Platons Idealstaat und das Staatsrecht der Gegenwart: Vergleiche – Anregungen – Mahnungen in den »Gesetzen«: Zu einem »Bildungsstaat« [1 ed.] 9783428544738, 9783428144730

Platons »Gesetze« sind, aufbauend vor allem auf seiner »Politeia«, der erste große Entwurf einer Staatslehre, ja einer V

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Platons Idealstaat und das Staatsrecht der Gegenwart: Vergleiche – Anregungen – Mahnungen in den »Gesetzen«: Zu einem »Bildungsstaat« [1 ed.]
 9783428544738, 9783428144730

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1277

Platons Idealstaat und das Staatsrecht der Gegenwart Vergleiche – Anregungen – Mahnungen in den „Gesetzen“: Zu einem „Bildungsstaat“ Von

Walter Leisner

Duncker & Humblot · Berlin

WALTER LEISNER

Platons Idealstaat und das Staatsrecht der Gegenwart

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1277

Platons Idealstaat und das Staatsrecht der Gegenwart Vergleiche – Anregungen – Mahnungen in den „Gesetzen“: Zu einem „Bildungsstaat“

Von

Walter Leisner

Duncker & Humblot · Berlin

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Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: CPI buchbücher.de, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-14473-0 (Print) ISBN 978-3-428-54473-8 (E-Book) ISBN 978-3-428-84473-9 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

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Vorwort Dies ist ein Wagnis – mehr Versuchung als Versuch. Mit tiefen geistigen Begegnungen hat es begonnen, eines damals noch Schülers mit dem, der alles Akademische bedeutet, ja „ist“: Platon. Dieser hat spät, immer später, aber immer noch höher zum Staat gefunden, der Verfasser vielleicht allzu früh. Der Versuch muss scheitern: mit dem Mund, mit einzelnen Worten des Ganz Großen zu sprechen; über eine Orakelbegegnung durfte ein Vergil schreiben. Dennoch sei sie gewagt, diese Fahrt in antike Himmel. Die Gegenwart will doch tolerant sein; und sie sucht Abenteuer. Sie wird auch dieses verzeihen – ein ganz altes. Staatslehre wird gefordert von Staatsrecht und Politischer Wissenschaft. Abwegige Wege? Warum nicht? München, Am Himmelfahrtstag, 2014

Walter Leisner

Inhaltsverzeichnis Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 A.

Idealstaatlichkeit: Fragen und Direktiven zu geltendem Recht . . . . . . . . . . . . . 16 I. Fragestellungen und deren Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1. Platons Philosophie: Ausgangspunkt staatsphilosophischen Denkens . . . . . . . . 16 2. Platon: Staatsutopismus – Aristoteles: Staatsrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 3. Griechische Staatsphilosophie und Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 4. Platons Staat: Das Problem des „demokratischen Rückblicks in die Antike“ . . 19 II. Platons Staatsgedanken: Aus einer anderen gesellschaftlich-wirtschaftlich-religiösen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 1. Grenzen der „Ideengeschichte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 2. Gesellschaftliche Realitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 3. Wirtschaftlich-technische Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 4. Die „ganz andere“ religiös-weltanschauliche Grundstimmung . . . . . . . . . . . . . 24

III. Fragen an Platons Staat: „Aus der Gegenwart – heraus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 1. Staatsrechtliche Fragen – ein Ideal: Die „staatsrechtliche Abstraktion“ . . . . . . 26 2. Keine „Rückkehr zu früheren Zuständen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 3. Nicht nur Staatsform/Systemfragen – einzelne Erkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . 27 IV. Einige einstige – heutige – ewige Fragen an Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 1. Staatsrechtstechnik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2. Verfassungsrechtlich zu bewältigende gesellschaftliche, wahrhaft „soziale“ Grundprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 B.

Platon und die Demokratie der Gegenwart – Grundsätzliches in historischer Nähe und Ferne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 I. Amicus Plato – sed magis amicus Populus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 II. Fundamentale demokratische Erwartungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 1. Staatsorganisationsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2. Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

III. Platon und die Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 1. Die „attische Demokratie“ – ein Niedergang der Aristokratie . . . . . . . . . . . . . . 35 2. Platon – ein „undemokratisches Leben“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

8

Inhaltsverzeichnis IV. Platons Philosophie – Demokratie: Nähen und Fernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 1. Der platonische Individualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2. „Arete“: Höchstqualität als Staatsziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 3. Paideia: Bildung als höchstes Staatsziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 4. Erkenntnisschau in Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

C.

Die Nomoi als „Staatsrecht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 I. Rechtliche Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 1. Eine „Platon-immanente“ historische Sicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2. Historia Magistra des Staatsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 II. Politeia und Nomoi: Von der Idealvorstellung zur Idealstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . 44 1. Die Politeia: Von der „Erkenntnis“ zur „Ethik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2. Der Idealstaat: „Wirklichkeit – wie sie sein soll(te)“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 3. Von der Politeia zu den Nomoi: Vom geschauten Idealstaat zum organisierten Idealstaat der Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

III. Die Nomoi als Staatssystem – und als Einzelwege des Staatsrechts . . . . . . . . . . . . 46 1. Die Wendung zum „gesetzlichen System“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 2. Und die Gesetzes-Inhalte im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 D.

Die „Nomoi“ in einer Gesamtbetrachtung und das Staatsrecht der Gegenwart 48 I. Das staatsrechtliche System der Nomoi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 1. Die Gegenstände der zwölf Bücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 2. Der Staat als geistiges Ganzes entstanden und im Werden – das erste und zweite Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 3. Von Politik(wissenschaft) über Allgemeine Staatslehre zum Staatsrecht – das dritte und vierte Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 II. Staatsaufgaben und Staatsorganisation – Staat und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . 51 1. (Ideal-)Staatsrecht bei Platon: Staatsaufgaben, nicht Staatsorganisation – das fünfte und sechste Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2. „Gesellschaftliches Leben“ – das siebte und achte Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 3. Liberale Ordnungsabschwächung in gesellschaftlichen Rahmenziehungen – das neunte bis elfte Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

III. Wächterstaat? Nein: Staat als Aufgabe – das zwölfte Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 E.

Einzelinhalte der „Nomoi“ – Nähen und Fernen zu heutigen Gesetzeslagen und Normentwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 I. Rechtliche Parallelbetrachtung von Nomoi und gegenwärtigem Staatsrecht . . . . . . 60 1. Zeitübergreifende gedankliche Wirkungen solcher Vergleiche . . . . . . . . . . . . . 60

Inhaltsverzeichnis

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2. Induktion über rechtliche Einzelparallelen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 3. Prüfung(sschritte) in Gegenüberstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 II. Ursprung der Staatlichkeit: „Kräfte zum Staat“ (Bücher I bis III) . . . . . . . . . . . . . . 63 1. Die Notwendigkeit einer Staatlichkeit als Normenordnung: Staatsrechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 a) Gegenwärtige Staatsrechtfertigung aus Staatszielen (Buch I) . . . . . . . . . . . . 63 b) Die Nomoi und die Staatsziele der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 c) Paideia statt Pazifismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 d) Vergnügung: Bildung, nicht Genuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 e) „Nichts Privates?“ – „Privatheit zum Staat!“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 2. Der „wahre Staat aus dem Schönen“: Paideia in Kunst (Buch II) . . . . . . . . . . . 66 a) „Kunstfernes gegenwärtiges Staatsrecht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 b) Platon: „Das Schöne als Kraft zur Staatlichkeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 c) Öffentliche Kunst als „bildendes Vor-Bild“, in Paideia . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 3. Staatsursprung, Staatsformen und deren Entwicklung (Buch III) . . . . . . . . . . . 69 a) Staatsursprung in Verteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 b) Familie: Keimzelle des Staates oder Erziehungsgemeinschaft? . . . . . . . . . . 70 c) Staatsformenlehre – Demokratiekritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 III. Das Gesetz – Der platonische Rechtsstaat – Buch IV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 1. Der Staat als höchste Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 2. Das Gesetz: dauernd über der Macht, unveränderlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 a) Die „göttliche Autorität“ der Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 b) Überzeugung durch Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 c) Präambeln als Ermahnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 d) Vorrang des milderen Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 3. Gesetzgebungsziele: Staatszwecke, Verfassungsgrundsätze – Buch V . . . . . . . 78 a) „Staatsziele“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 b) Gesinnungspflege in und aus Körper- und Geisteserziehung – Verehrung als Grundhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 c) Immigration: Qualität als Aufnahmekriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 d) Besitz als Grundlage, Besitzstreben als Gefahr für den Idealstaat . . . . . . . . 82 e) Armut, Schwächerenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 4. Staatsorgane – „Familiengemeinschaft“ – „Herrschaft“ – Buch VI . . . . . . . . . . 85 a) „Verfassung“, „Verfassungshüter“: vorgezeichnet in den Nomoi . . . . . . . . . 85 b) „Gewaltenteilung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 c) Wahlen als Grundlage der Staatsgewalt – kein „autoritärer Idealstaat“ . . . . 87 d) Lehrer als „Staatsorgane“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 e) Eltern als staatliche Bildungsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 f) Exkurs: Von der Staatsorganisation zum Dienstrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90

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Inhaltsverzeichnis 5. Erziehungsinhalte – Meinungsfreiheit (Buch VII) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 a) Erziehungsziele als Staatsziele: „Grundsätze in Entfaltung“ . . . . . . . . . . . . . 91 b) Der „totale Jugend-Erziehungsstaat“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 c) Frauenemanzipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 d) Erziehungsinhalte – Kontrolle – Zensur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 6. Gemeinschaftsverhalten: Wettbewerb – Geschlechterbeziehungen – Nachbarschaft (Buch VIII) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 a) „Menschliche Kontakte“ als allgemeiner Ordnungsgegenstand; Staatsziel: „Ruhiges Zusammenleben“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 b) „Ruhiges (Zusammen-)Leben“ als Staatsziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 c) Wettstreit – Wettbewerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 d) Sexualität als Störung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 e) Nachbarrecht – Güterverkehr – Siedlungsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 7. Strafrecht: Erziehung und Ordnungsschutz (Buch IX) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 a) „Strafrecht als Staatsrecht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 b) Strafrechtstheorien – Staatsrechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 c) Strafrecht als Gesundheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 d) Erscheinungsformen und Ursachen der Straftaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 8. „Religion im Staat“ – nicht „Staats-Religion“ (Buch X) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 a) Religion und Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 b) Religion als Frage nach der (ewigen) Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 c) Staatsnähe – Staatsferne der Götter, der Religion – zum Staat . . . . . . . . . . . 107 d) Platonischer Deismus – christlich gewendet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 e) Platons Götterlehre – demokratisch gedacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 f) Staatsrechtfertigung – Gottesrechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 9. Gesetze: Verträge – Buch XI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 a) Das Bürgerliche Recht im platonischen Staats-System . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 b) Der Ausgangspunkt: Zivilrecht in Vertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 c) Kaufrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 d) Testamentsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 e) Die Familie – Elternautorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 f) Prozess, Rechtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 10. „Staatsschutz“ im Idealstaat – Buch XII . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 a) Gesetze als Mauern – Staatsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 b) Strenges Strafrecht als Staatsschutz – „Finanzkontrollen“ . . . . . . . . . . . . . . 115 c) Auslandskontakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 d) Staatsweisheit der Wächter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 e) Politische Bildung einer Elite? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120

Inhaltsverzeichnis F.

11

Vom Idealstaat zum Realstaat – Abstieg oder weiter(er) Weg? . . . . . . . . . . . . . 122 I. „Nähen und Fernen“: Zugleich Thema und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 II. Staat – ein Ganzes: im platonischen System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

III. Die Nomoi des Platon: „Verfassungs-Staat“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 1. Unwandelbare Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 2. Platons Idealstaat: Verfassung als Natur-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 3. Der steinige Weg zu „Verfassung als System“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 4. „Platonischer Verfassungsweg“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 IV. Und viele gesetzliche Einzelschritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 1. Fragestellungen vor allem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 2. Einzelantworten aus der Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 V. Ein Ende der Moral in Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 1. „Moralverliebte“ Gegenwart – bis ins Staatsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 2. Platons Gesetze: Ethik, aber „moralinfrei“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 VI. Vom Machtstaat zur „Force tranquille“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 1. Staat als Ruhe und Aufstieg – Soziales in Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 2. Die platonische Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 3. Dialog – kein Freund-Feind-Denken, keine „Politik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 4. Kein Macht-Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 VII. Gesetz: Sieg des Geistes über die Leidenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 1. Gesetzesgeltung aus Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 2. Unwandelbares Gesetz – Innere Überzeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 VIII. Der platonische Idealstaat als antikes Kunstwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 1. Der Staat als Gesamt-Kunstwerk: Platon – Wagner – Nietzsche . . . . . . . . . . . . 136 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138

Einführung I. „Du bist eine Welt!“ – diese Liebeserklärung Goethes an Rom könnte man Platon zurufen: „Du bist ein Staat!“. Er hat ihn als erster so gedacht, wie wir ihn – noch immer – zu denken suchen. Der „Prix de Rome“, einst Leuchtturm für junge französische Künstler, für die ganze Europäische Kunst – seine Strahlkraft ist heute erloschen. Höchstes geistiges Erlebnis sind nicht mehr Stendhals „Promenades dans Rome“. Alte Geschichte bleibt interessant, aber keine Historia Magistra führt mehr Kunst und Literatur, den Geist, und daher auch das Recht, zu allererst zurück in antike Hallen, und seien es Ruinen, mit Winckelmann und Schiller. „Wenn Deutschlands Mauern (zu) brechen (drohen)“, wie die antiken Gebäude, in Staatlichkeit, dann blicken Juristen der Gegenwart aber noch immer zurück bis zu den griechischen Philosophen. Im Deutschland des einstigen philosophischen Idealismus, dem „geistigen Idealstaat“ noch immer für manche Philosophen, mehr heute noch in angelsächsischen Ländern, der zweiten Heimat heutiger „Wirtschafts- und Geistesdeutschen“, arbeiten Phalangen von klassischen Philologen an Platon-Bildern. Es sind dies aber keine VorBilder mehr, eher Kulissen für gegenwärtiges Staats-Theater; die königlichen Kleider hat das Staatsrecht der Gegenwart längst abgelegt. In seinen „neuen Kleidern“, nach staatsrechtlicher Mode „bewegungsfrei“, stören den Volkssouverän der Demokratie aber die allzu langen, großen (Gedanken-)Gewänder der Vergangenheit. So entrichtet das gegenwärtige Staatsrecht, jedenfalls in Deutschland, dem Staatsdenken Platons zwar noch immer einen höflichen Geisteszoll von Einführungskapiteln in die schmucklosen modernen Staats-, in die öffentlichen Gebäude, in seine trockenen Staatslehren. Doch Staatsdenken kommt heute „eben doch“ aus einer „ganz anderen wirtschaftlichen Welt“; schon deshalb gibt es da aus der Antike nicht allzu viel mehr zu vergleichen oder gar zu übertragen in die Gegenwart. Und überdies: Ist dies nicht eine Gedankenwelt, auf welche sich Diktatoren berufen könnten, sogar der „totale Staat“?

II. Derartige Kritik verdient zwar keine Widerlegung, soweit sich in ihr nur „Vergangenheitsbewältigung“ polemisch fortsetzt. Platon ist aber, gerade in seinen „Gesetzen“, in solche Ferne gerückt, entrückt, dass ein staatsrechtlicher, ja sogar ein

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Einführung

gedanklicher Dialog mit ihm, dem Denker in Dialogen, über so weite zeitliche und geistige Fernen hinweg kaum mehr möglich erscheint. Mehr als ein „auch, (sogar) schon Platon …“ darf von Juristen der Gegenwart nur selten erwartet werden. Über das, was dieser Philosoph eben und vor allem bieten wollte, was er einer Vergangenheit so lange vor(her-)gedacht hat: eine „Idealstaatlichkeit“ im vollen, im hohen Sinn dieses Wortes, kann also, so mag es scheinen, eine geistige Auseinandersetzung unter Vertretern des Rechts und seiner Wissenschaft im engeren Verständnis nicht mehr stattfinden; hier bleibt dann nichts als Rechtsgeschichte, Historia archivata, nicht Historia Magistra. Eine Zeit, die sich dem Fortschritt verpflichtet sieht, oder ihm verfallen ist, welche die Antike, „die Alten“, in geistigen Asylen unterbringt, bestenfalls noch in mäßig besuchten Museen – sie wird zwar Platon, den „Größten unter den Alten“ des Staatsrechts, als Literaten bewundern, als Philosophen weiterdenken. Aus dem Staatsrecht aber ist er in die Rechts-, bestenfalls noch die Verfassungsgeschichte abgewiesen. In deren Reservatenbereich dringt immer seltener eine Rechtswissenschaft vor, kaum je mehr ein (Verfassungs-)Politiker der Gegenwart. Wer wollte auch das Grundgesetz noch weiter zurückverfolgen als in die Zeit vor 1848, zu damaligen geistigen Wurzeln?

III. Hier wird zu einer solchen These des staatsrechtlichen Zeitgeistes eine Antithese geboten: in dem Versuch wenn nicht eines Vergleiches, so doch einer Gegenüberstellung von platonischer Idealstaatlichkeit und dem Staatsrecht, ja der Staatspraxis der Gegenwart. Unterstellt wird dabei eine grundsätzliche Vergleichbarkeit von rechtlichen Ordnungsgedanken, jedenfalls in ihrem prinzipiellen Gehalt, über große zeitliche Abstände hinweg, über weite Fernen hinüber, zwischen völlig unterschiedlichen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, technisch-naturwissenschaftlichen Entwicklungszuständen. Derartige Versuche einer Zusammenschau können sich zu Mahnungen an die Gegenwart verdichten; weit öfter werden sie allerdings vielleicht nur gewisse geistige Nähen aufzeigen – oder aber sich in der Feststellung von Fernen verlieren. Dieses Unterfangen lädt zur Kritik ein. Manchen mag es als ein Anachronismus erscheinen, der „Antike zurückholen möchte“ in die Gegenwart. Wissenschaftliche Vertreter, vor allem der Historie und Philologie, können unschwer auf zahllose und fundamentale Unterschiede zwischen damals und heute hinweisen. Rechtspolitik wird fragen, welche Autorität selbst einem Platon noch zukommen kann, wenn der demokratische Volkssouverän einmal gedacht hat und gesprochen. Dennoch sei’s gewagt, Nähen und Fernen des Staatsrechts der Gegenwart zu Platons Idealstaat in Skizzen anzudeuten, nicht in Monumentalbildern auszumalen. Jeder Leser wird sie aus seinen individuellen rechtlichen Erfahrungen heraus verfeinern, verifizieren oder falsifizieren. All dies trägt, auf der Kulisse des platonischen

Einführung

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Idealstaatsrechts, zu einer Schärfung von Blick und Bewusstsein bei in der Erfassung von Rechtsproblemen der Gegenwart. Das Übliche „schon bei Platon“ wird dann, und sei es um ein Weniges, klarer in der Gegenwart, aus ihr selbst heraus. Experimente wie dieses sind immer wieder gewagt worden, oft ganz selbstverständlich, seit den Zeiten der Renaissance, in solchem Rückgriff auf antike Beispiele, etwa bei Montesquieu. Vielleicht gibt es eben auch heute noch antike Schätze zu heben auf diesem weiten Feld des Staatsrechts, in vergleichender Betrachtung von Einst und Jetzt.

A. Idealstaatlichkeit: Fragen und Direktiven zu geltendem Recht I. Fragestellungen und deren Voraussetzungen 1. Platons Philosophie: Ausgangspunkt staatsphilosophischen Denkens Eine Staatsphilosophie, die ihren Ausgang1 nicht von Platons Denken nimmt, ist nicht vorstellbar. Vor ihm gibt es große, mächtige Staatlichkeit, im Orient und vor allem in Ägypten; Letztere hat in ununterbrochener, großdimensionaler Wirksamkeit das Europäische und vor allem auch das Deutsche Staatsrecht erreicht, in vielen Brechungen, aber in Grundsatzgedanken wirkend bis in die Gegenwart: Erwähnt sei nur die Reichsidee, der Gottkönig als Kaiser. Kaum eine staatsrechtliche Tradition ist stärker dadurch geprägt, wenn auch in geheimnisvollem Überwirken, als die der Deutschen mit ihrem Römischen Reich. Napoleon brachte sie erneuert vom Nil zurück, die Deutschen, die ihn stürzen konnten, haben sie erneut aufgenommen und sind über sie gestürzt. Vor Platon gab es Philosophie, vor allem bereits in Griechenland2. Doch letztlich war dies naturphilosophisches Denken, eng verbunden mit historischen Mythologisierungen; Naturerklärung verband sich mit Religionsphilosophie. Ihr Gegenstand war das All und der Mensch in ihm, nicht in erster Linie die menschengeschaffene Ordnung der Staatlichkeit3. Der erste große Durchbruch zu einem Denken über diese Staatsprobleme war das, was bis heute „Platons Staat“ genannt wird4: ein Weg aus der Philosophie in die Staatsphilosophie hinein. Er war der Erste, der ihn beschritten hat, und als einen typisch philosophischen. 1 Böckenförde, E. W. Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, 2. Aufl. 2005, § 2; Leisner, W., Institutionelle Evolution. Grundlinien einer Allgemeinen Staatslehre, 2012, S. 16 f., 135. 2 S. Mertz, D. P., Ursprung, Wesen und Werdegang der Wissenschaft, 1. Teil, Antike, Vers. Med. 2004, S. 87 ff. 3 Zur Bedeutung der Vorplatoniker in der Geschichte der Staatsphilosophie, Schramm, Th., Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1962; Schäfer, L., Das Paradigma am Himmel, Platon über Natur im Staat, 2005, S. 25 ff. 4 Aus dem unübersehbaren Schrifttum vgl. in allgemeinen Überblicken aus letzter Zeit nur etwa Pleger, W. H., Platon, 2009; Erler, M., Platon, 2006; Voegelin, E., Platon. Ordnung und Geschichte, in: Opitz, P. J./Herz, D. (Hg.), 2002; Ottmann, K., Geschichte des politischen Denkens, 2001, insb. 22 ff., 82 ff.

I. Fragestellungen und deren Voraussetzungen

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Verbunden ist dieser Name für immer mit zwei Begriffen: Erkenntnis und Ideal, als Weg und Ziel, vielleicht letztlich doch nur als zwei Wege zu einem Ziel: dem des erkennenden Denkens als Selbstzweck. In seinen Ausgangspunkten5 ist dieses Denken gewiss kein staatsphilosophisches: Es lässt auf den Menschen schauen als solchen, es blickt auf seine erkennenden Augen, auf sein Ideal in den griechischen Statuen in all ihrer unendlich schönen Wertigkeit; es will nicht primär die Ordnung erfassen, sie in einer größeren Umwelt schaffen, um sich herum, nicht all das, was um sie ordnend geschieht, jenseits von Familienszenen und religiösen Bräuchen, wie es ihre Vasen schildern. Platons Frühdialoge betrachten den Menschen in seinem „nächsten Tun“, in seinen zu innerst menschlichen Gedanken und, durch sie hindurch, in seinem Erkennen der größeren Außenwelt. Diese ordnet solch philosophisches Denken sodann in ihren das Erkennen leitenden Kategorien, aus der Erkenntnis greift sie über in erhöhende Abstraktion der Ideale, denen sich die erkannten Erscheinungen nähern, ohne sie je zu erreichen. Und hier wird die Dynamik des Strebens nach höherem Erkannten erreicht, sie wird Wirklichkeit, sie erfasst den Menschen bis in seine Gefühle hinein, potenziert diese. In diesem Erkenntnisstreben wurde Platon nirgends mehr und vertiefter gefolgt als in Deutschland, im Deutschen Idealismus mit seinen nie wieder erreichten gnoseologischen Anstrengungen, bei Kant und seinen Nachfolgern. Dies wurde, immer mehr vor allem mit Hegel, zur Staatsphilosophie; es öffneten sich die Wege hinein in diese bedeutendste Materie der größten menschlichen Ideale. So steht denn Platon, der erste und wohl größte aller philosophischen Denker, in einem besonderen Sinn am Anfang und auch einsam an der Spitze des philosophischen, insbesondere des staatsphilosophischen Denkens: Mit ihm wurde die Frage der Erkennbarkeit der Außenwelt gestellt, erstmals in einer größeren Systematik der „Idealisierungen“. Damit waren Fragestellung und Lösungsinstrument ins Denken gekommen, welche sich nun, und ganz typisch, dem Gegenstand der Staatsphilosophie zuwandten, als einem ersten und dem größten Objekt juristischen Denkens. Philosophie führte in ihren Wirkungen gewissermaßen „von Oben her ins Recht“ (hinunter), über dessen höchste Stufe, den Staat und seine Ordnung. Und in diesem Sinne ist Platon der erste groß-systematische Staatsdenker, allein schon in seiner erkenntnisphilosophischen Annäherung an diesen Gegenstand Staat. Doch dieser Denker ist eben nicht „der Staatsphilosoph“, weder von Anfang an, noch in seinen letzten, höchsten Zielen. Wer sich „seinem Staat“ nähert, den Staat bei Platon für heutiges Staatsrecht will fruchtbar werden lassen, der darf seine Werke nicht wie staatsrechtliche Traktate lesen, nicht wie systematische Lehrbücher des Staatsrechts. Platon ist und bleibt stets auch für einen solchen Leser zuallererst der Philosoph, der Lehrer und Menschenbildner, nicht aber ein Analytiker und Organisator der politischen Macht. Platon ist 5 Schmeck, A. E., Platons Idealstaat, 2003, zu geistigen Hintergründen aus Ägypten, S. 14 ff.

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A. Idealstaatlichkeit: Fragen und Direktiven zu geltendem Recht

Staatsphilosoph, er ist nicht Staatsrechtler; und mit diesem Vorverständnis wird der Leser eingeladen, sich mit den folgenden Seiten zu beschäftigen. Wissen muss er, dass Platon, bei all seiner immensen Autorität, stets über das Recht, die Ordnung, die Macht hinaus denkt. Daher kann das Staatsrecht in seiner Technik zwar nicht immer lernen von ihm; es muss sich vor ihm verneigen, über ihn aber auch hinweggehen, dort, wo es heißen darf: Amicus Platon, sed magis amica Veritas.

2. Platon: Staatsutopismus – Aristoteles: Staatsrecht? Für viele Jahrhunderte, zahllose Generationen war nicht Platon „der Staatsphilosoph“, sondern Aristoteles6. Er war „der Philosoph“ für die beherrschende christliche Theologie des Mittelalters; er ist zum Staatsphilosophen geworden für die geistige Groß-Bewegung der Aufklärung, für beide in ganz verschiedenen Richtungen, in seiner ersten großen staatsrechtlichen Systematik der Staatsformenlehre. Ihm ging es dort ja nicht mehr um die gnoseologischen Probleme des Erkennens und Ordnens; weit bescheidener registrierte er die Realitäten seiner Zeit, wagte sich bis zu vorsichtigen Güteurteilen über optimale und entartete Staatsformen. Hier findet sich bereits rechtstechnisches Denken, Konzentration auf die Staatsorganisation in ihren einzelnen Ausprägungen und Instrumenten. Es geht nicht mehr, wie bei Platon, um den „Idealstaat“. Mit Alexander dem Großen war bereits eine gewaltige Macht geworden – und bald dann auch wieder zerbrochen. Diesen „Weltstaat eines Augenblicks“ hat „der Philosoph“ nicht mehr betrachten können – von ihm ist auch nichts übrig geblieben im späteren staatsrechtlichen Denken außer Strukturen, die vor ihm bereits Bestand hatten. Hier zeigt sich, was aus Philosophie im Staatsrecht wird, wenn sie in dieses übergeht, wie in der Politik des Aristoteles. Ganz anders Platons Staat. Hier ist, ganz wesentlich, nicht feste, stabile Ordnung der Realität, sondern allenfalls Projekt, Konzept, „Bildung“, all dies „in fieri“ – Ratschläge an ein Staatsrecht, denen Potentaten in Sizilien nicht gefolgt sind. Darin liegt der Utopismus der platonischen Staatsphilosophie. Diese Erkenntnis muss die folgenden Betrachtungen leiten: In den „Gesetzen“ wird zwar ein Staat entworfen, wie er sein könnte und daher, in der Folge der Erkenntnislehre, auch sein sollte, aber eben als ein Ideal. Dieses betrachtet man, nach dem Höhlengleichnis, mit noch unsicherem, verschleiertem Blick. Aber man sieht es bereits in der Ferne, es tritt hervor in einzelnen Konturen, die sein Wesen ausmachen, eben den Kern, die Wahrheit des Ideals.

6 S. für viele Kassimatis, G., Über die historischen und philosophischen Wurzeln der Demokratie in der Polis und bei Aristoteles, in: FS f. Starck, 2007, S. 73 ff.; Lami, G. F., Socrate, Platone, Aristoteles, 2005.

I. Fragestellungen und deren Voraussetzungen

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So sind gerade Platons Nomoi7 zu lesen, der Gegenstand der folgenden Betrachtungen: Als ein Ratgeber in einzelnen Gedanken – Gedankenblitzen. Sie erleuchten Sekundenbruchteile staatsrechtlichen Denkens, um es sodann wieder in die Dunkelheit seiner Nacht der Macht versinken zu lassen. Dies ist gemeint, wenn hier von Fernen und Nähen Platons die Rede ist, zwischen Platons Idealstaat und dem gegenwärtigen Staatsrecht, vor allem dem der Deutschen.

3. Griechische Staatsphilosophie und Demokratie Staatsphilosophische Fragen dieser Art sollte sich eigentlich insbesondere die Demokratie stellen, in welcher Form immer sie verstanden und organisiert ist. Sie ist heute der zentrale, machtmäßig durchgesetzte Betrachtungsgegenstand solcher Untersuchungen. Gerade sie setzt auf eine Rationalität, damit auf eine menschlichallgemeine Rechtfertigung, welche letztlich nur aus einer Schau in Erkenntnis kommen kann. Historisch8 überdies sieht sie sich erstmals verwirklicht in jenem Griechentum, welches in Platons Idealität zuerst denjenigen hervorgebracht haben soll, der nun diese ihre Staatsform trägt: Jenen „vollen“ Menschen, der in dieser seiner Idealität für Alle sprechen, für Alle stehen kann, auch und gerade für die Vielen. Ist nicht in jener attischen Demokratie, in welcher Platon geboren wurde, gewirkt hat, zu allererst jene „Herrschaft der Vielen als Herrschaft Aller“ verwirklicht worden, ist dies nicht weit mehr als ein geschichtlicher Ausgangspunkt der Demokratie – vielmehr ihr wahrer Prototyp? Und dann ist es doch nur mehr ein Schritt bis zur Gleichsetzung dieser idealen Erstmaligkeit der Demokratie mit dem philosophischen Ideal des Staates, wie es der große Philosoph sah. Geht also nicht der „durchschnittliche Demokrat“, der eigentliche, wenn nicht der ideale „Volksmann“, in dieser Grundeinstellung heran an Platons Philosophie, getragen von der Hoffnung, hier wahrer demokratischer Weisheit zu begegnen?

4. Platons Staat: Das Problem des „demokratischen Rückblicks in die Antike“ Dies alles sollte, so scheint es doch, gerade der Gegenwart, und hier vor allem dem Staatsrecht die Augen öffnen, den Blick schärfen zurück in die Antike. Im 19. und noch im 20. Jahrhundert hatte die Staatsform der Demokratie zu leiden unter dem 7 Zu den Nomoi vgl. aus letzter Zeit Saunders, T., Bibliography on Plato’s Laws, 2000, inhaltlich vor allem Seubert, H., Polis und Nomos, Untersuchungen zu Platons Rechtslehre, 2005, S. 470 ff. S. ferner etwa Seth, B., Plato’s „Laws“, 2000; Lisi, F. (Hg.), Plato’s „Laws“ and its historical significance, 2001. 8 Zur Bedeutung der Verfassungsgeschichte gerade im Staatsrecht der Demokratie, vgl. neuerdings Leisner, W., Tradition und Verfassungsrecht zwischen Fortschrittshemmung und Überzeugungskraft. Vergangenheit als Zukunft, 2013, S. 154 ff.

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A. Idealstaatlichkeit: Fragen und Direktiven zu geltendem Recht

Vorwurf einer Parvenue-haftigkeit, in ihrer Idealisierung nicht-aristokratischer Machtträger. Konnte eine Ordnung von Dauer sein, die sich nicht stützen durfte auf langes historisches Herkommen, Familientraditionen, Unvordenklichkeiten? Ließen sich mit solchen Staaten überhaupt Verträge schließen9, wenn dort alles stets nur zu sehen war unter dem Vorbehalt des unvorhersehbar flutenden Volkswillens? Gerade in dieser Legitimationsaporie der demokratischen Staatsform, die zum Rechtfertigungsproblem der Staatlichkeit zu werden drohte, zeigte sich ein Weg, eine Versuchung jedenfalls: Es sollte die hohe Autorität einer Geschichte von Jahrtausenden, die noch höhere eines Philosophen, der diese Zeiten alle nicht nur überdauern, sondern geistig beherrschen konnte, eine beispiellose geistige Grundlage, eine unvergleichliche Legitimation gerade dieser demokratischen Staatsform sichern: Platons Staat als Erbe der attischen Demokratie. Mächtigen „Ersten Worten“ kommt an sich schon in der Kultur- und Geistesgeschichte eine unvergleichliche Wertigkeit zu – Homer als griechisches Beispiel. Wo immer das heutige Staatsrecht auf Platon zurückgreifen kann, kommt ihm und seinem demokratisch grundgelegten Staat daraus eine historische Würde10, in welche es kein wirtschaftlicher Erfolg, keine menschliche Glückseligkeit emporheben kann. Selbstverständlich ist daher gerade für die Demokratie ein philosophisches Roots Seeking, nicht nur in der Zeit der Ersten Demokratie, sondern vor allem im Werk dessen, welcher der erste wahrhaft Große der Staatsphilosophie war – und sei es auch nur darin, dass er zuallererst das organisierte Gemeinwesen als solches zu reformieren unternahm. Jenes „Zurück zu …“, welches gerade Aufklärung und Volksherrschaft sich immer wieder vornehmen, bis hin zum Retour à la Nature, muss doch das demokratische Staatsrecht geradezu hindrängen zu den idealen Gedanken des Platon11. Doch Platon ist nicht, war nie wie Aristoteles, ein „Staatsrechtslehrer“, etwa gar der erste in einer so noblen Zunft des Rechts. Man schuldete ihm Staatsgedanken, nicht Staatsrecht. Der Grund liegt nicht so sehr in der eigentümlichen Bruchstückhaftigkeit, wie sie aus seiner Dialogform kommt, hatte er darin doch immer systematisch entwickeln wollen, eine Kunst, welche heutige Demokratie nur selten mehr versteht. Vielmehr war es ein anderer, gewissermaßen ein General-Vorbehalt, unter dem sein Denken, nicht ohne Grund, vom Staatsrecht stets gesehen wurde, das ihm 9 Im monarchisch-aristokratischen Staat wurde denn auch das „Droit public de l’Europe“, auch das Staats-Recht, gegründet auf jene Verträge, die sich (nur) zwischen Personen schließen ließen: Fürsten, Aristokraten (Venedig), Handelsherren (Holland), vgl. Mably, G. B., Le Droit public de l’Europe fondé sur les Traités, 2 Bände, 1748. Zur „Demokratie als Gebot des Völkerrechts“, s. immerhin nun Sommermann, K.-P., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG. 6. Aufl. 2010, Art. 20 Rn. 93 f. 10 Partsch, K.-J., Die Würde des Staates, 1967; Merten, D., Zur Würde des Staates, FS f. Isensee 2007, S. 123 ff. 11 Bemerkenswert ist es daher, dass dabei „Demokratie“ als solche, jedenfalls im neuesten Schrifttum, eher am Rande begegnet, vgl. etwa Eckl, A., in: ders. (Hg.), Politischer Platonismus, 2008, S. 129 ff.

I. Fragestellungen und deren Voraussetzungen

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denn auch viele Zitate, nicht aber eine systematisch ausgebaute Staatsrechtsliteratur gewidmet hat12 : Der Utopismus war es, der sein Wirken im Ton zugleich gesteigert und relativiert hat. Seine Gedanken entwickelten sich auf jenen Spaziergängen in die Irrealität der Gedanken, in Gesprächen jenseits von Raum und Zeit, wie sie vor allem die Politeia und die Nomoi überliefert haben. Was war denn von all dem einsetzbar in der Welt der brutalen Macht und ihrer Bändigungsversuche, wie sie das Staatsrecht unternimmt? So wurde denn der Philosoph eingesperrt in seinen eigenen Elfenbeinturm der Ideale. Das Staatsrecht nimmt sie in seiner Theorie der „Verfassungsgrundsätze“ zur Kenntnis als ferne Leuchttürme, denen man sich nähern sollte – ma non troppo. Im Übrigen und im Grundsätzlichen stehen sie unter dem großen Vorbehalt einer Unrealisierbarkeit, wie sie ihr Utopismus ihnen zu bescheinigen scheint. Es ist, als sehe sich der Größte der Philosophen in seiner eigenen Größe gefangen. Gedanken werden ihm abgenommen; im Übrigen aber finden seine Betrachter rasch zurück zu einer ihnen weit näheren Ungeschichtlichkeit der Demokratie, welche dem Fortschritt verpflichtet ist, der Zukunft, nicht einem ruhigen Humanismus der Spaziergänge, Gespräche und Gedanken. Platons Wächterstaat ist immer wieder beschworen, oft zum Zerrbild geworden13. Moderne Diktaturkritik kann ihm keine Chance lassen im Staatsrecht – zur Verwirklichung gerade dessen, worum es dem Philosophen doch ging: das Wirken seiner Grundideen und Ideale zu zeigen, im ganzen Leben der Gemeinschaft. So sind denn heute Betrachtungen zu Platons Staat, insbesondere Gedanken über seine „Gesetze“ aus der Sicht des Staatsrechts der Gegenwart, mehr denn je eine Aufgabe, die Vor-Sicht verlangt und Rück-Sicht auf viele, oft gegensätzliche politische Sensibilitäten. Sie müssen daher versuchen, möglichst streng auf das StaatsRechtliche ihres Gegenstands zu sehen, in dessen tatsächlichen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen Vor-Gegebenheiten. Auf eines jedenfalls kann dabei nicht gerechnet werden: Auf einen streng historisch orientierten Humanismus, der in verehrende Hinnahme versinkt, wo dieser große Name erscheint. Und eben dies hat Platon ja auch nicht gewollt: In seinen Dialogen treffen sich doch – einfach nur Menschen zu Gesprächen über ihre Gegenwart.

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„Demokratie im Staatsrechtssystem“ begegnet allenfalls im änderungsfesten Kern des „Demokratieprinzips“, vgl. Sommermann (FN 9), Rn. 81 ff. Auch das „Demokratiegebot“ des GG zeigt sich mehr in einzelnen Festlegungen als in einem ausgebauten System. 13 S. Schlette, M., Der Zauber Poppers. Zur Kritik des Historismus und des Totalitarismusvorwurfs gegenüber Platon in: Karl R. Poppers „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“, 2001, S. 61 ff.

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A. Idealstaatlichkeit: Fragen und Direktiven zu geltendem Recht

II. Platons Staatsgedanken: Aus einer anderen gesellschaftlich-wirtschaftlich-religiösen Welt 1. Grenzen der „Ideengeschichte“ Staatsrecht wird gelehrt und praktiziert, auch in Deutschland, in einer zumeist tiefen Verwurzelung in politischen Problemen, Parteiungen und Diskussionen der jeweiligen Gegenwart. Mit ihm beschäftigen sich diejenigen vor allem, welche hier die Interessenlagen und -gegensätze der Gemeinschaft zu beurteilen, auszugleichen, zu überwinden haben. Dieses Öffentliche Recht ist und bleibt darin Machtrecht, mag es auch immer wieder versuchen, sich die höheren Weihen übergreifender Grundsätzlichkeit selbst zu spenden. So dringt es dann vor, dieses Öffentliche Recht, über die Allgemeine Staatslehre in globales Völkerrecht, darüber hinweg in Rechtsphilosophie und noch weiter hinauf als diese in deren Grundlagen: die „Ideengeschichte“14 – aber eben immer: die Geschichte der „politischen“ Ideen. Hier liegen jedoch auch zugleich die letzten Grenzen dieser ausgreifenden Grundlagensuche nach Legitimation für eine nur zu oft gewaltsame, ja brutale Machtentfaltung. Gerade auf diesen ebenso eindrucksvollen wie problematischen Wegen begegnet in aller Regel, häufig als erster, Platon mit seinem Staat, in seinen „Gesetzen“. Entfernt er sich nicht in seinen Idealen von einer Wirklichkeit, der sich dann auch seine ideengeschichtlichen Jünger in der Gegenwart nicht mehr in allem und jedem verpflichtet fühlen müssen? Doch gerade hier liegt das Problem: In welchen realen Lagen, in welchen allgemeinen Konstellationen, in welchem Datenkranz entstehen denn jeweils diese „Staatsgedanken“, denen eine Ideengeschichte nachspüren will? Muss sie sich hier nicht allzu weit entfernen von Ergebnissen einer Rechtstatsachenforschung15, die immer stärker gefordert ist. Ein waches Bewusstsein müsste also jedenfalls versuchen, auf jedem Schritt, den es auf den Spaziergängen Platons mit ihm unternimmt, zu erkennen, in welcher Lage diese Gedanken entfaltet worden sind. Ideengeschichte findet hier ihre Grenzen, sie muss rückgeführt werden, von der Historia Magistra, aus ihren gedanklichen Höhen in die Niederungen des Gesellschaftlichen, Wirtschaftlichen, der Bildung und Religion, in denen täglich gelebt wird. Dies alles war zu Platons Zeiten ein ganz anderer Datenkranz, in der Realität, außerrechtlich, ja außer-gedanklich, als ihn das Staatsrecht heute vorfindet. Dazu hier nun einige allgemeine Überlegungen, welche, wie stets auf den folgenden Seiten, sowohl Nähen wie Fernen der beiden Betrach14

Überblick bei Zippelius, R., Geschichte der Staatsideen, 10. Aufl. 2010. „Rechtstatsachen(forschung)“ bezeichnet allerdings als solche weder eine Regelungsmaterie auf Verfassungsebene, noch auch nur einen „Verfassungsbegriff“. Die Begrifflichkeit ist eine prozessrechtliche, vor allem eine solche der Gerichtsverfassung („Tatsacheninstanz“). 15

II. Platons Staatsgedanken

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tungsgegenstände in den Blick nehmen: Platons Staat und das gegenwärtige Staatsrecht16.

2. Gesellschaftliche Realitäten Zu Platons Zeit mochte die häufig als „archaisch“ angesprochene frühere griechische Familienstruktur sich bereits in sehr Vielem gewandelt haben, gerade in tiefgreifender Veränderung stehen. Hier gab es nicht (mehr) eine Ordnung wie etwa die der altrömischen patria potestas. Die aristokratische, im Grundbesitz verankerte Gesellschaftsstruktur war in Athen durch wirtschaftliche wie politische Großentwicklungen bereits gewandelt, wenn nicht erschüttert. Die Sophistik drängte neue Bildungsmodelle auf, in erstaunlicher Annäherung an gegenwärtige Wertschätzung „mächtiger“ Beredsamkeit, nur zu oft Geschwätzigkeit. Es war dies also eine Gesellschaft in tiefem Umbruch, gerade darin der Gegenwart erstaunlich nahe. Doch all diese gesellschaftlichen Strukturen zeigen immer noch ein völlig anderes Bild als die Gegenwart es bietet, nimmt man Feminismus und Jugendprobleme nur als Beispiel. Trotz der Nähe damaliger Homosexualität zu heutigen Entwicklungen nahm die Familie noch immer eine ganz andere Stellung ein als in gegenwärtiger, rasch zunehmender Bereitschaft zu Scheidungen und außerehelichen Beziehungen. Autorität war bereits auf breiter Front auf dem Rückzug, immer aber noch von anderem Gewicht als dies von vielen heute anerkannt wird.

3. Wirtschaftlich-technische Gegenwart Wirtschaftliche und technische Entwicklung haben für das gegenwärtige Staatsrecht eine vollständig andere Lage geschaffen, als eine solche zu Platons Zeit Gegenstand staatsrechtlicher Reflektion sein konnte. Die Welt der Ägäis, des Mittelmeers, des Vorderen Orients mochte sich vergrößern, vergleichsweise unendlich erscheinen – doch sie wurde nicht eingefangen, beherrscht und gestaltet in Naturwissenschaft und Technik wie in der Gegenwart. Wie kann da auch nur versucht werden, Einflüsse dieser wirtschaftlichen und technischen Entwicklung „hinwegzudenken“ aus der Gegenwart, um sich so platonischen Ausgangspunkten in irgendeiner Weise zu nähern? Wie sollte es insbesondere möglich sein, jenes quasiallmächtige Übergreifen des Wirtschaftlich-Technischen in den staatsrechtlichen Bereich zu gewichten und sodann auszuklammern, das heute die Mediendemokratie 16 Ein Problem ergibt sich hier aus der Platon-Literatur der letzten Zeit: Sie geht weit mehr Staatsideen, Philosophismen nach, als dass sie diese jeweils in der damaligen griechischen Realität verortete. Die Verbindungen im Einzelnen, vor allem in der gesellschaftlichen Entwicklung, zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Antike können auch hier nicht gezogen werden. Im Folgenden muss es also im Wesentlichen bewenden bei Versuchen eines Vergleichs zwischen rechtlichen Lagen des Damals und Heute. „Vergleichende Geschichte“ ist aber in jenem – zu vertiefenden – Sinn jedenfalls angesagt.

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A. Idealstaatlichkeit: Fragen und Direktiven zu geltendem Recht

beherrscht, damit die Volksherrschaft geradezu konstituiert? Welcher geistige Sinn kann dann aber darin liegen, aus der Welt der unendlichen Wellen hinüber- und zurückzudenken in die der lauten Redner in Volksversammlungen?

4. Die „ganz andere“ religiös-weltanschauliche Grundstimmung a) Dass die Welt Platons eine völlig andere war als eine medial, wirtschaftlich und technologisch geprägte Gegenwart, ist eine Selbstverständlichkeit, ja eine Banalität; dennoch nimmt dies eine staatsrechtlich-isolierende Ideengeschichte nur selten vertieft zur Kenntnis17. Nicht weniger bedeutsam ist ein anderer, weit „ideen-näherer“ Unterschied: Die damaligen religiösen Grundstimmungen, mit all ihren staats-moralischen Wirkungen, waren unvergleichbar mit den Vorgaben, welche – noch immer – das heutige Staatsrecht prägen, nicht nur das Staatskirchenrecht. Hier geht nun allerdings verbreitete Betrachtung, meist ganz selbstverständlich, aus von einer großen Kontinuität weltanschaulich-religiöser Grunddaten, von der Antike bis in die Gegenwart. Darin wirkt Christentum und vor allem die Tradition der Katholischen Kirche mit ihrem grundsätzlichen Kontinuitäts-Dogma. Sie hat nicht nur Aristoteles, „den Philosophen“, eingebaut in die Grundlagen ihrer weltanschaulichen Überzeugungen, dasselbe schien ihr auch mit Platons Idealismus, ja Utopismus, weithin gelungen, von Augustinus über Duns Scotus bis in die christlichen Soziallehren der Gegenwart. Idealismen als Brücken oder gar Flügel aus den menschlichen Erkenntnisschwächen, nach dem platonischen Höhlengleichnis18, bis hinauf in die Transzendenz des Schöpfergottes – dies alles erschien dabei als eine große Gemeinsamkeit des Denkens; und auf einer dieser „Stufen nach oben“ konnte Platons Staat ebenso angesiedelt werden wie die Civitas Dei. Die geistigen Freunde der platonischen Dialoge sind für dieses Christentum Wanderer auf Erden, welche der Ewigen Heimat zustreben. Was sie auf diesen Wegen, an deren Rändern, im Einzelnen schauen dürfen, wird erkannt in einem Licht göttlicher Offenbarung: es sind eben geschaute Bruchstücke, bis zu dem Augenblick, in dem der zu seinem Gott gerufene Christ paulinisch schauen darf von Angesicht zu Angesicht. b) Doch diese Kontinuitäts-Sicht, in welcher die christlich-theologische und die durch sie weithin geprägte allgemeine Ideengeschichte Platon als einen Vorläufer der 17

Es ist dies letztlich eine Folge gegenwärtiger Vorstellungen von einer „Ideengeschichte“: Die Rechtstatsachenforschung (FN 15) wird nicht (hinreichend) zurückblendend in die Verfassungsgeschichte getragen, diese vielmehr auf die Fläch(lichkeit)en ihrer jeweils „beherrschenden Ideen“ beschränkt, ihrer Entwicklungsergebnisse, ihrer blutleeren Institutionalität. Ein geistiger Ausgangspunkt war dafür, methodisch, wohl auch das Römisch-rechtliche Institutionendenken (klassisch in Rudolph Sohms „Institutionen des Römischen Rechts“, 1884), mit seinem primär pädagogischen Ansatz (Vorrede S. VII f.). Immerhin wurde damals aber ein historischer Teil (S. 19 ff.) dem folgenden „dogmatischen“ (S. 81 ff.) vorangestellt. 18 Gaiser, K., Das Höhlengleichnis (1985), in: Gesammelte Schriften, 2004, S. 401 ff.

