnis einer strengen Wissenschaft (besser, der einzig strengen Wissenschaft) sollte die Richtigkeit ihrer Beurteilung der jeweils vorhandenen Handlungsoptionen treffsicher sein. Eine derartige Wissenschaft kann nicht von einer durch das Verlangen der unvernünftigen Seele gelenkten Meinung verdrängt werden, weil schon der Erwerb dieser Wissenschaft die ethische Läuterung der Seele voraussetzt. 44 Hier werden die Einwände des Aristoteles gegen die platonische Position zur Unbeherrschtheit angeführt, u.a. weil Proklos in seiner Verdeutlichung der Begriffe Selbstmächtigkeit (πΚ’ȱ ψΐϧΑ) und Freiwilligkeit (οΎΓϾΗ΍ΓΑ) sich auf diese Einwände bezieht. Als Thesen Platons werden auch einige ethische Grundsätze betrachtet, die Aristoteles Sokrates zuschreibt, insofern diese – die Tugend als Wissen, die Unfreiwilligkeit des Unrechttuns – _____________ 41 Resp. 523b9-524b5. Zur perspektivischen Täuschung s. Gundert 1973, 87: „Die Charaktere der perspektivischen Täuschung… - die zweigipflige, komparativische, unbestimmte Gegensätzlichkeit des Größer und Kleiner, in der die Seele zwischen dem aufdringlich Nahen und dem verschwindend Fernen hin- und herirrt – erscheinen hier [im Philebos] als Charaktere des Apeiron: Als Inbegriff des ‚Mehr und Weniger’ umfasst es alle gegensätzlichen Qualitäten, die in ihrem Ausmaß für sich und darum auch in ihrem gegenseitigen Verhältnis unbestimmt bleiben…“. 42 Vgl. Woolf 2002, 248-250; Brickhouse/Smith 2002, 26-28. 43 Das durch andere Kräfte in der Seele unbezwingbare Wissen hat den Status einer Wissenschaft, und zwar derjenigen, die das Gute und das Schlechte erkennt, der ΚΕϱΑ΋Η΍Ζ als genauen Messkunst (ΐΉΘΕ΋Θ΍Ύφ); s. Prot. 352c2-7; ebd. 357b4-c4: „Wir…waren einverstanden, es gebe nichts stärkeres als die Erkenntnis, und wo sie nur wäre, herrschte sie…“ („πΔ΍ΗΘφΐ΋Ζȱ ΐ΋ΈξΑȱ ΉϨΑ΅΍ȱ ΎΕΉϧΘΘΓΑȱ [БΐΓΏΓ·ΓІΐΉΑ],ȱ ΦΏΏΤȱ ΘΓІΘΓȱ ΦΉϠȱ ΎΕ΅ΘΉϧΑ,ȱϵΔΓΙȱΪΑȱπΑϜ...“). 44 S. Szlezák 1997, 224; wie T. Irwin merkt, „glaubt möglicherweise Platon, dass wir das Wissen im Unterschied zur rechten Meinung nicht erringen können, ohne auch die geziemenden nicht-kognitiven Zustände erlangt zu haben. Wenn wir Wissen besitzen, müssen wir ein festes und selbstsicheres Bewusstsein der Gründe unserer rechten Meinungen haben, und wir müssen imstande sein, vordergründig bestechende aber dennoch irreführende Gegenargumente abzulehnen ... [Platon stimmt Sokrates zu], dass das Wissen nicht hin und her gezogen werden kann, da es in einer Person nicht zusammen mit unkontrollierten, nicht-vernünftigen Verlangen vorhanden sein kann“ (Irwin 1995, 237).

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D. Die Bestimmung der ethischen Schlechtigkeit bei Platon und Proklos

einerseits auch in den späteren Dialogen bestens bezeugt sind, und andererseits, weil Proklos in seiner impliziten Auseinandersetzung mit Aristoteles davon ausgeht, dass es sich in der Tat um Grundsätze Platons handle.

2. Die Kritik des Aristoteles an der sokratisch-platonischen Behandlung der Unbeherrschtheit Im Rahmen seiner Behandlung des Phänomens der Unbeherrschtheit kritisiert Aristoteles, wie schon gesagt, den sokratischen Satz „Niemand handelt freiwillig schlecht“ und damit die grundlegende sokratisch-platonische Bestimmung der Rolle des Wissens bei der Wahlentscheidung. 45 Die Selbstmächtigkeit (πΚ’ȱ ψΐϧΑ) des tugendhaften Handelns zieht nach Aristoteles die Selbstmächtigkeit des schlechten Handelns notwendigerweise mit sich, „denn überall wo es in unserer Macht steht zu handeln, da steht es auch in unserer Macht nicht zu handeln, und wo das Nein, da auch das Ja“ 46 . Da aber für Aristoteles der Zustand des Tugendhaften bzw. des ethisch Schlechten Ergebnis eines dauerhaften guten bzw. schlechten Handelns ist, folgt aus dieser Annahme die Selbstmächtigkeit der Tugend bzw. der ethischen Schlechtigkeit. Demzufolge sei der Satz „Niemand ist freiwillig schlecht“ (ΓЁΈΉϠΖȱοΎАΑȱΔΓΑ΋ΕϱΖ) falsch. 47 Ohne auf die Argumentation einzugehen, durch die Aristoteles seine These untermauert, werde ich hier seine Bestimmung der Selbstmächtigkeit (πΚ’ȱ ψΐϧΑ) bzw. Freiwilligkeit (οΎΓϾΗ΍ΓΑ), die seiner These zugrunde liegt, in Bezug auf das zu untersuchende Problem des Verhältnisses von Wissen und zuzurechnendem Willen vorstellen.

_____________ 45 Eth. Nic. 1113b2-1114b25. 46 Ebd., 1113b7-8: „πΑȱΓϩΖȱ·ΤΕȱπΚ’ȱψΐϧΑȱΘϲȱΔΕΣΘΘΉ΍Α,ȱΎ΅ϠȱΘϲȱΐχȱΔΕΣΘΘΉ΍Α,ȱΎ΅ϠȱπΑȱΓϩΖȱΘϲȱ ΐφ,ȱ Ύ΅Ϡȱ Θϲȱ Α΅ϟ“ (hier und bei allen Zitaten aus der Nikomachischen Ethik, dt. Übersetzung von F. Dirlmaier: Aristoteles, Nikomachische Ethik. Übersetzt von Franz Dirlmaier, Darmstadt 1956). 47 S. ebd., 1113b14-17: „Der Satz aber: ‚Mit Willen schlecht ist niemand, niemand wider seinen Willen glücklich’, ist in der ersten Hälfte falsch und nur in der zweiten richtig. Denn glücklich ist niemand gegen seinen Willen, aber Minderwertigkeit ist freiwillig“ („ΘϲȱΈξȱΏν·Ή΍Αȱ БΖȱΓЁΈΉϠΖȱοΎАΑȱΔΓΑ΋ΕϲΖȱΓЁΈ’ȱΩΎΝΑȱΐ΅ΎΣΕ΍ΓΖȱσΓ΍ΎΉȱΘϲȱΐξΑȱΜΉΙΈΉϧȱΘϲȱΈ’ȱΦΏ΋ΌΉϧаȱΐ΅Ȭ ΎΣΕ΍ΓΖȱΐξΑȱ·ΤΕȱΓЁΈΉϠΖȱΩΎΝΑ,ȱψȱΈξȱΐΓΛΌ΋Εϟ΅ȱοΎΓϾΗ΍ΓΑ“).

2. Die Kritik des Aristoteles

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2.1. Wissen und Freiheit von Zwang als Voraussetzungen des οΎΓϾΗ΍ΓΑ in der Nikomachischen Ethik „Als unfreiwillig gilt also, was unter Zwang und auf Grund von Unwissenheit geschieht. Dementsprechend darf als freiwillig das gelten, dessen bewegendes Prinzip in dem Handelnden selbst liegt, wobei er ein volles Wissen von den Einzelumständen der Handlung hat.“ 48 Nach Aristoteles kann von jeder Handlung, die nicht durch einen äußeren Zwang, ausgeschlossen jeder Beteiligung des „Handelnden“ oder „Leidenden“ („ϳȱΔΕΣΘΘΝΑȱ ύȱ ϳȱ ΔΣΗΛΝΑ“), verursacht von außen her gelenkt wird – z.B. durch den Wind oder den Herrn bei einem Sklaven –, ausgesagt werden, dass sie ihren Ursprung im Handelnden hat. 49 Selbst Handlungen, die beispielsweise in einem tyrannischen Regime unter direkter Todesdrohung vollzogen werden, sind zwar gemischten Charakters, „stehen aber näher dem Freiwilligen“, „denn das Prinzip, das die dienenden Glieder des Leibes bei solchem Handeln bewegt, ist im Menschen“ 50 . Um so mehr sind Handlungen, die durch den „Zwang“ des Lustvollen (ψΈν΅) 51 oder durch den unvernünftigen Seelenteil veranlasst werden, 52 als durchaus freiwillig (οΎΓϾΗ΍΅΍) zu betrachten, da der Handelnde mitmacht. Der Begriff des οΎΓϾΗ΍ΓΑȱscheint also vornehmlich die kinetische Kontrolle des Menschen über seinen Körper zu bezeichnen und kann daher auch den Kindern und sogar den Tieren zugeschrieben werden. 53 Das Wissen, das eine freiwillige Handlung voraussetzt, beschränkt sich auf das Informiertsein über die „Einzelumstände der Handlung“ („Ύ΅Ό’ȱ ρΎ΅ΗΘ΅ȱ πΑȱ ΓϩΖȱ ψȱ ΔΕκΒ΍Ζ“) und über das ΓЈȱ ρΑΉΎ΅ der Handlung; 54 alles andere Wissen sei hier irrelevant. Unter Berufung auf die „allgemeine Moral“, wie sie sich in der Gesetzgebung ausdrückt, zeigt Aristoteles, dass _____________ 48 Eth. Nic. 1111a21-24: „͢ΑΘΓΖȱΈ’ȱΦΎΓΙΗϟΓΙȱΘΓІȱΆϟθȱΎ΅ϠȱΈ΍’ȱΩ·ΑΓ΍΅Α,ȱΘϲȱοΎΓϾΗ΍ΓΑȱΈϱΒΉ΍ΉΑȱ ΪΑȱΉϨΑ΅΍ȱΓЈȱψȱΦΕΛχȱπΑȱ΅ЁΘХȱΉϢΈϱΘ΍ȱΘΤȱΎ΅Ό’ȱρΎ΅ΗΘ΅ȱπΑȱΓϩΖȱψȱΔΕκΒ΍Ζ“. 49 Ebd. 1110a1-4. Weitere Beispiele von unfreiwilligen „Handlungen“ (eigentlich Zuständen) sind das Wärmegefühl, der Schmerz und der Hunger (Ebd. 1113b26-30). 50 Ebd. 1110a4-18: „πΓϟΎ΅Η΍ȱ Έξȱ ΐκΏΏΓΑȱ οΎΓΙΗϟΓ΍Ζ“ ,ȱ „Ύ΅Ϡȱ ·ΤΕȱ ψȱ ΦΕΛχȱ ΘΓІȱ Ύ΍ΑΉϧΑȱ ΘΤȱ ϴΕ·΅Α΍ΎΤȱΐνΕ΋ȱπΑȱΘ΅ϧΖȱΘΓ΍΅ϾΘ΅΍ΖȱΔΕΣΒΉΗ΍ΑȱπΑȱ΅ЁΘХȱπΗΘϟΑ“. 51 Ebd. 1110b9-17. 52 Ebd. 1111a24ff. 53 Ebd. 1111a25f. Vgl. Schneider 2001, 40: „Die Bestimmungen, die Aristoteles vom Freiwilligen sowohl in EN (III 1) als auch in MM (I 11ff.) und EE (II 7ff.) gibt, sind zusammengefasst folgende: (a) das, was nicht aus Zwang und Gewalt geschieht, (b) das, was nicht aus Unwissenheit geschieht, (c) das, wovon der Urheber das Handelnde (handelnd hier in weitestem Sinne gefasst) selber ist, das also, was Aristoteles die ΦΕΛχȱΘΓІȱΎ΍ΑΉϧΑ oder ΘϛΖȱΎ΍ΑφΗΉΝΖ nennt, (d) das, in bezug worauf gelobt und getadelt wird, und (d) das, was mit Lust einhergeht“. 54 Ebd. 1111a15-19.

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D. Die Bestimmung der ethischen Schlechtigkeit bei Platon und Proklos

die Unwissenheit über das ethisch Gute das οΎΓϾΗ΍ΓΑ der ethischen Schlechtigkeit nicht aufhebt, genauso wie diejenige über die Gesetze das οΎΓϾΗ΍ΓΑ bzw. die Zurechenbarkeit einer Übertretung des Gesetzes nicht tilgt. Denn diese Unwissenheit ist selbst indirekt οΎΓϾΗ΍ΓΖ: Die Unkenntnis (Ω·ΑΓ΍΅) des Gesetzes ist keine Ausrede, weil ein Bürger sich darum kümmern muss, dass er die wichtigsten Gesetze kennt. Der mögliche Einwand, dass er aufgrund seines Charakters sich nicht darum kümmern kann, ist auch keine Ausrede, denn er hätte wissen müssen, dass sein Charakter durch seine freiwilligen Handlungen (οΎΓϾΗ΍΅΍ȱ πΑνΕ·Ή΍΅΍) gestaltet wird. 55 „Übrigens ist jeder minderwertige Mensch in Unwissenheit darüber, was er zu tun oder zu lassen habe und auf Grund dieses Fehlers bekommen die Menschen einen ungerechten und überhaupt einen verwerflichen Charakter. Der Begriff ‚unfreiwillig’ will aber nicht gebraucht sein, wenn jemand kein Wissen hat von dem was zu seinem Vorteil ist. Denn die Unwissenheit bei der Entscheidung ist nicht Ursache der Unfreiwilligkeit, sondern der Minderwertigkeit, und auch nicht die Unwissenheit im allgemeinen Sinn – für diese nämlich werden die Menschen getadelt – sondern die Unwissenheit über das Konkret-Einzelne, d.h. über Umstände und Gegenstände des Handelns. Von diesen beiden Faktoren hängt es nämlich ab, ob man Mitgefühl und Nachsicht findet, denn wer davon etwas nicht kennt, handelt unfreiwillig.“ 56 Die Zügellosigkeit bzw. die Ungerechtigkeit sind zwar Ergebnis – und Voraussetzung – einer indirekt freiwilligen ethischen Unwissenheit, lassen sich aber nicht mehr durch das einfache Wollen ablegen, 57 genauso wie das schlechte Handeln als Ergebnis der Trunkenheit zwar indirekt freiwillig ist – da der Mensch sich im Wissen über die Folgen des Rausches und ohne jeden äußeren Zwang betrunken hat – aber momentan in Unwissen-

_____________ 55 Ebd. 1114a4-7: „Sie auch tragen die Schuld für ihre Ungerechtigkeit und Zügellosigkeit, die einen, indem sie das Recht verletzen, die anderen, indem sie ihre Zeit in Zechgelagen und dergleichen verschwenden. Denn die wiederholten Einzelhandlungen bewirken einen entsprechenden Grundzustand“ („΅ЁΘΓϠȱ ΅ϥΘ΍Γ΍ȱ [ΉϢΗϠ]ȱ ...ȱ ΘΓІȱ ΦΈϟΎΓΙΖȱ ύȱ ΦΎΓΏΣΗΘΓΙΖȱ ΉϨΑ΅΍,ȱ ΓϤȱ ΐξΑȱ Ύ΅Ȭ 56

ΎΓΙΕ·ΓІΑΘΉΖ,ȱ ΓϤȱ Έξȱ πΑȱ ΔϱΘΓ΍Ζȱ Ύ΅Ϡȱ ΘΓϧΖȱ ΘΓ΍ΓϾΘΓ΍Ζȱ Έ΍Σ·ΓΑΘΉΖаȱ ΅ϡȱ ·ΤΕȱ ΔΉΕϠȱ ρΎ΅ΗΘ΅ȱ πΑνΕ·Ή΍΅΍ȱΘΓ΍ΓϾΘΓΙΖȱΔΓ΍ΓІΗ΍Α“). Ebd. 1110b28-1111a2: „̝·ΑΓΉϧȱ ΐξΑȱ ΓЇΑȱ ΔκΖȱ ϳȱ ΐΓΛΌ΋ΕϲΖȱ Ψȱ ΈΉϧȱ ΔΕΣΘΘΉ΍Αȱ Ύ΅Ϡȱ ЙΑȱ ΦΚΉΎΘνΓΑ,ȱ Ύ΅Ϡȱ Έ΍Τȱ ΘχΑȱ ΘΓ΍΅ϾΘ΋Αȱ Υΐ΅ΕΘϟ΅Αȱ ΩΈ΍ΎΓ΍ȱ Ύ΅Ϡȱ ϵΏΝΖȱ Ύ΅ΎΓϠȱ ·ϟΑΓΑΘ΅΍аȱ Θϲȱ Έ’ȱ ΦΎΓϾΗ΍ΓΑȱΆΓϾΏΉΘ΅΍ȱΏν·ΉΗΌ΅΍ȱΓЁΎȱΉϥȱΘ΍ΖȱΦ·ΑΓΉϧȱΘΤȱΗΙΐΚνΕΓΑΘ΅аȱΓЁȱ·ΤΕȱψȱπΑȱΘϜȱΔΕΓȬ ΅΍ΕνΗΉ΍ȱΩ·ΑΓ΍΅ȱ΅ϢΘϟ΅ȱΘΓІȱΦΎΓΙΗϟΓΙȱΦΏΏΤȱΘϛΖȱΐΓΛΌ΋Εϟ΅Ζ,ȱΓЁΈ’ȱψȱΎ΅ΌϱΏΓΙȱ(Μν·ΓΑΘ΅΍ȱ ·ΤΕȱΈ΍Σȱ·ΉȱΘ΅ϾΘ΋Α)ȱΦΏΏ’ȱψȱΎ΅Ό’ȱρΎ΅ΗΘ΅,ȱπΑȱΓϩΖȱΎ΅ϠȱΔνΕ΍ȱΨȱψȱΔΕκΒ΍ΖаȱπΑȱΘΓϾΘΓ΍Ζȱ·ΤΕȱ Ύ΅ϠȱσΏΉΓΖȱΎ΅ϠȱΗΙ··ΑЏΐ΋аȱϳȱ·ΤΕȱΘΓϾΘΝΑȱΘ΍ȱΦ·ΑΓЗΑȱΦΎΓΙΗϟΝΖȱΔΕΣΘΘΉ΍“.

57 Ebd. 1114a12-15.

2. Die Kritik des Aristoteles

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heit stattfindet, also zeitlich isoliert nicht freiwillig ist. 58 Hier hat der Begriff „freiwillig“ offensichtlich eine breitere Bedeutung, insofern dieser von den einzelnen Handlungen, die zur Ausformung des schlechten Habitus geführt haben, auf den Habitus selbst – obwohl letzterer nach seiner Verfestigung zwangsmäßig ist – und dann wiederum auf die einzelnen Handlungen übertragen wird. 2.2. Die Unbezwingbarkeit des Wissens (πΔ΍ΗΘφΐ΋) als Prämisse des Satzes „Niemand ist freiwillig schlecht“: Kritik des Aristoteles Aristoteles interpretiert den Satz „Niemand ist freiwillig schlecht“ auf dem Hintergrund seiner Bestimmung des οΎΓϾΗ΍ΓΑ. Wenn allein die Freiheit vom äußeren Zwang und das Informiertsein über die Umstände einer Handlung die Freiwilligkeit der letzteren ausmachen, dann dieser Satz „ΦΐΚ΍ΗΆ΋ΘΉϧȱΘΓϧΖȱΚ΅΍ΑΓΐνΑΓ΍ΖȱπΑ΅Ε·ЗΖ“ 59 . „Sokrates war ja überhaupt ein völliger Gegner unserer Theorie, denn es gebe gar keine Unbeherrschtheit“; „denn es sei unfassbar, so meinte Sokrates, dass klare Erkenntnis im Menschen sein und dann doch etwas anderes die Oberhand über sie gewinnen und sie wie einen Sklaven willenlos umherschleppen könne“, 60 schreibt Aristoteles. Nach ihm hat Sokrates _____________ 58 Vgl. Leg. 860d9-860e2: „Denn ich gebe zu, dass alle nur unfreiwillig Unrecht tun – auch wenn jemand aus Rechthaberei oder Geltungssucht behauptet, dass es zwar Leute gebe, die unfreiwillig ungerecht seien, dass aber viele freiwillig Unrecht täten“ („ΗϾΐΚ΋ΐ΍ȱ ·ΤΕȱ ΩΎΓΑΘ΅Ζȱ ΦΈ΍ΎΉϧΑȱ ΔΣΑΘ΅Ζȱ –ȱ ΉϢȱ Ύ΅ϟȱ Θ΍Ζȱ Κ΍ΏΓΑΉ΍Ύϟ΅Ζȱ ύȱ Κ΍ΏΓΘ΍ΐϟ΅Ζȱ ρΑΉΎ΅ȱ ΩΎΓΑΘ΅Ζȱ ΐξΑȱ ΦΈϟΎΓΙΖȱ ΉϨΑ΅ϟȱΚ΋Η΍Α,ȱΦΈ΍ΎΉϧΑȱΐχΑȱοΎϱΑΘ΅ΖȱΔΓΏΏΓϾΖ“).

59 Eth. Nic. 1145b28. Die Phänomene zeigen nach Aristoteles erstens, dass man oft gegen die eigene Einsicht aus falschem Hedonismus die schlechte Handlungsmöglichkeit wählt, und zweitens, dass die Unwissenheit über die Umstände einer bestimmten Handlung als Ursache des in einem Moment vorgenommenen schlechten Handelns das Ergebnis eines früheren, in Wissen über die Umstände und ohne jeden äußeren Zwang vorgenommenen Handelns und daher indirekt οΎΓϾΗ΍ΓΖȱsein kann. 60 Ebd. 1145b23-26: „̕ΝΎΕΣΘ΋ΖȱΐξΑȱ·ΤΕȱϵΏΝΖȱπΐΣΛΉΘΓȱΔΕϲΖȱΘϲΑȱΏϱ·ΓΑȱБΖȱΓЁΎȱΓЄΗ΋Ζȱ ΦΎΕ΅Ηϟ΅Ζ“,ȱ „ΈΉ΍ΑϲΑȱ ·ΤΕȱ πΔ΍ΗΘφΐ΋Ζȱ πΑΓϾΗ΋Ζ,ȱ БΖȱ ОΉΘΓȱ ̕ΝΎΕΣΘ΋Ζ,ȱ ΩΏΏΓȱ Θ΍ȱ ΎΕ΅ΘΉϧΑȱ Ύ΅ϠȱΔΉΕ΍νΏΎΉ΍Αȱ΅ЁΘχΑȱГΗΔΉΕȱΦΑΈΕΣΔΓΈΓΑ“. Es handelt sich um eine Umformulie-

rung, größtenteils mit denselben Worten, des folgenden Satzes: „Die meisten nämlich denken…dass gar oft, wenn auch Erkenntnis im Menschen ist, sie ihn doch nicht beherrscht, sondern irgend sonst etwas…so dass sie offenbar von der Erkenntnis denken wie von einem elenden Wicht, dass sie sich von allem andern herumzerren läßt“ („ΈΓΎΉϧȱ ·ΤΕȱ ΘΓϧΖȱ ΔΓΏΏΓϧΖ...πΑΓϾΗ΋Ζȱ ΔΓΏΏΣΎ΍Ζȱ ΦΑΌΕЏΔУȱ πΔ΍ΗΘφΐ΋Ζȱ ΓЁȱ ΘχΑȱ πΔ΍ΗΘφΐ΋Αȱ ΅ЁΘΓІȱ ΩΕΛΉ΍Αȱ ΦΏΏ’ȱΩΏΏΓȱΘ΍...ΦΘΉΛΑЗΖȱΈ΍΅ΑΓΓϾΐΉΑΓ΍ȱΔΉΕϠȱΘϛΖȱπΔ΍ΗΘφΐ΋ΖȱГΗΔΉΕȱΔΉΕϠȱΦΑΈΕ΅ΔϱΈΓΙ,ȱ ΔΉΕ΍ΉΏΎΓΐνΑ΋ΖȱЀΔϲȱΘЗΑȱΩΏΏΝΑȱΥΔΣΑΘΝΑ“) (Prot. 352b2-c2).

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D. Die Bestimmung der ethischen Schlechtigkeit bei Platon und Proklos

auch die Möglichkeit einer Handlung gegen die eigene Meinung darüber (ЀΔΓΏ΅ΐΆΣΑΓΑΘ΅), was besser ist, ausgeschlossen; angesichts aber des schroffen Widerspruchs dieser Behauptung zur Wirklichkeit, haben „einige“ das Phänomen der Unbeherrschtheit mit der Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Meinung verständlich machen wollen: „Dass nichts so große Bedeutung habe wie klares Wissen, das geben sie zu. Dass aber niemand dem entgegenhandle, wovon er gemeint hat, es sei richtig, das geben sie nicht zu.“ 61 Gegen dieses Argument wendet Aristoteles ein, dass „die Theorie, dass es wahre Meinung und nicht Wissen sei, was durch ein unbeherrschtes Verhalten verletzt werde, ist für unseren Gedankengang ohne Gewicht, denn manche haben nur eine Meinung und schwanken doch nicht, sondern wähnen sich im Besitze sicheren Wissens“. 62 Wenn Aristoteles beim Entfalten seiner Auseinandersetzung mit dem zitierten Satz 63 zum Schluss kommt: „So scheint in der Tat das herauszukommen, was Sokrates zur Geltung zu bringen versucht hat. Denn nicht wenn das uns gegenwärtig ist, was als Wissen im eigentlichen Sinn gilt, erliegen wir der Leidenschaft – dieses Wissen wird auch nicht infolge der Leidenschaft in Wirrnis hin und hergerissen –, sondern nur dann, wenn ‚Wissen’ bloß als Wahrnehmungs-Wissen in uns ist“, 64 dann nur in dem Sinne, dass die Wissenschaft nicht von der Leidenschaft hin und her gerissen wird, weil diese im Zusammenhang der Unbeherrschtheit einfach irrelevant ist. 65

_____________ 61 Arist., Eth. Nic. 1145b32-35: „Θϲȱ ΐξΑȱ ·ΤΕȱ πΔ΍ΗΘφΐ΋Ζȱ ΐ΋ΈξΑȱ ΉϨΑ΅΍ȱ ΎΕΉϧΘΘΓΑȱ ϳΐΓΏΓ·ΓІΗ΍Α,ȱΘϲȱΈξȱΐ΋ΌνΑ΅ȱΔΕΣΘΘΉ΍ΑȱΔ΅ΕΤȱΘϲȱΈϱΒ΅ΑȱΆνΏΘ΍ΓΑȱΓЁΛȱϳΐΓΏΓ·ΓІΗ΍Α“. 62 Ebd. 1146b24-27: „ΔΉΕϠȱ ΐξΑȱ ΓЇΑȱ ΘΓІȱ ΈϱΒ΅Αȱ ΦΏ΋Όϛȱ ΦΏΏΤȱ ΐχȱ πΔ΍ΗΘφΐ΋Αȱ ΉϨΑ΅΍ȱ Δ΅Ε’ȱ ϋΑȱΦΎΕ΅ΘΉϾΓΑΘ΅΍,ȱΓЁΈξΑȱΈ΍΅ΚνΕΉ΍ȱΔΕϲΖȱΘϲΑȱΏϱ·ΓΑаȱσΑ΍Γ΍ȱ·ΤΕȱΘЗΑȱΈΓΒ΅ΊϱΑΘΝΑȱΓЁȱΈ΍Ȭ ΗΘΣΊΓΙΗ΍Α,ȱΦΏΏ’ȱΓϥΓΑΘ΅΍ȱΦΎΕ΍ΆЗΖȱΉϢΈνΑ΅΍“.

63 S. dazu Walsh 1963, 97-111; Milo 1966, 81-102; Woods 1990. 64 Eth. Nic. 1147b14-17: „σΓ΍ΎΉΑȱ϶ȱπΊφΘΉ΍ȱ̕ΝΎΕΣΘ΋ΖȱΗΙΐΆ΅ϟΑΉ΍ΑаȱΓЁȱ·ΤΕȱΘϛΖȱΎΙΕϟΝΖȱ πΔ΍ΗΘφΐ΋Ζȱ ΉϨΑ΅΍ȱ ΈΓΎΓϾΗ΋Ζȱ ·ϟΑΉΘ΅΍ȱ Θϲȱ ΔΣΌΓΖ,ȱ ΓЁΈ’ȱ ΅ЂΘ΋ȱ ΔΉΕ΍νΏΎΉΘ΅΍ȱ Έ΍Τȱ Θϲȱ ΔΣΌΓΖ,ȱ ΦΏΏΤȱΘϛΖȱ΅ϢΗΌ΋Θ΍ΎϛΖ“.

65 Vgl. Grgiý 2002, 347-355; vgl. dagegen Joachim 1951, 221: „Aristotle himself accepts Plato’s contention that it is impossible to act against real πΔ΍ΗΘφΐ΋. It seems a little unfair of Aristotle to accuse Socrates of trying to prove that there is no such thing as ΦΎΕ΅Ηϟ΅“. Vgl. Magna Moralia 1182a7-30: Wenn das Wissen nicht von der Tugend getrennt wird, dann werde die Tugend vom Wissen verschlungen und die Sitte vom Erkenntnisvermögen; der Grund aber dafür, dass Tugend und Wissenschaft bzw. ώΌΓΖ und ΏΓ·΍ΗΘ΍ΎϲΑȱmiteinander untrennbar zusammengehören, besteht in der in den Magna Moralia ebenso kritisierten Auffassung Platons, dass die ΦΕΉΘχ ein Gegenstand der Ontologie sein muss: „ЀΔξΕȱ·ΤΕȱΘЗΑȱϷΑΘΝΑȱΎ΅ϠȱΦΏ΋ΌΉϟ΅ΖȱΏν·ΓΑΘ΅ȱ ΓЁΎȱσΈΉ΍ȱЀΔξΕȱΦΕΉΘϛΖȱΚΕΣΊΉ΍Α“ (ebd., 29-30).

3. Selbstbestimmung und Determinierung in der Aneignung der Dialektik

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3. Selbstbestimmung und Determinierung in der Aneignung der Dialektik Da für Platon das Misslingen bzw. Gelingen von ethischen Handlungen vom Besitz der Wissenschaft im eigentlichen Sinne, d.h. der Dialektik, abhängt, soll hier die Frage nach dem Verhältnis von Selbstbestimmung und Determination in der Aneignung der Dialektik betrachtet werden. Dabei werden mit Determination vor allem diejenigen der menschlichen Selbstbestimmung entgehenden Faktoren gemeint, welche die Zuwendung zur Dialektik im Voraus verhindern. Auch wenn die Aneignung der Dialektik im Rahmen der Politeia nur für die künftigen Philosophenkönige bestimmt ist, die zuvor einen langjährigen Auswahlprozess bestanden haben müssen, kann doch in dieser Aneignung das Verhältnis von Freiheit des Willens und den dem Menschen unverfügbaren Faktoren grundsätzlich erörtert werden, denn das philosophische Leben ist grundsätzlich die höchste Möglichkeit im diesseitigen Leben der Menschenseele. 66 Für den Philosophen besteht „’Weisheit und wahrhafte Tugend’ in der Erkenntnis (·ΑЗΗ΍Ζ, 176c4) der ‚Gerechtigkeit’ Gottes“ 67 . Diese Erkenntnis ist als Angleichung des Erkennenden an das Erkannte zu verstehen, d.h. als Angleichung des Philosophen an „die Ideenwelt als Ganzes, deren ‚Gerechtigkeit’ in der unwandelbaren ontologischen Ordnung eines durch Ώϱ·ΓΖȱ(hier wohl ‚Proportion’) bestimmten Gefüges besteht (500c2-5)“68 . Die „ontologische Gerechtigkeit“ der Ideenwelt wird dem Philosophen durch Angleichung als Erkenntnis vermittelt. Wie verhält sich in diesem Prozess die Angleichung, das Gerechtwerden, das Göttlich-Werden zum Erkennen? Die ethische Läuterung auf der Stufe der politischen Tugend (ΔΓΏ΍Θ΍ΎχȱΦΕΉΘφ) ist Voraussetzung der philosophischen Erkenntnis. 69 Der erkenntnismäßige und der ethische Aspekt _____________ 66 S. Szlezák 2004, 125 (in Bezug auf Theaitetos): „Die Aufgabe des Menschen, deren Erkenntnis selbstverständlich an die Erkenntnis seines Wesens gebunden ist (vgl. 174b3-6), kann im eigentlichen Sinne nur der Κ΍ΏϱΗΓΚΓΖȱvoll erfüllen“. 67 Szlezák 2004, 125 (in Bezug auf Theaitetos). 68 Ebd., 124f. (in Bezug auf die Politeia). 69 S. Szlezák 1997, 224: „So wie der gefesselte Höhlenbewohner nicht das Auge allein dem Licht zuwenden konnte, sondern dieses nur „mit dem ganzen Körper“ (518c7, mit Rückgriff auf 514b1), so kann die Denkseele, die das Auge der Seele ist (533d2), nicht für sich dem Licht des Guten zugewandt werden. Mögen die Seelenteile auch ungleichen ontologischen Ranges sein, hier im irdischen Leben sind sie doch aneinander gebunden. Die Existenz im Körper beschwert die Denkseele mit den Begierden und Ablenkungen des Körpers, die ihr letztlich zwar unwesentlich sind (vgl. 611d1-7), die sie aber doch nach unten ziehen wie Bleigewichte (519b1). Ohne dieses Blei wegzuschlagen, ist für Platon wahre Philosophie nicht möglich. Aus diesem

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D. Die Bestimmung der ethischen Schlechtigkeit bei Platon und Proklos

dieses Prozesses fallen m.E. zusammen, in Entsprechung zum Ineinandersein von Gerechtigkeit und ontologischer Ordnung in der ontologischen „Gerechtigkeit“ der Ideenwelt – und letztendlich zur Bestimmung des Guten als das Eine. Die Zusammengehörigkeit von Erkenntnismäßigem und Ethischem kommt nochmals in der oben angesprochenen Stelle aus der Politeia zum Audruck. Vor der Schilderung der Angleichung wird gesagt: „Wer seine Gedanken wirklich auf das Seiende richtet, Adeimantos, der hat ja auch gar keine Zeit, hinabzublicken auf das Treiben der Menschen und sich im Streit mit ihnen mit Neid und Bitterkeit zu erfüllen.“ 70 Ferner wird im Exkurs im Theaitetos ein durch feste ethische Richtlinien bestimmter ΆϟΓΖ des Philosophen gezeichnet. 71 Auch die künftigen Philosophenkönige sollen nach der Vollendung ihrer Ausbildung in der Dialektik, nämlich nach der Schau des Guten, dieses „zum Vorbild nehmen und danach…die Stadt und die Mitbürger und sich selbst in Ordnung bringen“ 72 . Hier entspricht wohl das ο΅ΙΘΓϿΖȱ ΎΓΗΐΉϧΑ nach dem Δ΅ΕΣΈΉ΍·ΐ΅ des Guten dem ΦΚΓΐΓ΍ΓІΗΌ΅΍ von 500c5; es handelt sich also um die Aneignung der ontologischen Gerechtigkeit und ihre Vermittlung an die Stadt und die Bürger, um eine Bestrebung, die erkenntnismäßig und zugleich ethisch ist. 73 Der Besitzer der Dialektik ist derjenige, der zwischen Gutem und Schlechtem unterscheiden kann; da er das Gute selbst geschaut hat, muss er a fortiori in den konkreten Entscheidungssituationen das jeweils Gute anerkennen und sich auch dafür entscheiden können. Sein Wissen des Guten-Einen fasst das Wissen des jeweils konkret Guten in einheitlicher Weise zusammen; daher können die Philosophenkönige das in konkreten Entscheidungen bestehende Werk der Führung der Stadt vollbringen. 74 Eine praktische Erfahrung (πΐΔΉ΍Εϟ΅) muss dabei dem theoretischen Wis_____________ Grund betont er auch sonst stets, dass für eine philosophische Natur die ethischen Qualitäten ebenso wichtig sind wie die intellektuellen (vgl. z.B. 485b-487a, 535a-540a)“. 70 Platon, Resp. 500b8-c2: „ΓЁȱ·ΣΕȱΔΓΙ,ȱИȱ̝ΈΉϟΐ΅ΑΘΉ,ȱΗΛΓΏχȱΘХȱ·ΉȱБΖȱΦΏ΋ΌЗΖȱΔΕϲΖȱ ΘΓϧΖȱΓЇΗ΍ȱΘχΑȱΈ΍ΣΑΓ΍΅ΑȱσΛΓΑΘ΍ȱΎΣΘΝȱΆΏνΔΉ΍ΑȱΉϢΖȱΦΑΌΕЏΔΝΑȱΔΕ΅·ΐ΅ΘΉϟ΅Ζ,ȱΎ΅Ϡȱΐ΅ΛϱȬ ΐΉΑΓΑȱ ΅ЁΘΓϧΖȱ ΚΌϱΑΓΙȱ ΘΉȱ Ύ΅Ϡȱ ΈΙΗΐΉΑΉϟ΅Ζȱ πΐΔϟΐΔΏ΅ΗΌ΅΍“. Zur Verbindung von

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Schauen und Erfüllung des Wahrnehmenden mit dem Gegenstand des Schauens s. die oben besprochene Geschichte des Leontios: „πΐΔΏφΗΌ΋ΘΉȱ ΘΓІȱ Ύ΅ΏΓІȱ ΌΉΣȬ ΐ΅ΘΓΖ“ („sättigt euch an dem herrlichen Anblick“). Vgl. Resp. 600a9-b5, wo die Gestaltung und pädagogische Vermittlung eines Lebensmusters (ΆϟΓΖ) als Merkmal der – zumindest vom Anspruch her – philosophischen Lehrer angesehen wird. Platon, Resp. 540a9-b1: „Δ΅Ε΅ΈΉϟ·ΐ΅Θ΍ȱΛΕΝΐνΑΓΙΖȱπΎΉϟΑУ,ȱΎ΅ϠȱΔϱΏ΍ΑȱΎ΅ϠȱϢΈ΍ЏΘ΅Ζȱ Ύ΅Ϡȱο΅ΙΘΓϿΖȱΎΓΗΐΉϧΑȱ[ΦΑ΅·Ύ΅ΗΘνΓΑ]“. Zur ϳΐΓϟΝΗ΍ΖȱΌΉХ bei Platon s. Lavecchia 2006. Vgl. van Ackeren 2004, 102-104.