II. Platons Staatsgedanken

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Gegenwart erscheinen lässt, sie über-sieht – und dies nicht ungewollt – entscheidende Fernen, ja Gegensätze zwischen heutiger, noch immer weithin religiös geprägter Staatsideenlehre und der Antike: Platon stand in einer ganz anderen Tradition als der einer christlichen Schöpfergöttlichkeit: der einer Gemeinschaft, die noch immer beeinflusst war von einer weithin naturphilosophisch geprägten Göttervorstellung. Diese „Über-Menschen“, welche heraustreten aus den natürlichen Mächten, ja diese vertreten, den Menschen umgeben – sie repräsentieren Ordnungskräfte, welche auch den Staat hinübertragen aus blinder, brutaler Gewalt des Schicksals in moralisierende Ordnungsvorstellungen der antiken Welt. Es sind dies die Weltgötter, die Stadtgötter, die Hausgötter, denen Sokrates Ehrfurcht zollt in seinen letzten Stunden. Sie sind Repräsentanten der öffentlichen, der staatlichen Ordnung, dies aber nicht im Sinne einer Schöpfergöttlichkeit, deren „Reich zu uns komme“, welches sein soll „wie im Himmel (al)so (auch) auf Erden“. Sie haben ihren Platz in der Gemeinschaft wie liebe Vertraute, wie Eltern und Vorfahren, über die hinaus sie einen Vergangensheits-Hintergrund der Stadt, dem Staat legitimierend eröffnen. Sie sind aber nicht universale Gesetzgeber, welche mit moralischem, ja mit RechtsAnspruch Werte in die Welt tragen, bis in das intimste Seelenleben hinein. Diese antike Staatskirche, wie sie einen Sokrates verfolgt, mag eine moralische Bildungsmacht sein; sie kommt aber nicht aus einem priesterlich zelebrierten, staatsrechtlich wirksamen Machtzentrum, wirkt nicht über Gewissenszwang oder doch Gewissenserforschung tagtäglich in die öffentliche Welt des Staates hinein. Diese „ganz andere religiöse Welt der Antike“, wie sie gerade mit Platon ins geistige Bewusstsein getreten ist, muss in ihrer Bedeutung für seine Idealstaatlichkeit gesehen, vertieft gewürdigt werden19. Vor allem eines gilt es zu bedenken: Platons Idealstaat ist nicht ein, wenn auch nur fernes Ergebnis, Abglanz einer Offenbarungsreligion; seine Werte entwickeln sich „ganz von unten“, aus dem menschlichen Zusammenleben heraus. Sie begeistern nicht „von oben her“, wie Entdeckungen, Offenbarungen einer Aufklärung, einer endlich erreichten Demokratie. Zu „extrapolieren“ sind also in den folgenden Betrachtungen von Platons Idealstaat nicht nur Ökonomie und Technik der Gegenwart, sondern auch tiefe, religiöse Gefühle, ja politische Überzeugungen, welche sich in der Gegenwart noch immer aus jenen speisen, mit all ihrer intensiven, bis zur Begeisterung gesteigerten Überzeugungskraft. Nur wenn hier eine Bewusstseinsänderung erfolgt – und wie sollte sie leicht gelingen aus einer so tiefen Verfangenheit der Gegenwart heraus – können staatsrechtliche Fragen gestellt werden an Platons Staat, an seine „Gesetze“.

19 Vgl. zu einzelnen Aspekten derselben Koch, D., (Hg.), Platon und das Göttliche, 2010, insb. Karfik, F., Gott als Nous. Der Gottesbegriff Platons, S. 82 ff.; Barth, M., Platons Theologie, 2006, insb. S. 167 ff.

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A. Idealstaatlichkeit: Fragen und Direktiven zu geltendem Recht

III. Fragen an Platons Staat: „Aus der Gegenwart – heraus“ 1. Staatsrechtliche Fragen – ein Ideal: Die „staatsrechtliche Abstraktion“ a) Das Staatsrecht der Gegenwart arbeitet, notwendig, mit seinen typischen Methoden, in Deduktion wie Induktion20, in ersterer wiederum vor allem in Abstraktionen. Das ganze gegenwärtige Staatsrecht ist ein einziger großer Versuch, Ordnungen zu schaffen aus Realitäten der Gegenwart heraus, sie „abzuziehen“, „aufzuhängen“ „möglichst weit oben“, in optimal übergreifender Geltung. Dies ist der große Verfassungsgedanke der Neuzeit; immer von neuem, immer enger versucht sie, diese höheren Ordnungen fest anzuseilen, in Bodenhaftung, an gegenwärtige Realität21. Der mächtigste institutionelle Versuch ist hier wohl die Jurifizierung der Verfassung, ihre Sanktionierung in der Wirklichkeit durch die Verfassungsgerichtsbarkeit. b) In der Prinzipienlehre des Staatsrechts22 hat dies einen bereits bis in Einzelheiten ausgeformten Inhalt gefunden. Hier wird nicht Geltung sogleich erstrebt, sondern schrittweise Optimierung, wie auf staatsrechtlichen Wanderwegen, auf denen man immer Neues entdeckt, fernen Bergen oder Burgen immer näher kommt. Der Begriff des „Staatsziels“23 zeigt diese Jurifizierung, ja Dogmatisierung, bis hin zu einer vollen Verrechtlichung des staatsrechtlich Fernen. Das Staats-, das Verfassungsprogramm24 mochte noch unverbindliche rechtliche Perspektive, allenfalls rechtstechnisches Übungsgerät sein, mit Beispielkraft. Das „Staatsziel“ ist aber „bereits geltendes Recht“, seine Direktivkraft strahlt, wenn auch in Flexibilität, bis in die Machtzentren, aus denen heraus man sich ihm immer mehr nähern wird. In dieser Staatsziel-Dogmatik ist schon ein Schritt getan in Richtung auf das Verständnis von, ja eine Rezeption aus Staatsutopismen. In solcher dogmatischer Grundeinstellung gilt es Platons „Gesetze“ zu lesen. Die Frage lautet, gegenwärtig gewendet: Bietet er dem gegenwärtigen Staatsrecht Staatsziele, die sich zu Staatsprinzipien verdichten, sodann dynamisch auf das Staatsrecht wirken können?

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Dazu insb. näher Leisner (FN 1), S. 82 ff. In Rechtstatsachenforschung, vgl. FN 15. 22 Zu dieser „Prinzipialität“ vgl. Leisner (FN 1), S. 86 ff.; Hain, K. E., Grundsätze des GG, 1999. Zur Rechtsoptimierung über Annäherung an Rechtsgrundsätze s. Unger, S., Das Verfassungprinzip der Demokratie, 2008, S. 208 ff. 23 Vgl. Sommermann, K.-P., Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997. 24 Zu (früheren) Vorstellungen von den Grundrechten als solchen, vgl. Leisner, W., Grundrechte und Privatrecht, 1960, S. 78, 91. 21

III. Fragen an Platons Staat: „Aus der Gegenwart – heraus“

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2. Keine „Rückkehr zu früheren Zuständen“ Die Vorstellung von einer möglichen Rückkehr zu irgendwelchen früheren Zuständen ist, gerade in einer solchen Sicht, welche bis in Utopismen ausgreift, eine große und ständige Versuchung des gegenwärtigen Staatsrechts. Um gleich ins platonische Zentrum vorzudringen: Die „Gesetze“ waren und sind noch immer für Viele der große staatsrechtliche Utopismus des Wächterstaates, der total durchorganisierten Gemeinschaft, der Diktatur von Law and Order, letztlich der Negation aller Freiheit25. Damit verfallen sie einem demokratischen Unwerturteil, das ständig Kräfte, geistig höhere wie demagogische, ziehen will aus einer „Vergangenheitsbewältigung“, welche eine Lektüre Platons nun wirklich hinter sich lassen sollte. Nomoi wie Politeia waren allerdings stets, und werden wohl noch lange bleiben, eine Art von Referenzbüchern vor allem für „Konservative“, eine wahre Horrorlektüre für „Progressive“. Wer Fragen an diesen Idealstaat stellen will, an Spaziergänger, die Einzelnes an ihm überdenken, der darf aber nicht der Versuchung einer laudatio temporis acti erliegen, in vergangene Zustände zurückzukehren, sei es in eine paternalistisch organisierte Wirtschaftswelt, sei es in eine Bildungsdiktatur demokratischer Rhetorik im Sinne der späten Sophistik. Versucht muss vielmehr werden, aus einer durchaus angestrebten platonischen Systematik heraus26, Einzelheiten als Antworten auf Fragen der Gegenwart zu gewinnen27, welche herauszulösen sind aus einer damals versuchten Gesamtschau, wie sie als eine einstige heute gewiss nicht gelingen kann. Nicht ums „System“ als solches geht es, sondern um einzelne Erleuchtungen aus ihm in früherem Licht.

3. Nicht nur Staatsform/Systemfragen – einzelne Erkenntnisse Die Wirksamkeit der platonischen Philosophie auf das Staatsrecht hat wohl stets darunter gelitten, dass man von ihm die großen Antworten erwartete auf die ganz großen Fragen. Der Philosoph der Ideale konnte doch nicht vorgestellt werden als ein Machtorganisator, der Stratagemata28 zum Besten gab, geschickte Lösungen aus einem macchiavellistischen Willen zur Macht heraus. Von ihm erwartete man den großen Wurf aus dem Ideal, den großen Staat jedenfalls aus dem größeren Staatsideal entwickelt. Eben damit aber zog man ihn in ein staatspolitisches Zwielicht: Er wurde zum Systematiker der Staatsstrenge, tugendhafter Enthaltsamkeit, der enden musste im Wächterstaat der allseits überwachten und alles überwachenden TugendMenschlichkeit. Modern gewendet war dies nichts anderes als eine hohe Schule der 25

Vgl. etwa Schlette (FN 9), S. 61 ff. S. dazu i. Folg. C. 27 I. Folg. D. 28 Staatsrechtliche geschickte Überraschungsergebnisse und Winkelzüge, nach militärischem Vorbild, wie sie die Antike begeistern konnten und noch die frühere Aufklärung, vgl. Polyaeni Stratagematum L. VIII., Rec. Casauboni, Leyden 1691. 26

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A. Idealstaatlichkeit: Fragen und Direktiven zu geltendem Recht

Leistungsstaatlichkeit, die ihren Staat aus jener Arete heraus aufbaute, aus welcher der griechische Sport die perfekte Gestalt, die griechische Paideia den vollendeten Geist entwickelte. Dies war zugleich dann das Ende von Staat und Ideal: Hoch und schön zu schauen, nie zu erreichen, gerade deshalb aber zu allerhöchst zu bewundern. Dieser platonische Staat konnte sich, so schien es doch, die unendliche Distanz zur Wirklichkeit ganz einfach leisten aus seiner unerreichten und unerreichbaren Höhe, in machtgestützter, -stützender Ethik. Damit aber war dies ein Staat für bewundernde Menschen, nicht für neidige Bürger der Demokratie. Platons Staat ist ein Gebilde der perfekten Aristokratie, ihr Geist durchdringt alles an ihm; es ist dieselbe Wortwurzel, aus der die Arete kommt, nicht die Tugendhaftigkeit süßlicher Nazarener-Bilder, sondern die der höchsten Höhen der blutvollen Renaissance-Kunst Italiens. Wer dies erleben will, kann und wird Platons „Gesetze“ auch heute „so ganz“ lesen, sich darin an ihnen nicht erfreuen, sondern begeistern. Doch das nüchterne Staatsrecht, für den demokratischen Durchschnittsmenschen geschrieben, sein Leben ordnend, findet nur dann Antworten auf seine Fragen, gerade in seinen höchstidealen Büchern, den Nomoi, wenn eine doppelte Extrapolation gelingt: Abstand von den zeitbedingenden Hintergründen des platonischen Denkens und zugleich die Herausnahme, vielleicht sogar mächtiger, neuerer Entwicklungen, von denen bereits die Rede war, aus dem Denkgebäude des Philosophen. Platons Staat wird dann bescheidene und doch wichtige, wahrhaft „weise“ Gaben bieten: Einzelne Ratschläge aus fernen Zeiten für die Gegenwart, die sie gerade darin befruchten, dass sie das Heute nicht als solches in die Vergangenheit zurückführen wollen, ihm aber einige noch immer aufragende Türme und Mauern des Menschlichen zeigen – und seien es antike Ruinen29. In diesem Sinne einer versuchten Extrapolation früherer historischer Realität aus Platons Staat verstehen sich die folgenden Betrachtungen. Sie wollen bescheiden sein, heutiger Zeit und ihrem Staatsrecht ihren durchaus verdienten Stolz auf ihre Errungenschaften lassen – und doch von Zeit zu Zeit, von Gegenstand zu Gegenstand immer wieder jenen mahnenden Finger heben, mit dem Raphaels Platon in den Stanzen des Vatikans nach oben zeigt.

IV. Einige einstige – heutige – ewige Fragen an Platon 1. Staatsrechtstechnik? Was die Gegenwart von der Antike nicht erwarten darf, ist Technizität; und das Staatsrecht der Gegenwart sollte nicht hoffen, bei Platon Rezepte zur Durchsetzung der Staatsmacht zu finden. Die zeitlichen Distanzen schließen dies aus, Fortschritte und damit Veränderungen vor allem in der Gegenwart. Sie alle waren und sind Ergebnisse einer immer weiter perfektionierten Technik unterscheidenden Denkens, 29

Leisner, W., Staatsgedanken vor Ruinen, in: FS f. Isensee, 2007, S. 111 ff.

IV. Einige einstige – heutige – ewige Fragen an Platon

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intellektueller Feinmechanik; an ihrem Anfang stand die griechische Philosophie, aber sie haben sie darin längst hinter sich lassen, ja vergessen können. Moderne Machttechnik seit den Anfängen der Aufklärung, verfeinert in Kodifikationen und schließlich (üb)erhöht in Verfassungen, haben eine hochtechnisierte juristische Welt entfaltet, die als solche mit der vielbewunderten Einfachheit platonischen Denkens in Dialogen nicht mehr zu fassen ist. Gewiss beginnen moderne machtstaatliche Entdeckungen, Erfindungen fast immer in der Einfachheit der platonischen Spaziergänge, und sie bewahren sich diese auch in ihrer diskursiven Dialogik. Auch war es ja dieser selbe Platon, der von der Techne der athenischen Handwerker, nach dem Vorbild des Sokrates, seinen geistigen Ausgang nahm30, ihr ständig seine Einzelbeispiele entlehnte. All dies mutet „modern“ an, in seinem experimentellen, laufend zweifelnden, sich immer wieder in Einzelheiten bestätigenden Denken. Platon sucht seinen Idealstaat ja durchaus zu bauen aus Staatstechnik31 heraus, Kontrolle der Machtausübung in ihr ist für ihn ein fundamentales Thema. Doch die Formen, in denen sich dies seit der Aufklärung entwickeln sollte, konnten nicht die seiner Welt sein. Menschen wollte er bilden, damit sie sich selbst kontrollieren, andere überwachen könnten. Dies alles kommt aber nicht aus einer normativen Gesetzesmechanik heraus, in einem juristischtechnischen Vorgang; es erwächst aus den so entfalteten, den gebildeten, vollendeten Menschen. Die Selbstgewichtigkeit juristischer Methodik, damit eben auch Mechanik, ihre institutionellen Eigenentfaltungen waren noch keine Daten, erst recht keine Vorgaben für Platon. Von ihm sind daher nicht strikte normative Stufensysteme zu erwarten, in denen das „Rechts-System sich selbst kontrolliert“, wie bei Kelsen32. Kontrollmechanismen, bei denen der Blick gar nicht mehr auf die Kontrolleure fallen muss. Schutzorganisationen für Bürgerfreiheiten werden angesprochen, aber ihre Perfektionierung ist nicht sein eigentliches Anliegen. Hohes Richtertum kennt er, aber nur dessen Schutz in Unabhängigkeit, denn die Macht ist für ihn nicht ein staatsrechtliches Grundproblem. Die Machteinheit als solche sucht er nicht in einer raffinierten Mechanik sogleich aufzugliedern, darin aber zu erhalten und zu verstärken. Für alles, was sich über Organisationstechnik bewirken, an Problemen lösen lässt, bietet er kein Lehrbuch der Organisationstheorie. Was von ihm erwartet werden kann auf Fragen der staatsrechtlichen Gegenwart – es sind immer fundamentale inhaltliche Überlegungen: Sie sprechen im weiteren Sinne das an, was die menschliche Gemeinschaft in ihren Tiefenschichten wahrhaft bewegt, in Bewegung 30 S. dazu Waack-Erdmann, K., Die Demagogen bei Platon und ihre Technai, 2006, insb. S. 108 ff. 31 Ein Begriff, der in der Gegenwart aber – zu Unrecht – noch keinen Kurs hat, nicht einmal in der Methodenlehre: Gerade dort ist „Rechtstechnik“ meist nur etwas wie ein „unbenannter Methodenrest“, nach Abzug von Methoden wie Deduktion, Induktion, Analogie; vgl. dazu Leisner (FN 1), S. 76 ff. 32 Grds. Zusammenfassung neuerdings bei Isensee, J., in: Depenheuer, O./ Grabenwarter, Chr., Verfassungstheorie, 2010, S. 34 ff.

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A. Idealstaatlichkeit: Fragen und Direktiven zu geltendem Recht

hält, in der damaligen Zeit wie heute: Es ist nicht perfektionierte Verfassungstechnik, es sind:

2. Verfassungsrechtlich zu bewältigende gesellschaftliche, wahrhaft „soziale“ Grundprobleme a) Werner Jaeger hat in gültiger Form die griechische Paideia als das platonische Zentrum vorgestellt33. Es ist jene Bildung, über welche die große sophistische Bewegung die damalige attische Gesellschaft verändern wollte und letztlich auch gänzlich transformiert hat. Es war dies eben nicht die rein technische Bildung des „perfekten Beherrschens einer Materie“ als solcher, im Sinne eines geistigen L’Art pour l’Art, es war vielmehr Bildung durch den Staat und in ihm mit Blick auf die Gemeinschaft, hin auf den Staat. Paideia – dies bedeutet also nicht Leistungssport als Aufzucht von geistigen Wunderkindern als Selbstzweck, geistige Windräder als Energiereserven der Gesellschaft. Diese Bildung kommt aus dem Staat, richtet sich aus an dessen Aufgaben, in ihr wird das Staatsrecht erkannt, gebildet, in ihr allein perfektioniert, in einem laufenden Vorgang. Fragen wie sie gegenwärtig in diesem Sinn ausgerichtet sind auf die Ordnung des Zusammenlebens von Menschen, nicht zu allererst auf neue technische Erfindungen, mögen diese noch so viel der Gemeinschaft an Wohlstand bringen – solche wahre Bildungsfragen finden Antworten gerade heute bei Platon. b) Soziale Unterschiede in einem sehr weiten Sinn sind und bleiben, in ihrer dynamischen Triebkraft wie in deren erzieherischer Begrenzung, in ihrer „Kultur“, Gegenstand wie Hauptaufgabe allen Staatsrechts. Diese muss erfüllt werden in einer großen, ruhigen Entwicklung, in einem Gemeinschaftsleben, das sich gewissermaßen darin selbst laufend bewältigt. Der Staat hat Räume zu schaffen – zuallererst in einer allseitigen Bildung – in denen all dies ablaufen kann, in einer Ruhe minimalisierter Spannungen, welche einen Raum des Denkens schafft und erhält, aus dem heraus Befriedung erst möglich ist. Hier erreicht die platonische Bildungsidee Eigentum, Reichtum, menschliche Machtgier, führt all diese Probleme zurück auf solche Lösungen. Wirtschaftsethik in einem sehr weiten Sinn ist Gegenstand dieser pädagogischen, moralischen und daraus philosophischen Bemühungen Platons. Seine Antworten kommen aus einer ganz anderen Welt als der einer calvinistischen Rechtfertigungslehre, welche im großen Reichtum ein Anzeichen göttlicher Gnade erblickte. Wer hierzu Fragen an den späten Platon stellt, wird kritisch Antworten bekommen über Antworten. c) Die Frage der Freiheit ist es, welche zu allererst und ununterbrochen sich stellt für das gegenwärtige Staatsrecht. Der Schutz der Privatheit ist seine größte Aufgabe, 33 Jaeger, Werner, Platos Stellung in der griechischen Bildung, 1928; Paideia, Die Formung des griechischen Menschen, Bd. I. 1934, Bd. 2 1944, Bd. 3 1947.

IV. Einige einstige – heutige – ewige Fragen an Platon

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seine erste, schon am Eingang des Grundgesetzes34. Die Sicherung gerade dieser Freiheit, fern von Einflüssen staatlicher Gewalt, wird jedoch stets von neuem zum Problem, aus Freiheit heraus, eben aus einem Privatleben. Der demokratische Staat steht in einer geradezu zerreißenden Spannung zwischen Liberté und Libertinage, einem rücksichtslosen nicht mehr Fortschreiten, sondern Sich-Gehen-Lassen, im Intellektuellen, Familiären, Sexuellen. Wie soll er hier Freiheit bewahren und doch sich dem Fortschritt öffnen? Dies vor allem sind jene ewigen Fragen, die sich auch bereits, ja das erste Mal, wirklich im tiefsten Sinne des Wortes, die platonischen Staatsgedanken stellen. Auf sie gibt der große Philosoph so manche große, vor allem aber auch kleine, bescheidene und doch noch immer gültige Antwort. Dies sind Themen, zu denen er nun befragt werden soll, zu den wichtigsten von ihnen, aus einem gegenwärtigen Staatsrecht heraus, das zutiefst und für absehbare Zeiten unwiderruflich geprägt ist durch die Demokratie, ihre Kräfte und ihre Gefahren – jene „Staatsform“, welche gerade der Platonischen Zeit erstmals und ganz tief zum Problem geworden war.

34 Deutlich in der Rechtsprechung des BVerfG zu „Freiheit“ (BVerfGE 6, 32 (419)) und Intimsphäre (27, 244 (350)), beides in – wahrhaft – ständiger Judikatur.

B. Platon und die Demokratie der Gegenwart – Grundsätzliches in historischer Nähe und Ferne I. Amicus Plato – sed magis amicus Populus Die Frage „Platon und das Staatsrecht der Gegenwart“ sucht nicht nur allgemein, insbesondere in den „Gesetzen“, nach Antworten über staatsrechtliche Methoden oder zur inhaltlichen Systematik der Darstellung. Im Blick müssen stets auch Einzelbereiche bleiben – hier lässt sich am leichtesten geschichtliche Bedingtheit extrapolieren, überwinden. Einer systematisch-grundsätzlichen Problemstellung begegnet jedoch eine solche Betrachtung – die nur eine Gedankenskizze sein kann: „Wie hält es der Staatsphilosoph mit der Demokratie?“35 Die Grundvorstellungen dieser Staatsform prägen entscheidend das Staatsrecht der Gegenwart. Und gerade diese soll doch ein „großes Erbe der Antike“ in sich tragen, aus diesem tiefen historischen Hintergrund entscheidende geistige Rechtfertigung gewinnen. Dies ist ein selbstverständlicher Ausgangspunkt aller Allgemeinen Staatslehre und auch des Staatsrechts der Gegenwart. Eine der größten geistigen Potenzen, wenn nicht die bedeutendste der bekannten Geschichte muss also doch auf diese demokratische Gretchenfrage eine Antwort bieten, eine solche wenigstens als möglich erscheinen lassen. Auch hier können vor allem Einzelaussagen, gerade zur Idealstaatlichkeit der Nomoi, Klarheit bringen. Grundlinien gilt es aber vorweg zu ziehen: Über das, was gegenwärtiges Staatsrecht an „Demokratiegehalt“ grundsätzlich normiert erwartet (II.); über antike Grunderfahrungen und -haltungen zur „Volksherrschaft“ (III.); über die platonische Philosophie als solche, ihre Anliegen und prinzipiellen Tendenzen im Verhältnis zu heutigen Grundvorstellungen von der „Demokratie“, wenn es denn solche gibt (IV.). Wenn überhaupt Platons Gedanken die Gegenwart staatsrechtlich befruchten können, wenn seine Idealbilder vom Staat mehr sein sollen als Staatsmärchen, allenfalls Staatsmythen36, wenn von ihnen keine antidemokratische Staatsfeindlichkeit ausgehen soll gegenüber einer Regierungsform, die sich, wie keine andere, ständig und vielfältig bedroht sieht37, wenn Platon überhaupt staatspolitisch soll wirken 35

Vgl. dazu FN 11. Aspekte des Myth(olog)ischen bei Platon werden beleuchtet, in zahlreichen Beiträgen, bei Janka, M., (Hg.), Platon als Mythologe, Neue Interpretationen zu den Mythen in Platons Dialogen, 2002. 37 Dies war die einheitlich-grundsätzliche Fragestellung in Leisner, W., Demokratie, Betrachtungen zur Entwicklung einer gefährdeten Staatsform, 1998. 36

II. Fundamentale demokratische Erwartungen

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dürfen in der Gegenwart – so muss er etwas wie einen geistigen „Demokratietest“38 bestehen, allgemein und in allen wesentlichen Einzelheiten. Zeitbedingte Gedanken sind ihm zwar nachzusehen; über ein „demokratisches Grundverständnis“ lässt der demokratische Volkssouverän aber nie mehr mit sich diskutieren, seit 1884 in Frankreich, 1949 in Deutschland seine „Ewigkeitsentscheidung“ in Art. 79 Abs. 3 GG zugunsten dieser demokratischen Staatsform gefallen ist: Amicus Plato, sed magis amicus – Populus.

II. Fundamentale demokratische Erwartungen Das gegenwärtige Staatsrecht ist, aus seiner Entwicklung seit der Aufklärung39 heraus, grundsätzlich wie in seinen wesentlichen Einzelheiten, „demokratisch geprägt“. Dies ist entscheidend für Erwartungen geistiger Wirkung(smöglichkeit)en platonischer Idealvorstellungen auf diese Ordnung in der Gegenwart. Dabei ist davon auszugehen, dass es „den“, „einen“ Demokratiebegriff nicht gibt, schon angesichts seiner beiden fundamentalen Gestaltungsformen der direkten und der repräsentativen Volksherrschaft. Zentrale staatsrechtliche Gestaltungen, damit auch Anlauf-, vielleicht Rezeptionsbereiche für Vorstellungen aus den „Gesetzen“, lassen sich aber bestimmen – in gebotener Kürze, als Beziehungspunkte für einen Vergleich mit den Rechtsvorstellungen der Nomoi.

1. Staatsorganisationsrecht Hier geht es vor allem um folgende verfassungsrechtliche Gestaltungen: - Grundgesetzliches Demokratiegebot (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1), gesteigert zu rechtlich bindenden Ewigkeitsentscheidungen (Art. 79 Abs. 3 GG). Diese Normen ziehen einen Rahmen für alles „Demokratisch Denkbare“. Jenseits davon beginnt (Un-)Recht. Im Mittelpunkt dieses Rechtsraumes stehen: - Allgemeines und gleiches Wahlrecht im Sinne von Art. 38 Abs. 1 GG, zu den Gesetzgebenden Körperschaften, als den höchsten Gewalten der Setzung von Normen und Kontrolleuren von deren (nicht-richterlichen) Anwendung(sform)en. - Weitestgehende Machtbefugnisse dieser Organträger der Volkssouveränität, vor allem zur (Um-)Verteilung im Wirtschafts- und Sozialbereich. 38 Denn über die Treueverpflichtung der wissenschaftlichen Lehre (Art. 5 Abs. 3 S. 2 GG) wirkt ein solcher auf sämtliche Autoren: Sie müssen „mit dem Mund von Wissenschaftlern sprechen“, jedenfalls wenn sie sich die Gedanken jener zu eigen machen. Enger allerdings die doch h. L. – aus dem Wissenschaftsbegriff heraus, vgl. Starck, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 5 Rn. 427 f. 39 Historischer Überblick bei Sommermann, K.-P., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 20 Rn. 63 ff.

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B. Platon und die Demokratie der Gegenwart

2. Grundrechte - Dreiklang „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“ („soziale Solidarität“)40. - Freiheit in den Grenzen der Gleichheit und der Ziele der staatsorganisatorischen Ordnung (i. S. vorst. 1.) – Freiheitsreservat Privatsphäre. - Gleichheit (jedenfalls) in allen Rechten, sowie einer (möglichst) gleichmäßigen Verteilung aller wirtschaftlich-finanzieller Mittel unter den Bürgern41. - (Politische) Parteien als Organisationen gleicher Freiheit. Also: Gleichheit als Ziel, Freiheit als Weg. Nur was diesen (Entwicklungs-)Linien folgt, ist „Staatsrecht der Gegenwart“. Die Demokratie setzt dies als Recht ihrer Staatsform für eine unabsehbare Zukunft (Art. 79 Abs. 3). Abweichungen kann sie nur als (gerade noch) korrigierbare Fehlentwicklungen tolerieren. Hier endet Handlungsfreiheit, ja „Gedankenfreiheit“ (Art. 5 Abs. 3, Art. 21 GG): an der „Treue zur demokratischen Grundordnung“ – der „gleichheitlich-freiheitlichen“. Wahrheit(ssuche) ist kein Verfassungsprivileg, sondern ein Menschenrecht dieser denkenden Geschöpfe. Ein „sed magis amica Veritas“ braucht Platon nicht zu fürchten42. Dennoch aber setzt eine andere Macht allen seinen Gedanken heute geistige und physische Schranken: der Wille des allwissenden und allweisen Volkes, des allmächtigen Volkssouveräns43. Treue, d. h. letztlich Unterwerfung, verlangt er vor allem von den Lehrern an seinen Hohen Schulen (Art. 5 Abs. 3 S. 2 GG). Auch mit Platons Stimme dürfen sie nicht weiter lehren als bis zur dieser Roten Linie der Gedankenfreiheit. Selbstverständlich müssen alle Gedanken des Folgenden sich dem unterwerfen. Gedanken zollfrei? War das einmal?

III. Platon und die Demokratie Der Versuch einer Einordnung der platonischen Vorstellungen vom Idealstaat in gegenwärtiges staatsrechtliches Denken muss ansetzen bei einer Kritik der populärwissenschaftlichen, aber verbreiteten Thesen von der „Antike als Wiege der 40

Wenn nicht als Grundlagenbegriff der Sozialstaatlichkeit (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG), so jedenfalls im Sinne einer solidarisch geprägten Eigentumsordnung (Art. 14 GG), sowie in dem der Solidargemeinschaft der Sozialversicherung. 41 Grds. zu dieser Entwicklung Leisner, W., Der Gleichheitsstaat. Macht durch Nivellierung, 1980, sowie ders. Demokratie, 1998, S. 199 ff. 42 Leisner, W., Die Staatswahrheit. Macht zwischen Willen und Erkenntnis, 1999, insb. S. 61 ff. 43 Dazu grds. Leisner, W., Das Volk – Realer oder fiktiver Souverän? 2005, insb. S. 22 ff., zur Kritik S. 108 ff.

III. Platon und die Demokratie

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Demokratie“, als eines „geistigen Umfeldes“ auch der platonischen Philosophie, dieser letzteren wieder als ihres geistigen Erbes, welches Gedanken des Philosophen weiterträgt, heute noch vermittelt.

1. Die „attische Demokratie“ – ein Niedergang der Aristokratie Die Antike hat in ihrer politischen Geschichte dem Staatsrecht der Gegenwart kein „geistiges Erbe der Demokratie“ hinterlassen: Die attische Demokratie beherrschte eine Periode geistiger Höhe und wirtschaftlicher Expansion wie sie einmalig sein sollte bis zur Renaissance. Als Staatsform betrachtet war dies jedoch eine Regierungsform in zeitlich immer rascherem Niedergang, die im politischen Sinn als Dekadenz bezeichnet werden kann44. In seiner größten Zeit, zur Mitte des 5. vorchristlichen Jahrhunderts, war Athen nur „dem Namen nach eine Demokratie, in Wirklichkeit die Herrschaft des Ersten“45, gestützt auf eine ökonomisch fundierte Oberschicht handeltreibender Seefahrer. Aus dieser geistigen Blütezeit entfalteten sich intellektuelle Bedürfnisse, welche alsbald in der mächtigen geistigen Bewegung der Sophistik, kulturell, vor allem auch rhetorisch, befriedigt werden sollten. So konnten sich Geschäft, Geist und Macht treffen. Jene „Demokratie“, die in ihrer Theatralik, in ihren Versammlungsformen, so oft pöbelhafte Züge trug, war damit, wenigstens in Ansätzen, kulturell veredelt; der ganze „demokratische Staat Athens“ zeigte ein geistiges Gesicht, weithin beherrscht von einer Aristokratie des Geistes und des Geldes, jedenfalls von einer intellektualisierten Oberschicht. So hat „Athen“ – nicht die attische Demokratie – gewirkt auf spätere Generationen und bis heute46. Ein Jahrzehnt nach dem Tod des Perikles wurde Platon geboren – ein wahrer Epigone dieser aristokratischen Welt, die sich geistig fortsetzen wollte. In den zunehmend gekünstelten Bemühungen der Sophistik verlor sich Athens große Kunst, ging seine Demokratie nieder – wie sollte da der Philosoph ein Träger, ein Künder sein einer „antiken Demokratie für alle Zukunft“?

2. Platon – ein „undemokratisches Leben“ Die „Lebensprägung“ des Philosophen47 könnte kaum „weniger demokratisch“ sich zeigen. Sein großes geistiges Jugenderlebnis der Begegnung mit Sokrates (470 – 44 Im Sinne jenes Begriffs eines „Verfalls“, wie er bereits bei Montesquieu und Rousseau erscheint, von Edward Gibbon in ästhetisierender Historie klassisch dargestellt wurde: Decline and Fall of the Roman Empire, 1776 – 88. 45 Thukydides, Peloponesischer Krieg, II, 65. 46 S. Voegelin (FN 4), S. 87 ff., 147 ff.; vgl. Horn, Chr., Kontinuität, Revision oder Weiterentwicklung? Das Verhältnis von Politeia, Politikos und Nomoi bei Eric Voegelin und in der aktuellen Forschung, 2011. 47 Erler, M., Platon, 2006, S. 15 ff.

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B. Platon und die Demokratie der Gegenwart

399)48 endete in dessen Verurteilung – einem staatsrechtlichen, vor allem einem geistigen Selbstmord der attischen Volksherrschaft, was konnte da noch an Sympathie für sie von Platon erwartet werden? Der letztlich verlorene Peloponnesische Krieg war Beweis der Unfähigkeit dieser Regierungsform zu einer Machtpolitik in größeren staatsrechtlichen Ordnungskategorien. In seinen späteren Jahren erlebte Platon eine attische Demokratie, die sich politisch mühsam über Wasser hielt auf den lecken Schiffen ihrer Seemacht; geistig war ihr nichts mehr geblieben als die Monumentalrhetorik eines Demosthenes49 – verbale Grabsteine einer Staatlichkeit, die wenige Jahre später von der Phalanx des mazedonischen Königs überrannt werden sollten. Fort lebte die Demokratie nicht in der politischen Realität des Alexandrismus, sondern allenfalls noch in den staatsrechtlichen Lehrbuchanalysen des Aristoteles50. Aus all diesem demokratischen Niedergang blieb Platon nur der hoffnungsvolle Blick über das Meer, nach Sizilien. Die gescheiterten Versuche, bei den Dionysoi und Dion, „aufgeklärten absolutistischen Herrschern“, zu wirken als Staatsrechtslehrer, nicht nur als Staatsgründer, sind eindeutig einer der – sehr – menschlichen Wege zu dem Idealstaat der „Gesetze“. Wie sollte da in ihnen etwas von jenem demokratischen Eros51 zu finden sein, wie ihn heutige Demokratiebegeisterung in volkssouveräner Sicherheit erwarten möchte? Platons Leben ist – diese Vereinfachung drängt sich auf – historisch gesehen eine einzige große „demokratische Enttäuschung“. Wären von einer solchen Gestalt auch nur Ansätze einer Begeisterung für eine Demokratie zu erwarten, wie sie in der Gegenwart umschlägt in die Selbstverständlichkeit dieser Staatsform als der besten, jedenfalls einer alternativlosen Ordnung?

IV. Platons Philosophie – Demokratie: Nähen und Fernen Die Frage, wie es „der Philosoph hält mit der Demokratie“ in ihrem heutigen Verständnis, stellt sich ganz selbstverständlich, erhebt diese Staatsform doch einen geistigen Totalitätsanspruch: sie will nicht nur politisch eine alternativlose Regierungsform sein, sie ist dies im Recht in ihrem Ewigkeitsanspruch52. Ihren Feinden 48

Mirelli, R., Der Daimon und die Figur des Sokrates, 2013, S. 81 ff., 254 ff. Zu einer Einordnung des Demosthenes in die für die folgenden Betrachtungen grundlegenden Paideia, vgl. Jaeger, Werner, Demosthenes, Der Staatsmann und sein Werden, 1939. 50 Zum Staatsrecht des Aristoteles vgl. FN 6; sowie noch Reese-Schäfer, W., Klassiker der politischen Ideengeschichte: von Platon bis Marx, 2011, S. 22 ff. 51 Dieser Eros kann sich immerhin auf den platonisch-philosophischen Eros berufen, vgl. Mirelli (FN 48), S. 185 ff. zum „Symposion“; für die Nomoi vgl. Seubert (FN 7), zu Eros und Paideia, S. 566 ff. 52 Jedenfalls in ihrem fundamentalen Spannungsverhältnis von „Freiheit und Gleichheit in Menschenwürde“, klassisch dargestellt schon bei Kelsen, H., Vom Wesen und Wert der De49

IV. Platons Philosophie – Demokratie: Nähen und Fernen

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bleibt keine der Chancen ihrer Freiheit. Und wer diese ihre Staatsfeinde sind, das definiert sie nicht nur – selbstverständlich – selbst; sie bestimmt auch die Waffen, mit denen jene sie „nicht aggressiv“, „gewalttätig“ bekämpfen dürfen. Auch geistige Waffen sind zu strecken, wo „Volksverhetzung“53 droht. Ihre strengen Gebote richten sich auch an Staatsphilosophie und Staatsrechtslehre. Es muss daher alles in diesem Sinn Denk-Mögliche getan werden, diesen Geboten der Gegenwart im Verständnis Platons gerecht zu werden, auch aus seinen „Nomoi“ heraus. Anders darf er nicht wirken im gegenwärtigen Staatsrecht und auf dieses.

1. Der platonische Individualismus Eines ist konsensgetragen: Der Philosoph geht aus vom Einzelmenschen, schaut mit seinen Augen – und kehrt immer wieder rasch zu ihm zurück. Die „maieutische Technik“ einer Selbstentbindung menschlicher Gedanken im Gespräch, diese Methode platonischen Denkens schlechthin, ist dem bereits verpflichtet. Liegt diesem Individualismus nicht jene Achtung vor der „Menschenwürde“ zugrunde, welche über dem Eingang zur Demokratie steht, in deren Hallen bewahrt wird54 ? Gegenwärtige Demokratie schützt doch dieses Individuum in ihrem Freiheitsbegriff auf drei Ebenen: speziell in der Sicherung der Persönlichkeit/Privatsphäre55, allgemein in den Grenzen, die dem „Staat“, jeder persönlichkeitsexternen Gewalt56, rechtlich durch Grundrechte gezogen sind, schließlich in der „Freiheit nach außen“, in welcher das demokratische Volk seine Bürger sichert gegen Verletzung der beiden erste(re)n Freiheiten durch äußere Feinde. Im Namen dieses letzten Schutzes kann die Demokratie ihre Bürger sogar zwingen, zur Verteidigung dieser Freiheit der anderen, der „Übrigen“, ihr Leben zu opfern, damit ihre Freiheit; es bleibt die Würde des Staats-Begräbnisses57. mokratie, 1929, S. 3 ff. Zum gegenwärtigen Staatsdenken vgl. Hain, K.-E., in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 79 Rn. 25 ff. 53 Vgl. zu dem Tatbestand der Volksverhetzung: Fischer, T., StGB, § 130 Rn. 1 ff.; Hellmann, M./Gärtner, J., NJW 2011, 961 ff. 54 Menschenwürde als unaufhebbarer Wert des Einzelwesens ist Ausgangspunkt und Fundament der gesamten Rspr. d. BVerfG, vgl. Starck, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 1 Rn. 11 m. Nachw. Dass darin ein Bekenntnis zum Individualismus liegt, zeigt sich besonders deutlich in Art. 19 Abs. 1 und 2 GG. Angesichts von dessen materieller Übereinstimmung mit Art. 1, (vgl. dazu Huber, P. M., in: v. Mangoldt/Klein/Starck a.a.O., Art. 19 Rn. 126 ff.), und des Individualrechtsschutzes in Art. 3 (vgl. Huber a.a.O., Rn. 342 ff.), sollte dies wohl stärker betont werden. 55 Zum Schutz der Persönlichkeitsentfaltung, besonders zu deren Kern, der Intimsphäre vgl. FN 34. 56 Damit eben auch der „Gewalt anderer“, gegen welche die Freiheit geschützt wird, bis hin zur Drittwirkung der Grundrechte, vgl. den Überblick bei Stern, K. Staatsrecht III 1, 1988, S. 1518 ff. 57 Durch die Suspendierung der Allgemeinen Wehrpflicht ist hier diese – für die Menschenwürde (vgl. Starck, FN 54, Rn. 75) unlösbare – Schwierigkeit insoweit umgangen, als es

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B. Platon und die Demokratie der Gegenwart

Für platonische Philosophie sind dies aber keine Fragestellungen: Das „Intime“ öffnet er, wie alles andere, der Bildung seiner Paideia. Einen „Staat der Menschenrechte“ – er kennt ihn nicht: die (guten) Gesetze erziehen den Bürger; selbst schlechte dürfen daher von ihm Gehorsam erwarten, bis auf den Weg zum ungerechten Tod. „Äußerer Feind“ ist nur, wer den Staat, die Ordnung einer solchen Menschenentwicklung (zer)stören will. Staatsmacht ist nicht das Problem, es heißt allein Mensch(enbildung); sie ist nur vorstellbar mit Blick auf den Einzelnen. Ist dies nicht radikalst vorstellbarer Individualismus? Alles andere, die ganze Gemeinschaft ist wichtig dabei, aber nur als Hilfe, Stütze: Gemeinschaft als Fundament für das Individuum, das in und aus ihr sich entfaltet58. Der Freiheitsbegriff ist bei Platon ein anderer als der einer Volksherrschaft der Gegenwart: Für ihn zählt nicht „Freiheit von“ (der Gewalt anderer), sondern „Freiheit zu“ voller Entfaltung des einzelnen Menschen59. Es geht um dessen eigenste, seine entscheidende Bildung, „Die anderen“ arbeiten ebenfalls daran, sie „bilden am Menschen mit“; sie errichten aber keine Zäune um ihn, die er niederreißen oder versetzen müsste. Überall ist Frage und Ziel nicht „Allein sein oder mit anderen“, sondern „Besser werden“. Die „Vielen“ – im Grunde sind sie als solche nichts; sie zählen nicht, daher muss niemand sie zählen. Sie sind Umstand, als solche letztlich nur Mittel zum Zweck der Entfaltung des Einzelnen – der griechischen Statue. Wichtig sind sie als Teile jener Natur, in welcher der Mensch sich bewegt, die ihn nährt, ihm Kraft gibt – ihn eben „bildet“. Doch der Blick des Philosophen, des Staatsgestalters, bleibt nie auf dieser Gemeinschaft als solcher ruhen, er wandert zu dem, was der Einzelne sein soll. Platon will nicht Volksherrschaft, sondern Menschenbildung, als Teil einer Humanmedizin im ganz großen Stil. Nah ist also die Staatsform der Demokratie einem Platon überall dort, wo sie den Einzelnen in ihren Mittelpunkt stellt, in ihm ihre Kraftquelle sucht und findet. Sie entfernt sich von ihm, wenn sie ihren Bürger nur als undurchdringlichen Träger von „Privatheiten“ absichern, wenn sie ihn nicht bilden, aus ihm nicht sein Bestes und Schönstes herauszubringen, herauszumeisseln sich bemüht. Und ganz fern ist sie ihm, wo sie es unternimmt, diesem einsamen „Höchstwert Mensch“ andere Werte an die Seite zu stellen, ihn einzugrenzen mit Zäunen einer „Gemeinschaft als Selbstzweck“. das dabei im Mittelpunkt stehende Problem „Menschenwürde und staatsbefohlener Tod“, des staatsbefohlenen Sterbens, im „Normalfall“, jedenfalls nicht mehr gibt. 58 Immerhin muss ja auch gegenwärtig die „Bindung des Menschen in der Gemeinschaft“ und durch sie, wie sie der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zugrundeliegt (FN 34) und die gesamte „Sozialstaatlichkeit“ trägt, dem Freiheitsschutz hinreichend Rechnung tragen, vgl. in diesem Sinn Sommermann, K.-P., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 20, der zutreffend auf den Freiheitsschutz hinweist. 59 Der Begriff der „Freiheit der Persönlichkeitsentfaltung“ (Art. 2 Abs. 1 GG) beinhaltet allerdings, in seiner so weiten Fassung, auch eine Zielrichtung in dieser Entwicklung, s. dazu Starck, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 2 Abs. 1, Rn. 11 ff.

IV. Platons Philosophie – Demokratie: Nähen und Fernen

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2. „Arete“: Höchstqualität als Staatsziel Arete ist einer der geheimnisvollen Schlüsselbegriffe zum Denken des Philosophen. Unübersetzbar ist das Wort60, sein Inhalt nur in Idealitätssicht vorstellbar. Gemeint ist – irgendwie – eine Bestform mit Höchstinhalt bei allen menschlichen Leistungen. Von der Tüchtigkeit des Handwerkers über das Geschick des Schiffführers bis zur Staatskunst des Politikers – der Begriff verfolgt Platon seit den Frühdialogen, bis in die Erfolgskriterien des menschenbildenden Staatslenkers. Die „Höchstqualität“, Ergebnis einer „Spitzenleistung“, ist Ziel-Ideal jeder menschlichen Tätigkeit, jeder Gestaltung, die von Menschen ausgeht, sich auf sie richtet – daher zu allererst ein Ideal für den Staat als höchstes „Menschengebilde“. Diese Arete lässt sogleich denken an jene Aristoi, welche staatsrechtlich Grundlage und Kern der Aristokratie bedeuten. Der Philosoph der Arete kann nur aristokratisch denken, wenn nicht systematisch in all seinen Einzelvorstellungen, so doch immer in seiner großen, letzten Teleologie, im Ziel einer „Menschenbildung zur Höchstform“ jedes Einzelnen. Denn an ihr ist dann alles zu messen, was zu ihr führen kann: vor allem der Staat in seinen Ordnungsformen, die seine Staatsziele61 sind. In diesem Sinn ist Platons Idealstaat das Über-Wesen Hegels, der Über-Mensch Nietzsches – aber eben stets in der Sicht, in der Rückbeziehung auf den Einzelmenschen, damit auf die Aristoi, welche ihn lenken – weil sie über sich selbst herrschen. Dies ist Platons „menschlicher“ Idealstaat; darin ist er der Demokratie nahe, welche in ihren Wahlen „auf den Menschen ruhen“, damit letztlich alle Wähler zu Aristoi erheben will. Dies mag erscheinen als ein „demokratischer Über-Idealismus“; in ihm bestimmt die Volksherrschaft ja ihre menschenbildenden Herrschenden, erlässt sie ihre menschenprägenden Nomoi. Sie überspringt Einzelheiten einer „Techne“ im platonischen Sinn, im Glauben an den bereits perfekten Bürger, jedenfalls in der Hoffnung auf den aus der größeren Zahl sich erhebenden Volksgeist. Das „Volksempfinden“ – immer „gesund“ – ist zugleich Zentralform und Rechtfertigung „demokratischer Aristokratie“. Darin ist die Staatsform der Volksherrschaft Platon fern62 und nah zugleich: Sie kollektiviert den Höchstwert des Einzelmenschen in ihren Grundformen der Gleichheit. Als „egalitäre Aristokratie“ setzt sie aber immerhin, voll individualistisch, auf „ihre Freiheit“, in der jeder sich selbst zum Aristos heranbilden darf. Darin 60 In Papes Griechisch-Deutschem Handwörterbuch von 1912 (!) findet sich der Eintrag: „Tugend, nicht im christlichen, sondern im Griechischen Sinn: Vortrefflichkeit, Güte, Vorzug, von Geist und Leib“. 61 Dies gilt durchaus im Sinn der gegenwärtigen staatsrechtlichen Dogmatik, (vgl. grdl. Sommermann, K.-P., Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997), und zwar vorgezeichnet in der früheren Lehre von den Staatszwecken (kritisch dazu m. Nachw. Starck, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Auflage 2010, Präambel, Rn. 33). 62 Zur platonischen Demokratiekritik des „Volkes ohne Regierungs-Techne“ bereits Leisner, W., Das Volk – Realer oder fiktiver Souverän?, 2005, S. 109 ff.

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B. Platon und die Demokratie der Gegenwart

ist sie sogar weit „idealistischer“ als der Philosoph des Idealstaats: Sie verzichtet zwar auf dessen „Bildungs-(An-)Ordnungen“, aber sie öffnet Betrachtungen wie den vorliegenden die Tür für Vergleiche platonischer Wertvorstellungen mit dem Staatsrecht der Gegenwart und zu Rezeptionsmöglichkeiten dessen, was Platon heute zu sagen hat: zur Qualitätssuche in Bürgerbildung. In Platons Denken hat dabei „Hoffnung“ keinen Platz, wohl aber unter Demokraten: hier stirbt sie niemals, diese Erwartung der besten Entscheidung aller – für alle.

3. Paideia: Bildung als höchstes Staatsziel Nie ist wohl eine Betrachtung der „ganz anderen Antike“ näher gekommen als die „Paideia“ von Werner Jaeger63: Vielleicht hat er sogar das platonische Geheimnis enthüllt: die menschenbildende Selbstbewusst-Werdung des griechischen Geistes. Sokrates wurde beleuchtet, die Sophistik erklärt, Platon verstanden in seinen „Gedanken als Statuen“. „(Stirb) und werde!“ „Staat als Vorgang der Menschwerdung“, der ganz weiten, ganz tiefen Menschen-Bildung: das ist die Herausforderung der Paideia an das Staatsrecht der Gegenwart. Endlich sollte auch hier das „HerausFühren“ in dem sperrigen Wort „e-ducatio“ – als Erziehung64 ersetzt werden durch „Bildung“; in ihr liegt auch das „Schöne“, das Griechische – Platon. Die Demokratie hat dies von ihren Anfängen anerkannt, jedenfalls diskutiert65: Demokratie als Volks-Bildung: Darin ist sie dem Philosophen am nächsten – und am fernsten zugleich. Denn Platon erkennt den Menschen, er kennt nicht „die anderen“, noch weniger „alle“. Diese Betrachtungen wollen ihm folgen auf den Wegen seiner Nomoi, seiner größten, letzten Bildungssuche. Sie führt ihn mitten hinein ins Staatsrecht, weit mehr vielleicht in das der Gegenwart als in die Vorstellungswelt der platonischen Zeit. Denn gerade heute ist in der Bildung vieles von dem im Erwachen, was lange in mechanistischer Pädagogik verschüttet war: ein Sinn, ein Gespür jedenfalls für die großen Dimensionen jedes kleinen Unterrichtens, jedes noch so kleinen Ein-Drucks in die menschliche Seele. Dass dieser „Impressionismus“, wie in der Kunst, zum „Expressionismus“ sich entfalte, in einer „Selbst-Heraus-Bildung“, „BewusstWerdung“ des statuenhaften platonischen Menschen aus der egalisierenden Masse der vielen, nur in klotzigen Umrissen behauenen Steine – das ist platonische Staatshoffnung, gerichtet an die organisierte Gemeinschaft. Nur wo Demokratie (diese) Bildungs-Kultur erreicht, bis hin zu Formen und Gehalten rechtlichen

63 64

auf.

Jaeger, Werner, Paideia (FN 33). Im Lateinischen weisen denn auch „e-ducere“ und „e-ducare“ mehr als nur eine Wortnähe

65 Zum Stand der Diskussion über ein „Recht auf Bildung“ vgl. Robbers, G., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 7, Rn. 31 m. Nachw.

IV. Platons Philosophie – Demokratie: Nähen und Fernen

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Ordnens: dort allein ist Platon nahe. Auf Wegen solcher Gestaltung nimmt er den Heutigen mit, gerade in seinen Nomoi. Der Paideia nah ist also das bildungszentrierte Gemeinschaftsrecht der Gegenwart wie kaum zu einer früheren Zeit. Seit der Periode, in welcher im Frankreich Fénélons die große Fürstenpädagogik66 einsetzte, sind Adel, Spätmonarchie und Bildungsbürgertum der platonischen Paideia gefolgt, nachgelaufen; erreichen konnten diese nicht mehr die Jesuitenschulen, die vor allem – schon damals – Jakobiner hervorbrachten. Ist die egalitäre Massenschule das, was bleibt vom Staat der Nomoi in der Volksherrschaft? Kann sie so Platon näherkommen?

4. Erkenntnisschau in Annäherung Platon hat gewirkt als Staatsphilosoph; vor allem ist er aber der Denker der großen Wende von der Naturphilosophie der Vorsokratik zur individualistischen Sittlichkeit, aus der in den Nomoi Staatsethik erwächst. Damit ist eine methodische Umkehr verbunden: Der Optimismus der erkennenden Schau des Objekts wird hinterfragt, wie später bei Kant; an seine Stelle tritt der subjektive Blick des Erkennenden. Er muss sich nun bemühen, näher an die „Gegenstände heranzurücken wie an die Werte“. Dies geschieht auf dem Weg der Maieutik des gedankenentbindenden Gesprächs (vorst. 1.), mit dem Ziel der Arete in allem und jedem (vorst. 2), in der bildenden Methodik der Paideia (vorst. 3). So wird eine neue Gnoseologie geboren, die Erkenntnislehre des Idealismus. In ihr enthüllen sich, in „bewegenden Schritten“, Ideal-Bilder, in welchen, durch die hindurch der Mensch erst „die Dinge sieht“, sie erfasst in ihrem Wesen, sie geistig einzuordnen, sein Leben auf sie auszurichten vermag. Der Deutsche Idealismus hat diesen Vorgang in gültiger Form geistig nachgelebt. Deshalb konnte aus ihm der große Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts entstehen, in staatsrechtlicher Bewegung hin zum Ideal des freien Menschen. Vorgelebt, vorgezeichnet findet sich dieser eminent menschliche Vorgang in den Nomoi des Platon. Und auch dort führt er sogleich vom Denken zum Handeln: zur Gestaltung des Staates, des Bildners der Rahmen-Daten des menschlichen Lebens. Daraus entfaltet sich eine zweifache geistige Entwicklung: Das „globale Schauen“ bleibt, aber es gerät in strebende Bewegung, in Zielrichtung, in Annäherung. Der „Staatsaufbau“ ist im Ideal erkannt, er wird nun (nach)vollzogen, Stein auf Stein, immer „noch höher“ – dem Idealstaat entgegen. Und der einzelne StaatsStein wird behauen: Entdeckt wird in ihm das „Staatselement“. So schreiten die Gesprächspartner der Nomoi weiter – nicht mehr, wie in der Politeia, zur strahlenden Erkenntnis des „Gerechten“ und des „Guten“, sondern in die Hallen der Wächter über Staat, Mensch und beider Zucht.

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Les aventures de Télémaque, 1699.

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B. Platon und die Demokratie der Gegenwart

Eine wahrhaft gewaltige Entwicklung vollzieht sich so, von der Staatsphilosophie, in ihrer untrennbaren Einheit von Erkennen und Ethik, bis hin zum politischen Bau-Werk, in dem Menschen denken, gut (sind) und glücklich. Dieses Staatsrecht der Nomoi soll im Folgenden „zu schauen versucht werden“, in Annäherung, in seinen einzelnen Steinen, so wie der Philosoph es gewollt.

C. Die Nomoi als „Staatsrecht“ I. Rechtliche Betrachtung 1. Eine „Platon-immanente“ historische Sicht? In Historie und Philologie liegt zwar der Ausgangspunkt für das Verständnis der folgenden Betrachtungen zu den „Gesetzen“, gerade auch für eine Suche, die von Grundsätzen und Einzelheiten des gegenwärtigen Staatsrechts ausgeht. Untersuchungen zur Entwicklung des platonischen Denkens, in dessen Stufen und Abläufen als solchen, von den Frühdialogen über die Politeia zu den Nomoi, führen zu genauerer Sicht in Vielem, oft Entscheidendem. Rückblenden aus späterer antiker Philosophie verdeutlichen die Dimension geistiger Wirkkraft platonischer Gedanken auf das Staatsrecht – vor allem seit dem 17. Jahrhundert – in dessen immer deutlicheren Wendungen zu dem, was heute als „Demokratie“ gelten soll. Doch eine nur „Platon-immanente Betrachtung“ kann auch vorbeiführen an einem vertieften Verständnis der Nomoi: Sie erscheinen dann als „sizilianische Lebensenttäuschung“ des Philosophen, als „Abstieg“ aus den mythisch-künstlerischen Höhen der Politeia, als ein Alterswerk (eines noch nicht Sechzigjährigen …).

2. Historia Magistra des Staatsrechts Diesen Wegen soll hier nicht gefolgt werden. Gewiss ist die möglichst klare Erkenntnis dessen, was hier aus antiken Quellen fließt, dann zwischen weiteren, zeitfernen Ufern sich entfaltet hat, Voraussetzung für jedes Urteil über seine gegenwärtige Wirkkraft. Doch entscheidend bleibt deren heutige Mächtigkeit, zu beurteilen daher aus der Sicht des betrachtenden Augenblicks, von dessen geistig methodischem Standpunkt aus. Nicht eine „ganz andere Antike“ gilt es gerade hier zu entdecken, in ihrer unerreichbaren Idealität, in ihrer fernen Größe zu bewundern. Solche gedankliche Verneigungsübungen vor der Vergangenheit verbergen nur zu oft eigen-sinnige Überzeugungen. Die Historia Magistra67 vielmehr ist gefordert. Sie soll bemüht werden in einer möglichst unmittelbaren Gegenüberstellung von Aussagen aus den „Gesetzen“ und dem, was heutiges Staatsrecht seinen Bürgern befiehlt. Die Rechtsstaatlichkeit verlangt vom Gesetzgeber der Gegenwart klare Aussagen. Er soll sie nicht in all ihren historischen und philosophischen Hintergründen überprüfen 67 Leisner, A., Historia Magistra des Staatsrechts, Behrendt, H.-J. (Hg.), Schriften zum Staatsrecht, Bd. 34, 2004.

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C. Die Nomoi als „Staatsrecht“

müssen. Wo ihn daher Staatsphilosophie und Allgemeine Staatslehre hinweisen auf Platon, da darf nicht (nur) letzte Spitzenerkenntnis und Klassische Philologie seine Gedankengänge führen, sondern der Blick auf „platonisches Staatsrecht“, so wie dieses stets auf den Leser gewirkt hat, heute erst recht nur (mehr) wirken kann, in einer allem Humanismus ferneren Zeit. So zeigt sich dieser platonische GesetzesIdealstaat in der Sicht des Staatsrechts der Gegenwart, vor allem auch mit deren Methoden. Und dies sind nicht die philosophierend-ästhetisierenden Zeitlosigkeitsbetrachtungen des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts, bis hin zu ihren großen Geschichts(ent)würfen; es ist das gegenwärtige, politisch-demokratische Normverständnis, mit dessen Augen die jeweiligen Focus-Aussagen Platons zu den Themen der Nomoi zu sehen sind und zu bewerten68.

II. Politeia und Nomoi: Von der Idealvorstellung zur Idealstaatlichkeit 1. Die Politeia: Von der „Erkenntnis“ zur „Ethik“ Ausgangspunkt für den Vergleich dieser beiden Gesetzesstaatlichkeiten, der platonischen Nomoi und des gegenwärtigen Staatsrechts, ist die platonische Stufe der „Idealstaatlichkeit“, des Gemeinwesens, erkenntnisphilosophisch betrachtet in ihrer Grundsätzlichkeit. Über diese muss der Betrachter hinauf-schreiten, beginnend bereits mit der Politeia. Dass mit ihr die „Höher-Entwicklung“ platonischen Staatsdenkens systematisch einsetzt, ist seit langem gesicherte Erkenntnis. Klar ist dem kritischen Leser, dass es derselbe, nicht nur der gleiche Staat ist, der auf beiden Stufen begegnet, in der Politeia wie in den Nomoi; und es ist letztlich immer der platonische Idealstaat. Denn auch der „Gesetzesstaat“, welcher weit deutlicher zum gegenwärtigen Staatsrecht hinüberleitet, ist ja ebenso „schwer zu verwirklichen“, wenn nicht real unmöglich, wie die Ordnung, welche bereits in der Politeia geschaut, entwickelt wird. In der Politeia erwächst das staatsrechtliche Denken zunächst noch ganz ursprünglich aus der Philosophie, aus der Erkenntnislehre des Philosophen: Ausgangspunkt ist die „große platonische Wende“, vom Erkenntnisobjekt zum Erkenntnissubjekt: dem Menschen, der allein „erfassen“ kann – eben (nur) mit seinen Kräften, in seinem Leben. Damit ist die Wende eingeleitet von der Erkenntnislehre zur Ethik, vom Schauen zum „handwerklichen Können“ des Sokrates, zum „Handeln“. Und es folgt darin sogleich die zweite platonische Wende: vom „ethisch strukturierten“, daher moralisch handelnden Menschen zum „ethisch organisierten“, 68 In diesem Sinne werden i. Folg. zum Staatsrecht der Gegenwart nur allgemeinere Referenzen geboten, nicht vertiefende Nachweise.

II. Politeia und Nomoi: Von der Idealvorstellung zur Idealstaatlichkeit

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moralisch handelnden Staat: In diesem seinem größeren Bild wird gewissermaßen, „re-flektierend“, wiederum der Mensch deutlicher erkennbar, in etwas wie einer großen erkenntnistheoretischen Wechselwirkungslehre. Dieser ersten „genuin idealstaatlichen Konstruktionsstufe“ begegnet der Betrachter bereits in Platons Politeia.

2. Der Idealstaat: „Wirklichkeit – wie sie sein soll(te)“ In der Politeia „kommt der Philosoph von oben“: sein Staat „wird aus Grundsätzlichkeit“ und „in Prinzipialität“. Also hat sich zuallererst der Gegenstand staatlichen Ordnens, die Realität, auszurichten an dem „fern erkannten Ideal“. Die Wirklichkeit wird so gesehen und „unterstellt“, im wahren Sinne, wie der Mensch als Gegenstand der Erkenntnis erfasst worden ist: Wirksam sind im Staat der Politeia, wie im Menschen, die Kräfte der Intellektualität, des Macht-Willens, des Erwerbsstrebens. Sie alle gilt es zu „reinigen“ in rechtlichen Formen, sodann in ihrer Zwangsmächtigkeit einzusetzen in der Ordnung des Staates. Dieser beugt die Wirklichkeit unter seine rechtlichen Kriterien: Der Idealstaat gestaltet die Realität, bringt sie geistig, darin erst „für den Menschen als wirklich“, hervor – außerstaatliche, außerrechtliche Realität wird damit irrelevant. Der Idealstaat wird in der Politeia errichtet als Agrarstaat der gleichen Grundbesitzer, Sklaven (Landarbeiter), Erwerbstätigen in Handel und Gewerbe, in harter Bevölkerungspolitik durch Migration erhalten und in Vermögensbegrenzung sozial befestigt. Der Idealstaat ist – daher – der totale Kontrollstaat: Über Ehe und Familie, Erziehung und Bildung, über Kindergärten zur allgemeinen Schulpflicht, Sport für beide Geschlechter, gemeinsame Feste und Mahlzeiten. Die Politeia liest sich in all dem wie eine Beschreibung (nicht nur) von Staatsaufgaben, sondern (vor allem) eines „gesellschaftlichen Entwicklungszustandes“ einer bestimmten Gegenwart.

3. Von der Politeia zu den Nomoi: Vom geschauten Idealstaat zum organisierten Idealstaat der Gesetze Das Besondere, in Blickpunkt wie Ziel, der hier versuchten Sicht liegt nun darin: Sie geht von der These aus, dass die Nomoi für den gegenwärtigen staatsrechtlichen Betrachter nicht nur eine Fortsetzungslektüre der Politeia sein sollten, vielleicht gar lediglich eine resignative Abschwächung des philosophierenden Schwungs des früheren Werkes, im Auslaufen eines politisch enttäuschten Lebens. Selbst – und gerade – wenn es so wäre, hätte heute Platon mit seinen Gesetzen dem Staatsrecht der Gegenwart weit mehr noch zu sagen als in der Politeia. Eine dort entwickelte Rechts-

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C. Die Nomoi als „Staatsrecht“

Philosophie des „Gerechten“ nimmt „im Grundsatz“ die gegenwärtige Demokratie an, wie jede entwickelte Staatsform. Sie folgt diesen platonischen Dialog-Spaziergängen wie Stendhals Promenades dans Rome – aber rasch kehrt sie dann in das geschäftige Treiben ihrer Volkspolitik zurück, in deren politischem Lärm agierend wie das profanum volgus des Horaz. Sie flieht nicht mit dem römischen Dichter in dessen Sabiner Berge. Der demokratische Staat der Gegenwart kann aber seine „lauten“ rechtlichen Lösungen, die er „transparent“ nennt, nicht in einer idealen bukolisch-agrarischen Realität suchen; daher kann und wird er sie, weit eher und näher, finden im Blick auf die Nomoi des Philosophen. Denn in ihnen hat sich eben (bereits) eine weitere Wendung in dessen Denken vollzogen: von der geschauten, der akzeptierten, aber immer noch (erst) rechtlich zu gestaltenden Realität hin zu Ordnungsvorschlägen für einen Idealstaat der entwickelten, damit auch der heutigen „späten“ Demokratie. Sie muss erlebt werden – sie wird gegenwärtig erlebt – und gestaltet, so wie es Platon versucht hat „ganz konkret“, eben erst in seinen „Gesetzen“.

III. Die Nomoi als Staatssystem – und als Einzelwege des Staatsrechts 1. Die Wendung zum „gesetzlichen System“ Dass sich in den Nomoi ein platonisches Denken „zu Ende entwickelt“ hat, ist seit langem erkannt und gerade neuerdings beschrieben worden. Der Weg von den „Mächten“ zur „Ordnung“ ist durchschritten, von der „Politik“ zum „Recht“ im Staat. Die Nomoi sind die „Stadtgötter“, welche dem Sokrates auf seinem Gang zum Tode begegnen, in der Apologie. Doch sie verlangen kein Opfern im Sterben, sie befehlen nur ihr dauerndes Gelten. Im Gesetz wird die Ethik des platonischen Individualismus zum rechtlichen System hinauf geführt, in Breite und Tiefe hinein. Die ganze virtuelle Systematik, die im Gesetzesbegriff als solchem liegt, die erst im deutschen Konstitutionalismus – einem eben doch, immer mehr, „Idealismus“ – langsam „hochgedacht wurde in die Verfassung hinein“, in Rechtsstaatlichkeit69 : sie liegt schon, ganz einfach und selbstverständlich, den Nomoi zugrunde, damit dem Staat. Der Staat als Gesetz, als Norm – damit als System, das wurde dann mit Kelsen70 wiedergeboren. In der systematischen Anordnung der 12 Bücher, eben in dem großen GedankenGang der Nomoi, enthüllt sich dem Betrachter bereits eine grundsätzliche Nähe zum Staatsrecht der Gegenwart – und auch schon zu dessen Grund-Formen. Sokratisches 69 S. dazu Stern, K., Das Staatsrecht der BRD, Bd. 5, 2000, Die geschichtlichen Grundlagen, S. 214 ff.; Leisner (FN 1), S. 27 f. 70 Überblick bei Isensee, J. (FN 32).

III. Die Nomoi als Staatssystem – und als Einzelwege des Staatsrechts

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Staunen weckt darin bereits die Einteilung als solche, aber auch deren inhaltliche Auffüllung durch einzelne Ordnungsmaterien. Im Vergleich zur normativen (Verfassungs-)Ordnung des gegenwärtigen Staatsrechts, wie zu dessen Schwerpunktbildungen in einzelrechtlichen Bereichen, zeigen sich hier erstaunliche Nähen aber auch Fernen.

2. Und die Gesetzes-Inhalte im Einzelnen Die einzelnen Aussagen Platons zu den Gesetzesinhalten, Ratschlägen, Gesetzes (ent)würfen, Thesen aber will die vorliegende Betrachtung vor allem prüfen. In ihnen gerade sollen sich Nähen und Fernen damaliger und heutiger demokratischer Ordnungen deutlich zeigen; hier kann ja etwas gezogen werden wie Lehren, ja praktische Folgerungen aus dem Denken des Größten im Staatsrecht, für dessen heutige größere und kleinere Gegenwart. Dabei müssen die damaligen wie die heutigen Blickpunkte in ihrer Unterschiedlichkeit stets bewusst bleiben, im Einzelvergleich: Einst wie jetzt geht es um Spannungen, wie sie Betrachtungen in Staatsphilosophie und Staatslehre, von dort zum Staatsrecht wesentlich bestimmen: - zwischen rechtstatsächlicher jeweiliger Realität und staatsrechtlichem Gestaltungsauftrag, letzlich Gestaltungswillen, Gestaltungsmächtigkeit, - gerade im spezifischen Zusammenhang der jeweiligen staatsrechtlichen Rechtsfigur, Rechtsinstitution, - mit Bezug auf das Gesamtsystem der platonischen wie der gegenwärtigen Staatsordnung, dabei aber schließlich und nicht zuletzt: - im Blick auf die Demokratie: auf die staatsrechtlichen Bekenntnisse der Gegenwart zu ihr, wie auf das staatsrechtliche Leiden des Platon an ihr, beides eben unter dieser Volksherrschaft.

D. Die „Nomoi“ in einer Gesamtbetrachtung und das Staatsrecht der Gegenwart I. Das staatsrechtliche System der Nomoi 1. Die Gegenstände der zwölf Bücher Der Gang durch die Nomoi führt durch den Inhalt eines Lehrbuchs des Staatsrechts, den Entwurf einer Verfassung, den uns die Historia Magistra bietet. Sie wird darin zur platonischen Lehrerin des Rechts, nicht nur in einzelner idealstaatlicher Inhaltlichkeit, sondern sogar bereits in juristischer Formalität, geordnet in den 12 Büchern der „Gesetze“. Aufgebaut präsentieren sich die Nomoi wie in einem staatsrechtlichen Inhaltsverzeichnis: - Die Einführung (Buch I) nimmt die Idealstaatlichkeit der Politeia auf: Staatsentstehung aus den Individualkräften der menschlichen Tugenden, deren rechtlicher Definition und Bewahrung, sodann ihrer Entwicklung in Bildung (Buch II). Es ist dies ein Staat der ganzheitlichen, der System gewordenen Paideia. – Staatsrechtliche Grundkategorien (Buch III): Regierungsformen in Entfaltung und Niedergang, also volle Staatsformenlehre. Höchstrangige Staatsgrundsätze, „Republikdevise“ – „Gesetzespräambeln“. - Staatsgründung in Dauer auf das Gesetz (Buch IV), dessen Grundsätze, Formen und Systematik. - Gesetzgebungsmaterien (Buch V), nach ihrer staatsgrundlegenden Bedeutung. - Staatsorganisation (Buch VI), Ämter, Ehe als Staatsorganisation. - Kindererziehung (Buch VII), als Aufgabe dieser (Staats-)Organe. - Gesellschaftliche (Bürger-)Kontakte – die wichtigsten: Wettbewerb, Geschlechterbeziehungen, Nachbarrecht (aus Eigentumsverteilung) (Buch VIII). - Strafrecht (Buch IX) – Staatsschutz, einschließlich des Staatskirchenrechts (Gotteslästerung). Daraus folgend - Religion (Buch X) – ihre theologischen Voraussetzungen als Grundlagen von Ordnung, Recht, Gerechtigkeit in den Beziehungen zwischen den Bürgern. - Bürgerlich rechtliche Rechtsbeziehungen (Buch XI) – in ihrer staatsordnenden Bedeutung.

I. Das staatsrechtliche System der Nomoi

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- Überwachungsbereiche – „innen“ und (nach) „außen“ (Buch XII), durch die „Wächter als Weise“.

2. Der Staat als geistiges Ganzes entstanden und im Werden – das erste und zweite Buch Die Nomoi zeigen platonisches Staatsdenken in einer Ganzheitlichkeit, wie sie sich bis in die Aufklärung erhalten hat: als eine einheitlich von Philosophie durchdrungene Materie, in welcher dieses Staatsrecht zu einem Teil der Rechtsphilosophie wird, ja in Methode und Inhalten – zu Philosophie. Diese gewissermaßen staatsdurchdringende, staatsprägende, ja staatskonstituierende Philosophie bleibt aber als solche unbenannt, ja ungenannt. Sie erscheint nur in ihrem „Werden“ in der Paideia, und ganz am Ende der Nomoi in jener Weisheit der Staatslenker, welche als Wächter mehr postuliert als definiert werden. Diese „philosophische Ganzheit Staat“, der „Staat als Körper-schaft“, erwächst aus dem Menschen, aus den individuellen Kräften seiner Bürger, wie es das 1. Buch beschreibt und zugleich lehrt. Von diesem Menschen kommen seine Ordnungsmaterien, seine Aufgaben; und es sind diese selben Menschen, die über deren Erfüllung wachen, die Menschen als Wächter – Wächter der Menschen, als Form-Gestalter des Staates. Sie sorgen dafür, dass sich dieser Staat immer wieder, laufend „aus den Menschen entwickelt“. Dies ist der wahrhaft menschliche Staat – der Staat aus Menschen und als Mensch – als Über-Mensch in einem tieferen Sinn. Ganzheitlich ist er wie der Mensch selbst (es sein soll) – ganz aber im Werden. Dies ist das gegenwärtige Verfassungsdenken in einer Höchstform, wie es die Menschenwürde71 sucht, die in der „Würde des Staates“ sich vollendet. Hier wird heute die Zweiheit von Mensch und Staat zwar gesehen, bei Platon aber wird dies nicht als grundrechtliche Spannung überbrückt, sondern überhöht: Staat als Organismus, als ein Werdendes aus seinen Menschen und den Aufgaben, die sie (sich) stellen. Das sind die platonischen Nomoi im Aufbau des einen, des Idealstaats, der sich selbst sucht in diesen zwölf Büchern. Im Ideal ist er dann so ganz Einer wie griechische statuenhafte Gestalten, ein „gebildeter Staat aus Menschen“ – durch Menschen.

71

Für die grundgesetzliche Ordnung ergeben sich in diesem Sinn verfassungsdogmatisch vor allem zwei Anknüpfungspunkte: Einerseits Art. 1 – Menschenwürde als „Wesenskern des Menschseins“; zum anderen „Menschrechte“ in ihrem „Menschenrechtskern“, über Art. 1 und 79 Abs. 3 GG. Zur „menschenrechtskonformen Auslegung“ s. näher Sommermann (FN 9), Rn. 137 f.

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D. Die „Nomoi“ in einer Gesamtbetrachtung

3. Von Politik(wissenschaft) über Allgemeine Staatslehre zum Staatsrecht – das dritte und vierte Buch a) Der Aufbau des platonischen Werkes zeigt diese Ganzheit seines Staates in der Anordnung seiner, der „Staats-Materien“, in einem stufenförmigen Vorgehen staatsphilosophischen Denkens. Zugleich bedeutet dies ein Fortschreiten in den Methoden, wie sie heute in „Politik und Öffentlichem Recht“ ausdifferenziert sind72: von Politologie über Allgemeine Staatslehre zum (immer stärker rechtstechnischen) Staatsrecht im eigentlichen Sinn. In der Gegenwart gehen diese Materien noch immer ineinander über, in vielfältigen Verschlingungen, trotz hochschulorganisatorischer Trennungen nach Lehrstühlen und Studiengängen. Von Platon werden sie dagegen, ganz selbstverständlich – „unkritisch“ würden manche es nennen – als Einheit gesehen: Die ersten beiden Bücher der Nomoi gehen aus von den Kräften, aus denen heraus Politik zum Staat zusammen-, besser: emporwächst. Hier erfolgt die Grundlegung der Bedeutung jenes Vorganges der Paideia, der „Politischen Bildung“, wie ihn sich alle wissenschaftliche Politologie heute in ihrer Theorie, vor allem aber in ihrer Praxis, als erste und wichtigste Aufgabe stellt. Die Gegenwart leitet dabei allerdings den „Staatsbezug“ dieser ihrer (politischen) Erziehung ab aus deren primärer Orientierung an der demokratisch-gesellschaftlichen Gemeinschaft. Bildung gewinnt damit als solche eine die konkrete politische Ordnung tragende Bedeutung, wie ihr dies in den Gedankengängen der Nomoi nicht eigen ist. Die Gegenwart stellt sodann diese Gemeinschaft dem Individuum gegenüber, für Platon wächst sie (immer noch) aus diesem heraus; Platon muss ja eine „Demokratiebefestigung durch politische Bildung“ eher kritisch sehen, schon in seiner sokratischen Frontstellung gegen alle Sophistik. b) Der nächste wissenschaftliche Methodenschritt folgt in den Nomoi sogleich im Anschluss an, ja in Fortsetzung dieser politologischen Gedanken: in einer Staatsformenlehre: Das dritte und vierte Buch bietet eine solche in einer Form von „normativer Systematik“, wie die gegenwärtige Theorie dies nennen würde. Im dritten Buch wird der Idealstaat auf „Staatsgrundsätzlichkeit(en)“ gegründet, im Sinne einer Prinzipienlehre73. Im vierten Buch folgt eine platonische Theorie der Rechtsstaatlichkeit, der dauernden Fundierung des Staates auf das Gesetz74. In die Gegenwart übersetzt begegnen hier die beiden Stufen der Allgemeinen Rechtstheorie, in ihren Ausprägungen der Allgemeinen Rechtslehre und der Allgemeinen Staatslehre, mit deren Zentrum: der Lehre von den Staatsformen, heute konzentriert auf die Demokratie. Darin vollzieht sich, methodisch gesehen, der Übergang politikwissenschaftlichen Denkens in die Normativität des Rechts: Erreicht wird nun die

72 73 74

Vgl. dazu Leisner (FN 1), S. 35 ff. Leisner (FN 1), S. 86 ff. Näher Seubert (FN 7), S. 475.

II. Staatsaufgaben und Staatsorganisation – Staat und Gesellschaft

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Allgemeine Staatslehre im heutigen Verständnis75. Dies vollzieht sich in den Nomoi bereits in normativen Begrifflichkeiten, die deutlich an Kelsen erinnern. Rechtliche Ordnungskategorien rücken in den Mittelpunkt, geistige Räume und Instrumentarien werden geboten, in und mit denen nun der Staat gebaut werden kann, in seinem eigentlichen, in seinem Staats-Recht. c) Methodisch vollzieht sich so in den Nomoi ein Übergang, der die „Stufenqualität“ der Abfolge eines Denkens in Politologie, Staatslehre und Staatsrecht zum Ausdruck bringt, sie in einer Einheit aber aufrecht erhält, in einem gegenwärtigen „Sich-Durchwirken“. Eine geistige Mahnung ist dies für eine Gegenwart, in der diese methodische Einheitssicht verloren zu gehen droht und eine ganz andere Stufung zugrunde gelegt wird: Heute verbreitet sich die Vorstellung, für die höhere, staatsgrundsätzliche Stufe einer „Staatsform in Rechtsstaatlichkeit“ gelte bereits das „Es ist erreicht“ der (optimalen) Demokratie; die Stufe einer politischen Fundierung derselben wird auf dienend-befestigende Aktivitäten gegenüber dieser „Demokratie“ beschränkt: Politologie als „Magd der Demokratie“; und schließlich wird diese Volksherrschaft gegenwärtig (fast nur mehr) staatsrechtlich entwickelt in einem Primat der Staatsorganisation, von Wahlen und Gewaltenbalancen. Der geistige Zusammenhang der Disziplinen des „Idealen Staatsrechts“ löst sich damit auf in Staatsorganisationstechnik. Sollte da nicht ein Wegweiser stehen: Zurück zu den Nomoi, zu ihrer Einheit von politologischem, staatstheoretischem und staatsrechtlichem Denken?

II. Staatsaufgaben und Staatsorganisation – Staat und Gesellschaft 1. (Ideal-)Staatsrecht bei Platon: Staatsaufgaben, nicht Staatsorganisation – das fünfte und sechste Buch In einer geradezu lehrbuchhaften Geschlossenheit, in der Sicht heutiger staatsrechtlicher Dogmatik, schreiten die Nomoi im fünften und sechsten Buch fort: Von den Kategorienbildungen der vorhergehenden Ausführungen führt der GedankenWeg nun zu den Gesetzgebungsmaterien des Idealstaats, von dort erst zur Staatsorganisation, welche diese Aufgaben dienend zu erfüllen hat; und dies letztere lediglich als eine sekundäre Folge. a) Darin liegen tiefgründige, zugleich aber allgemeine Mahnungen an die Staatsrechtsdogmatik der Gegenwart: Dem Buch 5 liegt die Grundthese einer „Staatlichkeit aus Staatsaufgaben“ zugrunde, nicht aus der Staatsgewalt und deren (etwa gar unbegrenzten) Mächtigkeiten und Möglichkeiten. Eine problembelastete geistige Denkstruktur der Gegenwart tritt damit bei Platon zurück, während sie heute 75

Leisner (FN 1), S. 38 ff.

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D. Die „Nomoi“ in einer Gesamtbetrachtung

geradezu als eine Selbstverständlichkeit erscheint: die Vorstellung von der „Beliebigkeit der Staatsaufgaben“, eingeschränkt gerade noch in den angeblichen, nie aber näher überzeugend begründeten „notwendigen Staatsaufgaben“76. Staat – das bedeutet der Gegenwart doch ein Wesen, dessen rechtliche Souveränität gerade darin liegt, dass es sich seine Aufgaben und sodann, natürlich, die Instrumente zu deren Erfüllung selbst wählt, sie gewichtet, ja sie bereits bereitgestellt hat, noch bevor Staatsaufgaben ihren Einsatz erforderten: Es ist dies der Staat als der sich allmächtig selbstschaffende rechtliche Gott auf Erden. Die Vorstellung von der „vorgegebenen Staatsaufgabe“ ist seit der Französischen Revolution untergegangen im rechtlichen Machtrausch der „unbegrenzten Möglichkeiten des omnipotenten Volkssouveräns“ und seiner Staatsorganisation; aus ihnen heraus wählt er, in voller Freiheit, seine Staatsaufgaben. b) Zwei schicksalhafte Folgerungen daraus haben das Staatsrecht der Gegenwart geprägt, wie sie aber den Nomoi noch völlig fremd waren: - Die Staatsaufgaben wurden weitestgehend in die Kataloge der Gesetzgebungsmaterien verbannt, dort zu rechtlichen Problemreservoiren abgewertet, welche dem Belieben des freien organisatorischen Machtträgers, der jeweiligen Mehrheit, überantwortet blieben, damit ständigen Änderungswünschen überlassen. Dies war letztlich auch die Folge, jedenfalls in Deutschland, eines organisatorischen Staatsaufbaus in Stufen von Kommunalisierung und Föderalisierung: Staatsaufgaben wachsen nicht aus dem Wesen des Staates als „Höherer Menschengestalt“ und „Menschenerzieher“ heraus, sondern aus der jeweils ausgeübten „Macht“. Damit ergeben sie sich aus den stufenmäßig geordneten Kompetenzen77 der Staatsorgane, aus einem Staatsorganisationsrecht, das diese „zu ordnen“ hat – als seine einzige, zentrale Aufgabe. - Diese relativierende Abstufung der Staatsaufgaben im gegenwärtigen Staatsrecht – fundamental unplatonisch – erwächst, wie bereits angedeutet, aus einem gegenwärtigen „Primat des organisatorischen Staatsrechts“. Dieses muss sich dann allerdings notwendig Sorgen machen um eine Freiheit des Einzelmenschen. Sie droht sich ja unter dieser Staatsorganisation ebenso zu verlieren wie die Bedeutung der Staatsaufgaben, deren Ausrichtung auf Ordnung menschlicher Freiheit. Immerhin soll aber heute der (platonisch) „dienende Staat der Staatsaufgaben“ (doch noch) erhalten, vielleicht nur mehr in Bruch-Stücken gerettet werden, in den Schutzbereichen der Freiheitsrechte: Von den Reservoiren („Reserven“) der Staatsaufgaben zu den Reservaten der Grundrechte. Diese müssen daher heute aufgewertet werden in ihrer Schutzwürdigkeit zu hohen, höchsten Staatszielen. Doch das begegnet einer schweren immanenten Problematik: Wesentlich ist Grundrechten ihre Abwehrfunktion gegenüber der Staatsgewalt, wider eine in 76

S. f. Viele Gramm, Chr., Privatisierung und notwendige Staatsaufgaben, 2001; Schoch, F., HStR3 2005, § 37, Rn. 30. 77 Zum Zusammenhang zwischen Aufgaben und Zuständigkeiten s. Isensee, J., HStR IV3, § 73, Rn. 19 ff.

II. Staatsaufgaben und Staatsorganisation – Staat und Gesellschaft

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Staatsorganisation vordringende Staatsmacht. Diese mag aber durch Bürgerfreiheit noch so sehr „rechtstechnisch gebunden“, ja gefesselt erscheinen – sie bleibt wesentlich Macht. Und damit gilt heute: Das (angeblich) höchste Staatsziel der Bürgerfreiheit definiert sich eben doch aus den Bindungs-Zuständen der Staatsmacht, damit aber aus dieser letzteren. Wo Staatsorganisationsrecht dergestalt primärer Gegenstand staatsrechtlichen Gestaltens ist, immer mehr dazu wird, da muss sich der Freiheitsraum notwendig zurückziehen, ständig und grundsätzlich; denn ein eigentlicher wertmäßiger Selbststand lässt sich für ihn nur schwer mehr definieren. Das zeigen verstärkte Versuche in den letzten Jahrzehnten, eine „Privatsphäre des Bürgers“78 (gerade noch) zu sichern, vor allem als ein allerletztes Reservat gegenüber der „immer stärkeren Ordnungsmacht des Staates“. Was dies dann noch wert sein kann, gegenüber einer omnipotenten Informations- und Kontrolltechnik der organisierten Staatsgewalt – Spionageerschütterungen „aus dem Land der Freiheit (!)“ haben es offengelegt. c) Der platonische Idealstaat ist dem gegenüber eine Staatsmacht, die als solche gar keine Macht sein muss, ja nicht sein kann: Sie ordnet „aus der Gesellschaft, aus den Menschen heraus“, nicht, wie das Staatsrecht der Gegenwart, aus einem Mehrheits-Machtwillen „in diese hinein“, sie immer weiter zurückdrängend. Das 6. Buch zeigt deutlich diesen „staatsrechtlichen Primat der Aufgabenerfüllung aus der Gesellschaft heraus“, damit verbunden den „Primat der menschlich-gesellschaftlichen Staatsorganisation“. - Die Ämter79 sind bei Platon ein Schlüsselbegriff, es sind dies aber nicht (irgendwelche) „Machtpositionen“: Diesen Begriff gibt es bei ihm nicht, weil es „Macht“ nicht geben kann, wo „Erziehung als Aufgabe“, „zu etwas“, alles bestimmt. Die Versuche, Ämter zu definieren, höher zu potenzieren im Staat, sie von dem Begriff der Machtträgerschaft, damit von ihren Inhabern zu lösen – sie sind im Staatsrecht der Gegenwart nur mehr letzte Versuche einer Rückkehr zu einer platonischen „Erziehung als Pflicht“80, nicht als „Macht“, als „Gewalt“, die allenfalls noch vor einem alles erlaubenden Vergnügen resigniert. Diese Ämterdogmatik ist in der Gegenwart bereits grundsätzlich gescheitert in der zunehmenden Auflösung des Beamtenrechts81 in einem Beschäftigungsrecht. Modernes 78 In diesem Sinn orientiert sich die Rspr. des BVerfG gerade in neuester Zeit, vgl. etwa E 90, 255 (260); 120, 180 (198 f.); s. auch FN 34. 79 Zum Amtsbegriff aus staatsgrundsätzlicher Sicht vgl. neuerdings Isensee, J., Gemeinwohl und Öffentliches Amt, Vordemokratische Fundamente des Verfassungsstaats, 2013. 80 Wie sie insbesondere den Eltern obliegt (BVerfGE 24, 119 (143)), und zwar als „Sorge für das körperliche Wohl und die seelische und geistige Erziehung“ (BVerfGE 93, 1 (17); BVerwGE 116, 359 (361 f.)). 81 Als Beispiele seien hier nur genannt: Die laufende Praxis der faktischen Übernahme von Tarifabschlüssen auf den Beamtensektor, rechtliche Gestaltungen in neuen Formen finanzieller Sicherung der Altersvorsorge, oder die einengenden Auffassungen zu den „hoheitlichen Befugnissen“ im Sinne des Art. 33 Abs. 5 GG, insb. durch Einsatz von Angestellten als Lehrern – in der Paideia…

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D. Die „Nomoi“ in einer Gesamtbetrachtung

Staatsrecht bemüht sich, in der Spannung eines ständigen Machtstrebens durch Gewinn und einer Freiheitssuche in einem quietierenden Ruhen und Genießen, die große Einheit der platonischen Menschen-Bildungs-Dynamik irgendwie doch noch zu erhalten, ja neu zu schaffen. Ob es gelingen kann? Für den Platon der Nomoi war „alles Amt“, bis hin zu den Eltern – so wie der Landesherr dem Wohlfahrtsstaat noch wie einer Familie vorstand. Staat als Amt, nicht als Macht: eine Mahnung – oder bereits eine Unmöglichkeit im ewigen Krieg der Interessen? Oder wäre Beruhigung, Befriedung hier nicht eine höhere, eine „platonische“ Stufe von Pazifismus? - Dieses 6. Buch vollzieht den entscheidenden Übergang vom „Staat in die Gesellschaft“, wie ihn die Demokratie wünscht, aber in deren Einung nicht über Wahlen, in Machtübertragungen, sondern in den zu erfüllenden Aufgaben: So wird dann die Ehe als Form der Staatsorganisation erkannt, als solche geordnet, hin auf Aufgabenerfüllung für den Menschen und darin für die Gemeinschaft. Dies war bereits der tiefere Sinn der rechtlichen Institutionalität, hier: dieses „(privatrechtlichen) Instituts als (öffentlich-rechtliche) (Staats-)Institution“82. Hier bildeten einst diese beiden nun im Staatsrecht aufgespaltenen Begriffe noch eine Einheit: im katholischen, staatskirchenrechtlichen Fahneneid (Sakrament) der Ehe, von Mensch zu Mensch in ihrer Gemeinschaft. Die Verbindung von Amt und Ehe ist selbstverständlich für das platonische Denken in Paideia. Sollte dies nicht auch Mahnung sein für eine Gegenwart, in der sich die immer weiter zurückgedrängte elterliche Erziehung fortsetzen, „vollenden“ soll im Erziehungsstaat der Demokratie83 ? Platon hat das Gegenteil gewollt: Nicht Übernahme der Aufgaben der Ehe durch die Gemeinschaft, sondern die Ehe als eine Art von Amtswalterschaft für diese in der Erziehung und Bildung der jungen Bürger. Die Fragestellungen waren damals dieselben, wie heute; nur führen die Wege Platons und der gegenwärtigen Paideia in entgegengesetzte Richtungen: Nähe der Probleme, aber Lösungen, die sich weit voneinander entfernen. Damals: Die „Ehe als Staat“ – heute: „Der Staat, die Gemeinschaft als Ehe-Ersatz“, jedenfalls in der Erziehung, vielleicht noch allgemeiner in einem „Leben in irgendwelchen Gemeinschaft(en)…“.

82

Diese Entwicklung war bereits angelegt in der Lehre von der „Institutionalisierung der Grundrechte“ (vgl. Robbers, G., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 6 Rn. 1 ff.), welche schon zur Weimarer Zeit (vgl. Art. 119 ff. WRV) zur Unterscheidung privatrechtlich-gesellschaftlicher Rechtsinstitute und öffentlichrechtlich-staatlicher Institutioneller Garantien geführt hatte (vgl. Schmitt, C., Freiheitsrechte und Institutionelle Garantien, 1931). 83 Zum Verhältnis der beiden Verantwortungsbereiche vgl. grds. Robbers (FN 82), Rn. 143 ff. und Rn. 238 ff. Die neuen Entwicklungen der Frauenemanzipation und der Frauenarbeit lassen diese Unterscheidung immer mehr verschwimmen – übrigens in einem Sinn, der in Platons frauenfreundlicher Grundeinstellung ebenfalls angelegt ist, und im Begriff seiner Ehe als staatlicher Amtswalterschaft.

II. Staatsaufgaben und Staatsorganisation – Staat und Gesellschaft

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2. „Gesellschaftliches Leben“ – das siebte und achte Buch Im gegenwärtigen Staatsrecht ist ständig von der „Gesellschaft“ die Rede, auf welcher der Staat aufruhe. Als solche ist sie aber für das Recht eben letztlich doch nur ein staatsferner Bereich84. Rechtlich bleibt er undefinierbar, in seinen einzelnen staatsrechtlich bedeutsamen Bereichen nicht einmal näher zu begrenzen oder auch nur zu benennen. Für das Staatsrecht ist „die Gesellschaft“ etwas wie ein geheimnisvoll sich selbst ausfüllender und ordnender Raum. Platonisches Denken sieht dies völlig anders. Die entscheidenden gesellschaftlichen Entwicklungsbereiche sind als solche Räume der Staatlichkeit, in diese ganz selbstverständlich einbezogen, ohne dass dies irgendwelcher grundrechtlicher Schrankensicherungen bedürfte. In diesem Sinn ist Idealstaat ein totaler Staat – aber dies kommt eben nicht aus der Staatsgewalt heraus, entwickelt sich nicht vom Staat her: dieser letztere wird vielmehr bei Platon aus gesellschaftlichen, im heutigen Sinn privaten Kontakten heraus konstituiert. Solche Verbindungen werden, eben dadurch, „öffentlich“, aber nicht nur überwachungs-, sondern auch förderungs-, gestaltungsfähig. Wenn so Geschlechterbeziehung, Kindererziehung, Wettbewerb, Eigentumsverteilung, wenn das gesamte „nachbarliche“ Zusammenleben der Bürger Ordnungsraum, besser: Gegenstand der Idealstaatlichkeit wird, im 8. Buch, so ist da, letztlich und eigentlich „kein Staat mehr“, da ist nur eine große Öffentlichkeit. In ihr vollziehen sich alle diese menschlichen Kontakte. Den Staat gehen sie bei Platon nicht nur dort etwas an, wo sie ihn in seinem „ordre public“ tangieren, im Sinne etwa der „öffentlichen Sittlichkeit“ bei Geschlechterbeziehungen, mit Blick auf „künftige Generationen“85 in der Erziehung, oder in der „Wirtschaftsordnung“, in deren Bedrohung durch Exzesse des Wettbewerbs. Diese gesamten Vorgänge werden im Idealstaat zu einem „öffentlichen Leben“, in Vorbereitung, Durchführung, Überwachung – aber es bleibt dies zugleich ein solches der Bürger, „privat im Sinne der Gegenwart“, weil eben nicht „organisiert vom Staat“, sondern ablaufend in der Gesellschaft, lediglich überwacht von Organen der Gemeinschaft, nach heutiger Lesart von deren organisatorisch verfestigten Einheiten: den Amtsträgern. Damit ist der „Wächterstaat“, dieses Schreckgespenst für jene, welche in ihm „totale Staatlichkeit“ fürchten86, im Grunde nichts anderes als eine private, aber 84 Eine positive Bestimmung findet sich in den verfassungsrechtlichen Erläuterungswerken nicht. Für zentral bedeutsame Bereiche – wie etwa die Definition des Eigentums – blieb hier lange Zeit nichts als der Rückgriff auf „gesellschaftliche Anschauungen“ (vgl. zum Eigentum BVerfGE 1, 264 (278); 65, 196 (209)) – wie sie das Zivilrecht eben rezipiert hatte. 85 In diesem Sinn wird der Schutzauftrag des Staates für die „künftigen Generationen“ (Art. 20 a GG) zu etwas wie einem global-undifferenzierten Überwachungs-, ja Regelungsauftrag für eine unbestimmte Zukunft – noch dazu in einem rechtsstaatlich bedenklich unbestimmten Sinn. Dies wird bisher im Verständnis dieser Vorschrift zu wenig beachtet. 86 Zur Kritik Poppers vgl. Schlette, M., Der Zauber Poppers, 2001, S. 61 ff.