3. Selbstbestimmung und Determinierung in der Aneignung der Dialektik

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sen hinzugefügt werden, 75 allerdings vor der Schau des Guten; nach dieser Schau sind die Voraussetzungen für die richtige Entscheidung gegeben. Die – im Alltag, auch des Philosophen, notwendige – Anwendung des dialektischen Wissens auf die jeweiligen Entscheidungssituationen lässt sich mit dem notwendigen periodischen Übergang der Philosophenkönige von ihrem philosophischen Leben zur Führung der Stadt parallelisieren – wie auch die Wendung „und sich selbst in Ordnung bringen“ (Ύ΅Ϡȱ ο΅ΙΘΓϿΖȱΎΓΗΐΉϧΑ) nahe legt. 3.1. Determinationsfaktoren: Die schlechte körperliche Verfassung als Ursache von seelischen Krankheiten Im Timaios führt Platon, indem er den Satz „Niemand ist freiwillig schlecht“ untermauert, einige Fehlentwicklungen vor allem des πΔ΍ΌΙΐ΋Θ΍ΎϲΑ auf körperliche Faktoren zurück, die für bestimmte Arten von schlechtem Handeln verantwortlich gemacht werden. Nach einer Analyse der körperlichen Krankheiten, werden im Tim. 86b-90d die durch körperliche Faktoren bedingten Krankheiten der Seele untersucht, sowie die geeigneten Heilmittel empfohlen. Die Krankheit der Seele kann als Unvernunft (ΩΑΓ΍΅) bestimmt werden, deren zwei Formen der Wahnsinn (ΐ΅Αϟ΅) und die Unwissenheit (Φΐ΅Όϟ΅) sind. Unter Unvernunft kann „jeder Zustand, bei dem die göttliche Vernunft (ΑΓІΖ) die ihr geziemende Kontrolle über die übrigen Seelenteile nicht ausübt“ 76 verstanden werden. Der Wahnsinn (ΐ΅Αϟ΅) entspricht wahrscheinlich dem Zustand des Menschen, der von übermäßigen Lustund Schmerzgefühlen in unvernünftiger Weise zum Streben nach der Lust und zum Vermeiden des Schmerzens hin und her gerissen wird, so dass er „rasend ist und dann am wenigsten dazu imstande, vernünftige Überlegungen anzustellen“ 77 . Im Zustand der Unwissenheit wird „das Wesen der Seele…stumpf, ungelehrig und vergesslich“ 78 . Im Folgenden (86c3-e3) wird die Entstehung des Wahnsinns erklärt. Bei manchen Menschen „entsteht viel und reichlich fließender Same am Mark“ („Θϲ...ΗΔνΕΐ΅...ΔΓΏϿȱΎ΅ϠȱϹΙЏΈΉΖȱΔΉΕϠȱΘϲΑȱΐΙΉΏϲΑȱ·ϟ·ΑΉΘ΅΍“) und dadurch entstehen die erwähnten übermäßigen Lust- und Schmerzgefühle, so dass diese Menschen aufgrund ihrer körperlichen Verfassung ihr Leben im seelischen Zustand des Wahnsinns verbringen müssen. Die „Unmäßigkeit auf sexuellem Gebiet“ (ΔΉΕϠȱΘΤȱΦΚΕΓΈϟΗ΍΅ȱΦΎΓΏ΅Ηϟ΅), die hier als Spezialfall des Wahnsinns angeführt wird, werde dadurch verursacht, dass der _____________ 75 76 77 78

Ebd. 539e1-540a1. Cornford 1956, 346. Platon, Tim. 86c2-3: „ΏΙΘΘλȱΈξȱΎ΅ϠȱΏΓ·΍ΗΐΓІȱΐΉΘ΅ΗΛΉϧΑȱϊΎ΍ΗΘ΅ȱΘϱΘΉȱΈχȱΈΙΑ΅ΘϱΖ“. Ebd., 88b4: „ΘϲȱΘϛΖȱΜΙΛϛΖȱΎΝΚϲΑȱΎ΅ϠȱΈΙΗΐ΅ΌξΖȱΦΐΑϛΐϱΑȱΘΉ“.

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D. Die Bestimmung der ethischen Schlechtigkeit bei Platon und Proklos

übermäßig produzierte Same „auf Grund der Porösität der Knochen“ („ЀΔϲȱΐ΅ΑϱΘ΋ΘΓΖȱϴΗΘЗΑ“) den Körper durchdringt und befeuchtet. 79 Die Aussage wird übrigens durch die Wörter „Ύ΅ΘΤȱΘϲȱΔΓΏϿȱΐνΕΓΖ“ relativiert. Dies bedeutet für Timaios, dass die „Unbeherrschtheit in Lüsten“ (ψΈΓΑЗΑȱ ΦΎΕΣΘΉ΍΅) mit Unrecht als freiwillig bezeichnet und getadelt wird, da sie eine durch den Körper verursachte Krankheit der Seele ist. Die übermäßigen Schmerzen wiederum, die ebenfalls die ΐ΅Αϟ΅ der Seele bewirken, werden auf Dämpfe mancher Säfte des Körpers zurückgeführt, die sich mit der Seele mischen und dadurch bei den drei Seelenteilen Fehlentwicklungen bewirken, namentlich Verdriesslichkeit (ΈΙΗΎΓΏϟ΅) und Missmut (ΈΙΗΌΙΐϟ΅), Verwegenheit (ΌΕ΅ΗϾΘ΋Θ΅) und Feigheit (ΈΉ΍Ώϟ΅), Vergesslichkeit (ΏφΌ΋) und Begriffsstutzigkeit (ΈΙΗΐ΅Όϟ΅) respektive. „Denn freiwillig ist niemand schlecht, sondern durch eine bestimmte nachteilige Beschaffenheit seines Körpers und eine ungebildete Erziehung wird der Schlechte schlecht. Das alles ist aber jedem zuwider und widerfährt ihm wider seinen Willen“. 80 Wie in 88b5-89a3 und vor allem in 89d2-90d7 gezeigt wird, sind die einzig geeigneten Heilmittel (Έϟ΅΍Θ΅΍,ȱ ·ΙΐΑ΅ΗΘ΍ΎφȬΐΓΙΗ΍ΎφȬΚ΍ΏΓΗΓΚϟ΅) für die erwähnten psychosomatischen Störungen in der Erziehung, vor allem der jungen Menschen, zu finden. Die Erziehung aber wird im Rahmen der Stadt organisiert, so dass eine schlechte Stadt den Jungen eine „ungebildete Erziehung“ (ΦΔ΅ϟΈΉΙΘΓΖȱΘΕΓΚφ) anbieten wird. Daher „werden wir auf diese Weise alle, die wir schlecht sind, durch zwei völlig unbeabsichtigte Umstände schlecht“,81 nämlich wegen der schlechten körperlichen Verfassung und der schlechten Erziehung, für die eher die erwachsenen Bürger verantwortlich sind. 3.1.1. Die Reaktionsmöglichkeiten des Menschen: Selbsterziehung zum Guten Der angeführte Gedankengang scheint die ethische Freiheit des Menschen – zumindest in Bezug auf die Schlechtigkeit – sehr einzuschränken. Andererseits lässt sich aber bemerken, dass die besondere Hervorhebung des Einflusses des Körpers auf die Entwicklung des Menschen, die in keinem anderen Dialog so zu finden ist, zum Teil mit dem Charakter des Timaios als einer kosmologischen Abhandlung zusammenhängt. 82 Ferner wird im Timaios nicht gesagt, „alle geistige Unordnung sei auf körperliche Zustände allein _____________ 79 Vgl. ebd., 91b1-4. 80 Ebd. 86d7-e2: „̍΅ΎϲΖȱΐξΑȱ·ΤΕȱοΎАΑȱΓЁΈΉϟΖ,ȱΈ΍ΤȱΈξȱΔΓΑ΋ΕΤΑȱρΒ΍ΑȱΘ΍ΑΤȱΘΓІȱΗЏΐ΅ΘΓΖȱ Ύ΅ϠȱΦΔ΅ϟΈΉΙΘΓΑȱΘΕΓΚχΑȱϳȱΎ΅ΎϲΖȱ·ϟ·ΑΉΘ΅΍ȱΎ΅ΎϱΖ,ȱΔ΅ΑΘϠȱΈξȱΘ΅ІΘ΅ȱπΛΌΕΤȱΎ΅ϠȱΩΎΓΑΘ΍ȱ ΔΕΓΗ·ϟ·ΑΉΘ΅΍“. Tim. 87b3-4: „Ύ΅ΎΓϠȱΔΣΑΘΉΖȱΓϡȱΎ΅ΎΓϠȱΈ΍ΤȱΈϾΓȱΦΎΓΙΗ΍ЏΘ΅Θ΅ȱ·΍·ΑϱΐΉΌ΅“.

81 82 Cornford 1956, 347.

3. Selbstbestimmung und Determinierung in der Aneignung der Dialektik

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zurückzuführen“ 83 , sondern eher, dass die Unbeherrschtheit, wenn sie durch körperliche Störungen und schlechte Erziehung verursacht ist, dem freien Willen nicht zugeschrieben werden soll. 84 Aber selbst in diesem Fall wird dem einzelnen Menschen die Möglichkeit, sich gegen die körperlichen Störungen und die schlechte Erziehung zu wehren, nicht grundsätzlich abgesprochen: Nachdem die Verantwortung den erwachsenen Erziehern zugeschrieben wird, wird noch im selben Satz gesagt: „Und gewiss muss man sich, so gut man kann, bemühen, durch Erziehung, Beschäftigungen und Kenntnisse der Schlechtigkeit zu entrinnen und ihres Gegenteils habhaft zu werden“ 85 . Die Ausführungen über die Heilmittel gegen das Missverhältnis zwischen Leib und Seele (87d1-89d1) sowie gegen das Missverhältnis zwischen den drei Seelenteilen (89d2-90d7) sind wahrscheinlich als Anweisungen an jenen Menschen aufzufassen, der sich wehren bzw. als Erzieher seiner selbst sich heilen will. 86 In der ΔΕΓΌΙΐϟ΅ des Menschen liegt hier seine Freiheit 87 ; weil er zum Guten trachten kann, ist er für seine Schlechtigkeit indirekt verantwortlich 88 . Die Unfreiwilligkeit der Schlechtigkeit bedeutet weder seine Zwanghaftigkeit noch hebt sie die Freiwilligkeit des Gerechtwerdens auf. Das Endziel dieser Bemühung bzw. dieses Strebens (ΗΔΓΙΈφ, ΔΕΓΌΙΐϟ΅) ist, gemäß Tim. 90b6-d7, die Erkenntnis und die wahren Einsichten (ΦΏ΋ΌΉϧΖȱ ΚΕΓΑφΗΉ΍Ζ): Der Strebende „muss mit unbedingter Notwendigkeit, wenn er die Wahrheit berührt, unsterbliche und göttliche Gedanken haben, und, soweit es der menschlichen Natur möglich ist, der Unsterblichkeit teilhaftig werden“ 89 . Diese Sätze sind mit Schilderungen des Zustandes des Dialektikers in der Politeia durchaus vergleichbar, auch wenn sie die einschlägigen termini technici nicht _____________ 83 Cornford 1956, 346. Für diese Einschränkung sprechen die oben erwähnten relativierenden Elemente. 84 Ebd., 348. 85 Tim. 87b6-9: „ΔΕΓΌΙΐ΋ΘνΓΑȱ ΐφΑ,ȱ ϵΔϙȱ Θ΍Ζȱ ΈϾΑ΅Θ΅΍,ȱ Ύ΅Ϡȱ Έ΍Τȱ ΘΕΓΚϛΖȱ Ύ΅Ϡȱ Έ΍’ȱ πΔ΍Θ΋Ȭ ΈΉΙΐΣΘΝΑȱΐ΅Ό΋ΐΣΘΝΑȱΘΉȱΚΙ·ΉϧΑȱΐξΑȱΎ΅Ύϟ΅Α,ȱΘΓЁΑ΅ΑΘϟΓΑȱΈξȱοΏΉϧΑ“. 86 S. in Bezug auf die psychosomatischen Störungen: „Δ΅΍Έ΅·Ν·ΉϧΑȱ ΈΉϧȱ Έ΍΅ϟΘ΅΍Ζȱ ΔΣΑΘ΅ȱ ΘΤȱΘΓ΍΅ϾΘ΅ȱ[sc.ȱΑΓΗφΐ΅Θ΅],ȱΎ΅Ό’ȱϵΗΓΑȱΪΑȱϖȱΘУȱΗΛΓΏφ“ (89c8); „Έ΍΅Δ΅΍Έ΅·Ν·ΓϾΐΉΑΓΖȱЀΚ’ȱ ΅ЀΘΓІ“ (89d3-4). 87 In Bezug auf die Heilung vgl. Friedländer 1960, 253: „Eine neue Denk- und Ausdrucksform, die sonst dem Timaios fehlt, herrscht an dieser Stelle: das ‚Sollen’ (ΈΉϧ,ȱΈνΓΑ)…Durch die Ananke ist Unvollkommenheit in der Welt. Einen Teil dieser Unvollkommenheit zur Vollkommenheit umzuschaffen hat der Mensch in seiner Gewalt; mehr als das: Dieses ist…seine welthafte Aufgabe“. 88 S. Brisson 1994, 454f. 89 Platon, Tim. 90c1-4: „ΚΕΓΑΉϧΑȱΐξΑȱΦΌΣΑ΅Θ΅ȱΎ΅ϠȱΌΉϧ΅,ȱΩΑΔΉΕȱΦΏ΋ΌΉϟ΅ΖȱπΚΣΔΘ΋Θ΅΍,ȱ ΔκΗ΅ȱΦΑΣ·Ύ΋ȱΔΓΙ,ȱΎ΅Ό’ȱϵΗΓΑȱΈ’ȱ΅ЇȱΐΉΘ΅ΗΛΉϧΑȱΦΑΌΕΝΔϟΑϙȱΚϾΗΉ΍ȱΦΌ΅Α΅Ηϟ΅ΖȱπΑΈνΛΉΘ΅΍,ȱ ΘΓϾΘΓΙȱΐ΋ΈξΑȱΐνΕΓΖȱΦΔΓΏΉϟΔΉ΍Α“.

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D. Die Bestimmung der ethischen Schlechtigkeit bei Platon und Proklos

gebrauchen. 90 Dennoch werden im Timaios als geeignete Gegenstände des Wissens der Vernunftseele nur „die Gedanken und Umläufe des Alls“ 91 angegeben, durch deren Studium die Ordnung der bei der Erzeugung des Menschen in seinem Kopf beeinträchtigten Umläufe (ΔΉΕϟΓΈΓ΍) 92 wieder hergestellt wird. Vielleicht hängt auch das Ausbleiben eines ausgesprochenen Hinweises auf die Dialektik mit der kosmologischen Thematik des Dialoges zusammen. 3.2. Die philosophische ΚϾΗ΍Ζȱund der Einfluss der sozialen Umwelt Der im Timaios angesprochene Einfluss der schlechten Erziehung durch die Stadt soll jetzt in der Politeia, wo er ausführlich thematisiert wird, in Bezug auf sein Verhältnis zur Selbstbestimmung des einzelnen Menschen untersucht werden. Das Thema der zu besprechenden Ausführungen in der Politeia wird folgendermaßen umrissen: „Wir müssen nun die Verderbnisse dieser Naturanlage betrachten…, wie sie bei vielen von ihnen auftreten. Nur ein kleiner Teil entgeht dem“ 93 . Im Mittelpunkt steht der Einfluss einer schlechten Erziehung, vor allem durch die Stadt, auf die Entwicklung desjenigen jungen Menschen, der von seiner Natur her „ΘΉΏνΝΖȱ ΐνΏΏΓ΍ȱ Κ΍ΏϱΗΓΚΓΖȱ ·ΉΑνΗΌ΅΍“ 94 . Die hier geschilderte Wechselwirkung zwischen einer gleichsam angeborenen Anlage, der philosophischen Natur (Κ΍ΏϱΗΓΚΓΖȱΚϾΗ΍Ζ), einerseits, und einem von außen her dem einzelnen Menschen zukommenden Zwangsfaktor andererseits bietet sich m.E. an für die Behandlung der Frage, welche Rolle die Selbstbestimmung im Prozess der Aneignung des philosophischen Wissens spielt. Diese Frage ist ihrerseits, wie schon gesagt, zum besseren Verständnis der Frage nach der Rolle der Selbstbestimmung in der platonischen Bestimmung der ethischen Handlung überhaupt ausschlaggebend.

_____________ 90 Fast am Anfang dieses Abschnittes über die Heilmittel für die Seele wird gesagt, dass eine genaue Darstellung der Erziehungskunst ein eigenes Werk beanspruchen würde (89d7-e1). Gemeint ist wahrscheinlich die Politeia (s. Cornford 1956, 352-353). 91 Tim. 90c8-d1: „΅ϡȱΘΓІȱΔ΅ΑΘϲΖȱΈ΍΅ΑΓφΗΉ΍ΖȱΎ΅ϠȱΔΉΕ΍ΚΓΕ΅ϟ“. 92 Vgl. ebd., 43c7-44b1. 93 Platon, Resp. 490e2-3: „̖΅ϾΘ΋Ζȱ Έφ,...ΘϛΖȱ [Κ΍ΏΓΗϱΚΓΙ]ȱ ΚϾΗΉΝΖȱ ΈΉϧȱ ΌΉΣΗ΅ΗΌ΅΍ȱ ΘΤΖȱ ΚΌΓΕΣΖ,ȱБΖȱΈ΍ϱΏΏΙΘ΅΍ȱπΑȱΔΓΏΏΓϧΖ,ȱΗΐ΍ΎΕϲΑȱΈνȱΘ΍ȱπΎΚΉϾ·Ή΍“. 94 Ebd., 491a9-b1.

3. Selbstbestimmung und Determinierung in der Aneignung der Dialektik

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3.2.1. Merkmale der philosophischen Natur Aus der Erörterung der philosophischen Natur im Abschnitt 485a4-487a5 ergibt sich, dass sie bzw. ihr Träger lernbegierig sein muss, und zwar nicht nach beliebigen Gegenständen einer Vielwisserei 95 , sondern nach der Unterweisung, die ihm das ewig seiende, vom Werden und Vergehen unbeirrbare Wesen offen legt. 96 Aufgrund seiner Wissbegierde liebt er die Wahrheit (485c3-d4); da seine Begierde (πΔ΍ΌΙΐϟ΅) dem Wissen gilt, strebt er nicht nach körperlichen Lüsten oder nach Geld (485d3-e3). Weil seine Wissbegierde sich auf die Ganzheit von Göttlichem und Menschlichem, auf die Ganzheit von Zeit und Wesen richtet, ist in seinen Augen das Menschenleben nichts Großes und selbst der Tod nichts Schreckliches. Daher ist ihm jede Kleinlichkeit, Feigheit, Geizigkeit – sowie Übermut, Rohheit und Ungerechtigkeit – fremd (486a4-b9). Notwendige Voraussetzung für die Aneignung des philosophischen Wissens sind darüber hinaus eine große Lernfähigkeit und ein gutes Gedächtnis, Maßhalten (πΐΐΉΘΕϟ΅) und Bildung (486c3-d11). Eine von Natur aus so begabte Denkart (Έ΍ΣȬ ΑΓ΍΅) „lässt sich mühelos und von selbst zur Idee jedes Seienden hinlenken“ 97 . Dass bei einem Menschen eine derartige ΚϾΗ΍Ζ vorliegt, kann erst festgestellt werden, wenn dieser nicht mehr all zu jung ist. 98 Diese Natur muss dann durch Erziehung und Erfahrung (Δ΅΍ΈΉϟθȱΎ΅Ϡȱ ψΏ΍Ύϟθ) vervollkommnet werden. 99 Sie ist nicht statisch, als eine Gegebenheit, aufzufassen; sie muss wachsen um zu werden, was sie ist. In diesem Sinne sind die angegebenen Charakteristika der philosophischen Natur zugleich als Voraussetzungen und als Ziele der Aneignung der Dialektik zu verstehen. Unerschütterlich besitzt sie erst der voll ausgebildete Dialektiker, während sie dem Anfänger keimhaft innewohnen. Solche Naturen wachsen (ΚϾΓȬ ΑΘ΅΍) nur sehr selten unter den Menschen. 100

_____________ 95 Vgl. 490a9-b1: Der philosophisch veranlagte „bleibt nicht bei dem vielen Einzelnen stehen, das vermeintlich seiend ist“ („ΓЁΎȱπΔ΍ΐνΑΓ΍ȱπΔϠȱΘΓϧΖȱΈΓΒ΅ΊΓΐνΑΓ΍ΖȱΉϨΑ΅΍ȱΔΓΏΏΓϧΖȱοΎΣΗΘΓ΍Ζ“ ). 96 Ebd., 485b1-3. 97 Ebd., 486d10-11: „πΔϠȱΘχΑȱΘΓІȱϷΑΘΓΖȱϢΈν΅ΑȱοΎΣΗΘΓΙȱΘϲȱ΅ЁΘΓΚΙξΖȱΉЁΣ·Ν·ΓΑȱΔ΅ΕνΒΉ΍“; vgl. Szaif 2004, 186-193. 98 Ebd., 486b10-11. 99 Ebd., 487a7-8. 100 Ebd., 491a9-b2.

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D. Die Bestimmung der ethischen Schlechtigkeit bei Platon und Proklos

3.2.2. Das Aufwachsen einer philosophischen Natur im „schlechten“ Staat Athen Gerade seine Verwandtschaft mit den Kardinaltugenden (487a4-5) führt den philosophisch veranlagten Menschen von der Philosophie weg, wenn dieser in einem schlechten Staat aufwächst und dazu die „sogenannten Güter“ („ΏΉ·ϱΐΉΑ΅ȱ Φ·΅ΌΣ“), nämlich „Schönheit und Reichtum und Körperkraft und eine Verwandtschaft, die in der Stadt große Macht hat“ 101 , besitzt. Dabei weist Sokrates seinen Gesprächspartner auf ein bekanntes Beispiel; sehr wahrscheinlich handelt es sich im Folgenden um Alkibiades. Die öffentliche „Moral“ einer Stadt beeinflusst nach Sokrates die Seele eines jungen Menschen am meisten, mehr als die verderbende Erziehung durch einen Sophisten oder als irgendeine Form von guter Privaterziehung: Die Menge ist der größte Sophist. Die Bewertungen von Taten oder Worten durch Lob und Tadel der Menge, Bewertungen, die selbst durch die Todesstrafe durchsetzbar sind, werden ihn trotz aller guten Privaterziehung dazu bringen, dass er „wohl dieselben Dinge schön oder hässlich nennen und dasselbe Streben haben wie die Menge und ganz so werden wie sie“ wird. 102 Durch seine außerordentliche Begabung wird der philosophisch veranlagte Mensch schon als Kind „unter allen der erste sein“ („ΔΕЗΘΓΖȱσΗΘ΅΍ȱπΑȱ ΧΔ΅Η΍Α“, 494b5-6), so dass er von seinen Mitbürgern zur Beschäftigung mit der Politik motiviert und sogar wegen seines voraussehbaren Erfolges schon geehrt wird und ihm geschmeichelt wird. Wenn auch die erwähnten „sogenannten Güter“ dazu kommen, wird der junge Mensch sich bestimmt in die Politik stürzen, vor allem wenn er in einer großen Stadt wie Athen lebt, und dadurch wird er von „maßloser Hoffnung“ („Φΐ΋ΛΣΑΓΙȱ πΏΔϟΈΓΖ“), von Verstellung und „von eitlen und einsichtslosen Vorstellungen und Gedanken“ („ΗΛ΋ΐ΅Θ΍ΗΐΓІȱ Ύ΅Ϡȱ ΚΕΓΑφΐ΅ΘΓΖȱ ΎΉΑΓІȱ ΩΑΉΙȱ ΑΓІ“) erfüllt. 103 Da jedes Lebewesen durch ungeeignete Ernährung verschlechtert wird, so wird die beste Natur durch die schlechte Erziehung - die für sie die ungeeignetste _____________ 101 Ebd., 491b7-c4: „ΎΣΏΏΓΖȱΎ΅ϠȱΔΏΓІΘΓΖȱΎ΅ϠȱϢΗΛϿΖȱΗЏΐ΅ΘΓΖȱΎ΅ϠȱΗΙ··νΑΉ΍΅ȱπΕΕΝΐνΑ΋ȱ πΑȱΔϱΏΉ΍“; vgl. 494c5-7; 495a4-8. 102 Ebd. 492c6-8: „ΚφΗΉ΍ΑȱΘΉȱΘΤȱ΅ЁΘΤȱΘΓϾΘΓ΍ΖȱΎ΅ΏΤȱΎ΅Ϡȱ΅ϢΗΛΕΤȱΉϨΑ΅΍,ȱΎ΅ϠȱπΔ΍Θ΋ΈΉϾΗΉ΍Αȱ ΧΔΉΕȱΪΑȱΓЈΘΓ΍,ȱΎ΅ϠȱσΗΉΗΌ΅΍ȱΘΓ΍ΓІΘΓΑ“. Die Bewertungen der Menge machen übrigens den Inhalt der Lehre der berufsmäßigen Sophisten aus, denn die Έϱ·ΐ΅Θ΅ und die πΔ΍ΌΙΐϟ΅΍ der Menge sind das Kriterium, nach dem die Sophisten zwischen gut und schlecht unterscheiden. Da die Έϱ·ΐ΅Θ΅ und die πΔ΍ΌΙΐϟ΅΍ (oder die ϴΕ·χ und die ψΈΓΑ΅Ϡ - 493d1) der Menge durch den Zwang der grenzenlosen Macht derselben durchgesetzt werden, fällt für den Sophisten das Gute mit dem Notwendigen zusammen, „ΘχΑȱΈξȱΘΓІȱΦΑ΅·Ύ΅ϟΓΙȱΎ΅ϠȱΦ·΅ΌΓІȱΚϾΗ΍Α,ȱϵΗΓΑȱΈ΍΅ΚνΕΉ΍ȱ ΘХȱϷΑΘ΍,ȱΐφΘΉȱοΝΕ΅ΎАΖȱΉϥ΋ȱΐφΘΉȱΩΏΏУȱΈΙΑ΅ΘϲΖȱΈΉϧΒ΅΍“ (ebd., 493a6-c8). 103 Ebd., 493a11-d2.

3. Selbstbestimmung und Determinierung in der Aneignung der Dialektik

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Ernährung ist – aufs Äußerste korrumpiert: „Die Seelen, die am besten veranlagt sind, werden besonders schlecht, wenn sie eine schlechte Erziehung bekommen“ 104 . Gerade die so verdorbenen philosophischen Naturen verursachen die allergrößten Übel für die Bürger und die Städte, während eine schwache Natur weder große Wohltaten noch große Übel bewirken kann. 105 3.2.3. Der determinierende Einfluss der schlechten Erziehung auf die wachsende philosophische Natur Zusammenfassend ließen sich folgende Beobachtungen anführen: 1. Der Einfluss der schlechten Erziehung im Rahmen einer schlechten Stadt, 106 der im Timaios neben dem dort außerordentlich hervorgehobenen Einfluss von körperlichen Faktoren als zweite Ursache der ethischen Schlechtigkeit angeführt wird, wird im vorgestellten Abschnitt der Politeia als nahezu unwiderstehlich dargestellt, und zwar in Bezug auf die philosophische Natur. Sogar der Versuch, sagt Sokrates, der durch die Bewertungen der Menge geleiteten schlechten Erziehung mit einer privaten Erziehung entgegenzusteuern, sei unsinnig. Eine „Änderung der Gesinnung“, die durch eine von den Beurteilungen der Menge gesteuerte Erziehung schon geprägt wurde, „zur Tüchtigkeit“ (ΦΏΏΓϧΓΑȱώΌΓΖȱΔΕϲΖȱΦΕΉΘχΑ, 492e5) lasse sich nicht verwirklichen. 2. Der Einfluss der Menge bezieht sich wie gesagt auf Bewertungen. Die dem jungen Menschen vermittelten Bewertungen der Menge sind nicht durch Wissen, sondern durch Affekte, vor allem durch Lust und Missvergnügen gesteuert. Die Aneignung selbst ist anscheinend gleichfalls durch nicht rationale Antriebe, vor allem durch die von der Macht der Menge verursachte Angst und den Zwang, motiviert. 107 Aus der Aneignung von bestimmten Bewertungen ergibt sich gleichsam von selbst das entsprechende Handeln, und letzteres prägt die ethische Qualität des Menschen: 108 Die Entwicklung des Menschen in Bezug auf Tugend und _____________ 104 Ebd., 491e1-3: „ΘΤΖȱΜΙΛΤΖȱΓЂΘΝȱΚЗΐΉΑȱΘΤΖȱΉЁΚΙΉΗΘΣΘ΅ΖȱΎ΅ΎϛΖȱΔ΅΍Έ΅·Ν·ϟ΅ΖȱΘΙΛΓϾȬ Η΅ΖȱΈ΍΅ΚΉΕϱΑΘΝΖȱΎ΅ΎΤΖȱ·ϟ·ΑΉΗΌ΅΍“. 105 Ebd., 495b3-6. Zum Verhältnis von Natur und Erziehung bei Platon allgemein s. Mannsperger 1969, 219-228. 106 Für Platon sind alle griechischen Städte seiner Zeit der philosophischen Natur unwürdig (s. ebd., 497b1-2). 107 S. Platon, Resp. 492c2-6: „Wie muss es…einem Jüngling ums Herz sein, wie man zu sagen pflegt?“ (ΘϲΑȱΑνΓΑ,ȱΘϲȱΏΉ·ϱΐΉΑΓΑ,ȱΘϟΑ΅ȱΓϥΉ΍ȱΎ΅ΕΈϟ΅ΑȱϥΗΛΉ΍Α); ebd., 493b8-c6. 108 Ebd., 492c6-7.

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D. Die Bestimmung der ethischen Schlechtigkeit bei Platon und Proklos

Schlechtigkeit hängt also von den eigenen Meinungen über gut und schlecht ab. In ähnlicher Weise wird im Theaitetos die Entwicklung eines jungen Menschen – hier eines nicht philosophisch begabten – zum Rhetor und zum Politiker geschildert. Endpunkt dieser Entwicklung ist die Umwertung der ethischen Werte: 109 „Wer also Ungerechtes und Gottloses redet und tut, dem ist es bei weitem am besten, man gebe ihm nicht zu, er habe es zur Meisterschaft gebracht mit arglistigem Wesen; denn sie freuen sich über den Vorwurf und glauben zu hören, dass sie nicht Toren sind, unnütze Lasten der Erde, sondern Männer, wie die sein müssen, die im Staate gerettet werden sollen.“ 110 Hauptantrieb dieser Entwicklung ist gleichfalls die Angst vor einem Herrscher, dem gekonnt geschmeichelt und der bedient werden muss (173a1-3). Dieser Herrscher steht für die Richter, da die in Rede stehenden Menschen schon sehr jung vor dem Gerichtshof tätig sind. Die Richter aber repräsentierten in Athen _____________ 109 Zur Umwertung in anderen Dialogen, s. Scott 1999, 30-32. 110 176d2-5: „ΘХȱΓЇΑȱΦΈ΍ΎΓІΑΘ΍ȱΎ΅ϠȱΦΑϱΗ΍΅ȱΏν·ΓΑΘ΍ȱύȱΔΕΣΘΘΓΑΘ΍ȱΐ΅ΎΕХȱΩΕ΍ΗΘ’ȱσΛΉ΍ȱΘϲȱ ΐχȱΗΙ·ΛΝΕΉϧΑȱΈΉ΍ΑХȱЀΔϲȱΔ΅ΑΓΙΕ·ϟ΅ΖȱΉϨΑ΅΍аȱΦ·ΣΏΏΓΑΘ΅΍ȱ·ΤΕȱΘХȱϴΑΉϟΈΉ΍ȱΎ΅ϠȱΓϥΓΑΘ΅΍ȱ ΦΎΓϾΉ΍Αȱ ϵΘ΍ȱ ΓЁȱ ΏϛΕΓϟȱ ΉϢΗ΍,ȱ ·ϛΖȱ ΩΏΏΝΖȱ ΩΛΌ΋,ȱ ΦΏΏ’ȱ ΩΑΈΕΉΖȱ ΓϣΓΙΖȱ ΈΉϧȱ πΑȱ ΔϱΏΉ΍ȱ ΘΓϿΖȱ ΗΝΌ΋ΗΓΐνΑΓΙΖ“. Was den Stellenwert der Erkenntnis im ethischen Werdegang

anbelangt, lässt sich zunächst beobachten, dass die geschilderte Umkehrung der ethischen Werte als Ergebnis der Unkenntnis beschrieben wird, und zwar der Unkenntnis der wahren Strafe der Ungerechtigkeit (Angleichung an das gottlose Δ΅ΕΣΈΉ΍·ΐ΅) einerseits (176d6-177a8), und der Unkenntnis des Gerecht-Werdens als Angleichung an Gott andererseits (176c3-5: „ψȱ ΐξΑȱ ·ΤΕȱ ΘΓϾΘΓΙȱ ·ΑЗΗ΍Ζȱ ΗΓΚϟ΅ȱ Ύ΅ϠȱΦΕΉΘχȱΦΏ΋ΌφΖ,ȱψȱΈξȱΩ·ΑΓ΍΅ȱΦΐ΅Όϟ΅ȱΎ΅ϠȱΎ΅Ύϟ΅ȱπΑ΅Ε·φΖ“). Zur ethischen Bedeutung der Unkenntnis in diesem Satz s. Zucker 1963, 51: „Religiös-sittliche Unkenntnis (in Einheit mit der Disposition zu entsprechendem Handeln): Plat. Theaetet. 176c (voraus geht der berühmte Satz von der ϳΐΓϟΝΗ΍ΖȱΌΉХ mit der Feststellung, dass die Gottheit den höchstmöglichen Grad von Gerechtigkeit darstellt und dass ihr am ähnlichsten ist, wer so gerecht als möglich)…Hier ist interessant und wichtig, wie die zwei nächstverwandten geistig-sittlichen Begriffe auf Grund des Sprachgebrauches gegeneinander abgegrenzt sind: Ω·ΑΓ΍΅ wird zahllose Male im rein intellektuellen Sinn verwendet, so auch hier; dagegen überwiegt bei Φΐ΅Όϟ΅ȱder sittliche Bedeutungsgehalt, daher hier ‚Unfähigkeit zum sittlichen Handeln’, verbunden mit Ύ΅Ύϟ΅ ‚unsittlicher Charakter’. (Entsprechend Φΐ΅Ό΅ϟΑΉ΍Α Plat. Leg. 863c: „ϵΘ΅ΑȱΦΐ΅Ό΅ϟΑϙȱΘ΍ΖȱΐχȱΐϱΑΓΑȱ Φ·ΑΓϟθȱ ΗΙΑΉΛϱΐΉΑΓΖ“)“. Ein weiterer wichtiger Punkt in Bezug auf die Rolle der philosophischen Natur liegt in dem auffälligen Unterschied zwischen diesem Abschnitt und der Alkibiades-Rede im Symposion: Während in Theaitetos die schlechte Erziehung in den Gerichtshöfen auf eine Umkehrung der ethischen Werte bei den jungen Rednern hinausläuft, so dass sie das unbestrafte Unrechttun als größten Erfolg betrachten, bleibt bei einer philosophischen Natur ein Zugang zur Wahrheit offen. Sooft nämlich ein solcher Mensch in Kontakt mit dem philosophischen Leben kommt, spürt er wegen seiner naturmäßigen Verwandtschaft mit diesem Leben die Wahrheit desselben und seine Anziehungskraft; im Fall des Alkibiades unterliegt dieses Spüren dennoch dem Einfluss der sozialen Umgebung.

3. Selbstbestimmung und Determinierung in der Aneignung der Dialektik

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die Menge. Die Knechtschaft unter diesem Herrscher beeinträchtigt bei diesen jungen Menschen das gesunde freie Wachstum, „indem sie…die noch zarten Seelen in große Gefahren und Besorgnisse verwickelt, welche sie ohne Verletzung des Gerechten und Wahren nicht überstehen können, und daher sogleich zur Lüge und zum gegenseitigen Unrechttun sich hinwendend“ sehr „verbogen und verkrüppelt werden“ 111 . Auch hier also wird die falsche Bewertung von Handlungen auf den sich durch Angst und Zwang durchsetzenden Einfluss der Menge auf junge Menschen zurückgeführt. 3.2.4. Die „Hilfe Gottes“ als Brechung der Determinierung Diese Determinierung der Entwicklung des Menschen durch einen äußeren Zwangsfaktor bzw. durch das Zusammenspiel von naturhafter Anlage und demselben, wird dreimal gleichsam durch Berufung auf Gott relativiert. Die Hilfe Gottes, das ΌΉϧΓΑȱώΌΓΖ und die ΌΉΓІȱΐΓϧΕ΅ stellen unter den aufgeführten Bedingungen die einzige Möglichkeit einer philosophischen Natur dar, der schlechten Determinierung zu entgehen. 112 Dazu kommt auch die Aussage des Sokrates, dass er selbst durch sein Έ΅΍ΐϱΑ΍ΓΑȱ Η΋ΐΉϧΓΑ der Beschäftigung mit der Politik entkommen ist. 113 Da das Eine-Gute sich als ΌΉϲΖ manifestiert, 114 können vielleicht diese Berufungen mit der Verwandtschaft der philosophischen Natur zur Philosophie 115 als Wissenschaft des Guten verknüpft werden; ein Mensch von philosophischer Natur „bleibt nicht bei dem vielen Einzelnen stehen, das vermeintlich seiend ist; er geht weiter und lässt sich nicht entmutigen und ermattet nicht in seinem Liebesverlangen, bis er die Natur eines jeglichen selbst in dem, was es wirklich _____________ 111 173a5-9: „ΐΉ·ΣΏΓΙΖȱΎ΍ΑΈϾΑΓΙΖȱΎ΅ϠȱΚϱΆΓΙΖȱσΘ΍ȱΥΔ΅Ώ΅ϧΖȱΜΙΛ΅ϧΖȱπΔ΍ΆΣΏΏΓΙΗ΅ȱ[ψȱπΎȱ ΑνΝΑȱΈΓΙΏΉϟ΅],ȱΓЂΖȱΓЁȱΈΙΑΣΐΉΑΓ΍ȱΐΉΘΤȱΘΓІȱΈ΍Ύ΅ϟΓΙȱ Ύ΅ϠȱΦΏ΋ΌΓІΖȱЀΔΓΚνΕΉ΍Α,ȱ ΉЁΌϿΖȱ πΔϠȱ Θϲȱ ΜΉІΈϱΖȱ ΘΉȱ Ύ΅Ϡȱ Θϲȱ ΦΏΏφΏΓΙΖȱ ΦΑΘ΅Έ΍ΎΉϧΑȱ ΘΕΉΔϱΐΉΑΓ΍ȱ ΔΓΏΏΤȱ ΎΣΐΔΘΓΑΘ΅΍ȱ Ύ΅Ϡȱ ΗΙ·ΎΏЗΑΘ΅΍“.

112 Zur Hilfe Gottes bei Platon s. Wichmann 1917, 60-61; Zeitler 1983, 81-84. 113 Platon, Resp. 496c3-5. 114 S. Krämer 1959, 543; vgl. den Anhang „God in the unwritten doctrines of Plato“ bei Barimah-Apau 1989, 269-285 (zur Verbindung von Elementen der Prinzipienlehre mit der in der Politeia ausgeführten Ethik, die von H.J. Krämer vorgenommen wurde, in Bezug auf das Problem des Schlechten vgl. Santi 2002, 181: „Sowohl auf der Ebene der Stadt wie auch auf der Ebene der Seele, bedeutet ‚aus den Vielen Eins machen’ Gerechtigkeit und Tugend realisieren, während ‚das Eine in Vielen auflösen’ Ungerechtigkeit und Schlechtigkeit realisieren bedeutet. So besteht das Gute in der Einheit und das Schlechte in der Vielheit“). 115 Ebd., 494d9-e2.

134

D. Die Bestimmung der ethischen Schlechtigkeit bei Platon und Proklos

ist,…berührt hat“ 116 , da die Philosophie sich auf die eine Idee und nicht auf ihre vielen Abbilder richtet 117 . Ferner könnte vielleicht diese Verwandtschaft mit der Erzählung von der Befreiung des ersten Fliehenden aus der Höhle im Höhlengleichnis in Verbindung gebracht werden. Mit der ΔΉΕ΍΅·Ν·χ dieses ersten Fliehenden ist ein Zwang verbunden: „Wenn einer aus den Fesseln gelöst und genötigt würde, plötzlich aufzustehen, den Hals zu wenden, zu gehen und gegen das Licht zu schauen…“ 118 . Nach seiner Rückkehr in die Höhle versucht der Geflohene, die anderen Bewohner der Höhle zur Befreiung zu „zwingen“. Dieser Zwang erinnert an denjenigen, durch den die ausgebildeten Dialektiker das Licht der Seele zum Guten selbst richten: Man muss „sie nötigen, das Augenlicht der Seele emporzurichten und auf das selbst hinzublicken, was allem Licht verleiht. Und wenn sie das Gute selbst gesehen haben…“ 119 . Der philosophisch Begabte „lässt sich umlenken und fühlt sich hingezogen zur Philosophie“ 120 wegen seiner Verwandtschaft mit ihr, und selbst wenn er sie verlassen hat wird er von ihr berührt. 121 Vielleicht sind die Motive der Hilfe Gottes und des Zwanges als Aspekte der Verwandtschaft der philosophischen Natur zur Philosophie zu verstehen, einer Verwandtschaft, die in der Vernunftseele zu verorten ist, in „jenem Teil seiner Seele…, dem es zukommt, sie zu berühren, weil er von derselben Art ist. Hat er sich mit ihm dem wahrhaft Seienden genähert, sich mit ihm vermählt und Einsicht und Wahrheit gezeugt, so erlangt er wahre Erkenntnis und wahres Leben und Wachstum“ 122 . _____________ 116 Ebd., 490a9-b3: „ΓЁΎȱπΔ΍ΐνΑΓ΍ȱπΔϠȱΘΓϧΖȱΈΓΒ΅ΊΓΐνΑΓ΍ΖȱΉϨΑ΅΍ȱΔΓΏΏΓϧΖȱοΎΣΗΘΓ΍Ζ,ȱΦΏΏ’ȱ ϥΓ΍ȱΎ΅ϠȱΓЁΎȱΦΐΆΏϾΑΓ΍ΘΓȱΓЁΈ’ȱΦΔΓΏφ·Γ΍ȱΘΓІȱσΕΝΘΓΖȱΔΕϠΑȱ΅ЁΘΓІȱ϶ȱσΗΘ΍ΑȱοΎΣΗΘΓΙȱΘϛΖȱ ΚϾΗΉΝΖȱΧΜ΅ΗΌ΅΍“.