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D. Die „Nomoi“ in einer Gesamtbetrachtung

rechtlich „veröffentlichte“ und überwachte Gemeinschaft. Die Nomoi sind nicht eine Idealisierung finsterer Polizeistaatlichkeit, sondern die Erkenntnis der „öffentlichen Bedeutung des Bürgerverhaltens“. Das alte Ius publicum findet zurück zu seiner früheren Bedeutung als „Öffentliches, als veröffentlichtes Recht“: „quod ad publicam utilitatem spectat“, ausgerichtet auf Rahmendaten gesellschaftlicher Nützlichkeit für das Wohlergehen des Einzelnen. Dies ist die platonische Wendung des „marxistischen Absterbens des Staates“: ein voll in Menschenentwicklung, in ewiger Paideia Aller geordnetes Gemeinschaftsleben. Der „staatliche Zwang“, seit der Aufklärung die fixe staatsrechtliche Idee des modernen Staatsrechts, angesichts von Degenerationen einer niedergehenden Adelsund Kirchenherrschaft, einer absterbenden aristokratischen, später bourgeoisen Oberschicht, er ist bei Platon bereits aufgehoben in der menschlichen, vor allem der intellektuellen Entwicklungsgemeinschaft der Menschen. „Bürger“ sind diese nur insoweit, als sie sich abschließen müssen nach außen (Buch X), um sich in ihrem inneren Raum auf Vollendung hin entwickeln zu können, auf ein nicht zu erreichendes, stets aber „vor ihren Augen stehendes Ideal“ hin. Könnte dies nicht eine (mehr als) moderne Vision sein, eines „Staates aus der Gesellschaft und in ihr“, auf den hin die Demokratie mit ihren Mechanismen unterwegs ist – auf beschwerlichen Organisationswegen ihrer „Wahl(en)“, vielleicht gar auf Holzwegen?

3. Liberale Ordnungsabschwächung in gesellschaftlichen Rahmenziehungen – das neunte bis elfte Buch Die „Gesetze“ des Platon sind, wie bereits erwähnt, aufgebaut in einer geradezu lehrbuchhaften Systematik, welche in Methodik und Materieneinteilung weithin heutigem Staatsrecht entspricht, in philosophischem Denken allerdings stets ganzheitlich zusammengefasst. Dies wird auch in den Büchern IX bis XI durchgehalten, in denen nun spätere und auch heute noch herkömmliche Zentralmaterien des Öffentlichen, allerdings nicht des rechtstechnischen Verfassungs-Rechts, behandelt werden: Strafrecht, Buch IX, (Staats-)Kirchenrecht (Buch X) und – eben auch – Zivilrecht (Buch XI). Bedeutsam ist hier bereits die Reihenfolge: Sie zeigt einen Grundzug platonischer Idealstaatlichkeit, der sich in den der „entstaatlichenden Vergesellschaftung“ des Staatsrechts zu einem Öffentlichen Recht (vgl. 5.) einfügt, ihn gewissermaßen ausformt: Es ist dies eine erstaunliche Zurückhaltung, wenn nicht Abschwächung der Intensität des normativen Ordnens und von dessen Instrumenten. Erkennt man hier ein Gesamtkonzept, so kann es nur das einer „liberalen“ Grundeinstellung sein, bis hin zu dem, was eine solche ja auch im gegenwärtigen Staatsrecht charakterisiert:

II. Staatsaufgaben und Staatsorganisation – Staat und Gesellschaft

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eine Abschwächung, teilweise sogar Marginalisierung von Eingriffen zum Schutz einer öffentlichen Ordnung87. Hier erweisen sich verbreitete Vorstellungen von einer platonischen Idealstaatlichkeit als total durchorganisierter Wächterordnung als Ergebnis von (meist wohl politischen) Fehlleitungen. a) Genuin liberal gedacht ist schon der Ausgangspunkt im Strafrecht für dieses Öffentliche Recht (Buch IX). Nicht ein abgestuft sündenbestimmtes Vergeltungssystem wird hier vorgestellt, sondern eine psychologisierende, weithin geradezu kriminalmedizinische Grundkonzeption. Sie nimmt die Vorstellung vom Verbrechen als Krankheit auf, in Weiterentwicklung des sokratischen Verbrechens als Irrtum; in ihren Ergebnissen und Folgerungen geht sie aber weit hinaus über moderne Strafrechtsentwicklung vom Tat- zum Täterstrafrecht88. Hier wird das Vergeltungsstrafrecht, mit dem der Staat als Gott auf Erden an die Stelle des zürnenden Rächergottes tritt, nicht nur abgemildert in punktuell verstehender Einfühlung in den Täter; dieser wird vielmehr gesehen als eine ebenso bedauerliche wie letztlich natürliche Entartungserscheinung im Reich der Natur und damit eben auch der Menschen. b) Von diesem, letztlich überaus humanen, strafenden Ordnungsrecht führt der Weg unmittelbar – über Strenge gegen das Sakrileg89 – zu einer sehr weiten, überaus grundsätzlichen, religiös-fundierten Rahmenziehung für alle menschlichen Kontakte (Buch X); Entsprechendes findet sich in der Gegenwart in Grundsätzen eines Staatskirchenrechts, welche sich selbst die Demokratie in ihrer Staatsmoral zu eigen macht. Die erwähnte Liberalisierung setzt sich hier fort in einer allgemeinen „Psychologisierung des Gerechtigkeitsdenkens“ als Grundlage des Verhaltens der Menschen in der Gemeinschaft: Der Weg führt Platon, ausgehend vom Menschen und seiner „Seele“, zu einer Vorstellung von höherer Gerechtigkeit, damit zum Göttlichen. Nicht eine lastende Staatskirche ist es, die den Menschen von oben (fremd)bestimmt – er selbst findet über seine „Psyche“ den Weg in einen Himmel, wo jedem sein Platz angewiesen ist: Suum cuique in der Form einer Ewigen Gerechtigkeit. Das frühliberale „Jeder darf nach seiner Facon selig werden“ wird jetzt zum „Kann nur“, nicht im Sinne einer staatlich zu erzwingenden Toleranz90, sondern einer

87

Aus diesen (früh-)liberalen Grundvorstellungen hat sich ja die gesamte Grundrechtsbewegung seit dem 18. Jahrhundert entwickelt; sie tragen noch heute die verfassungsrechtliche Begründungspflicht jedes Eingriffs in eine „Freiheit“. 88 Entsprechend der neueren strafrechtlichen Entwicklung vom Tat- zum Täterstrafrecht, vgl. Jescheck, H.-H./Weigend, Th., Lehrbuch des Strafrechts, Allg. Teil § 7 III, 5. Aufl. 1996; Roxin, C., Strafrecht, Allgemeiner Teil Bd. 1, § 6, 4. Aufl. 2006. 89 Vgl. Nr. 856, was sich letztlich nur darin rechtfertigt, dass hier ein besonders schweres Attentat auf die Idealstaatlichkeit als solche begangen wird, auf diese als Trägerin ihrer „göttlichen Gerechtigkeit“ (Nr. 907). Zur Problematik grds. Isensee, J., (Hg.), Religionsbeschimpfung, Der rechtliche Schutz des Heiligen, 2007. 90 Diese ist hier nicht etwa auf religiöse Duldsamkeit beschränkt, wie dies von Anfang an das Staatsrecht geprägt hat, und noch heute den Toleranzbegriff charakterisiert, vgl. etwa BVerfGE 32, 98 (108); 41, 29 (51). Vgl. f. den „öffentlichen Unterricht“ BVerfGE 41, 65 (82 ff.); 93, 1 (23).

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D. Die „Nomoi“ in einer Gesamtbetrachtung

geradezu kosmischen Selbstverständlichkeit: „Liberalität als Staatsprinzip“ von oben wirkend, nicht von unten, vom Bürger ertrotzt. c) Im Privatrecht des XI. Buches, einer Behandlung, die hier wahrhaft die Bezeichnung „(Teil) eines Privaten Staatsrechts“91 verdient, nicht die eines sich vom Staat distanzierenden Privatrechts, werden sodann – wiederum durchaus liberal – nicht große Gemeinschaftsordnungen konzipiert, sondern nur einzelne, fast schon punktuell anmutende Grundregeln statuiert. Es sind dies alles Bereiche, in denen das idealstaatszentrale Individuum eben „aus sich heraustritt“, aber auch nur insoweit einer Ordnung bedarf. Diese erwächst wiederum gewissermaßen aus ihm selbst, aus seinem eigenen Streben und Handeln; da ist kein Regelwerk, das ihm aus höherer Vernunft, Gesetzlichkeit, Systematik oder gar Sakralität in seinem Bürgerverhalten auferlegt würde. Der Blick richtet sich nie nach oben, auf eine höhere iustitia commutativa oder gar distributiva; er ist stets „in die Horizontale gewendet“, zu dem Einzigen, das für den Liberalen rechtlich existiert, außer seiner unverwechselbaren Individualität: eben dieselbe auch der anderen, des gerade, ja zufällig Nächsten, mit dem zivilrechtlich Kontakt aufgenommen wird. Es ist dies dann eben jenes Zivilrecht, als ein ius quod ad privatorum utilitatem spectat, letztlich als ein Nützlichkeitsrecht, in einer typisch liberalen Zurückhaltung gesetzt und zu beachten. Die Nomoi sind in dieser Zivilrechtskonzeption kein Totalordnungsrecht, kein kodifikatorischer Code civil, der dem Bürger allenfalls noch in den von Revolutionären oder vom Imperator zugestandenen Räumen Luft ließe zum Atmen ihrer Freiheit. Diese Gesetze sind ganz und gar Ausdruck menschlicher Praxis, zusammengezogen in Gesetzen, im Geiste idealisierender Philosophie. Der späte Platon darf gerade hier nicht missverstanden werden als verbittert-enttäuschter, als gescheiterter Diktator des Rechts. Sein Gesetzgebungssystem führt nur in Räume wahrer menschlicher Freiheit, umhegt diese an gefährdeten Punkten mit Strenge und Belohnung – in Erziehung eben, in Paideia, nicht mit Staatsgewalt. Der Erziehungsstaat war Erfindung und Großtat des historischen Liberalismus. Platon, der Philosoph der Gewaltabschwächung, ja des Gewaltauslaufens in menschlichen Kontakten – er ist letztlich ein ganz großer Liberaler des Staatsrechts in seinen „Gesetzen“.

III. Wächterstaat? Nein: Staat als Aufgabe – das zwölfte Buch Dieser allgemeine Gang durch die Nomoi bestätigt, was bereits92 zum Verhältnis dieses späteren Werkes zur Politeia erkannt wurde: Die Wende der „Gesetze“ zu einem deutlicheren, ja bereits zu einem typisch staatsrechtlichen Denken bei Platon. 91

S. Leisner, W., „Privatisierung“ des Öffentlichen Rechts. Von der „Hoheitsgewalt“ zum gleichordnenden Privatrecht, 2007, S. 146 ff.; ders., Wettbewerb als Verfassungsprinzip. Grundrechtliche Wettbewerbsfreiheit und Konkurrenz der Staatsorgane, 2011, S. 160 ff. 92 B. II. 1., 3.

III. Wächterstaat? Nein: Staat als Aufgabe

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In der Politeia kommt der Staats- und Gesellschaftsorganisation noch ein ganz anderer Stellenwert zu als nun später: Die Wächter werden dort als Stand beschrieben, ihre Befugnisse entsprechend dargestellt. In den Nomoi erscheinen sie nur mehr, gerade noch, am Ende, als Träger eines eigenartigen Staatskunst-Wissens, in geheimnisvollen nächtlichen Konventen (Nr. 962). Wie sie sein sollen, sein müssen, das ergibt sich aus jenen Aufgaben, die hier im Erziehungsstaat deutlich und näher gestellt werden. Der Versuch, über sie und ihre Bildung diesen Idealstaat zu bestimmen, als „ihre Schöpfung“, gewissermaßen organisationsrechtlich – er ist nun aufgegeben. Nur Weniges, über die Vorteile gesetzesbestimmender „tyrannischer“ Alleinherrschaft, erinnert noch an die Grundthese von den „Philosophen-Königen“. Gerade die Staatslenker können zwar ebenfalls „erzogen“ werden, wie es die Kyrupaideia des Xenophon versucht. Den Nomoi bleibt aber nur die Hoffnung, dass sich die „Staatsaufgaben ihre Staatslenker suchen, diese finden und formen“. Damit enden die Nomoi in ihrem XII. Buch wiederum in einer erstaunlichen Nähe zum gegenwärtigen Staatsrecht. Die politische Elitebildung wird heute der Politik überlassen, im staatstragenden System der Parteien. Es ist, als stürbe hier demokratische Hoffnung auf das Recht zuerst. Zur notwendigen Qualität der Regierenden als einer Staatsvoraussetzung wird gegenwärtig immer weniger ausgesagt. Anderes ist wohl auch kaum zu erwarten in einem Ordnungsverständnis, welches letzte Staatsgewalt, höchste Staatsweisheit dem Volkssouverän zuerkennt. Wer sollte ihn und sein „gesundes Volksempfinden“ in all dem erreichen oder gar übertreffen (dürfen)93 ? Ein gutes, ein ideales Staatssystem sollte in den Nomoi gefunden werden; einen guten Regierenden konnte Platon nicht finden. Darin allerdings hat er in den „Gesetzen“ resigniert. Heute ist es nicht anders: Das Staatsrecht kann sich seine Aufgaben stellen, sich darin selbst (er)finden. Seine Leitungsgestalten – vielleicht sollte man doch wieder sagen dürfen: seine Führer94 – es kann sie bestimmen, es wird sie selbstverständlich finden in Demagogie95. Doch wie sie der Staat der Gegenwart braucht, ja fordert, in seinen Aufgaben – in solchen Gestalten werden Führer immer nur von der Geschichte geschenkt werden, zum Fluch wie zum Glück. Nur einen Trost gibt es, für Platon wie für das Staatsrecht der Gegenwart: Über all dem bleiben stehen „die Gesetze“, der ideale Staat.

93

Vgl. dazu Leisner, W., Das Volk (FN 62), S. 19 ff., 108 ff. S. dazu grds. Leisner, W., Der Führer, Persönliche Gewalt – Staatsrettung oder Staatsdämmerung? 1983, darin insb. Ausführungen zu Versuchen Demokratischer Führung, S. 205 ff.; vgl. auch denselben in: Demokratie, Betrachtungen zur Entwicklung einer gefährdeten Staatsform, 1998, S. 787 ff. 95 S. Leisner (FN 93), S. 185 („Das geleitete Volk“). 94

E. Einzelinhalte der „Nomoi“ – Nähen und Fernen zu heutigen Gesetzeslagen und Normentwicklungen I. Rechtliche Parallelbetrachtung von Nomoi und gegenwärtigem Staatsrecht 1. Zeitübergreifende gedankliche Wirkungen solcher Vergleiche Platons Nomoi weisen, bei ganzheitlich-grundsätzlicher Betrachtung96, eine erstaunliche Nähe, ja eine deutliche Parallele auf zum Stand der Dogmatik des Öffentlichen Rechts der Gegenwart, insbesondere des Staatsrechts. Dies konnte inhaltlich für Aufbau und Zusammenhang der Gedankengänge zu den einzelnen Materien nachgewiesen werden. Sogar in den Methoden hat es sich gezeigt, welche dabei bereits vor Jahrtausenden zum Einsatz gekommen sind: von der tatsachengestützten Betrachtung der zu behandelnden Gegenstände (Politologie) über spezifische staatstheoretische Kategorienbildungen (Allgemeine Staatslehre) bis zur Ordnung der, auch heute noch, im engeren Sinn „staatsrechtlichen“ Normbereiche. Allgemein traten in all dem geradezu „modern“ anmutende Züge97 hervor; dies würde eine Darstellung der „Gesetze“ in Formen einer gegenwärtigen staatsrechtlichen Behandlung nicht nur ermöglichen, sondern auch nahelegen. Offenbleiben muss hier die nur in geistes-, insbesondere wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchungen zu beantwortende Frage, wie dieser geradezu überraschende Befund einer grundsätzlichen Nähe der Nomoi zum Staatsrecht der Gegenwart sich erklären lässt: aus zeitübergreifenden Wirkungen mächtiger „Erster Gedanken“, die immer wieder überraschend bis in entfernte Zukunft wirken, oder, unmittelbar, mit der Macht inhaltlicher und methodischer Rezeptionen98, oder schließlich aus einer ideengeschichtlichen Kontinuität heraus, in welcher sie sich über Jahrhunderte erhalten, anreichern, immer weiter ausformen ließen. 96

Wie in Teil D. dargelegt. Eine derartige stufenmäßige geistige „Entwicklung zum Staatsrecht“ ist auch heute noch, von Politologie über Allgemeine Staatslehre ins Verfassungsrecht, unabdingbar, vgl. dazu Leisner (FN 1), S. 46 ff. 98 Rezeptionsgeschichtliche Kategorien, Formen und Inhalte zeigten sich schon in den großen Entwicklung des Römischen Rechts, vgl. etwa Harke, D., Römisches Recht: von der klassischen Zeit bis zu den modernen Kodifikationen, 2008. 97

I. Nomoi und gegenwärtiges Staatsrecht

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In diesen Betrachtungen soll „Nähe und Ferne von Einst und Jetzt“ dargelegt, damit eine Verwunderung, vielleicht eine Bewunderung dafür geweckt werden, im Sinne eines sokratischen Thaumazein: Gedanken Platons haben überdauert nicht nur in der Höchstform (gerade) seiner Ideen, in der Idealstaatlichkeit des Philosophen; sie spiegeln sich in einzelnen „Rechtszuständen“ der Gegenwart, welche, bis in Einzelheiten hinein, Entsprechungen in Thesen, Vorschlägen und Mahnungen der Nomoi finden, positiv oder in kritischer Distanz. Wieder geht es dabei um „Nähen“, bis hin zu Fortsetzungserscheinungen, aber auch um „Fernen“, welche in dialektischer Spannung stehen zum Recht der Gegenwart. Diese sollte gerade deshalb eintreten in jenen „Dialog mit dem Platon der Nomoi“, weil dieser die belebende Ferne des Gesprächs zur Grundmethode seiner ganzen Philosophie hat werden lassen.

2. Induktion über rechtliche Einzelparallelen Im Folgenden geht es nun noch gewissermaßen um Einzelproben aufs Exempel der allgemeinen Ergebnisse des vorhergehenden Hauptteils D. Dies erfolgt in einer spezifisch juristischen Form der gegenüberstellenden Betrachtung: Es gilt, deren Gegenstände jeweils „zu isolieren“, sie dabei „so für sich zu erfassen“, als stünden sie nicht in jenen größeren Zusammenhängen, deren Nähen und Fernen zur Gegenwart bereits deutlich geworden sind. Oft, wenn nicht meistens, haben sich ja heutige Rechtszustände oder Entwicklungstendenzen aus historisch ganz kontingenten Situationen ergeben, von Grundsatzerwägungen gelöst, geradezu „prinzipienfern“. Humanistisch-gedankliche Rückblenden bis in die Antike sind hier oft, schon seit langem, nicht mehr gewollt99, häufig nicht einmal mehr bewusst. Umso erstaunlicher, dogmatisch bedeutsamer, sind dann Nähen und Fernen zwischen den Aussagen der Nomoi und einzelnen Rechtslagen der „gesetzlichen Gegenwart“: Sie können vielleicht gar etwas beitragen wie einen „induktiven Beleg“ dafür, dass idealstaatlich gedachte Rechtsphilosophie politisch Zufälliges, rechtlich vereinzelt Erscheinendes geistig zu erklären vermag, zu systematisieren, für eine Zukunft zu deuten. So könnte dann Induktion aus einzelnen Rechtsphänomenen in die Deduktion aus der alles zusammenhaltenden platonischen Rechtsphilosophie münden – eine bereits als entfernte Möglichkeit reizvolle Synthese-Hoffnung.

3. Prüfung(sschritte) in Gegenüberstellungen a) Allzuviel darf dabei von den folgenden „Vitae parallelae“ im Sinne Plutarchs, platonischer Gedanken und gegenwärtigen Staatsrechts, ja einer aktuellen Staatspraxis, nicht erwartet werden; allenfalls sind es die auch in der Rechtsdogmatik immer wieder berufenen „erstaunlichen Parallelen“, aus denen dann juristische 99 Anders als noch in der Spätzeit der Aufklärung, etwa bei Montesquieu, vgl. dazu Dedieu, M., Montesquieu. L’homme et l’œuvre, 1943.

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E. Einzelinhalte der „Nomoi“

Anwendung ihre Folgerungen ziehen mag. Einwände, dies oder jenes sei „ja völlig anders zu erklären“, erst recht zu deuten, werden in nicht wenigen Fällen auch im Folgenden überzeugen. Erstaunen ist eben nicht Beweis, immerhin aber so oft Ansatz zu einem solchen, ein Anfang. Es folgt eine weitere captatio benevolentiae, eine Bitte um Nachsicht des Lesers: Diese retrospektive Deutung der Nomoi erfolgt aus der Gedanken-Übung heutiger juristischer Dogmatik heraus. Verschiebungen, ja Verfälschungen des „Ursprünglichen“, philologisch-historisch exakt zu Ermittelnden lassen sich dabei von vorneherein nie ausschließen. Und eine dritte Nachsicht darf sogleich erwartet werden: Die Vergleichspunkte aus der staatsrechtlichen Gegenwart müssen vereinfacht, daher verengt werden; herrschende Lehren sind zugrunde zu legen, heutige staatsrechtliche Diskussionen können nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. Zitate werden nur Erinnerungs-Anrufe sein. b) Dies vorausgeschickt sollen im Folgenden Gedankenschritte unterschieden werden, die sich allerdings oft, ja laufend verschlingen, ja im Verbund nur ablaufen können: - Die platonische Aussage ist als solche zu erfassen, nachzuvollziehen in ihrem inhaltlichen Gehalt, soweit möglich in den Formen und mit den Mitteln eines allgemeinen, wenn auch juristisch deutbaren Sprachgebrauchs. - Dieser Inhalt ist sodann, vielleicht schon dabei, soweit erforderlich, gewissermaßen zu übersetzen in Sprache und Kategorien(bildungen) gegenwärtiger Dogmatik des Öffentlichen Rechts. Nur dann lassen sich Bedeutungs-Verbindungen, Vergleiche herstellen zwischen platonischer Idealstaatlichkeit und gegenwärtigem Staatsrecht: das erstere muss „in die Sprache des letzteren gezwungen werden“. - Dieser „Vergleichsvorbereitung“ muss die bewertende Gegenüberstellung folgen § nach Nähen und Fernen fest(gestellt)er Zustände und § nach Entwicklungstendenzen von gegenwärtigen Rechtslagen. - Am Ende steht etwas wie ein Versuch rechtspolitischer Mahnung(en), soweit der „Amicus Plato Amica Veritas“ zugleich sein könnte, Führer in eine „Zukunft des heutigen Staates in sein (ideales) Recht“. Erst hier darf der Verfasser zusammen mit Platon sprechen. - Dieser ganze Gedanken-Weg wird sogar, in nicht wenigen Fällen, in gegenläufigem Sinn zu beschreiten sein: von der Interesse weckenden Mahnung zu dem im Vergleich ermittelten Wirkungs-Sinn der platonischen Aussage.

II. Ursprung der Staatlichkeit: „Kräfte zum Staat“

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II. Ursprung der Staatlichkeit: „Kräfte zum Staat“ (Bücher I bis III) 1. Die Notwendigkeit einer Staatlichkeit als Normenordnung: Staatsrechtfertigung a) Gegenwärtige Staatsrechtfertigung aus Staatszielen (Buch I) Die Nomoi beginnen mit ihrer eigenen Rechtfertigung: Das erste Buch bringt die platonische Staatsrechtfertigung(slehre). Das gegenwärtige Staatsrecht kennt einen solchen Anfang, als seinen Gesamt-Ansatz, weder ausdrücklich in seiner Verfassunggebung, noch in seiner herrschenden Dogmatik. Zwar finden sich Gedanken zu einer Staatsrechtfertigung gegenwärtig, unsystematisch-bruchstückhaft, in Verfassungspräambeln, jedoch ohne entscheidende staatsrechtlich-praktische Direktivkraft. Sodann begegnen sie in der Lehre von den „Staatszielen“100 : sie soll heute leisten, was sich für eine „Staatsrechtfertigungslehre“ noch ergeben könnte aus dem in Befehls- oder doch Programmform gesetzten Staatsrecht. Staatsrechtfertigungslehre, nicht nur Ausgangspunkt, sondern durchgehend prägendes, zentrales Prinzip des Staatsrechts, hatte dieses einst, gerade in seiner demokratischen Form, nicht nur eingeleitet, sondern hervorgebracht: in der Lehre von der Sozialvertraglichkeit101. Da diese bald als nützliche Hypothese selbstverständlich geworden war, näherer Begründung, staatsrechtlicher Verdeutlichung nicht mehr bedurfte, verlor sich (diese) Staatsrechtfertigung als dogmatische Form, ja als Materie allgemein, immer mehr, letztlich in der politisch akzeptierten Selbstverständlichkeit der Demokratie. „Wozu Staat?“, „Warum Gesetz?“ – danach muss nun, so scheint es, kaum noch, vielleicht gar nicht mehr gefragt werden. Ableiten lässt es sich schon aus Zwecksetzungen in „Staatsgrundnormen“ – wie der Sozialstaatlichkeit –, historischen Vorgängen (Kriege, Pazifismus) und außerrechtlichen, insbesondere ökonomischen, technisch-naturwissenschaftlichen Entwicklungen und Zwängen. Fazit: Das Staatsrecht der Gegenwart beruht nicht auf einer grundsätzlichen Staatsrechtfertigung(slehre), als Grundlage seiner dogmatischen Wirksamkeit. Es entfaltet sich (allenfalls) in teleologischer Ausrichtung auf Staatsziele hin, in Formen und Bahnen von Staatsprinzipien, die es in Annäherungsstreben verfolgt102.

100

Grdl. noch immer Sommermann, K.-P., Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997. Zu antiken Vorstellungen Sprute, J., Vertragstheoretische Ansätze in der antiken Rechtsund Staatsphilosophie, 1994. Zum Contrat social Rousseaus Brandt, R./Herb, K. F., Vom Gesellschaftsvertrag, oder Prinzipien des Staatsrechts, 2000, S. 50 ff.; Kersting, W., Die Republik der Tugend, 2003, S. 85 f.; Durand, B., Rousseau, 2007, S. 48. 102 Leisner (FN 1), S. 86 (89 f.). 101

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E. Einzelinhalte der „Nomoi“

b) Die Nomoi und die Staatsziele der Gegenwart Platons Ausgangspunkt für eine Rechtfertigung des Staates, damit für eine normative Gesetzesordnung, stellt einen eindeutigen Kontrapunkt dar zu allem, was im gegenwärtigen Zustand des Staatsrechts eine Staatsrechtfertigung (noch) trägt: Für ihn ist es nicht der Mensch als animal sociale, als ein auf Beziehungen zu seinesgleichen angewiesenes Wesen, aus denen sich die Notwendigkeit einer staatlichen Gemeinschaft ergibt. Eine solche „Gemeinschaftsnotwendigkeit“ für den Menschen klingt weder im ersten Buch an, noch findet sie sich später, betont als eine staatslegitimierende menschliche Notwendigkeit. Selbst, ja gerade die Begründung des Staates aus einer homo-homini-lupus-Lehre des späteren extremen Individualismus (Hobbes), also aus der „Befriedungsfunktion“103 aller Staatlichkeit, entfernt anklingend, in der Präambel des Grundgesetzes, wird gleich Eingangs der Nomoi entschieden verworfen. Dies bezieht sich allerdings unmittelbar auf ihre damals bekannte, vorsokratische Ausprägung des Polemos pater panton, des Kriegs als Vater aller Dinge. Nicht aus Kriegsverhütung, aus einer pazifistischen Notwendigkeit heraus legitimiert sich bei Platon die Notwendigkeit der Gesetze als Ordnungsmacht, sondern aus dem platonischen Anliegen einer Menschenbildung in Ordnung der menschlichen Kräfte, in einer „Optimierung der Tugend-Lage“, des Arete-Niveaus des Einzelmenschen: Die gesamte Staatsrechtfertigung Platons ist eben individualistisch gedacht, nicht kollektivistisch.

c) Paideia statt Pazifismus Dies bedeutet jedoch zugleich eine Absage an zentrale, höchste Staatsziele des gegenwärtigen demokratischen Staatsrechts104 : „Pazifismus“, Befriedung von Interessengegensätzen als legitimierender Staatszweck. Ein solches Denken geht aus von einem menschlichen Nebeneinander, welches potenziell in Feindseligkeiten mündet, in Gegensätzlichkeiten sich entlädt, in Interessenkonflikten abläuft. Interessengegensätze können aber nicht Ausgangslagen platonischer Idealstaatlichkeit sein. Denn dieser Staat ist ja, von seinem Anfang an, auf Harmonisierung gegründet. Er setzt in der Bildungswelt der staatlichen Paideia beim Einzelmenschen an, vollendet sich in der daraus wachsenden größeren Ordnungsharmonie des gesamten Zusammenlebens in der Polis. Platons Idealstaat ist kein System des balancierenden Interessenausgleichs zwischen verschiedenen Menschen, Gruppen von solchen, sondern ein laufender Harmonisierungsvorgang (einzel)menschlicher Kräfte: von Machtwillen („Tapferkeit“) und Vergnügungsstreben. Diese menschlichen Potenzen „beherrscht“ das vernünftige Denken, in Form der Gesetze105. Diese Ordnung 103

Auf die sich gerade die Staatslehre der Demokratie stützt, vgl. Leisner, W., Demokratie – eine „friedliche Staatsform“?, JZ 2005, 809 ff. 104 Dies führt dann zu der staatsrechtlichen Figur der „wehrhaften Friedensstaatlichkeit“, vgl. zur Debatte in den 80iger Jahren f. Viele v. Münch, I., NJW 1984, 577 (580 f.). 105 S. dazu Jouët-Pastré, Le jeu et le sérieux dans les Lois de Platon, 2006, insb. S. 38 ff.

II. Ursprung der Staatlichkeit: „Kräfte zum Staat“

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rechtfertigt und konstituiert den Staat, den „Über-Menschen“, sie zwingt nicht den „kleineren Menschen“ in die „größere Staatlichkeit“, in eine Ruhe, wie sie das interessenausgleichende Staatsrecht der Gegenwart anstrebt. Geordnet werden menschliche Kräfte gewissermaßen auf höherer Ebene, von vorne herein, in Paideia, nicht in Drohung und (nach)folgender Repression. d) Vergnügung: Bildung, nicht Genuss Wohlbefinden ist nach den Nomoi nicht Ziel, nicht Selbstzweck, es ist Kraftquelle, für den Einzelnen wie dessen Gemeinschaft. Nicht zum Genuss finden Feiern und Trinkgelage statt, sondern damit (auch) dort „Contenance“ sich entfalte, bewähre, in der ruhigen Zurückhaltung einer menschlichen Hochform, jener Arete, zu welcher der Mensch in seinem Innenleben gefunden hat. Vergnügungen werden nicht als Freiräume verstanden, als „Relax“, ja als ein „Abschäumen“, wie im Vergnügungs-(Abgaben)recht der Gegenwart106; sie sind nicht „gestattet“ bis an Grenzen, welche die Öffentliche Sicherheit und Ordnung zieht: es sind dies Formen menschlicher Bildung, der Entfaltung einzelmenschlicher Ordnungskräfte – zum Staat hin, von dort aus zurück zum einzelnen Menschen. Wohlfahrtsstaatlichkeit im Sinne des „plus grand bien du plus grand nombre“, hat im platonischen Staatsdenken keinen Platz107, ebenso wenig ihre gegenwärtige staatsrechtliche Form der „Sozialstaatlichkeit“ als solche108 : Schon ihr „bien“, ihr „Gutes“ lässt sich platonisch nicht definieren, etwa als materielle „Lebensstandard (steigerung)“. Noch weniger (aner)kennt diese Idealstaatlichkeit einen „plus grand nombre“, eine Mehrheit und deren (staatliche Zwangs-)Rechte. Daher kann es auch eine Werthaltigkeit des Kollektivgenusses als solchen in der Ordnung der Nomoi nicht geben. Das „Bürgerfest“, das „Straßenvergnügen“ ist weder an sich schon (demokratisches) „Staatstheater“, wie dies der Vorstellungswelt Vieler heute entspricht, noch sind es „Bildungsveranstaltungen für (die) Massen“, solange sich ihr Zweck in deren Vergnügen erschöpft. e) „Nichts Privates?“ – „Privatheit zum Staat!“ In all dem bedeutet platonisches Denken, bereits am Ausgangspunkt der Nomoi, in deren „Staatsrechtfertigung aus menschlichen Kräften“, eine „Umwertung der Werte“ des gegenwärtigen Staatsrechts, seiner Staatsziele, Staatszwecke. Das 106 Hier wird aus einer Gemengelage heraus unterschieden zwischen den Vergnügungen, die als „kulturell wertvoll“ gelten und den anderen, eben lediglich der Vergnügung dienenden Veranstaltungen, vgl. etwa Torsten, G./Brandt, B., VBlBW 2010, 302 – für platonisches Denken kann es nur erstere geben. 107 Zur Wohlfahrtsstaatlichkeit s. Leisner, W. G., Existenzsicherung im Öffentlichen Recht, 2006, S. 37 ff. 108 Leisner, W. G. (FN 107), S. 52 ff.

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E. Einzelinhalte der „Nomoi“

„Private als solches“ gibt es für diesen Platon nicht in seinem Idealstaat, sondern nur das „Menschliche in der Öffentlichkeit seiner Bildung“. Dies aber bedeutet nicht mehr und nicht weniger als letztlich einen „Abschied vom Privaten“ als Schutzgegenstand, damit zugleich als Rechtfertigung des Staates und seines Zwanges – dieser entfällt mit jenem. Der „Schutz der Persönlichkeitssphäre“, dieses großen neuen Entdeckungsbereichs des gegenwärtigen Staatsrechts109, wird damit nicht schlechthin als Fehlentwicklung abgelehnt; es ist dies aber, in platonischer Sicht, allenfalls relativierend zu verstehen, als ein (erster) rechtlicher Schritt zu einer Anerkennung der einzelmenschlichen Selbstbestimmungskräfte in einem innersten Bereich des Einzelnen. Von dort müssen diese Kräfte aber herausentwickelt werden vom Staat, in dessen Räume hinein, durch die „menschenpflegenden, vernünftigen Gesetze“, in deren Ordnung. Privatheit nicht als Ziel, sondern als Stufe der Rechtsentwicklung110 im Staat, zum Staat: das ist die Mahnung des Ersten Buches der Nomoi an das Staatsrecht der Gegenwart.

2. Der „wahre Staat aus dem Schönen“: Paideia in Kunst (Buch II) a) „Kunstfernes gegenwärtiges Staatsrecht“ Das Staatsrecht der Gegenwart erscheint, auf einen ersten Blick, als kunst-fern, ja als kunst-blind: „Kunst“ begegnet im Grundgesetz nur in einer erwähnenden, nicht beschreibenden Beiläufigkeit (Art. 5 Abs. 3 GG), im Sinn eines grundsätzlich staatsfernen, darin grundrechtsgeschützten Bereichs. Um dessen Abgrenzung müht sich die Dogmatik seit Jahren mit (oft mehr als) problematischen Ergebnissen111. Dies ist die notwendige Folge eines Verständnisses des Kunstbegriffs aus dem für das Staatsrecht undurchdringlichen, ja geheimnisvollen Freiheitsbereich künstlerischer Gestaltung, einem innersten Raum des „modernen Privaten“. Darin sieht eben das Recht der freiheitlichen Demokratie im Grunde nur eines: Die „gestalterische Kraft“ ihres Bürgers, dieser hier nun wirklich erfasst – nur – als völlig unauswechselbares, kollektivfernes Einzelwesen. Dass Kunst sein könne, solle, müsse im freiheitlichen Staat, unterstellt zwar ein reiches Schrifttum zur „Kulturstaatlichkeit“112 wie zur „Kulturhoheit der Länder“113, als faktische Selbst109 Vgl. etwa BVerfGE 101, 361 (382 f.); 103, 21 (31); hier findet nicht einmal mehr eine Abwägung statt (BVerfGE 80, 367 (373)). 110 Eine solche Verfassungsentwicklung läuft bereits deutlich ab im Sinne einer „Privatisierung“ des Öffentlichen Rechts (vgl. dazu Leisner, Privatisierung (FN 91), S. 44 ff., 110 ff., 146 ff.). 111 S. dazu die Erläuterungswerke zu Art. 5 Abs. 3 GG m. Nachw., insb. Starck, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 5 Rn. 298 ff. 112 Vgl. Sommermann, K.-P., in: FN 111, Art. 20 Rn. 112 ff. 113 Vgl. Rozek, in: FN 111, Art. 70, Rn. 12.

II. Ursprung der Staatlichkeit: „Kräfte zum Staat“

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verständlichkeit; Förderstaatlichkeit114 ist hier unterwegs auf „außerstaatlich“ vorgebauten Bahnen. Doch eine „Staatskunst“ darf dieses Staatsrecht der Gegenwart weder kennen noch auch nur anerkennen im Rahmen seiner die Privatheit achtenden Freiheit115. Damit wird, in volkssouveräner Selbstverständlichkeit, eine Kunstentwicklung von Jahrtausenden abgebrochen, von griechischen Stadtgöttertempeln über mittelalterliche Staatskirchendome bis zur höfischen Barockkunst und der „Rückkehr des Empire“ zur „Klassik“ der Antike. Wenn dies nicht „andere Menschen“ sind, jene „Freien Künstler im Freien Staat“, Bürger eines „anderen Staates“ sind sie sicher als Bewohner dessen, der in den Nomoi begegnet. Denn das Staatsrecht der Gegenwart mag zwar noch immer von jener „Staatskunst“ sprechen, als deren Form es alle Regierungstätigkeit noch bis vor kurzem verstand, indem es sich selbst zur hohen Kunst erklärte. Seine immer weiter komplizierte Dogmatik als „Kunst“ zu verstehen, mag den Gedanken Oswald Spenglers entsprechen, der, parallell dazu, die katholische Dogmatik über ihre Schwierigkeitsgrade der n-dimensionalen Mathematik sich nähern sah … Aber jene (einstige) „Staatskunst des Staatslenkers“ war eben früher doch nur ein geistiges Gegenstück zu den Säulen und triumphalen Barockdecken, in denen Staatlichkeit bis in die neueste Gegenwart – ganz einfach (auch) Kunst war. b) Platon: „Das Schöne als Kraft zur Staatlichkeit“ Jener uralte frühere Kunstbegriff, der bis zum freiheitlichen Liberalismus auch ein solcher der Staatlichkeit gewesen ist, sie geprägt hat, er begegnet bereits am „StaatsEingang“ der Nomoi, als Raum des Schönen und dessen „Wirkung zum Staat“. Dieses ist für Platon eine allgemeine menschliche Bildungsmacht, daher setzt seine Paideia im Idealstaat der Gesetze ein mit etwas wie der Vor-Bild-Kraft der Ästhetik. Kunst ist für ihn Erziehung, nicht Vergnügen; zum Genuss wird sie nur in der Höherentwicklung des Menschen, in wirkender Bildung. Die „Gesetze“ haben auch hier alles zu ordnen, wie im Alten Ägypten, hin auf die Schönheit, nicht nur alle Künste, sondern alle menschlichen Handlungs-, ja Lebensformen, in denen solche Schönheit zum Ausdruck kommt. Dies mag sich „irgendwie“ zeigen, in all jenen Stufen, in denen der Mensch existiert, handelt, erkennt. Daher müssen „Wein, Weib und Gesang“, über Feiern und Tanz, gesetzliche Ausgestaltungen finden bei Platon; es kann sich dies doch nicht in polizeilicher Ordnungswahrung erschöpfen, Lärmschutz und Sperrstunden als Staatlichkeitsschutz, als Bausteine einer Staatskon-

114 Allerdings darf dies nicht (allein) in marktwirtschaftlichen Zielsetzungen geschehen. Zu diesen vgl. Leisner, W., Der Förderstaat, Grundlagen eines marktkonformen Subventionsrechts, 2010, S. 47 ff.; 85 ff. Zur Staatsförderung vgl. Starck, in: FN 111, Art. 5, Rn. 319 ff. m. Nachw. 115 Eine Gefahr für die Kunstfreiheit, in diesem Sinn, droht von der Abhängigkeit der Kunst von staatlicher Förderung, dazu Starck, Chr., FS BVerfG II, 1976, 420 (499 ff.).

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E. Einzelinhalte der „Nomoi“

struktion. Immerhin hat dies allerdings in der modernen Wirtschaftsstaatlichkeit116 bereits eine vorwiegend freiheitsrechtliche Bedeutung erlangt, welche bei einiger rechtlicher Phantasie als ein – weiter Um/Rück- – Weg erscheinen mag zu platonischem Denken … Die Poesie – für das heutige Staatsrecht gilt dies auch, ja vor allem für die Medien – muss, darf nur jene Arete (Tugend/Tüchtigkeit) preisen, in welcher das Schöne seinen Ausdruck ganz allgemein findet im menschlichen Tun- und GeschehenLassen. Denn in all dem geht es nicht nur um das Angenehme im Genuss der Schönheit, sondern um die große Trias: Das Schöne als das Wahre, das Gute. Der Staat kann nicht nur „schön sein“, im Sinn eines (erst) im 19. Jahrhundert isolierten l’Art pour l’Art. Seine Ordnung ist darin, in dieser Schönheit, zugleich und sogleich der wahre und der nützliche Staat – dies Letztere allerdings in einem platonischen, einem höheren, vielleicht in einem „ganz anderen“ Sinn einer „Staats-Nützlichkeit“117, einem individualistisch, nicht kollektiv wirkenden und festzustellenden Nutzen. c) Öffentliche Kunst als „bildendes Vor-Bild“, in Paideia Sogleich nachdem der Kunst, der Poesie, allem höheren „gesellschaftsbildendem Verhalten“ der Einzelmenschen diese Aufgabe gestellt ist, schließt sich an, in logischem Denken, die platonische Erkenntnis einer „Nachahmungswirkung des Schönen“ im Staat, in dessen Aufbau hinein. Die Künste, in dem weiten Sinn platonischer Bildungsanstrengungen, als Hilfen zu solchen, erwachsen wesentlich aus Nachahmung, müssen daher in Ab-Bildung ausgeübt werden. Dies ist die – selbstverständliche – Folge der platonischen Lehre vom menschlichen Erkennen: auch dieses vollzieht sich ja über Ab-Bildungen der Ideale in der Psyche. Deshalb ist das künstlerische Schaffen stets eine Art von Nach-Schöpfung, ein Nachahmen. Die Kunst stellt den Menschen, den Bürgern des Staates, die von ihr geschaffenen Werke als nachahmungswürdige Ideale vor. Die Gesetze sind hier nicht Befehle, sondern gewissermaßen vor-bildliche, daher nachzuvollziehende ideale Ordnungszustände. Damit ist zugleich Entscheidendes über diese menschen-bildende Kunst ausgesagt: Sie erschöpft sich in ihren Werken nicht in der nachahmenden Wiedergabe von Eindrücken, sie ist nicht Kopie, oder rein impressionistischer „Abdruck zur Weitergabe“. Sie wirkt vielmehr – in diesem Sinne „expressionistisch“ – als Nachahmung von Idealem, welches sie zur (Nach-)Bildung vor dem Bürger aufstellt; dieser ist genauso ein Strebender wie die Kunst, sein Vorbild, ihrerseits nach dem Ideal strebt.

116 Zu dieser Ausprägung von Lärmschutz und Sperrstunde als Individualschutz vgl. etwa Schönleiter, U., GaststG, 2012, § 18, Rn. 1; Paetow, St., Lärmschutz in der aktuellen höchstrichterlichen Rechtsprechung, NVwZ 2010, 1184 f. 117 Zu diesem Begriff, im Rahmen der Staats-Rechtfertigung, vgl. Leisner, Der Förderstaat. Grundlagen eines marktkonformen Subventionsrechts, 2010 S. 144 ff.

II. Ursprung der Staatlichkeit: „Kräfte zum Staat“

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Eine freie Kunst in der Beliebigkeit von Geistesblitzen kann es daher nicht geben in diesem „Staat der Gesetze“. Kunst ist Bildungsinstrument, Bildungsmacht, hoher, ja höchster Ausdruck der Paideia, nicht der Freiheit. Und die Gesetze, der Staat – sie sind in diesem Sinne ebenfalls höchste Kunst, weil höchste, dem Ideal nächste Menschlichkeit in geistiger Ordnung.

3. Staatsursprung, Staatsformen und deren Entwicklung (Buch III) a) Staatsursprung in Verteilung Dies ist das Thema des nächsten Buches der Nomoi, in folgerichtig staatstheoretischem Denken: Nachdem die „menschlichen Kräfte zum Staat“ erfasst sind (Buch I und II), wird nun ihr Wirken verfolgt, vom tatsächlichen Staatsursprung aus, den Urformen, den wahren rechtlichen Prototypen der, aller Staatlichkeit. Hier zeigen sich zunächst weite Entfernungen zum Staatsrecht der Gegenwart: Für dieses ist „Staats-Ursprung“, als „Ausgangstatbestand einer, ja aller Staatlichkeit“ kein rechtliches Thema; es ist in die „Vorstaatlichkeit der Staatsvertraglichkeit“118 verbannt, damit für die herrschende juristische Lehre Gegenstand eines Staats-Mythos. In Staatsvertraglichkeit könnte dies auch fortgedacht werden ins Staatsrecht hinein; doch das ist bisher nur im Ansatz versucht worden119 ; unklar ist, ob es jemals systematisch wird aufgenommen werden. Ein „Staatsvertrag“, im Zusammentreten von Menschen, wird von Platon nur kurz erwähnt, als Ursprung der bereits ausgebildeten Herrschaftsform der Monarchie. Der Beginn der Staatlichkeit als solcher findet sich, nach den Nomoi, in Sintfluten, Naturkatastrophen, jedenfalls in Tatsachenlagen, in denen eine (Güter-)Verteilung zwischen künftigen Bürgern zum zwingenden faktischen Gebot geworden ist – und denn auch in rechtlichen Formen stattfindet. Es ist dies nicht ein Staat eines „Nach uns die Sintflut“, der ewigen Dauer, auf den jedenfalls nichts staatsrechtlich heute Fassbares mehr folgen kann, so wie es Art. 79 Abs. 3 GG will120. Vielmehr ist der platonische Staat eine Ordnung die „erst nach der Sintflut heraufkommt“; daher setzt sie ein mit faktischen (Neu-) Verteilungsvorgängen, zwischen den nunmehrigen, darin zu solchen gewordenen Bürgern. Nur so lässt sich ja eine Idealstaatlichkeit

118

S. oben 1. a) FN 101. In Leisner, W., Vertragsstaatlichkeit. Die Vereinbarung – eine Grundform des Öffentlichen Rechts, 2009, in Deutungsversuchen der Staatsgewalt als Ergebnis vertraglicher Einigung S. 56 ff. 120 Die „Ewigkeitsgarantie“ des Art. 79 Abs. 3 GG ist insoweit konsequent gedacht, als die hier versteinerte „beste aller Ordnungen“ neben der „Demokratie“ eben auch, nach verbreiteter Auffassung, eine „Verteilungsstaatlichkeit“ in ihrer „Sozialstaatlichkeit“ verewigen soll, welche insoweit dann den Ursprung einer neuen „Staatlichkeit aus Verteilung“ in laufender Entwicklung überflüssig werden lässt. 119

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E. Einzelinhalte der „Nomoi“

überhaupt konzipieren, denken; nicht ist sie zu fassen, zu gründen auf Ruinen121, es sei denn als ein „ganz neues Leben aus ihnen“. Die ganze neu-staatsrechtliche Problematik des „Pouvoir constituant“ als Erscheinung eines rechtlichen Neuaufbaus über (auch weiter-)bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen, so wie dies nach der Französischen Revolution gesehen worden ist, seither in immer neuen Verfassunggebungen praktiziert wird – für all dies ist in den Nomoi kein Platz. Ihr Staat beginnt und vollendet sich, ein- für allemal, auf dem Weg, den hier der Philosoph beschreitet. Dennoch beschreibt er in diesem dritten Buch auch Entwicklung und Niedergang der Staatsform. Dies ist allerdings kein Widerspruch; denn die platonische Idealstaatlichkeit geht gewissermaßen an Ruinen vorüber, sie baut nicht Neues auf ihnen. Von ihnen entfernt sie sich in eine – weitere – Distanz zum gegenwärtigen Staatsrecht: Nicht auf alten faktischen Lagen will sie Neues errichten, diese in ihre Fundamente einbauen, sie dort erhalten, wie es alle – im Grunde stets – liberale Verfassunggebung seit 1789 stets versucht hat: Ein ganz neuer Staat soll diese platonische Erscheinung werden, aus gänzlich originären Strukturen und in einer neuen Verteilung von Gütern und Macht. Wer denkt da nicht an den radikalen Neuanfang kommunistischer Staatlichkeit? War dies nicht doch der einzige neuzeitliche Versuch eines platonischen Staatsanfangs, eines wahren Staatsursprungs? Verfassunggebende Gewalt in liberaler Gestalt, ständig perfektionierende Verfassungsänderungen, oder gar dauernde Verfassunggebung als Form eines täglichen Plébiscite de tous les jours – das alles sind heutige, es können nicht Platons Gedanken sein. Und ist dies nicht selbstverständlich, kennt Idealstaatlichkeit eine Staats-, eine Verfassungsentwicklung? Zu ihr mahnen kann, darf sie dennoch. b) Familie: Keimzelle des Staates oder Erziehungsgemeinschaft? In diesem 3. Buch, in welchem erstmals von der „Staats-Form“ die Rede ist, wird auch die Familie – kurz – angesprochen122. Nahe liegt es daher, Parallelen zu ziehen zu noch immer traditionellen Grundvorstellungen des gegenwärtigen Staatsrechts, nach welchen Staatlichkeit entsteht aus Familie und sich entsprechend deren Ordnung entwickelt. Die schwerpunktmäßig sozio-psychologische Auffassung von der „Familie als Keimzelle der Staatlichkeit“, lässt sich steigern und rechtlich präzisieren zu der Auffassung von einer „Familie als Prototyp aller Staatlichkeit“, damit auch als Grundlage einer Idealstaatlichkeit im platonischen Sinn. Die Familie muss dann erfasst werden als eine – die wichtigste – jener „kleineren Einheiten“123, aus und über denen der Staat sich in Subsidiarität aufbaut. Legitimationen und interne „gesell121

Weitergedacht in Leisner, W., FS f. Isensee, 2007, S. 111 ff. Zu Platons Familienkonzeption vgl. Becker, G. W., Platons Gesetze und das griechische Familienbild, 1932. 123 Grdl. Isensee, J., Subsidiarität und Verfassungsrecht, 1969, S. 28 ff.; Calliess, Chr., Subsidiarität und Solidaritätsprinzip in der EU, 2. Aufl. 1999, S. 26. 122

II. Ursprung der Staatlichkeit: „Kräfte zum Staat“

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schaftliche“ Strukturen familiären Zusammenlebens sind dann auf die staatliche Ordnung zu übertragen. Dem steht allerdings eine andere Konzeption der Familie als solcher gegenüber, auch in ihrer Bedeutung für die Staatlichkeit: die einer „Lebens- als Erziehungsgemeinschaft“. Grundsätzlich zu verstehen als eine (der) Ordnungsform(en) sui generis im gesellschaftlichen Raum, ist sie dann lediglich einer der Freiräume der Bürger, welche im Staat geschützt werden. In die Rechtsordnung der Gemeinschaft wirkt sie, in solchem Verständnis, vor allem hinein als Versorgungsgemeinschaft, damit als „sozialrechtliches Institut“ in einem weiteren Sinn124, nicht notwendig oder gar primär als Erziehungsinstanz des Nachwuchses der Bürgerschaft. Personale Kontinuitätssicherung der staatlichen Gemeinschaft125 und Erfüllung von deren Bildungsaufgaben in einem Outsourcing auf Private – die Eltern, sind, in einem solchen Verständnis, immerhin auch noch Rechtfertigung der Familie als einer wahrhaft staatstragenden Einrichtung, im eigentlichen Sinn des Wortes. Dass diese letztere Konzeption insbesondere der grundgesetzlichen Schutzgarantie des Art. 6 Abs. 1 GG zugrunde liegt, kann kaum zweifelhaft sein. Dafür sprechen redaktioneller wie systematischer Zusammenhang der Absätze 1 und 2 dieser Vorschrift mit Art. 7 GG. Neueste Entwicklungen zeigen allerdings eine deutliche Verschiebung dieser Erziehungskonzeption hin zu staatlichen Institutionen, im Bildungszwang, vor allem aber in den staatlichen Angebotsmonopolen der Bildung. Diese Entwicklung, eine der bedeutsamsten in der gegenwärtigen Staatlichkeit, vollzieht sich jedoch nicht in einer immer weiteren Entfernung von Grundvorstellungen der Nomoi, sie liegt vielmehr auf deren Grundlinie. Zwar wird dort die väterliche Gewalt als Ursprung der Autoritätsvorstellung im Staat erwähnt, und dies mag für eine Prototypik der Familie für alle Staatlichkeit sprechen. Im dritten Buch bereits, aber auch in den Büchern VI und XI126 wird diese Familie aber stets angesprochen unter Aspekten, welche sie doch im Wesentlichen als eine (Hilfs-) Einrichtung allgemeiner Paideia im Staat betrachtet, nicht als ein eigenständiges, staatsfernes, zugleich aber staatskonstituierendes Ordnungs-Vorbild. In und aus ihr wächst vor allem jene Autorität, deren die menschenbildende platonische Paideia bedarf, auf allen ihren Ebenen. Die Familie ist dennoch primär Aufzuchtgemeinschaft, so wird sie im Buch VI gesehen; die Ehe ist nicht Selbstzweck, sondern primär ausgerichtet auf dieses Kindeswohl (Buch XI). In den Nomoi ruht die Familie eben nicht auf sakramental-christlichen Grundlagen. Ein modernes Verfassungsrecht, das eine religiös grundgelegte familiäre 124 Beruhend auf der Ehe als einer (gegenwärtigen) Verantwortungsübernahme – die dann eben auch auf homosexuelle Verbindungen ausgedehnt wird – aber mit der Scheidung (jederzeit) enden kann. 125 Der Kontinuität des Volkssouveräns (vgl. dazu Leisner, Das Volk (FN 62), S. 42), die als solche aber in ständiger Fluktuation steht und in vielfachen Auflösungsgefahren. 126 Vgl. Buch III, Nr. 682; Buch VII, Nr. 776; Buch XI, Nr. 928 E ff.

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E. Einzelinhalte der „Nomoi“

Lebensgemeinschaft zwar achtet, nicht aber sich selbst zugrunde legt, bewegt sich, trotz aller platonischer Kontinuität zum Christentum, immerhin in den Bahnen der Nomoi, und entfernt sich zugleich von gegenwärtigem Staatskirchenrecht. c) Staatsformenlehre – Demokratiekritik Das III. Buch der Nomoi bringt, wenn auch nur in kurzen Gesprächsphasen, den ersten Abriss einer Staatsformenlehre. Darin wird bereits in großen Zügen vorweg genommen, was in der „Politik“ des Aristoteles später bis ins Einzelne systematisiert werden sollte. Wie so oft: die Gedanken sind die des Platon, ihre Wissenschaft die des Stagiriten. Dies gilt für die Dreiteilung der Staatsform in Aristokratie – Monarchie – Demokratie ebenso wie vor allem für deren Güte-Beurteilung nach „guten“ und „pervertierten“ Regierungsgestaltungen. Es erfolgt dies nicht primär nach organisationsrechtlicher Effizienz, sondern in Orientierung am Begriff der Arete der Regierenden, nach einem letztlich aristokratischen Grundsatz127. Hier begegnet eben sogleich das platonische Grundanliegen der Paideia: Bildung der Menschen, durch den Idealstaat, daher „Primärproblem Elitebildung im Staat“, Erziehung der Staatslenker. Und: Erziehung prüft – und muss sich daher prüfen lassen, bewerten. Das Problem der persischen Königserziehung führt Platon, ohne Umwege, sogleich zu einer ebenso kurzen wie vernichtenden Demokratiekritik Athens: Dort hat die Masse den Geist besetzt; unfähig ist sie einer Staats-Weisheit, wie sie der Philosoph zu entwickeln sucht in Aus-Bildung der menschlichen Kräfte von Seele und Körper sowie in Güterverteilung. Er will den Staat „entfalten“ aus der Freiheit, also aus dem Individuum, aus der übereinstimmenden Bildungs- und Gedankenwelt dieser menschlichen Wesen, die in solcher geistiger Begegnung Staatswahrheiten128 erkennen, sie (sich) nicht aufzwingen (lassen). So wächst der platonische Idealstaat in und aus den „Gesetzen“. Dies ist – kein Weg führt daran vorbei – wohl die weiteste Entfernung zwischen den Nomoi und dem Staatsrecht der Gegenwart. Der Philosoph geht aus vom menschlichen Einzelwesen. Den Idealstaat sieht er aus dessen Kräften wachsen, in Bildung und Erkenntnis, nicht in Setzungen politischen Willens, aus der unterstellten Weisheit der Vielen, des Wahl-Volks. Demokratie ist nur legitim als geistige Höchstform Gebildeter, nicht als Ausdrucks/Gestaltungsform „gesund empfindender Lebewesen“, aus deren Bedürfnis- oder Begierdelagen heraus. Die „Gesetze“ setzen den Bildungsglauben vor den Güteglauben der Nützlichkeit. Gegenwärtiges Staatsrecht weiß zwar um dieses „ganz andere Denken“. Sein VolksGlaube an Wahlen ist aber etwas wie eine große Vorwegnahme, nach dem Wort des 127 Zum Verhältnis der Staatslehren der beiden Philosophen s. Angehrn, E., Die Ontologie des Politischen bei Platon und Aristoteles, in: Neues Jahrbuch 20 (1994), S. 83 ff. Zu der Politik des Aristotels vgl. Höffer, O., in: Aristoteles’s Politik, S. 11 f. 128 Leisner, Staatswahrheit (FN 42): Zum Begriff S. 33 ff., zu Aneignungsversuchen der Wahrheit durch die (staatliche) Macht, auch in der Demokratie, S. 61 ff.

III. Das Gesetz – Der platonische Rechtsstaat

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Erlösers: „Suchet zuerst das Reich, die Macht und die Herrlichkeit (Aller, bei den Zahlreicheren), alles andere (Weisheit wie Wahrheit) wird euch dazugegeben.“ Platon aber wollte „Wahrheit vor Macht“, „über der Politik“.

III. Das Gesetz – Der platonische Rechtsstaat – Buch IV 1. Der Staat als höchste Gesetzgebung Der platonische Weg zum Idealstaat nimmt nun eine Wendung, wie sie das Staatsrecht der Gegenwart mit den Lehren Kelsens erlebt und sich darauf gegründet hat: „Staat wird zu Gesetz“, in seiner Verfassung129. Im Titel der Nomoi ist dies bereits beschlossen: Idealstaat ist Gesetzesstaat. Platon hat die Wende vollzogen vom Menschen-Recht zum Recht als Transpersonalismus. „Menschlich“ bleibt diese Ordnung nicht im Sinne einer nur zu oft larmoyanten, wählerumschmeichelnden Durchschnittsmitmenschlichkeit, sondern darin, dass ihr diese menschliche Qualität aus dem statuenhaft in Paideia herausgebildeten Einzelwesen erwächst: Der Staat selbst wird im Gesetz zum Auto-Anthropos, zum Idealwesen „Mensch“. Das Gesetz ist Endergebnis der Bildung, es wirkt (zurück) in Bildung; all dies vollzieht sich in Staatlichkeit. Da aber die Bildung sich entfaltet „am Menschen“, muss dieses Gesetz in Menschen wachsen, aus ihnen kommen: Der Gang der Nomoi begegnet daher sogleich dem Gesetzgeber. Er ist nicht, wie in der Rechts-Mechanik des gegenwärtigen Staatsrechts, eine technische Instanz perfekter Regelformulierung, der Vermeidung von Gesetzgebungsrisiken in vollendeter Normgebungskunst. Gesetz(gebung) mag zwar eine „Techne“ sein, im weiten, frühplatonischen Sinn sokratischer Handwerklichkeit130. Doch sie erwächst im Vollendungsstreben einer Paideia in eine Höhe, in der sie nur mehr gedacht werden kann als etwas geradezu Göttliches – der Gesetzgeber daher letztlich als Gott. Hier holt griechische Mythologie den Philosophen ein. In seinem jugendlich-starken Ideal-Gesetzgeber, wie er im vierten Buch beschrieben wird, begegnen die göttlichen Gestalten des Apollo und des Dionysos131, vielleicht in einer personalen Verbindung, wie es die Bildung nahelegt; auch sie kennt ja dionysische Gelage. Den jungen, starken, bildungsfähigen, groß denkenden Tyrannen als Gesetzgeber132 hat Platon gesucht und nicht gefunden; es ist im Grunde 129 Vgl. neuerdings dazu Isensee, J., in: Verfassungstheorie, Depenheuer, O. /Grabenwarter, Chr. (Hg.) 2010, S. 34 ff. 130 Zu Begriff und Aufgaben solcher „Gesetzungsgebungslehre“ vgl. Noll, P., Gesetzgebungslehre, 1973, S. 63 ff.; Meßerschmidt, K., Gesetzgebungslehre zwischen Wissenschaft und Politik, ZJS 2008, 111. 131 Ganz im Sinne Nietzsches, in der Spannung zwischen Appolinischem und Dionysischem, wie es seiner „Geburt der Tragödie“ und anderen Werken zugrundeliegt. 132 Buch III, Nr. 708 ff.

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E. Einzelinhalte der „Nomoi“

jener (Halb-)Gott133, der am besten Gesetze geben kann – die besten. Der „Philosophen-König als Gesetzgeber“ ist bereits ein minder-wertiges Zugeständnis an die politische Wirklichkeit. Wenn dann immer nur noch weiter resigniert werden muss, bis zu den Vielen als Gesetzgebern, so bleibt nur mehr eine Fortsetzung des Wegs zum Idealstaat: seine höchste Vollendung kann nicht aus Menschen erwachsen, sie muss bereits aus dem Gesetzesinhalt kommen. Vom Gesetzgeber als Entscheider im Sinn des voluntativen Dezisionismus eines Carl Schmitt führt der Weg zu einer Idealstaatlichkeit, die aus der Qualität des Gesetzes selbst kommt, aus seiner inhaltlichen Geltungskraft. Dies ist nun aber erstaunlich modern gedacht, in Kategorien, vor allem aber gesetzgeberischen Erfahrungen gegenwärtigen Staatsrechts: Gesetzgebungslehre ersetzt Elitenbildung, Formung von Führungspersonal, wie es Politikwissenschaft anstrebt vollzieht sich am, ja im Gesetzesvollzug. Ein unzerstörbarer Glaube wächst ja in diesem gegenwärtigen Staatsrecht: Das gute Gesetz wird seine Anwender schon finden, der Staat seine Regierenden, wenn nur seine Gesetze gut sind; vom Gesetzgeber zum Gesetz führt so der Weg, nicht in die Gegenrichtung, die Nomoi werden auch ihre Wächter finden. Grundgesetzlicher Staatsoptimismus setzt dies heute fort: Zumindest wird doch die „beste deutsche Verfassung“ gute Rechtssetzer hervorbringen; und wenn nicht: genügt nicht ihre normative Güte? Das Gesetz ist der Staat, er lebt nicht in seinen Regierenden. Gegenwärtiges Staatsrecht ist getragen von platonischem Gesetzesoptimismus – eine erstaunliche Konvergenz!

2. Das Gesetz: dauernd über der Macht, unveränderlich Dies Gesetz muss über allen Regierenden stehen, so lehren es die Nomoi: In einer Wendung von der griechischen Natur- zur platonischen Staatsphilosophie; auch in jener waren ja Naturgesetzlichkeiten stärker sogar als blitzeschleudernde Kräfte der Götter, schicksalsspinnende Parzen beherrschten deren fortdauerndes Leben. Eine Macht, die sündigt wider Gesetz, muss bestraft werden, gestürzt, da sie mit den Gesetzen den Staat bricht, darin sich selbst. Also muss das Gesetz unwandelbar sein, unsterblich wie die Götter, von denen es im Letzten nur kommen kann134. Damit wird gesetzlich befohlen im Namen von etwas dauernd Unsterblichem: Es findet sich dies ja auch in uns selbst, in jedem einzelnen Menschen. Auch er hat sich diesen Befehlen des Göttlichen in ihm selbst zu unterwerfen, jenem absoluten sittlichen Imperativ, der später über Kant zum moralischen Halt des Staatsrechts werden sollte. „Gesetz als Individualmoral“ ist das Wesen der platonischen Nomoi; ihm sind wir alle, wir werden ihm nicht unterworfen. Daher kann es überwältigende staatliche Zwangsmacht geben, kommt doch alle ordnende Gewalt aus dem geordneten Menschensein selbst. 133 134

Zur Gottesvorstellung als Gipfel der Nomoi vgl. Seubert (FN 7), S. 613 ff. Zu dieser Gesetzesvorstellung Seubert (FN 133), S. 470 ff.

III. Das Gesetz – Der platonische Rechtsstaat

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Heutige Rechtsvorstellungen sind von alldem allzu weit nicht entfernt. Moralische Staatsgrundlagen werden zwar nicht primär aus Individualmoral gewonnen, auf sie zurückgeführt. Etwas wie eine kollektive „Selbstverantwortlichkeit“ wird aber in einer „Staatsmoral“ doch gefunden, auf welche die Demokratie nicht verzichten mag, mehr noch und geradezu zentral in einem kommt dies zum Ausdruck: in einer Selbstverantwortung der Bürger(schaft) im politischen Wahlakt. Das Staatsrecht der Gegenwart anerkennt allerdings eine „unabänderliche platonische Höchstqualität der Gesetze“ allenfalls im Grundsatz der unbedingten Verbindlichkeit staatlicher Normen. Diese verliert sich aber bald in der Praxis der Gesetzesfluten135, bis hin in Ausprägungen der Gesetze im demokratischen „täglichen Plebiszit“. Überdies sollte sich das moderne Staatsrecht zu einer Stufung des Gesetzesbegriffs entwickeln, mit der gerade Kelsen, der „Staatsbildner aus dem Gesetzen“, diese seine Gesetzesstaatlichkeit wiederum fraktioniert, damit auch relativiert hat. Diese Wege, welche zu einer Verfassungsgerichtsbarkeit führen, haben dann in das heutige Staatsverständnis die Begrifflichkeit des „rechtswidrigen Gesetzes“ eingeführt, die ja bereits mit der Verfassungsstaatlichkeit vorgegeben war. Damit verliert der Gesetzesbegriff nicht nur seine platonische Einheit, er wird, in seiner normativen Wirksamkeit – eben doch auch relativiert, geradezu grundsätzlich. „Das Gesetz“, im Sinne Platons unabänderlich aufgehängt über aller Macht, gibt es also heute schon lange nicht mehr in der modernen Staatlichkeit. Sollte nicht in deren Staatsrecht darüber tiefer nachgedacht werden, dass damit die Norm(wirkung) an sich, ganz wesentlich, nicht nur ihrer Majestät als Staatsgrundlage entkleidet ist, sondern in ihrem praktischen Wirken eben doch entscheidend sich abschwächt? Bedeutet vor allem Verfassungsstaatlichkeit in diesem Sinn nicht eine „Relativierung des Gesetzes“ ganz allgemein – damit auch des Staates, in etwas wie einer begriffsimmanenten Krise des Gesetzes? a) Die „göttliche Autorität“ der Gesetze Die Nomoi nehmen die Rechtsstaatlichkeit ernst: Die Gesetze stehen wirklich über den Mächtigen, deshalb können sie nur als – auch für diese – unabänderlich gedacht werden136. „Autorität“, welche sie trägt, muss also Zentralbegriff des Staatsrechts sein. In den Erläuterungen zum Grundgesetz kommt aber der Begriff ebenso wenig vor, wie er in der Allgemeinen Staatslehre nicht im Mittelpunkt steht. Platons Blick richtet sich bei der Autoritätssuche nach oben137: Nur aus der Höhe der Götter, des Göttlichen kann letztlich Rechtfertigung und Kraft dieser Autorität kommen. Ohne eine „letzte Staatsreligion“ lässt sich also Rechtsstaatlichkeit nicht 135 Dazu Leisner, W., Krise des Gesetzes, Die Auflösung des Normenstaates, 2001, insb. S. 123 ff. 136 Damit geht platonische Idealstaatlichkeit weit über die „Ewigkeitsgarantie“ des Art. 79 Abs. 3 GG hinaus, und auch über die darin liegende „Kontinuität als Verfassungsprinzip“. Vgl. zu dieser Grundthese Leisner, A., 2002, S. 364 ff., 373 ff. 137 Nr. 718 f.

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E. Einzelinhalte der „Nomoi“

denken, weil aus jener geradezu der Begriff der politischen Autorität im Gemeinwesen kommt. Mit logischer Selbstverständlichkeit setzt sich dies bei Platon stufenmäßig fort „nach unten“, im Gesetzesstaat: Diese selbe Autorität prägt die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, innerhalb der Großfamilie, zu allen Nahestehenden (Verwandten), zu den Freunden – eben in der Gesellschaft als solcher, und daher im Staat, zwischen den Bürgern: Alles muss getragen sein, vom Respekt vor der Idee einer „höheren Ordnung“, ihres Vorrangs vor dem eigenen, politischen Willen des Einzelnen. Dies ist wahrlich ein „ganz anderer Ansatz“ als der des gegenwärtigen, säkularisierten Staatsrechts. Religionsfreiheit wird in diesem geachtet, Kirchlichkeit geschützt – aber eben nur als Äußern einer „Meinung“, nicht als Grundlage einer den Rechtsstaat insgesamt tragenden Autorität. In diesem Staatsrecht gilt nicht mehr „L’autorité vient d’en haut, la confiance d’en bas“. Die Demokratie insbesondere kennt nur eine Autorität(svorstellung): die einer Macht aus dem politischen Willen des Volkssouveräns, nicht eine, die „aus dem Gesetz als solchem“, aus Vorstellungen von einem „Richtigen Recht“138 erwachsen könnte. Die Kelsensche Normpyramide führt inhaltlich nicht in geradezu naturrechtliche Höhen – also kann ihr auch, auf ihren niederen Stufen, belebende Kraft einer Autorität nicht von dort kommen. „Autorität des Gesetzes als eine solche, aus sich selbst heraus“ gibt es im demokratischen Staatsrecht allenfalls in der Form des favor legis, einer Geltung von Normen bis zu deren eindeutig-formaler Abschaffung139 ; im Übrigen kommt Autorität nur aus einer Macht (des Volkes), die sich in Wahlen ständig selbst bestätigt. Was noch übrig bleibt, als eine davon unabhängige „Quelle der Autorität der Gesetze“, ist eine allgemeine Ethik, in der speziellen Form der Staatsmoral. Über sie mag Allgemeine Staatslehre spekulieren, im Staatsrecht als solchem kommt sie nicht vor. b) Überzeugung durch Gesetz Im Zusammenhang mit der Bindungskraft der Gesetze aus einer Autorität, welche sie trägt, stellt sich nun für Platon mit systematischer Folgerichtigkeit die Frage nach der Form, in der diese normative Verbindlichkeit zu schaffen und auszugestalten ist140. Grundsätze einer „Gesetzgebungslehre“141 im heutigen Sinn, werden hier also vorgestellt. Dies geschieht in einer konzentrierten Kürze, welche rechtstechnische Einzelheiten vernachlässigt. Zentraler Gesichtspunkt ist dabei wiederum, wie im gesamten Dialog, das Wirken einer Paideia, die in Form der Gesetze geboten wird, 138 Im Sinne von Rudolf Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte, 1902, auch nicht in einem „formalen Sinn“. 139 Vgl. Leisner (FN 1), S. 56. 140 Nr. 730 ff. 141 Vgl. FN 130.

III. Das Gesetz – Der platonische Rechtsstaat

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aus einer höheren Autorität derselben heraus (vgl. vorst. c)), welche der Erziehung durch die Eltern jedoch gleichartig ist und diese fortsetzt. Pädagogische Grundsätze, wie sie der Gegenwart bekannt, in ihr immer weiter entwickelt und verfeinert werden, kommen hier ganz selbstverständlich zur Anwendung: Überzeugungsarbeit ist zu leisten, in Gesetzgebung wie in Gesetzesanwendung. Nicht auf einen normativ abgesicherten Freiheitsraums richtet sich der Blick, sondern auf die Wirkungen der Gesetzgebung, auf die durch sie zu entwickelnden menschlichen Kräfte und Befindlichkeiten der in Paideia zu bildenden Bürger, also auf „Erziehungsbedürfnisse der Normadressaten“ in der Terminologie der Gegenwart. Sie dürfen nicht mit einer Vielzahl von Regelungen überschüttet, verunsichert, verwirrt werden – ein kurzes, aber überzeugendes Plädoyer für Rechtsklarheit142, Verständlichkeit der Normen im Rechtsstaat. Dies verlangt nicht (nur) das „Wesen der Normen“ oder ein „in dubio pro libertate“, welches im Zweifel die Gesetzeswirkung minimiert. Vielmehr liegt den Nomoi eine pädagogisch-psychologische Konzeption zugrunde, welche von der Überzeugungskraft der Gesetze ausgeht, aus ihr deren Wesen ableitet; diese Vorstellung beherrscht jene „außerrechtlichen Disziplinen“ in der Gegenwart schon seit geraumer Zeit. Als Erkenntnis eines „prinzipiell persuasiven Wesens“ aller Normgebung hat sie in das Staatsrecht allerdings nur sehr begrenzt Eingang gefunden, etwa im Sinne einer „Akzeptanz“143 seitens der Bürger. Doch gerade sie kommt gegenwärtig wiederum nicht aus einer Bildungsvorstellung, sondern aus einer Freiheit, welche sich im Letzten geradezu über den Gesetzgeber stellt: Das Gesetz gilt, soweit der Bürger es will. Hier stehen sich Platon und die staatsrechtliche Gegenwart fern – eben aus dem Paideia-Denken des Philosophen heraus. c) Präambeln als Ermahnung In diesem selben Zusammenhang zeigen sich aber auch wiederum Nähen der Nomoi zur Rechtsstaatlichkeit der Gegenwart, bis in die rechtstechnischen Bereiche der Gesetzgebungslehre hinein. Betont wird bei Platon die Notwendigkeit einer „Adressatenmotivierung“ durch, ja in der Form der Gesetze: Diese müssen zu allererst ihre Gebote erklären, deren Begründungen, Zielsetzungen aufzeigen, damit sich aus ihnen mahnende Wirksamkeit ergebe, die dann wiederum in Überzeugungskraft wirkt. Das erklärende Gesetz ist Ausgangspunkt und Wesen aller Normgebung, nicht das erklärte Gesetz, welches in der Gegenwart im Mittelpunkt steht. Nicht in seiner Anwendung erst soll es seine Verdeutlichung, seine Überzeugungskraft gewinnen, wie es heute verbreiteter Rechtstechnik entspricht, in einem „erst einmal abwarten, was denn aus dem Gesetz an Verpflichtungen abge142

Im Sinn der Judikatur des BVerfG, vgl. E 21, 73 (79); 103, 21 (33) – st. Rspr. Demokratisch institutionalisiert in den Formen eines „Konsens“ als – meist wenig klare – Steigerungsform einer „Mehrheit“. Thematisiert wird dies etwa in der Vorstellung von der „Konsensdemokratie“, im Zusammenhang mit dem Bundesrat, vgl. Korioth, St., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 50, Rn. 16, 32. Zum „Konsens“ noch immer grdl. Jakobs, G., (Hg.), Rechtsgeltung und Konsens, 1975, dort insb. Scheuner, U., S. 333 ff. 143

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E. Einzelinhalte der „Nomoi“

leitet wird“. Die Norm selbst soll bereits erklären, in Vorsprüchen verdeutlichen, was dann ordnend verfügt wird. Dies ist ein Plädoyer für eine (aus sich selbst) verständliche Gesetzestechnik, gegen rechtstechnisch „klappernde“ Verweisungen. Eingetreten wird in den Nomoi für vorangestellte Grundsatznormierungen – ein Beitrag zu hochaktuellen Problemen der Gesetzgebungstechnik, ja der direktiven Verfassungsauslegung. d) Vorrang des milderen Gesetzes Noch ein Weiteres ergibt sich für Platon – aber auch für die Gegenwart – gerade aus dieser „Überzeugung als Gesetzgebungsziel“: das Gebot des „milderen Gesetzes“, ein heute allgemein akzeptiertes Sub-Prinzip der Rechtsstaatlichkeit144, aus deren „Erforderlichkeits-Kriterium“ heraus. Nicht nur in einem Einzelvergleich möglicher Normierungen ist jeweils zu ermitteln, ob nicht eine lex mitior zielerreichend wirken kann; dieses Kriterium ist von Anfang an und systematisch für ganze Bereiche zugrunde zu legen, es wird damit zu einer allgemeinen rechtsstaatlichen Gesetzgebungsdirektive, welche sogar bereits die Setzung des jeweiligen Regelungszwecks bestimmt. Bei Platon werden damit erziehungswissenschaftliche Grunderkenntnisse zu Direktiven des Staatsrechts. Dies erfolgt nicht im Sinne einer oft unklaren, ja verwaschenen Verhältnismäßigkeit, die nur aus einer staatsfernen Freiheit bestimmt wird, sondern mit Blick auf den Normadressaten als „Erziehungssubjekt“; darin ist dessen „Entwicklungsraum in und aus Freiheit“ bereits mitgedacht. Mehr Erziehungstechnik in der Gesetzgebung, Normen als Formen der Pädagogik: Dies ist platonische Mahnung an die Gegenwart, letztlich zu einem „Staatsrecht als Erziehung“, nicht „Erziehung zum Staatsrecht…“.

3. Gesetzgebungsziele: Staatszwecke, Verfassungsgrundsätze – Buch V a) „Staatsziele“ Im folgenden Buch der Nomoi wird etwas vorgestellt, was in dieser Form eine Entsprechung im geltenden Verfassungsrecht der Gegenwart nicht findet, mag es auch im Schrifttum zur „Verfassungslehre“, gerade neuerdings, in unterschiedlicher Begrifflichkeit anklingen: „Staatsziele“, auf welche „Gesetzgebungs(grund)linien zulaufen“. Nach der Feststellung der Höchstrangigkeit des Gesetzes im vierten Buch folgt hier, wiederum geradezu in der Folgerichtigkeit gegenwärtiger Dogmatik, dessen materielle Inhaltsbestimmung für den Idealstaat. Im fünften Buch werden 144 Im Sinne der rechtsstaatlichen Prüfung der Erforderlichkeit einer Zweckerreichung, der auch ein „milderes Mittel“ genügen kann, vgl. f. Viele Sommermann, K.-P., in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG. 6. Aufl. 2010, Art. 20, Rn. 314 m. Nachw.

III. Das Gesetz – Der platonische Rechtsstaat

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dazu zunächst allgemeine Grundlinien verdeutlicht, bevor sodann die Behandlung einzelner Bereiche in den Büchern VI ff. folgt. Daher überwiegen im fünften Buch zwar teleologisch-zielorientierte Aussagen, es werden jedoch auch bereits Thesen zu den Instrumentarien von deren Verwirklichung aufgestellt. Dabei geht es um die förderungswürdigen Zwecke der Gesetzesordnung ebenso wie um Relativierung, ja Zurückdrängung solcher, welche die Nomoi von ihrem übergeordneten Zweck, einer „Erziehung durch Gesetz“, ablenken (würden). In dogmatischer Begrifflichkeit des gegenwärtigen Staatsrechts bedeutet dies in etwa: es geht hier um „Gesetzgebungsziele“, im Sinne der Lehre von den Staatszielen145. Nach deren heute prinzipiell akzeptierter Bedeutung hat dies zur Folge: Mit einem derartigen „Staatsziel“ wird nicht nur ein angestrebter, vielleicht (auch nur) idealer Regelungszustand angesprochen, als (End-)Ergebnis der Entwicklung einer speziell fördernden, erzieherischen Gesetzgebung. Der Begriff des Gesetzgebungszieles führt nach gegenwärtigem h. Verständnis weiter: Er beinhaltet „Staatsziele“, damit aber auch bereits „Verfassungsgrundsätze“. In ihm liegt der teleologisch wirkende Zielgehalt, wie er „Rechtsgrundsätzen“ als solchen eigen ist146. Diese Ziele sind im geltenden Recht aber nur in „Annäherungen“ zu verwirklichen; von ihnen geht insoweit eine dynamisierende Wirkung auf die Entwicklung des geltenden Rechts aus, für die gesamte Rechtsordnung. Unter der Geltung einer normativ höherrangigen Verfassung wirkt dies in Form von „Staatsgrundsatznormen“, wie sie etwa in Art. 20 GG angesprochen werden. Dies gilt jedoch nicht nur für deren rechtlich unabänderlichen Kern (Art. 79 Abs. 3 GG); die Wirkung der Staatsgrundsätze zeigt sich in ihrer laufenden „Ausstrahlungswirkung auf die Gesamtentwicklung der Rechtsordnung“, in ganz unterschiedlichen normativen Verbindlichkeitsformen, bis hin zur „Programmwirkung“ von Verfassungsnormen. Im Sinne der Annahme eines Gesamtbereichs der rechtlichen Wirksamkeit von „Verfassungsgrundsätzen“ muss also das gesehen und beurteilt werden, was Platon im fünften Buch als idealstaatliche Mahnung der Gegenwart vorstellt. b) Gesinnungspflege in und aus Körper- und Geisteserziehung – Verehrung als Grundhaltung Platon stellt nicht nur einzelne Ordnungszustände dar, welche in der normativen Welt der Nomoi verwirklicht werden sollen. Er gründet diese auf etwas wie eine übergreifend-allgemeine „Staatsgesinnung“, zu und in welcher die Bürger seines Idealstaats von dessen Gesetzen erzogen werden sollen. Deutlich müssen sämtliche staatspädagogischen Anstrengungen auf ein Ziel ausgerichtet sein: eine Grundeinstellung der Bürger in allen ihren gesetzlich zu regelnden Beziehungen, welche sich 145

Vgl. FN 100. Zu den Rechtsgrundsätzen vgl. insoweit Larenz, K., Methoden der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, 473 ff.; Beaucamp, G., Allgemeine Rechtsgrundsätze als methodisches Problem, DÖV 2013, S. 41 ff. 146

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E. Einzelinhalte der „Nomoi“

etwa umschreiben lässt mit „Bewunderung, Verehrung, Respekt“, abgestuft intensitätsmäßig nach der „staatstragenden Bedeutung“ der Werte, denen der Mensch in solcher Achtung gegenübertritt. Es ist dies dann zugleich eine Gesinnung, aus welcher die gesetzestragende Autorität erwächst, „von unten“, aus den zu erziehenden Bürgern heraus, den heutigen „Gewaltunterworfenen“. So wird denn hier auch zugleich etwas wie ein grundsätzliches Erziehungsprogramm vorgestellt, welches sodann in den Büchern VI. ff. für einzelne Bereiche auszugestalten ist. Es geht um eine „seelische Erziehung auf körperlicher Grundlage“, im heutigen Sinn der Psychosomatik, einer auf sie gegründeten „Staatspsychologie“147. Sie führt zu einer „Gesinnung“, welche der Wahrheit verpflichtet ist148. Sie lenkt, in abgestufter Strenge, den Menschen auf die Erkenntnis dieses Staatszieles hin, verlangt von ihm zugleich eine dementsprechend verehrende Grundhaltung. Eine solche lässt sich nur in einer ausgewogenen Verbindung von Schmerzvermeidung und Vergnügung erreichen, welche in eine Mäßigung mündet149, einen ruhigen Zustand, in welchem Verehrung als Grundhaltung möglich ist. Sie bedeutet daher eine grundsätzliche Absage an individualistischen Egoismus. Versucht man diese pädagogischen, insoweit dynamisch orientierten Vorstellungen auf das heutige, statisch-normativ geprägte Staatsrecht zu übertragen, so zeigt sich zunächst eine grundsätzliche „Ferne“ zu diesem: Es ist auf „Geltung“ gegründet, nicht auf „Entwicklung“150, Programmatik tritt deutlich zurück; in dieser „Normativierung“151 sieht die Dogmatik sogar einen entscheidenden Fortschritt gegenüber Weimar, erst recht im Verhältnis zum Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts. Im durchwegs „geltenden“ Grundgesetz begegnen nicht nur „Gesinnungsänderungen“ als „Staatsziele“, in Verfassungsprogrammatik. Im Übrigen übernehmen die „Verfassungsgrundsätze“ der Art. 20, 79 Abs. 3 GG die Funktion einer verdeutlichenden Normen-Fixierung des Programmgehalts der Staatsziele152. Dabei tritt die statisch orientierte Rechtsstaatlichkeit deutlich zurück, die dynamisch ausgerichtete Sozialstaatlichkeit in den Vordergrund153. Ihre egalisierenden Grundvorstellungen unterscheiden sich jedoch deutlich, ja grundsätzlich von der aristokratisierenden und

147

Nr. 729 f. Nr. 731 f. 149 Nr. 732 f. 150 Eine grundsätzliche Wende könnte hier allerdings eine „Evolutionistische Betrachtung“ einleiten, wie sie in Leisner FN 1, S. 46 ff. vorgeschlagen wird. 151 Wie sie sich in der unmittelbaren Geltung etwa von Art. 3 Abs. 2 oder Art. 6 Abs. 5 GG zeigt, vor allem aber in der durchgehenden verfassungsgerichtlichen Justiziabilität der Verfassungsnormen. 152 Grdl. m. Nachw. Hain, K.-E., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 79, Rn. 31 ff., insb. Rn. 43 ff., auf der Grundlage von derselbe, Die Grundsätze des Grundgesetzes, 1999. 153 Mit der Schubkraft des „Existenzminimums“, vgl. dazu Leisner, W. G., Existenzsicherung im Öffentlichen Recht, 2007, S. 150 ff. 148

III. Das Gesetz – Der platonische Rechtsstaat

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zugleich individualistischen Grundhaltung platonischer Geistigkeit; dies kann hier nur erwähnt, nicht vertieft werden. Was allerdings im gegenwärtigen Staatsrecht schlechthin nicht begegnet, darin einen weiteren Abstand zu platonischer Idealstaatlichkeit begründet, ist eine normativ-verfassungsrechtlich verfestigte Bildungsstaatlichkeit154 als solche. Allenfalls in sozialstaatlichen Erziehungsbemühungen findet derartiges heute seinen Ausdruck. Diese aber stehen, hinsichtlich ihrer Rechtsgrundlagen und überdies in ihrer Egalisierungstendenz, zu platonischen Grund- und vor allem Paideia-Vorstellungen in einem grundsätzlichen Gegensatz. Diese Fernen werden sich auch in absehbarer Zukunft kaum überbrücken lassen: Egalität im gegenwärtigen staatsrechtlichen Sinn ist als solche kein platonisches Primär-Thema. Allerdings spielt sie bei ihm wirtschaftlich, als Instrument gesetzlicher Erziehung, eine entscheidende Rolle (vgl. i. Folg. d)). c) Immigration: Qualität als Aufnahmekriterium In erstaunlicher Nähe zu gegenwärtigen Grundproblemen der Politik und des Staatsrechts bewegen sich die Nomoi allerdings in der Frage der Aufnahme von Fremden in den Staatsverband. Die wirtschaftliche Entwicklung Griechenlands, mit Wirkungen vor allem für das kolonisierende, seefahrende Athen, ließ Platon die Frage nach der „Öffnung seines Idealstaats für Fremde“ stellen: Einwanderer als Gäste, als Xenoi, damit gleichgestellt den einladenden Bewohnern des StaatsHauses. Der Begriff des Xenos hatte damals bereits eine lange, vor allem eine auch religiös fundierte Entwicklung genommen155 ; auch insoweit lassen sich manche Parallelen zu heutigen Immigrationsdiskussionen ziehen: zur Einwanderung von Flüchtlingen, zu den Fremden als Nächsten156, aber auch als (sogar bestimmende) Motoren für eine Entwicklung der Gemeinschaft. Bedeutsam ist angesichts einer solchen Nähe soziologischer Erscheinungen und staatsethischer Grundhaltungen zwischen Platon und der Gegenwart dennoch eine deutliche Zurückhaltung, welche beim Philosophen anklingt in der Frage einer Öffnung zur Immigration (Nr. 736). „Schlechte“, nicht nach seinen Paideia-Vorstellungen entwickelte Menschen sollen nicht als Bürger aufgenommen, ihnen soll nicht durch Landverteilung eine wirtschaftliche Lebensgrundlage geboten werden. Denn durch sie könnten „Bessere“, bereits höher Entwickelte verdorben werden. Ein Erziehungs-Samaritertum („Stärkere für Schwä154 Ein grundrechtlicher Anspruch auf Bildung ist umstritten, vgl. Robbers, G., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 7, Rn. 31 m. Nachw. Grds. steht eben der föderale Staatsaufbau einer durchgehenden normativen Ausgestaltung einer Bildungsstaatlichkeit in der Bundesverfassung entgegen, die sich auf marginale Kompetenztitel beschränkt (Art. 76, Nr. 13, 33). 155 Vom „Gastfreund“ zu dem wie ein Freund aufzunehmenden Fremden. 156 Eine religiöse Vorstellung klingt hier immerhin an in der göttlichen Schutzbefohlenheit des Fremden, angesichts der allgemeinen Hilfsbedürftigkeit des Menschen, in der Sicht dessen, was dem heute Aufnehmenden morgen beschieden sein kann.

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E. Einzelinhalte der „Nomoi“

chere“) ist Platon, jedenfalls in solcher Allgemeinheit, völlig fremd. Die Volksbasis mit ihren zu erziehenden Bürgern muss gewahrt157, in Abgrenzung gefestigt werden158. Der Idealstaat Platons ist insoweit eben eindeutig streng abgeschichtete Gesetzesstaatlichkeit, kein Anfang von „Welt-Genesung“ aus einem deutschen, nun auch amerikanischen „Weltverbesserungsdenken“ heraus. Eine ernste pädagogisch-psychologische, ins Staatsrechtliche zu übersetzende Mahnung ist dies für gegenwärtige staatsrechliche Diskussionen. „Öffnungen“ an der Basis des demokratischen Volkssouveräns bringen Identitätsgefahren der Staatlichkeit als solcher, nicht nur eines spezifischen (deutschen) Staates: Nicht aus einer „Rassenlehre“ heraus ist dies zu begründen, sondern aus den Gesetzmäßigkeiten geistiger Entwicklung der Menschen, damit auch im platonischen Sinn. Sie dürfen darin nicht gefährdet werden durch Einflüsse aus anderen, (noch) nicht gleichhohen Entwicklungsständen. Diese müssen vielmehr zuallererst jeweils dort gesteigert werden, wo sie in Erscheinung treten: in fremder, in ihrer ursprünglichen, nicht in einer aufnehmenden Idealstaatlichkeit. d) Besitz als Grundlage, Besitzstreben als Gefahr für den Idealstaat Im 5. Buch vollzieht sich eine methodische Wendung des Gedankengangs der Nomoi. Bisher stand dort das „menschliche Erziehungssubstrat als solches“ im Vordergrund, die zu entwickelnden Kräfte des Individuums als Ausgangspunkt aller Staatlichkeit. Nun wird erstmals der Weg frei zur Betrachtung eines (rechtlichen) Instrumentariums, mit dem diese Bildung geleistet werden soll. Dies geschieht in einer allgemeinen Weise, zugleich aber bereits mit tiefgreifenden praktischen Vorschlägen. Sie sind grundlegend für das platonische Staatsdenken als solches. In diesen Ausführungen (Nr. 740 ff.) wird ein Grundthema aufgegriffen, welches die griechische Philosophie, ja die „klassische“ antike Gedankenwelt als solche beherrscht: Skepsis gegenüber, ja eindringliche Warnung vor der Gewinn-, vor der Geldgier, der „auri sacra fames“, wie dies später bei Vergil heißen wird. Kein Problem beschäftigt nun auch das Staatsrecht der Gegenwart in vergleichbarer Intensität, vor und hinter seinen gesetzlichen Kulissen: das Gewinnstreben als zentraler Gegenstand allen wirtschaftlichen Ordnens. Es prägt dies auch die sozialpolitischen Kategorien von Umverteilung im Namen des Schwächerenschutzes159 ; beschrän157

Zur Problematik dazu vgl. Leisner, Das Volk (FN 62), S. 42 ff. Als deutliche Gegentendenz erscheint gegenwärtig die Diskussion um den „Doppelten Pass“ für Zuwanderer. Das traditionelle Völkerrecht stand „Doppelter Staatsbürgerschaft“ bekanntlich skeptisch gegenüber, schon aus Gründen möglicher Loyalitätskonflikte. 159 Ausgehend vom „Schutz der wirtschaftlich schwächeren Arbeitnehmer“ (BVerfGE 51, 53 (55 f.); 77, 288 (329 ff.); 85, 226 (233) – st. Rspr.) wird „Schwächerenschutz“ immer deutlicher zu etwas wie einem „ungeschriebenen Staatsprinzip“ – eine historische Selbstverständlichkeit in der Demokratie. Seine dogmatische Strukturierung ist allerdings noch längst nicht gelungen; vgl. dazu Leisner (FN 94), insb. S. 212 f. (Gleichheit), S. 284 f. (Schutz durch 158

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kende Ordnung des Gewinnstrebens ist primäres Ziel aller Anstrengungen, deren Verfolgung überhaupt erst die heutige Gemeinschaft konstituiert. Platons Grundthese ist hier hart und klar, ganz anders als in vielen seiner sonstigen Gesprächsergebnisse, in denen stets ein letzter Zweifel bleibt, ein Restbestand von Problematik: Die Staatsordnungen werden eingeteilt und – in Vorwegnahme aristotelischer Qualifizierung – auf ihre Güte hin beurteilt, nach ihrer Annäherung an eine Verteilungsgerechtigkeit. Diese richtet sich aus an der Idealverstellung einer absoluten, allgemein geltenden (Wirtschafts-)Ordnung. Eine solche wird bereits zu Beginn der Ausführungen im V. Buch aufgefasst als etwas wie ein (problematisches) Hilfsmittel der Erziehung, wenn dort die Eltern ermahnt werden, die Kinder durch ihr Beispiel zu bilden, nicht darin, dass sie ihnen Geld zuwenden (werden). Diese Verteilungsgerechtigkeit wird in einer Radikalität von wirtschaftlicher Nivellierung durchgeführt, welche kommunistische Endzeit-Hoffnungen in den Schatten stellt: Alles soll grundsätzlich Allen gemeinsam sein. (Ständige) Umverteilung erfolgt in losähnlichen Verfahren. Geschäfte dürfen deren Distributionsergebnis nicht verändern. Alles Gewinnstreben muss sich in engen Grenzen halten, darf den Besitz nur bis zum „Vierfachen“ – nicht eben „Vielfachen“ – steigern; jenseits beginnt das „schmutzige“, das verabscheuungswürdige Gewinnstreben. Die Verteilung ist mit Genauigkeit und auf Dauer vorzunehmen und durchzuhalten. Diese wahrhaft revolutionären Thesen sind Idealvorstellungen, zu denen sich übrigens verbreitete gegenwärtige Grundvorstellungen gewisser politischer Grundströmungen eindeutig hochrechnen lassen: Strenge Kontrolle des Geschäftsverkehrs160, Einschränkung oder gar Verbot von Zinsen161; Gewinnkappung durch Totalentzug im Wege der Besteuerung, bei Überschreitung fester Grenzen162. M. a. W.: Gegenwärtiger strenger Sozialismus kann sich, selbst in seinen radikalen Formen, unmittelbar an diesem platonischen Staatsideal orientieren, sich – so muss es wohl formuliert werden: – „auf Platon berufen“. Dies allein war auch ein Grund dafür, dass die Nomoi eigentumsbegründeten Vorstellungen einer „Ständestaatlichkeit“, wie auch eines merkantilistischen Liberalismus, geradezu als ein staatsrechtliches Schreckgespenst erscheinen mussten. Deshalb vor allem konnten diese „Gesetze“ nur als resignierendes Alterswerk, ja als utopisches Auslaufen früherer Gedanken der Politeia (ab)gewertet werden163. die Judikative). Ders., Markt- und Verteilungsstaat, Schwächerenschutz und Verfassung in Krisenzeiten, JZ 2008, S. 1061 m. Nachw. 160 Zu gegenwärtigen Bestrebungen der Kontrolle der Vertraglichkeit im sozialpolitischen Zusammenhang vgl. Leisner, Vertragsstaatlichkeit, FN 119, S. 112 ff. 161 Nach christlich-kirchlichem Vorbild, vgl. Ramp, E., Das Zinsproblem, 1949. Aufgenommen wurde dies, und der Zins als Ausbeutung bekämpft, von sozialistischen Bestrebungen ab dem 19. Jahrhundert. 162 Zum Beispiel in der 75 %igen „Kappungsgrenze“ bei der Einkommensteuer, unter der sozialistischen Regierung in Frankreich ab 2012. 163 Vgl. B. II. 1.