117 Vgl. ebd., 493e2-494a2. 118 Ebd., 515c6-8: „ϳΔϱΘΉȱΘ΍ΖȱΏΙΌΉϟ΋ȱΎ΅ϠȱΦΑ΅·ΎΣΊΓ΍ΘΓȱπΒ΅ϟΚΑ΋ΖȱΦΑϟΗΘ΅ΗΌ΅ϟȱΘΉȱΎ΅ϠȱΔΉΕ΍ΣȬ ·Ή΍ΑȱΘϲΑȱ΅ЁΛνΑ΅ȱΎ΅ϠȱΆ΅ΈϟΊΉ΍ΑȱΎ΅ϠȱΔΕϲΖȱΘϲȱΚЗΖȱΦΑ΅ΆΏνΔΉ΍Α…“. 119 Ebd., 540a6-9: „Ύ΅ϠȱΦΑ΅·Ύ΅ΗΘνΓΑȱΦΑ΅ΎΏϟΑ΅ΑΘ΅ΖȱΘχΑȱΘϛΖȱΜΙΛϛΖȱ΅Ё·χΑȱΉϢΖȱ΅ЁΘϲȱΦΔΓȬ ΆΏνΜ΅΍ȱ Θϲȱ ΔκΗ΍ȱ ΚЗΖȱ Δ΅ΕνΛΓΑ,ȱ Ύ΅Ϡȱ ϢΈϱΑΘ΅Ζȱ Θϲȱ Φ·΅ΌϲΑȱ ΅ЁΘϱ...“. Hierzu s. Szlezák 1997, S. 224-225: „Auch im idealen Staat werden die Philosophen zum letzten Schritt, zum Blicken auf das Gute, gezwungen werden (519c8-d1, 540a7-8). Das klingt seltsam, handelt es sich doch um Naturen, die wie niemand sonst lernbegierig, philomatheis, sind (376b-c, 485b u.ö.). Gemeint ist wohl, dass notfalls moralischer Druck auf sie ausgeübt wird, um einem Nachlassen ihrer Anstrengungen vorzubeugen (vgl. 535b7).“ Da „der Erkenntnis des Guten in der Seele auf der Seite der logoi eine formulierbare und in langer gemeinsamer Diskussion zu erprobende Theorie der Prinzipien entspricht, so ist es durchaus sinnvoll, Menschen, deren philosophisches Verständnis an anderen Theoremen schon breit getestet wurde, zu einem bestimmten Zeitpunkt zu drängen, sich nun intensiv mit dieser Theorie zu befassen“. 120 Ebd., 494e1-2: „ΎΣΐΔΘ΋Θ΅΍ȱΎ΅ϠȱρΏΎ΋Θ΅΍ȱΔΕϲΖȱΚ΍ΏΓΗΓΚϟ΅Α“. 121 Platon, Symp. 215d6-216a2. 122 Platon, Resp. 490b3-6: „СȱΔΕΓΗφΎΉ΍ȱΜΙΛϛΖȱπΚΣΔΘΉΗΌ΅΍ȱΘΓІȱΘΓ΍ΓϾΘΓΙȱȬȱΔΕΓΗφΎΉ΍ȱΈξȱ ΗΙ··ΉΑΉϧȱ Ȭȱ Сȱ ΔΏ΋Ηϟ΅Η΅Ζȱ Ύ΅Ϡȱ ΐ΍·ΉϠΖȱ ΘХȱ ϷΑΘ΍ȱ ϷΑΘΝΖ,ȱ ·ΉΑΑφΗ΅Ζȱ ΑΓІΑȱ Ύ΅Ϡȱ ΦΏφΌΉ΍΅Α,ȱ ·ΑΓϟ΋ȱΘΉȱΎ΅ϠȱΦΏ΋ΌЗΖȱΊЏϙȱΎ΅ϠȱΘΕνΚΓ΍ΘΓ“.

3. Selbstbestimmung und Determinierung in der Aneignung der Dialektik

135

Die Möglichkeit, dass ein philosophisch veranlagter Mensch den genannten verderbenden Einflüssen entgeht, bleibt also irgendwie offen, und zwar nicht nur durch Zufall, wie z.B. wenn er im Exil oder in einer schwachen Stadt oder mit einer körperlichen Behinderung geboren wird, sondern auch wenn dieser Mensch durch eine umfassende Überlegung („indem er sich über das alles Rechenschaft gibt“ – Θ΅ІΘ΅ȱ ΔΣΑΘ΅ȱ ΏΓ·΍ΗΐХȱ Ώ΅ΆЏΑ“, 496d5-6) die realen Chancen einer auf das Gute zielenden Beschäftigung mit der Politik abwägt. Nach einer solchen Überlegung kann er sich für die Ruhe der Beschäftigung mit dem eigenen Feld entscheiden – da er den Genuss und die Seligkeit dieser Beschäftigung schon kennt – und ein reines Leben bis zum hoffnungsvollen Tod führen. 123 Hier hat Platon den eigenen Werdegang vor Augen. 124 3.2.5. Die philosophische Natur und die Aneignung der Dialektik Hier stellt sich die Frage nach der Bedeutung dieser philosophischen Natur in Bezug auf die Selbstbestimmung in der Aneignung der Dialektik. Die Entfaltung der ΚϾΗ΍Ζ ist nicht „vorprogrammiert“; wenn die voll entfaltete Persönlichkeit des Philosophen mit Notwendigkeit aus dem Vorhandensein einer angeborenen philosophischen Natur folgte, dann wäre u.a. die Rolle der Erziehung in der Politeia unverständlich (dies gilt freilich auch für eine „schlechte“ Natur). Wenn in der Politeia gesagt wird, dass ein Mensch von großer, edler Natur, der zum Guten entwickelt ein Philosoph werden könnte, einmal verdorben zur großen Gefahr für (sich selbst und) seine Stadt wird (während eine kleine ΚϾΗ΍Ζ weder große Güter noch große Übel verursachen kann), dann lässt sich vielleicht die ΚϾΗ΍Ζ als Potenz oder Anlage verstehen, die sozusagen die äußeren Grenzen der individuellen Entwicklung des Menschen zieht, ihre Konkretisierung aber und ihre Orientierung zum Guten oder zum Schlechten nicht absolut vorbestimmt. Die „Qualitätsunterschiede“ zwischen den einzelnen Physeis sind nach D. Mannsperger „in der Physis als Anlage noch nicht werthaft fixiert, also nicht gut oder schlecht, sondern in neutraler Weise stark oder schwach, und die ΘΕΓΚχ kann sie als gute oder schlechte erfüllen“ 125 . Die ΚϾΗ΍Ζ wird an manchen Stellen als eine Anlage des einzelnen Menschen aufgefasst, die in ihm gleichsam vorliegt: 126 Die philosophische _____________ 123 124 125 126

Ebd., 496c5-e2. So Szlezák 2004, 19, mit Verweis auf den 7. Brief, 324b-326b. Mannsperger 1969, 227. Wenn aber das Vorliegen einer philosophischen „Natur“ im Nacheinander der Inkarnationen einer Teilseele lokalisiert wird, dann stellt sich diese „Natur“ gleichsam

136

D. Die Bestimmung der ethischen Schlechtigkeit bei Platon und Proklos

Natur „kommt unter Menschen nur selten und in geringer Zahl vor“ 127 . Im Rahmen der Erziehung soll das Vorhandensein einer so verstandenen Natur des Einzelnen zunächst diagnostiziert werden: „Nicht mit Gewalt…bilde die Knaben in den Lehrfächern heran, sondern wie im Spiel; so kannst du auch besser beobachten, wozu ein jeder begabt ist.“ 128 Dennoch entspricht wie gesagt die oben aufgeführte Charakteristik eben dieser Natur m.E. eher der im Dialektiker vollständig realisierten philosophischen Natur als einer noch keimhaften Begabung. Außerdem wird der Verderb einer derartigen Natur als „ihrem Streben untreu“ Werden (s. 495a6-7: „πΎΔΉΗΉϧΑȱπΎȱΘΓІȱπΔ΍Θ΋ΈΉϾΐ΅ΘΓΖ“; 495b8: πΎΔϟΔΘΓΑΘΉΖ), als Unfähigkeit, „ihrem Streben treu zu bleiben und ans Ziel zu gelangen“ 129 , umschrieben. Also kann von einer philosophischen Natur eigentlich nur aufgrund einer gewissen Beschäftigung mit der Philosophie die Rede sein. Das Verhältnis von Anlage und Vollzug könnte somit als gegenseitige Abhängigkeit bezeichnet werden. Auch im langwierigen Prozess der Erziehung der Philosophenkönige, in der sich die philosophische ΚϾΗ΍Ζ zu bewähren hat, ist diese ΚϾΗ΍Ζ nicht als etwas unmittelbar, von der Freiheit des Menschen völlig unabhängig Gegebenes konzipiert. Sogar in der vorletzten Stufe ihrer Erziehung, vor der Schau des Guten selbst, nachdem sie ja unter vielfachem Ά΅Η΅ΑϟΊΉ΍Αȱ gezeigt haben, dass sie Zusammenhänge überblicken können (ΗΙΑΓΔΘ΍ΎΓϟ, 537c6-7) und „gesittete und gefestigte Naturen“ sind (ΘΤΖȱ ΚϾΗΉ΍Ζȱ ΎΓΗΐϟΓΙΖȱ ΉϨΑ΅΍ȱ Ύ΅Ϡȱ ΗΘ΅ΗϟΐΓΙΖ, 539d4-5), muss man sie durch Ausübung von jungen Menschen angemessenen Führungspflichten „prüfen, ob sie standhaft bleiben oder ob sie von ihrem Wege abweichen, wenn sie so nach allen Seiten gezogen werden“ 130 . Bis zur Schau des Guten bleibt also die erwähnte Spannung wirksam. Kraft seiner ΚϾΗ΍Ζ wird ein philosophisch begabter Mensch von der Philosophie angezogen; kraft seiner ΚϾΗ΍Ζ wird – selten – ein „Unterschobener“ sich an den „väterlichen Gesetzen“ trotz des verleitenden Einflusses der falsch eingesetzten Ώϱ·Γ΍ȱfesthal_____________

127 128 129 130

als Ergebnis der Selbstbestimmung der Teilseele in ihren früheren Lebenszeiten dar und vor allem in derjenigen Wahl eines Lebens ein, die ihrem gegenwärtigen Leben unmittelbar vorangeht, wie sie im Er-Mythos geschildert wird (s. Resp. 617d1620d5); einfach vorgegeben ist die philosophische Natur also in keiner Hinsicht. Resp. 491b1-2: „ϴΏ΍·ΣΎ΍Ζȱ πΑȱ ΦΑΌΕЏΔΓ΍Ζȱ ΚϾΉΗΌ΅΍ȱ Ύ΅Ϡȱ ϴΏϟ·΅Ζ“; vgl. ebd., 495b1-2: „ϴΏϟ·΋ΖȱΎ΅ϠȱΩΏΏΝΖȱ·΍·ΑΓΐνΑ΋Ζ [sc. ΘϛΖȱΆΉΏΘϟΗΘ΋ΖȱΚϾΗΉΝΖ]“. Ebd., 536e6-537a2: „̏χȱ ΘΓϟΑΙΑȱ Άϟθ...ΘΓϿΖȱ Δ΅ϧΈ΅Ζȱ πΑȱ ΘΓϧΖȱ ΐ΅Όφΐ΅Η΍Αȱ ΦΏΏΤȱ Δ΅ϟΊΓΑΘ΅Ζȱ ΘΕνΚΉ,ȱϣΑ΅ȱΎ΅ϠȱΐκΏΏΓΑȱΓϩϱΖȱΘ’ȱϖΖȱΎ΅ΌΓΕκΑȱπΚ’ȱ϶ȱρΎ΅ΗΘΓΖȱΔνΚΙΎΉΑ“. Ebd., 494a11-12: „πΑȱΘХȱπΔ΍Θ΋ΈΉϾΐ΅Θ΍ȱΐΉϟΑ΅Η΅ΑȱΔΕϲΖȱΘνΏΓΖȱπΏΌΉϧΑ“. Ebd., 539e2-540a2: „Ά΅Η΅Α΍ΗΘνΓ΍ȱΉϢȱπΐΐΉΑΓІΗ΍ΑȱοΏΎϱΐΉΑΓ΍ȱΔ΅ΑΘ΅ΛϱΗΉȱόȱΘ΍ȱΎ΅ϠȱΔ΅Ε΅Ȭ Ύ΍ΑφΗΓΙΗ΍“.

4. Proklos’ Interpretation der „Wahl eines Lebens“ im Er-Mythos

137

ten können 131 . Das Bestehen (πΐΐνΑΉ΍Α) einer philosophischen Natur auf der Beschäftigung mit der Philosophie (494a12) bzw. auf der philosophischen Lebensführung und -haltung (540a1) könnte so der Selbstbestimmung des Menschen zugeschrieben werden.

4. Proklos’ Interpretation der „Wahl eines Lebens“ im ErMythos – Selbstbestimmung und Determination Im Folgenden wird der Kommentar des Proklos zur Wahl der Lebensmuster (ΆϟΝΑȱ Δ΅Ε΅ΈΉϟ·ΐ΅Θ΅, Resp. 617d4-5) 132 aus dem Er-Mythos im 10. Buch der Politeia 133 vorgestellt und unter dem Aspekt seiner Auffassung von Selbstbestimmung und somit seiner Bestimmung der falschen oder schlechten Wahlentscheidung vor dem Hintergrund des platonischen Textes untersucht. Im platonischen Mythos wird durch eine Wahlentscheidung der Seele der Lebenswandel bestimmt, der ihr in der nächsten Verkörperung zukommen wird: „Das ist das Wort der Jungfrau Lachesis, der Tochter der Notwendigkeit! Ihr Eintagsseelen! Es beginnt ein neuer todbringender Umlauf des sterblichen Geschlechtes. Nicht wird ein Daimon euch erlosen, sondern ihr werdet euch einen Daimon wählen. Wer das erste Los gezogen hat, der soll sich als erster den Lebenslauf wählen, mit dem er dann notwendig verbunden bleibt. Die Tüchtigkeit aber ist keinem Herrn zu eigen; je nachdem ein jeder sie ehrt oder gering achtet, erhält er mehr oder weniger von ihr. Schuld hat, wer gewählt hat; Gott ist schuldlos.“ 134 Indem Proklos die Kommentierung der Anrede des Propheten und _____________ 131 Ebd., 538c2-3: „Um seinen Vater aber und um die übrige angebliche Verwandtschaft kümmert er sich nicht mehr, es sei denn, er wäre von Natur ein besonders anständiger Mensch“ („...Δ΅ΘΕϲΖȱΈξȱπΎΉϟΑΓΙȱΎ΅ϠȱΘЗΑȱΩΏΏΝΑȱΔΓ΍ΓΙΐνΑΝΑȱΓϢΎΉϟΝΑ,ȱΉϢȱΐχȱΔΣΑΙȱΉϥ΋ȱΚϾΗΉ΍ȱπΔ΍Ή΍ΎφΖ,ȱ ΐνΏΉ΍Αȱ Θϲȱ ΐ΋ΈνΑ“); Zur Bedeutung von „Vater“ s. 538c6-8: „Wir haben doch von Kindheit auf gewisse Ansichten über das Gerechte und das Schöne. In diesen sind wir wie von Eltern auferzogen worden, ihnen gehorchen wir und halten sie in Ehren“ („σΗΘ΍ȱ ΔΓΙȱ ψΐϧΑȱ Έϱ·ΐ΅Θ΅ȱπΎȱΔ΅ϟΈΝΑȱΔΉΕϠȱΈ΍Ύ΅ϟΝΑȱΎ΅ϠȱΎ΅ΏЗΑ,ȱπΑȱΓϩΖȱπΎΘΉΌΕΣΐΐΉΌ΅ȱГΗΔΉΕȱЀΔϲȱ·ΓΑΉІΗ΍,ȱ ΔΉ΍Ό΅ΕΛΓІΑΘνΖȱΘΉȱΎ΅ϠȱΘ΍ΐЗΑΘΉΖȱ΅ЁΘΣ“).

132 Einige Interpretationen zur Wahl des Lebens: Herter 1962; Untersteiner 1966, bes. 224-231; Halliwell 1988, 183-191; Adam 1963 II, 454-461; Biesterfeld 1969, 45-54; Cürsgen 2002, 114-121. 133 Zum Verhältnis des Mythos zum Ganzen der Politeia s. Babut 1983; Albinus 1998, 98-100; zum Ort des Mythos in der altgriechischen Ideengeschichte s. Biesterfeld 1969, 45-54; zur Frage über eine iranische Vorlage s. Boyce/Grenet 1991, 528ff. 134 Platon, Resp. 617d6 – e5: „̝ΑΣ·Ύ΋Ζȱ ΌΙ·΅ΘΕϲΖȱ ΎϱΕ΋Ζȱ ̎΅ΛνΗΉΝΖȱ Ώϱ·ΓΖ.ȱ ̚ΙΛ΅Ϡȱ πΚφΐΉΕΓ΍,ȱ ΦΕΛχȱ ΩΏΏ΋Ζȱ ΔΉΕ΍ϱΈΓΙȱ ΌΑ΋ΘΓІȱ ·νΑΓΙΖȱ Ό΅Α΅Θ΋ΚϱΕΓΙ.ȱ ̒ЁΛȱ ЀΐκΖȱ Έ΅ϟΐΝΑȱ ΏφΒΉΘ΅΍,ȱΦΏΏ’ȱЀΐΉϧΖȱΈ΅ϟΐΓΑ΅ȱ΅ϡΕφΗΉΗΌΉ.ȱ̓ΕЗΘΓΖȱΈ’ȱϳȱΏ΅ΛАΑȱΔΕЗΘΓΖȱ΅ϢΕΉϟΗΌΝȱΆϟΓΑȱ

138

D. Die Bestimmung der ethischen Schlechtigkeit bei Platon und Proklos

der Erzählung der Wahl des Lebens mit einer Beweisführung für die Existenz und Wirkung sowohl der Selbstmächtigkeit (πΚ’ȱψΐϧΑ) des Menschen wie auch der Beeinflussung des Menschenschicksals durch die Umdrehungen des Weltalls eröffnet 135 , signalisiert er, dass Selbstbestimmung und Determination das Hauptthema der folgenden Ausführungen sein werden. In seinem Kommentar beabsichtigt Proklos stets die mythischen Sinnbilder auf ihren philosophischen Sinn hin durchsichtig zu machen bzw. die an ihnen versinnbildlichten „Inhalte“ in seinem vom Anspruch her platonischen System zu begründen. So findet er in der platonischen Rede vom Wurf der Lebenslose die erwähnte Frage nach dem Verhältnis von menschlicher Selbstmächtigkeit und kosmischer Determination im Leben der Menschenseele wieder. „Der Wurf der Lebenslose stellt die Verteilung derselben an die Seelen dar, die von den Umdrehungen des Himmels und den Bewegursachen dieser Umdrehungen her durch den Propheten zu den Seelen herabsteigt.“ 136 In der Erzählung Platons wird gesagt, dass der Prophet vor seiner Anrede an die Seelen diese „zuerst geordnet aufgestellt“ (ΔΕЗΘΓΑȱΐξΑȱ πΑȱ ΘΣΒΉ΍ȱ Έ΍΅ΗΘϛΗ΅΍) hat. Schon in diesen Worten findet Proklos einen Hinweis auf eine hierarchische Einstufung der Seelen gemäß der Tugend: Die besseren Seelen werden so plaziert, dass sie bei dem bevorstehenden Wurf der Lose (ΎΏφΕΓ΍) die Möglichkeit gewinnen, zwischen einer größeren Anzahl von Lebenswandeln zu wählen. 137 Diese Interpretation scheint jedoch dem Sinn des Mythos nicht gerecht zu werden, da bei Platon keine Andeutung zu finden ist, dass der Wurf der Lose (ΎΏφΕΓ΍) nicht rein zufällig, von Tugend und Schlechtigkeit der Seele unabhängig, ist. 138 Dies nimmt Proklos wahr, wie er selbst sagt: „Und es schiene, dass der Mythos dem Zufall diesen Wurf zurechnet“ 139 ; dennoch besteht er auf seiner Interpretation, deren Richtigkeit er wiederholt behauptet: 140 Der Wurf der Lose soll gemäß der Gerechtigkeit erfolgen und _____________ Сȱ ΗΙΑνΗΘ΅΍ȱ πΒȱ ΦΑΣ·Ύ΋Ζ.ȱ ̝ΕΉΘχȱ Έξȱ ΦΈνΗΔΓΘΓΑ,ȱ ϋΑȱ Θ΍ΐЗΑȱ Ύ΅Ϡȱ ΦΘ΍ΐΣΊΝΑȱ ΔΏνΓΑȱ Ύ΅Ϡȱ σΏ΅ΘΘΓΑȱ΅ЁΘϛΖȱρΎ΅ΗΘΓΖȱρΒΉ΍.ȱ̄ϢΘϟ΅ȱοΏΓΐνΑΓΙаȱΌΉϲΖȱΦΑ΅ϟΘ΍ΓΖ“.

135 S. In Remp. II 258, 6-15. 136 In Remp. II 279, 19-22: „ψȱΈξȱϹϟΜ΍ΖȱΘЗΑȱΎΏφΕΝΑȱΘχΑȱΦΔϲȱΘЗΑȱΓЁΕ΅ΑϟΝΑȱΔΉΕ΍ΚΓΕЗΑȱ Ύ΅Ϡȱ ΘЗΑȱ Ύ΍ΑΓΙΗЗΑȱ Θ΅ϾΘ΅Ζȱ ΅ϢΘ΍ЗΑȱ Έ΍Τȱ ΐνΗΓΙȱ ΘΓІȱ ΔΕΓΚφΘΓΙȱ Ύ΅ΌφΎΓΙΗ΅Αȱ ΉϢΖȱ ΘΤΖȱ ΜΙΛΤΖȱ ΅ЁΘЗΑȱ Έ΍΅ΑΓΐχΑȱ Δ΅ΕϟΗΘ΋Η΍Α“. Für eine genauere Beschreibung der Weise,

in der die Umdrehung den Seelen die Lebenslose zuteilt s. ebd. 265, 15-23. 137 In Remp. II 254, 5-22. 138 Vgl. z.B. Döring 1893, 487. 139 S. In Remp. II 279, 27f.: „Ύ΅ϠȱΈϱΒΉ΍ΉΑȱΐξΑȱΪΑȱ΅ϢΘ΍κΗΌ΅΍ȱΘϾΛ΋ΑȱϳȱΐІΌΓΖȱΘϛΖȱΘΓ΍΅ϾΘ΋Ζȱ ΔΘЏΗΉΝΖ“. 140 S. In Remp. II 265, 6-7: „Denn es handelt sich nicht um eine Wahl der Lose, sondern um eine Verteilung, wobei jede [Seele] das ihr geziemende Los bekommt“ („ΓЁȱ·ΣΕȱπΗΘ΍ȱΎΏφΕΝΑȱ

4. Proklos’ Interpretation der „Wahl eines Lebens“ im Er-Mythos

139

jeder Seele das ihr Geziemende zuteilen, und zwar, weil der Prophet sowie die Lachesis in seiner Deutung ΑϱΉΖ sind, deren Aktivität wesensmäßig dem Geist folgt und daher gerecht und rational sein muss. Im Satz „und ein jeder habe das aufgenommen, das neben ihm niederfiel“ 141 zeige „die räumliche Beziehung die dem Wert gemäße und gebührende Zuordnung, und die Verwandtschaft des Gegebenen zum Empfangenden“. 142 Es wird deutlich werden, dass diese etwas eigenwillige Interpretation ein deutliches Zeichen der allgemeinen Tendenz der gesamten Interpretation des Proklos zum Er-Mythos darstellt. Die Beeinflussung durch die Umläufe muss im Kommentar thematisiert werden, weil die Wahl am Anfang „eines neuen todbringenden Umlaufs des sterblichen Geschlechtes“ geschehen muss; 143 sie wird begründet „durch die Sympathie der Welt; diese wiederum müssen wir dadurch beweisen, dass das All ein einziges Lebewesen ist“ 144 . Der Zusammenhang zwischen den Umläufen des Alls und der Wahl des Lebens durch die Seelen ergibt sich darüber hinaus aus der erwähnten Interpretation des Wurfes der Lose. Im Folgenden werden die Argumente des Proklos für die Wirklichkeit der Selbstmächtigkeit (πΚ’ȱ ψΐϧΑ), die in Bezug auf die Interpretation der Wahl von Bedeutung sind, wie auch seine Erörterung des Verhältnisses von Selbstmächtigkeit und kosmischer Determination aufgeführt. Dadurch werden meiner Meinung nach seine Gedanken zur Frage nach dem ethischen Guten oder Schlechten in seinem Bezug auf die menschliche Verantwortung ersichtlich, eine Frage, die in ihrer Zusammengehörigkeit mit der Frage über das Verhältnis von Selbstbestimmung und Determinierung im Zentrum seiner Interpretation steht. 4.1. Argumente für die Wirklichkeit der Selbstmächtigkeit I) Dass „die Stoiker nicht vergeblich von der Selbstmächtigkeit sprechen“ 145 , d.h. dass „wir selbst Herren über einige Sachen sind, dass wir diese wählen und sie nach _____________

141 142 143 144

΅ϣΕΉΗ΍Ζȱ ΦΏΏΤȱ Έ΍΅ΑΓΐφ,ȱ Ύ΅ΘΤȱ ΘχΑȱ ΦΒϟ΅Αȱ οΎΣΗΘ΋Ζȱ [sc.ȱ ΜΙΛϛΖ]ȱ ΘϲΑȱ ΅ЁΘϜȱ ΔΕΓΗφΎΓΑΘ΅ȱ [sc.ȱΎΏϛΕΓΑ]ȱΈΉΛΓΐνΑ΋Ζ“); vgl. ebd. 273, 10-13. Platon, Resp. 617e6-7: „ΘϲΑȱΈξȱΔ΅Ε’ȱ΅ЀΘϲΑȱΔΉΗϱΑΘ΅ȱ[sc.ȱΎΏϛΕΓΑ]ȱρΎ΅ΗΘΓΑȱΦΑ΅΍ΕΉϧΗΌ΅΍“. In Remp. II 280, 15-18: „ΘϛΖȱ ΘΓΔ΍ΎϛΖȱ ΗΛνΗΉΝΖȱ ΘχΑȱ Ύ΅Θ’ȱ ΦΒϟ΅Αȱ Ύ΅Ϡȱ ϴΚΉ΍ΏΓΐνΑ΋Αȱ πΑΈΉ΍Β΅ΐνΑ΋ΖȱΗϾΑΘ΅Β΍ΑȱΎ΅ϠȱΘχΑȱΘΓІȱΈΉΈΓΐνΑΓΙȱΔΕϲΖȱΘϲȱΈΉΒΣΐΉΑΓΑȱΓϢΎΉϟΝΗ΍Α“. Proklos betrachtet diese ΔΉΕϟΓΈΓΖȱ als (absteigenden?) Teil einer ΔΉΕ΍ΚΓΕΤȱ ΘΓІȱ Δ΅ΑΘϲΖ bzw. einer ΘΓІȱΎϱΗΐΓΙȱΔΉΕϟΓΈΓΖ (s. ebd., 256, 8 u. 261, 8). Ebd., 12-13: „πΎȱΘϛΖȱΘΓІȱΎϱΗΐΓΙȱΗΙΐΔ΅ΌΉϟ΅ΖаȱΘ΅ϾΘ΋ΑȱΈξȱ΅ЇȱΦΔΓΈΉ΍ΎΘνΓΑȱψΐϧΑȱπΎȱ ΘΓІȱ ΊХΓΑȱ ςΑȱ ΉϨΑ΅΍ȱ Θϲȱ ΔκΑ.“ (zum stoischen Gedanken der Sympathie s. Pohlenz

1949, Bd.2, 58). 145 „̖ϲȱπΚ’ȱψΐϧΑȱΓЁȱΐΣΘ΋ΑȱΏν·ΉΘ΅΍ȱΔ΅ΕΤȱΘΓϧΖȱ̕ΘΝϞΎΓϧΖ“; s. Pohlenz 1949, Bd. 1, 487 (Register).

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D. Die Bestimmung der ethischen Schlechtigkeit bei Platon und Proklos

der Wahl vollziehen können, dies ist offensichtlich, wenn wir nicht vergeblich als überlegungsfähig entstanden sein sollen – da die Natur nichts vergeblich macht. Denn, wenn wir uns etwas überlegenen, setzen wir voraus, dass es bei uns liegt, das eine anstelle des anderen zu wählen“ 146 . Durch die Natur und in ihr wirkt die Providenz des Einen selbst, das so die Zweckmäßigkeit der Verfassung der Menschenseele und somit ihres Vermögens zur Überlegung bzw. Entscheidungsfindung garantiert. 147 II) Das zweite Argument führt in die Problematik von ethisch Gutem und Schlechtem ein: Wenn das Gelingen und das Misslingen im Menschenleben nicht auf die Selbstmächtigkeit der Menschenseele zurückzuführen wären, dann müssten das Gelingen und das Misslingen – unter der Voraussetzung, dass ein Seiendes nur von den ihm ontologisch übergeordneten Wesenheiten determiniert werden kann 148 – notwendigerweise auf diejenigen Wesenheiten zurückgeführt werden, die den Menschenseelen ontologisch vorangehen. Dann aber müssen letztere für die ethische Schlechtigkeit der Seele, für ihre Verfehlungen (Υΐ΅ΕΘφΐ΅Θ΅) wie für ihre Werke der Tugend (σΕ·΅ȱΘϛΖȱΦΕΉΘϛΖ) verantwortlich gemacht werden – es sei denn, man würde keine Differenz zwischen der Besonnenheit und der Zügellosigkeit annehmen, was offensichtlich falsch ist. 149 Dieses Argument des Proklos, das zum Teil auf dem Satz „Schuld hat, wer gewählt hat; Gott ist schuldlos“ (΅ϢΘϟ΅ȱ οΏΓΐνΑΓΙ,ȱ ΌΉϲΖȱ ΦΑ΅ϟΘ΍ΓΖ) beruht, ist für seine Bestimmung des Schlechten zentral: Das ethisch Schlechte wird im Bereich der menschlichen Selbstmächtigkeit verortet, wobei jede Übertragung der Verursachung des Schlechten auf irgendetwas, was außerhalb der Macht der Menschenseele liegen würde, strikt abgelehnt wird, da eine solche Übertragung notwendigerweise die „Beschuldigung“ der höheren Hypostasen zur Konsequenz hätte. Für Proklos ist jede Ursache außerhalb des menschlichen πΚ’ȱ ψΐϧΑ Glied einer Ursachenkette, die letztlich vom Einen abhängt, so dass sozusagen entweder die Menschenseele oder das erste Prinzip Ursache des ethisch Schlechten sein muss. III) Gegen die Vertreter der Position, dass alles von der Notwendigkeit bestimmt wird und es eine Selbstmächtigkeit überhaupt nicht gibt, wird ein interessantes Argument vorgebracht: Wenn es so wäre, dann müsste _____________ 146 In Remp. II 259, 23-26: „ΎϾΕ΍ΓϟȱΘ΍ΑЗΑȱπΗΐΉΑȱ΅ЁΘΓϠȱΎ΅ϠȱοΏνΗΌ΅΍ȱΎ΅ϠȱΔΕκΒ΅΍ȱΎ΅ΘΤȱ ΘΤΖȱ΅ϡΕνΗΉ΍Ζ,ȱΈϛΏΓΑ,ȱΉϢȱΐχȱΐΣΘ΋ΑȱΆΓΙΏΉΙΘ΍ΎΓϠȱ·Ή·ϱΑ΅ΐΉΑ,ȱΘϛΖȱΚϾΗΉΝΖȱΓЁΈξΑȱΔΓ΍ΓϾȬ Η΋ΖȱΐΣΘ΋Α.ȱ̅ΓΙΏΉΙϱΐΉΌ΅ȱΈξȱБΖȱπΚ’ȱψΐϧΑȱϷΑΘΓΖȱοΏνΗΌ΅΍ȱΘΣΈΉȱΔΕϲȱΘЗΑΈΉ“. 147 Zum Menschen als ΆΓΙΏΉΙΘ΍ΎϱΑ, vgl. Arist., Hist. Anim. 488b24; Eth. Nic. 113a11.

148 Dies ist, wie schon gezeigt, der Grund für die Zurückweisung der plotinischen Zurückführung des ethisch Schlechten auf die Materie durch Proklos. 149 In Remp. II 259, 27 – 260, 13.

4. Proklos’ Interpretation der „Wahl eines Lebens“ im Er-Mythos

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auch die Behauptung, „nicht alles steht unter der Notwendigkeit“ 150 , selbst von der Notwendigkeit bestimmt sein; dann aber „wie könnte eine Ursache [sc. die absolute Notwendigkeit] bei den Verursachten eine Bewegung [sc. eine Behauptung gegen die absolute Notwendigkeit] hinterlassen, die sich gerade derjenigen Bewegung, die durch diese Ursache selbst bewirkt ist, entgegensetzt?“ 151 . Wenn diese Behauptung aber nicht durch die Notwendigkeit determiniert ist, dann gibt es etwas, was unserer Selbstmächtigkeit zuzurechnen ist. Dass Proklos seinen Begriff von der Selbstmächtigkeit u.a. in Bezug auf Aristoteles ausarbeitet, wird auch durch Anspielungen auf ihn in der obigen Argumentation nahe gelegt: Im ersten Argument wird der aristotelische Satz ΘϛΖȱ ΚϾΗΉΝΖȱ ΓЁΈξΑȱ ΐΣΘ΋Αȱ ΔΓ΍ΓϾΗ΋Ζ verwendet, 152 und im Rahmen des zweiten Argumentes wird gesagt, dass eine Leugnung der Selbstmächtigkeit in Bezug auf ethisches Gelingen und Misslingen das Lob und den Tadel für die guten bzw. schlechten Handlungen aufheben würde 153 . 4.2. Selbstmächtigkeit und Umläufe des Alls Nachdem Proklos gezeigt hat, dass es sowohl eine wirksame selbstmächtige Wahl wie auch eine Determinierung durch die Umläufe des Alls – die wie gesagt zuständig für die Verteilung der Lebenslose an die Seelen sind – wirklich gibt, untersucht er das Verhältnis zwischen beiden Faktoren im Rahmen der Wahl eines Lebens. 154 Einer der beiden Faktoren muss übergeordnet sein; so gibt Proklos den Umläufen des Alls den Vorrang vor der Wahlentscheidung der Seele und begründet dies durch eine Reihe von Argumenten, 155 deren Kernpunkt der ontologische Vorrang des Ganzen vor seinen einzelnen Bestandteilen ist. Der Umlauf verteilt (Έ΍΅ΑνΐΉ΍) oder legt (ΔΕΓΘΉϟΑΉ΍) den Seelen, je nach deren Würdigkeit, die Lebenslose vor, und daraufhin wählen die Seelen aus; in der zeitlichen Abfolge des Mythos findet Proklos den Vorrang des Umlaufs vor der Selbstbestimmung veranschaulicht. _____________ 150 In Remp. II 260, 17: „ΓЁȱΔΣΑΘ΅ȱωΑΣ·Ύ΅ΗΘ΅΍“. 151 Ebd., 21-22: „ΔЗΖȱ Θ΍ȱ ΘЗΑȱ ΅ϢΘϟΝΑȱ πΑȱ ΘΓϧΖȱ ΦΔΓΘΉΏΓΙΐνΑΓ΍Ζȱ ЀΔΉΑ΅ΑΘϟ΅Αȱ Ύ΅ΘνΏΉ΍ΔΉΑȱ ΎϟΑ΋Η΍Αȱȱϗȱ΅ЁΘϲȱπΔ΍ΚνΕΉ΍;“. 152 S. Aristoteles, De anima 432b21. 153 Vgl. Eth. Nic. 1114a29-31. 154 In Remp. II 261, 3 – 264, 30. 155 Ebd. 261, 11 – 262, 6.

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D. Die Bestimmung der ethischen Schlechtigkeit bei Platon und Proklos

Unter den drei Möglichkeiten der Verteilung der Lebenslose – ein Lebenslos an jede Seele, alle Lebenslose an alle Seelen oder bestimmte Lebenslose für jede Seele 156 – werden die ersten beiden ausgeschlossen 157 zugunsten der dritten, die in Übereinstimmung mit der gerechten Rangordnung der Seelen „den Ungleichen Ungleiches zuteilt, gemäß der Würdigkeit eines jeden“ 158 , wie es dem mit einem gerechten Staat in Parallele gesetztem All geziemt 159 . Die Elemente des Mythos werden logisch begründet. Proklos präzisiert weiter das Verhältnis zwischen Selbstmächtigkeit und Umlauf des Alls, indem er eine Unterscheidung zwischen den Lebensmustern (ΆϟΝΑȱ Δ΅Ε΅ΈΉϟ·ΐ΅Θ΅ 160 - z.B. Ά΅Η΍Ώ΍ΎϱΖ,ȱ πΕΝΘ΍ΎϱΖ,ȱ ΔΓΏΉȬ ΐ΍ΎϲΖ 161 ȱ ΆϟΓΖ) und den bei jedem einzelnen Menschenleben dem Lebensmuster hinzukommenden Elementen, wie z.B. Reichtum oder Armut, Gesundheit oder Krankheit, abenteuerliches oder ruhiges Schicksal, 162 vornimmt. Diese Elemente werden vom All bestimmt und sind, genau so wie die vorliegenden Lebenslose, welche „die gesamte Zahl der Leben(-smuster), die das All durch seine Umläufe jeder Seele vorführt,“163 enthalten, von der Selbstmächtigkeit der Seele im „Moment“ ihrer Wahl unabhängig. Auf die Selbstmächtigkeit ist nur die Wahl des Lebensmusters zurückzuführen, die mitten („πΑȱΘХȱΐνΗУ“) zwischen beiden Verordnungen des Alls steht. 164 Diese vom All bestimmten äußeren Umstände werden aber, genau so wie die Lebenslose, gerecht verteilt und bleiben somit indirekt mit der Selbstmächtigkeit der Seele – welche die ethische Qualität derselben bestimmt – verbunden. Es lässt sich im Text kaum entscheiden, ob Proklos vertritt, dass die Seele bloß ein Lebensmuster wählt, dem sozusagen nachträglich die äußeren Lebensumstände hinzukommen; dies würde allerdings der Erzählung Platons, wo die Seele schon bei der Wahl diese Umstände _____________ 156 Ebd. 262, 6-10. 157 Erstere, weil dann keine Wahl bestünde (s. In Remp. II 284, 2-3: „Die Wahl ist die Beurteilung von vielen [Dingen], für die Auswahl eines einzigen“; „ψȱ΅ϣΕΉΗ΍ΖȱπΔϟΎΕ΍ΗϟΖȱπΗΘ΍ȱ ΔΏΉ΍ϱΑΝΑȱΉϢΖȱοΑϲΖȱπΎΏΓ·φΑ“) und die Selbstmächtigkeit somit aufgehoben werden würde, die zweite, weil sie eine unordentliche Konkurrenz zwischen den Κ΍ΏϱȬ ΔΕΝΘΓ΍ Seelen auslösen und die gerechte, der Tugend gemäße Rangordnung der Seelen tilgen würde (ebd. 262). 158 Ebd. 263, 13-14: „ΘΓϧΖȱΦΑϟΗΓ΍ΖȱΩΑ΍Η΅ȱΑνΐΓΙΗ΅ΑȱΎ΅ΘΤȱΘχΑȱοΎΣΗΘΝΑȱΦΒϟ΅Α“. 159 Ebd., 5-14. 160 Platon, Resp. 618a1. 161 In Remp. II 263, 22. 162 Ebd., 27-28. Hier wird vielleicht die platonische πΑΓІΗ΅ȱΉϡΐ΅ΕΐνΑ΋ (mit dem Los verbundenes Schicksal) interpretiert. 163 In Remp. II 263, 17-18: „ΗϾΐΔ΅ΖȱϳȱΦΕ΍ΌΐϲΖȱΘЗΑȱΆϟΝΑ,ȱЙΑȱοΎΣΗΘϙȱΔΕΓΘΉϟΑΉ΍ȱΘϲȱΔκΑȱ Έ΍ΤȱΘЗΑȱο΅ΙΘΓІȱΔΉΕ΍ΚΓΕЗΑ“. 164 In Remp. II 263, 11-13.

4. Proklos’ Interpretation der „Wahl eines Lebens“ im Er-Mythos

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gleichsam „im“ Los wahrnehmen kann, widersprechen. Vielleicht meint Proklos, dass die genannten Umstände nur in dem Sinne von der Selbmächtigkeit unabhängig sind, dass die Seele bei der Wahl nicht freiwillig ein bestimmtes Lebensmuster mit beliebigen „äußeren Umständen“ kombinieren kann, da die Kombinationen in den jeweils vorliegenden Lebenslosen schon feststehen. 4.3. Selbstmächtigkeit und Gewohnheit Wie die Lebenslose den Seelen durch den Umlauf des Alls zugeteilt werden, so entsteht nach Proklos auch die Neigung der Seele zu einem bestimmten Lebensmuster zum Teil unter dem Einfluss des Alls, wobei das All mit den in der letzten Lebenszeit erworbenen Gewohnheiten der Seele zusammenwirkt. 165 Proklos interpretiert den Wurf der Lebenslose durch den Propheten als eine bewegende Wirkung (πΑνΕ·Ή΍΅ȱΎ΍Α΋Θ΍Ύφ), die sich auf das Vorstellungsvermögen (Κ΅ΑΘ΅Ηϟ΅) der Seele richtet und von der Umdrehung des Alls herrührend durch den Propheten/Φ··ΉΏ΍ΎϲΖȱ ΑΓІΖ vermittelt wird. Diese bewegende Wirkung motiviert die Seele zum Empfang (ЀΔΓΈΓΛφ) des ihr gemäß ihrem Wert zukommenden Lebensloses und bewegt in Zusammenspiel mit der Gewohnheit ihr Vorstellungsvermögen zur Zuneigung zu einem bestimmten Lebensmuster, das ihrer Natur entspricht oder ihr geziemt. 166 „Wenn aber die Wahlentscheidungen meistens gemäß der Gewohnheit, die in den vorherigen Lebenszeiten erworben wurde, getroffen werden, indem wir gerade dem nachstreben, was wir schon vorher gepflegt hatten, so ist es daher offensichtlich, dass wir, sowohl wegen der erregenden Wirkungen, die die Ganzheiten auf uns als auf ihre Teile ausüben, wie auch wegen der Gewohnheit, die uns schon im Voraus bewegt, eher zu dem neigen, was sowohl dem Bewegenden [sc. dem All] vertrauter ist – da das All uns diese Dinge zugeführt hat –, wie auch dem Bewegten, das schon vorher sich an diese Dinge gewöhnt hatte.“ 167 Diese Interpretation hat meiner Meinung nach keine Anhaltspunkte im platonischen Text. In Bezug auf das Verhältnis von Selbstmächtigkeit und Determination lässt sich beobachten, dass sowohl der Einfluss des Alls wie auch derjeni_____________ 165 Zum Begriff der Gewohnheit bei Platon s. Funke 1958, 32-45; vgl. Untersteiner 1966, 230-231. 166 In Remp. II 274, 7-10. 167 In Remp. II 274, 14-21: „̈ϢȱΈξȱΎ΅ϠȱΎ΅ΘΤȱΗΙΑφΌΉ΍ΣΑȱΉϢΗ΍ȱБΖȱΘΤȱΔΓΏΏΤȱΘЗΑȱΔΕΓΘνȬ ΕΝΑȱΆϟΝΑȱ΅ϡΕνΗΉ΍ΖȱΎ΅ϠȱΘΓϧΖȱΔΕΓΐΉΏΉΘ΋ΌΉϧΗ΍ΑȱπΔ΍ΘΕνΛΓΐΉΑ,ȱ΅ЁΘϱΌΉΑȱΈφΔΓΙȱΚ΅ΑΉΕϱΑ,ȱ ϵΘ΍ȱΎ΅ϠȱΘЗΑȱϵΏΝΑȱΘ΅ϧΖȱБΖȱΉϢΖȱΐνΕ΋ȱΔΓ΍φΗΉΗ΍ΑȱΈ΍Ή·Ή΍ΕϱΑΘΝΑȱΎ΅ϠȱψΐЗΑȱόΈ΋ȱΔΕΓΎΉΎ΍Ȭ Α΋ΐνΑΝΑȱΈ΍ΤȱΘχΑȱΗΙΑφΌΉ΍΅Αȱ΅ϡȱΔΕϲΖȱΘΣΈΉȱ·ϟ·ΑΓΑΘ΅΍ȱϹΓΔ΅ϠȱΐκΏΏΓΑȱύȱΘΣΈΉȱΘΤȱΓϢΎΉϧ΅ȱ Ύ΅ϠȱΘХȱΎ΍ΑΓІΑΘ΍,ȱΈ΍ϱΘ΍ȱΘΓϾΘΝΑȱΓϢΗΘ΍ΎϲΑȱΉϢΖȱψΐκΖ,ȱΎ΅ϠȱΘХȱ Ύ΍ΑΓΙΐνΑУ,ȱΈ΍ϱΘ΍ȱΘΓϾΘΝΑȱπΑȱ σΌΉΗ΍Αȱπ·Ή·ϱΑΉ΍ȱΔΕϱΘΉΕΓΑ“.

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D. Die Bestimmung der ethischen Schlechtigkeit bei Platon und Proklos

ge der Gewohnheit zwar – im „Moment“ der Wahl – nicht zum Bereich der Selbstmächtigkeit gehören, aber von ihrem Gebrauch in der vorigen Lebenszeit weitgehend abhängig gemacht werden, so dass sie auch im „Moment“ der Wahl die Selbstmächtigkeit der Seele nicht aufheben: „Denn nichts hindert die bessere Seele daran, zu einem schlechteren Leben zu greifen, und gleichfalls [hindert nichts] die schlechtere Seele, ein besseres Lebensmuster auszuwählen.“ 168 . 4.4. Selbstmächtigkeit und Determination nach der Wahl der Seele Eine weitere, für den Charakter seiner gesamten Deutung charakteristische Interpretation des Proklos ist folgende: „Auch bei der Geburt, auch nach der Wahl wird uns die Selbstmächtigkeit nicht weggenommen. Denn wir vermögen uns selbst gut oder schlecht zu verhalten und in jeder Lebensweise fromm zu handeln, und so etwas Besseres als das gegenwärtige Leben für uns vorzubereiten“. 169 Wiederholt behauptet er, dass jedes Leben auch nach der Wahl für die Tugend empfänglich (πΔ΍ΈΉΎΘ΍ΎϲΖȱ ΦΕΉΘϛΖ) sei, so dass unser ethisches Wohlergehen (ΉЇȱ ψΐϧΑ) von unserer Selbstmächtigkeit und nicht von der Notwendigkeit abhängt. 170 Es stellt sich die Frage, worin diese Selbstmächtigkeit nach der Wahl besteht, und wie sie mit der Bestimmung des Lebens durch eine Notwendigkeit, die allerdings selbst von der Wahl abhängt (jeder „soll sich den Lebenslauf wählen, mit dem er dann notwendig verbunden bleibt“171 ), zu vereinbaren ist.

_____________ 168 In Remp. II 284, 25-27: „ΎΝΏϾΉ΍ȱ·ΤΕȱΓЁΈξΑȱΘχΑȱΎΕΉϟΘΘΓΑ΅ȱΜΙΛχΑȱΘϲΑȱΛΉϟΕΓΑ΅ȱΆϟΓΑȱ ΔΕΓΛΉ΍ΕϟΗ΅ΗΌ΅΍,ȱΎ΅ϠȱΎ΅ΘΤȱΘ΅ΙΘϲȱΘχΑȱΛΉϟΕΓΑ΅ȱΎΕΉϧΘΘΓΑȱΉϨΈΓΖȱΊΝϛΖȱοΏνΗΌ΅΍“. Dagegen beurteilt J. Annas die Selbstbestimmung und damit die Freiheit und Verantwortung der Menschenseele bei der Wahl des Lebens als sehr beschränkt (Annas 1982); vgl. Ademollo 1997, 108. 169 In Remp. II 266, 22-26: „Θϲȱ΅ЁΘΉΒΓϾΗ΍ΓΑȱΓЁΎȱΦΚϙΕφΐΉΌ΅ȱΎ΅ϠȱπΑȱΘϜȱ·ΉΑνΗΉ΍ȱΎ΅ϠȱΐΉΘΤȱ ΘχΑȱ΅ϣΕΉΗ΍Α.ȱ̈Їȱ·ΤΕȱύȱΎ΅ΎЗΖȱΈ΍΅ΌΉϧΑ΅΍ȱΈΙΑΣΐΉΌ΅ȱο΅ΙΘΓϿΖȱΎ΅ϠȱπΑȱΔ΅ΑΘϠȱΊΝϛΖȱΉϥΈΉ΍ȱ ΔΕΣΘΘΉ΍ΑȱϳΗϟΝΖȱΎ΅ϠȱΔΕΓΎ΅Θ΅ΗΎΉΙΣΊΉ΍Αȱο΅ΙΘΓϧΖȱΦΐΉϟΑΝȱΘΓІȱΆϟΓΙȱΘΓІȱΑІΑȱΔ΅ΕϱΑΘΓΖ“. 170 In Remp. II 275, 20-30; ebd. 277, 4-7; ebd. 279, 2-6: „ΉϥΔΉΕȱΦΈνΗΔΓΘΓΖȱψȱΦΕΉΘχȱΎ΅ϠȱπΑȱ ΓЁΈΉΑϠȱΘЗΑȱΆϟΝΑȱΦΔΓΎνΎΏΉ΍Θ΅΍ȱΘϲȱϳΔΝΗΓІΑȱΘ΍ΐκΑȱΦΕΉΘχΑȱΎ΅ϠȱΔΏνΓΑȱ΅ЁΘχΑȱΘ΍ΐЗΑΘ΅ȱ ΔΏΉϟΓΑΓΖȱ ΅ЁΘϛΖȱ ΐΉΘ΅Ώ΅·ΛΣΑΉ΍Α“. Vgl. Herter 1962, 1-9; zum größeren Zusammen-

hang, s. Krämer 1959, 239f. 171 Platon, Resp. 617e2-3: „΅ϡΕΉϟΗΌΝȱΆϟΓΑȱСȱΗϾΑΉΗΘ΅΍ȱπΒȱΦΑΣ·Ύ΋Ζ“.

4. Proklos’ Interpretation der „Wahl eines Lebens“ im Er-Mythos

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4.4.1. Dämon und ΘϾΛ΋ Da es in der Weltordnung des Alls nichts ΩΑ΅ΕΛΓΑ gibt, muss jede Menschenseele einem Dämonen untergeordnet werden, der als Aufseher des Lebens (σΚΓΕΓΖ und πΔϟΗΎΓΔΓΖȱ ΘΓІȱ ΆϟΓΙ) die Providenz des Einen in einer weniger ganzheitlichen (ΐΉΕ΍ΎΝΘνΕ΅) Form ausübt; 172 dennoch gehört die Wahl zu der Selbstmächtigkeit der Seele („Nicht wird ein Daimon euch erlosen, sondern ihr werdet euch einen Daimon wählen“ 173 ). Für Proklos ist der Dämon Aufseher eines Lebensmusters (ΆϟΓΙȱΔ΅ΕΣΈΉ΍·ΐ΅), und dementsprechend herrscht er vornehmlich über die Innerlichkeit, indem er die unvollkommene Seele auf die Vervollkommnung hinführt, während die ΘϾΛ΋ die äußeren Umstände lenkt, die bei jedem einzelnen Menschenleben vom All dem gewählten Lebensmuster hinzugefügt werden. 174 Durch diese Unterscheidung, die Proklos im Satz „denn nicht sich selbst habe er die Schuld an dem Unheil zugeschrieben, sondern dem Schicksal und den Dämonen“ 175 wieder findet, intendiert er die – selbst weder ungerecht noch von der Selbstmächtigkeit der Seele unabhängigen – äußeren Umstände einerseits, die für ihn eher ethisch indifferent (ΦΈ΍ΣΚΓΕ΅) sind, und die Innerlichkeit als Ort der Tugend oder der Schlechtigkeit andererseits, auseinander zu halten. So wird gewährleistet, dass in jedem einzelnen aus Lebensmuster und -umständen zusammengesetzten Menschenleben unter der Leitung des Dämons, der als Werkzeug der Providenz von Natur aus nur zugunsten der Vervollkommnung der Seele – selbst durch Strafen – handeln kann, Tugend (und Schlechtigkeit) auch nach der Wahl des Lebens zum Bereich der Selbstmächtigkeit gehört. Auch nach der Wahl sind also die übergeordneten Stufen der ontologischen Hierarchie, die vollkommen gut sind, in keiner Weise für die ethische Schlechtigkeit der Menschenseele verantwortlich zu machen. Wie schon erwähnt käme für Proklos auch nach der Wahl jede Einschränkung der Selbstverantwortung der Seele notwendig einer Übertragung der Verursachung ihrer Schlechtigkeit auf die überlegenen Stufen der Hierarchie gleich. 176 Die Zuschrei_____________ 172 S. In Remp. II 271, 8-23. Dass der Prophet/Φ··ΉΏ΍ΎϲΖȱΑΓІΖ die Wahl der Dämonen durch die Seelen in Gang setzt, und zwar als Aufseher der Dämonen, die uns erlost haben (ΘЗΑȱ ΉϢΏ΋ΛϱΘΝΑȱ ψΐκΖȱ Έ΅΍ΐϱΑΝΑȱ πΔ΍ΗΘΣΘ΋Ζ, In Remp. II 270, 10-11), entspricht der Rangordnung innerhalb der drei dämonischen Gattungen, in der die Engel den ersten Platz und die Dämonen den zweiten Platz innehaben. 173 Platon, Resp. 617e1: „ΓЁΛȱЀΐκΖȱΈ΅ϟΐΝΑȱΏφΒΉΘ΅΍,ȱΦΏΏ’ȱЀΐΉϧΖȱ Έ΅ϟΐΓΑ΅ȱ΅ϡΕφΗΉΗΌΉ“. Zur Bedeutung von Έ΅ϟΐΝΑ s. Adam 1963 II 454; Untersteiner 1966, 224f; Halliwell 1988, 184; Alt 2002, 279ff. 174 In Remp. II 272, 25 – 273, 1; ebd. 291, 20-22. 175 Resp. 619c4-5: „ΓЁȱ·ΤΕȱο΅ΙΘϲΑȱ΅ϢΘ΍κΗΌ΅΍ȱΘЗΑȱΎ΅ΎЗΑ,ȱΦΏΏΤȱΘϾΛ΋ΑȱΘΉȱΎ΅ϠȱΈ΅ϟΐΓΑ΅Ζ“. 176 In Remp. II 259, 27 – 260, 13.

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D. Die Bestimmung der ethischen Schlechtigkeit bei Platon und Proklos

bung der äußeren „Übel“, wie Armut, Krankheit usw., auf die Wirkungen des Alls, die durch die ΘϾΛ΋ vermittelt werden, ist für Proklos insofern annehmbar, als diese äußeren Umstände für ihn nur im uneigentlichen Sinn als Übel bezeichnet werden können. Auch in dieser Interpretation des Proklos wird also die Intention seiner gesamten Deutung des Mythos deutlich erkennbar, nämlich die Zuschreibung von Tugend und Schlechtigkeit zur Selbstmächtigkeit in allen Etappen des Schicksals der Menschenseele. Es stellt sich erneut die Frage, inwiefern diese Intention mit derjenigen Platons übereinstimmt. Die umrissene Tendenz der proklischen Platoninterpretation rührt m.E. von der grundlegenden prinzipientheoretischen Differenz zwischen Proklos und Platon her. Während beim Ersteren das Seiende in seiner Ganzheit letztlich auf das überseiende Eine zurückzuführen ist, besteht beim Letzteren eine unreduzierbare Dualität von Prinzipien, die weder voneinander noch von einem tiefer liegenden Urgrund ableitbar sind. Der Prinzipiendualismus Platons kommt in mehreren Dialogen zum Ausdruck – freilich nur insofern dies in einem schriftlichen Werk für Platon zulässig war: Vielleicht am deutlichsten spricht die Stelle Theait. 176e3-4: „̓΅Ε΅ΈΉ΍·ΐΣΘΝΑ...πΑȱ ΘХȱ ϷΑΘ΍ȱ οΗΘЏΘΝΑ,ȱ ΘΓІȱ ΐξΑȱ ΌΉϟΓΙȱ ΉЁΈ΅΍ΐΓΑΉΗΘΣΘΓΙ,ȱΘΓІȱΈξȱΦΌνΓΙȱΦΌΏ΍ΝΘΣΘΓΙ“...(„Zwei Vorbilder…sind aufgestellt im Seienden, das Göttliche der größten Glückseligkeit, und das Ungöttliche des Elendes“…). Wie Th.A. Szlezák kommentiert, gibt es „neben dem Guten…für Sokrates etwas Irreduzibles, Gleichursprüngliches, ihm Entgegengesetztes. So sind denn zwei ‚Vorbilder’ ‚im Seienden aufgestellt’: Die Realität des Negativen ist so unbezweifelbar wie die des Positiven“. 177 Aber auch gerade in der Politeia, wo die ontologische Abhängigkeit des Seienden vom Guten im Vordergrund steht, wird vorsichtig festgehalten: „für das Schlechte aber müssen wir irgendwelche anderen Ursachen suchen, nicht aber den Gott“ („ΘЗΑȱ Έξȱ Ύ΅ΎЗΑȱ ΩΏΏ’ȱ ΩΘΘ΅ȱ ΈΉϧȱ Ί΋ΘΉϧΑȱΘΤȱ΅ϥΘ΍΅,ȱΦΏΏ’ȱΓЁȱΘϲΑȱΌΉϱΑ“). 178 Die Übel werden von den Erzeugnissen Gottes bzw. des Guten deutlich abgetrennt (379b15: das Gute ist also nicht Ursache von allen Dingen; „ΓЁΎȱΩΕ΅ȱΔΣΑΘΝΑȱ΅ϥΘ΍ΓΑȱΘϲȱΦ·΅ΌϱΑ“) und „anderen Ursachen“ zugeschrieben, die aber weder in der Politeia noch in den späteren Dialogen offen benannt werden. 179 Der platonische Dualismus kommt ferner auch im Timaios (ΑΓІΖȱ Ȭȱ ΦΑΣ·Ύ΋/ΛЏΕ΅), Sophistes (ϷΑȱ Ȭȱ ΐχȱ ϷΑ) und Philebos (ΔνΕ΅Ζȱ Ȭȱ ΦΔΉ΍Εϟ΅) zum Vorschein und wird in mehreren Zeugnissen der indirekten Überlieferung klar formuliert, so v.a. in der Metaphysik 987b18-21 und 988a7-15: Platon glaubte, „als Materie seien das Große und das Kleine Prinzipien, als Wesen das Eine“ („БΖȱ ΐξΑȱ ΓЇΑȱ _____________ 177 Szlezák 2004, 124. 178 Plat. Resp., 379c 6-7. 179 Szlezák 2004, 235.

4. Proklos’ Interpretation der „Wahl eines Lebens“ im Er-Mythos

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ЂΏ΋ΑȱΘϲȱΐν·΅ȱΎ΅ϠȱΘϲȱΐ΍ΎΕϲΑȱΉϨΑ΅΍ȱΦΕΛΣΖ,ȱБΖȱΈ’ȱΓЁΗϟ΅ΑȱΘϲȱρΑ“). Diese zwei

Prinzipien seien nach Platon „Elemente“ der Ideen, und somit Ursachen aller Dinge; „Ferner wies er die Ursächlichkeit für das Gutsein und das Schlechtsein den Elementen zu, je einem Element eine Wirkung“ („σΘ΍ȱΈξȱΘχΑȱΘΓІȱΉЇȱΎ΅ϠȱΘΓІȱ Ύ΅ΎЗΖȱ΅ϢΘϟ΅ΑȱΘΓϧΖȱΗΘΓ΍ΛΉϟΓ΍ΖȱΦΔνΈΝΎΉΑȱοΎ΅ΘνΕΓ΍ΖȱοΎ΅ΘνΕ΅Α“). 180 Im Er-Mythos wird nun m.E. die Gegensätzlichkeit der zwei Prinzipien auf der Ebene des Ethischen thematisiert, und zwar im Gegensatz zwischen Freiheit und Unfreiheit – bzw. zwischen Selbstmächtigkeit und Determination. Es ist meiner Meinung nach gerade diese Gegensätzlichkeit, die Proklos mit seiner Interpretation schlichten will. Dieselbe Intention lässt sich übrigens auch in Proklos’ Interpretation zum PolitikosMythos konstatieren, wo die Gegensätzlichkeit zwischen den platonischen Prinzipien auf der kosmischen Ebene versinnbildlicht wird. 181 4.4.2. Die Art der Notwendigkeit des Lebens nach der Wahl

Proklos unterscheidet zwischen zwei Formen von Notwendigkeit: Bei den uns übergeordneten Stufen der ontologischen Hierarchie (ΎΕΉϟΘΘΓΑΉΖ) besteht eine Notwendigkeit gemäß der Existenz (Ύ΅Ό’ȱЂΔ΅ΕΒ΍Α), weil bei diesen das Leben wesensmäßig einer ewigen vernünftigen Ordnung unterliegt, bei der Menschenseele besteht aber eine Notwendigkeit Ύ΅Θ’ȱ ΦΎΓΏΓΙΌϟ΅Α, weil ihre Selbstmächtigkeit unstabil ist und durch verschiedene Wahlentscheidungen in verschiedene Zustände geraten kann 182 . So folgt einer in Selbstmächtigkeit vollzogenen Wahl notwendigerweise eine bestimmte Konsequenz.183 Die Wahl der Seelen selbst interpretiert Proklos _____________ 180 Dt. Übersetzung von Th.A. Szlezák: Aristoteles, Metaphysik, übersetzt und eingeleitet von Th.A. Szlezák, Berlin 2003. 181 S. Theol. Plat. V,6-7 und V,25. 182 Die Selbstmächtigkeit der Menschenseele hängt mit der Unfähigkeit derselben, am Leben der ihr übergeordneten Seinsstufen bzw. am Guten in ewiger Weise teilzuhaben, also mit einem seinsmäßigen Mangel, zusammen. Dies zeigt den Unterschied zwischen Selbstmächtigkeit und Freiheit, die als Rückkehr der Seele zu ihrem Grund die Zurückführung derselben auf das Eine darstellt, das durch die ihr übergeordneten Seinsstufen vermittelt wird. 183 „̍΅ϠȱΓЂΘΝΖȱσΓ΍ΎΉΑȱΔκΑȱΘϲȱπΑΈΉΛϱΐΉΑΓΑȱΉϢΖȱΦΑ΅·Ύ΅ϟ΅ΑȱΐΉΘ΅ΔϟΔΘΉ΍ΑȱΈϾΑ΅ΐ΍ΑȱΈ΍ΤȱΘϛΖȱ ΦΎΓΏΓΙΌϟ΅Ζ,ȱΎ΅ϠȱΘЗΑȱπΑΈΉΛΓΐνΑΝΑȱΦΑ΅·Ύ΅ϟΝΖȱπΑΈΉΛΓΐνΑΓ΍ΖȱΩΏΏΓ΍ΖȱοΔΓΐνΑΝΑ“ (In Remp. II 275, 17-19). In diesem Sinne ist also die Notwendigkeit des Lebens, das der freien Wahl der Seele folgt, zu verstehen: „Ύ΅Ϡȱ ψȱ ΜΙΛχȱ ΔκΗ΅ȱ ΔΕϲΖȱ ςΑȱ ΉϨΈΓΖȱ ϹνΜ΅Η΅ȱΊΝϛΖȱΗΙΐΔΏνΎΉ΍ȱΘϲȱπΔ’ȱ΅ЁΘϜȱΘХȱπΎȱΘΓІȱΔ΅ΑΘϱΖ,ȱΓϩΓΑȱΐΉΕ΍ΎφΑȱΘ΍Α΅ȱΔΕϱΘ΅Η΍Αȱ Ύ΅ΌΓΏ΍ΎϜ,ȱ Ύ΅Ϡȱ ΗΙΑΣ·Ή΍ȱ ΗΙΐΔνΕ΅Ηΐ΅ȱ πΒȱ ΦΑΣ·Ύ΋Ζȱ οΔϱΐΉΑΓΑȱ ΘϲΑȱ ΘϜΈΉȱ ΆϟΓΑȱ Ύ΅ΘΤȱ ΘχΑȱ ΅ϣΕΉΗ΍ΑȱΎ΅ϠȱΘχΑȱΚΓΕΣΑ“ (In Remp. II 274, 25-29).

148

D. Die Bestimmung der ethischen Schlechtigkeit bei Platon und Proklos

mit seiner oben aufgeführten Bestimmung der Wahlentscheidung (s. Kap. C, 86-94).184

5. Die schlechte Handlung bei Platon und Proklos a. Die schlechte ΅ϣΕΉΗ΍Ζ bei Proklos weist meiner Meinung nach eine Art Strukturanalogie zum schlechten Handeln bei Platon auf, wie letzteres am Beispiel des Leontios oder aber auch in der Schilderung der schlechten Wahl eines irdischen Lebens im Er-Mythos beschrieben wird. 1. Bei beiden wird die Wahlentscheidung von einem Streben nach dem wahrhaftigen oder nur scheinbar Guten getragen, das auf eine Unterscheidung der Vernunft zwischen wahrhaft und nur scheinbar Gutem angewiesen ist; diese seelische Kraft – bei Platon die ΆΓϾΏ΋Η΍Ζ, bei Proklos die ΔΕΓ΅ϟΕΉΗ΍Ζ – vereint somit das Volitive mit dem Kognitiven in sich und umfasst die ganze Seele, wobei sie ihren Sitz in der leitenden Vernunftseele hat. 2. Bei beiden wird die schlechte Wahlentscheidung durch eine unangemessene Durchsetzung der unteren Seelenteile gegen die Vernunftseele verursacht. Die Wahl der falschen, sinnlichen Kriterien anstelle der wahren, geistigen bei Proklos – zwar ein Versagen der Vernunftseele, das aber unter dem Druck der unvernünftigen Seele stattfin_____________ 184 Die Beschreibung dieser Wahl durch Platon 618c6-e2 lässt sich – wie Herter 1962, 3 in Bezug auf die vorausgehenden (618b6) und nachfolgenden (619a5) Hinweise auf das Ideal der ΐΉΗϱΘ΋Ζ beobachtet – direkt mit der im Protagoras vorgestellten Messkunst verbinden. Nach der Auslegung von J. Stenzel wird „der Sinn des ‚Mathema’, um das sich die Seele bemühen soll, in der zusammenschauenden Vergleichung aller Faktoren eines Lebens gesehen; im Hinblick auf die Natur der Seele soll man wissen, unter welchen seelischen Voraussetzungen Reichtum, hohe Geburt zum Guten ausschlägt, unter welchen zum Schlechten. So muss man alles ‚trennen und verbinden’, also das Ganze eines Lebensloses in seine einzelnen Züge gliedernd auflösen und sie dann wieder zur Einheit zusammensetzen können. Zusammengefasst wird dieses Wissen in die einfache Forderung, die wir als die Grundlage der sokratisch-platonischen Dialektik kennen: die bessere von zwei Möglichkeiten in jedem Augenblicke in diesem Leben und nach dem Tode in dem künftigen erkennen und ergreifen zu können. Diese dialektische Kraft der Verknüpfung aller Lebensgehalte unter dem einheitlichen Punkt des jeweilig Besseren, also des Guten, sie ist die Kraft der Besonnenheit, wie sie Platon nur auf Grund allgemeinster Welt- und Wesenserkenntnis sich denken kann; es ist die Tugend des Sokrates und die in der Idee des Guten zusammengefasste Paideia des ‚Staates’.“ (Stenzel 1928b, 310f.). Dieses Mathema fällt also mit dem größten Mathema des 6. Buches der Politeia zusammen (s. Stenzel 1928, 184; vgl. Untersteiner 1966, 228: „Die Dialektik ist also nicht nur im Leben, sondern auch nach dem Tod, im Moment der Reinkarnation, notwendig: Nur so wird man eine gute Wahl treffen können“); auch nach Moors 1989, 242ff. ist ein Hauptziel des Mythos zu zeigen, dass nur die Philosophie eine richtige Wahl garantieren kann.

5. Die schlechte Handlung bei Platon und Proklos

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det 185 – darf als Interpretation der Verführung der Seele durch unvernünftige Begierden in der Geschichte des Leontios und im Er-Mythos betrachtet werden. In beiden Fällen wird bei Platon die ethische Tat nicht durch die Einsicht der Vernunftseele, sondern durch die Begierde der unvernünftigen Seele geleitet. Auch die falsche „Entscheidung“ ist freilich im vernünftigen Teil verortet: Er wird durch den unteren Teil „momentan überzeugt“ und gibt seine rechte Meinung auf. Bei Proklos „entscheidet sich“ der vernünftige Teil, die Wahlentscheidung unter Anwendung der falschen Kriterien zu treffen. 3. Bei beiden hätte die Seele sich auch anders entscheiden können, trägt also die Verantwortung ihres Handelns und „bereut“ es. 4. Dennoch bezeichnet Platon die ethisch schlechte Handlung als unfreiwillig; dieses Zugleich von Verfügbarkeit der besseren Handlungsoption und Unfreiwilligkeit der ethisch schlechten Handlung umschreibt Proklos mit seiner Unterscheidung zwischen πΚ’ȱ ψΐϧΑ und οΎΓϾΗ΍ΓΑ. So kann er auch die auf eine verfügbare Kriterienwahl zurückgehende schlechte Wahlentscheidung als unfreiwillig bezeichnen und dabei die Bezeichnung freiwillig der gelungenen (guten) Wahlentscheidung vorbehalten: „Denn freiwillig ist alles, was uns in höherem Maße wohltut, während der Abfall vom Vollkommeneren unfreiwillig ist; oder eher ist letzterer bloß nicht-freiwillig, wobei derjenige Abfall unfreiwillig ist, der sich nicht nur von den größeren Gütern entfernt hat, sondern in die Unbegrenztheit der Schlechtigkeit abgestürzt ist.“ 186 Gegenüber dieser Analogie muss man dennoch festhalten, dass Proklos durch die Beschreibung der ethisch schlechten Tat als Kriterienwahl zumindest in seiner Ausdrucksweise der schlechten Tat im Vergleich zu Platon ein Mehr an Selbstmächtigkeit zuschreibt. Dennoch, wenn man den konkreten Inhalt dieser falschen Kriterienwahl und ihren Charakter als der rechten Kriterienwahl neben-existierende (Δ΅ΕΙΚ΍ΗΘ΅ΐνΑ΋) Verkehrung dieser Wahl betrachtet, wird deutlich, dass es nicht um eine Entscheidung, sondern eher um eine Nicht-Entscheidung geht. Der Sache nach also stimmt er mit der platonischen Behandlung desselben Phänomens viel weitgehender überein, als seine Ausdrucksweise vermuten ließe. _____________ 185 S. De decem dubitationibus circa providentiam 5. 186 In Tim. I 22, 13-17: „οΎΓϾΗ΍ΓΑȱΐξΑȱ·ΤΕȱΔκΑȱΘϲȱΐΉ΍ΊϱΑΝΖȱψΐκΖȱВΚΉΏΓІΑ,ȱψȱΈξȱΘЗΑȱ ΘΉΏΉΝΘνΕΝΑȱΦΔϱΔΘΝΗ΍ΖȱΦΎΓϾΗ΍ΓΑаȱΐκΏΏΓΑȱΈξȱ΅ЂΘ΋ȱΐξΑȱΓЁΛȱοΎΓϾΗ΍ΓΑ,ȱψȱΈξȱΓЁȱΐϱΑΓΑȱ ΦΔΓΗΘκΗ΅ȱΘЗΑȱΐΉ΍ΊϱΑΝΑȱΦ·΅ΌЗΑ,ȱΦΏΏΤȱΎ΅ϠȱΉϢΖȱΘχΑȱΦΔΉ΍Εϟ΅ΑȱЀΔΉΑΉΛΌΉϧΗ΅ȱΘϛΖȱΎ΅Ύϟ΅Ζȱ ΦΎΓϾΗ΍ΓΑ“ (zum ΓЁΛȱ οΎΓϾΗ΍ΓΑ im Unterschied zum ΦΎΓϾΗ΍ΓΑ s. Aristoteles, Eth.

Nic. 1110b18). Man könnte in der Unterscheidung zwischen diesen beiden Momenten der πΚ’ȱψΐϧΑ Tätigkeit der Seele, insofern sie nicht οΎΓϾΗ΍ΓΖ ist, einen Hinweis auf die negative Dynamik einer schlechten Wahlentscheidung sehen: In der ersten Abwendung vom Guten liegt eine Tendenz zur steigernden Angleichung zur Unbegrenztheit, die mit einem zunehmenden Verlust der Freiheit zusammenhängt.

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D. Die Bestimmung der ethischen Schlechtigkeit bei Platon und Proklos

b. Bei beiden Philosophen wird die schlechte Tat in vergleichbarer Weise in den Rahmen der ethischen Entwicklung der menschlichen Teilseele eingeordnet und dabei mit den Begriffspaaren Wissen-Wollen und Selbstbestimmung-Determination beschrieben. Die Selbstbestimmung wird nicht „ethisch neutral“ als indifferente Möglichkeit zum Guten und zum Schlechten, sondern qualitativ als innerlich auf das Gute hin bestimmtes Vermögen der Vernunftseele bestimmt. 1. Da das Volitive ontologisch zum Guten bestimmt und vom Wissen geleitet wird, kann die ethisch schlechte Handlung nur als Ergebnis einer bestimmten Unwissenheit und daher als unfreiwillig 187 verstanden werden: Ethisch schlechte Handlung und ethisch schlechter Zustand sind gleichermaßen unfreiwillig. Als Ursache der ethischen Schlechtigkeit führt Platon neben der Unwissenheit auch eine Krankheit der Seele auf, die als Mangel der Ordnung zwischen den Seelenteilen beschrieben wird. Manche Fälle dieser Krankheit werden sogar im Timaios auf die schlechte körperliche Verfassung zurückgeführt. Der Zustand der Unbeherrschtheit, wie er am Beispiel des Leontios veranschaulicht wird, könnte als ein Fall einer solchen Krankheit betrachtet werden. Ihre Überwindung – wie die vorgeschlagenen Heilmittel im Sophistes (Έ΍Έ΅ΗΎ΅Ώ΍Ύχ 229a10) und Timaios zeigen – ist in der Erziehung bzw. Belehrung zu suchen, besteht also in der Aneignung eines Wissens. Das Wissen ist somit die Überwindung sowohl der Unwissenheit wie auch der Krankheit der Seele bzw. setzt in seinen höheren Stufen die Heilung der Krankheit der Seele schon voraus. Wissen und Tugend bzw. ethische Schlechtigkeit und Unwissenheit sind für Platon wie für Proklos untrennbar. 2. Ein damit zusammenhängender wichtiger Vergleichspunkt wäre die Behandlung des Phänomens der Unbeherrschtheit. Die Fälle der Unbeherrschtheit werden m.E. als krankhafte Unordnung zwischen den Seelenteilen verstanden und haben eher die Rolle, die innere Auseinandersetzung, welche die unumgängliche Folge des Zusammengesetztseins der menschlichen Teilseele aus Vernünftigem und Unvernünftigem ist, zu verdeutlichen und so die Problematik der Selbstbestimmung des in der Vernunftseele konzentrierten Menschen schärfer herauszuarbeiten. Dennoch werden diese Fälle von allen anderen ethisch schlechten Handlungen nicht in Bezug auf die Selbstmächtigkeit der Handlungen unterschieden, da sowohl bei den Unbeherrschten wie auch bei den „überzeugten Schlechten“ die schlechte Handlung ihren Grund letztlich in der Unwissenheit hat: Unterschiedlich ist nur der Grad an Unwissenheit. 3. Obwohl der Zustand der ethischen Schlechtigkeit wie die ethisch schlechte Handlung unfreiwillig sind, kann bei Platon letztere dem Men_____________ 187 Plat. Soph. 228c6-7.

5. Die schlechte Handlung bei Platon und Proklos

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schen zugerechnet werden, wie u.a. die Nomoi zeigen. Die Zurechenbarkeit kann von der – zumindest prinzipiell – jedem Menschen zukommenden Möglichkeit, das Wissen über das Gute und das Schlechte zu erlangen, abgeleitet werden – nicht aber von einer Freiwilligkeit des schlechten Handelns. 4. Die Selbstbestimmung wird in Abstufung aufgefasst und wächst somit zugleich mit dem Fortschreiten des Tugendwissens: Freiheit, Erkenntnis, Arete gehören untrennbar zusammen. Es handelt sich um die fortschreitende Selbstverwirklichung der ontologisch unabgeschlossenen Natur des Menschen. Die volle Freiheit des Philosophen steht sozusagen der Zurechenbarkeit des schlechten Handelns gegenüber, die ihrerseits innerlich abgestuft ist. 188 Die proklische Bestimmung der schlechten Wahlentscheidung als falscher Kriterienwahl will m.E. die ethische Grundlage gerade dieser Zurechenbarkeit des schlechten Handelns bei Platon zum Ausdruck bringen. Die proklische Unterscheidung zwischen Selbstmächtigkeit und Freiwilligkeit will andererseits den Abstand zwischen dieser Zurechenbarkeit des Unrechttuns und der Freiheit des Philosophen ausdrücken. Hier scheint Proklos mit seiner Modifizierung der beiden traditionellen Begriffe einen bei Platon der Sache nach vorausgesetzten Gedanken artikuliert zu haben. 189 5. Die Menschenseele wird in ihren breiteren kosmischen Gesamtzusammenhang eingeordnet, indem ihr Schicksal in der Kette der Reinkarnationen betrachtet wird. Die während eines Menschenlebens scheinbar völlig unverfügbaren äußeren und inneren (Zwangs-)Faktoren werden mit der Selbstmächtigkeit der Seele in Verbindung gebracht, hängen aber nicht nur von dieser ab. Es ist gezeigt worden, dass Proklos’ Interpretation des Er-Mythos durch eine durchgehende Tendenz zur Umdeutung der Rolle von Faktoren, die der Selbstbestimmung der Seele äußerlich und somit unverfügbar sind, gekennzeichnet wird; diese Faktoren werden als in Wirklichkeit im Einflußbereich der Seele liegend uminterpretiert. Die Grundzüge der Bedeutung des Mythos sind aber m.E. in der Interpretation des Proklos präsent, so vor allem die Aufhebung der Gesamtheit der Wahlentscheidungen in einer einzigen übergeordneten Wahl. Darin wird der Zusammenhang zwischen einzelner ethischer Tat und dem Charakter, der im 8. und 9. Buch der Politeia im Zentrum der Darstellung steht, ersichtlich. Indem Proklos diese einzige allumfassende Wahl als Kriterienwahl auslegt, die ihrerseits die konkrete Wahlentscheidung bestimmt, unterscheidet er sie von letzterer und zeigt zugleich, dass sie als Grund der konkreten Wahlentscheidungen von dieser untrennbar ist. _____________ 188 S. Platon, Leg. 860d-869e. 189 Vgl. Neuhausen 1967, 172-174; Mackenzie 1981, 201.

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D. Die Bestimmung der ethischen Schlechtigkeit bei Platon und Proklos

Der Satz, mit dem Platon den zur richtigen Wahl führenden Gedankengang bei der Betrachtung der Lebenslose durch die Seelen beschreibt – „ΦΑ΅ΏΓ·΍ΊϱΐΉΑΓΑȱ ΔΣΑΘ΅...ГΗΘΉȱ πΒȱ ΥΔΣΑΘΝΑ [sc. den verschiedenen Lebensumständen] ΅ЁΘЗΑȱΈΙΑ΅ΘϲΑȱΉϨΑ΅΍ȱΗΙΏΏΓ·΍ΗΣΐΉΑΓΑȱ΅ϡΕΉϧΗΌ΅΍“ 190 – ist dem Satz, mit dem er vielleicht seine eigene Entscheidung für die Philosophie schildert (Θ΅ІΘ΅ȱ ΔΣΑΘ΅ȱ ΏΓ·΍ΗΐХȱ Ώ΅ΆАΑ 496d5-6), inhaltlich ähnlich. Es handelt sich jeweils um eine einzige Grundentscheidung, die sich in den konkreten Entscheidungen äußert und bewährt.