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E. Einzelinhalte der „Nomoi“

Dem gegenüber ist, gerade an dieser Stelle, der Charakter der Idealstaatlichkeit der Nomoi zu betonen. Dieser Verteilungsmechanismus, wie auch sein Ergebnis, ist ein, allerdings enger, Rahmen, den nur ein Ziel rechtfertigt: Bändigung des Gewinnstrebens des Menschen. Dieses bringt ja jenen Egoismus hervor, welches den platonischen Bildungsindividualismus rasch in einer Unruhe der Gesellschaft, der staatlichen Gemeinschaft (zer)stören muss. Nicht in Kategorien einer Kollektivierung als Selbstzweck ist aber diese Wirtschaftsordnung konzipiert, wie dies etwa marxistisch-kommunistischen Vorschlägen zugrunde liegt. Vielmehr ist es, eher in diametralem Gegensatz dazu, gerade das Individuum, das in seiner Bildungsentwicklung bei Platon im Mittelpunkt steht. Für solche Erziehung bieten Geld, Schätze, gesteigertes Wohlleben zwar einen verführerischen Rahmen – aber eben auch eine tödliche Gefahr, indem sie die Menschen ablenken von dem Wesentlichen ihrer Existenz, welche sich in geistiger Paideia vollzieht und vollendet. Diese läuft „in Geist“ ab, nicht in Geld. Materielles hilft darin – aber es (zer)stört, wenn es dominiert. Letztlich liegt dem die zentrale antike Vorstellung vom Meden agan, nil nimis zugrunde, von einer Mäßigung, welche denn auch in diesem Zusammenhang ausdrücklich als Zielvorstellung angesprochen wird. Werden die Nomoi in diesem Licht gesehen, so bedeuten sie eine, allerdings radikale, Absage an jede, vor allem wirtschaftliche, „Unendlichkeitsdynamik“, damit staatsrechtlich an einen Radikal-Liberalismus des „plus grand bien du plus grand nombre“, an einen Wellfare-State als Staatsziel. Eine Gegenposition ist dies, und zwar radikal, zu einem Materialismus im Leben der Gemeinschaft und damit auch des Einzelnen. Wie könnte es auch anders sein im platonischen Denken, das auf Ideale gerichtet ist, auf Bildung, nicht auf Bedürfnisbefriedigung. Diese beiden Zustände und Ziele stehen einander, an sich schon, in schwer überbrückbarer Distanz gegenüber – sie stehen gegeneinander bei Platon, hier führt kein philosophischer Weg auch nur zu einer Nähe. e) Armut, Schwächerenschutz Die speziell sozialpolitische Akzentuierung einer solchen Güterverteilung, als Berufs- und Erwerbsgrundlage, wird in den Nomoi ebenso angesprochen wie sie bei allen sozialistischen Gestaltungen im Mittelpunkt steht: Armutsvermeidung, Schwächerenschutz164. Allerdings erfolgt dies bei Platon in einer anderen Zielrichtung und dementsprechender Akzentsetzung. Nicht der Wohlstand als solcher und sein ständig zu steigerndes Niveau erscheinen als idealstaatlicher Zweck165. Es geht um Armutsvermeidung, im engeren Sinn einer eher polizeistaatlichen Aufgabe 164

Im Sinne frühliberaler Wohlfahrtsstaatlichkeit vgl. dazu etwa Toft, C., Die internationale Debatte um den Umbau und die Reform des Wohlfahrtsstaates, ZSR 2003, 1 ff.; Baldwin, P., Der europäische Wohlfahrtsstaat, Konstruktionsversuche in der zeitgenössischen Forschung, ZSR 2003 41 ff. Früher schon Kohl, Jürgen, Der Wohlfahrtsstaat in vergleichender Perspektive, ZSR, 1993, 67 ff. 165 Vgl. FNen 149, 150.

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der Abwendung einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, aber eben nicht nur im Sinne einer Störungsfreiheit. Primär ist vielmehr und insoweit das Erreichen und Halten eines Gesellschaftszustandes, der in seiner ausgewogenen Ruhe die Bildungsanstrengungen der Staats-Paideia nicht nur nicht behindert, sondern sie vielmehr, materiell eben, befördert. Soweit Armutsbekämpfung gegenwärtig geradezu Bildungsziel, nicht Bildungsvoraussetzung ist, entspricht dies den platonischen Vorstellungen eines „gebildeten Zusammenlebens in der Gemeinschaft“, wie es ja auch im herkömmlichen Sprachgebrauch des „zivilisierten Verhaltens“ angesprochen wird. Menschenbildung im Sinn der Nomoi darf aber nicht verengt werden auf eine Garantie der Grundlagen von Verdienst und Gewinn. Damit zeigt sich dann eben doch wieder eine Ferne in der scheinbaren sozialpolitischen Nähe Platons zu gegenwärtiger Sozialpolitik, wie sie in Sozialstaatlichkeit verwirklicht werden soll166. Verteilung – das ist in den Nomoi ein Bildungsinstrument; Wohlstand ist nicht Selbstzweck, sondern Mittel der Staats-Paideia.

4. Staatsorgane – „Familiengemeinschaft“ – „Herrschaft“ – Buch VI In voller Entsprechung zur Dogmatik des gegenwärtigen Staatsrechts, das hier wohl erstmals in derart grundsätzlicher Systematik vorgezeichnet wird, folgt nun die Darstellung des idealstaatlichen organisatorischen Staatsrecht, eines staatlichen Ämterrechts in einem weiten, ins Gesellschaftliche des Familienbereichs ausgreifenden Sinn. Bis ins Einzelne finden sich hier Grundkonzeptionen in erstaunlicher Nähe zur Gegenwart. a) „Verfassung“, „Verfassungshüter“: vorgezeichnet in den Nomoi Erst aus diesem organisatorischen Staatsrecht der Nomoi ergibt sich eindeutig – und dies ist bemerkenswert – dass alles, was den Idealstaat praktisch handlungsfähig macht, im Einzelnen aus seiner Gesetzgebung herauswächst; sie wird dann allerdings in enger Verbindung zur täglichen Praxis entfaltet, korrigiert, verbessert. Vor allem muss also diese Gesetzesordnung gewahrt werden. Sie stellt die höhere, normative Ordnungsschicht dar. Damit steht die Vorstellung von einer zu wahrenden normativen „Verfassung“ an der Spitze des organisierten Ideal-Staatsrechts. 166 Diese Sozialstaatlichkeit kann ja zumindest darin nicht reglementierend, sondern nur freiheitlich-individualistisch gedacht werden, dass sie eben Bildungsanstrengungen doch letztlich den – materiell besser dafür ausgestatteten – Einzelnen überlässt. Allerdings entspricht dies nicht den Ansätzen gegenwärtiger Verfassungspolitik der Bildungsstaatlichkeit, die wiederum deutlich „staatsbildungsrechtliche“ Akzente setzt, vgl. Ehrenzeller, B., Bildungsföderalismus auf dem Prüfstand, VVdStRL 73, 2014, S. 7 ff.; Wallrabenstein, A., ebenda S. 42 ff.

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Etwas wie normatives Verfassungsrecht ist darin als höhere Normschicht im Kelsenschen Sinn eindeutig vorgegeben, wobei sich innerhalb desselben ein religiösfundierter Bereich bereits nach früheren Aussagen heraushebt. Aus dieser „Normstufenlehre“, geradezu im fundamentalen Sinn des gegenwärtigen Staatsrechts, ergibt sich dann für Platon, mit ebensolcher Notwendigkeit wie in Lehre und Staatspraxis nach dem Vorbild Kelsens, die Notwendigkeit von „Verfassungshütern“, den „Wächtern über die Gesetze“. Dies ist ein Verfassungsgericht im Sinne neuester gegenwärtiger Vorstellungen: allerdings mit weiter, verfassungsgestaltender Zuständigkeit167, nicht beschränkt auf negative Entscheidungen. Bemerkenswert ist übrigens, dass dieser höchsten Staatsinstanz bei Platon sowohl die Ausgestaltung der Grundlagen der Steuererhebung anvertraut ist, wie auch die Strafgewalt in einem allgemeinen Sinn. Selbst darin lassen sich Parallelen zur gegenwärtigen grundgesetzlichen Staatsorganisation ziehen: zur besonderen Bedeutung der Verfassungskontrolle gerade in den Bereichen des Straf- und des Steuerrechts. Die Auswahl diese Wächter obliegt einem Kollegium (Nr. 754 ff.) (kriegs)erprobter Persönlichkeiten; Vergleiche zu Bestellung von Verfassungsrichtern nach dem Grundgesetz sind, angesichts dieser erstaunlich eingehenden Regelung, durchaus naheliegend, mag die Gestaltungsgewalt der Wächter bei Platon auch weit über die von Verfassungsgerichten der Gegenwart hinausreichen: Ein besonderes Wahlgremium hat die Wächter aus seiner Mitte zu bestimmen, in einer Stufenwahl, welche an die Funktion höherer Mehrheitserfordernisse bei der Richterbestellung in der Gegenwart erinnert168. Von Gewicht ist hier die Mahnung der Nomoi, die Wahl der Gesetzeswächter nicht denjenigen anzuvertrauen, deren Entscheidungen sie sodann zu überwachen haben; dies erinnert an eine deutliche Schwachstelle gegenwärtiger verfassungsgerichtlicher Organisation169. Die Sonderstellung des Wahlgremiums und des Wahlverfahrens der Wächter mag für das gegenwärtige Staatsrecht zum Nachdenken darüber anregen, ob der herausragenden Stellung des Verfassungsgerichts nicht ein dementsprechend besonders ausgestaltetes Bestellungsverfahren korrespondieren müsste, aus dem Wesen der Verfassung heraus; und ob sich die „Wächter“ nicht nur allgemein in Politik und Verwaltung bewährt haben sollten, sondern in einer besonderen Weise, welche der platonischen „Kriegserprobung“ entspräche.

167

Wohin sich allerdings gegenwärtige Verfassungsgerichtsbarkeit zunehmend entwickelt, in positiver Gestaltung der Staatsordnung durch negative oder eben auch positive Direktiven in verfassungsgerichtlichen Urteilen. Die Richter werden damit in einem volleren, auch „dezisionistischen“ Sinn zu „Hütern der Verfassung“ – eine späte Begegnung von Carl Schmitt und Hans Kelsen. 168 Vgl. Regelungen über besonders qualifizierte Mehrheiten bei der Wahl von Richtern des BVerfG nach Art. 94 Abs. 1 S. 2, i. V. m. §§ 6 Abs. 5, 7 BVerfGG. 169 Inkompatibilitätsregelungen in § 3 Abs. 3 BVerfGG. Eine Schwachstelle liegt hier in der Praxis insoweit, als andere als (bisherige) Richter und Hochschullehrer, eben auch bisherige Spitzenvertreter der Exekutive und Abgeordnete, wählbar sind.

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b) „Gewaltenteilung“ Auf der Grundlage dieser Wächter-Wahl – in einer aus gegenwärtiger Sicht bedenkenswert systematischen Aufbau-Verbindung mit ihr – sollen nun nach den Nomoi die Amtsträger („Bouleuten“, Senatoren) gewählt werden. Es handelt sich dabei nach heutigen Vorstellungen nicht einfach nur um Organe der Staatsgewalt, sondern um „Verfassungsgewalten“. Deutlich werden hier bereits Verwaltungszuständigkeiten von solchen im Bereich des Gerichtswesens unterschieden (Nr. 758 ff.), letzteres ist aufgebaut in Schiedsgerichtsbarkeit (Nr. 763 ff.) und öffentlichen Entscheidungsinstanzen (Nr. 768 ff.). In all dem begegnet ein geradezu „modern anmutender“ Staatsaufbau eines Verfassungs-, ja auch eines bereits aufgegliederten Verwaltungsstaats. Erstaunen weckt vor allem eine grundsätzliche Feststellung, die sich aufdrängt: Hier werden doch bereits Grundlinien einer Gewaltenteilung sichtbar170, wie sie durch Montesquieu, ausgehend von englischer Theorie und Praxis, zur Grundlage moderner Staatlichkeit werden sollten. Die unterschwelligen geistigen Strömungen, welche hier platonische Gedanken in die Aufklärung getragen haben, gerade über die Staatslehren der Gewaltenteilung, verdienen vertiefte Betrachtung, vor allem im Licht antiker Gedankenrezeptionen im England des 17. Jahrhunderts, etwa bei Locke. Die Lehre von der Gewaltenteilung führt letztlich jedenfalls auf die Nomoi, wenn nicht noch weiter zurück; das entspricht platonischem Denken, ist es doch bereits in dessen Lehre vom Gesetz als solchem (vgl. Nr. 4) vorgezeichnet, damit in einer Rechtsstaatlichkeit verortet. Gerade als deren organisationsrechtliche Konsequenz wird sie denn auch im gegenwärtigen Verfassungsrecht und dessen Dogmatik grundsätzlich erfasst171. In der Gedankenströmung über England und Montesquieu konnte sich dies Letztere allerdings deshalb nicht vergleichbar zeigen, weil in der englischen Staatlichkeit das „gesetzte Gesetz“ hinter dem Gewohnheitsrecht damals noch völlig zurücktrat. Zur Gewaltenteilung muss also – zu allererst – nachgelesen werden bei Platon. c) Wahlen als Grundlage der Staatsgewalt – kein „autoritärer Idealstaat“ „Demokratische Zurückhaltung“ gegenüber der Gedankenwelt der Nomoi beruht wohl vor allem auf einer fundamentalen Fehldeutung: als ob Platon dort den „autoritären Idealstaat schlechthin“ entworfen hätte. Richtig daran ist nur, dass es bei dieser Ordnung zu allererst um eine Grundlegung der „Autorität als solcher“ ging 170

S. Leisner (FN 1), S. 24 f. Vgl. etwa den redaktionellen Aufbau des Art. 20 GG und dementsprechend die Behandlung der Sozialstaatlichkeit als Grundlage, sodann aber auch als Konkretisierung der Gewaltenteilung, hier dazu etwa den Aufbau bei Sommermann, K.-P., in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 20. 171

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(vgl. vorst. 4., 5. b)), aus bildungsgeprägten Grundhaltungen heraus, in Wirkungen einer Paideia. Die rechtliche Übertragung dieser Autorität aber erfolgt bei Platon – wie könnte es auch anders sein – in der „demokratischen Grundstimmung“ des damaligen Athen: durch Wahlen. In einer voll durchorganisierten, geradezu radikaldemokratischen Konzeption werden alle öffentlichen Amtsträger durch Wahlen bestimmt, und dies auch noch auf kurze Zeit, um jeden Machtmissbrauch von vorne herein, bereits organisationsrechtlich, auszuschließen, ihn nicht erst nachträglich repressiv mit Sanktionen zu belegen. Die „Gesetze“ bieten insoweit ein Staatsrecht, das voll auf Wahlen und damit auf Demokratie gegründet ist. Dass damit „Demagogie“172, letztlich ein „staatsrechtliches Unwort“, in der Volksherrschaft, einhergeht, ihm ja erst recht eigentlich Raum gegeben wird, hat Platon resignierend als selbstverständlich ebenso in Kauf genommen, wie dies heute – leider – kein „demokratisches Zentralthema“ ist. Hier zeigt sich allerdings eine historische staatsrechtliche Fehleinschätzung: Wahlen sind kein ausschließlicher Wesenszug demokratischer Staatsform(en). Auf ihnen beruht ebenso jede aristokratisch begründete Ordnung, gerade sie; dies belegt historisch nicht nur das Staatsrecht der Republik Venedig173. Gerade unter den „Guten“, den Leistungsfähigen – wie immer diese bestimmt werden für staatliche Organstellungen – müssen dann ja die „Besten“, eben die Aristoi, als Träger der Staatsgewalt ausgewählt werden. Und selbst die Monarchie beruht ja letztlich, über die Lehre vom „Sozialvertrag“174, auf jener Wahl, mit welcher der (ursprüngliche) Volkssouverän seine (Voll-)Gewalt dem Einen anvertraut, allerdings nicht auf Zeit, sondern nur „bis zur nächsten Revolution“. Wahlen als solche sind also, auch in diesem modernen Verständnis, kein notwendiges Grundelement, kein Wesenskriterium allein der Demokratie; letzteres gilt nur für eine Gestaltung, die allerdings im platonischen Idealstaat keinen Raum findet: das allgemeine, gleiche Wahlrecht aller Menschen. Wie sollte es auch geordnet werden, als Zuständigkeit einer Machtübertragung, wenn Grundanliegen aller Staatlichkeit die „Bildung des (einzelnen) Menschen“ ist, seine Höherentwicklung in der Gemeinschaft, nicht sein „Menschsein als solches“, wie dies aber gegenwärtig die grundgesetzliche Menschenwürde als Höchstwert postuliert175. Wiederum aus der platonischen Paideia heraus können also „Staatsämter nur als Bildungsfolgen, als Bildungsprämien“ verstanden werden. Damit ist auch das „Gemeinwohlproblem“

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Zur „Volks(ver)führung“ vgl. ausführlich Leisner, Das Volk (FN 62), S. 185 ff. Le Bret, J. F./L’Augier, M. A., Staatsgeschichte der Republik Venedig von ihren Ursprüngen bis auf unsere Zeit, 1769; Heller, K., Venedig: Recht, Kultur und Leben in der Republik 607 – 1797, 1999. 174 Leisner, Vertragsstaatlichkeit (FN 119) m. Nachw. 175 Das „allgemeine gleiche Wahlrecht“ nach Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG ist ja Ausdruck der „menschengerechten Gleichheit“ (Osterloh, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 38, Rn. 4), die ihrerseits, über Art. 1 GG, sogar aus übergeordneten Gerechtigkeitsvorstellungen erwachsen soll. 173

III. Das Gesetz – Der platonische Rechtsstaat

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anders gelöst176 : nicht egalisierend, sondern letztlich doch individualistisch: der so qualifizierte Inhaber der Staatsmacht wird seine eigene, individuelle Paideia in „Staatsbildung“, „Bildung durch Staatlichkeit“ fortsetzen. Daraus (allein) kann dann „Gemeinwohl“ werden, nicht in einer integrativen Zusammenfassung aller (möglichen) mehr oder weniger „un-gebildeten“ menschlichen Interessen und deren Träger, mögen sie sich als solche im In- oder Ausland entwickelt haben. d) Lehrer als „Staatsorgane“ Weil diese Paideia das Staatsziel, ihre Instrumente die zentralen Staatsmaßnahmen sind, ist es selbstverständlich, dass Lehrer, als solche, ebenso wie Priester, besonders wichtige Staatsorgane darstellen, daher als derartige zu wählen sind, wie Verwaltungsträger und Richter (Nr. 766). Darin entfernt sich gegenwärtiges Bildungsrecht in Deutschland von platonischen Idealen. Nicht mehr nur „Lehrer als Beamte“177 sind tätig nach heutigem Öffentlichen Recht, sondern auch als Angestellte nach den Grundsätzen eines Privatbereichs, ohne „hoheitliche“ also typisch staatliche Befugnisse im Sinne des Art. 33 Abs. 5 GG. Eine solche „Entstaatlichung der Erzieher“ widerspricht diametral der Grundkonzeption einer „Erziehung im Staat und zu diesem“ nach platonischem Vorbild; die Gegenwart setzt dem letztlich Vorstellungen von einer eigenartigen „Privatisierung“ der Erziehung als solcher entgegen, welche in letzter Konsequenz zu einer „Vergesellschaftung des Staates an seinen Wurzeln“ führt. Hier begegnet die marxistisch-kommunistische Hoffnung auf ein „Absterben der Staatlichkeit“ in der modernen Form von deren „Aufgehen in der Gesellschaft“. Die Nomoi dagegen wollen aus dieser ihre Staatlichkeit aufbauen. e) Eltern als staatliche Bildungsträger Der platonische Idealstaat der Paideia beruht auf einem Grundkonzept der Elternschaft, welches dort das gesamte Familienrecht prägt – in grundsätzlicher Ferne zu Grundvorstellungen, wie sie im Grundgesetz bereits ihren Ausdruck gefunden haben, die Staatsentwicklung der Gegenwart immer mehr tragen. Die „pädagogische Gewaltenteilung“ zwischen Eltern (Art. 6 Abs. 1 GG) und „Staat“ (Art. 7 GG) ist als eine solche kaum erkannt, in ihren Abgrenzungswirkungen, vergleichbar etwa einer staatsorganisatorischen Gewaltentrennung, nicht vertieft worden. Abgeschichtet und bereichsmäßig geschützt wird hier nur aus dem Gegensatzpaar des „privaten“ und „öffentlichen Sektors“ heraus, also nicht in staatsorganisatorischer, sondern in grundrechtlicher Betrachtungsweise. Zwar sta-

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Zu einem „Tugendmodell“ vgl. in einer (i. w. S.) „Amtsbezogenheit“, Isensee, J., Gemeinwohl und Öffentliches Amt, 2014, insb. S. 83 ff. 177 Battis, U./Schlenga, H. D., Die Verbeamtung des Lehrers, 1995, 253; Böhm, M., Lehrerstatus heute: Rahmenbedingungen und Reformperspektiven, DÖV 2006, 665.

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tuiert der Verfassungsstaat ausdrücklich „Elternpflicht“178, aber nicht im Sinne einer staatsorganisatorischen Organstellung der Eltern. Aus einer solchen heraus entwickelt dagegen Platon sein (idealstaatliches) Eherecht – in voller Bildungsorientierung (Nr. 776) an dem Bild des künftigen Bürgers: Ein Eheschließungszwang wird verordnet, ein Eheschließungsalter bestimmt, die Autorität der väterlichen Gewalt geordnet, die Beziehungen zur Verwandtschaft durch Trennungsvorschriften: eine perfektionierte Menschen(auf)zuchtordnung, wie sie der Gegenwart als völlig unerträglich erscheinen müsste. Grund für diese Ferne sind die heutigen Freiheitsvorstellungen. In deren immer stärkerer Ausweitung im schulischen Bereich, in den sexuellen Beziehungen, in der Freiheit der gesamten Lebensgestaltung der Bürger in der Gemeinschaft, tritt eines immer weiter zurück, was aber den platonischen idealen Bildungsstaat rechtfertigt, prägt, ja geradezu konstituiert: Vor-Bild-Funktionen in der Bildung, damit diese als Staatszentrum, als Grundprinzip der Staatsorganisation. Bildungsstaatlichkeit wird also in der Gegenwart, auf der Grundlage der Ehe- und Erziehungsfreiheit der Bürger, aber auch bereits im Raum der öffentlichen, staatlichen Erziehung, nach Inhalt und Formen in einer Ferne vom platonischen Ideal verstanden und organisiert, die unüberbrückbar erscheint für den Leser der Nomoi. Vor-Bilder gibt es nun kaum mehr, der freie Mensch ist sich selbst Vorbild. Damit verdämmern die Bilder der Autorität, aus – gegenwärtigen (!) – Höhlen heraus werden sie jedenfalls nur mehr verschwimmend geschaut… Bereits vom geltenden Staatsrecht aus, erst recht nach den gesellschaftlichen Entwicklungen der Gegenwart – gibt es da überhaupt noch (Brücken-)Pfeiler in platonische Richtungen aus dem engen, nahen Elternhaus? f) Exkurs: Von der Staatsorganisation zum Dienstrecht Ein Einschub in diesem VI. Buch (Nr. 778 ff.) mag zunächst erstaunen: Über „Dienstrecht“ wird im Verständnis der Gegenwart nachgedacht im Zusammenhang mit Berufsrecht und Familienrecht179. Diese gedankliche Verbindung liegt in der platonischen Vorstellungswelt an sich nahe: In all dem spielen ja pädagogische Fragestellungen eine entscheidende Rolle, schon mit Blick auf einen Autoritätsbegriff, der in ihnen allen wirksam ist, aber auch mit Bezug auf jene umfassende Paideia, welche eben öffentliches wie privates Leben prägt. Letztlich ist ja auch heute für viele noch immer der Raum abhängiger Beschäftigung der einer großen Familie. 178 Die „Kompetenz“ der Eltern ist verfassungsrechtlich geregelt in den Formen einer „Pflicht“ (Höfling, W., HStR3 VII, § 155, Rn. 30 ff.), einer „Elternverantwortung“ (BVerfGE 163, 89 (107); 121, 69 (92)). 179 Im Namen der sozialrechtlichen „Großthematik“ der „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“, welche letztere ja ohnehin die „Amtsausübung“ mit umfasst: Beides wird auch hier als eine Art von „Dienst“ aufgefasst – auch an der Gemeinschaft – und soll denn auch entsprechend sozialversicherungsrechtlich behandelt werden (Mütterrente). Zugleich aber wirkt sich dies auch im Sinne einer „Entstaatlichung der Familie“ aus (vgl. oben d)).

III. Das Gesetz – Der platonische Rechtsstaat

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Die Ratschläge des Philosophen sind allerdings im Einzelnen heute ebenso irritierend wie, eben deshalb, bemerkens-, wenn nicht beherzigenswert: Dass Hilfspersonen aus verschiedenen Ländern stammen, deshalb keine einheitliche Dienerschaft in der Gesellschaft bilden sollten, ist eine radikale Gegenthese zu aller moderner Gewerkschaftlichkeit; sie erstrebt ja gerade die blockhaft geeinte Arbeitnehmerschaft, deren „starker Arm“ nur so alle Räder stillstehen lassen kann. Eine Mahnung bringt dies allerdings gerade für heutige Gewerkschaften: Begünstigen sie allzu sehr Immigration, so bedroht eben dies die Geschlossenheit der Arbeitnehmerschaft, auf deren Grundlagen sich dagegen Platons Diener eben nicht zusammenschließen sollen, nach Gewerkschaftsdenken aber gerade nur so wirksam handeln können. Überdies verbindet ein Begriff von „Hilfsdiensten“ diese Problematik mit dem Familienrecht: die Frau als Dienerin. Sie aber soll bei Platon nun gerade aufgewertet werden; die Eltern als solche sind eben Dienstleister in dieser Paideia seines Staates. Familienrecht als Dienstrecht, Beschäftigungsrecht in grundsätzlicher Einheit mit dem Staatsorganisationsrecht der Ämter, damit „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ – wäre dies am Ende dann nicht doch erstaunlich gegenwartsnah gedacht?

5. Erziehungsinhalte – Meinungsfreiheit (Buch VII) a) Erziehungsziele als Staatsziele: „Grundsätze in Entfaltung“ In der zweiten Hälfte der Nomoi werden die „Gesetze als Staatsgrundlagen“ in ihren wichtigsten einzelnen Ordnungsgegenständen spezialisierend entfaltet. Die ersten Bücher hatten Staatsziele allgemein vorgestellt, sie – nach der Begrifflichkeit des gegenwärtigen Staatsrechts – in Form von Staatsgrundsätzen bereits mit normativem Gehalt verdeutlicht. Dort war also, nach heutigem Verständnis, etwas geboten worden, wie ein „Allgemeines Verfassungsrecht“, jedenfalls in Ausführungen, welche einzelne Formen und Inhalte einer „Staats-Erziehung“ nur in der typischen Ferne einer Idealität erkannt hatten, näher zu bringen versuchten. Nun dringen die Wanderer in ihrem Gespräch über die „Gesetze“ vor in die Einzelheiten, normativ gesprochen: in die Tiefen der Bemühungen um eine Staats-Paideia. Denn es ist immer noch sie, zu welcher nun etwas geboten wird wie ein „Besonderer Teil“ – diese Dogmatik-Grundformen finden sich eben bereits bei dem späten Platon. Damit wird aber nicht, wiederum in gegenwärtigem Verständnis, die Ebene der Normen, der Gesetze als solcher verlassen; es werden hier nun nicht (nur) Richtlinien für deren praktische Anwendung herausgestellt. Immer sind es die – als solche – unabänderlichen Gesetze, in ihrem unwandelbaren Erkenntnisgehalt, welche nun „aufgefaltet“ werden. Die für das geltende Öffentliche Recht, insbesondere für seine Lehre, grundlegende Unterscheidung von Verfassungs- und Verwaltungsrecht begegnet als solche nicht im Aufbau der Nomoi. Eher ist es die – politisch weithin zufällige, allenfalls in

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E. Einzelinhalte der „Nomoi“

den Katalogen der Materien der einfachen Gesetzgebung im Föderalstaat fassbare – Unterscheidung der Gegenstände von Verfassungs- und „einfacher“ Gesetzgebung, welche im platonischen Aufbau eine gewisse Entsprechung findet180. In dieser dogmatischen Gegenwarts-Sicht sollte sich der Leser diesem zweiten Hauptteil der Nomoi nähern: als normativen Entfaltungen der vor(aus)gestellten Staatsgrundsätzlichkeit des Idealstaats. Dessen Idealität wird hier allerdings immer weiter geführt, stets mit Blick auf die beherrschenden Vorgaben der Paideia: Erziehungsziele als Staatsziele. Dies vorausgeschickt mag nun im Folgenden eine gewisse Wendung vom Verfassungs- zum Verwaltungsrecht festzustellen sein. Gleich bleibt aber auch hier der Betrachtungs-Gang mit seinen Beurteilungskriterien: Zu untersuchen ist, wieweit Formen und Inhalte platonischer Idealstaatlichkeit überhaupt eine Entsprechung finden im Öffentlichen Recht der Gegenwart; sodann gilt es, Gemeinsamkeiten und Antithesen herauszustellen. b) Der „totale Jugend-Erziehungsstaat“ Wenn es etwas wie eine Fundamentalthese gibt, zu den vielen Formen und Inhalten der Paideia, im VII. Buch, so ist es diese: Ideal ist der totale Jugend-Erziehungsstaat, geordnet sein soll die Bildung des Nachwuchses, Jahr für Jahr in der Zeit des Heranwachsens, entsprechend den Grundzielsetzungen der allgemeinen StaatsErziehung: Einheit von Körper- und Geistesbildung, mens sana in corpore sano. Darin, als Voraussetzung und Ziel, berührt sich die griechische Lebensform mit der Gegenwart, jedenfalls in manchen von deren laufenden Bemühungen wie ihrer grundsätzlichen Erziehungsziele. Seinen Ausdruck findet dies zwar heute nicht in verfassungsrechtlichen Festlegungen; es entspricht aber jedenfalls Grundvorstellungen des grundgesetzlichen Menschenbildes, in der Verbindung von Wertungen nach Art. 1 und 2 GG181, insbesondere in dem Begriff der „Entfaltung der Persönlichkeit“. Im Schutz von Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 GG) liegen Verfassungsgrundlagen eines heute bereits ausgebauten Sportförderungsrechts182. Geistige Entwicklungsziele lassen sich allerdings nicht ohne weiteres im gegenwärtigen Staatsrecht auf höherer normativer Ebene verorten. Bemühungen um

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Ein „begriffsnotwendiges Verfassungsrecht“ ist als solches bisher in der Gegenwart nicht herausgearbeitet worden. Selbst aus dem Begriff der (notwendigen) Staatsaufgaben lässt sich ein solcher kaum ableiten, „da deren Wahrnehmung das Grundgesetz kaum im Einzelnen fixiert, sondern der Politik überlässt“, Starck, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 1, Rn. 12. 181 Der Begriff der (Persönlichkeits-)„Entfaltung“ in Art. 2 Abs. 1 GG weist allerdings einen deutlichen begrifflichen Bezug zur „Bildung“ auf, weit mehr als eine „Handlungsfreiheit“, in welcher diese Akzentuierung auf-, vielleicht verlorengegangen ist. Vgl. dazu Starck FN 180, Art. 2, Rn. 1 ff. 182 Tettinger, P. M., Subventionierung des Sports, 1987, insb. S. 33 ff.

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eine „Bildungsstaatlichkeit“183 richten sich im Namen der Verfassung, nur in sehr allgemeiner Form, auf solche Ziele. Die Ordnung des Erziehungswesens in Art. 7 GG ist freiheitsrechtlich konzipiert und im Übrigen vor allem kompetenzrechtlich ausgestaltet. Der Schulbereich ist als Experimentierfeld par excellence der einfachen Gesetzgebung überlassen184. Weiter könnte hier der Abstand zu den Nomoi kaum sein, in denen doch feste, wenn nicht unabänderliche Gesetze schulmäßiger Ausbildung geregelt werden, bis in Einzelheiten hinein. Dennoch ist eines den beiden Vergleichsebenen dieser Betrachtung gemeinsam: Auch bei Platon begegnet hier schon eine Detail-Verliebtheit des Regelns, wie sie wohl aller Erziehungsordnung eigen ist, vielleicht aus dem Wesen der besonders lebensnahen Pädagogik heraus. Immerhin finden sich hier Erziehungsziele (Nr. 808 ff.), die „ganz modern anmuten“, etwa besondere Vorstellungen für die ersten Lebensjahre, eine zeitstufenmäßige Erziehungsgestaltung insgesamt. Dies entspricht noch immer dem schulischen Bildungsaufbau der Gegenwart in einem weiteren Sinn. Minutiöse heutige Ordnungsbemühungen setzen antike Problembehandlungen hier nahezu bruchlos fort. Eine sehr ernste Mahnung aber bedeutet dies alles für das Erziehungsrecht der Gegenwart, in einem weiten Verständnis: Hier geht es wirklich, einst wie jetzt, um Grundlagen der gesamten Rechtsordnung, nicht um Optimierungen eines Bereichs des Verwaltungsrechts oder gar nur von dessen Anwendungen. Dies vor allem hat der Philosoph der Paideia der Gegenwart zu sagen. c) Frauenemanzipation Die Nomoi lassen sich gewiss nicht als eine Magna Charta der Frauenemanzipation verstehen. In ihrem VII. Buch, wie an manch anderen Stellen, finden sich aber immerhin weittragende, prinzipielle Aussagen zu diesem heute allgemein gesetzgebungsprägenden Problemkreis. Nicht nur dass Mädchen wie Buben, nach spartanischem Vorbild, körperlich im Wehrsport auszubilden sind (Nr. 794), dass insoweit eben auch „Soldatinnen“, als Renaissance griechischer Amazonen, zum platonischen Organisationsbegriff werden – auch in ihrem beruflichen Einsatz, in der großen Erziehungsgemeinschaft des Staates, wie auch im Wirtschaftsleben wird die Frau bei Platon weder als Arbeitsklavin gesehen, noch an den Herd verbannt: Gleiche

183

Vgl. dazu f. Viele Graßl, H., Ökonomisierung der Bildungsproduktion: Zu einer Theorie des konservativen Bildungsstaates, 2008. Ein Anspruch auf „Bildung“, i. S. einer „Entfaltung“, wird allerdings im Rahmen der gesetzlichen Regelung des Erziehungswesens anerkannt (vgl. BVerfGE 98, 218 (257)), nicht aber allgemein aus Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitet. 184 Der Erziehungsbegriff des GG umfasst allerdings als solcher auch gesellschaftliche, außerrechtliche, jedenfalls im staatlichen Recht nicht näher geregelte Inhalte (BVerfGE 52, 223 (235 f.); 93, 1 (17)), wie sie (auch) über die (private Freiheit der Auswahl von) Privatschulen (BVerwGE 112, 263 (269)) vermittelt werden können, darüber hinaus geistige Inhalte, welche in sonstiger Form einem Kind nahegebracht werden (vgl. dazu BVerfGE 83, 130 (139 f.)).

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geistige wie körperliche Paideia, wie sie dem männlichen Geschlecht zuteil wird, wirkt dessen traditionellem „Hang zum Vorrang“ entgegen. Emanzipation wird, bei aller Anerkennung physischer Unterschiede, in den Nomoi erstmals in solcher Systematik und Grundsätzlichkeit aus der Paideia als solcher begründet, aus menschlicher Höherentwicklung vor allem auch im Geistigen. In einer – überzeugenden – Verbindung wird dies übrigens behandelt mit der Kinderund Jugenderziehung: gegenwartsnah zeigt es sich darin, dass die elterliche Erziehung auch nach heutiger Vorstellung ja keineswegs im Gegensatz zu öffentlichen, staatlichen Bildungsanstrengungen stehen muss, vielmehr in jene einzubeziehen ist. „Paideia ist alles“ – das wird hier durchgespielt auf all ihren Ebenen, im „Staat“ wie in der „Gesellschaft“, nach heutiger Begrifflichkeit. d) Erziehungsinhalte – Kontrolle – Zensur aa) Der Bildungsstaat der Nomoi muss die Erziehungsinhalte kontrollieren, wo er sie nicht sogar setzt. Darin stimmt sein Ideal, in letzter Grundsätzlichkeit, mit gegenwärtigem Staatsrecht insoweit überein, als auch dies letztere die Erziehungsfreiheit der allgemein-grundsätzlichen Überwachung durch den Staat unterwirft. Allerdings ist die insoweit erforderliche Koordination von Art. 5 und 7 GG185 noch nicht hinreichend vertieft. Die Wahrung der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ als Schutzobjekt der Verfassungsgesetze stellt eine Schranke der Meinungs- wie der Erziehungsfreiheit dar, sogar für den Bereich der Hochschulen (Art. 5 Abs. 3 GG). In den „Gesetzen“ lesen sich solche Beschränkungen der Bildungsfreiheit etwa so: Kinder sollten nicht allzu viel lesen, weil viel Bildungsschädliches geschrieben werde; dies bringe Unruhe in eine ausgewogene Erziehung (Nr. 809 ff.). Jugendschutz186 im modernen Sinn wird hier also betont und grundsätzlich über seine gegenwärtige Zielsetzung hinaus sogar noch intensiviert: Dies ist eben im Idealstaat nicht (nur) eine „Materie des Polizeirechts“, zur Bewahrung einer öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Eingesetzt wird hier Staatskontrolle nicht allein defensiv, sondern grundsätzlich positiv, jedenfalls zur Sicherung der Erreichung von Staatszielen; damit erfährt der Jugendschutz eine Umakzentuierung, er bestimmt „aktiv“ die Bildungsziele – die Staatszwecke. 185 Nach geltendem Staatsrecht ist sowohl der Begriff der „Meinung“ (Art. 5 Abs. 1 GG, vgl. BVerfGE 61, 1 (9)), als auch der der „Erziehung“ (Art. 6 Abs. 1 GG, vgl. BVerfGE 93, 1 (17)) so weit zu fassen, dass sie sich jedenfalls begrifflich in erheblichem Umfang überdecken. Dennoch ist der Begriff einer „erzieherischen Meinungsfreiheit“ staatsrechtlich unterbelichtet. Dass es ihn aber geben muss, zeigen die staatliche Schulaufsicht (Art. 7 GG) wie auch die verfassungsrechtlichen Grenzen sogar der wissenschaftlichen Hochschulforschung (Art. 5 Abs. 3 GG). Eine vertiefte dynamische Koordinierung ist hier dringend erforderlich, die auch dem Wertgehalt der „freien Meinung“ deutlicher Rechnung trägt. 186 S. etwa Grabenwarter, Chr., in: Maunz/Dürig, Stand 2013, Art. 5, Rn. 190 ff.; Stumpf, R., Jugendschutz oder Geschmackszensur?, 2009, S. 81 ff.

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bb) Dieser Staatsgrundgedanke – nicht etwa nur ein repressives Verwaltungsinstrument – begründet bei Platon ebenso eine vergleichbar strenge Kontrolle über die „Schauspiele“ und ihre Akteure (Nr. 817 f.); dies muss, aus der antiken Realität heraus, auf alles erstreckt werden, was damals in Theatern geschah und „theaternah“ sich abspielte: einerseits also auf politische Meinungsbildung insgesamt, zum anderen auf alle „Volks-Vergnügungen“. All dies darf im Idealstaat dessen Erziehung nicht stören. Modernes Staatsrecht zieht zwar eine solche Verbindung, gründet darauf öffentliche Kontrollrechte im Kulturbereich, aber meist eben doch nur in verwaltungsrechtlichen Zielsetzungen einer Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung heraus. Der Bezug zu öffentlichen Erziehungsaufgaben wird hier jedenfalls nicht immer deutlich. Ein Ansatz dazu, der allerdings zu bedeutsamen Entwicklungen führt, ist jene „politische Bildung“, die in öffentlichen Schulen immer breiteren Raum einnimmt, sich von „Sozialkunde“ in Gegenstände des Geschichts- und Deutschunterrichts hinein entfaltet. Auf Hochschulniveau findet dies in Parallele dazu und auf wissenschaftlicher Grundlage statt, in der Entwicklung der Politologie187. „Erziehung im Staat“ wird also immer mehr „Erziehung zum Staat der Demokratie“, auch in der Gegenwart. Kritiker werden hier eine Entwicklung sehen von der Erziehungs- und damit der Meinungsfreiheit zu einem platonisch-idealstaatlichen Erziehungszwang. Insoweit können sie einen derartigen Wächterstaat aber kaum kritisieren als er über der unabänderlichen Demokratie (Art. 79 Abs. 3 GG) wacht; allerdings gilt das heute nur, wenn solches geschieht als eine „Bildung zur Freiheit“. cc) Bemerkenswert aus der Sicht des gegenwärtigen Staatsrechts ist schließlich, dass Platon insbesondere die Pflege der Naturwissenschaften, etwa der Astronomie, fordert. Diese nun „wahrhaft moderne“ Erziehungsprogrammatik verfolgt in den Nomoi aber ein Grundziel: Stärkung der Religion, Widerlegung der Kritik an höheren Wesen als „schlechte Ordner“, damit an den „Gesetzen“, soweit diese letztlich auf religiösen Grundlagen beruhen. Ein „erzieherischer Schutz der Staatsreligion“ soll also die Geltung, die erzieherische Überzeugungskraft der Gesetze stärken, ja grundlegen. Dass sich die Entwicklung des neueren Staatsrechts gerade in der Gegenrichtung einer „Säkularisierung“ vollzogen hat, dass die invocatio Dei in Art. 1 GG nur mehr eine letzte, geradezu eine „Rest-Fundierung“ verfassungsrechtlicher Geltungskraft darstellt188 – zeigt das nicht, dass sich das Staatsrecht der Gegenwart vom platonischen Idealstaat entfernt, nicht zuletzt im Namen seiner „Freiheit als Toleranz“189 ? Liegen zwischen beiden schon wenn nicht Welten, so doch kosmische Entfernung 187

Dazu Leisner, Institutionelle Evolution (FN 1), S. 35 ff. Wenn man ihr auch nur irgendeine Wortbedeutung zuerkennen will (vgl. den Überblick bei Huber, P. M., in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Rn. 38). 189 Grds. Püttner, G., Toleranz als Verfassungsprinzip, 1977; Debus, A., Das Verfassungsprinzip der Toleranz unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1999. 188

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(sbewegung)en? Selbst wenn eine (Staats-)Kirche nicht (mehr) Trägerin einer „Staatserziehung“ ist: dieser Begriff, die platonische Bedeutung von „Religion für Bildung“190, gibt tiefgründige Denkanstöße aus den Nomoi für das Staatsrecht der Gegenwart.

6. Gemeinschaftsverhalten: Wettbewerb – Geschlechterbeziehungen – Nachbarschaft (Buch VIII) a) „Menschliche Kontakte“ als allgemeiner Ordnungsgegenstand; Staatsziel: „Ruhiges Zusammenleben“ Im VIII. Buch setzt sich die platonische Gedankenführung zur Erfassung der Idealstaatlichkeit in geistigem Aufbau folgerichtig fort: Zwischenmenschliche Beziehungen stehen als solche im Mittelpunkt, zwischen jenen Menschen, welche in „Staatsbildung“ geformt werden. Insoweit stand in den bisherigen Vorstellungen die Paideia deutlich im Vordergrund, als Ziel wie in der Auswahl der „Erziehungsformen“. Nun vollzieht sich in den Nomoi, aus der Sicht des Rechts der Gegenwart, eine gewisse dogmatische Wende: vom Einzelmenschen als solchem hin zu seinen Kontakten mit anderen, in größeren wie kleineren „Gemeinschaften“, oder auch nur in Einzel-Beziehungen. Doch diese, ihr „Eigenleben“, ihre eigenständige Dynamik, bilden nicht als solche das Zentrum des Interesses des Philosophen. Der „Mensch als animal sociale“ ist auch hier nicht Bezugspunkt platonischer Staatslehre. Primär sind es eben doch eher „Räume der Begegnung“ von Einzelmenschen als Gemeinschaftsbereiche, welche im VIII. Buch angesprochen, idealstaatlich geordnet werden. Im Sprachgebrauch der Gegenwart geht es um „Kontakte, um Berührungen“, nicht um „Integrationsformen“ zu einer „Bürgerschaft“. Immer steht im Mittelpunkt ein individuelles Abgrenzungsbemühen. Die Nomoi sind zwar, das zeigt sich gerade hier deutlich, keine politische „Integrationslehre“ im Sinne der Allgemeinen Staatslehre der Gegenwart, etwa in der Nachfolge von Smend191. In einer solchen grundsätzlich-dogmatischen Betrachtung wird aber die Zusammenfassung heterogener Ordnungsbereiche (Wettkämpfe, Sexualität, Nachbarrecht) in diesem Buch verständlich. Aus der Sicht der Gegenwart ist dies schon bei Platon allerdings eine Perspektive, in welcher der „Gemeinschaftsbelang“ als Topos wenn nicht ausgeblendet, so doch stets wesentlich in seinen individualrechtlichen Wurzeln erfasst werden müsste: Bildung steht, in den Nomoi jedenfalls, in ihrer einzelmenschlichen Abgrenzung stets im Mittelpunkt, nicht als gemeinschaftsgründender Wert.

190 Verortet ist diese verfassungsrechtlich in der ausführlichen Regelung des Art. 7 Abs. 3 GG, hier wieder in der Formulierung, der Religionsunterricht sei „ordentliches Lehrfach“ (S. 1), woraus allerdings lediglich eine Beschränkung der Abwahlmöglichkeit folgen soll, vgl. BVerfGE 74, 244 (251 f.). 191 Smend, R., Verfassung und Verfassungsrecht, 1928.

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b) „Ruhiges (Zusammen-)Leben“ als Staatsziel Diese Ordnungs-Wende vom „Erziehungssubjekt und -objekt Einzelmensch“ zu dessen Kontakten zu anderen beinhaltet auch eine bedeutsame (Neu-)Ausrichtung, vielleicht allerdings auch nur eine Konkretisierung des Idealstaatsziels der Paideia, des in Bildung höher zu entwickelnden Einzelmenschen: Er wird „in seinem Lebensraum“ zum Betrachtungs- und rechtlichen Ordnungsgegenstand, den er selbst durch sein Verhalten zu anderen Menschen mitbestimmt. Und dies soll ein „ruhiges Leben“ sein, wie es bereits im VII. Buch bei der „Kindererziehung in Spielen“ angesprochen wird (Nr. 804 ff.). Diese Zielsetzung wirkt nun weiter, wenn auch nur unterschwellig, bis in den Sexualbereich hinein (Nr. 838). Alles Störende muss vermieden werden, der platonische Idealstaat ist eine Ordnung in Ruhe. Diese kommt ihm bereits aus dem Begriff des Gesetzes, aus dessen Unabänderlichkeit, seiner Befestigung in wahrhaft transzendenten, jedenfalls transpersonalen Normhöhen192. Hier werden geistige Grundlagen späterer stoischer Staatsphilosophie erkennbar, jener Ataraxia, in welcher Sokrates in den Tod ging, wie später Seneca. Damit bestimmt der Seelenzustand des hoch-gebildeten Einzelmenschen dessen Gemeinschaftsraum, dieser wieder wird zum „Raum der Gesetze“. Untersucht und vorgestellt werden zwar immer die einzelnen Verhaltensweisen der Menschen in ihrer Bildungsprägung. Doch diese erwächst nun zugleich aus dem Gesamt-Staatsziel des „Ruhigen Lebens“. Darin bewegen sich nun allerdings die Nomoi wieder in weitem geistigen Abstand von staatsrechtlichen Ordnungsvorstellungen der Gegenwart. Dieser geht es geradezu primär um rechtliche Dynamik aus ihrem Fortschrittsglauben heraus, bis hin zu einem Aktivismus der Staatlichkeit, vor allem in der „flutenden Gesetzgebung“193. Die Volkssouveränität treibt ihren Staat ständig, in ihrem Ideal des täglichen Plebiszites, ja unaufhaltsam in diese weiten Räume. Mit geistigem Abstand zu einer solchen Grundkonzeption und Praxis muss jedoch Platon gelesen und verstanden werden. c) Wettstreit – Wettbewerb Wettstreit im sportlichen wie auch im musischen, im geistigen Bereich ist eine der wichtigsten Bildungsformen für den Philosophen. Sie reicht weit über die im VII. Buch behandelte Kindererziehung hinaus, sollte bei ihm also „Erwachsenenbildung“ ebenfalls prägend bestimmen – immer mit dem Paideia-Ziel einer menschlichen Höherentwicklung zur Arete. Diese Erweiterung der Bildungsziele, auch im öffentlichen Bereich, wird zwar auch gegenwärtig immer deutlicher in ihrer Notwendigkeit erkannt und intensiviert. Es folgt dies heute jedoch einer Zielsetzung, die sich vom platonischen Ansatz unterscheidet, in einer geradezu diametralen Ge192

Durchaus in einer gewissen transpersonalen Sicht, etwa i. S. von Othmar Spanns, Der wahre Staat, 1921, dessen Staatslehre ja wesentlich auf platonischer Philosophie aufbaut. 193 Krit. Betrachtung bei Leisner, W., Krise des Gesetzes. Die Auflösung des Normenstaates, 2001.

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gensätzlichkeit: In den Nomoi sollte damit eine Ertüchtigung erreicht werden, welche den so hoch zu entwickelnden Einzelmenschen sich seiner Kräfte bewusst werden lässt, zur Verteidigung seiner Freiheit im Staat (Nr. 833). Ein Volk von Olympioniken wird sich der Knechtschaft nicht beugen. Vor allem aber werden sich derart in dauerndem geistigen und körperlichen Wettstreit stehende Menschen nicht ablenken lassen zu einer materiellen auri sacra fames, einem materiellen Gewinnstreben. Gerade dieser wirtschaftliche Wettbewerb194 ist es aber umgekehrt, der heute geradezu ein Staatsziel darstellt, zugleich eine Form von „Staats-Erziehung“ im fundamentalen und allgemeinen Sinn, wenn es denn eine solche überhaupt gibt. Wettbewerb in Sport und Bildung soll „Fitness“ bringen auch, ja vor allem um zu bestehen in einer „Konkurrenz, die das Geschäft belebt“, im wirtschaftlichen Bereich. Wettstreit führt bei Platon hin zur Freiheit und ihrem Staat; im gegenwärtigen Recht ist dies ein Weg der Ertüchtigung, ein „Turngerät“ – ausgerichtet auf jenen „Gewinn“, welchen der Philosoph verabscheut. Eine unüberwindbare Antinomie liegt aber darin wohl kaum; denn auch für die Gegenwart ist der Wettbewerb ein Raum der Freiheit, eines höchsten Verfassungswertes. d) Sexualität als Störung aa) Die Antithetik der platonischen zu den Gesetzen der Gegenwart setzt sich jedoch fort – und hier nun wahrhaft eindrucksvoll – in der Beurteilung der Sexualität (Nr. 838 ff.). Für den Philosophen sind diese Geschlechterbeziehungen Gegenstand staatlicher Ordnung; diese soll eingreifen in einen Bereich, welcher der Gegenwart geradezu als Kern einer unbedingt zu wahrenden Privatsphäre195 erscheint. Diese schafft hier heute zwar kein volles Tabu für gegenwärtige Gesetzgebung, zahlreiche traditionelle, insbesondere strafrechtliche Verbote zeigen es, vom Jugendschutz Minderjähriger bis zur „Blutschande“, von Einzeltatbeständen eines Sexualstrafrechts bis zu Strafschärfungen bei sexuell motivierten „allgemeinen Straftaten“ – das Kriminalrecht der Gegenwart regelt intimste Beziehungen zwischen den Geschlechtern in vielfältigen Zusammenhängen. Die gegenwärtige Toleranzbewegung gegenüber der Homosexualität, in all ihren Spielarten betrifft nur einen, allerdings wichtigen, Bereich dessen, was durchaus als „staatliches Sexualrecht“ bezeichnet werden kann. Neuesten Entwicklungen in diesen Räumen, weithin als „Liberalisierungen“ aufgefasst, stehen andere gegenüber, welche in besonders scharfen Reaktionen, insbesondere in „Missbrauchsfällen“, für eher verschärfte Überwachung, ja Disziplinierung des sexuellen Trieblebens eintreten. bb) Wie immer diese gegenwärtigen „Entwicklungsspitzen“ der „allgemeinen Auffassungen“ zum Sexualverhalten im Einzelnen zu beurteilen sein und sich ent194

Zum wirtschaftlich akzentuierten Wettbewerb als Staatsprinzip, vgl. Leisner, W., Wettbewerb als Verfassungsprinzip. 2012, passim, für den Staatsbereich S. 101 ff. 195 Zur Intimsphäre BVerfGE 117, 202 (233); zum Sexualbereich BVerfGE 96, 56 (61); 116, 1 (14); 124, 199 (221).

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wickeln mögen – eine Grundvorstellung gewinnt in der Gemeinschaft deutlich an Boden: Der, wie immer zu bestimmende, sog. „normale Sex“ begegnet nicht nur zunehmender Akzeptanz, er wird sogar als Ausdruck eines „natürlichen Lebens“ angesehen, bereichsweise bereits in öffentlichen Schulen, und weit darüber hinaus, von der Staatsgewalt nicht nur toleriert, sondern gelehrt, wenn nicht propagiert. cc) Hier zeigen sich weite Fernen weniger zu einzelnen als jedenfalls zu GrundVorstellungen der Nomoi. Dort wird in einer ganz allgemeinen Weise die „Freundschaft“ als menschliche Grundhaltung gepriesen. Die geschlechtliche Beziehung erscheint als Störung jenes „ruhigen Zusammenlebens“ (vgl. oben b)) (Nr. 838 ff.), welches „gebildete Individuen“ nebeneinander stellt, sie dann als solche in Verbindung bringt. Die anregenden Wirkungen sexueller Erregung werden hier negativ gesehen, von ihnen geht für Platon keine „in Dynamik menschenbildende Wirkung“ aus. Dies mag als eine philosophische Antithese zu seiner attischen Umgebungs-Welt zu erklären sein, für welche geschlechtliche Beziehungen jeder Art geradezu ein Lebenselixier darstellten – vom Verfasser der Nomoi aber eben als eine Erscheinung der Dekadenz gewertet wurden. dd) Die Gegenwart will sich, wie alle ihre Vorgängerinnen, nur ungern mit dem Vorwurf eines solchen Niedergangs konfrontiert sehen196. Sie sieht in der erwähnten „normalen Sexualbeziehung“ eher einen Kraftquell natürlichen Lebens. Der platonischen Frage nach „gemeinschaftsgefährdenden sozialen Unruhe-Wirkungen“ aus diesem Bereich muss aber auch sie sich stellen. Dies gilt nicht nur für „organisierte Prostitution als krimineller Nährboden“, sondern auch für Erziehungs-Beziehungen und, vor allem, für eine Lockerung von Familienbanden. Die vielkritisierte „sexualisierte Welt“ wird zum Problem der Gegenwart, nicht allein für den Zölibat der Katholischen Kirche. Und hier hat Platon heute etwas zu sagen, weil seine Welt gerade in diesem Bereich der Gegenwart in vielem so nahe war. e) Nachbarrecht – Güterverkehr – Siedlungsstruktur aa) Das VIII. Buch schließt mit einem jener Kapitel (Nr. 844 ff.), in welchen die Gedankensystematik der Nomoi für die Gegenwart zwar höchst beachtlich ist – in ihrer Entfaltung von rechtlichen Ordnungsmaterien, einer aus der anderen – die aber in Einzelaussagen heute geradezu „aus einer anderen Welt“ zu kommen scheinen. Aus der Behandlung menschlicher Kontakte in unterschiedlichen Gemeinschaften, bis hin zu sexuellen Beziehungen, wurde von Platon das Ideal jenes „ruhigen Zustandes“ gewonnen (oben a) bis d)), in welchem Staatlichkeit und ihre Paideia auf den Menschen bildend wirken soll. Gewinnstreben als Störfaktor wurde in diesem Zusammenhang bereits grundsätzlich kritisch erwähnt. Nun werden in den Nomoi daraus aber praktikable Konsequenzen gezogen für Güterverkehr, Güterverteilung, Güterimporte und, noch weit darüber hinaus, für das beruflich und siedlungsmäßig 196 Eine Äußerung des Außenministers Westerwelle über (drohende) „Römische Dekadenz“ wurde weithin geradezu als skandalös gewertet.

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geordnete wirtschaftliche Zusammenleben der Menschen. Platon postuliert hier ein Gemeinschaftsleben in statischem ökonomischen Nebeneinander, das nur eng nachbarschaftlichen Austausch kennt; es geht dies letztlich noch hinter seit Jahrhunderten überwundene physiokratische Vorstellungen zurück. Dies ist eben ein Konzept der menschlichen Gemeinschaftsbildung, entwickelt aus dem, was auch heute nur in engen Bereichen eines „Nachbarrechts“ enger geordnet erscheint; es wird hier bis in eine Güter-(verkehrs- und verteilungs-)Ordnung hochgerechnet, die übergreifende Verkehrs-, damit aber Marktwirtschaft ausschließt. Für platonisches Denken ist eine solche ökonomische Konzeption folgerichtig: Denn all deren dort behandelten Güterordnungen, ja deren Einzelaspekten, wie etwa der Wasserversorgung, kommt eben „staatsrechtliche Grundsatzbedeutung“ immerhin insoweit zu, als es dabei noch immer um wirtschaftliche Grundlagen für die (vorrangige) geistigmenschliche Erziehung der Persönlichkeit geht. Dies ist auch heute eine beachtenswerte Orientierung: Legt man Kriterien gegenwärtiger dogmatischer Grundbegrifflichkeit an, in der Unterscheidung von „Persönlichkeit(sbereichen)“ und „Wirtschaftsräumen“, so führt dies dann auch zum Verständnis jener platonischer Passagen: Wirtschaftsordnung trägt eben Staats- und damit Bildungsordnung, muss aber dieser folgen – nicht umgekehrt. bb) Dennoch: Der geistige Abstand zur Gegenwart erscheint hier geradezu als unüberbrückbar, muss nicht solches platonisches Denken nach Utopia verbannt werden? Die Ökonomie der Gegenwart schließt ihre „Akten Platon“, wenn dieser hier strengste Import-Export-Regelungen nach Gemeinschaftsbedürfnissen fordert: eine Handwerksordnung mit Berufsverboten197, eine Güterverteilung nach Einwohner-Kategorien, schließlich eine ständestaatliche Wohnungs- und Siedlungsstruktur nach Berufen, ja selbst staatliche Bestimmung (ver-)käuflicher Güter, also eine totale Marktordnung im weitesten Sinn. Lässt all dies die Nomoi in einer liberalen Neuzeit nicht zum amüsanten StaatsMärchenbuch werden, sind diese Kapitel gegenwärtig nicht einfach – zu überschlagen? Auch hier wäre dies zu kurz gedacht, gerade bei einem Vergleich mit der Gegenwart. Alle diese Bereiche sind ja auch gegenwärtig Staatsgrundlagen, daher insoweit (verfassungs-)rechtlich geordnet, staatlich teilweise streng überwacht – und sie stehen (fast) alle in heftiger Diskussion. Diese mag heute beschränkt sein auf „Rest-Ordnungen“, auf staatliche Befugnisse geradezu in Extremfällen. Doch alle derartigen Ordnungsbereiche, von der Export- bis zur Wasserwirtschaft, vom Handwerks- bis zum Siedlungsrecht, stellen eben auch in der Gegenwart wichtige, ja zentrale Gesetzgebungsmaterien dar. Für das Wirtschaftsrecht gilt dies in besonderem und in zunehmendem Maß. Bei allen Liberalisierungstendenzen erhält sich demnach eben doch jene Vorstellung von zentralen Regulierungsbereichen, welche „systemrelevant“ sind, nicht nur für eine („öffentliche“) Wirtschaftsordnung, sondern für Ordnung, ja Existenz der staatlichen 197 All dies in radikaler Bedürfnisprüfung – einer wahren Todsünde gegen jede wirtschaftliche Freiheit – seit dem Apothekenurteil (BVerfGE 7, 377).

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Gemeinschaft als solcher. Die Problematik der Kontrolle „systemrelevanter Banken“ ist hier nur Spitze eines Eisbergs, die gerade in den Jahren der Wirtschaftskrisen aufgetaucht ist, im wahren Wortsinn. Deshalb muss staatliche Steuerung, will sie ein „Staats-Titanic“ vermeiden, stets gerade hier Gedanken Platons aufgreifen, in dem, was sie an wahrhaft „grundsätzlichen“, damit eben auch heute noch wirkungsmächtigen Überlegungen zu bieten haben. Im antiken Mythos erscheint vieles als „primitiv“ – dennoch ist es „tief gedacht“. Und dies gilt auch für jene „Wirtschafts-Mythik, wenn nicht -Mystik“, wie sie hier begegnet. Bemerkenswert: auch dies ist eben eine „staatsrechtliche Vergleichskategorie“…

7. Strafrecht: Erziehung und Ordnungsschutz (Buch IX) a) „Strafrecht als Staatsrecht“ Das Staatsrecht der Gegenwart hat das einfach-gesetzliche Kriminalrecht, in dessen grundsätzlichen Legitimationen wie in seinen einzelnen Ausgestaltungen, als Ergebnis einer langen Entwicklung weithin einfach übernommen. Nur punktuelle Regelungen mit neuen Inhalten finden sich auch in deutschen Verfassungen zum materiellen Strafrecht, etwa das Verbot der Todesstrafe, vielleicht noch Ansätze zu einem „politischen“, einem Staatsschutz-Strafrecht198. Der Strafprozess allerdings ist, wenigstens in Grundzügen, verfassungsrechtlich geregelt. Hier wird Rechtsstaatlichkeit konkretisiert199, nach historischen Vorbildern, im Bereich der Dritten Gewalt. Diese „strafrechtliche Enthaltsamkeit“ des gegenwärtigen Staatsrechts entspricht seiner Tradition. Seit der Aufklärung überlässt es die Einzelheiten dieser für die Staatlichkeit doch so wichtigen Rechtsgestaltung eben dem „einfachen Gesetzgeber“. Innerhalb von dessen Schrankenziehungen sogar einem Richter, der „die Gedanken des Gesetzes fortdenkt“200; Strafzumessungslehre kann hier aber allenfalls grenzkorrigieren.

198 Im Namen der sog. „Wehrhaften Demokratie“, dazu Brenner, M., Die wehrhafte Demokratie: Eine Lehre aus Weimar? In: Eichendorfer, E. (Hg.), 80 Jahre WRV – was ist geblieben? 1998, S. 95 ff.; Thiel, M. (Hg.), Wehrhafte Demokratie, 2003; Michael, L., Die wehrhafte Demokratie als verfassungsimmanente Schranke der Meinungsfreiheit, ZJS 2010, 155. 199 Vgl. etwa BVerfGE 21, 378 (383 f.); 21, 391 (399 ff.); 27, 180 (188); 94, 351 (364) u. öfter. 200 Nach der Radbruchschen Formel sich dabei immerhin vor allem an Verfassungswertungen orientieren wird.

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Ganz anders die Nomoi: Sie bieten ein Strafrecht vor allem in Prinzipien, darüber hinaus aber auch bis in Einzelregelungen, vor allem in den damals wie heute besonders die Öffentlichkeit interessierenden Straftatbeständen wie Mord und Totschlag. Nach dem platonischen Vorbild sollte also das Strafrecht, jedenfalls „staatsgrundsätzlich“, i. S. gegenwärtiger Terminologie, geregelt werden, wenigstens rahmenmäßig. Darf seine Entwicklung wirklich weiterhin, wie traditionell fast allenthalben üblich, in – erstaunlicher – Offenheit, nachgeordneter Normgebung überlassen werden, oder gar, ja vor allem, der Rechtspraxis? Die Nomoi weisen hier, aus einem Zentrum platonischen Denkens heraus, auf eine geradezu historische staatsrechtliche Problematik hin: „Strafrecht – kein Verfassungsinhalt, allenfalls als Staatsschutz“? Begegnet hier wieder einmal ein modernes Verfassungsphänomen, welches sich auch im Staatsorganisationsrecht aufzeigen lässt, etwa im Wahlrecht: eine erstaunliche Zurückhaltung gegenwärtiger Gesetzgebung in der Ausformung einer ihrer geistigen Ordnungsgrundlagen, vielleicht sogar der wichtigsten? Liegt darin nur jene vielberufene „Offenheit“201 gegenwärtiger Staatsform(en), ihres Öffentlichen Rechts? b) Strafrechtstheorien – Staatsrechtfertigung aa) Beschäftigung mit gegenwärtigem Strafrecht beginnt, in der Lehre wie in den Gedankenschritten seiner Anwendung, mit einem, allerdings oft nur kurzen Blick auf die „Strafrechtstheorien“202. Diese haben sich in bereits weithin klassifizierten, ja klassischen Formen herausgebildet, unter allerdings oft sehr zurückhaltender, Bezugnahme auf das Verfassungsrecht des Strafprozesses oder auf grundrechtliche Fundamentalwertungen wie die Menschenwürde. „Vergeltung“, „General- und Spezialprävention“, mit ihren Abschreckungswirkungen, treten neuerdings zurück; immer deutlicher steht täterbezogene Kriminalpsychologie, kriminologische „Besserung“ des Rechtsbrechers im Vordergrund. Die Schwerpunktsetzungen wechseln in der Motivation der Strafrechtsgesetzgebung laufend; immer häufiger werden Strafrechtstheorien kombiniert; und darin tritt dann Politik voll in ihre Rechte. bb) Der Ansatz der Nomoi entspricht dem nur zum Teil. Einheitlich geht es in ihnen immer nur um eines, um das Grundziel der Gesetze wie um die Instrumentarien zu dessen Erreichung: die Staatsordnung als Paideia des Einzelmenschen, nicht primär in seinen Gemeinschaftsbezügen, sondern in seiner individuellen geistigen Entwicklung. Das Erziehungsziel hat auch hier unverrückbaren Vorrang; und die „Wahrung staatlicher Ordnung“ ist nicht Selbstzweck, sie ist (nur) globale Zusammenfassung aller Mittel und Wege zur Erreichung dieses Zieles. Damit ist die Gesamtperspektive bei Platon eine andere als in der Staatsordnung der Gegenwart. Für 201 Sie soll ja die „offene Gesellschaft“ widerspiegeln, vgl. dazu Zippelius, Allgemeine Staatslehre, § 7 III., 2. 202 Jescheck, H.-H./Weigend, Th., Lehrbuch des StR, Allgemeiner Teil 5. Aufl. 1996, § 8, S. 170 ff.; Roxin, C., Strafrecht, Allgemeiner Teil I., 4. Aufl. 2006, § 3, Rn. 1 ff.; Heinrich, B., Strafrecht, Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2012, Rn. 13 ff.

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das Strafrecht hat sich dies auch bereits bei der Betrachtung des Aufbaus der Nomoi gezeigt203 : Strafrecht ist darin Rahmen des Zivilrechts, und so wird denn auch Letzteres im Einzelnen nach jenem erst behandelt (im IX. Buch). cc) Dieses Strafrecht ist aber eben auch nur ein Erziehungsinstrument (Nr. 859) im größeren System-Raum der Staats-Paideia. Hier begegnet nicht ein „moralischer Kanon von Gut und Böse“, der vom Staat, als Grundlage der Gemeinschaft, gesetzlich oder richterlich aufgezwungen würde. Gut erzogene Bürger setzen ihrerseits durch ihre Sitten die Kriterien: Die Staatsstrenge setzt nicht erst mit Strafen ein, sie bereitet diese in Erziehung vor (Nr. 861 ff.). dd) Für die „Strafrechtstheorien“ bedeutet dies: Ein Vergeltungsstrafrecht ist platonisch schlechthin undenkbar, da auch hier alles ja nur Erziehung sein kann, in ihr aber wird nicht vergolten, sondern nur gebessert. Wo dies nicht mehr möglich ist, bleibt nur „Ausschaltung“ des nicht mehr therapierbaren Subjekts (vgl. i. Folg. c)). Abschreckung, in welcher Form und mit welcher Wirkung auch immer, steht in den Nomoi jedenfalls nicht im Vordergrund, mag sie auch, als „negativer Beispieleffekt“ ein allgemeiner Erziehungsweg sein. Bei Platon geht es stets um positive Bildungseffekte; sein höher zu entwickelnder Mensch ist nicht in erster Linie von Furcht getrieben vor Gemeinschaftsreaktionen. Deshalb sind auch „Straftaten gegen den Staat“ nicht als solche strafwürdig, weil sie sich etwa gegen die Gemeinschaft wendeten, gegen einen „an sich höheren Gemeinschaftswert“, sondern nur darin, dass sie jene staatliche Erziehungs-Ordnung stören, welche allein eine Strafrechtfertigung darstellt. Täterbesserung im Sinne moderner Kriminologie, entwickelt in Kriminalpsychologie, ist also die einzige tragfähige Grundlage allen Strafens. Strafrecht ist Ordnungsmittel, nicht (nur) Störungsabwehr. c) Strafrecht als Gesundheitsrecht aa) Der Straftäter ist ein Kranker, einem Wahn, einer Raserei ist er verfallen. Platon zieht hier nur letzte Folgerungen aus seiner, aus der bereits sokratischen Erkenntnislehre: Sünde ist Irrtum eines nicht hinreichend Erzogenen, höher Gebildeten. „Schuld“ ist aber nicht, wie es Sozialpsychologie gewisser politischer Richtungen lehrt, die Gesellschaft, vor allem die „Ausbeuter“, welche „ungerechte Gesellschaftsordnungen“ schaffen und aufrechterhalten. Derartiges kann, darf es ja in platonischer Idealstaatlichkeit nicht geben; es wird dies von vorne herein bereits „rechtlich wegdefiniert“, übrigens in reichtums-, ja eigentumsfeindlichen Formen, welche radikaler Sozialismus nur begrüßen kann. Doch von ihm unterscheidet sich Platon als Strafrechtsgesetzgeber darin fundamental, dass er die Schuld nicht bei der „Gesellschaft“ sucht und ihrer Ordnung, daraus Klassenkampf ableitet. Für ihn liegt auch hier alles Heil beim Individuum – aber eben auch alle Schuld: in Erziehung ist dies alles zu lösen, in höherer Bildung. 203

D. II. 3. a), b).

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E. Einzelinhalte der „Nomoi“

bb) Ein solches „Bildungsstrafrecht“ kann aber nur eine Form des Gesundheitsrechts sein. Es vermittelt dem virtuellen und aktuellen Täter die bessere Einsicht, aus der heraus er die gerechte Strafe als Bildung annehmen, strafwürdige Taten schon gar nicht begehen wird. Der Strafprozess, bei ihm dargestellt bereits als ausgeformtes kontradiktorisches Gerichtsverfahren (Nr. 856), ist daher eine ärztliche Behandlung; doch sie wird nicht als „Sozial-”, sie wird gerade gesehen als Individualmedizin im herkömmlichen Verständnis. Diesen medizinischen Ansatz verfolgt der Bildungsgesetzgeber Platon bis in letzte Radikalität, bis zur Todesstrafe (Nr. 854): Diese erfährt ihre Rechtfertigung darin, dass in extremis ein „krimineller Wahn“ nicht mehr heilbar sein kann. Dann aber ist ein solches Leben – lebensunwert. Darüber jedoch wird nicht entschieden, wie in noch naher Vergangenheit, aus irgendwelchen Interessen einer „Volksgemeinschaft“ heraus, – eine solche gibt es als Wertträger für Platon ja gar nicht – erst recht nicht mit Blick auf etwaige wirtschaftliche Belange derselben. Es geht allein um das Individuum, um den Menschen: Ist der Mensch noch entwickelbar, therapierbar, vielleicht auch und gerade in seinem Leiden, so darf nicht nur, so muss er (weiter)leben. Denn dann nur soll, muss er sogar sterben, wenn er „verloren ist“ für alle menschliche Bildung, wenn es keine Chance mehr gibt, ihn „in die Menschlichkeit zurückzuholen“, in (die) Menschenwürde, in Paideia. Für Platon gibt es, im Letzten, dieses „menschliche Tier“, daher auch die Todesstrafe für ein solches Wesen, etwa den untherapierbaren Serientäter, nicht aber Todesstrafen für andere Verbrecher, weil eben – gar keine „Strafen“. Der Staat der Nomoi muss allerdings wohl Euthanasie als Erlösung sehen, gewünscht von dem „gebildeten Menschen“, der durch sein Leiden unmenschlich überfordert würde. Sollte eine solche Einstellung zu dem größten Problem der Menschen, die sich hier auf einen Großen berufen darf, die jedes – „gebildeten Menschen“ sein?

d) Erscheinungsformen und Ursachen der Straftaten aa) Da das Strafrecht in den Nomoi Erziehungsrecht ist, kein „Recht der Gefahrenabwehr“, der Güterbestandsicherung, stehen dort, in ganz anderer Weise, die „Gründe“ der Straftaten im Mittelpunkt als im gegenwärtigen Kriminal-, erst recht im Staatsrecht. Es beginnt mit einer Analyse der Erscheinungsformen kriminellen Verhaltens (Nr. 864 ff.). Solche Kriminologie in einem weiteren Sinn lässt ja bereits die Haltungen erkennen, aus welchen heraus Täter handeln. Von diesen Gegenständen einer gesetzlichen Erziehung/Therapie führen dann Wege zu den angemessenen Reaktionen der Paideia. bb) Bemerkenswert, gerade aus heutiger Sicht, ist dabei die „Tätertypologie“, von der der Philosoph hier ausgeht. Straftaten führt er auf zwei Grundtypen zurück: zum einen auf den Einsatz physischer Gewalt bei ihrer Begehung, zum anderen auf ein Vorstellungs- und Täuschungsverhalten (Nr. 864 ff.). Hier findet sich die grundle-

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gende Typologie der Erziehungsformen wieder, auf Körper und Geist gerichtet, in einem tieferen Sinn noch die platonische „Seelenlehre“, in deren Bahnen sich ja auch seine Paideia bewegen muss. Deutliche Nähe zeigt sich darin zu Erkenntnissen der Gegenwart zu (den) „Tätertypen“204 ; auch sie lassen sich ja letztlich zurückführen auf Unterscheidungen zwischen physischer Gewalttätigkeit/bereitschaft und geistiger Irreführung der Opfer. Dies ist von besonderer Bedeutung sodann für die – notwendige – genauer differenzierende Erfassung eines „Gewalt-Begriffes“205, der im Staats(schutz)recht zunehmend oft entscheidendes Gewicht erlangt. Die platonische Erziehungsperspektive bietet hier, in den erwähnten Unterscheidungen, wie auch in ihrer letzten Einheit, wertvolle Ausgangspunkte. cc) Den Gründen der Begehung von Straftaten gehen schließlich die Nomoi nach in Betrachtungen vor allem zu den Tötungsdelikten (Nr. 874 ff.); es lassen sich diese Erkenntnisse aber auf alles strafwürdige Verhalten übertragen. Hier wird etwas geboten, was im gegenwärtigen Staatsrecht weitestgehend ausgeblendet, im Strafrecht meist allenfalls in vereinfachender Schwerpunktbildung behandelt wird; es hat dies aber eben – und darauf kommt es hier an – staatsrechtliche, ja staatsprinzipielle, eben idealstaatliche Bedeutung: Geldgier, Vergnügungssucht und Eitelkeit werden hier als treibende Motive genannt; in dieser Reihung bei Platon liegt sogar schon ein tieferer Sinn und eine Entwicklungsstufung vom Näher/Niedrigen zum Ferner/Höheren, Allgemeineren: Kriminelle Triebhaftigkeit erwächst ja oft aus wirtschaftlich- Materiellem, dieses wird zum Genuss erstrebt und eingesetzt; schließlich, in einer „vergeistigten Form“, ist dies alles Triebfeder eines Egoismus, eines „Willens zur Macht“, in seinem Prototyp des herrschsüchtigen Ehr-Geizes. Nicht „zum Gelde drängt …“, sondern „vom Gelde kommt … - doch alles“ Kriminelle. Der platonische Antimaterialismus, mit seiner radikalen Wendung sogar gegen jedes (größere) Eigentum – er wird hier durchgehalten, bis in eine Staats-Ethik des Strafrechts. Vertreter von Güterverteilung und Schwächerenschutz begegnen darin wirklich dem „amicus Plato“, selbst wenn Besitzende an ein „sed magis amica Veritas (oeconomica)“ erinnern mögen. Sozialisten haben Straftaten aus Armut erklärt, Platon sieht ihren Grund im Reichtum – eine bemerkenswerte coincidentia oppositorum. Und diese Wege müssen nicht immer nur enden bei den blutigen Leichen der Kriminaltheater, jenem Spitzenvergnügen (!) der Gegenwart. Sie führen vor allem vorbei an einer Wirtschaftskriminalität, die ja den Volkssouverän als ein Medienvergnügen beschäftigt, der Politik Material für Karriere-Ehrgeiz und Demagogie bietet. So ist diese „platonische Verbrechenslehre“ – die sich auch mit dem „Vorsatz“ beschäftigt und allen seinen Vor-Stufen, bis hin zu den Verlockungen der Macht – der Gegenwart, nicht dem Staatsrecht, so nahe wie Weniges in den Nomoi. 204

S. f. Viele Göppinger, H., Kriminologie, 6. Aufl. 2008, § 9, Rn. 7 ff. Krit. zu Versuchen einer Bestimmung des Gewaltbegriffs im Zusammenhang mit dem „Gewaltmonopol“ des Staates, Leisner, W., Demokratie – eine „friedliche Staatsform“? Zu Friedenspflicht und Gewaltmonopol im Innern, JZ 2005, 809 (813 f.). 205

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E. Einzelinhalte der „Nomoi“

8. „Religion im Staat“ – nicht „Staats-Religion“ (Buch X) a) Religion und Gesetz Zwei „Erleuchtungsquellen“ sind es, um welche platonische Gedanken kreisen: Das „Gesetz im Staat“, in der Welt – und das Göttliche über und in ihr206. Dies letztere stand bis in die Kosmologie, stets im Hintergrund der Dialoge, immer wieder trat es in den Vordergrund. „Am Ende der platonischen Welten“, in den Nomoi, kehrt der Philosoph entschieden zurück ins Diesseits – doch nicht ohne noch einen Blick nach Oben, in die Höhen, in denen letztlich auch seine „Gesetze“ aufgehängt sind. Dies ist Sinn und Rechtfertigung des X. Buches der Nomoi. Systematisch steht hier die Religion zwischen Straf- und Zivilrecht – ein zunächst erstaunlicher Befund aus der Sicht gegenwärtiger Verfassungsdogmatik. Für sie ist, abgesehen von wenigen unmittelbaren und nicht unproblematischen Religionsbezügen wie der invocatio Dei207, die „Religion“ eben doch nur einer jener Freiheitsbereiche, in denen der Bürger vom Staat nicht „molestiert werden soll“, wie auch sonst nicht in seinem Leben. Das Staatskirchenrecht steht in den modernen Verfassungen nicht nur redaktionell, sondern auch bedeutungsmäßig eher am Rande. Ganz anders die platonische Perspektive: In ihr fällt der Blick von vorne herein nicht auf eine Staats-Kirche208, auf „Staatsgötter“, ja nicht einmal auf ein Zentralthema „Kultus-Freiheit im Staat“. In den Nomoi wird etwas geboten, was auf den ersten Blick erscheinen mag wie ein Einschub in das Idealstaats-Lehrbuch, in Form eines wahren „Ex-Kurses“. Nähere Betrachtung vermag es jedoch einzuordnen in den Zusammenhang des Rechts im engeren, ja im rechtstechnischen Sinn – eben zwischen der Ordnung der Gemeinschaft und deren Verletzungen nach Kriminalrecht und den zwischenmenschlichen Kontaktbeziehungen nach Zivilrecht. b) Religion als Frage nach der (ewigen) Gerechtigkeit Die Systematik „der Gesetze“ ist auch darin überzeugend: Im Mittelpunkt steht die Gerechtigkeitsfrage, nicht nach dem „richtigen“, sondern nach dem gerechten Gesetz. Die Überlegungen beginnen an einer Stelle, an welcher, damals wie heute, der Bürger auf etwas treffen könnte wie „Religion im Staat“, wenn nicht bereits auf eine Staatskirche, in Polizei- und Justizstaatlichkeit: im Vorwurf der Gotteslästerung (Nr. 887). Hier gibt ja auch der freiheitlich-tolerante Staat der Gegenwart jede

206

Wer denkt hier nicht an Kant … Vgl. FN 188. 208 S. Leisner, W., Gott und Volk. Religion und Kirche in der Demokratie. Vox Populi – Vox Dei? 2008, insb. S. 18 ff. 207

III. Das Gesetz – Der platonische Rechtsstaat

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Ordnung der Trennung von Staat und Kirche, die Distanz zur Religion auf: Bürger dürfen nicht beleidigt werden in ihrem Heiligsten209. Dies ist hier denn auch der platonische Ausgangspunkt, systematisch folgerichtig aus dem besonderen Rechtfertigungsbedürfnis der Gesetze, gerade des Strafrechts im Buch X: Wenn der Rechtsbrecher „aus dem Menschsein isoliert“, aus der Gemeinschaft „weggesperrt“ werden muss, wenn der Staat sogar sein Leben beenden darf, so stellt sich, gerade hier, früher oder später, und auch in tagtäglichen zivilrechtlichen Kontakten, die Grundfrage nach einer „Göttlichen Gerechtigkeit“ (Nr. 907). Dann aber ist zu fragen nach deren Gesetzgebern und Richtern, welche die „Gesetze“ im Diesseits halten, aus ihrer gottgegebenen Autorität heraus – und damit aus ewigen Fernen und Nähen zugleich. c) Staatsnähe – Staatsferne der Götter, der Religion – zum Staat Aus dieser Einordnung des X. Buches in die Gesamtsystematik der Nomoi ergeben sich Fragestellungen, ja Programme des gesamten Gedankenganges in ihnen. Am Anfang steht die naturphilosophische Fragestellung, aus der ja, in der Vor-Sokratik, die platonische Philosophie als solche herauswuchs: Wenn die Gesetze aus übermenschlicher, aus „göttlicher Autorität“ heraus gelten, wie es bereits das IV. Buch lehrt, so stellt sich nun unausweichlich die „Schöpfungsfrage als Gesetzgebungsfrage“ ganz allgemein; dies ist aber letztlich die nach dem „Auctor“210 des Rechts, nach den Göttern – ja nach dem Göttlichen schlechthin. Die Gottesfrage wird damit zur Staatsfrage; die beiden platonischen Welten, Diesseits und Jenseits (vgl. oben a), begegnen und vereinigen sich in den Nomoi – im „Gesetz“. Die platonische „Antwort auf die göttliche Existenzfrage“ wird sogleich und entschieden gegeben, und dies aus dem Begriff des Gesetzes heraus (Nr. 891 ff.): Es gibt keine „rein natürliche Lage“ in ruhiger Dauer, in irgendwelchen Materien begründet. Bewegung ist alles, sie ist zu allererst, dies führt zum primum movens (Nr. 816 ff.). Damit öffnet sich der Weg, nun wirklich „zugleich“, zum platonische Deismus, seiner Lehre von der alles bewegenden Psyche, in ihrer Einheit von Weltund Menschenseele. Sie ist „gut“ oder „böse“, oder „schlecht“, je nach der Rationalität (Nr. 897), in der sie (sich) „bewegt“. Dies gilt auch für die „Gesetze“; sie ordnen das Diesseits im Idealstaat, in der Bewegung der „menschlichen Seelen“, eben im Staat, in dessen „Staats-Bildung“. Diese Welt-Psyche zeigen die Götter, in ihren (bereits) menschlichen Erscheinungsformen, in einer historisch geradezu genialen Übersetzung und Deutung des griechischen Polytheismus: In diesen menschen-gleichen göttlichen Bewegungen 209 Wenn auch (vgl. § 166 StGB) abgemildert nach Form („öffentlich“) und „Schwere“ (Verletzung des öffentlichen Friedens), vgl. dazu Isensee, J., (Hg.), Religionsbeschimpfung. Der rechtliche Schutz des Heiligen, 2007. 210 Das lateinische Wort begegnet übrigens sowohl im religiösen (auctore Deo), als auch im staatsrechtlichen Zusammenhang (auctor rei publicae).

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E. Einzelinhalte der „Nomoi“

bewegt sich die Welt, „ist“ sie, in einem darüber hinaufsteigenden, einem wahrhaft transzendenten Verständnis. Die „Götter Griechenlands“211 sind, als Erscheinungsformen der Welt-Psyche – Gott (Nr. 899). Damit, und nur in diesem Sinn, ist der platonische Idealstaat der „Gott auf Erden“. Staatsferne Göttlichkeit gibt es nicht. Staatlichkeit darf nicht gedacht werden in einer Trennung von Diesseits und Jenseits. d) Platonischer Deismus – christlich gewendet Dies nun ist sowohl christlich gedacht als auch in Demokratie zu denken, in einer erstaunlichen, idealen Verbindung: „Dein Reich komme!“ ist ja das Gebet, damit das Ideal des Erlösers der Christen, der sich dem „schlechten Gesetz“ des Diesseits, der Juden und des Pilatus, entgegenstellt. Die Zwei-Reiche-Lehre212 ist nur in Vorläufigkeit denkbar. Ein Reich allein kann es ja geben: den Idealstaat. In ihm ist das Gesetz Eins mit Gott, der darin als die rationale Weltseele wirkt, an welcher alle Menschen teilhaben, in ihrer Seelenhaftigkeit. Deshalb wächst das Gesetz in seiner Geltungskraft aus diesen Menschen heraus, in ihrer geistigen Höherentwicklung. Paideia ist nicht nur Gottesdienst, in ihr ist das Göttliche, Gott auf Erden – im geistigen, vergeistigten Menschen. Eines kann dieser Platon nicht kennen, er muss es entrüstet verwerfen (Nr. 907): Versöhnung mit den Göttern, Gottes-Besänftigung durch Opfer. Hier erreicht eine humane Entwicklung ihr Ende, welche mythisch begann mit dem Iphigenien-Opfer des Agamemnon, bis zum Opfer des Erlösers, sich im christlichen Abendmahl noch immer fortsetzt. Im Altarsakrament der Katholischen Kirche, in der physischen und/ oder Erinnerungsgemeinschaft mit dem Erlöser wird platonisch gedacht, weil dies aus einem christlichen Denken kommt, welches zur geistigen Einheit des so entfalteten Menschen mit dem Sohne Gottes führt – mit Gott selbst. Darin kann es dann eine große Einheit von platonischer Vernunft und christlichem Glauben geben: in christlich gelebter Paideia, die den Menschen in geistige Höhen führt. e) Platons Götterlehre – demokratisch gedacht Die ganze Größe dieses platonischen Gesetzes-Staats-Gottesdenkens offenbart sich hier sogar dem Juristen, in einer Dimension, in welcher auch Demokraten denken dürfen, vielleicht gar müssen, seien sie nun gottlos oder gläubig: in Rationalität. Rationales Denken ist nicht nur demokratisches Rezept, ein Programm der Volksherrschaft, es ist ihr Ideal, im platonischen Sinn ihr Wesen seit der Aufklärung. In jenen Gedankengängen des X. Buches hat sich die Demokratie historisch gegen 211 Mit diesem Titel veröffentlichte 1929 W. F. Otto eines der klassischen humanistischen Erziehungsbücher. 212 Dazu vgl. Leisner (FN 208), S. 27 und passim.

III. Das Gesetz – Der platonische Rechtsstaat

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die Kirchen und ihre Gottesbesänftigung in Jenseitshoffnung durchgesetzt, hat sie ihr Bildungsideal aufgerichtet: Dies geschah allerdings nur horizontal in staatsrechtlicher Gleichheit, nicht in der platonischen Vertikale einer geistigen Paideia. Ihr Ideal ist jener Aktivbürger, der sich ja nicht nur in Aktivismus213 entfalten darf, sondern in Menschlichkeit, zu ihr hin sich entwickeln soll. Die tiefe Fortschrittsgläubigkeit dieser Staatsform lässt sich allerdings begreifen aus dem geradezu platonischen Ansatz einer, letztlich unbegrenzten, rationalen Bildungs-, damit auch Aufstiegsfähigkeit des Menschen. Dass sich dabei die Demokratie den laufenden Blick von der Psyche ihrer Bürger zur „Weltseele“ versagt, mag Ausdruck ihrer Bescheidenheit sein, aber auch eines sokratischen Erstaunens vor der Wunderwelt, welche sich gerade menschlicher Rationalität täglich erschließt. Der Demokrat der technischen Welt bleibt gewissermaßen als kleiner homo faber auf Erden, aber er schaut doch immer weiter in die Fernen des Weltalls hinaus. Darin ist er auch als Gesetzgeber gefordert. Geradezu juristische Astronomie gilt es zu betreiben, in einer prognostischen Zukunftsschau214, wie aber auch in Festigung, „Begründung des eigenen Standpunkts“ auf Erden, beides in Rationalität. In diesem seinem rationalen Denken darf demokratisches Recht sogar eines wagen: seinen Staat zu sehen als den „Gott auf Erden“, in der Totalität einer platonisch-idealen Gesetzesordnung. Es ist eine wahre Vergöttlichung der Gesetzes-, der Rechtsstaatlichkeit, welche in den Nomoi vorgezeichnet ist: „Gott in Form des (Gesetzes-) Staats“, nicht „Staat im Namen Gottes“ als Staatskirche. So rechtfertigt sich sogar die staatliche Strafgewalt bis zum Tode. Dies ist Staatsallmacht aus dem höher gebildeten Menschen, ein wahrhaft platonisches Ideal, eben in einer (anderen) Idealstaatlichkeit: der demokratischen. Keine andere Staatsform ist zugleich so skeptisch gegenüber der Allmacht und zugleich so offen zu ihr wie die Volksherrschaft. Irgendwo muss eben auch im Staatsrecht das Rationale seine Ruhe finden… f) Staatsrechtfertigung – Gottesrechtfertigung Die Nomoi bieten eine „Staatsrechtfertigung“ wie das Staatsrecht der Gegenwart sie nicht kennt; das zeigte sich schon in den ersten Büchern. Im Buch X setzt sich dies nun nochmals in einer Höhe fort, welche auf dem langen Weg der vorhergehenden Bücher bereits in Paideia erreicht ist: in einer höheren Form der Staatsbegründung: aus einer Gottesrechtfertigung. Die platonische Theodizee erwächst, in einfacher Folgerichtigkeit, aus einem „Denken in Gesetz und in Freiheit“. Vorwürfe gegen den Philosophen, er vernichte die Freiheit(en) in seinem Wächterstaat, gehen an den Ursprüngen dieses Denkens, 213

Zur Kritik desselben Leisner, Staatsaktionismus, DÖV 2009, 873 ff. Zu juristischen „Prognosen“ vgl. neuerdings Augsberg, J./Augsberg, St., Prognostische Elemente in der Rechtsprechung des BVerfG, VerwArch 2007, 290; Schwabenbauer, Th./Kling, M., Gerichtliche Kontrolle administrativer Prognoseentscheidungen am Merkmal der „Zuverlässigkeit“, VerwArch 2010, 231. 214

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E. Einzelinhalte der „Nomoi“

eben der Paideia vorbei: Der zu erziehende Mensch, der vom Staat zu bildende Bürger, der Mensch in seiner ganzen Virtualität, ist eben „frei“ geboren, nicht in staatlichen Ketten, geradezu in seinem Wesen, schon als Objekt der Erziehung. Daher kann, darf er sich zum Guten entwickeln und zum Schlechten. Entscheidend ist nur eines: seine Entfaltung, nicht der Kampf zwischen diesen „Prinzipien“. Der platonische Gott, in und außerhalb des Menschen bewegend, eröffnet Wege, Chancen; letztlich befiehlt, erzwingt er aber eben nicht, er bildet, er erzieht. Dieses Göttliche ist daher für Fehlentwicklungen in der Welt nicht verantwortlich, auch nicht im Staat: nicht weil sich „die Götter nicht um die Welt kümmerten“215, sondern weil sich der Mensch selbst um seine Welt kümmern muss, aus seinem Staat heraus. Wenn er höchste Ehren Unwürdigen verleiht, wie dies gerade in der attischen Demokratie damals geschah, so ist das nicht „eines Gottes Schuld, sondern, der Menschen Fehler“. Theodizee wird darin zur Rechtfertigung eines Staats, der eben – zu Zeiten – auch „ein schlechter sein mag“. „Wie konnte Gott das nur zulassen?“ – das ist nicht die Frage: Verantwortlich ist für alles „der Mensch in seinem Staat“, er allein, keine göttliche Vorsehung. Der Mensch, welcher Gott anklagt, verklagt sich selbst. Geschieht Übles, so verkennt er eben vor allem seine schwachen Kräfte, ihre (allerdings auch Höherbildungs-)Grenzen sollte er achten. Eine solche „Theodizee als Staatsrechtfertigung“ bedeutet, gerade für die Demokratie, eine staatsrechtliche Mahnung: „Verantwortung“, dieses schwere Wort, ist kein Entlastungsbegriff, aber auch kein Allerweltswort, kein Anfang von Schuldzuweisungen: Mit ihr beginnt das Gericht des Menschen über sich selbst, bevor er vor seinen Richter tritt, und sei er es selbst – im Idealstaat.

9. Gesetze: Verträge – Buch XI a) Das Bürgerliche Recht im platonischen Staats-System In den letzten Büchern der Nomoi drängen sich immer mehr Äußerungen zu Einzelheiten zusammen, in einer Behandlung, die manchmal sprunghaft erscheinen mag. Bei näherer Betrachtung gerät jedoch auch hier das größere System nicht aus dem Blick: es bleibt das einer „geschlossenen Rechtsordnung“, eben in Idealstaatlichkeit. Zwar begegnen hier zunehmend auch deutlich zeitbedingte Ratschläge, wenn etwa die Betreuung von weiblichen Waisen gewährleistet werden soll, in einer für die „Gesetze“ allgemein typischen frauenfreundlichen Grundhaltung. Insgesamt behandelt aber dieses Buch Materien, welche nach gegenwärtiger Systematik dem Bürgerlichen Recht zuzuordnen sind. Der idealstaatliche Spaziergang bleibt dabei auch insoweit auf seinen Wegen, als die hier schwerpunktmäßig erörterten Bereiche alle eine Bedeutung und Struktur aufweisen, welche sie als 215 Wie es später Epikuräer lehrten, letztlich auch insoweit in Fortsetzung platonischer Bildungs- und Freiheitsvorstellungen.