_____________ 190 618c6 - d5-6.

E. Die Rezeption des Proklos durch Dionysios Areopagites Die Bestimmung des Schlechten durch Proklos, wie sie sich in der Schrift De malorum subsistentia entfaltet, hat über ihren verhältnismäßig begrenzten direkten Einfluss auf die späteren Neuplatoniker hinaus 1 durch ihre Rezeption bei Dionysios Areopagites einen nachhaltig tiefen Einfluss auf die Entwicklung der christlichen Lehre vom Schlechten ausüben können. Dank der Pseudepigraphie dieser im 5. oder 6. Jhd. höchstwahrscheinlich in Syrien entstandenen Werke, die sich als Schriften des athenischen Schülers des Apostels Paulus stilisieren, 2 genoss das areopagitische Corpus eine fast apostolische Autorität, so dass sein freizügiger Umgang mit dem platonischen Denken vor einem Häresie-Vorwurf verschont blieb. 3 So ist das Werk des Dionysios De divinis nominibus, in dessen 4. Buch die Schrift De malorum subsistentia intensiv rezipiert wird, von einer Reihe bedeutender Theologen und Philosophen im griechischen Osten wie auch im lateinischen Westen kommentiert worden. 4

1. Zum Charakter der Rezeption Die durchgehende literarische Abhängigkeit der zweiten Hälfte des 4. Buchs aus der Schrift De divinis nominibus vom Traktat De malorum subsistentia ist m.E. unbestreitbar, obwohl sie durch mehrere Forscher abgelehnt worden ist. Stiglmayr und Koch haben im selben Jahr, unabhängig voneinander, diese Abhängigkeit entdeckt. 5 Carlos Steel hat im genannten Teil _____________ 1 2 3

4 5

Dazu s. Schröder 1916, 202-205. Diese Pseudepigraphie ist ja nicht zufällig, sondern steht für die Intention des Autors, die athenische Philosophie mit der Predigt des Evangeliums innig zu verbinden. Wie J. Koch bemerkt, hätte „niemand…es im Mittelalter gewagt, den ‚Apostelschüler’ Dionysius anzugreifen oder eines seiner Werke zu verurteilen“ (Koch 1957, 133), obwohl „in den Teilen dieser Schriften, die nicht ausgesprochen christlich sind, Proklos zu uns“ redet (Koch 1957, 118). S. Steel 1997, 89. S. Stiglmayr 1895; Koch 1895. Es war wahrscheinlich die auffällig genaue Parallelität zwischen diesen beiden Texten, die einen anonymen antiken Verteidiger der

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E. Die Rezeption des Proklos durch Dionysios Areopagites

des Traktates De divinis nominibus die der Schrift De malorum subsistentia entnommenen Sätze, Ausdrücke und einzelnen Wörter unterstrichen und die Parallelstellen aufgelistet. Das Ergebnis ist keine Überraschung für den aufmerksamen Leser beider Texte. Nicht nur ist ein beträchtlicher Teil der areopagitischen Ausführungen wortwörtlich aus der Schrift De malorum subsistentia abgeschrieben, sondern auch Stücke, die nicht unmittelbar an Proklos’ Wortlaut erinnern, erweisen sich als freie Umformulierungen proklischer Gedanken, wobei freilich manchen proklischen Aussagen widersprochen wird. Die Umschreibungen von Gedanken aus dem Traktat De malorum subsistentia sind meistens sehr gedrängt, wie ein Vergleich zwischen dem Umfang der beiden Texte erwarten lässt. Insgesamt gibt es im zu besprechenden Teil der Schrift De divinis nominibus nur wenige einzelne Gedanken und Abschnitte, die sich in De malorum subsistentia nicht finden lassen. Ferner wird auch die Gliederung von Proklos übernommen, wenn auch in modifizierter Form, da einige Teile des Traktates De malorum subsistentia, wie z.B. einige Elemente der ausgearbeiteten Kausalität des Schlechten und seine Bestimmung als gegensätzliche Beraubung (ЀΔΉΑ΅ΑΘϟΓΑ) des Guten, zu kurz gefasst werden oder ausfallen. In seiner modifizierenden Zusammenfassung des proklischen Werkes folgt Dionysios nicht immer der inhaltlichen Reihenfolge bei Proklos. Er übernimmt zwar, wie gesagt, die Struktur seiner Vorlage, benutzt aber oft im selben Abschnitt wortwörtliche oder meistens umformulierte Auszüge aus weit entfernten Stellen des De mal. sub. 6 In gewissen Fällen folgt er dennoch getreu auch der proklischen Reihenfolge der Inhalte. Trotz der eindeutigen Abhängigkeit modifiziert Dionysios seine Vorlage an entscheidenden Stellen und passt sie dadurch an sein eigenes Denken an. Im Folgenden wird daher sein Gedankengang auf dem Hintergrund der proklischen Vorlage vorgestellt, damit der Charakter seiner modifizierenden Aneignung greifbar wird.

_____________ areopagitischen Schriften zur Behauptung veranlasste, „dass etliche der heidnischen Philosophen, und ganz besonders Proklos, die Überlegungen des seligen Dionysios oftmals benutzt haben, sogar auch wortwörtlich“ („ГΖȱΘ΍ΑΉΖȱΘЗΑȱσΒΝȱΚ΍ΏΓΗϱΚΝΑ,ȱΎ΅ϠȱΐΣΏ΍ΗΘ΅ȱ̓ΕϱΎΏΓΖ,ȱ ΌΉΝΕφΐ΅Η΍ȱΔΓΏΏΣΎ΍ΖȱΘΓІȱΐ΅Ύ΅ΕϟΓΙȱ̇΍ΓΑΙΗϟΓΙȱΎνΛΕ΋ΑΘ΅΍,ȱΎ΅Ϡȱ΅ЁΘ΅ϧΖȱ ΈξȱΒ΋Ε΅ϧΖȱΘ΅ϧΖȱ ΏνΒΉΗ΍“) (PG 4, 21D; Suchla 1995, 19-20; vgl. Saffrey 1998, 796 mit Anm. 11).

6

Vgl. Steel 1997, 105-108. Wie Rorem 1993, 151 beobachtet, ist der in Rede stehende Abschnitt auch in seinem Stil vom übrigen areopagitischen Corpus verschieden: In den durch Kürze gekennzeichneten areopagitischen Schriften kommt keine zweite dermaßen lange, ausführlich argumentierende Abhandlung zu einem einzelnen Thema vor.

2. Die Lehre des Areopagites vom Schlechten

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2. Die Lehre des Areopagites vom Schlechten vor dem Hintergrund des Traktats De malorum subsistentia Nachdem Dionysios in der ersten Hälfte des 4. Buchs die Selbstvermittlung des Guten zu den Stufen der ontologischen Hierarchie als Licht und Schönheit und die Rückkehr der Seienden zum Guten kraft des vom Guten selbst vermittelten Eros seiner selbst entfaltet hat, 7 setzt er sich mit dem Problem des Vorhandenseins des Schlechten innerhalb der vom Guten ausgehenden Hierarchie des Seienden auseinander. 2.1. Die Fragestellung: die Schlechtigkeit der Dämonen als Anlass der Frage nach der Existenz des Schlechten Das Problem der Schlechtigkeit der Dämonen stellt sich für Dionysios im Kontext der Entfaltung seines Erosbegriffs. Denn insofern die Dämonen an diesem vom Guten allen Seienden vermittelten Eros nicht teilhaben, neigen sie zur Materie hin und fallen somit von demjenigen Selbstsein ab, das den Engeln zukommt, weil dieses Selbstsein gerade in der σΚΉΗ΍Ζ des Guten besteht. Der Fall der Dämonen von ihrem Urstand als Engel wird also als Abwendung ihres Strebens von seinem seinsmäßigen Ziel und als Zuneigung zur ontologisch untergeordneten Materie beschrieben. Dadurch sind sie – im Rahmen der Schöpfungsgeschichte – zur Ursache aller Übel geworden, sowohl für sich selbst wie auch für die anderen Seienden, _____________ 7

Das Thema dieses ersten Teils des 4. Kapitels wird in den folgenden Zeilen (160, 5-11) zusammengefasst: „Daher nennt man ihn liebenswürdig und liebenswert, weil er anmutig und gut ist, Eros hinwieder und Agape, weil er zugleich bewegende und zu sich emporführende Kraft ist, das einzig Anmutige und Gute selbst durch sich selbst, das gleichsam Offenbarung seiner selbst durch sich selbst ist und gütige Emanation aus der enthobenen Einung, ferner einfache, selbstbewegte, selbstwirksame Bewegung aus Liebe, die im Guten präexistiert und aus dem Guten auf das Seiende ausströmt und sich wiederum zum Guten hinkehrt“ („̖΅ϾΘϙȱΈξȱΦ·΅Δ΋ΘϲΑȱΐξΑȱΎ΅ϠȱπΕ΅ΗΘϲΑȱ΅ЁΘϲȱΎ΅ΏΓІΗ΍Αȱ[ΓϡȱΌΉΓΏϱ·Γ΍],ȱБΖȱΎ΅ΏϲΑȱΎ΅Ϡȱ Φ·΅ΌϱΑаȱσΕΝΘ΅ȱ Έξȱ΅ЇΌ΍ΖȱΎ΅ϠȱΦ·ΣΔ΋Α,ȱБΖȱ Ύ΍Α΋Θ΍ΎχΑȱΧΐ΅ȱΎ΅Ϡȱ БΖȱ ΦΑ΅·Ν·ϲΑȱΈϾΑ΅ΐ΍Αȱ ϷΑΘ΅ȱ πΚ’ȱ ο΅ΙΘϱΑ,ȱ Θϲȱ ΐϱΑΓΑȱ ΅ЁΘϲȱ Έ΍’ȱ ο΅ΙΘϲȱ Ύ΅ΏϲΑȱ Ύ΅Ϡȱ Φ·΅ΌϱΑ,ȱ Ύ΅Ϡȱ ГΗΔΉΕȱ σΎΚ΅ΑΗ΍Αȱ ϷΑΘ΅ȱ ο΅ΙΘΓІȱ Έ΍’ȱ ο΅ΙΘΓІ,ȱ Ύ΅Ϡȱ ΘϛΖȱ πΒ΋Ε΋ΐνΑ΋Ζȱ οΑЏΗΉΝΖȱ Φ·΅ΌχΑȱ ΔΕϱΓΈΓΑ,ȱ Ύ΅Ϡȱ πΕΝΘ΍ΎχΑȱΎϟΑ΋Η΍Α,ȱΥΔΏϛΑ,ȱ΅ЁΘΓΎϟΑ΋ΘΓΑ,ȱ΅ЁΘΉΑνΕ·΋ΘΓΑ,ȱΔΕΓΓІΗ΅ΑȱπΑȱΘΦ·΅ΌХ,ȱΎ΅ϠȱπΎȱ ΘΦ·΅ΌΓІȱ ΘΓϧΖȱ ΓЇΗ΍Αȱ πΎΆΏΙΊΓΐνΑ΋Α,ȱ Ύ΅Ϡȱ ΅ЇΌ΍Ζȱ ΉϢΖȱ ΘΦ·΅ΌϲΑȱ πΔ΍ΗΘΕΉΚΓΐνΑ΋Α“) (hier

und bei allen Zitaten aus der Schrift De div. nom., dt. Übersetzung von B.R. Suchla: Pseudo-Dionysius Areopagita, Die Namen Gottes, eingeleitet, übers. u. mit Anm. vers. v. B. R. Suchla, Stuttgart 1988; diese Übersetzung wurde wo notwendig leicht modifiziert).

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E. Die Rezeption des Proklos durch Dionysios Areopagites

und vornehmlich für die Menschen. 8 Es stellt sich daher die Frage nach dem Grund dieses Falls der Dämonen: Entweder sind sie seinsmäßig nicht Φ·΅ΌΓΉ΍ΈΉϧΖ, was ihrem Hervorgang aus dem Guten widerspräche, 9 oder aber ist ihre gute Natur kraft einer anderen Ursache verändert worden, was die Alleinursächlichkeit des Guten problematisieren würde. 10 In diesem Dilemma ist aber die Hauptschwierigkeit der Erklärung des Vorhandenseins des Schlechten in einem vom Guten ausgehenden monistischen System schon gegeben, wie sie in anderer Form im ontologischen Argument des Proklos gegen die plotinische Position dargestellt wurde: Das Schlechte muss, wenn es in die alles durchziehende Ursachenkette eingegliedert werden soll, letztlich entweder auf das Gute als erstes Prinzip oder auf eine weitere vom Guten unabhängige Ursache zurückgeführt werden. In beiden Fällen wird die Kohärenz eines solchen Systems gefährdet. Die Wahrnehmung dieser Hauptschwierigkeit veranlasst m.E. Dionysios dazu, von der Frage nach dem Grund der Schlechtigkeit der Dämonen auf das allgemeine Problem des Schlechten überzuwechseln, das er auf dem Hintergrund des Traktats De malorum subsistentia behandelt. Dieser Übergang ist übrigens in der christlichen kosmischen Heilsgeschichte begründet, derzufolge der Fall der Dämonen vom Engelwesen die Ersterscheinung und im Rahmen der Schöpfungsgeschichte die Ursache des Schlechten in der Schöpfung ist. D.h. im Rahmen der Schöpfungsgeschichte kommt eine Antwort auf die Frage nach dem Grund der Schlechtigkeit der Dämonen einer Antwort auf diejenige nach der Ursache des Schlechten überhaupt gleich. Dieses allgemeine Problem wird in den folgenden Fragen artikuliert: „Was ist das Schlechte überhaupt, aus welchem Prinzip ist es vorhanden, und worin existiert es? Warum beschloss der Gute, es zu erschaffen, wieso aber vermochte er es, da er es wollte? Wenn aber das Schlechte aus einer anderen Ursache stammt, welch andere Ursache für das Seiende gibt es wider das Gute? Wieso aber existiert das Schlechte, obwohl es doch eine Vorhersehung gibt, warum ist es entweder überhaupt entstanden oder wieso wurde es nicht beseitigt, und warum strebt irgend etwas gegen das Gute nach ihm?“. 11 _____________ 8 9

162, 9-12. Da die von Gott als Engel geschaffenen Dämonen seinsmäßig gut sind, kann der Grund ihrer Abwendung vom Guten nicht in ihrem Wesen liegen. 10 162, 12 – 163, 4. 11 163, 1-6: „Ύ΅ϠȱϵΏΝΖȱΘϟȱΘϲȱΎ΅ΎϱΑȱπΗΘ΍,ȱΎ΅ϠȱπΎȱΘϟΑΓΖȱΦΕΛϛΖȱЀΔνΗΘ΋,ȱΎ΅ϠȱπΑȱΘϟΑ΍ȱΘЗΑȱϷΑΘΝΑȱ σΗΘ΍Α;ȱ ̍΅Ϡȱ ΔЗΖȱ ϳȱ Φ·΅ΌϲΖȱ ΅ЁΘϲȱ Δ΅Ε΅·΅·ΉϧΑȱ ωΆΓΙΏφΌ΋,ȱ ΔЗΖȱ Έξȱ ΆΓΙΏ΋ΌΉϠΖȱ ωΈΙΑφΌ΋;ȱ ̍΅ϠȱΉϢȱπΒȱΩΏΏ΋Ζȱ΅ϢΘϟ΅ΖȱΘϲȱΎ΅ΎϱΑ,ȱΘϟΖȱοΘνΕ΅ȱΘΓϧΖȱΓЇΗ΍ȱΔ΅ΕΤȱΘΦ·΅ΌϲΑȱ΅ϢΘϟ΅;ȱ̓ЗΖȱΈξȱ Ύ΅Ϡȱ ΔΕΓΑΓϟ΅Ζȱ ΓЄΗ΋Ζȱ σΗΘ΍ȱ Θϲȱ Ύ΅ΎϲΑȱ ύȱ ·΍ΑϱΐΉΑΓΑȱ ϵΏΝΖȱ ύȱ ΐχȱ ΦΑ΅΍ΕΓϾΐΉΑΓΑ,ȱ Ύ΅Ϡȱ ΔЗΖȱ πΚϟΉΘ΅ϟȱΘ΍ȱΘЗΑȱϷΑΘΝΑȱ΅ЁΘΓІȱΔ΅ΕΤȱΘΦ·΅ΌϱΑ;“.

2. Die Lehre des Areopagites vom Schlechten

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2.2. Leugnung der Existenz des Schlechten Wie Proklos führt auch Dionysios nach der Formulierung seiner Fragestellung eine Reihe von Argumenten gegen die Existenz des Schlechten auf. Während aber Proklos diese Argumente als nur eine mögliche Antwort auf die Frage, ob die Übel den Seienden zuzurechnen sind, zur Diskussion stellt, 12 um die eigene Stellungnahme erst viel später auszusprechen, macht Dionysios gleich deutlich, dass er jede Zurechnung des Schlechten zu den Seienden ablehnt. So leitet er seine Argumentation, die er aus zahlreichen Kapiteln des ganzen Traktats De malorum subsistentia schöpft 13 , mit dem Satz ein: „Wir aber werden verlangen, dass dieser Einwand zur Wahrheit der Tatsachen blickt, und freimütig darangehen, vor allem folgendes zu antworten“ 14 . Seine Argumente geben die entsprechenden proklischen Gedanken sehr knapp aber m.E. grundsätzlich richtig wieder: 1. Das Schlechte kann weder vom Guten hervorgebracht werden, da dieses von Natur nur Gutes erzeugt, noch vom Schlechten, sowohl weil alles Seiende vom Guten hervorgeht, wie auch weil das Schlechte als von Natur Verderbendes nichts zu erzeugen vermag.15 2. Als von Natur aus Verderbendes kann das Schlechte nicht auch gegenüber sich selbst schlecht sein, denn damit würde es sich selbst aufheben; demzufolge kann es nur durch eine gewisse Teilhabe am Guten irgendwie vorhanden sein. 16 3. Ferner, als von Natur aus Verderbendes wird das Schlechte nicht um seiner selbst willen, sondern als vermeintlich Gutes angestrebt. 17 Der einzige neue Gedanke gegenüber der Vorlage ist die Unmöglichkeit einer Verursachung des Schlechten durch das Schlechte. Wie bei Proklos wird als Einwand gegen die Position, die die NichtExistenz des Schlechten behauptet, die evidente Wirklichkeit der ethischen Schlechtigkeit und des Gegensatzes zwischen Tugend und Laster im Menschen und in der Gesellschaft angeführt. Dieser Gegensatz fordert eine Erklärung des Vorhandenseins des Schlechten aus in De malorum subsistentia angesprochenen Gründen; „und deswegen ist es zwingend zuzugeben, dass es ein dem Guten entgegengesetztes Schlechtes gibt.“ 18 _____________ 12 S. De mal. sub. 4,1-2: „ϳȱΐξΑȱΓЇΑȱΘϲȱΎ΅ΎϲΑȱπΒΓΕϟΊΝΑȱΘΓІȱΉϨΑ΅΍ȱΏϱ·ΓΖȱΘΓ΍ΓІΘΓΖȱΩΑȱΘ΍Ζȱ Ήϥ΋,ȱΎ΅ϠȱΘΓ΍΅ІΘ΅ȱΪΑȱψΐϧΑȱΔΕΓΚνΕΓ΍ΘΓȱΔ΍Ό΅ΑЗΖȱΏν·ΝΑ“; vgl. De mal. sub. 2,1-2. 13 S. Steel 1997, 105. 14 163, 7-9: „ψΐΉϧΖȱΈξȱΦΒ΍ЏΗΓΐΉΑȱ΅ЁΘϲΑȱ[sc.ȱΘϲΑȱΦΔΓΕΓІΑΘ΅ȱΏϱ·ΓΑ]ȱΉϢΖȱΘχΑȱΘЗΑȱΔΕ΅·Ȭ ΐΣΘΝΑȱΦΏφΌΉ΍΅ΑȱΦΔΓΆΏνΔΉ΍ΑȱΎ΅ϠȱΔΕЗΘϱΑȱ·ΉȱΘΓІΘΓȱΉϢΔΉϧΑȱΔ΅ϺϹ΋Η΍΅ΗϱΐΉΌ΅“. 15 163, 11-13. 16 163, 13-15. 17 163, 15-19. 18 164, 12: „Ύ΅ϠȱπΎȱΘΓϾΘΝΑȱΦΑΣ·Ύ΋ȱΈΓІΑ΅ϟȱΘ΍ȱΘХȱΦ·΅ΌХȱΎ΅ΎϲΑȱπΑ΅ΑΘϟΓΑ“.

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E. Die Rezeption des Proklos durch Dionysios Areopagites

2.3. Das Schlechte als parasitäre Usurpation der Kraft des Guten (Δ΅ΕΙΔϱΗΘ΅Η΍Ζ) und als unvollkommen Gutes Dionysios greift den proklischen Gedanken auf, dass, unter der Voraussetzung der Abhängigkeit des Seins vom Guten und der Ableitung jeder Kraft (ΈϾΑ΅ΐ΍Ζ) von einem Wesen, die Beraubung und der Gegensatz des Guten, diese beiden Komponenten der proklischen Bestimmung des Schlechten als gegensätzlicher Beraubung (ЀΔΉΑ΅ΑΘϟΓΑ) des Guten, notwendig von der Kraft (ΈϾΑ΅ΐ΍Ζ) eines vom Guten abgeleiteten Wesens abhängen.19 M.a.W. wird Beraubung und Gegensatz des Guten letztlich nur kraft des Guten ermöglicht: „Wenn es erforderlich ist, freimütig die Wahrheit auszusprechen, so sagen wir: Selbst das, was mit dem Guten kämpft, hat nur durch dessen Kraft seine Existenz und die Fähigkeit zu kämpfen“. 20 Wenn das Sein vom Guten abhängt, bedeutet die Aufhebung des Guten a fortiori die Aufhebung des Seins. Wie ist dann aber diese „Usurpation“ der Kraft des Guten zu verstehen? Seiner Vorlage entsprechend bestimmt Dionysios die „Existenzweise“ des Schlechten als Δ΅ΕΙΔϱΗΘ΅Η΍Α, als parasitär („Es bleibt aber die Krankheit und hat ihre Existenz, indem sie ihr Wesen in der geringsten [verbleibenden] Ordnung hat und in dieser Mit-Realisierung findet“ 21 ); dabei spricht er aber dem Schlechten jeden Anhaltspunkt auf der ontologischen Ebene ab. Seinem bloß faktischen Vorhandensein entspricht in der Ontologie eine Minderung der Aufnahme des Guten. Dies wird schon im zitierten Satz ersichtlich: Das im uneigentlichen Sinne gemeinte „Wesen“ der Krankheit – also einer „Form“ des Schlechten – wird als minimale Ordnung bestimmt. Eine schon von Proklos gezogene Konsequenz des aufgeführten Arguments ist, dass sich das Schlechte nicht als absolutes Gegenteil des Guten bestimmen lässt, denn ein absolutes Gegenteil des Guten wäre ein absolutes Gegenteil des Seins und somit nicht-existent. Das Schlechte als das „teils Gute, teils nicht Gute kämpft zwar mit irgendeinem Guten, nicht aber mit der Gesamtheit des Guten…Nur dann wird das Schlechte eine Existenz aufweisen und sichtbar werden, wenn es für die einen, denen es entgegengesetzt ist, ein Schlechtes ist, von den anderen aber, weil sie gut sind, abhängt. Es ist nämlich nicht möglich, dass sich dieselben [Dinge] in ein und derselben Hinsicht in allem gegenseitig bekämpfen. Folglich ist das Schlechte nicht seiend.“ 22 Letzterer Satz ist die schon am Anfang _____________ 19 166, 5-168, 11. 20 166, 7-8: „ΉϢȱΛΕχȱΔ΅ϺϹ΋Η΍΅ΗΣΐΉΑΓΑȱΉϢΔΉϧΑȱΘΦΏ΋Όϛаȱ̍΅ϠȱΘΤȱΐ΅ΛϱΐΉΑ΅ȱ΅ЁΘХȱ[sc.ȱΘХȱ Φ·΅ΌХ]ȱΘϜȱ΅ЁΘΓІȱΈΙΑΣΐΉ΍ȱΎ΅ϠȱσΗΘ΍ȱΎ΅ϠȱΐΣΛΉΗΌ΅΍ȱΈϾΑ΅Θ΅΍“. 21 167, 15-16: „ΐνΑΉ΍ȱΈξȱΎ΅ϠȱσΗΘ΍ΑȱψȱΑϱΗΓΖȱΓЁΗϟ΅ΑȱσΛΓΙΗ΅ȱΘχΑȱπΏ΅ΛϟΗΘ΋ΑȱΘΣΒ΍ΑȱΎ΅ϠȱπΑȱ ΅ЁΘϜȱΔ΅ΕΙΚ΍ΗΘ΅ΐνΑ΋“. 22 168, 2-11: „ΔϜȱΐξΑȱΦ·΅ΌϱΑ,ȱΔϜȱΈξȱΓЁΎȱΦ·΅ΌϲΑȱΐΣΛΉΘ΅΍ȱΐξΑȱΦ·΅ΌХȱΘ΍Α΍,ȱΓЁΛȱϵΏУȱΈξȱ ΘΦ·΅ΌХ...Ύ΅ϠȱΘϱΘΉȱΐϱΑΓΑȱσΗΘ΅΍ȱΎ΅ϠȱϴΚΌφΗΉΘ΅΍ȱΘϲȱΎ΅ΎϱΑ,ȱψΑϟΎ΅ȱΘΓϧΖȱΐνΑȱπΗΘ΍ȱΎ΅ΎϱΑ,ȱ

2. Die Lehre des Areopagites vom Schlechten

159

des Exkurses postulierte These des Dionysios: Das Schlechte gehört nicht zum Seienden, da es „ein unvollkommen Gutes“ 23 ist. Diese These wird weiter mit dem Argument der gegenseitigen Durchdringung oder des Ineinanderseins von Gutem und Seiendem, das eine Folge des Schöpfungsgedankens ist, bekräftigt. 24 Dieses Argument wird hier unabhängig von Proklos formuliert. Aber insgesamt scheint es eine modifizierte Umschreibung des proklischen Argumentes gegen die Zurückführung des Schlechten auf die Materie zu sein 25 . Die Prämisse des Argumentes, dass die Ursache des Schlechten nicht das Gute sein kann, wird mit dem neutestamentlichen Vers: „Es kann ein guter Baum keine schlechten Früchte hervorbringen“ 26 versinnbildlicht. 2.4. Der Ort des Schlechten in der ontologischen Hierarchie und die Ursachen der Übel In einer längeren Partie seiner Ausführungen 27 untersucht Dionysios, die Abfolge des Traktats De malorum subsistentia reproduzierend, den Ort des Schlechten in der Hierarchie des Seins. Von diesem Punkt an wird der Text des Dionysios zunehmend treu gegenüber seiner Vorlage, unter Ausnahme einiger Gedanken zum Zustand der Dämonen und zur Verursachung des Schlechten bei Menschen und Dämonen, die weiter unten zu besprechen sind. In einem ersten Schritt wird die Existenz des Schlechten bei Gott mit der Annahme der seinsmäßigen Güte Gottes, die in der ersten Hälfte des 4. Buchs der Schrift De div. nom. erörtert worden ist, ausgeschlossen. Bei Gott fallen (Über-)Sein und Gutsein zusammen, so dass eine auch vorläufige Aufhebung seiner Güte, unter der Voraussetzung der Abhängigkeit des Seins vom Guten, der Aufhebung seines ewigen Seins gleich käme. Anschließend wird auch das Vorhandensein des Schlechten bei den Engeln negiert. 28 Dionysios benutzt dabei nicht nur die Argumente des Proklos in Bezug auf die Engel, sondern auch die Argumentation des Letzteren in Bezug auf die Dämonen, welche die Sünder bestrafen, da er _____________ 23 24 25 26 27 28

ΓϩΖȱ ωΑ΅ΑΘϟΝΘ΅΍,ȱ ΘЗΑȱ Έξȱ БΖȱ Φ·΅ΌЗΑȱ πΒφΕΘ΋Θ΅΍.ȱ ̏ΣΛΉΗΌ΅΍ȱ ·ΤΕȱ ΦΏΏφΏΓ΍Ζȱ ΘΤȱ ΅ЁΘΤȱ Ύ΅ΘΤȱΘΤȱ΅ЁΘΤȱπΑȱΔκΗ΍ΑȱΦΈϾΑ΅ΘΓΑ.ȱ̒ЁΎȱΩΕ΅ȱϸΑȱΘϲȱΎ΅ΎϱΑ“. 168, 7: „ΦΘΉΏνΖȱπΗΘ΍ΑȱΦ·΅ΌϱΑ“.

168, 12-15. 168, 12 – 169, 12; vgl. De mal. sub. 31, 5-21. 168, 17-18 (Mt 7,18): „ΓЁȱΈϾΑ΅Θ΅΍ȱΈνΑΈΕΓΑȱΦ·΅ΌϲΑȱΎ΅ΕΔΓϿΖȱΔΓΑ΋ΕΓϿΖȱΔΓ΍ΉϧΑ“. 169, 13 – 175, 9. 169, 20 – 170, 10.

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E. Die Rezeption des Proklos durch Dionysios Areopagites

diese Argumente von seinem christlichen Standpunkt her nicht in Bezug auf die Dämonen anwenden kann. 29 Das Schlecht-Werden (Ύ΅ΎϾΑΉΗΌ΅΍) von Dämonen und Menschen besteht „in dem Defekt der guten Beschaffenheiten und Wirksamkeiten, in ihrer Ermangelung und ihrem Abgleiten infolge ihrer charakteristischen Schwäche“ bzw. „als ein Mangel und eine Abwesenheit der Vollkommenheit des charakteristischen Guten“. „Folglich existiert das Schlechte weder in den Dämonen noch in uns als ein Schlechtes, das ein Sein besitzt“ 30 . Anschließend untersucht Dionysios die vernunftlosen Lebewesen 31 , die Natur als Ganzes 32 , die Körper 33 , die Materie 34 , die Beraubung 35 und kommt mit überwiegend proklischen Argumenten zum Schluss, dass das Schlechte als solches bei diesen nicht existiert. Dabei negiert er, im Unterschied zu Proklos, die Existenz des Schlechten auch bei den vernunftlosen Lebewesen und den Körpern. In noch größerer textlicher Abhängigkeit von seiner Vorlage behandelt Dionysios die Ursachen des Schlechten, indem er die Möglichkeit einer Verursachung desselben durch Gott 36 , die Natur 37 oder die Seele 38 , so wie die Existenz einer einheitlichen Ursache desselben ausschließt und seine Ursachen als „ΔΓΏΏΣ“, als „Kraftlosigkeit, Schwäche und unangemessene Vermischung von Unähnlichem“ 39 bestimmt. Anschließend listet Dionysios eine Reihe von negativen Bezeichnungen des Schlechten auf, die uns auch von De malorum subsistentia bekannt sind. 40 Das Exzerpieren aus der Schrift des Proklos wird mit einer Kurzfassung von einigen ihrer Argumente für die Vereinbarkeit des Vorhanden_____________ 29 Den Vergleich des Proklos zwischen diesen Dämonen und den Wächtern der Mysterien übernimmt er auch und ersetzt dabei die Wächter durch die Priester (170, 6-11), die zu seiner Zeit den Exkommunizierten und einem Teil der Büßenden die Gewährung der Sakramente verweigern mussten (s. Koch 1895, 448). 30 172, 15-20: „πΑȱΘϜȱΘЗΑȱΦ·΅ΌЗΑȱρΒΉΝΑȱΎ΅ϠȱπΑΉΕ·Ή΍ЗΑȱπΏΏΉϟΜΉ΍ȱΎ΅ϠȱΈ΍’ȱΓϢΎΉϟ΅ΑȱΦΗΌνΑΉ΍΅Αȱ ΦΘΉΙΒϟθȱ Ύ΅Ϡȱ ΦΔΓΏ΍ΗΌφΗΉ΍…БΖȱ σΏΏΉ΍Μ΍Ζȱ Ύ΅Ϡȱ πΕ΋ΐϟ΅ȱ ΘϛΖȱ ΘЗΑȱ ΓϢΎΉϟΝΑȱ Φ·΅ΌЗΑȱ ΘΉȬ ΏΉ΍ϱΘ΋ΘΓΖ“;ȱ„̒ЁΎȱΩΕ΅ȱΓЄΘΉȱπΑȱΈ΅ϟΐΓΗ΍ΑȱΓЄΘΉȱπΑȱψΐϧΑȱΘϲȱΎ΅ΎϲΑȱБΖȱϸΑȱΎ΅ΎϱΑ“.

31 32 33 34 35 36 37 38 39 40

173, 1-9. 173, 10-16. 173, 17 – 174, 3. 174, 4 – 175, 4. 175, 5-9. 175, 11-15. 175, 16–18. 175, 18 - 176, 8. 176, 10-11: „ΦΈΙΑ΅ΐϟ΅ȱΎ΅ϠȱΦΗΌνΑΉ΍΅ȱΎ΅ϠȱΐϟΒ΍ΖȱΘЗΑȱΦΑΓΐΓϟΝΑȱΦΗϾΐΐΉΘΕΓΖ“. 177, 7-15.

3. Zur Entfaltung der Position von der Nicht-Existenz des Schlechten

161

seins des Schlechten im All mit der Verwaltung desselben durch die Pronoia abgeschlossen. 41 2.5. Beobachtungen zur Tendenz der Rezeption der proklischen Vorlage durch Dionysios Nach diesem Überblick über die Weise, in der Dionysios, die Exzerpte aus seiner Vorlage modifizierend und verflechtend, den eigenen Text zusammenbaut, können über das schon festgestellte hinaus folgende Beobachtungen gemacht werden: 1. Dadurch, dass Dionysios auf die ausgearbeitete Parhypostasis-Ontologie des Proklos, der dem „gemischten“ Schlechten – im All so wie in der Ethik – ein „Zwischensein“ zuschreibt, nicht eingeht, besteht er auf der ontologischen Nichtigkeit des Schlechten als bloßer Beraubung bzw. Abwesenheit des Guten. 2. Dass ΦΕΛχȱundȱΘνΏΓΖ des Schlechten das Gute ist, bedeutet für Dionysios u.a., dass es absolut ungerechtfertigt und zugleich nichtig ist, dass es nicht sein – auch im Sinne von Vorhandensein – soll. 3. Das Schlechte ist ins All durch ein ethisches Ereignis, den Fall der Dämonen, eingeführt. Durch diese vollständige „Ethisierung“ des Schlechten will Dionysios, wie schon aufgezeigt, Letzteres als bloßen Mangel an Sein und Güte bestimmen. So stellt sich aber die Frage, wie denn diese ursprüngliche „schlechte Tat“, der Fall der Engel, zu verstehen ist. Wird sie nicht implizit zu einem Prinzip des Schlechten?

3. Zur Entfaltung der Position von der Nicht-Existenz des Schlechten im Widerspruch zu Proklos 3.1. Die Argumentation des Dionysios gegen die Notwendigkeit des Schlechten als Vergehen (ΚΌΓΕΣ) Dionysios entfaltet seine Position zum Teil in Auseinandersetzung mit einem proklischen Argument für die Existenz des Schlechten, nämlich der letztlich „positiven“ Funktion des von Natur aus verderbenden Schlechten als Ursache und Inbegriff des Vergehens, das seinerseits als Gegenpol des Entstehens die Bewegung der ·νΑΉΗ΍Ζȱmit bedingt und somit zur Vervollständigung der Welt nötig ist. Dagegen wendet Dionysios ein: „Nicht durch Vernichtung gewährt das Schlechte Entstehen, vielmehr vernichtet und verschlechtert es nur, sofern es Vernichtung und Schlechtes ist, Entstehung aber und Sein wird _____________ 41 178, 2-10.

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E. Die Rezeption des Proklos durch Dionysios Areopagites

durch das Gute bewirkt, und demnach wird das Schlechte durch sich selbst zur Vernichtung, durch das Gute aber zum Erzeuger, und als Schlechtes ist es weder Seiendes noch Erzeuger von Seiendem, durch das Gute aber ist es sowohl Seiendes und gutes Seiendes als auch Erzeuger von Gutem.“ 42 Diese Gedanken scheinen auf den ersten Blick dem Argument in De malorum subsistentia kaum zu widersprechen: Proklos vertritt freilich nicht, dass das Schlechte durch sich im Bereich der ·νΑΉΗ΍Ζ „Seiendes“ entstehen lässt, sondern eher, dass das Vergehen eines Einzeldinges das Entstehen eines anderen mit bedingen kann. In dem Sinne könnte der zitierte Einwand des Dionysios eher als Explikation des proklischen Gedankens denn als Argument gegen die Notwendigkeit des „physischen“ Schlechten für die Bewegung der ·νΑΉΗ΍Ζ gelten. Der Gedankengang und die Intention des Dionysios in der verhältnismäßig langen Ausführung, die er der Widerlegung des erwähnten Argumentes widmet, 43 ist m.E. sehr undeutlich, u.a. weil die erhaltenen Texte des Dionysios keine ausführliche Darstellung seiner Kosmologie bieten. Dieser wichtige Abschnitt könnte aber vielleicht besser verstanden werden, wenn man ihn als eine implizite Auseinandersetzung des Dionysios mit den kosmologischen Voraussetzungen des proklischen Denkens interpretieren würde. Dionysios ist sich wahrscheinlich bewusst, dass der hier in Rede stehende Gedanke des Proklos mit dessen Gesamtauffassung der verschiedenen Arten der Teilhabe am Guten in der ontologischen Abstufung zusammenhängt, wie u.a. in De malorum subsistentia gezeigt wird. Da nämlich die unteren Stufen der ontologischen Hierarchie nicht vermögen, am Guten in ewiger und unveränderlicher Weise teilzunehmen, muss bei ihnen ein Mangel an Güte, Sein, Ewigkeit und Unveränderlichkeit angenommen werden. So wird bei Proklos die Existenzweise der Naturdinge als Werden und Vergehen (·νΑΉΗ΍Ζ) begründet, wobei das Schlechte auf dieser Seinsstufe mit dem Vergehen verknüpft und somit in den „Plan“ der Providenz des Einen eingeordnet wird. Es ist zwar „schlecht“ für das einzelne vergehende Naturding, aber gut für das Ganze der ·νΑΉȬ Η΍Ζ. 44 In dieser Weise relativiert, kann das Schlechte als notwendige Folge der zunehmenden Entfernung der letzten Stufen der Seinshierarchie vom Einen betrachtet werden. _____________ 42 165, 3-8: „̒ЁΛȱϗȱΚΌΉϟΕΉ΍,ȱΈϟΈΝΗ΍ȱ·νΑΉΗ΍Α,ȱΦΏΏ’ȱϗȱΐξΑȱΚΌΓΕΤȱΎ΅ϠȱΎ΅ΎϱΑ,ȱΚΌΉϟΕΉ΍ȱΎ΅Ϡȱ Ύ΅ΎϾΑΉ΍ȱ ΐϱΑΓΑ,ȱ ·νΑΉΗ΍Ζȱ Έξȱ Ύ΅Ϡȱ ΓЁΗϟ΅ȱ Έ΍Τȱ Θϲȱ Φ·΅ΌϲΑȱ ·ϟ·ΑΉΘ΅΍,ȱ Ύ΅Ϡȱ σΗΘ΅΍ȱ Θϲȱ Ύ΅ΎϲΑȱ ΚΌΓΕΤȱΐξΑȱΈ΍’ȱο΅ΙΘϱ,ȱ·ΉΑΉΗ΍ΓΙΕ·ϲΑȱΈξȱΈ΍ΤȱΘϲȱΦ·΅ΌϲΑȱΎ΅ϟ,ȱϗȱΐξΑȱΎ΅ΎϱΑ,ȱΓЄΘΉȱϸΑȱΓЄΘΉȱ ϷΑΘΝΑȱΔΓ΍΋Θ΍ΎϱΑ,ȱΈ΍ΤȱΈξȱΘϲȱΦ·΅ΌϲΑȱΎ΅ϠȱϸΑȱΎ΅ϠȱΦ·΅ΌϲΑȱϸΑȱΎ΅ϠȱΦ·΅ΌЗΑȱΔΓ΍΋Θ΍ΎϱΑ“.

43 164, 17 – 165, 10. 44 S. De mal. sub. 60.

3. Zur Entfaltung der Position von der Nicht-Existenz des Schlechten

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Gerade von diesen Voraussetzungen bzw. Konsequenzen des proklischen Arguments will sich Dionysios hier abgrenzen. Seine Intention könnte folgendermaßen rekonstruiert werden: 1. Er will nicht, dass das durch den Fall der Dämonen in die Schöpfung eingeführte Schlechte so relativiert wird, dass es zur Bedingung, wenn auch negativen, der ·νΑΉΗ΍Ζ wird. 2. Vor allem will er nicht, dass das Vergehen, das auch für ihn mit dem Schlechten verknüpft ist, als von der gottgewollten Abstufung des Seins her notwendige Komponente der Seinsweise einer bestimmten Seinsstufe postuliert wird, denn dies würde der endzeitlichen „Überführung des Alls in die Unvergänglichkeit“ (ΦΚΌ΅ΕΘΓΔΓϟ΋Η΍ΖȱΘΓІȱΔ΅ΑΘϱΖ), einem Leitgedanken der christlichen Kosmotheologie, widersprechen. Wenn das Schlechte durch den Fall der Dämonen eingeführt wurde, und wenn das Vergehen schlecht im eigentlichen Sinne ist, wie die christliche Kosmotheologie ebenfalls fordert, dann muss das Vorhandensein des Vergehens auch bei den Naturdingen auf den gefallenen Zustand der Welt beschränkt werden. Der Vollzug seiner in Christus schon geschehenen Aufhebung liegt jedoch als eschatologisches Ereignis, in dem die wesensmäßige bzw. gottgewollte Seinsweise jeder Stufe der Seinshierarchie verwirklicht wird, außerhalb der Erkenntnismöglichkeiten der kreatürlichen Vernunft. Dionysios geht hier, wie gesagt, auf die kosmologische Problematik nicht ein, sondern beschränkt sich auf die Zurückweisung von Gedanken, die sich in den allgemeinen Zusammenhang der christlichen Kosmologie nicht einordnen lassen. So betont er, dass das Schlechte als solches nur verdirbt, während das Gute allein entstehen und sein lässt. Werden und Vergehen stellen für ihn keine Pole eines Prozesses dar, sondern fallen gleichsam auseinander. 45 In Bezug auf diesen Sachverhalt wird sein erwähnter Gedanke, dass das Schlechte überhaupt nichts, auch nicht das Schlechte, bewahren und erzeugen kann, verständlich. 3. Demzufolge will Dionysios ebensowenig einen Zusammenhang zwischen dem Vorhandensein des Vergehens (ΚΌΓΕΣ) auf den untersten Stufen der Seinshierarchie einerseits, und der zunehmenden Entfernung derselben vom Einen andererseits annehmen. Aus diesen Intentionen des Dionysios lässt sich also auch sein „Exkurs“ zur Entfaltung der ontologischen Hierarchie 46 rechtfertigen – der sonst fehl am Platz scheint: 47 Unter der Voraussetzung der Bestimmung _____________ 45 S. 167, 12-13: „Folglich zeugt auch das Entstehen aus Vernichtung nicht von der Kraft des Schlechten, sondern lediglich von der Gegenwart eines geringeren Guten“ („ГΗΘΉȱΎ΅ϠȱΘϲȱ·ϟΑΉΗΌ΅΍ȱ πΎȱΚΌΓΕκΖȱ·νΑΉΗ΍ΑȱΓЁΎȱσΗΘ΍ȱΎ΅ΎΓІȱΈϾΑ΅ΐ΍Ζ,ȱΦΏΏ’ȱϊΘΘΓΑΓΖȱΦ·΅ΌΓІȱΔ΅ΕΓΙΗϟ΅“). 46 S. 169, 13 – 175, 4. 47 Der untergeordnete Rang der niedrigeren Stufen der Hierarchie wird durch ein proklisches Argument begründet: „Denn wenn das Gute nicht einem jeden angemessen

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E. Die Rezeption des Proklos durch Dionysios Areopagites

des Vergehens als einer in jeder Hinsicht negativen Größe zeigt die Abwesenheit jeder Schlechtigkeit von der vom Guten hervorgehenden Seinshierarchie, deren letzte Stufe ein „letzter Widerhall des Guten“ ist, dass die ΚΌΓΕΤ keiner Seinsstufe seinsmäßig zukommt. 3.2. Die Argumentation des Dionysios gegen die proklische Einordnung der Übel ins Seiende Es stellt sich hier die Frage, wie Dionysios, vom proklischen Argument der zunehmenden Entfernung der Stufen der Seinshierarchie vom Einen ausgehend, einen Schluss zieht, der der proklischen Zuordnung des Schlechten zum Seienden widerspricht. Um eine Antwort auf diese Frage zu versuchen, soll die Widerlegung des proklischen Argumentes für die Notwendigkeit des Schlechten als Vergehen für die Vervollständigung des Alls unter diesem Blickwinkel und zusammen mit dem darauf folgenden Abschnitt der Schrift De divinis nominibus 48 näher betrachtet werden. Dionysios betrachtet auffälligerweise die Aussagen, dass das Schlechte Seiendes sei und Seiendes erzeuge und durch sich selbst zur Vervollständigung des Alls beitrage, als direkte Konsequenzen des proklischen Argumentes, das er widerlegen will, während Proklos selbst diese Funktionen des Schlechten als Vergehen geradezu als Beweis seiner Vermischung mit dem Guten, seiner „Unreinheit“, ansieht. Gerade insofern das Schlechte diese Funktionen „hat“, ist es nicht schlecht. 49 Diese positiven Funktionen kommen ihm also keineswegs als solchem zu. 3.2.1. Dionysios und Proklos zur Vermischung des Schlechten mit dem Guten Dionysios übersieht bzw. lehnt im Wesentlichen die Auffassung von einer Misch-Existenz des Schlechten (namentlich in Vermischung mit dem Guten) ab. In der Schrift De malorum subsistentia will diese Auffassung die Zurechnung des Schlechten zu den Seienden ermöglichen. Genauer gesprochen benutzt Dionysios das proklische Wort ΐ΍ΎΘϲΑ 50 bzw. den gleichfalls proklischen Gedanken des Vorhandenseins des Schlechten nur in Vermischung _____________ zur Seite stände, so hätte das Göttlichste und Mächtigste nur den Rang der Geringsten inne“ („̈Ϣȱ·ΤΕȱΐχȱΦΑ΅Ώϱ·ΝΖȱοΎΣΗΘУȱΘΦ·΅ΌϲΑȱΔ΅ΕϛΑ,ȱώΑȱΪΑȱΘΤȱΌΉ΍ϱΘ΅Θ΅ȱΎ΅ϠȱΔΕΉΗΆϾΘ΅Θ΅ȱ ΘχΑȱΘЗΑȱπΗΛΣΘΝΑȱσΛΓΑΘ΅ȱΘΣΒ΍Α.“) (166, 1-2; vgl. De mal. sub. 7, 1-12). 48 166, 5 - 168, 11. 49 S. De mal. sub. 5. 50 167, 17.

3. Zur Entfaltung der Position von der Nicht-Existenz des Schlechten

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mit dem Guten,51 um, im Gegensatz zu seiner Vorlage, das Schlechte als Unvollkommensein des Guten und demzufolge als Nicht-Seiendes zu bestimmen, indem er die „Mischung“ eher als äußerliche Verknüpfung interpretiert. Hierzu sind die Ausdrücke, mit denen er die Existenz eines „reinen“ Schlechten ausschließt, sehr wichtig: „Es wird dasselbe aber auch nicht in gleicher Hinsicht sowohl gut als auch schlecht sein, und dieselbe Kraft wird nicht in gleicher Hinsicht zugleich Vernichtung und Entstehung für dasselbe sein, weder als Kraft an sich noch auch als Vernichtung an sich.“ 52 Denkt man diese Aussagen mit denjenigen Stellen zusammen, wo die Mischungs-Terminologie für die Bestimmung des Schlechten gebraucht wird („Das in jeder Beziehung des Guten Unteilhaftige ist nämlich weder ein Seiendes noch lässt es sich im Seienden finden, das jedoch mit dem Guten Vermischte lässt sich wegen des Guten auch im Seienden finden und hat insoweit im Seienden eine Existenz, als es am Guten Anteil nimmt,“ 53 „…jenes aber, das am Guten weniger Anteil hat, ist sowohl ein unvollkommenes als auch ein vermischtes Gutes eben wegen seines Defektes im Guten“ 54 ), kommt man zur Annahme, dass Dionysios folgenden Gedankengang voraussetzt: 1. Wenn das Schlechte in irgendeiner Weise vorhanden sein soll, wie die Erfahrung fordert, dann im Status einer Verflechtung mit dem Guten, welche einer Usurpation der Kraft des Guten durch das Schlechte gleich kommt. 2. Bei dieser Verflechtung aber bleibt das Gute gut und das Schlechte schlecht („Es wird dasselbe aber auch nicht in gleicher Hinsicht sowohl gut als auch schlecht sein“ 55 ) 3. Somit aber kommt dem Schlechten auch in der „Verflechtung“ mit dem Guten überhaupt keine Art von Sein zu, denn ein solches „Sein“ müsste als absolutes Gegenteil des Seins absolutes Gegenteil seiner selbst sein, was unmöglich ist. Dies ist wahrscheinlich die Bedeutung des Satzes ΐΣȬ ΛΉΗΌ΅΍ȱ·ΤΕȱΦΏΏφΏΓ΍ΖȱΘΤȱ΅ЁΘΤȱΎ΅ΘΤȱΘΤȱ΅ЁΘΤȱπΑȱΔκΗ΍ΑȱΦΈϾΑ΅ΘΓΑ. 56 _____________ 51 166, 5 – 168, 11. 52 165, 8-10: „ΓЁΈξȱ·ΤΕȱσΗΘ΅΍ȱΘϲȱ΅ЁΘϲȱΎ΅ΘΤȱΘϲȱ΅ЁΘϲȱΎ΅ϠȱΦ·΅ΌϲΑȱΎ΅ϠȱΎ΅ΎϱΑ,ȱΓЁΈξȱΘΓІȱ ΅ЁΘΓІȱΚΌΓΕΤȱΎ΅Ϡȱ ·νΑΉΗ΍Ζȱψȱ ΅ЁΘχȱΎ΅ΘΤȱΘϲȱ΅ЁΘϲȱΈϾΑ΅ΐ΍ΖȱΓЄΘΉȱ΅ЁΘΓΈϾΑ΅ΐ΍Ζȱύȱ΅ЁΘΓȬ ΚΌΓΕΣ“;ȱvgl. 168, 10-11: „Es ist nämlich nicht möglich, dass sich ein und dasselbe in ein und derselben Hinsicht in allem gegenseitig bekämpft“ȱ(„ΐΣΛΉΗΌ΅΍ȱ·ΤΕȱΦΏΏφΏΓ΍ΖȱΘΤȱ΅ЁΘΤȱΎ΅ΘΤȱ ΘΤȱ΅ЁΘΤȱπΑȱΔκΗ΍ΑȱΦΈϾΑ΅ΘΓΑ“).

53 167, 16-19: „̖ϲȱ·ΤΕȱΔΣΑΘϙȱΩΐΓ΍ΕΓΑȱΘΓІȱΦ·΅ΌΓІȱΓЄΘΉȱϸΑȱΓЄΘΉȱπΑȱΘΓϧΖȱΓЇΗ΍,ȱΘϲȱΈξȱΐ΍ΎΘϲΑȱ 54 55

Έ΍ΤȱΘϲȱΦ·΅ΌϲΑȱπΑȱΘΓϧΖȱΓЇΗ΍ȱΎ΅ϠȱΎ΅ΘΤȱΘΓІΘΓȱπΑȱΘΓϧΖȱΓЇΗ΍ȱΎ΅ϠȱϷΑ,ȱΎ΅Ό’ȱϵΗΓΑȱΘΓІȱΦ·΅ΌΓІȱ ΐΉΘνΛΉ΍“. 165, 13-15: „...ΘΤȱ Έξȱ ϏΘΘΓΑȱ ΅ЁΘΓІȱ [sc.ȱ ΘΓІȱ Φ·΅ΌΓІ]ȱ ΐΉΘνΛΓΑΘ΅ȱ Ύ΅Ϡȱ ΦΘΉΏϛȱ πΗΘ΍Αȱ Φ·΅ΌΤȱΎ΅ϠȱΐΉΐ΍·ΐνΑ΅ȱΈ΍ΤȱΘχΑȱσΏΏΉ΍Μ΍ΑȱΘΓІȱΦ·΅ΌΓІ“. 165, 8-9: „ΓЁΈξȱ·ΤΕȱσΗΘ΅΍ȱΘϲȱ΅ЁΘϲȱΎ΅ΘΤȱΘϲȱ΅ЁΘϲȱΎ΅ϠȱΦ·΅ΌϲΑȱΎ΅ϠȱΎ΅ΎϱΑ“.

56 Vgl. Platon, Resp. 439b5-6: „ΓЁȱ·ΤΕȱΈφ,ȱΚ΅ΐνΑ,ȱΘϱȱ·Ήȱ΅ЁΘϲȱΘХȱ΅ЁΘХȱο΅ΙΘΓІȱΔΉΕϠȱΘϲȱ ΅ЁΘϲȱΧΐ’ȱ ΪΑȱΘΦΑ΅ΑΘϟ΅ȱΔΕΣΘΘΓ΍“; vgl. Proklos, In Remp. I 224, 12-13: „Θ΅ЁΘϲΑȱ·ΤΕȱ Ύ΅ΘΤȱΘ΅ЁΘϲΑȱΔΕϲΖȱΘϲȱ΅ЁΘϲȱΘΦΑ΅ΑΘϟ΅ȱΔΣΗΛΉ΍ΑȱύȱΔΓ΍ΉϧΑȱΦΐφΛ΅ΑΓΑ“.

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E. Die Rezeption des Proklos durch Dionysios Areopagites

Wenn der Ausdruck „Ύ΅ΘΤȱ ΘΤȱ ΅ЁΘΣ“ „in Hinsicht auf dasselbe“, „unter demselben Aspekt“ u. dgl. bedeutet, dann könnte eingewandt werden, dass Proklos an keinem Punkt behauptet, dass dasselbe Ding unter demselben Aspekt allseits (πΑȱ ΔκΗ΍Α) gegen sich selbst kämpfe, oder dass dasselbe Ding unter demselben Aspekt gut und schlecht zugleich sei. Er sagt, dass etwas, das für ein Einzelding schlecht ist, vom Ganzen her betrachtet gut sein kann, wie z.B. das Vergehen eines Naturdinges für dieses schlecht, aber für das Werden der Natur in seiner Ganzheit als Ermöglichung einer neuen Existenz gut ist. Dionysios will wahrscheinlich mit diesen oben zitierten Sätzen das Schlechte, das nur mit dem Guten gemischt denkbar ist, vom Guten – trotz der Mischung – so trennen, dass das Schlechte auch in dieser „Mischung“ als nichtexistent bezeichnet werden kann. Der Begriff der Mischung will aber bei Proklos m.E. primär gewährleisten, dass das Schlechte, wenn auch in der ontologisch geschwächten Form der Δ΅ΕΙΔϱΗΘ΅Η΍Ζ, im Bereich des Seienden verortet werden kann, und somit auch sicherstellen, dass die Bezeichnung „schlecht“ gewissen Dingen oder Zuständen zugeschrieben werden kann, wenn auch nur in dem Sinne, dass diese in einer Hinsicht schlecht, in einer anderen Hinsicht aber gut sind. Weil Dionysios die von Proklos geprägte oder übernommene Terminologie wie gesagt mit einem anderen Ziel verwendet, nämlich um dem Schlechten jede Art von Sein abzusprechen, kommt einem das entliehene Vokabular im besprochenen Abschnitt oft gleichsam wie leere Worthülsen vor. 57 Eine Mischung braucht ja mindestens zwei Komponenten; aber obwohl in diesem Kontext nur das Schlechte die zweite Komponente der Mischung mit dem Guten sein könnte, wird dieses nirgendwo als zweite Komponente genannt. Es handelt sich eigentlich um eine Mischung des Guten mit seiner Minderung, mit seiner Unvollständigkeit. Anscheinend bedeutet also „Mischung“ in diesen Seiten einfach „Minderung“. Die proklische Zusammenfügung von Beraubung und Gegensatz (ЀΔΉΑ΅ΑΘϟΓΑ) wird von Dionysios zugunsten der Beraubung als Abwesenheit oder Minderung aufgelöst. Während Dionysios die Krankheit wortwörtlich nach Proklos als „ein Defekt einer Ordnungsstufe, nicht aber der gesamten Ordnung“ 58 bestimmt, behauptet er im nächsten, eigenständig gedachten und formulierten Satz: „Es bleibt aber die Krankheit und hat ihre Existenz, indem sie ihr Wesen in der geringsten [verbleibenden] Ordnung hat und in dieser Mit-Realisierung findet.“ 59 . Dass die mindere Ordnung das Wesen _____________ 57 Mit denselben Wörtern werden oft verschiedene Inhalte ausgedrückt. Zu diesem Problem im Ganzen des areopagitischen Denkens s. von Ivánka 1964, 271-279. 58 167, 14: „σΏΏΉ΍Μ΍Ζ...ΘΣΒΉΝΖ,ȱΓЁȱΔΣΗ΋Ζ“. 59 167, 15-16: „ΐνΑΉ΍ȱΈξȱΎ΅ϠȱσΗΘ΍Αȱ ψȱΑϱΗΓΖȱΓЁΗϟ΅ȱσΛΓΙΗ΅ȱ ΘχΑȱπΏ΅ΛϟΗΘ΋Αȱ ΘΣΒ΍ΑȱΎ΅ϠȱπΑȱ ΅ЁΘϜȱΔ΅ΕΙΚ΍ΗΘ΅ΐνΑ΋“.

3. Zur Entfaltung der Position von der Nicht-Existenz des Schlechten

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der Krankheit ausmacht, ist ein Gedanke, der sich vom proklischen Gedanken, die Krankheit Δ΅ΕΙΚϟΗΘ΅Θ΅΍ in der (noch bestehenden) Ordnung, wesentlich unterscheidet: Dass Dionysios den zweiten Gedanken als Umformulierung des ersteren ansieht, zeigt nochmals die Weise, in der er den Begriff Δ΅ΕΙΔϱΗΘ΅Η΍Ζȱ (Nebenexistenz) mit der σΏΏΉ΍Μ΍Ζ (Mangel) als Unvollständigkeit des Guten gleichsetzt. 60 Auch das Wort ΐΣΛΉΗΌ΅΍, das bei Proklos für die Gegensätzlichkeit (πΑ΅ΑΘϟΝΗ΍Ζ) des Schlechten zum Guten steht, scheint bei Dionysios eine sehr schwache, unklare Bedeutung anzunehmen. Der Satz, dass das Schlechte „ΘΓϧΖȱ ΐνΑȱ πΗΘ΍ȱ Ύ΅ΎϱΑ,ȱ ΓϩΖȱ ωΑ΅ΑΘϟΝΘ΅΍“ kann eigentlich von der Schlussfolgerung „ΓЁΎȱ ΩΕ΅ȱ ϸΑȱ Θϲȱ Ύ΅ΎϲΑ“ 61 her betrachtet nur bedeuten, dass das Schlechte als Nicht-Seiendes sich keinem Seienden entgegensetzt; nur die Fortsetzung des Satzes, „ΘЗΑȱΈξȱБΖȱΦ·΅ΌЗΑȱπΒφΕΘ΋Θ΅΍“ 62 hat volle Geltung. Der ganz von Proklos übernommene Satz scheint in diesem Text, indem er in den Gedankengang des Dionysios einverleibt wird, eine ganz andere Bedeutung zu bekommen. Der Satz „ΐΣΛΉΗΌ΅΍ȱ·ΤΕȱΦΏΏφΏΓ΍Ζȱ ΘΤȱ΅ЁΘΤȱΎ΅ΘΤȱΘΤȱ΅ЁΘΤȱπΑȱΔκΗ΍ΑȱΦΈϾΑ΅ΘΓΑ“ will wahrscheinlich in diesem Kontext einfach sagen, dass sich dem Guten nichts widersetzten kann, so dass alles Seiende in jeder Hinsicht gut ist. Es fällt auf, dass dieser Abschnitt (164, 20 – 168, 11), wo die Nichtigkeit des die Kraft des Guten usurpierenden Schlechten hervorgehoben werden soll, zum größten Teil von Dionysios selbständig formuliert und komponiert ist, im Gegensatz zum übrigen Text. Dies zeigt, dass er hier die eigene Auffassung vom Schlechten am deutlichsten zum Ausdruck bringt. _____________ 60 Dionysios bietet eine Explizierung seines Verständnisses des Begriffs: Das Schlechte „besteht…wider den Weg, wider das Ziel, wider die Natur, wider die Ursache, wider den Anfang, wider das Ende, wider die Abgrenzung, wider die Absicht und wider die Realisierung“ („ΘϲȱΎ΅ΎϲΑȱΔ΅ΕΤȱΘχΑȱϴΈϲΑȱΎ΅ϠȱΔ΅ΕΤȱΘϲΑȱΗΎΓΔϲΑȱΎ΅ϠȱΔ΅ΕΤȱΘχΑȱΚϾΗ΍ΑȱΎ΅ϠȱΔ΅ΕΤȱ ΘχΑȱ΅ϢΘϟ΅ΑȱΎ΅ϠȱΔ΅ΕΤȱΘχΑȱΦΕΛχΑȱΎ΅ϠȱΔ΅ΕΤȱΘϲȱΘνΏΓΖȱΎ΅ϠȱΔ΅ΕΤȱΘϲΑȱϵΕΓΑȱΎ΅ϠȱΔ΅ΕΤȱΘχΑȱ ΆΓϾΏ΋Η΍ΑȱΎ΅ϠȱΔ΅ΕΤȱΘχΑȱЀΔϱΗΘ΅Η΍Α...Ύ΅Ϡȱ΅ЁΘϲȱΐ΋Έ΅ΐЗΖȱΐ΋Έ΅ΐϛȱΐ΋ΈξΑȱϷΑ“) (177, 710). Hier wird mit dem Ausdruck Δ΅ΕΤȱΘχΑ ƶƽƳƩƭ auch die durch den Fall in die Schöpfung eingeführte ΚΌΓΕΤ der Naturdinge eingeschlossen. Was die konkrete Bedeutung des Wortes Δ΅ΕΤȱin den angeführten Bezeichnungen der ươƱƵưƼƳƴơƳƩƭ angeht, scheint die letzte dieser Bezeichnungen („Ύ΅Ϡȱ ΅ЁΘϲȱ ΐ΋Έ΅ΐЗΖȱ ΐ΋Έ΅ΐϛȱ ΐ΋ΈξΑȱϷΑ“) darauf hinzuweisen, dass das Wort eher die Bedeutung „außerhalb“ im

Sinne einer bloß als Abwesenheit verstandenen Inkompatibilität ausdrückt, und nicht primär die Bedeutung „neben“ oder „parasitär zum“, wie bei Proklos. Auch Johannes Skythopolitanus umschreibt in seinem Kommentar zur Schrift De divinis nominibus den Gedanken des Dionysios mit dem Satz: „̋΅Ιΐ΅ΗϟΝΖȱ σΈΉ΍ΒΉΑȱ ΦΑΙȬ ΔϱΗΘ΅ΘΓΑȱΘϲȱΎ΅ΎϱΑ“ (PG 4, 306A). 61 168, 11. 62 168, 9-10.

168

E. Die Rezeption des Proklos durch Dionysios Areopagites

Dennoch verhindert oft die fast gänzlich von Proklos übernommene Terminologie eine eindeutigere Exposition des eigenen Ansatzes. Oft wird der Eindruck vermittelt, wie am Beispiel der oben besprochenen proklischen Begriffe gezeigt, dass die entliehenen Begriffe eine Bedeutung annehmen, die nicht nur von derjenigen abweicht, die ihnen von Proklos verliehen wurde, sondern auch von der sprachlich möglichen. 3.2.2. Dionysios und Proklos zu den Ursachen des Schlechten Dionysios rezipiert nicht die ausgearbeitete proklische „uneigentliche“ Verursachung des Schlechten als einer Nebenexistenz und setzt somit seine den ganzen Text durchziehende Intention durch, das Schlechte in keiner Weise in die hierarchische Ursachenkette, die das Sein ausmacht, einzuordnen. So verwendet er in Bezug auf diese „Ursachen“ nur negative Substantive und keine negativen Adjektive, die den Eindruck geben könnten, dass das negativ Bestimmte als Träger der Bestimmung doch eine Art Existenz besitzt. Einzige Ausnahme ist der entliehene Satz „ΘΓІȱΎ΅ΎΓІȱΘΤȱ ΅ϥΘ΍΅ȱ ΔΓΏΏΣ“ 63 . Bezeichnenderweise macht Dionysios zum Subjekt des gänzlich entliehenen Satzes: „Sondern [sind]…unbegrenzt und unbestimmt und werden in anderen [Dingen], die auch ihrerseits unbegrenzt sind, herumgetragen“ 64 einfach die Ύ΅ΎΤȱselbst, anstelle der Formalursachen (Δ΅Ε΅ΈΉϟ·ΐ΅Θ΅) im proklischen Text. Mit der strengen Eingrenzung des Schlechten im ethischen Bereich entfällt, unter der Voraussetzung einer gleich strengen Unterscheidung zwischen der vom Guten gesetzten Seinsordnung und der Schöpfungsgeschichte 65 , jede Rückkoppelung des Schlechten an das Sein: Selbst bei den πΑΉΕ·Ήϟ΅΍Ζ existiert es nicht, da es nicht immer in ihnen vorhanden ist. 66 So kann Dionysios in diesem ihm eigenen Sinn einer gänzlichen Ablehnung des Seins des Schlechten Proklos – leicht modifizierend – zitieren: „Das Gute ist zudem Anfang und Ende aller Dinge, sogar auch _____________ 63 176, 10. 64 176, 12-13: „ΦΏΏ’ȱΩΔΉ΍Ε΅ȱΎ΅ϠȱΦϱΕ΍ΗΘ΅ȱΎ΅ϠȱπΑȱΩΏΏΓ΍ΖȱΚΉΕϱΐΉΑ΅ȱΎ΅ϠȱΘΓϾΘΓ΍ΖȱΦΔΉϟΕΓ΍Ζ“. 65 Zu dieser Unterscheidung, die m.E. für das Verständnis des Denkens des Dionysios von grundlegender Bedeutung ist, s. Brons 1976, 51ff. Für Brons ist die Ontologie des Dionysios von der „zentripetalen“ Orientierung aller Seinsstufen an deren transzendenten Ursprung und Ziel, d.h. an Gott, geprägt. Somit sind sämtliche Beziehungen und Bewegungen unter den Seienden vertikal gedacht; horizontale und damit geschichtliche Ereignisse sind beschränkt auf den Innenraum der jeweiligen Seinsstufe. Geschichtliche Entwicklungen, besonders unter den Menschen, scheinen lediglich sich unterscheidende sensible Phänomene eines stets gleichen intelligiblen Sachverhaltes zu sein (dazu vgl. auch ̆΅ΕϟΘΗ΋Ζ 2002, 38). 66 176, 6.

3. Zur Entfaltung der Position von der Nicht-Existenz des Schlechten

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der schlechten, denn um des Guten willen existiert alles, was gut und was dem Guten feindlich gesonnen ist, und auch letzteres verrichten wir nur, weil wir das Gute begehren, zumal niemand im Hinblick auf das Schlechte dasjenige bewirkt, was er bewirkt.“ 67 3.3. Doppeldeutigkeit des Ύ΅ΎϲΑȱbei Dionysios und Rolle der ontologischen Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf Der Unterschied im Fazit zwischen den Ausführungen des Dionysios und seiner Vorlage ist meiner Meinung nach durch ein Schwanken im Gebrauch bzw. in der Bedeutung des Wortes „schlecht“, wie es Dionysios verwendet, bedingt. Dieser scheint davon auszugehen, dass ein auf der ontologischen Ebene zulässiger Begriff des Schlechten einen absoluten Gegensatz zum Guten einschließen müsste; da aber auf der ontologischen Ebene ein derartiger Gegensatz, ein „ΐΣΛΉΗΌ΅΍ȱ ΦΏΏφΏΓ΍Ζȱ ΘΤȱ ΅ЁΘΤȱ Ύ΅ΘΤȱ ΘΤȱ΅ЁΘΤȱπΑȱΔκΗ΍Α“ unmöglich ist, kann das Schlechte nicht zum Seienden gehören. Die partielle Beraubung bzw. der partielle Gegensatz zum Guten, der für Proklos im Begriff des ЀΔΉΑ΅ΑΘϟΓΑ eine – im uneigentlichen Sinne – ontologische Bestimmung des Schlechten ausmacht, genügt somit dem Anspruch des Dionysios auf einen „absoluten“ Begriff vom Schlechten nicht. Indem er das Schlechte in dieser Weise beschreibt, kann Dionysios es unter der Voraussetzung seines erwähnten Anspruchs – auf der ontologischen Ebene – als unvollständig Gutes (ΦΘΉΏξΖȱΦ·΅ΌϱΑ) bezeichnen. 68 Ein Schlechtes in seinem Sinne gibt es im Sein überhaupt nicht. So _____________ 67 176, 13-16: „̓ΣΑΘΝΑȱ Ύ΅Ϡȱ ΘЗΑȱ Ύ΅ΎЗΑȱ ΦΕΛχȱ Ύ΅Ϡȱ ΘνΏΓΖȱ σΗΘ΅΍ȱ Θϲȱ Φ·΅ΌϱΑ,ȱ ΘΓІȱ ·ΤΕȱ Φ·΅ΌΓІȱρΑΉΎ΅ȱΔΣΑΘ΅,ȱΎ΅ϠȱϵΗ΅ȱΦ·΅ΌΤȱΎ΅ϠȱϵΗ΅ȱπΑ΅ΑΘϟ΅,ȱΎ΅Ϡȱ·ΤΕȱΎ΅ϠȱΘ΅ІΘ΅ȱΔΕΣΘΘΓΐΉΑȱ ΘϲȱΦ·΅ΌϲΑȱΔΓΌΓІΑΘΉΖ,ȱΓЁΈΉϠΖȱ·ΤΕȱΉϢΖȱΘϲȱΎ΅ΎϲΑȱΦΔΓΆΏνΔΝΑȱΔΓ΍Ήϧ,ȱΨȱΔΓ΍Ήϧ“ (kursiv

nur, was in De mal. sub. nicht zu finden ist). Gerade in diesem „ethischen“ Sachverhalt sieht Dionysios die Begründung der Bestimmung der Existenzweise des Schlechten als Parhypostasis: Das Schlechte ist als Parhypostasis zu bestimmen, „weil es um des Guten willen und nicht um seiner selber willen entstanden ist“ („ΘΓІȱΦ·΅ΌΓІȱ ρΑΉΎ΅ȱ Ύ΅Ϡȱ ΓЁΛȱ ο΅ΙΘΓІȱ ·΍ΑϱΐΉΑΓΑ“) (177, 1-2). Dass der parasitäre Charakter des Schlechten, den dieser Terminus in De mal. sub. zum Ausdruck bringt, hier primär oder ausschließlich auf die Zielsetzung des Begehrens bezogen wird, entspricht ganz der Beschränkung des Schlechten im Ethischen bei Dionysios. 68 Diese Minderung des Guten ist, von der Seinshierarchie her gesehen, im Aufbauprinzip der letzteren gegeben – da in ihrer letzten Stufen „das Gute nur mehr vorhanden [ist] wie ein entlegenster Widerhall“ („Ύ΅ΘΤȱ σΗΛ΅ΘΓΑȱ ΦΔφΛ΋ΐ΅ȱ ΔΣΕΉΗΘ΍ȱ ΘΦ·΅ΌϱΑ“) (166,1); insofern ist diese Minderung des Guten kein Übel, sondern vielmehr ein „positives hierarchisches Strukturelement“ (Goltz 1974, 46). Auf der ethischen Ebene ist die Zuwendung eines Seienden zu einer ihm untergeordneten, also durch eine „Minderung des Guten“ im Vergleich zur eigenen Stufe gekennzeichneten Seinsstufe absolut schlecht (vgl. ebd., 49ff.).

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E. Die Rezeption des Proklos durch Dionysios Areopagites

kommt er zu seiner Redeweise von einem „sogenannten Schlechten“, von der „sogenannten Schlechtigkeit“ der Dämonen. Wie lässt sich aber dann die „Absolutheit“ des durch die Dämonen eingeführten Schlechten mit der absoluten Ausschaltung des Schlechten vom Seienden vereinbaren? Wahrscheinlich indem eine tiefgreifende Unterscheidung zwischen dem selbstverschuldeten Zurückbleiben der Geschöpfe hinter ihrer identitätsetzenden, je eigenen Vollkommenheit einerseits und der ewigen Gewährung dieser Vollkommenheit durch Gott andererseits, also zwischen der Geschichte der Geschöpfe und der vom Guten als Schöpfer ausgehenden Seinsordnung vorausgesetzt wird. In ontologischen Aussagen spricht Dionysios von der ontologischen Hierarchie, indem er sie gleichsam von Gott her betrachtet, in geschichtlichethischen Aussagen von der Schöpfung her: Dem Zurückbleiben des Geschöpfes entspricht nichts, was von Gott ausginge. So kann der Fall des Geschöpfs als „absolut“ schlecht in geschichtlicher Rede bezeichnet werden, ohne dass dieses Schlechte eine Entsprechung im Seienden hätte.69 3.4. Die areopagitische Unterscheidung zwischen Sein und Geschichte in Bezug auf das Problem des Schlechten Im Ganzen wird im 4. Kapitel der Schrift De divinis nominibus die aufgeführte Unterscheidung zwischen der von Gott gesetzten Ordnung des Seins, die _____________ 69 Wie B. Brons beobachtet, hat bei Dionysios der status corruptionis keine Folgen in Bezug auf die „positive Intaktheit des Universums“ (Brons 1976, 293). Brons bemängelt bei dem Begriff „Abfall“ „dass er seines, im Sinne einer aktiven Rebellion, willensmäßigen Momentes völlig entkleidet ist und in die Reihe der einen defizienten Modus beschreibenden neuplatonischen Begriffe eingegliedert“ sei (ebd., 290; vgl. Semmelroth 1949, 371-372: „Das, wovon erlöst werden soll, ist also nicht eigentlich ein schon eingetretener sündhafter, von Gott trennender Zustand, sondern die Bedrohung, die der Einheit durch die Tendenz in die Vielheit entgegensteht“; für eine Darstellung der Sündenlehre des Dionysios s. Völker 1958, 26-40; Rico Pavés 2001, 362-371); er vermisst ferner den „Gedanken einer Herrschaft schlechter Dämonen über Menschen“ (ebd., 293) und findet es offensichtlich völlig unannehmbar, dass ihr Fall bzw. ihr gefallener Zustand ähnlich demjenigen der Menschen beschrieben wird (ebd.). Dies alles bedeutet aber m.E. nicht, wie B. Brons meint, dass Dionysios’ Gott dem christlichen Verständnis vom geschichtlichen Handeln Gottes fremd wäre. Bei Dionysios taucht Gott in der Geschichte als ihr Grund auf, bricht allerdings weder in sie ein noch geht er in ihr auf (vgl. Roques 1983, 123: „On ne saurait dire que Denys évacue l’ histoire…la vérité divine vient s’ inscrire au coeur même du temps et de l’ espace“). So kann es ein absolut Schlechtes in der Geschichte geben, nicht aber das von Gott gesetzte Wesen der Geschöpfe erreichen, geschweige denn Gott selbst, wie er sich im Menschen als in seinem eigenen Bild vergegenwärtigt.

3. Zur Entfaltung der Position von der Nicht-Existenz des Schlechten

171

gut ist und bleibt, und den Handlungen der Geschöpfe – zwischen Ontologie und Ethik, Schöpfer und Geschöpf, Sein und Geschichte – am Zentralfall des das Schlechte in die Schöpfung einführenden Falls der Dämonen durchgeführt. Das dem Engelstand zukommende Gute bleibt ihnen auch in ihrem gefallenen Zustand in vollkommener, völlig unversehrter Weise gewährt. Sie vermögen es aber nicht mehr wahrzunehmen, „weil sie ihre zum Sehen des Guten bestimmten Kräfte verschließen“. 70 Dionysios fasst seine Gedanken über die Schlechtigkeit der Dämonen folgendermaßen zusammen: „Sofern die Dämonen also existieren, stammen sie aus dem Guten, sind gut und streben nach dem Anmutigen und Guten, indem sie nach dem Sein, dem Leben und dem Erkennen des Seienden begehren. Nur infolge der Privation, der Flucht und des Abfalls von dem ihnen verstatteten Guten nennt man sie schlecht. Sie sind schlecht, sofern sie nicht existieren. Indem sie nach dem Nichtseienden streben, begehren sie das Schlechte.“ 71 Das vom Guten gesetzte Sein der Dämonen, ihr eigentliches Selbstsein, ist das Engelsein. Der „Mangel des den Engeln eignenden Guten“ („σΑΈΉ΍΅ȱΘЗΑȱΦ··ΉΏ΍ΎЗΑȱΦ·΅ΌЗΑ“ 72 ), aufgrund dessen sie Ών·ΓΑΘ΅΍ȱΎ΅ΎΓϟ, d.h. aus ihrer vom Guten gesetzten Identität bzw. Vollkommenheit abfallen, besteht, nach Dionysios, in einem selbstverschuldeten Absehen von derselben. Insofern ist ihr Fall nur als ein verfehlter Wissensakt „existent“. Doch handelt es sich um eine Verfehlung, die in der Seinshierarchie des Dionysios, die nach dem abgestuften Maß des Wissens gegliedert ist, 73 eine Beeinträchtigung der Identität des vernunftbegabten Seienden zur Folge hat, wenn auch diese im Ethisch-Geschichtlichen begrenzt ist (die Dämonen Ών·ΓΑΘ΅΍ȱΎ΅ΎΓϟ). 74 _____________ 70 172, 5-6: „ΦΔΓΐϾΗ΅ΑΘΉΖȱο΅ΙΘЗΑȱΘΤΖȱΦ·΅ΌΓΔΘ΍ΎΤΖȱΈΙΑΣΐΉ΍Ζ“; vgl. De eccl. hier. 74, 15-19. 71 172, 7-11: „ͷΗΘΉȱ϶ȱΉϢΗϟ,ȱΎ΅ϠȱπΎȱΘΦ·΅ΌΓІȱΉϢΗ΍ȱΎ΅ϠȱΦ·΅ΌΓϠȱΎ΅ϠȱΘΓІȱΎ΅ΏΓІȱΎ΅ϠȱΦ·΅ΌΓІȱ πΚϟΉΑΘ΅΍ȱ ΘΓІȱ ΉϨΑ΅΍ȱ Ύ΅Ϡȱ ΊϛΑȱ Ύ΅Ϡȱ ΑΓΉϧΑȱ ΘЗΑȱ ϷΑΘΝΑȱ πΚ΍νΐΉΑΓ΍.ȱ ̍΅Ϡȱ ΘϜȱ ΗΘΉΕφΗΉ΍ȱ Ύ΅Ϡȱ ΦΔΓΚΙ·ϜȱΎ΅ϠȱΦΔΓΔΘЏΗΉ΍ȱΘЗΑȱΔΕΓΗ΋ΎϱΑΘΝΑȱ΅ЁΘΓϧΖȱΦ·΅ΌЗΑȱΏν·ΓΑΘ΅΍ȱΎ΅ΎΓϟ.ȱ̍΅ϠȱΉϢΗϠȱ Ύ΅ΎΓϟ,ȱΎ΅Ό’ȱ϶ȱΓЁΎȱΉϢΗϟΑ.ȱ̍΅ϠȱΘΓІȱΐχȱϷΑΘΓΖȱπΚ΍νΐΉΑΓ΍ȱΘΓІȱΎ΅ΎΓІȱπΚϟΉΑΘ΅΍“.

72 171, 10-11. 73 Zur konstitutiven Rolle des Wissens (πΔ΍ΗΘφΐ΋) im Aufbau der Hierarchie s. De coel. hier. 17, 3 – 20, 2, wo der Begriff von Hierarchia definiert und entfaltet wird. Der Gegenstand der Mitteilung der höheren Stufen der Hierarchie an die jeweils untergeordneten kann als Wissen bezeichnet werden: „Dies also machen die Gotteskundigen klar, dass die untergeordneten Gliederungen der himmlischen Wesenheiten von den darüberstehenden in guter Ordnung ihre Erkenntnisse über göttliches Wirken erhalten, dass aber die über allen stehenden vom Gottesprinzip selbst, soweit es in der Ordnung ist, ihre Erleuchtung bekommen“ („̖ΓІΘΓȱ·ΓІΑȱΓϡȱΌΉΓΏϱ·Γ΍ȱΗ΅ΚЗΖȱΈ΋ΏΓІΗ΍ȱΘϲȱΘΤΖȱΐξΑȱЀΚΉ΍ΐνΑ΅ΖȱΘЗΑȱ

74

ΓЁΕ΅ΑϟΝΑȱ ΓЁΗ΍ЗΑȱ Έ΍΅ΎΓΗΐφΗΉ΍Ζȱ ΔΕϲΖȱ ΘЗΑȱ ЀΔΓΆΉΆ΋ΎΙ΍ЗΑȱ ΉЁΎϱΗΐΝΖȱ πΎΈ΍ΈΣΗΎΉΗΌ΅΍ȱ ΘΤΖȱΌΉΓΙΕ·΍ΎΤΖȱπΔ΍ΗΘφΐ΅Ζ,ȱΘΤΖȱΈξȱΔ΅ΗЗΑȱЀΜ΋ΏΓΘνΕ΅ΖȱЀΔ’ȱ΅ЁΘϛΖȱΘϛΖȱΌΉ΅ΕΛϟ΅ΖȱБΖȱ ΌΉΐ΍ΘϲΑȱΘΤΖȱΐΙφΗΉ΍ΖȱπΏΏΣΐΔΉΗΌ΅΍“) (De coel. hier. 30, 1-4). Umgekehrt besteht die ΎΣΌ΅ΕΗ΍Ζ als erste Ebene des dreistufigen Aufstiegs (ΎΣȬ Ό΅ΕΗ΍Ζȱ–ȱΚΝΘ΍ΗΐϱΖȱȬȱΘΉΏΉϟΝΗ΍Ζ) zum Guten darin, dass die Menschen „in den Zu-

172

E. Die Rezeption des Proklos durch Dionysios Areopagites

Ferner ist das falsche Ziel ihres Begehrens ein Zustand, der ihrem Selbstsein nicht als Ziel (d.h. als je eigenes Gutes) zugeordnet ist. Deshalb ist dieser Zustand als Ziel nicht-seiend sowie schlecht. So „Ύ΅ϠȱΘΓІȱΐχȱϷΑΘΓΖȱ πΚ΍νΐΉΑΓ΍ȱ ΘΓІȱ Ύ΅ΎΓІȱ πΚϟΉΑΘ΅΍“. Da das Begehren innerlich zum Guten bestimmt ist, konzentriert sich die Frage nach dem Schlechten auf eine Frage nach dem „Wesen“ dieser Verleitung des Begehrens, die wohl auf einen verfehlten Wissensakt der Diagnose des Guten zurückzuführen ist. Auch in De eccl. hier., im Rahmen der ΌΉΝΕϟ΅ des Taufsakramentes (ΐΙΗΘφΕ΍ΓΑȱΚΝΘϟΗΐ΅ΘΓΖ), geht Dionysios auf das Problem des Schlechten ein. Diese Ausführungen, die aus seiner eigenen Feder stammen und dem traditionellen christlichen Sprachgebrauch näher stehen, wie es vom Kontext her zu erwarten ist, stimmen m.E. in ihren zentralen Aussagen mit dem 4. Buch von De div. nom. überein. So beschreibt Dionysios folgendermaßen den Zustand der Dämonen, die ihre Augen vor dem Guten schließen: „Wenn nun die denkfähigen Wesen kraft ihrer Entscheidungsfreiheit sich selbstmächtig von dem intelligiblen Licht abwenden, weil sie im Drang zur Verdorbenheit die Kräfte, die von Natur aus zur Erleuchtung in sie eingepflanzt waren, ausgeschaltet haben, sind sie von dem Licht entfernt, das seinerseits bei ihnen ist, sich nicht abgewandt hat, sondern ihnen zuleuchtet, ihnen, die die Augen schließen und sich wegdrehen vor dem ihnen nach Art des Guten zueilenden Licht.“ 75

4. Die Position des Dionysios: Das Schlechte als Abwendung vom Guten bei den Dämonen und den Menschen In der langen, mit Ausnahme von einzelnen Begriffen und Ausdrücken selbständig erdachten und formulierten Ausführung, die Dionysios dem vom christlichen Standpunkt sehr wichtigen Thema der Dämonen widmet, rekapituliert er seine Gedanken zum Vorkommen des Schlechten in der Schöpfung: Da von Gott geschaffen, sind die Dämonen weder in ihrem Wesen noch in ihrer Kraft oder Energie absolut bzw. immer schlecht. 76 Sie werden nur schlecht (Ύ΅ΎϾΑΉΗΌ΅΍) „insofern sie nicht existie_____________ stand völliger Reinheit versetzt und von jeglicher wesensfremden Beimischung befreit werden“ („Φΐ΍·ΉϧΖȱΦΔΓΘΉΏΉϧΗΌ΅΍ȱΎ΅ΌϱΏΓΙȱΎ΅ϠȱΔΣΗ΋ΖȱωΏΉΙΌΉΕЗΗΌ΅΍ȱΘϛΖȱ ΦΑΓΐΓϟΓΙȱ ΗΙΐΚϾΕȬ ΗΉΝΖ“) (De coel. hier. 19, 9-10), d.h. dass sie von Elementen, die der eigenen Identität fremd sind, gereinigt werden. 75 De eccl. hier. 74, 15-19: „̈ϥΘ’ȱ ΓЇΑȱ ΦΔΓΗΘ΅ϟ΋ȱ ΘΓІȱ ΑΓ΋ΘΓІȱ ΚΝΘϲΖȱ ψȱ ΘЗΑȱ ΑΓ΋ΘЗΑȱ ΅ЁΌ΅ϟΕΉΘΓΖȱ΅ЁΘΉΒΓΙΗ΍ϱΘ΋ΖȱΎ΅Ύϟ΅ΖȱσΕΝΘ΍ȱΗΙΐΐϾΗ΅Η΅ȱΘΤΖȱπΑΉΗΔ΅ΕΐνΑ΅Ζȱ΅ЁΘϜȱΔΕϲΖȱ ΘϲȱΚΝΘϟΊΉΗΌ΅΍ȱΈΙΑΣΐΉ΍Ζ,ȱΦΔφΕΘ΋Θ΅΍ȱΘΓІȱΔ΅ΕϱΑΘΓΖȱ΅ЁΘϜȱΚΝΘϲΖȱΓЁΎȱΦΔΓΗΘΣΑΘΓΖȱΦΏΏ’ȱ πΔ΍ΏΣΐΔΓΑΘΓΖȱ΅ЁΘϜȱΐΙΝΔ΅ΊΓϾΗϙȱΎ΅ϠȱΦΔΓΗΘΕΉΚΓΐνΑϙȱΔΕΓΗΘΕνΛΓΑΘΓΖȱΦ·΅ΌΓΉ΍ΈЗΖ“.ȱ

76 170, 15 – 171, 1.

4. Die Position des Dionysios: Das Schlechte als Abwendung vom Guten

173

ren, weil sie…zu schwach sind, ihre Würde zu bewahren“ 77 , also „im Aufhören des Habitus der göttlichen Güter und deren Wirksamkeit“ 78 . Dass dieses SchlechtWerden nicht vollständig ist, zeigt sich darin, dass sie immerhin am Sein, Denken, Leben und Begehren teilhaben, wenn auch in der schlecht gewordenen Form der „unvernünftigen Leidenschaft, törichten Begierde, übereitlen Einbildung“ 79 . Letztere Teilhabeformen sind nicht in sich schlecht, da sie für andere Lebewesen durchaus gut sind, sondern lediglich für die als Engel geschaffenen Dämonen. 80 Die Κ΅ΑΘ΅Ηϟ΅ entspricht hier, als dem materiellen Sinnending zugeordnetes Wahrnehmungsvermögen, der Bezeichnung der Gesamtheit der Dämonen als der Materie zugeneigt (ΔΕϱȬ ΗΙΏΓΖ). 81 Die hier erwähnte verfehlte Teilhabe am Sein, Denken, Leben und Begehren lässt sich besser verstehen, wenn die Gedanken des Dionysios zur verkehrten Liebe, ΌΙΐϲΖȱund Begierde beim Menschen herangezogen werden, mit denen er den bei Proklos abstrakt aufgeführten Gedanken, dass auch eine schlechte Handlung insofern gut sei, als sie ein vermeintlich Gutes zum Ziel hat, schlecht aber insofern sie auf einer falschen Einschätzung dieses Ziels beruht, das tatsächlich jedoch nicht gut ist, exemplifiziert: a) Der Zügellose „nimmt dennoch zugleich am Guten teil wie an einem undeutlichen Widerhall der Einung und Freundschaft“ 82 , obwohl er gemäß seiner „unvernünftigen Begierde“ („ΩΏΓ·ΓΑȱ πΔ΍ΌΙΐϟ΅Α“) des Guten beraubt ist, und insofern weder ist noch Seiendes begehrt (er hat „weder ein Sein noch ein Verlangen nach Seiendem“ 83 ). Dass ein Seiendes nur insofern ist, als es das Gute begehrt, ist eine Aussage des Proklos, 84 aufgrund deren Dionysios schließen kann, dass in einem fehlerhaften Begehren der Begehrende selbst nicht existiert, sondern sein Sein verfehlt. Dies ist letztlich eine Konsequenz der Abhängigkeit des Seins vom Guten für das Leben des Menschen. b) Auch ein falsch eingesetzter ΌΙΐϲΖ hat am Guten Teil, „indem er sich regt und danach strebt, das scheinbar Schlechte zum scheinbar Guten aufzurichten und umzukehren“. 85 In einer verallgemeinernden Aussage über den Gesamtbezug des menschlichen Begehrens auf das ethisch Gute und _____________ 77 78 79 80 81 82

171, 5-6: „Ύ΅Ό’ȱ϶ȱΓЁΎȱΉϢΗϠΑȱΦΗΌΉΑφΗ΅ΑΘΉΖ…Θ΋ΕϛΗ΅΍ȱ‚ΘχΑȱο΅ΙΘЗΑȱΦΕΛφΑ’“. 171, 7: „πΑȱΘϜȱΔ΅ϾΗΉ΍ȱΘϛΖȱΘЗΑȱΌΉϟΝΑȱΦ·΅ΌЗΑȱρΒΉΝΖȱΎ΅ϠȱπΑΉΕ·Ήϟ΅Ζ“. 171, 7-8: „ΌΙΐϲΖȱΩΏΓ·ΓΖ,ȱΩΑΓΙΖȱπΔ΍ΌΙΐϟ΅,ȱΚ΅ΑΘ΅Ηϟ΅ȱΔΕΓΔΉΘφΖ“. Vg. Neidl 1976, 248-254. Vgl. Neidl 1976, 251. 167, 4-5: „ΐΉΘνΛΉ΍ȱΈξȱϵΐΝΖȱΘΦ·΅ΌΓІȱΎ΅Θ’ȱ΅ЁΘϲȱΘϲȱΘϛΖȱοΑЏΗΉΝΖȱΎ΅ϠȱΚ΍Ώϟ΅ΖȱΦΐΙΈΕϲΑȱ ΦΔφΛ΋ΐ΅“. 83 167, 3-4: „ΓЄΘΉȱσΗΘ΍ΑȱΓЄΘΉȱϷΑΘΝΑȱπΔ΍ΌΙΐΉϧ“. 84 De mal. sub. 2, 31. 85 167, 6-7: „Ύ΅Θ’ȱ΅ЁΘϲȱΘϲȱΎ΍ΑΉϧΗΌ΅΍ȱΎ΅ϠȱπΚϟΉΗΌ΅΍ȱΘΤȱΈΓΎΓІΑΘ΅ȱΎ΅ΎΤȱΔΕϲΖȱΘϲȱΈΓΎΓІΑȱȱΎ΅ΏϲΑȱ ΦΑΓΕΌΓІΑȱΎ΅ϠȱπΔ΍ΗΘΕνΚΉ΍Α“.

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E. Die Rezeption des Proklos durch Dionysios Areopagites

Schlechte sagt Dionysios: „Selbst derjenige, der nach dem schlechtesten Leben strebt, hat, weil er überhaupt nach Leben strebt, und zwar nach jenem, das ihm als bestes erscheint, eben durch jenes Streben nach Leben sowie durch sein Interesse für das beste Leben Anteil am Guten.“ 86 Die aufgeführten Beispiele und Gedanken des Dionysios sollen seine Position untermauern, dass alles Schlechte nur durch eine Usurpation der Kraft des Guten wirken kann, weil es an sich – als vollständige Beraubung des Guten – absolut Nicht-Seiendes ist und somit nichts bewirken kann. Sie sollen also konkret zeigen, wie diese „Usurpation“ oder Kräftigung des Schlechten durch das Gute stattfindet. Die Beispiele sind freilich nicht zufällig gewählt, denn die Verleitung der πΔ΍ΌΙΐϟ΅ von vernunftbegabten Lebewesen kommt, mit proklischen Worten, einer schlechten Wahl gleich, ist also zentral für die „Erklärung“ des Schlechten bei Dionysios. 4.1. Die Struktur der Abwendung vom Guten Die Frage nach dem Grund des Falls von Dämonen und Menschen als „ethischem“ Ereigniss wird eingeleitet mit der Zurückweisung eines nach Ansicht des Autors – wohl gegen die Christen gerichteten – weit verbreiteten Einwandes: Die Masse „behauptet, dass die Vorhersehung uns sogar gegen unseren Willen zur Tugend anleiten müsse“. Gerade eine zwanghafte Lenkung zur Tugend würde, wendet Dionysios ein, die Beschädigung (ΚΌΓΕΤ) unserer selbstbewegenden Natur bedeuten. 87 „Die Vorhersehung erhält jede Natur und lässt daher ihre Vorhersehungsakte für alles, was sich selbst bestimmt, in der diesem geziemenden Weise obwalten“ 88 . Voraussetzung dieser schlechten Tat, um die es mehrmals im besprochenen Exkurs ging, ist die Selbstbewegung (΅ЁΘΓΎϟΑ΋ΘΓΑ) der Engel und der Menschenseele. In der Frage nach dem Grund und der Weise dieser schlechten Tat konzentriert sich somit die umfassende Frage nach dem Problem des Vorhandenseins des Schlechten in einer von Gott hervorgehenden bzw. geschaffenen Welt. Mit dieser Frage wurde der Exkurs über das Problem _____________ 86 167, 7-10: „̍΅Ϡȱ΅ЁΘϲΖȱϳȱΘϛΖȱΛΉ΍ΕϟΗΘ΋ΖȱΊΝϛΖȱπΚ΍νΐΉΑΓΖȱБΖȱϵΏΝΖȱΊΝϛΖȱπΚ΍νΐΉΑΓΖȱΎ΅Ϡȱ ΘϛΖȱ ΦΕϟΗΘ΋Ζȱ ΅ЁΘХȱ ΈΓΎΓϾΗ΋Ζȱ Ύ΅Θ’ȱ ΅ЁΘϲȱ Θϲȱ πΚϟΉΗΌ΅΍ȱ Ύ΅Ϡȱ ΊΝϛΖȱ πΚϟΉΗΌ΅΍ȱ Ύ΅Ϡȱ ΔΕϲΖȱ ΦΕϟΗΘ΋ΑȱΊΝχΑȱΦΔΓΗΎΓΔΉϧΑȱΐΉΘνΛΉ΍ȱΘΦ·΅ΌΓІ“.

87 Manche „ΛΕϛΑ΅ϟȱΚ΅Η΍ȱΘχΑȱΔΕϱΑΓ΍΅ΑȱΎ΅ϠȱΩΎΓΑΘ΅ΖȱψΐκΖȱπΔϠȱΘχΑȱΦΕΉΘχΑȱΩ·Ή΍Α,ȱΘϲȱ·ΤΕȱ

88

ΚΌΉϧΕ΅΍ȱ ΚϾΗ΍Αȱ ΓЁΎȱ σΗΘ΍ȱ ΔΕΓΑΓϟ΅Ζ“ (178, 11-13). Wie Müller 1922, 59 beobachtet hat, stellt der plotinische Satz „̒Ёȱ·ΤΕȱΈχȱΓЂΘΝȱΘχΑȱΔΕϱΑΓ΍΅ΑȱΉϨΑ΅΍ȱΈΉϧ,ȱГΗΘΉȱΐ΋ΈξΑȱ ψΐκΖȱΉϨΑ΅΍“ (III.2.9,1) eine interessante Parallele zu dieser Aussage dar. 178, 13-14: „БΖȱΔΕϱΑΓ΍΅ȱΘϛΖȱοΎΣΗΘΓΙȱΚϾΗΉΝΖȱΗΝΗΘ΍ΎχȱΘЗΑȱ΅ЁΘΓΎ΍ΑφΘΝΑȱБΖȱ΅ЁΘΓΎ΍ΑφΘΝΑȱ ΔΕΓΑΓΉϧ“.

4. Die Position des Dionysios: Das Schlechte als Abwendung vom Guten

175

des Schlechten eingeleitet und mit derselben Frage wird er jetzt abgeschlossen. Jetzt kann die anfängliche Frage, warum sich die Dämonen so wie die schlechten Menschenseelen vom σΕΝΖ zum Guten bzw. vom Guten abwenden, vor dem Hintergrund der erfolgten notwendigen Klärungen erneut gestellt werden. In diesem Text, dessen Aufbau keiner geradlinigen Systematik folgt, sondern mit einer Art zyklischen Wiederholungskunst zum selben Punkt immer eingehender wiederkehrt, ist die Antwort, oder Elemente derselben, an mehreren Orten vorbereitet oder apophthegmatisch formuliert worden. In dieser durchgehend selbständig verfassten Abschlusspassage erklärt aber Dionysios seine These am vollständigsten. 89 Seinen schriftstellerischen Gewohnheiten entsprechend, schickt er die schon vorbereitete Antwort ihren Begründungen voraus: „Wenn sie [sc. die Dämonen] indessen nicht das Gute begehren, dann begehren sie das Nicht-seiende. Das aber ist kein Streben, sondern eine Verfehlung des wahren Strebens“ 90 . Der schon oben im Anschluss an den Identitätsbegriff thematisierten ontologischen Nichtigkeit des Schlechten – hier: des Gegenstandes eines schlechten Begehrens –, entspricht die ontologische Nichtigkeit dieses verleiteten Begehrens selbst. Letzteres sei nur ein Verfehlen des wahrhaftigen Begehrens für das Wahrhaftige, in dem der Begehrende sein eigenes Sein verfehlt. Dieses Verfehlen ist aber im Rahmen des Denkens des Dionysios nur als Folge oder Korrelat einer falschen Beurteilung, eines fehlerhaften „kognitiven“ Aktes denkbar. Im Bewusstsein dieser Voraussetzung seiner zitierten Aussage geht Dionysios auf das Problem ein, das die biblische Rede von Menschen, die wissentlich sündigen bzw. den Willen Gottes kennen und trotzdem nicht realisieren, zur Folge hat. Dionysios geht deswegen ausgerechnet an diesem Punkt auf die Problematik dieser Redeweise ein, weil letztere, ohne die Rückbindung an eine zwischen Wissen und Wollen vermittelnde theologische Reflexion, den Eindruck geben könnte, dass es eine Art „positiven“ Willen zum Schlechten, eine Bosheit gebe. In der Auslegung des Dionysios meint die biblische Redeweise folgende Fälle: 1. „Diejenigen, die im Hinblick auf die unvergessliche Erkenntnis des Guten oder seiner Vollführung schwach sind.“ 91 2. „Diejenigen, die zwar [das Gute] gehört haben, aber hinsichtlich des Glaubens und der Ausführung des Guten schwach sind.“ 92 Es folgt eine allgemeine Beschreibung von solchen Fällen, die anschließend weiter expliziert _____________ 89 179, 1-22. 90 179, 3-4: „̍΅ϠȱΉϢȱΓЁΎȱπΚϟΉΑΘ΅΍ȱ[sc.ȱΓϡȱΈ΅ϟΐΓΑΉΖ]ȱΘΓІȱΦ·΅ΌΓІ,ȱΘΓІȱΐχȱϷΑΘΓΖȱπΚϟΉΑΘ΅΍.ȱ̍΅Ϡȱ ΓЁΎȱσΗΘ΍ȱΘΓІΘΓȱσΚΉΗ΍Ζ,ȱΦΏΏΤȱΘϛΖȱϷΑΘΝΖȱπΚνΗΉΝΖȱΥΐ΅ΕΘϟ΅“. 91 179, 4-5: „̖ΓϿΖȱΔΉΕϠȱΘχΑȱΩΏ΋ΗΘΓΑȱΘΓІȱΦ·΅ΌΓІȱ·ΑЗΗ΍ΑȱύȱΘχΑȱΔΓϟ΋Η΍ΑȱπΒ΅ΗΌΉΑΓІΑΘ΅Ζ“. 92 179, 6-7: „̖ΓϿΖȱΦΎ΋ΎΓϱΘ΅ΖȱΐνΑ,ȱΦΗΌΉΑΓІΑΘ΅ΖȱΈξȱΔΉΕϠȱΘχΑȱΔϟΗΘ΍ΑȱύȱΘχΑȱπΑνΕ·Ή΍΅ΑȱΘΓІȱ Φ·΅ΌΓІ“.

176

E. Die Rezeption des Proklos durch Dionysios Areopagites

wird: 3. „Schließlich ist manchen aufgrund von Verkehrtheit und Schwäche ihres Willens noch nicht einmal die Wahrnehmung des guten Handelns erwünscht.“ 93 Im ersten Fall wird eine Schwäche der unvergesslichen (ΩΏ΋ΗΘΓΖ), d.h. der durch eigene Erfahrung und nicht durch Unterweisung erworbenen Erkenntnis des Guten als Grund der im Wissen vollzogenen Betätigung des Schlechten angegeben, während in 2. ein nur vom Hören kommendes Wissen, das nicht zur ΔϟΗΘ΍Α – die hier wohl als höhere Erkenntnisstufe aufzufassen ist 94 – erhoben wird, der Grund ist. In 3. wird als Gegenpol der Schwäche der Erkenntnis der Gedanke einer Schwäche der ΆΓϾΏ΋Η΍Ζ eingeführt, die manche Menschen dazu verleiten kann, dass sie das Gute und Seiende gleichsam nicht wissen wollen. Wenn aber einzige Ursache des Schlechten eine Schwäche – sei es primär der Erkenntnis, sei es der ΆΓϾΏ΋Η΍Ζ – wäre, so ergäbe sich folgender Einwand: „Nicht strafbar ist die Schwäche, sondern im Gegenteil verzeihbar.“ 95 Denn auch im zweiten Fall ist eine Schwäche oder Erkrankung der ΆΓϾȬ Ώ΋Η΍Ζ keinesfalls gleichermaßen zu bestrafen wie eine „positive“ Bosheit. Darüber hinaus könnte vielleicht angenommen werden, 96 dass die erwähnte Schwäche der ΆΓϾΏ΋Η΍Ζ eben in der Schwäche der Erkenntnis, also im Fehler des die ΆΓϾΏ΋Η΍Ζ leitenden kognitiven Aktes, besteht. Es wäre dennoch unangemessen, die ΆΓϾΏ΋Η΍Ζ von der ·ΑЗΗ΍Ζ bei Dionysios zu trennen. Es könnte vielmehr gesagt werden, dass bei ihm – zumindest im hier relevanten Kontext, in Hinsicht also auf das Problem der Verursachung des ethisch Schlechten – beide Momente „gleichursprünglich“ sind. Dies kann allerdings auch in Bezug auf das positive Endziel (ΘνΏΓΖ) der vernunftbegabten Seelen gesagt werden: Die erfüllte ·ΑЗΗ΍Ζ, d.h. diejenige, die einer Seinsstufe wesenhaft zukommt, kommt der erfüllten ΆΓϾΏ΋Η΍Ζ als Freiheit von aller Sünde gleich. In der vollkommenen Angleichung an Gott werden ·ΑЗΗ΍Ζ und ΆΓϾΏ΋Η΍Ζ in einem beide gleichermaßen übersteigenden ΔΣΗΛΉ΍ΑȱΘΤȱΌΉϧ΅ aufgehoben. 97 „Wenn es nicht _____________ 93 179, 7-9: „̍΅ϠȱΦΆΓϾΏ΋ΘϱΑȱΘ΍Η΍ȱΘϲȱ„ΗΙΑ΍νΑ΅΍ȱΘΓІȱΦ·΅ΌІΑ΅΍“ȱΎ΅ΘΤȱΘχΑȱΔ΅Ε΅ΘΕΓΔχΑȱύȱ ΘχΑȱΦΗΌνΑΉ΍΅ΑȱΘϛΖȱΆΓΙΏφΗΉΝΖ“. 94 S. Roques 1983, 130 mit Anm. 1. 95 179, 14: „̒ЁȱΘ΍ΐΝΕ΋ΘϲΑȱψȱΦΗΌνΑΉ΍΅,ȱΘΓЁΑ΅ΑΘϟΓΑȱΈξȱΗΙ··ΑΝΗΘϱΑ“. 96 Es muss vorausgeschickt werden, dass die folgenden Überlegungen angesichts der Eigenart der Gedankengänge des Dionysios, die wenig systematisch artikuliert sind, eher auf Schlüssen, die aus seinen Texten gezogen werden können, als auf Aussagen des Autors selbst beruhen. Sie wollen also eine nur konjekturale Interpretation des schwierigen Textes vorschlagen. 97 Der Aufstieg der Seele zum Guten wird von Dionysios vornehmlich mit Begriffen des Wissens beschrieben: „Sowohl Reinigung als auch Erleuchtung als auch Vollendung ist…die Teilnahme an der vom Gottesprinzip verliehenen Wissenschaft. Sie reinigt…gleichsam von Unwissenheit infolge der…nach…Rang verliehenen Erkenntnis der

5. Rückblick: Die Bestimmung des Schlechten bei Proklos und Dionysios

177

möglich wäre, stark zu sein, dann wäre der Einwand wohl passend. Wenn aber das Starksein aus dem Guten kommt, das ja der Heiligen Schrift zufolge schlechthin allem das ihm Zustehende zukommen lässt, dann sind die Verfehlung des aus dem Guten stammenden Verhaltens der charakteristischen Güter, ihre Verkehrtheit, ihr Entfliehen und ihr Abfall nicht gutzuheißen.“ 98

5. Rückblick: Die Bestimmung des Schlechten bei Proklos und Dionysios Trotz der tiefgreifenden Unterschiede zwischen der Hierarchie des Dionysios und derjenigen des Proklos was Struktur und Grundregel angeht, Unterschiede, die sich auch in der Behandlung des Problems des Schlechten, wie gezeigt, bei aller textlichen Parallelität niederschlagen, ist die Verwandtschaft ihrer Theorien des Schlechten offensichtlich – sogar in denjenigenTexten des Dionysios, wo letzterer von seiner Vorlage völlig unabhängig die diesbezügliche biblische Redeweise rechtfertigen oder Einwände gegen die christliche Auffassung des Schlechten zurückweisen will. Die obige Darstellung der Gedankengänge des Dionysios auf dem Hintergrund seiner proklischen Vorlage dürfte gezeigt haben, dass der pseudonyme Autor den Text des Proklos gut versteht und nicht unkritisch abschreibt. Seine Eingriffe in die Gedankengänge des Proklos, die bisweilen ihre Konsistenz beeinträchtigen, sind nicht Ergebnis mangelnden Verständnisses bzw. einer Unfähigkeit zu vollständiger Wiedergabe, sondern bewusste Modifizierungen, die meistens einer deutlich erkennbaren Gesamtintention entspringen. Es könnte gesagt werden, dass der Autor trotz der deutlichen Abhängigkeit in der Formulierung unabhängig denkt. Die inhaltlichen _____________ vollkommeneren Einweihungen; sie erleuchtet…eben durch die göttliche Erkenntnis, durch welche sie diese Hierarchie auch reinigt, die vorher nicht geschaut hat, was ihr jetzt durch höhere Erleuchtung sich klar zeigt; sie vollendet…wiederum durch eben dieses Licht mit der zur Eigenschaft gewordenen Wissenschaft von den klarsten mystischen Offenbarungen“ („ΎΣΌ΅ΕΗϟΖ

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πΗΘ΍ȱ Ύ΅Ϡȱ ΚΝΘ΍ΗΐϲΖȱ Ύ΅Ϡȱ ΘΉΏΉϟΝΗ΍Ζȱ ψȱ ΘϛΖȱ ΌΉ΅ΕΛ΍ΎϛΖȱ πΔ΍ΗΘφΐ΋Ζȱ ΐΉΘΣΏ΋Μ΍Ζ,ȱ Φ·ΑΓϟ΅Ζȱ ΐξΑȱΓϩΓΑȱΦΔΓΎ΅Ό΅ϟΕΓΙΗ΅ȱ ΘϜȱΎ΅ΘΤȱΘΣΒ΍ΑȱπΑΈ΍ΈΓΐνΑϙȱ·ΑЏΗΉ΍ȱΘЗΑȱΘΉΏΉ΍ΝΘνΕΝΑȱΐΙφȬ ΗΉΝΑ,ȱ ΚΝΘϟΊΓΙΗ΅ȱ Έξȱ ΅ЁΘϜȱ ΘϜȱ ΌΉϟ΅ȱ ·ΑЏΗΉ΍ȱ Έ΍’ȱ ϏΖȱ Ύ΅Ϡȱ Ύ΅Ό΅ϟΕΉ΍ȱ ΘχΑȱ ΓЁȱ ΔΕϱΘΉΕΓΑȱ πΔΓΔΘΉϾΗ΅Η΅ΑȱϵΗ΅ȱΑІΑȱπΎΚ΅ϟΑΉΘ΅΍ȱΈ΍ΤȱΘϛΖȱЀΜ΋ΏΓΘνΕ΅ΖȱπΏΏΣΐΜΉΝΖ,ȱΎ΅ϠȱΘΉΏΉ΍ΓІΗ΅ȱ ΔΣΏ΍Αȱ ΅ЁΘХȱ ΘХȱ ΚΝΘϠȱ ΘϜȱ Ύ΅Ό’ȱ ρΒ΍Αȱ πΔ΍ΗΘφΐϙȱ ΘЗΑȱ Κ΅ΑΓΘΣΘΝΑȱ ΐΙφΗΉΝΑ“) (De coel. hier. 30, 23 - 31, 5); zum Verhältnis von Wissenschaft (πΔ΍ΗΘφΐ΋) und Heiligkeit (Υ·΍ϱΘ΋Ζ) vgl. Roques 1983, 234 – 240, bes. 238. 179, 14-17: „̈Ϣȱ ΐξΑȱ ΓЁΎȱ πΒϛΑȱ Θϲȱ ΈϾΑ΅ΗΌ΅΍,ȱ Ύ΅ΏЗΖȱ ΪΑȱ ΉϨΛΉΑȱ ϳȱ Ώϱ·ΓΖ.ȱ ̈Ϣȱ Έξȱ πΎȱ ΘΦ·΅ΌΓІȱ Θϲȱ ΈϾΑ΅ΗΌ΅΍ȱ ΘΓІȱ Έ΍ΈϱΑΘΓΖȱ Ύ΅ΘΤȱ ΘΤȱ Ώϱ·΍΅ȱ ΘΤȱ ΔΕΓΗφΎΓΑΘ΅ȱ ΔκΗ΍Αȱ ΥΔΏЗΖ,ȱ ΓЁΎȱ πΔ΅΍ΑΉΘϲΑȱ ψȱ ΘϛΖȱ πΎȱ ΘΦ·΅ΌΓІȱ ΘЗΑȱ ΓϢΎΉϟΝΑȱ Φ·΅ΌЗΑȱ ρΒΉΝΖȱ Υΐ΅ΕΘϟ΅ȱ Ύ΅Ϡȱ Δ΅Ε΅ΘΕΓΔχȱΎ΅ϠȱΦΔΓΚΙ·χȱΎ΅ϠȱΦΔϱΔΘΝΗ΍Ζ.“.

178

E. Die Rezeption des Proklos durch Dionysios Areopagites

Übereinstimmungen seines Denkens zum Problem des Schlechten mit Proklos sind eher Ergebnis einer tiefgehenden inneren Verwandtschaft zwischen den beiden Autoren, welche die durchgehende Präsenz der Schriften des Proklos im gesamten Corpus Dionysiacum bezeugt. Die wichtigsten inhaltlichen Gemeinsamkeiten zwischen beiden Autoren in der hier besprochenen Thematik lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: 1. Hinsichtlich der allgemeinen ontologischen Bestimmung des Schlechten entfernt sich Dionysios weitgehend von seiner Vorlage, vor allem indem er dem Schlechten jede Einordnung ins Seiende abspricht. Dennoch bleibt er auch darin nahe am Denken des Proklos, da dieses in konsequenter Durchführung des Monismus durch eine Tendenz zur Minderung der ontologischen Wirklichkeit des Schlechten außerhalb der Ethik gekennzeichnet ist. Es könnte vielleicht gesagt werden, dass Dionysios, indem er das Schlechte ausschließlich im Bereich der Ethik verortet, die letzte Konsequenz aus der Spannung zwischen physischem und ethischem Schlechten bei Proklos zieht – oder dass er die Lösung des Politeia-Kommentars übernimmt. 99 2. Auffällig ist die Strukturanalogie zwischen der Abwendung vom Guten bei Dionysios und der schlechten Wahlentscheidung bei Proklos. Bei beiden Autoren wird das ethisch Schlechte auf die Fehlleitung eines innerlich durch das Wissen gelenkten volitiven Seelenvermögens, der ΆΓϾΏ΋Η΍Ζȱ bei Dionysios und der ΔΕΓ΅ϟΕΉΗ΍Ζ bei Proklos, zurückgeführt. Dieses Vermögen ist für beide in sich zum Guten bestimmt, hängt aber von der rechten Unterscheidung zwischen dem wahrhaft Guten und dem nur scheinbar Guten ab. Dieses Unterscheidungsvermögen ist wiederum gleichsam dem Wollen der Seele zugänglich, wie einerseits die Rede des Proklos von der Wahl zwischen den gottgegebenen unfehlbaren Kriterien und den falschen Kriterien, und andererseits die Aussage des Dionysios zeigt, dass das Vermögen zur rechten Realisierung der ΆΓϾΏ΋Η΍Ζ der Seele zugänglich ist. Im Ganzen lässt sich m.E. bei beiden Autoren nicht zwischen Volitivem und Kognitivem in Bezug auf die letzte Ursache der schlechten Tat der Seele unterscheiden. Da diese schlechte Tat als ein irgendwie gewollter Selbstbetrug, als ein Nicht-Wissen-Wollen beschrieben wird, ist die Seele in gewisser Weise für sie verantwortlich, obwohl sie sie weder „im Wissen des Guten“ noch im eigentlichen Sinne wollend begangen hat. Weil das seinsmäßige Ziel der Menschenseele in der Aneignung einer seinsstiftenden Wissenschaft besteht, die ihrerseits für beide Autoren über sich selbst hinaus auf die Einung mit dem Einen hinweist, und diese Aneignung wiederum der vollendeten Freiheit im erreichten Selbstsein gleichkommt, ist die schlechte Tat immer zugleich mit Unwis_____________ 99 S. Kapitel C, 101-103.

5. Rückblick: Die Bestimmung des Schlechten bei Proklos und Dionysios

179

senheit und Unfreiheit verbunden. Positiv ausgedrückt soll die Teilseele kraft ihrer Selbstbestimmung durch das Wissen frei werden. Die ΆΓϾΏ΋Η΍Ζ bei Dionysios wie die ΔΕΓ΅ϟΕΉΗ΍Ζ bei Proklos lassen sich im Vollsinne nur als aus Volitivem und Kognitivem zusammengesetzte Einheit verstehen, d.h. als Streben der unter der Leitung des ΏΓ·΍ΗΘ΍ΎϲΑȱgeeinten Seele zum Einen. 3. Genauso wie die Unwissenheit nicht als schlichtes Fehlen einer Information oder einfach so vorhandene geistige Schwäche, sondern als zu verantwortendes Nachlassen des Strebens nach Erkenntnis verstanden wird, wird auch die Unfreiheit bzw. die Schwäche der ΆΓϾΏ΋Η΍Ζ nicht als einfache Aufhebung der Selbstbestimmung bzw. der Verantwortung, sondern vielmehr als schuldhaftes Nachlassen des Strebens nach dem Guten aufgefasst. 4. Schließlich lässt sich bei beiden Autoren eine ähnliche Doppeldeutigkeit im Gebrauch des Begriffes des Schlechten beobachten. Bei Proklos soll zwischen dem Schlechten im ethischen und demselben im physischen Bereich unterschiedenen werden, während bei Dionysios eine Unterscheidung zwischen dem (nicht-existenten) ontologischen Schlechten und dem ethischen Schlechten angenommen werden soll.

F. Abschließende Beobachtungen Die Theorie des Proklos vom Schlechten, die in der Schrift De malorum subsistentia systematisch artikuliert vorliegt, ist vom Versuch geprägt, das Vorhandensein des Schlechten in dem aus dem Guten hervorgehenden Seienden konsequent monistisch zu erklären. Die Grundlage dieses Versuchs besteht in der Annahme, dass Gott nicht Ursache der mannigfaltigen Übel überhaupt oder der schlechten Wahl der menschlichen Teilseele sein kann. Davon ausgehend will Proklos mit einem im Grunde einfachen, aber dennoch auch unter plotinischen Voraussetzungen, wie ich zu zeigen versuchte, stichhaltigen Argument die Identifizierung der Materie der Sinnendinge als Prinzip des Schlechten durch Plotin, dem er im Kern seines Denkens verpflichtet ist, widerlegen. Dennoch scheint die positive Bestimmung des Schlechten bei Proklos die Probleme, die sich aus der plotinischen Theorie des Schlechten ergeben, nicht überwinden zu können. Während der plotinische Ansatz unüberbrückbare Spannungen im Materiebegriff zur Folge hat, sind die Versuche des Proklos, eine eigentümliche Seinsweise des Schlechten – weder Sein noch Nicht-Sein, weder Beraubung noch Gegensatz des Guten –, deren Ursachen „Ursachen und Nichtursachen sind“, zu beschreiben, nicht weniger paradox, d.h. mit den Gesetzen seines Systems unvereinbar. Angesichts dieses Versuchs des Proklos könnte gesagt werden, dass er die eine Ausnahme von der Geltung der Gesetze der Emanation, die Plotin für den Hervorgang der schlechten Materie der Sinnendinge aus der unteren Seele postulieren muss, durch ein „Nebensystem“ von Ausnahmen, das er für die Verursachung der „Nebenexistenz“ des Schlechten entwerfen muss, ersetzen will. Zwar wird durch die Übertragung der Urheberschaft des Schlechten von der Materie auf eine Beeinträchtigung der das Ganze produzierenden Ursachenkette eine Wahrnehmung des Schlechten als eines dynamischen Prozesses, als eines Geschehens oder Handelns, gegenüber einer eher vergegenständlichenden Sicht hervorgehoben, doch bleibt Proklos letztlich derselben Aporie ausgesetzt, die er bei Plotin aufzeigt: der Frage nach dem Grund dieser pluralen Beeinträchtigung der Kausalität und der dadurch verursachten Parhypostasis als subcontrarium des Guten. Diese Vielheit der „Ursachen und Nichtursachen“ der Übel

182

F. Abschließende Beobachtungen

lässt sich als ein – mit dem Monismus kaum vereinbares – Sammel-Prinzip des Schlechten betrachten. Während bei Plotin die Einheit von naturhaftem und ethischem Übel in einem Begriff, der einen festen Bestandteil der platonischen Tradition ausmacht, durch die Zurückführung beider auf das Wirken der Materie gewährleistet wird, fallen bei Proklos diese beiden Aspekte des Schlechten gleichsam auseinander. Die außerethischen Übel sind für Proklos im Plan der im All waltenden Providenz vollkommen integriert – Formen des naturhaften Schlechten, wie das Vergehen der Naturdinge, sind für den Kreislauf des Werdens notwendig –, während das ethisch Schlechte, das in der Verfehlung der Wahlentscheidung durch die Teilseele besteht, das eigentlich Schlechte ist, weil es auch vom All her betrachtet völlig unbegründbar ist. Proklos betont erstens, dass die schlechte Wahlentscheidung ihre eigene Strafe (die allerdings als Anlass zur Heilung zu verstehen ist) in sich birgt und somit die gerechte Ordnung des Alls nicht beeinträchtigt, und zweitens, dass die Umsetzung einer schlechten Wahlentscheidung in die Tat zum Plan der Providenz gehört, weil diese Umsetzung als Manifestation der bislang in der Prohairesis versteckten Schlechtigkeit der Anfang der Heilung derselben ist. Selbst die schlechte Wahlentscheidung kann in diesem Sinne mit der Providenz vereinbart werden, und zwar als Entlarvung einer schlechten Neigung der Seele. Aber diese schlechte Neigung selbst, die Proklos mit der schlechten Wahl der Kriterien der Wahlentscheidung umschreibt und als Grund derselben betrachtet, kann mit der Providenz in keiner Weise vereinbart werden. Diese Konsequenz seiner Argumentation scheint Proklos verdecken zu wollen, wenn er die erwähnte Einordnung der Folgen dieser schlechten Kriterienwahl in den Plan der Providenz emphatisch hervorhebt. Die Tendenz der Argumentation des Proklos, das außerethische Schlechte zu depotenzieren, führt in seinem Politeia-Kommentar zu der Aussage, dass nur das ethische Schlechte eigentlich schlecht ist, während das außerethische nur eine Minderung des Guten darstellt. Diese Aussage steht im Widerspruch zum Versuch des Traktats De malorum subsistentia, durch die Ausarbeitung einer einheitlichen „Nebenontologie“ des – ethischen sowie außerethischen – Schlechten diesem ein „Nebensein“ zuzuschreiben. Diese Stelle bringt eine auch in seiner Argumentation in der Schrift De malorum subsistentia, wie gesagt, inhärente Tendenz deutlich zum Ausdruck. Die Aussage des Politeia-Kommentars könnte sogar als Konsequenz einer Problematisierung der Argumentation der Schrift De malorum subsistentia betrachtet werden. Letztere beruht ja auf einer Aspektunterscheidung: Das einzelne Übel, das ein Einzelding befällt, ist zwar schlecht für das betroffene Einzelding, gut aber in Bezug auf das All. Wenn man von dieser Unterscheidung von „gleichzeitigen“ Aspekten absehen will,

F. Abschließende Beobachtungen

183

dann muss gesagt werden, dass das einzelne Übel aufgrund des ontologischen Vorrangs des Alls vor dem Einzelding primär gut ist. Nur im Fall der schlechten Kriterienwahl gilt dies nicht. An anderen dem Problem des Schlechten gewidmeten Stellen seiner Werke vertritt Proklos die Lösung der Schrift De malorum subsistentia. Die erwähnte Stelle aus dem Politeia-Kommentar steht fast allein, obwohl im ganzen Politeia-Kommentar, der zum großen Teil Problemen der Ethik gewidmet ist, das ethisch Schlechte eindeutig als das Schlechte im eigentlichen Sinne betrachtet wird. Es ließe sich vielleicht vermuten, dass der nicht stringente Charakter dieses Teiles des Politeia-Kommentars, der zum feierlichen Vorlesen aus Anlass des Geburtstags Platons bestimmt war und dessen Thematik eher in die Bereiche der literarischen Erziehung und der Ethik als in den Kernbereich der Ontologie fällt, eine Rolle spielt. Die Konzentration des Begriffs des Schlechten in der Wahlentscheidung der Teilseele, die vielleicht als Ergebnis einer impliziten Auseinandersetzung mit dem Problem in der Theorie der Verursachung der Parhypostasis in De malorum subsistentia zu betrachten ist, bringt ihrerseits einen neuen impliziten Dualismus mit sich, da die schlecht entscheidende Teilseele gleichsam als Prinzip des Schlechten erscheint. Die Aporie der Erklärung des Schlechten scheint jedem monistischen System unvermeidlich anzuhaften. An dieser Aporie gemessen, bleiben die Ausführungen des Proklos eher Versuche als Lösungen. Das ethisch Schlechte ist für Proklos das Schlechte par excellence; in seiner Auseinandersetzung mit dem Problem des ethisch Schlechten liegt meiner Meinung nach einer seiner bedeutsamsten Beiträge. Proklos bestimmt das ethisch Schlechte als schlechte Wahlentscheidung, die als Akt der Prohairesis auf einen Fehler in der Unterscheidung zwischen wahrhaftig und scheinbar Gutem zurückgeht, welcher seinerseits auf einer fehlerhaften Bevorzugung der sinnlichen vor den geistigen Bewertungskriterien beruht. Diese Bevorzugung lässt sich als widernatürliche Übernahme der Kontrolle über die Seele durch den unvernünftigen Seelenteil beschreiben. Eine solche Machtübernahme wird durch ein eigentlich unerklärliches Nachlassen der Kraft der Vernunftseele ermöglicht, der die Kontrolle über die Seele seinsmäßig zukommt. In der Beschreibung der Struktur der schlechten Wahlentscheidung werden das volitive mit dem kognitiven Moment der Prohairesis so miteinander verzahnt, dass die schlechte Wahl als eine gleichsam gewollte Selbsttäuschung erscheint. Als verfehlte Aktualisierung der Prohairesis, die als potentia rationalis appetitiva bestimmt wird, ist die schlechte Wahlentscheidung einerseits auf eine gewollte Unwissenheit, andererseits auf ein unwissendes Wollen zurückzuführen. Proklos interpretiert die Selbstbestimmung (πΚ’ȱ ψΐϧΑ) des Menschen, die mit der Prohairesis desselben zusammenfällt, als ein qualitativ zum Guten

184

F. Abschließende Beobachtungen

hin bestimmtes Seelenvermögen. Die Erfüllung dieser Bestimmung des

πΚ’ȱψΐϧΑ der Seele in der Rückkehr der Seele zu ihrem eigenen Grund fällt

mit der Erfüllung der Freiheit derselben zusammen. Durch diese Unterscheidung zwischen der Selbstbestimmung als Anlage zur Freiheit und der Freiheit als verwirklichter Selbstbestimmung gelingt es Proklos, weder dem platonischen Satz von der Unfreiwilligkeit des Unrechttuns zu widersprechen, noch die – durch die grundsätzliche Verfügbarkeit der rechten Wahlentscheidung bedingte – Zurechenbarkeit der schlechten Wahlentscheidung und die daraus folgende Verantwortung des Menschen aufzuheben: Die schlechte Wahlentscheidung ist demgemäß als Akt der Selbstverfehlung der Selbstbestimmung selbstbestimmt, nicht aber freiwillig. Die Selbstbestimmung der Seele wird gemäß ihrem qualitativen Begriff als abgestuft aufgefasst, dem Niveau des jeder Teilseele innewohnenden Tugendwissens entsprechend (ΦΕΉΘχȱ ΦΈνΗΔΓΘΓΑ bedeutet, dass die Tugend Freiheit ist). Diese Unterscheidung zwischen πΚ’ȱψΐϧΑ und οΎΓϾΗ΍ΓΑ stellt Proklos selbst als (unausgesprochene) Position Platons dar. Sowohl mit der Beschreibung der Struktur der schlechten Wahlentscheidung, wie auch mit der Unterscheidung zwischen πΚ’ȱ ψΐϧΑ und οΎΓϾΗ΍ΓΑ, hat Proklos, wie ich zu zeigen versuchte, eine zum Teil stichhaltige Umschreibung des Denkens Platons zu dieser Thematik erzielt. Mit diesen beiden Ansätzen zeigt er die Vereinbarkeit der Unfreiwilligkeit des Unrechttuns mit der durch die grundsätzliche Erreichbarkeit der Tugend gewährleisteten Zurechenbarkeit der schlechten Handlung bei Platon auf: Die Mittel, deren er sich bedient, namentlich die unzertrennliche Zusammengehörigkeit von Volitivem und Kognitivem (in einem umfassenden Wissensbegriff) und die qualitative Bestimmung der Freiheit als Tugendwissen, sind meiner Meinung nach in den Dialogen gegeben. Die Vereinbarkeit der beiden erwähnten platonischen Gedanken ist schon in den Dialogen gewährleistet. Proklos versucht mit seiner Interpretation, diese Vereinbarkeit ersichtlicher zu machen. Diese Behandlung des ethisch Schlechten, die größtenteils auf Platon beruht, ist inhaltlich gesehen der maßgeblichste Punkt innerhalb des Einflusses, den die proklischen Theorie des Schlechten auf Dionysios Areopagites ausgeübt hat. Dionysios beschränkt sich nicht auf das Abschreiben von Passagen des Proklos zum Problem des ethisch Schlechten, sondern eignet sich den einschlägigen Argumentationszusammenhang des Proklos an, wie die Präsenz des Letzteren in unabhängig verfassten Ausführungen des Dionysios zeigt.

Appendix John Phillips, Order from Disorder: Proclus’ Doctrine of Evil Die umfassende Forschung von J. Phillips ist 2007 erschienen, nachdem meine vorliegende Arbeit abgeschlossen und im November 2006 eingereicht worden war. Auch aus diesem Grund, aber v.a. weil diese Forschung sich in Zielsetzung, Zugang und Inhalten von meiner Arbeit grundlegend unterscheidet, so dass sie meine Ergebnisse weder revidieren noch weiterführen würde, habe ich sie nicht nachträglich eingearbeitet. Der Autor setzt sich zum Ziel, „not in the first place to present an analysis of Proclus’ doctrine as such, but, rather, to investigate the extent to which the exegetical tradition of ancient Platonism provided the context for this doctrine“(S. 4). Der Abschnitt über die Tradition der PlatonExegese, der den geeigneten Kontext für das Verständnis der Platonauslegung des Proklos liefert, umfaßt für Phillips den Mittelplatonismus und Plotin; allerdings unterlässt er es nicht, die einschlägigen exegetischen Beiträge der nachplotinischen Platoniker – v.a. Porphyrios’ und Iamblichos’ – bei Bedarf heranzuziehen. Seine Aufmerksamkeit konzentriert sich auf die Exegese einer Auswahl von Dialogstellen, die sowohl an sich als auch in der exegetischen Tradition besonders aufschlussreich bezüglich des Problems des Schlechten sind: Tim. 29a-d; 29d-30a; 42d-e; 52d-53c; 69b-e, Politikos 272b-273e, Leg. 896a-898c; Theait. 176a, Resp. 617d-e, Soph. 257b-259b, Phaedros 246c-248c. Auf die Einleitung, in der v.a. diese Stellen samt einiger exegetischen Grundeinsichten, die alle antiken Platoniker teilten, vorgestellt werden (S. 9-16), folgen sechs Kapitel, die je in zwei Teile, nämlich in eine Auswahl von einschlägigen Proklosabschnitten in Übersetzung des Autors und eine Analyse, zerfallen. Nachdem im ersten Kapitel der Arbeit (Proclus’ Doctrine of Evil) ein knapper Abriss der proklischen Theorie des Schlechten gezeichnet wird (S. 43-52) werden in den fünf weiteren Kapiteln folgende Themen behandelt: „Evil as Privation“, „Evil as Disorderly Motion“, „Irrational Nature“ (als Ursache des Schlechten), „The Evil World Soul“ und „Evil as Weakness of the Human Soul“. Im zweiten Kapitel arbeitet Phillips die besondere Bedeutung heraus, die dem Privationsbegriff als Bestimmung des Schlechten bei Proklos zukommt (S. 89): Es handelt sich um eine Privation, die sich der Form ent-

186

Appendix

gegensetzt und mit dem Begriff ЀΔΉΑ΅ΑΘϟΓΑȱ (Theait 176a) gleichgesetzt werden kann, um ein Nichtseiendes, das „zusammen mit dem Seienden nichtist“ (vgl. S. 80-81). In einer Gegenüberstellung der Position des Proklos mit derjenigen Plotins wird dargestellt, dass zwar beide Philosophen von der aristotelischen Bezeichnung der Privation als Ύ΅ΎΓΔΓ΍ϱΖ ausgehen, Plotin aber die Privation mit der Materie - trotz der Einwände des Aristoteles – gleichsetzt und Letztere somit als Prinzip des Schlechten bestimmt, während Proklos die aristotelische Unterscheidung zwischen Materie und Privation übernimmt. In seiner Analyse der Interpretation des Proklos zur „ordnungslosen Bewegung“ (Tim 30a4-5) zeigt Phillips, wie die im Zusammenhang der vorkosmischen Erschütterung (ΗΉ΍ΗΐϱΖ) der Chora (Tim 52de-53a) erwähnten Spuren (ϥΛΑ΋) der vier Elemente (53b2), die noch nicht „durch Formen und Zahlen“ (ΉϥΈΉΗϟȱΘΉȱΎ΅ϠȱΦΕ΍ΌΐΓϧΖ) ausgestaltet waren (53b1-5), in ihrer Unvollkommenheit gegenüber der voll ausgestalteten Form als Ursachen der ordnungslosen Bewegung betrachtet wurden; dieser vorkosmische Zustand wurde von Proklos, im Gefolge von Porphyrios und Iamblichos, als eine erste, „körperschaffende“ (ΗΝΐ΅ΘΓΙΕ·΍Ύφ) Stufe der Schöpfung (Έ΋ΐ΍ΓΙΕ·΍ΎχȱΔΓϟ΋Η΍Ζ, In Tim. Ɗ 383, 2-3) interpretiert, auf die eine zweite, „ordnende“ (ΎΓΗΐ΋Θ΍Ύφ) Stufe folgt (Phillips, S. 149). Phillips versucht nachzuweisen, dass diese Unterscheidung von zwei Stufen der Weltschöpfung zu einem gewissen Grad auf Plotin zurückgeht (S. 117-123; vgl. S. 198). Die erste Stufe der Schöpfung, die gemäß der neuplatonischen nicht-zeitlichen Interpretation der im Timaios dargestellten Weltschöpfung freilich nicht ein für allemal überwunden worden wäre, sondern dem voll artikulierten σΑΙΏΓΑȱ ΉϨΈΓΖ stets „zugrundeliegen“ würde (die Spuren sind ja ΔΕϱΈΕΓΐ΅ȱ ΘϛΖȱ Έ΍΅ΕΌΕЏΗΉΝΖȱ ΅ЁΘЗΑ, In Tim. Ɗ 383, 20), wird bei Proklos, auch diesmal in Anschluss an Porphyrios und Iamblichos (Phillips, S. 141ff.), mit der chaotischen Weltperiode vom – ebenfalls nicht-zeitlich interpretierten - Politikos-Mythos bzw. mit dem vorkosmischen Zustand (ΔΣΏ΅΍ȱ ΔΓΘξȱ ΚϾΗ΍Ζ (273b5), σΐΔΕΓΗΌΉΑȱ ρΒ΍Ζ (273b8)) des ungeordneten Körperlichen, zu dem die chaotische Weltperiode zurückzufallen droht, direkt verbunden: Das ΗΝΐ΅ΘΓΉ΍ΈξΖȱ ΘϛΖȱ ΗΙ·ΎΕΣΗΉΝΖȱ ΅ϥΘ΍ΓΑ,ȱ Θϲȱ ΘϛΖȱ ΔΣȬ Ώ΅΍ȱΔΓΘξȱΚϾΗΉΝΖȱΗϾΑΘΕΓΚΓΑ (273b4-6), wird als „schlechtes Bewegungsprinzip“ der chaotischen Weltperiode bei Proklos von der Materie an sich streng unterschieden und mit dem unordentlich bewegten ϷΕ΅ΘΓΑ (Tim 30a4-5) identifiziert. Es wird ferner – wie der Platontext unmittelbar nahelegt – mit der Ήϡΐ΅ΕΐνΑ΋ȱΘΉȱΎ΅ϠȱΗϾΐΚΙΘΓΖȱπΔ΍ΌΙΐϟ΅ȱ(272e6) gleichgesetzt, die ja wenige Zeilen vorher gleichfalls als „schlechtes Bewegungsprinzip“ der chaotischen Weltperiode beschrieben wird. Allerdings gilt für Proklos, dass „corporeal evil, whether in its hypothetically pre-cosmic state as a proto-body or as part of the physical cosmos, is never truly divorced from the divine realm“ (S. 149).

John Phillips, Order from Disorder: Proclus’ Doctrine of Evil

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Die ausführliche, genaue Ausarbeitung dieser Verknüpfung von ungeordneter Bewegung im Timaios und chaotischer Weltperiode im Politikos stellt m.E. einen besonders bedeutenden Beitrag zur Proklosforschung dar. Vor dem Hintergrund dieses exegetischen Zusammenhanges versucht Phillips im 4. Kapitel („Irrational Nature“) die Rolle der vernunftlosen Natur als unmittelbarer Ursache der physischen Übel aufzuzeigen. Als mit der Ήϡΐ΅ΕΐνΑ΋ gleichzusetzende ΔΣΏ΅΍ȱ ΔΓΘξȱ ΚϾΗ΍Ζ (273b5; s. Phillips, S. 164) stellt die vernunftlose Natur gleichsam das Bewegungsprinzip des Schlechten dar (Phillips, S. 162; vgl. S. 126); um die Sphäre des Göttlichen nicht für das Schlechte verantwortlich zu machen, bestimmt Proklos die vernunftlose Natur als ein von der Seele zu unterscheidendes „unterseelisches“ Bewegungsprinzip – im Unterschied zu Plotin und Porphyrios, die die Natur mit der aristotelischen „vegetativen Seele“ identifizierten (S. 164f; 204). Allerdings hebt Phillips m.E. die Rolle der Natur als Ursache des Schlechten etwas einseitig hervor: Obwohl die mit der Ήϡΐ΅ΕΐνΑ΋ gleichgesetzte Natur als direkte „Ursache“ (zur Bedeutung von „Ursache“ des Schlechten, s.w.o. S. 78-80) des Schlechten bezeichnet werden konnte ( ψȱΘΓϟΑΙΑȱ ΚϾΗ΍Ζȱ πΗΛΣΘ΋ȱ ΐνΑȱ πΗΘ΍ȱ ΘЗΑȱ Θϲȱ ΗΝΐ΅ΘΓΉ΍ΈξΖȱ ΘΓІΘΓȱ Ύ΅Ϡȱ ΅ϢΗΌ΋ΘϲΑȱ Έ΋ΐ΍ΓΙΕȬ ·ΓϾΑΘΝΑȱ΅ϢΘϟΝΑ, In Tim. I, 11, 9-11), bedeutet dies für Proklos nicht, dass

sie in einem anderen Sinne oder in einem höheren Grade „Ursache“ des Schlechten sei, als es dies die ihr übergeordeten Seinsstufen sind. Es ließe sich im Gegenteil sagen, dass die höheren Seinsstufen in höherem Grade „Ursachen“ des Schlechten sind (zu der Verursachung des Schlechten s.w.o., S. 74-81). Die beiden letzten Kapitel sind dem Problem des Verhältnisses zwischen Übel und Seele gewidmet. Zunächst thematisiert Phillips die Position des Proklos gegenüber einer Zurückführung des Schlechten auf eine schlechte Weltseele, wie sie im mittleren Platonismus v.a. durch Plutarch in Anlehnung an Leg. 896e5-6 und 897d1 vertreten worden ist (die einschlägigen Theorien von Plutarch und Numenios werden hier zusammengefasst: S. 214-222). Proklos weist eine solche Zurückführung aus rein systematischen Gründen zurück (S. 225): Die Seele kann nicht wesensmäßig schlecht sein, weil sie vom absolut guten Nous hervorgegangen ist – nicht einmal in ihrer Tätigkeit kann die Seele als Ganzes schlecht werden, denn jede Ganzheit schließt ein Schlechtes absolut aus. Das Schlechte ist nicht auf die Seele, sondern auf eine unbestimmte Vielheit von „Ursachen“ zurückzuführen. Im abschliessenden Kapitel wird die proklische Beschreibung des Schlechten bei den Einzelseelen („Evil as weakness of the human soul“) knapp skizziert, indem v.a. gefragt wird, inwiefern bei Proklos die Seele an der Betätigung des schlechten Handelns involviert ist. Erreicht die Verantwortung auch die Vernunftseele? (S. 238). Proklos’ positive Antwort

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Appendix

hängt mit seiner Interpretation zum Fall der Seelen im Phaidros-Mythos zusammen: Dass die Neigung zum Schlechten in den Seelen schon vor ihrem Fall zur Materie erscheint, zeigt, dass diese Neigung (und der Fall selbst) nicht auf eine Anziehungskraft der Materie (wie Plotin behauptet; s. S. 241f.), sondern auf die Unfähigkeit der Seele, in der Schau des Guten zu verharren (S. 254-5) zurückzuführen ist. Die Verantwortung dafür wird von der ganzen Seele und insbesondere von der Vernunftseele als „Leitungsinstanz“ getragen. Allerdings gehört diese Schwäche bzw. Unfähigkeit ad speculationem nicht zum Wesen der Seele. Die Schwäche ist weder der Seele als ganzer noch einem Seelenteil inhärent, sondern besteht in einer Asymmetrie zwischen den Seelenteilen (S. 240). Die Fragestellung von Phillips bleibt auch bei der Behandlung des Problems des Schlechten bei den Einzelseelen im Grunde kosmo-ontologisch; ethische Fragen, die mit diesem Problem unmittelbar zusammenhängen (z.B. die Frage, wie die Zurückführung des schlechten Handelns auf eine - bloß vorhandene? Schwäche der Seele mit einer ethischen Verantwortung derselben für dieses Handeln zu vereinbaren ist) werden von ihm, ebensowie die einschlägigen Abschnitte des Politeia-Kommentars - seinem Ansatz entsprechend berechtigterweise - nicht thematisiert.

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Register Abstufung 26, 33 Anm 74, 37, 50, 51, 151, 162, 163 Alexander von Aphrodisias 98 Anm 224 Alkibiades 114 Anm 30, 130, 132 Anm 110 All (das) 24, 26, 35 Anm 87, 37, 41, 45, 98, 99, 139, 142, 143, 145, 161, 182 Aristoteles/aristotelisch 6, 7, 12, 17, 17 Anm 3, 22 Anm 24, 30, 38, 59 Anm 2, 61, 61 Anm 7, 62, 68, 70 Anm 66, 72, 73, 73 Anm 78, 78, 79, 100 Anm 231, 108, 109 Anm 12, 110, 110 Anm 16, 111, 117, 118, 119, 119 Anm 53, 121, 121 Anm 59, 122, 141, 149 Anm 186, 186, 187 Attikos 28, 28 Anm 49, 29 Anm 50, 78 Anm 106 Bechtle, G. 6 Begierde 92, 113, 114 Anm 31, 123 Anm 69, 129, 149, 173 Beierwaltes 8, 9, 9 Anm 38, 10 Bestimmung 2, 8, 14 Anm 62, 17 Anm 2, 20, 20 Anm 20, 24, 25, 26 Anm 33, 32, 34, 37, 38 Anm 101, 40, 41, 42, 43, 44, 54, 55, 56 Anm 154, 62, 63, 68 Anm 53 & 54, 75, 77 Anm 101, 81, 83 Anm 139, 90, 96, 100, 104, 107, 109, 111, 118, 119 Anm 53, 121, 124, 128, 137, 140, 144, 148, 151, 153, 154, 158, 163, 165, 168, 169, 169 Anm 67, 177, 178, 184, 186 Bestimmungsklassen 51 Bewertung 56, 89 Anm 175, 130, 130 Anm 102, 131, 133

Bewertungskriterien 183 Bewertungsskala 54 Anm 146 Boese, H. 8, 13 Bosheit 45, 51, 52, 72, 72 Anm 70, 73 Anm 78, 76, 93 Anm 196, 94, 99, 175, 176 Brons, B. 168 Anm 65, 170 Anm 69 Carone, G.R. 114 Anm 32, 115, 115 Anm 35, 116 Anm 39 & 40 Corsini, E. 5, 6, 49 Anm 134 Cürsgen, D. 11 Davidson, D. 111, 113 Determinierung 111, 133, 141 Dualismus 9, 23 Anm 27, 29, 47, 48, 183 Eine (das) 8, 20, 25 Anm 32, 26, 29, 31, 31 Anm 60, 32, 40, 47, 53, 104, 124, 133 Anm 114, 146, 147 Anm 182 Elorduy, E. 5, 11 Entscheidung 10, 10 Anm 44, 11, 86, 93 Anm 198, 107, 120, 125, 149, 152 Entscheidungsfreiheit 11, 172 Entscheidungssituationen 125 Erkenntnis 24, 25 Anm 32, 41, 42, 63, 63 Anm 19, 84, 112 Anm 26, 117 Anm 43, 121, 121 Anm 60, 123, 123 Anm 66, 132 Anm 110, 134, 134 Anm 119, 148 Anm 184, 151, 171 Anm 73, 175, 176, 176 Anm 97, 176, 177 Anm 97, 179 Erkenntnislehre/Erkenntnistheorie/erkenntnistheore tisch 42 Erkenntnismöglichkeiten 163 Erkenntnisstufe 176

204

Register

Erkenntnisvorgang 42, 88 Ethik/ethisch 3, 9, 10, 11, 12, 13 Anm 56, 15, 39 Anm 108, 41 Anm 109, 54 Anm 146, 72, 90 Anm 179, 94, 102, 105, 106, 108, 109, 110, 110 Anm 16, 111, 113, 117, 118, 118 Anm 46, 119, 120, 123, 124, 124 Anm 69, 126, 128, 131, 132, 132 Anm 110, 133 Anm 114, 139, 140, 140 Anm 148, 141, 142, 144, 145, 147, 149, 150, 151, 157, 161, 168, 169 Anm 67 & 68, 170, 171, 173, 174, 176, 178, 179, 182, 183, 184, 188 Fehler 87, 88, 89, 95, 96, 109, 112, 120, 176, 183 Freiheit 2, 8, 8 Anm 35, 9, 10, 11, 12, 39 Anm 108, 91, 92, 92 Anm 192, 93, 93 Anm 195 & 198, 97 Anm 219, 98 Anm 224, 108 Anm 7, 111, 114 Anm 30, 119, 121, 123, 126, 127, 136, 144 Anm 168, 147, 147 Anm 182, 151, 172, 176, 178, 179, 184 Gegensätzlichkeit 42, 59, 60 Anm 4, 68, 71, 73, 104, 147 Gott/das Göttliche/Götter 2, 9, 11, 21, 29, 31, 35, 37, 45, 47, 48, 49 Anm 134, 55, 56, 57, 65, 65 Anm 31, 66, 74, 75, 76, 77, 78 Anm 101, 86, 86 Anm 157, 88, 89, 91, 91 Anm 186, 92 Anm 192, 93 Anm 197, 99, 101, 101 Anm 241, 103, 123, 125, 129, 132 Anm 110, 133, 134, 137, 140, 146, 155 Anm 7, 159, 160, 163, 164 Anm 47, 168 Anm 65, 170, 170 Anm 69, 171 Anm 73, 172, 173, 174, 175, 176, 177 Anm 97, 178, 181, 187 Gregor von Nyssa 81 Anm 133 Grenze 20 Anm 20, 23, 26, 31, 31 Anm 60, 35 Anm 83, 37, 40, 42, 43, 51, 73 Anm 78, 79, 84, 130 Anm 102 Hager, F.P. 6, 31 Anm 60, 52, 53, 54, 76 Anm 96, 86 Anm 160, 98 Anm 224 Heraklit 50 Anm 137 Hermeias 85 Anm 155

Hierarchie 2, 21, 22, 25, 26, 27, 60, 62, 64, 65, 84, 145, 147, 155, 159, 162, 163, 163 Anm 47, 171 Anm 73, 177, 177 Anm 97 Iamblichos 6, 26, 28, 28 Anm 46, 32, 48 Anm 134, 98 Anm 222, 103, 185, 186 Irwin, T. 117 Anm 44 Johannes Skythopolitanus 167 Anm 60 Koch, H. 3, 4, 5 Anm 10, 153 Koch, J. 154 Anm 3 kognitiv 89, 117 Anm 44, 148, 175, 176, 178, 179, 183, 184 Maß 17 Anm 3, 35 Anm 83, 43, 56 Anm 154, 70 Anm 64, 73, 171 Maßlosigkeit 38, 46, 55, 73, 95 Mittelplatonismus 185 Monismus 9, 178, 182 Müller, H.F. 4, 4 Anm 9, 35 Anm 87, 174 Anm 87 Neuplatonismus 6, 13, 26, 32 O’Brien, D. 7, 23 Anm 27 O’Meara, D. 6, 7, 44, 46 Anm 129, 49, 50, 96 Anm 215, 97 Anm 220 Opsomer, J. 6, 7, 11, 12, 12 Anm 55, 13, 13 Anm 56, 14, 59 Anm 2 Ordnung 14, 36, 51 Anm 141, 56, 61, 65 Anm 31, 69, 78 Anm 101, 91 Anm 186, 100, 101, 103, 123, 124, 128, 147, 150, 158, 166, 170, 171 Anm 73, 182 Peripatetiker/peripatetisch 59 Anm 2, 98 Anm 224 Philoponos 34 Anm 80 Platonismus 5, 6, 12, 187 Plutarch 28, 28 Anm 49, 29, 29 Anm 50, 41 Anm 109, 78 Anm 106, 187 Porphyrios 6, 28 Anm 46, 29 Anm 50, 34 Anm 80, 48, 48 Anm 134, 81 Anm 133, 185, 186, 187 Prinzipiendualismus 47, 54, 59, 146 Prinzipienlehre 32 Anm 72

Register

Protagoras 111, 112, 115, 115 Anm 37, 116, 116 Anm 40, 148 Anm 184 Providenz 3, 8, 9, 11, 12, 13, 98, 98 Anm 224, 99, 99 Anm 226, 100, 101, 102, 103, 103 Anm 251, 105, 140, 145, 162, 182 Salloustios 5, 6, 48 Anm 134 Schäfer, C. 7, 39 Anm 108, 46 Anm 129, 49, 49 Anm 137, 50, 51, 52, 52 Anm 142 Schröder, E. 5, 6 Schwyzer, H.R. 23 Anm 27, 39 Anm 108 Seelenteile 116, 123 Anm 69, 126, 127, 148, 150 Seinshierarchie 32, 34 Anm 83, 54 Anm 146, 60 Anm 5, 65, 103, 104, 162, 163, 164, 169 Anm 68, 171 Seinsordnung 168, 170 Selbstbestimmung 10, 14 Anm 62, 39 Anm 108, 107, 110, 111, 123, 128, 135, 136 Anm 126, 137, 138, 139, 141, 144 Anm 168, 150, 151, 179, 183, 184 Selbstmächtigkeit 10, 86, 88, 91, 92, 93, 93 Anm 195 & 198, 94, 105, 106, 111, 115, 117, 118, 138, 139, 140, 141, 142, 142 Anm 157, 143, 144, 145, 146, 147, 147 Anm 182, 149, 150, 151 Simplikios 6, 81 Anm 133 Sinnenwelt 19, 20, 21 Anm 22, 22, 23 Anm 27, 30, 31, 36, 43, 52, 54, 66, 85 Sinneswahrnehmung 90 Sokrates 44, 45, 60, 70 Anm 64, 76, 78 Anm 101, 110, 110 Anm 16, 112, 113, 113 Anm 27, 114 Anm 30, 117, 117 Anm 44, 121, 122, 130, 131, 133, 148 Anm 184 Steel, C. 5, 6, 11, 12, 12 Anm 55, 13, 13 Anm 56, 14, 70 Anm 64, 75 Anm 87, 82 Anm 138, 153 Stiglmayr, J. 3, 4, 5 Anm 10, 153

205

Stoa/Stoiker/stoisch 12, 13, 13 Anm 56, 38 Anm 101, 95, 98 Anm 224, 101, 139 Syrianos 12 Anm 55, 49 Anm 134, 102 Anm 248 Szlezák, Th.A. 108 Anm 6, 113 Anm 28, 123 Anm 69, 134 Anm 119, 146 Trouillard, J. 37 Anm 99 Tugend 10 Anm 44, 11, 42, 51, 52, 72, 73 Anm 78, 90, 91, 92, 93 Anm 196, 94, 95 Anm 206, 109 Anm 9, 110, 111, 112, 113, 114 Anm 32, 115, 117, 118, 122 Anm 65, 123, 131, 133 Anm 114, 138, 140, 142 Anm 157, 144, 145, 146, 148 Anm 184, 150, 157, 174, 184 Tugendhaftigkeit 108, 118 Tugendwissen 109, 151 Unbegrenztheit 18, 20 Anm 20, 25, 26, 30, 31, 32, 37, 38, 40, 43, 52 Anm 142, 55, 73, 104, 149 Unbestimmtheit 18, 37, 38, 39, 77, 96, 96 Anm 215, 104 Unordnung 56, 63, 126, 150 Unterordnung 12, 53, 84 Untugend 102 Anm 249 Varessis, E. 23, 35 Vernunftseele 128, 134, 148, 149, 150, 183, 187, 188 Vielheit 12, 20, 32, 37, 80 Anm 124, 93 Anm 196, 96 Anm 210, 133 Anm 114, 170 Anm 69, 182 volitiv/volitional 89, 148, 150, 178, 179, 183, 184 Volkmann-Schluck, K.-H. 39 Anm 108 Vorbestimmung 93 Anm 198 Vorentscheidung 87 Vorsehung: s. Providenz Wahlentscheidung 85, 98 Anm 222, 107, 118, 137, 141, 143, 147, 148, 149, 149 Anm 186, 151, 178, 182, 183, 184 Weltordnung 56, 145 Wesen 156 Anm 9, 158, 166, 170 Anm 69, 172, 188

206

Register

Wille 35 Anm 83, 68, 70, 87, 88, 90, 90 Anm 179, 95, 97, 97 Anm 219, 98 Anm 222, 107, 108, 108 Anm 8, 109, 118, 118 Anm 47, 123, 126, 127, 174, 175, 176 Willensakt 85, 89, 96, 171, 172 Willensentscheidung 111 Wissbegierde 129 Wissen 10 Anm 44, 92, 108, 109, 109 Anm 12, 110, 111, 113, 115, 116, 116 Anm 40, 117, 117 Anm 43 & 44, 118, 119, 120, 121, 121 Anm 59, 122, 122 Anm 65, 124, 125, 128, 129, 148 Anm 184, 150, 151, 171, 171 Anm 73, 175, 176, 176 Anm 97, 178, 179 Wissensethik 109 Wissenschaft 113 Anm 28, 115, 116, 117, 117 Anm 43, 122, 122 Anm 65, 123, 176 Anm 97, 177 Anm 97, 178 Φ·΅ΌϱΑ 9, 10, 47 Anm 130, 53 Anm 145, 61 Anm 9, 64 Anm 25, 68 Anm 55, 69 Anm 59, 79 Anm 110, 92 Anm 189, 102 Anm 244, 130 Anm 102, 134 Anm 119, 146, 155 Anm 7, 156 Anm 11, 158 Anm 22, 159 Anm 23 & 26, 162 Anm 42, 163 Anm 45, 164 Anm 47, 165 Anm 52, 53, 54 & 55, 169, 169 Anm 67 & 68, 171 Anm 70 & 71, 172 Anm 75, 173 Anm 82, 174 Anm 86, 174 Anm 90, 91 & 92, 177 Anm 98 ΦΑΣ·Ύ΋/ΦΑ΅·Ύ΅ϧΓΑ 34, 35, 35 Anm 87, 45 Anm 123, 47 Anm 130, 55 Anm 150, 56, 60 Anm 4, 74 Anm 84, 78 Anm 101, 100 Anm 231, 109, 124 Anm 72, 130 Anm 102, 134 Anm 118 & 119, 137 Anm 134, 138 Anm 134, 144 Anm 171, 146, 147 Anm 183, 157 Anm 18 ΦΔΉ΍Εϟ΅ 146, 149 Anm 186 ΦΕΉΘφ 11, 42 Anm 112, 92 Anm 189 & 192, 93 Anm 196, 109 Anm 9, 122 Anm 65, 123, 131, 132 Anm 110, 138 Anm

134, 140, 144, 144 Anm 170, 174 Anm 87, 184 ΅ϣΕΉΗ΍Ζ 85, 89, 92 Anm 189 & 190, 93 Anm 198, 94 Anm 198, 112 Anm 26, 139 Anm 140, 140 Anm 146, 142 Anm 157, 143 Anm 167, 144 Anm 169, 147 Anm 183, 148 ΅ЁΘΉΒΓϾΗ΍ΓΑ 86, 94, 103, 144 Anm 169, 172 Anm 75 ΆΓϾΏ΋Η΍Ζ 68, 87, 108, 108 Anm 8, 109, 109 Anm 9 & 11, 148, 167 Anm 60, 176, 176 Anm 93, 178, 179 ΉϨΈΓΖ 42 Anm 113, 43 Anm 115, 69 Anm 59, 100 Anm 232, 119 Anm 48, 144 Anm 168, 147 Anm 183, 186 οΎΓϾΗ΍ΓΑ 91, 92 Anm 190, 109 Anm 12, 111, 115, 117, 118, 118 Anm 47, 119, 119 Anm 48 & 50, 120, 121, 121 Anm 59, 149, 149 Anm 186, 184 πΏΉΙΌΉΕϟ΅ 31 Anm 60, 92 Anm 192, 93 Anm 196 πΔ΍ΌΙΐ΋Θ΍ΎϱΑ 113, 114, 116, 116 Anm 39, 125 οΘΉΕϱΘ΋Ζ 19 Anm 10 & 12, 80 Anm 125 σΚΉΗ΍Ζ/πΚΉΘϱΑ 22, 23, 25, 55, 87, 155, 175 Anm 90 πΚ’ ψΐϧΑ, Θϲ 10, 13 Anm 56, 88, 91, 92 Anm 189 & 190, 93, 93 Anm 195, 110 Anm 16, 111, 115, 117, 118, 118 Anm 46, 138, 139, 139 Anm 145, 140 Anm 146, 149, 149 Anm 186, 183, 184 ΌΉϱΖ/ΌΉϧΓΑ 9, 29 Anm 51, 31 Anm 59 & 60, 45 Anm 123, 56, 76, 78 Anm 101, 88 Anm 174, 91 Anm 186 & 188, 92, 101 Anm 239, 133, 138 Anm 134, 140, 146 ΎΕ΍ΘφΕ΍ΓΑ 11, 88 Anm 174, 90 Anm 181 ΏΓ·΍ΗΘ΍ΎϱΑ 114, 115, 116, 116 Anm 39, 122 Anm 65, 179

Register

Ώϱ·ΓΖ 42 Anm 113, 60 Anm 4, 69, 69 Anm 59, 77 Anm 98 & 101, 90 Anm 181, 100 Anm 232, 102 Anm 244, 108 Anm 5, 114 Anm 31, 121 Anm 60, 122 Anm 62, 123, 136, 137 Anm 134, 157 Anm 12 & 14, 177 Anm 98 ΓЁΗϟ΅ 20 Anm 18, 43 Anm 115, 44, 44 Anm 122, 53 Anm 145, 91, 147, 158 Anm 21, 162 Anm 42, 166 Anm 59 Δ΅ΕΙΔϱΗΘ΅Η΍Ζ 12, 48 Anm 134, 81, 82, 82 Anm 138, 95 Anm 210, 158, 166, 167 ΔνΕ΅Ζ 31, 31 Anm 59, 43 Anm 115, 79 Anm 110, 146 ΔΉΕϟΓΈΓΖ 101 Anm 238, 128, 137 Anm 134, 139 Anm 143 ΔΕΓ΅ϟΕΉΗ΍Ζ 10, 48 Anm 134, 87, 88 Anm 171, 148, 178, 179 ΔΕϱΑΓ΍΅ 99 Anm 226, 156 Anm 11, 174 Anm 87 & 88

207

ΗΝΐ΅ΘΓΉ΍ΈνΖ 28, 36, 56, 56 Anm 158, 186, 187 ΘϾΛ΋ 12 Anm 55, 138 Anm 139, 145, 145 Anm 175, 146 ЀΔΉΑ΅ΑΘϟΓΑ 60 Anm 4, 67, 68, 68 Anm 54, 70, 70 Anm 66, 75, 82, 154, 158, 166, 169, 186 ΚΕϱΑ΋Η΍Ζ 109, 117 Anm 43 ΚϾΗ΍Ζ 38, 41 Anm 110, 44, 45 Anm 123, 47 Anm 130, 50 Anm 137, 61 Anm 9, 69 Anm 59, 72 Anm 76, 73 Anm 81, 77, 77 Anm 98, 79 Anm 112, 80 Anm 123, 84 Anm 142, 90 Anm 182, 97, 100 Anm 232, 128, 128 Anm 93, 130 Anm 102, 134 Anm 116, 135, 136, 136 Anm 127, 137 Anm 131, 140 Anm 146, 141, 167 Anm 60, 174 Anm 87 & 88, 186, 187, 207