III. Das Gesetz – Der platonische Rechtsstaat

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„gesellschaftsrechtliche Stützen“ für den Staat in einem weiteren Sinn zeigen: eben als Grundlagen und, wenigstens schwerpunktmäßig, auch als Regelungsmaterien des Staatsrechts. Platon hält sich hier, in der bürgerlich-rechtlichen Verzweigung seiner Gegenstände, wie sie auch für die Rechtsordnungen der Gegenwart charakteristisch ist, durchaus „in seinem System“ – es ist das eines staatsrechtlichen Aufbaus der Gesamtrechtsordnung. b) Der Ausgangspunkt: Zivilrecht in Vertrauen Von dem, heute so wichtigen, „Vertrauen der Bürger in den Staat“, dessen Schutz im Öffentlichen Recht, ist in den Nomoi kaum, nirgends jedenfalls ausdrücklichvertiefend die Rede. Dies ist auch nicht erforderlich in der Grundkonzeption einer Ordnung, die in der Bildung des Menschen ihre Aufgabe und Rechtfertigung findet, damit an sich schon aufruht auf dem tiefen menschlichen Vertrauensverhältnis, welches den Erzieher verbindet mit den ihm Anvertrauten. In den zwischen-bürgerlichen (Rechts-)Beziehungen aber muss dieses Vertrauen einen zentralen Platz einnehmen (vgl. Nr. 916 ff.), jene geradezu tragen, im eigentlichen Sinn. Solche Grundvorstellung begegnet ja auch in den entwickelten Rechtsordnungen der Gegenwart, wo Vertrauen, ganz selbstverständlich, vor allem aus näheren vertraglichen Beziehungen abgeleitet wird216. Dieses Vertragsrecht zwischen Bürgern – nicht zum Staat – wird aber im XI. Buch schon vorweg näher behandelt (i. Folg. c)) auf der Grundlage eines Vertrauens, welches eingangs bereits als besonders schutzwürdig herausgestellt wird im Staat: Anvertrautes Gut ist zu (be)hüten, zurückzugeben – eine zentrale Rechtsgrundlage für Athen, einen Staat der Seefahrer und Kolonien. Kredit geben über Meere hinweg, anvertrautes Gut aufbewahren bis zur Rückkehr – oder für die Erben des Unglücks: das waren Grundprinzipien einer Gesellschaft, die sich insbesondere im Gesellschaftsrecht des Handels aufbaute, dort vor allem zu sichern war. Im Vertrauen des (heutigen) Zivilrechts setzen sich daher in Platons Idealstaat dessen enge rechtliche Bindungsgedanken fort. Der Verwahrer (§§ 688 ff. BGB), allgemeiner der Auftragnehmer (§§ 662 ff. BGB), insbesondere der Darlehensnehmer (§§ 488 ff. BGB), werden mit Staatsgewalt angehalten, Vertrauen nicht zu enttäuschen. Denn dies ist hier das rechtliche Binde-Mittel, in dem sich die allgemeine, eben sehr enge, Bürger-Ordnung im Idealstaat bewährt, hineinwirkt in die kleinsten Verpflichtungen gegenüber dem Neben-Bürger. In zivilrechtlichem Vertrauen setzt sich darin Staatlichkeit fort, bis zwischen die Bürger hinein, in ihm wird „Zivilrecht zu Staatsrecht“217. Ist nicht Ähnliches, wenn auch auf ganz anderen

216

Zum Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip vgl. Leisner, A., Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 463 ff.; Maurer, H., HStR3, § 79. 217 Nicht, wie es bei der (indirekten) Drittwirkung naheliegen könnte, Staatsrecht zu Zivilrecht.

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E. Einzelinhalte der „Nomoi“

Wegen, später geschehen über das Corpus Iuris, heute nachwirkend in zivilrechtlichen Kodifikationen? Eine wahrhaft tiefe Mahnung kommt hier aus den Nomoi: Vertrauen muss überall sein, in der Gemeinschaft. Heute sollte es noch weit stärker rechtlich geschützt werden, von Bürger zu Bürger, daher und darin erst recht vom Bürger zu seinem Staat218. Auf dieses Vertrauen allein können die Vertreter dieses Staates antworten – in Verantwortung. c) Kaufrecht Systematisch bemerkenswert ist, dass der Aufbau der Nomoi sich fortsetzt bis in Einteilungen, welche denen des Zivilrechts der Gegenwart im Großen entsprechen: Zunächst wird das Kaufrecht behandelt, jenes Ordnungsgebiet der reinen Iustitia commutativa, in dem das alles übergreifende Vertrauen (vgl. b)) sein wichtigstes Feld der Bewährung findet. Hier soll vor allem Täuschung bekämpft werden, die ja bereits im Vorfeld jede Vertrauensbildung verhindert. Eine gewisse rechtstechnische Unterentwicklung gegenüber platonischen Vorstellungen, wie sie in der Gegenwart soeben festzustellen war, setzt sich hier fort: In den Nomoi stehen Strafen bei betrügerischem Verhalten im Mittelpunkt (Nr. 920 ff.); geltendes Zivilrecht ist zurückhaltend hinsichtlich der Offenbarungspflichten, welche es den Partnern im bürgerlich-rechtlichen Rechtsverkehr auferlegt. Dies mag insoweit folgerichtig sein, als für das Bürgerliche Recht heute die Freiheit dieses Bürgers der Ausgangspunkt ist; damit gilt eben „Lex vigilantibus scripta“, in einer Verpflichtung der Freiheit gegen sich selbst zu sorgfältiger Prüfung, wie sie das Vertragsrecht beherrscht. Ob es in Athen bereits damals den „schlauen Griechen“ gab, der für viele Jahrhunderte sprichwörtlich werden sollte, mag dahinstehen; dieser See-Handels-Staat beruhte jedenfalls auf einem Beziehungsgeflecht, welches kaum leichter überschaubar gewesen sein dürfte als die Vernetzungen der Gegenwart. Eine platonisch Mahnung also auch hier an ein „flexibles“ Zivilrecht der Gegenwart: Null Toleranz gegenüber der Täuschung, strenges Wettbewerbsrecht! Gerade dies fordert ja auch eine „Soziale Marktwirtschaft“ mit ihrem Schwächerenschutz219: Zurück zum ehrbaren Kaufmann wie er im Handelsgesetzbuch, oft kaum mehr als verbal, überlebt! d) Testamentsrecht Nun folgen Gedanken zum Recht der Letztwilligen Verfügung, zu „Recht vor Tod“. Platon bietet darin einen anderen Aufbau als das Zivilrecht der Gegenwart: Bei 218 In allen rechtlichen Bezügen: gegenüber der Gesetzgebung vor allem im Rückwirkungsverbot, der Verwaltung gegenüber insbesondere bei Änderung und Aufhebung von VAen, vgl. Maurer (FN 216), Rn. 87, 92. 219 Zum Schwächerenschutz, in seinen verschiedenen Ausprägungen, vgl. Leisner, Vertragsstaatlichkeit (FN 119), S. 112 ff. m. Nachw.

III. Das Gesetz – Der platonische Rechtsstaat

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ihm erscheint das Familienrecht als Schutz, Bewahrung, Sanktion von Familienbanden; vor und über dem Tod steht die lebendige Familie. Platon sieht das Testament als die Haupt-, als die wichtigste Form des bürgerlich-rechtlichen wirtschaftlichen Vertrags, eine Perspektive, welche heute zurücktritt, vielleicht sogar verloren zu gehen droht. Die platonische Wirtschaftssicht auf das Testament musste in den Nomoi zu einer Folgerung führen, welche diesem Werk den Vorwurf des philosophischen Kommunismus, seinem Autor den des Utopisten in besonderer Weise eingebracht hat: Die Nomoi melden grundsätzliche Bedenken an gegen alle Arten von Testamenten. Gehört nicht das Gut des Bürgers in erster Linie seinem Staat, nicht ihm? Wie soll er dann testamentarisch darüber verfügen dürfen (Nr. 926 ff.), in etwas wie einem Vertrag mit seinen Erben oder sonstigen letztwillig Bedachten? Verfechter der Erbschaftsteuer, bis hin zu jenen, welche deren Anhebung wünschen mit dem Endziel einer radikalen Veränderung der Gesellschaft, nach dem Vorbild der englischen Labour-Party nach dem 2. Weltkrieg – sie alle könnten hier einen geistigen Vorfahren sehen. So weit geht aber Platon doch nicht; er will nur, dass der Erblasser seinem Staat Dank abstattet, am Ende seines Lebens, für die Paideia, für jenen Schutz, den die Gesetze ihm geboten haben. Im Namen dieser Dankespflicht konnten die Gesetze Athens, seine Götter, von Sokrates auf seinem letzten Gang noch Gehorsam fordern, im Angesicht des ungerechten Todes, den sie ihm auferlegten. „Vor allem“ – nicht mit all seinem Gut – soll der Erblasser seinem Staat dafür danken, dass er ihn sich zum Menschen hat bilden lassen, ihn gebildet hat220. Wenn gelten soll: „Erbschaftsteuer als Dank“, so steht dahinter auch ein weiteres platonisches Dogma, ein Axiom: Reichtum ist nicht Bildung, sondern Ver-Bildung, sie wird allenfalls zur Ein-Bildung. Ein zutiefst antimaterialistisches philosophisches Weltbild wird hier in seinen Ausstrahlungen hineingespiegelt bis in die innerste Privatheit des „Menschen im Angesicht seines Endes“. e) Die Familie – Elternautorität In diesem Rahmen, aus welchem finanzielle Hoffnungen verschwunden sind, kann dann nochmals die platonische Autorität beschworen werden, in ihrer Keimzelle, in der Familie. Gemeinschaft soll diese doch sein, die engste, die es gibt. Doch der Philosoph spricht sie in dem an, als was sie auch heute das Zivilrecht vor allem kennt, erlebt, erleidet: Familie ist Streit – fratelli coltelli, wie es der Sinnspruch Jener 220 Dies aber wäre eben platonisch, nicht aber ist es gegenwärtig, gleichheitsstaatlich gedacht. In der heutigen Rechtfertigung der ErbSt spielt es kaum eine Rolle (vgl. Leisner, W., Erbrecht, HStR3, § 174, Rn. 27 ff.), allenfalls, soweit diese im Zusammenhang mit einer Vermögensteuer gesehen wird; ebenso wie diese kann sie insoweit als (späte) Gegenleistung des Erblassers für den „Beitrag der Gemeinschaft“ zum Aufbau des Erbguts angesehen werden, durch Gewährleistung von Sicherheit, insbesondere der Rahmendaten des Erwerbes.

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E. Einzelinhalte der „Nomoi“

weiß, die in beidem besonders erfahren sind: in der Freundschaft wie in der Strafe für deren Bruch, bis zum Brutus in Dantes tiefster Hölle. In juristischer Kühle, und in Nähe zu familiären Erfahrungen, sprechen die Nomoi darüber, und in gebotener Kürze: Scheidung, „wenn’s denn sein muss“, aber unter Vorsorge für die Kinder221, vor allem aber Autorität der Eltern, als Vorbild – Abbild jener größeren Autorität wie sie den Idealstaat hält und durchwirkt (Nr. 932 ff.). Ehrung schulden Kinder, Verehrung, nicht (nur) den modernen Sozial-Unterhalt für Alte. Wieder, wie so oft in den Nomoi, begegnet hier dieses platonische Leitmotiv, „Geistiger Dank für geistige Bildung(sleistung)“; nicht Geld als Macht – Geld als Dank. Das gegenwärtige Familienrecht wird dagegen letztlich eben doch weithin beherrscht von materiellem, finanziellem Ordnungsdenken; seit dem Sieg römischer Rechtstechnik ist eben auch Familienrecht letztlich – Vermögensrecht. Darin ist Platon der Gegenwart fern: Sein Familienrecht ist eine zutiefst humane Sicht auf das ganze Zivilrecht, erfasst auch diesen fernsten-nächsten Horizont aller Paideia. f) Prozess, Rechtsstaat Aus dem Zivilrecht mündet die Rechtsübersicht der Nomoi konsequent ins Prozessrecht, welches für Platon selbstverständlich nur ein solches zwischen Bürgern sein kann, nicht zwischen ihnen und einem Idealstaat, der wesentlich keine Rechte hat, sondern immer nur – Recht. Hier begegnen einige erstaunlich gegenwartsnahe Bemerkungen: Private Mediation hat zuerst tätig zu werden, bevor der Staat eingreift – nicht so sehr in die Familien hinein, als nun vielmehr doch zum Schutz des Eigentums Privater. Hier begegnet dieser Begriff als Ordnungskategorie, nicht in einer Kritik der Besitzgier, welche den Menschen von seinen höheren Zielen, von seiner Arete, abbringt, damit von seinem (idealen) Staat. Als Lebensgrundlage in einer Verteilungsordnung wird das Eigentum geschützt, die aber nicht auf schematische Gleichheit gegründet ist, sondern dem Ziel der höheren, individuellen Menschenbildung zustrebt. Streitlust der Bürger hat der Staat jedoch zu bekämpfen; gerade sie erwächst ja auch wieder aus jenem Macht- und Besitzstreben, das es aber in diesem Staat nicht geben darf. Es findet übrigens auch seinen Ausdruck in einer Bettelei, welche die Fundamente des Staates missachtet, ja untergräbt, daher in Strenge zu verhindern ist. Armut ist eben in der platonischen Welt kein Rechtstitel, sie begründet die Notwendigkeit einer Paideia. Der arme Mensch hat nur ein Bedürfnis: Erziehung, Entwicklung zu dem, was ihm seinen Platz im Idealstaat sichert: Tüchtigkeit zur Leistung in der Gemeinschaft, aber nicht für diese. Wirtschaftliche Leistungsordnung wird in dieser fernen Zeit also bereits in einer Strenge gesehen, welche spätere Rechtsstaatlichkeit vorwegnimmt, die Wieder221 Eine Sicht, welche in der Gegenwart immer mehr in den Mittelpunkt rückt – aber nicht hinreichend gerade unter dem Gesichtspunkt der Kindererziehung.

III. Das Gesetz – Der platonische Rechtsstaat

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auferstehung „des platonischen Gesetzes“ in England, Frankreich und Deutschland, nach zwei Jahrtausenden. Der Staat der Nomoi ist der alte, der wahrhaft ewige Staat als Recht (Kelsen) – der Rechtsstaat. Kaum irgendwo kommt Platon der Gegenwart so nahe wie hier, in einem Recht, das erst in seiner statuenhaften Unbedingtheit diesen Namen verdient.

10. „Staatsschutz“ im Idealstaat – Buch XII a) Gesetze als Mauern – Staatsschutz Wohin wird nun der lange Osterspaziergang führen durch diesen Frühling der idealen Nomoi – oder: Wo wird er enden, Platons „langer Marsch durch die Institutionen“? Es ging oft so einfach, so eben dahin, wie es schien, trotz der Ereignisse Flucht, vom Damals bis in die Gegenwart des Staatsrechts. Und doch ging es aufwärts, im Blick auf eine wahre Gralsburg in sonnigen Höhen. Burgen umgeben schützende Mauern. Die Altae Moenia Romae wurden von Vergil besungen222, dem Dichter der unerreichbaren Römischen Idealmacht. Platons Idealstaat wird zu Ende gebaut in seinen „Gesetzen als Mauern“ für seine Wächter; die Bürger werden in ihnen in Strenge gehalten. Wächter als Mauern – diese Begriffe umschließen das Programm des Schluss-Buches, es sind nicht „Turmspitzen“, dies ist nicht ein Ziel der Staatlichkeit; hier sind Schluss-Steine ihres Bauwerks, eben doch eines wahren Gewölbes, im Sinn einer „Hoheit der Bauten“. In eine solche sollte die Gegenwart ein-geführt werden, mit ihrem Staatsrecht, jener geistigen Gewölbe-Konstruktion, unter der sich „gut leben lässt“, in der ehrfurchtsvollen Ruhe, wie sie verehrungswürdige Bauten eben ausstrahlen in ihrem Inneren223. Diese Staats-Gebäude leben in ihrer rechtfertigenden Ruhe aus sich selbst, unzerstörbar in ihrer geistigen Idealität. Doch es ist deren reale Ausstrahlung, die politische Macht, welche sie hält, ihre Tore bewacht, wenn es sein muss mit Drohung und Strafe. Und es muss sein. b) Strenges Strafrecht als Staatsschutz – „Finanzkontrollen“ Mit Strafrecht hatte das XI. Buch geschlossen, zur Sicherung zivil(rechtlich)er Ordnung. Fast bruchlos führt das letzte Kapitel der Nomoi dies weiter, unspektakulär, ohne den Paukenschlag hoher Staatszielverkündung, darin der Bescheidenheit staatsrechtlicher Gegenwart vergleichbar; Platon übertrifft sie noch darin, dass ihm auch Wohlleben und Vergnügen keine Ideale sind.

222

Vergil, Aeneis I, 7. Etwas von der „Würde des Staates“ (vgl. FN 10) ist hier gegenwärtig, wahrhaft transpersonal gedacht (vgl. FN 192). 223

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E. Einzelinhalte der „Nomoi“

aa) „Eigentum straft Diebstahl“ – bis zum Tode; denn sein Bruch ist der Tod der Gesetze, der Ordnung des Staates. In der Verachtung des Eigentums wären ja, gerade für Platon, Fundamente jener Staatlichkeit erschüttert, welche ihrerseits allen Besitz zuteilt. Solche Strafen verdient nicht (nur) die „Entwendung von Staatseigentum“ – ein solches gibt es bei Platon nur als Verteilungsmasse für die Staatsgewalt. Deren Verteilungsordnung ist vielmehr als solche heilig, ein Zugriff auf sie, auf ihre Ergebnisse, ist Staatsverbrechen. Ordnung des Idealstaats ist zu allererst materielle Güter-, damit Finanzordnung. Besitzgier gegenüber anderen Menschen ist politisches Attentat, nicht Terrorismus, sondern Um-Sturz. Nicht jeder Besitz als solcher ist heilig, aus irgendeiner Rechtfertigung von Inhaberrechten heraus; Sakrosankt ist aber die Eigentumsordnung als solche, wie der Idealstaat sie eben schafft und erhält, wie der Bürger das Eigentumsgut in ihr zu allererst vom Staat „ererbt“, es dann in Arete „erwirbt, um es zu besitzen“. Der Dieb bricht gewissermaßen die staatliche Sozialordnung als Finanzordnung; er muss so unbarmherzig bestraft werden, wie auch die Gegenwart vorgeht gegen „Sozialdiebstahl“, begangen am „Sozialstaat“, damit letztlich an anderen (schwächeren) Bürgern. Weit liegen hier Grundvorstellungen der Nomoi und des gegenwärtig „sozial orientierten Strafrechts“ nicht auseinander; dieses geht ja auch mit voller Strenge vor gegen den „Sozialschädling“, der „die Schwächeren bestiehlt“224, weit weniger hart gegen denjenigen, der durch seinen Angriff auf „Reiche(re)“ vielleicht ja nur seine Vorstellungen von „sozialer Gerechtigkeit“ verwirklichen will…225 bb) Delikte im Bereich der Landesverteidigung werden in den Nomoi strafrechtlich besonders streng geahndet, bis zur Todesstrafe (Nr. 945 ff.). Es ist dies ein – der wichtigste – Teil des „Staatsschutzes“ im eigentlichen Sinn, der Sicherung des Menschen nach außen. Drakonisches Militärstrafrecht war stets ein Stein des Anstoßes für moderne, insbesondere demokratische Staatlichkeit, in Frankreich vor allem seit der Affäre Dreyfus und der „Dezimierung“ fahnenflüchtiger Truppen in der späten Zeit des Ersten Weltkriegs. In Platons Gesetzsystematik des Idealstaats lässt sich solche Strenge aber zurückführen auf finanz- und haushaltsrechtliche Grundkonzeptionen des Philosophen, welche auch hier seine Ordnung bestimmen: Der Fahnenflüchtige entzieht ja dem Staat seinen Verteidigungsbeitrag, er schwächt ihn letztlich nicht anders als der Wirtschaftsstraftäter, und er betrügt ihn auch noch um eine weit wichtigere Leistung. Hier müsste über Folgerungen für die Gegenwart nachgedacht werden, aus der Abschaffung der Allgemeinen Wehrpflicht. Wird damit nicht der Wert der SchutzEinsatzpflicht des Lebens für die Gemeinschaft reduziert auf eine ökonomische 224 Es ist dies das „sozialschädigende Verhalten“ in seinem weiten sozialrechtlichen Gegenwartssinn, vgl. dazu im Strafrecht: Amelung, K., Rechtsgutverletzung und Sozialschädlichkeit, in: Jung/Müller-Dietz/Neumann (Hg.), Recht und Moral, Beiträge zu einer Standortbestimmung, 1991, S. 269 ff.; im Zivilrecht: Armbrüster, Chr., in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 138 Rn. 96 ff.; im Sozialrecht: Sack, R./Fischinger, Ph. S., in: Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2011, § 138 Rn. 454 ff. 225 Zum Schwächerenschutz vgl. FN 219.

III. Das Gesetz – Der platonische Rechtsstaat

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Größe, wenn Militärstrafrecht nichts anderes mehr sein darf als eine Form von „Arbeits-Strafrecht“? Doch der militärische Bereich ist kriminalrechtlich längst speziell her-ausgestaltet aus der allgemeinen Rechtsordnung, kriminal-226 wie zivilrechtlich. Pazifismus in ökonomischer Einkleidung hat immerhin – dies wäre denn doch zu bedenken – die Grundsatzbedeutung militärischer Außensicherung so weit abgeschwächt, dass dies Folgen haben müsste auch für die Wert-Einschätzung der demokratischen Staatlichkeit als solcher, als Schutzobjekt. cc) Antikorruptionsanstrengungen stehen heute ganz oben auf der demokratischen Agenda. Die Demokratie war einst angetreten als die inkorruptible Staatsform, wie revolutionäre „Tugendpolitiker“ um Robespierre sie verkündeten. Doch bald zeigte sich, dass sich der Volkssouverän noch leichter bestechen lässt als große Politiker oder kleine Beamte über Schweizer Konten oder auf dunklen Parkplätzen. Wahlgeschenke227 sind wirksamer als Briefumschläge, und dazu noch transparent(er) – einfach nur demokratisch. „Schon Platon“ kannte dieses Un-Wesen der SpätDemokratie, er will es mit voller Härte verfolgen (Nr. 948) in seinem Idealstaat, der sich hier nicht als totaler Regelungs-, sondern als Überwachungsstaat zeigt, wiederum auch darin legitimiert durch die Finanzinteressen seiner Bürger, der einzelnen Menschen. Wieder ist es der Wirtschaftsstaat Athen, der in diesen seinen Entartungen an die Groß-Korruptionen modern vernetzter Wirtschaftsstaatlichkeit erinnert. Die Macht des Geldes will ja auch der Philosoph in einer Weise einsetzen, welche gegenwärtiger Korruptions-Vermeidung ganz nahe kommt: in Belohnungen für Untadelige – heute all jene, die doch (noch) lieber Leistungsboni beziehen als schwarze Scheine. Teufel und Beelzebub – schon damals wurde ein hoffnungsloser demokratischer Kampf geführt gegen die auri sacra fames. dd) Steuerflüchtlingen will Platons Idealstaat nacheilen (Nr. 949); in solchem Streben ist er modernem Staatsrecht so nahe wie wohl nirgends sonst, auch wenn er jene vielleicht ebenso wenig erreicht. Nur rechtfertigt sich dies in den Nomoi überzeugender noch als in der Gegenwart: nicht aus dem Neid gegen Besitzende, in einer Ordnung des immerhin freiheitsgeschützten Eigentums, sondern aus einer staatlichen Besitzverteilung heraus. Der betrügerische Angriff auf ihre Ergebnisse wird zum Attentat auf die idealstaatliche Ordnung. Die Reaktion der Macht auf Steuerflucht ist finanzieller Staatsschutz, als solcher, jedenfalls in seinem Rahmen, wird er geahndet, in voller Härte. Steuerfahndung nach platonischem Vorbild – welcher Finanzbeamter denkt, im Netz oder in durchsuchten Räumen, an eine so hohe philosophische Rechtfertigung seiner Bemühungen?

226 Zur Entwicklung des Militärstrafrechts vgl. Dau, Klaus, Wehrdisziplinarordnung, 6. Aufl. 2013; Schnell, K. H./Ebert, H.-P., Disziplinarrecht, Strafrecht, Beschwerderecht der Bundeswehr, 28. Aufl. 2013; Stauf, W., Wehrdisziplinarordnung, 2012. 227 S. zu der Problematik Leisner, W., Demokratie gegen Marktwirtschaft. Wahlen – Wahlgeschenke – Staatsschulden, NJW 2011, 3553.

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E. Einzelinhalte der „Nomoi“

Wichtiger als all diese, wahrhaft erstaunlichen, Einzelparallelen zu aktuellen Problemen und Lösungsversuchen der Gegenwart ist aber ein systematisch übergreifender Gedanke in diesem letzten Kapitel der Nomoi: Platon entwirft hier das Idealbild des Finanz-Kontrollstaats als wichtigste, wenn nicht einzige materielle Sanktionsform seiner im Übrigen so ganz „geistigen“ Staatserziehung. Und diese „Erziehungsmittel“ greifen denn auch in der Gegenwart weit wirkungs- und eindrucksvoller als permissive Freizeitgestaltung, in Kindertagesstätten und bis in ein Hochschulleben hinein. Nur steht gerade hier auch die große platonische Mahnung an das Staatsrecht der Gegenwart: Kontrollen decken auf, sie sind „besser“ als Vertrauen – ob sie aber auch „bessern“? Denket zuerst an Bildung des Menschen, an Stein und Meißel, nicht an den Hammer! c) Auslandskontakte Platons Steuerfahndung trägt wahrhaft moderne Züge: Sie will nicht nur über die Grenzen verfolgen, sie fragt weit radikaler zugleich auch in Kategorien einer Finanzkontrolle: Sind Auslandsreisen, grenzüberschreitende Kontakte überhaupt nötig? Hier nun entfernt sich der Idealstaat ganz weit von aller Gegenwart, in eine radikale Utopie hinein. Und doch wurde noch zu Beginn der neuesten Zeit in solchen Bahnen gedacht, vom „Geschlossen Handelsstaat“228, oder von den „Schutzzöllnern“ der Bismarckzeit229. Ob Auslandsreisen überhaupt nötig sind, wird in den Nomoi gefragt (Nr. 951). Wirtschaftliche Gründe soll es dafür nicht geben, Handel mit fremden Ländern birgt Gefahren. Aus der Sicht einer Paideia, die zu allererst abgeschlossene Erziehungsräume verlangt, wie die klassischen Klassenzimmer der alten humanistischen Gymnasien, ist dies nur folgerichtig. Auch in der Gegenwart ist wohl weit mehr zu bedenken, dass ein freier Gedanken- und vor allem Güterfluss eben doch auch Gefahren heraufbeschwört für geistige Entwicklung, vor allem der Jugend. Begeisterung für zollfreie Gedanken und Jugendschutz – das wird immer ein Problem sein, eine Gefahr liberalen Denkens. Platon will aber seine gegenwartsferne Auslandsphobie ja auch beschränken, auf Jugendliche vor allem, sie sollen ferngehalten werden von der Ferne. Der Vergleich mit fremden Sitten ist aber nach ihm doch auch von Nutzen. Gerade die Nomoi führen den Staatsrechtler aus Athen auf einen Spaziergang mit ausländischen Freunden. Immerhin: Hier ist eine Welt über die Nomoi hinweggegangen.

228 229

Von Fichte vorgelegt 1800. S. dazu Lambi, J. N., Free trade and protectionism in Germany, 1963.

III. Das Gesetz – Der platonische Rechtsstaat

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d) Staatsweisheit der Wächter Der platonische Idealstaat ist der Bildungsstaat für den Menschen. Auf seine Wächter kommt das XII. Buch am Ende der Nomoi zurück. Doch da ist keine Erziehungs-Apotheose, kein Phantasiebild von einem fernen Übermenschen. Die Wächter sind – auch nur – Erzieher, keine „Auto-Anthropoi“, keine Halbgötter, so verlockend dies für das Denken eines Mythologikers wie Platon sein mochte. So wie sein Idealstaat im Spaziergang, im „Vorübergehen“ in Gedanken gebaut wird, so endet dies alles in kurzen Worten, und, eben doch wieder, im Erkenntnis-Dunkel des Höhlengleichnisses – in den nächtlichen Versammlungen der Wächter. Über sie, den personifizierten Staatsschutz, erfährt der Leser nur wenig, eigentlich nichts Neues der Kenner der Politeia. Ihre Rechts-Figuren verdämmern hier in der Forderung, vielleicht auch nur einer Hypothese, von Staatsweisheit. Wie sie diese erreichen – letztlich bleibt es offen. Etwas wie eine „Leitung in Staatskunst“ wird angesprochen: Sie erwächst aus Erkenntnis und nochmals Erkenntnis. Platon bleibt der Gnoseologie treu; daher wird sein Idealstaat nicht geführt, sondern bewachend geleitet, besser begleitet von Staatsweisheit(en) in Menschengestalt. Nicht von einer Jugend darf dies erwartet werden; die „Gesetze“ haben als solche kein Alter, sie enden auch nicht in demagogischem Jugendwahn, wie er heute manchen staatlichen „Führer in eine bessere Zukunft“ erleuchten soll. Das Alter strahlt solche Weisheit aus, ihm hilft eine Jugend, sie vergnügt nicht nur Ältere und sich selbst in einem „Gastmahl“. Platons Staat ist nicht alt, aber hoch – hier ragen eben schon geistig die Altae Moenia Romae. Immer noch höher hinauf muss deshalb der Weg des Geistes führen, der Bildung, in Gefilde, welche die Spaziergänge der „Gesetze“ nicht mehr erreichen, aber noch schauen dürfen: Das ferne Reich des Göttlichen, das „Dritte Rom“. Diese „lichten Höhen“ des Staatsideals, wie sie die Wächter im Auge haben, werden sichtbar in geistiger „Erleuchtung“: Platons Staat wird aus Erkenntnis gebaut, nur Wissenden wird er sichtbar, deren Erkenntnis sich zur Weisheit steigert. Nicht der Wille eines Dezisionismus ist es, der Gesetze setzt, auf ihrer Grundlage „herrscht“, „entscheidet“. „Das Beste ist ein Befehl“ – eben doch nicht. Entscheidung ist kein Begriff dieser Idealstaatlichkeit. Sie existiert in geistiger Selbstentfaltung, sie wird aus der Paideia. Unabänderlich, in göttlicher Höhe gehalten ist sie, weil sie „im Werden ist“, in dieser Bewegung der Bildung allein erkennbar. Das Recht wird erkannt, darin allein ist es existent – verbindlich. Es ist kein mystischer Illuminismus, welcher die nächtlichen Versammlungen der Wächter durchleuchtet (Nr. 962), transparent werden lässt, wohl aber ein juristischer Intellektualismus auf höchster Ebene. Alle „Gewalt“, in welcher Form immer, ist grundsätzlich, geradezu begrifflich, unbekannt in dieser Welt des Rechts; dies gilt für die „Staatsgewalt“ bis zu den – letztlich ohnehin unlösbaren – Problemen des Gewalt-Begriffes als solchen, mit seinen „physischen“ und „psychischen“ Definitionsproblemen230. 230

Vgl. FN 205.

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E. Einzelinhalte der „Nomoi“

Überhöht ins Prinzipielle bedeutet dies eine totale Absage an jeden Voluntarismus im Recht. Ein sic volo sic iubeo, stat pro ratione voluntas/potestas gibt es nur in unüberbrückbaren Fernen zum platonischen Idealstaat – aber es beherrscht dies eben doch, und mit Macht, das gegenwärtige Staatsrecht. Hier ist es der „Volkswille“, der sich durchsetzt – als solcher231. Er setzt die Gesetze, ändert sie nach dem Belieben eines Augenblicks. Diesem ruft das herrschende Volk nie zu: „O bleibe doch, Du bist so schön“, in Dir ist ein („Staats-)Kunstwerk“, wie aus einem antiken Museum. Der Volkssouverän segelt auf den schäumenden Meeren des Volkswillens. e) Politische Bildung einer Elite? Platons Bildungsstaat müsste eigentlich seine Krönung finden in der Erziehung zu jenem Wächteramt, welches den Staat zwar nicht schafft, ihn aber hält. Im StändeSystem der Politeia finden sich dazu schon viele und auch systematische Gedanken. Das Ende der Nomoi aber scheint jenen Recht zu geben, welche hier die Resignation des Alters erkennen wollen. Wie diese Wächter gebildet werden, ihren Idealstaat in Staatserziehung fortsetzen, in ihren rechtlichen Versammlungen – das bleibt deren dunkles Geheimnis; und in ihm verschwinden auch die Wacht-Türme der platonischen Staatlichkeit. Der Philosoph der Erziehung – hier resigniert er in der Tat, in einem gewissen, in einem letzten Sinn. Er verzichtet auf politische Bildungsformen einer staatsleitenden Elite, wie er sie doch sonst so eingehend regelt, bis in die Körperertüchtigung. Seine Spaziergänger in Gedanken erfahren nur, dass ihre Wächter einen Scharfblick der Qualitätsbeurteilung einsetzen müssen, der Erkenntnis dessen, was Arete ist, in allem und jedem. Sie haben zu über-wachen aus einer intellektuellen Höhensicht, sie dürfen nicht fühlen wie diejenigen, „deren Gott der Bauch“ ist. Hier kulminiert platonischer Aristokratismus im Intellektualismus der Bildung. „Gesundes Volksempfinden“, auch des Volksvertreters als „Eines von uns“ – all dies ist geradezu unvorstellbar in diesem Staatsideal aus Athen. Platon bietet der Gegenwart hier ein eigenartig „romantisches“ Staatsrecht. Seine Gesetze herrschen – unsichtbar wie die Wächter – in und aus nächtlichem Dunkel. „Demokratie zum Anfassen“, „Herrschaft zum Greifen“ (in einem gefährlichen Doppelsinn …) – das ist nicht auf seinen Wegen gedacht. Sein Staat ist ein unsichtbarer – und doch in Körperlichkeit vorgestellt (Nr. 964); wahrgenommen wird er in seiner un-, seiner überkörperlichen statuenhaften Schönheit. Sie erscheint in Marmor aus dem Penthelikon, nicht weit entfernt kommt sie her von den Höhen des Olymp; und deshalb müssen die Wächter handeln, aus der (Er-)Kenntnis der übermenschlichen, der göttlichen Welt heraus (Nr. 967). So schließen die Nomoi, so endet ihr Intellektualismus, wie in einem Gebet.

231 Der „souveräne Wille“, der eben, als ein solcher, „herrschen will“, vgl. Leisner, Das Volk (FN 62), S. 106 ff.

III. Das Gesetz – Der platonische Rechtsstaat

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Was bleibt daraus für das Staatsrecht der Gegenwart, was kommt ihm zurück aus diesen Höhen des platonischen Staatsideals? Ein Ausblick von den kühlen, ernsten Gipfeln in die lachenden Täler der Gegenwart und ihre Siedlungen; Gegenwärtiger Staatlichkeit mag dies – vielleicht – doch einiges zeigen, nicht lehren. Die selbstbewusste Demokratie der Gegenwart, in ihrem Selbstverständnis als der „beste Staat, den es je gab“, sie bietet nur wenige Leerräume für Lehren des fernen Philosophen: Magis amica ist ihr ihre Veritas. Der Leser aber sollte ihn doch noch ein Wegstück begleiten, den amicus Plato.

F. Vom Idealstaat zum Realstaat – Abstieg oder weiter(er) Weg? I. „Nähen und Fernen“: Zugleich Thema und Ausblick Thema dieser Betrachtungen war hier, wie es diesem Begriff entspricht, ein Programm, ein Ausgangspunkt: Nähen und Fernen der Nomoi zum Staatsrecht der Gegenwart, zur Ordnung von deren menschlichen Gemeinschaften. Mag im Übrigen alles bestreitbar bleiben, was hier versucht, unauffindbar alles, wonach gesucht wurde – in dieser Perspektive als solcher liegt wohl schon etwas von jener Wahrheit, die noch mehr bedeutet als Freundschaft zu, Bewunderung für Platon. Doch auch dies sei hier am Ende sogleich angefügt: Wenn Bewunderung überhaupt kommen kann aus Gedankensuche im Gespräch – hier sollte man sich von ihr tragen lassen, in einem geistigen Mit-Fliegen, zurück in die Antike, hinauf zu Platon. Wenn das Wort von den „Kärrnern und Königen“, welches gerade für das Recht geprägt wurde, für das Staatsrecht ganz besonders gilt, aus einer wahrhaft wissenschaftlichen Weisheit kommt – dann im Blick auf diese Staatsphilosophie. Berühmtestes Staatsdenken seither erscheint weithin geradezu als ärmlich im Lichte dieser Gedankenwelt, ihrer Weiten und Wagnisse. Später wurden Begriffssteine bewegt, mühsam, oft knarrend und keuchend in der Nachfolge des Aristoteles, oder es wurden elegante Staatsdichtungen geboten, wie in der Französischen Aufklärung, Plattformen für gewaltige Revolutionen, bei Lenin und Marx. „Mühsam“ ist darin aber fast alles, bis zu Blut und Tränen, einer, auch geistigen – Gewaltsamkeit. Die Ruhe der Nomoi, auf ihren ebenen Gedankenwegen, die doch nach oben führen – sie wird selten nur erreicht. Grenzenlose Bewunderung hat die klassische Antike aber doch verdient. Wenigstens auf diesem Weg. Wahres sokratisches Thaumazein lag bereits im Thema: Es war dies Programm zugleich und Ausblick: Die Nomoi sind dies für das Staatsrecht der Gegenwart: nah und fern zugleich, anziehend und abstoßend, eben Energie im tiefsten Sinne für heutiges Staatsdenken, „anregend“ wie es nun überall gefordert wird, erregend, vor allem im politischen Raum. Darin gehen von ihnen, in einem ganz „parterren Sinn“, heute „werbliche Effekte“ aus, pointierend, in Überspitzung anstoßend, zum Denken wie zum Handeln. Die Nomoi sind eine wahrhaft anregende, eine fesselnde Lektüre auch für den Medienbürger der Gegenwart, kurzweilig selbst in ihrem stets angenehm plätschernden Gesprächsfluss, in den intellektuelle Stöße in kalten Strömungen eingelagert sind, schockierende Thesen. Eigenartige antike Public Relations

II. Staat – ein Ganzes: im platonischen System

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erreichen den geistigen (Aus-)Wanderer der Gegenwart, selbst wenn er Sprachbarrieren und andere kulturelle Hürden zu Platon so leicht nicht überwinden kann. Die Kühle des Marmors strahlt ab, doch nicht aus einer musealen Reservatenkammer zahlloser antiker Köpfe: Ein Kopf ist immer gegenwärtig, fern und nah.

II. Staat – ein Ganzes: im platonischen System In den Nomoi baut Platon an einem Staat, an seinem Idealgebilde. In dieses baut er alles ein, was „gut“ ist, auch andernorts. Doch er „kennt“ dann das Ausland letztlich nur als Vergleichs-Material für diese seine Konstruktion, nicht als Auswanderungsziel. Wie könnte es Emigration geben aus einem Idealstaat? Der äußeren Abgeschlossenheit, in der denn auch die Nomoi schließen im XII. Buch (Nr. 951), entspricht, sie vollendend, die innere Geschlossenheit des staatsrechtlichen Systems der Nomoi. Gerade darin sind diese dem Heute nah und fern zugleich: Nah in der juristischen Systemkonstruktion eines „geschlossenen Verfassungsstaates“, jedenfalls in dessen Anspruch einer „normativen Durchwirkung“, in Ausstrahlung auf die gesamte Rechtsordnung, in einer „Geltungstotalität“. „Fern“ bleiben „die Gesetze“ aber stehen darin, dass sie diese Einheit aus einem Guss erstreben, wie einen „Rocher de bronze“: aus dem Bildungsdenken der Paideia, wahrlich aere perennius (Horaz), bleibender als Erz232. Staatlichkeit – das sind nicht fortlaufende Verbauungen an Ufern reißender populistischer Ströme, Schutzdämme, aufzufüllen vom Volkssouverän in Säcken von Sand, der später verwehen wird. Ein großes System steht vor dem erkennenden Auge des Staatsphilosophen, es steht über den Menschen. System – das ist Gewölbe und Turm zugleich, aber da ist kein Turmbau zu Babel. Der platonische Machtgeist stürzt nicht wie Luzifer in maßlosem Erkennen; er bleibt bescheiden in seinen Höhlen, schmiedet aber dort eifrig, mit Wagners Siegfried, sein schneidendes Schwert erbarmungslos wie er, im Streben nach Höherem, nach dem Einzigen – Höchsten: der Arete in allem. Der Staat als Normenpyramide ist in Kelsenianismus gedacht worden, als „eine Welt des Sollens“. In den Nomoi erscheint er in seinem rechtlichen, in seinem menschlichen Sein, in unwandelbarer Geltung. Sie kann eben nur einem zukommen, dem System, das stehen bleibt – Stat Ius – auf-gehängt in Ewigen Höhen. Der „Verlust der Mitte“ konnte für die Kunst beklagt werden. Letztlich war dort eines gemeint: „Verlust der Zusammenhänge des Systems“. Das Staatsrecht kann seine Mitte verlieren, wenn es von seinem System verlassen wird, seine tragende Systematik einbüßt. Und dies ist ihm bewusst in seinem Streben nach „Verfassung“. Das

232

Exegi monumentum aere perennius, Horaz, Oden XXX, 1.

124

F. Vom Idealstaat zum Realstaat – Abstieg oder weiter(er) Weg?

Recht will sich hier verfasst sehen – fassbar für seine Menschen und in „Theorie“233 – eben bis zur Idealstaatlichkeit.

III. Die Nomoi des Platon: „Verfassungs-Staat“ 1. Unwandelbare Verfassung Verfassung – für das Staatsrecht der Gegenwart ist dies eine Staats-Grundlage; für die Nomoi ist es ein Staatsziel: Bildung des Menschen. Darin liegen Fernen und Nähen zugleich, beides ist Staatsrechtfertigung, verbindet sich in ihr. Hier jedenfalls zeigt sich eine grundsätzliche Nähe, von höchster Bedeutung aus der Sicht der Allgemeinen Staatslehre, von Platons Philosophie zum Staatsrecht der Gegenwart. Verfassung – das bedeutet für das rechtlich-normative Denken eine Festigkeit, die sich bis zur Unabänderlichkeit nicht steigern kann, sondern hochgerechnet werden muss. Hier entgeht sogar das in seiner Vereinfachung so gefährliche demokratische Vorzüglichkeitsdenken dem historischen Vorwurf des Primitivismus: Die Verfassung muss – in Platonik – hochgedacht werden bis in Unabänderlichkeit234.

2. Platons Idealstaat: Verfassung als Natur-Recht Verfassung bewährt sich vor allem im Formalen, im Verfahren235 in Wahlen, in Rechtsstaatlichkeit. In dieser Sicht ist Artikel 79 des Grundgesetzes nicht Utopismus, sondern verfassungstragende platonische Idealstaatlichkeit – nicht allerdings in einem Verfassungspatriotismus, der philosophische Erkenntnis durch politische Lautstärke236 ersetzen will, oder durch Verfassungslyrik. Eines gilt es dabei, in später Erkenntnis, neu zu denken: Naturrechtlichkeit237. Abkehr von ihr hat das Staatsrecht der Gegenwart in langsamer, aber stetiger Entwicklung eingeleitet, immer weiter vollzogen. In Selbst-Säkularisierung ist es aus seinem religiösen Halt geglitten, nicht einmal in einem Kontinuitätsstreben neuester Verfassungsentwicklung hat sich dieser „Verlust der Vergangenheit“ aufhalten las233 Gerade deshalb „tut Verfassungtheorie Not“, im Sinne etwa von Depenheuer, O./Grabenwarter, Chr. (Hg.), Verfassungstheorie, 2010; grdl. dort gerade in diesem Sinn Jestaedt, M., Verfassungstheorie als Disziplin, S. 4 ff. 234 S. dazu Roellecke, G., Identität und Variabilität der Verfassung, Verfassungstheorie (FN 233), S. 453 ff. – eben zu dem wichtigen „Zwischenbegriff“ der Verfassungsidentität zwischen „Revisibilität und Ewigkeitsgarantie“. 235 Deutlich auch in der „Regelung der Unabänderlichkeit“, Art. 79 Abs. 3 GG. 236 Ein überzeugtes „Bekennen“ (vgl. Präambel zum GG) steht dem nicht entgegen. 237 Vgl. dazu neuerdings Leichsenring, J., Ewiges Recht? Zur normativen Bedeutsamkeit gegenwärtiger Naturrechtsphilosophie, 2013; Merle, J.-Chr./Fichte, J. G., Grundlage des Naturrechts, 2010; Zippelius, R., Rechtsphilosophie, § 12, 6. Aufl. 2012.

III. Die Nomoi des Platon: „Verfassungs-Staat“

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sen238. Das emanzipierte Volk ist „mit seinem Fortschritt in den Laufschritt verfallen und überholt sich selbst“, wie einst Helmut Quaritsch den Eifer der ersten Großen Koalition kommentierte. Sexualismus reißt moralische Mauern des Zweiten Rom ein, die Kuppel zeigt Risse. „Zurück zu Platon“ – dieser Ruf mag für Viele klingen wie ein „Hinauf zum Naturrecht“. Nicht in allen Einzelheiten der Nomoi kann dies wirken, etwa im Familienbild, oder in der vollen pädagogischen Strenge, wohl aber als ein „Retour à la Nature“ des Menschen, in der erkennenden (immer Weiter-) Bildung der geistigen Persönlichkeit, im Licht der fernen Leuchttürme der Gesetze. „Naturrechtliche Qualität“ hat bei Platon ja vor allem eines: Der dauernde bildende Vorgang der Paideia, Bildung als Prozess. Naturrecht im Verfahren lässt Brücken zur Gegenwart sichtbar werden, eben in „formeller Naturrechtlichkeit“. Nicht eine „Frau am Herd“ kann mehr ein quietistisches naturrechtliches Urbild sein, sondern eine Bildung auch, und vor allem, zu Mütterlichkeit und in ihr. Staatsrecht wird gegenwärtig weithin selbstverständlich – eben wie ein „Naturrecht“ praktiziert in laufenden Verfahren: in Rechtsstaatlichkeit, Mitbestimmung in Wahlen. Schon Kelsen hatte dieses „formale Naturrecht“ entdeckt, in seinem Produktionsmechanismus der Normen. Dieser – nicht „umwandelbare Werte“ – führt zu gegenwärtigem Naturrecht, und auch zu den unwandelbaren Gesetzen des Platon. Dies eben sind Formen eines gegenwärtigen Naturrechts.

3. Der steinige Weg zu „Verfassung als System“ Das Staatsrecht hat nicht etwa neuerdings einen „Verlust des Systems“ zu beklagen, es strebt und es findet zu ihm zurück, im Bemühen um eine verfassungsrechtliche Theorie, deutlicher noch in einem vollen „Bewusstsein des Rechts als eines Verfahrens“ – im Verfassungsprozess. Die historische Entwicklung zum Verfassungsstaat erscheint heute vor allem als eine große, eine wahrhaft „schöne“ Geschichte, selbst im platonischen Sinn. Und doch lag in ihr stets eine typische Gefahr der Evolution239 : Punktuelles wird stärker in der schrittweisen Entfaltung einer Ordnung, die dann eben erst spät zu normativer Systematik findet – oder gar nicht. Ausgangspunkt des Verfassungsdenkens in der Neuzeit war das Streben nach einheitlich-grundsätzlicher Sicherung der Freiheit des Individuums, an den rechtlichen Brennpunkten des strafgerichtlichen Verfahrens, gegen die obrigkeitliche Gewalt. Dieser Ansatz sollte ein grundsätzlicher sein, für alle einzelnen freiheitlichen Lösungen, sie zeigten sich sämtlich erweiterungs- und steigerungsfähig in der Zeit. Doch dieser Fort-Schritt erfolgte langsam, mühsam, von Punkt zu Punkt, von Richtung zu Richtung des normativen Schutzes: In der Auffüllung der Grund238

S. 87 f. 239

S. dazu für die Zeit nach 1945 Leisner, A., Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2001, Vgl. Leisner, Institutionelle Evolution FN 1, insb. S. 46 ff.

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F. Vom Idealstaat zum Realstaat – Abstieg oder weiter(er) Weg?

rechtskataloge von den Habeas-Corpus-Rechten bis zu den wirtschaftlichen Freiheiten, von engbegrenzten Schutzbereichen zur „Entfaltungsfreiheit der Persönlichkeit“ (Art. 2 Abs. 1 GG)240, von der Staatsrichtung zur „Drittwirkung der Grundrechte“241, von der organisatorischen Freiheitssicherung zur inhaltlichen Statik der Freiheitsrechte. Diese Erweiterungen brachten zugleich aber auch Sicherungsverdünnungen mit sich, in den Eingriffsräumen der Gesetzesvorbehalte242 ; dem soll nun wieder durch Intensivierung des Freiheitsschutzes in Kernbereichen entgegengewirkt werden, in der Sicherung etwa der Privat-, jedenfalls der Intimsphäre243. Dies alles sind steinige Verfassungs-Wege zur Freiheit, zu einem System aus ihr. Formal wurde die Systemfrage erst in Kelsens Reiner Rechtslehre gestellt, inhaltlich in Dürigs Freiheitssystematisierung im Anspruchssystem der Grundrechte, formal bis hin zum „Freiheitskern“ in Art. 79 Abs. 3 GG. Der Verfassungsstaat der Gegenwart drängt ins System, in seinem strengeren Verständnis der Rechtsstaatlichkeit, der gesetzlichen Grundlage, in seinem Verfassungsrecht der Vorordnungsermächtigung (Art. 80 GG). „Formal“ ist dieses Ziel fast schon erreicht, in der Verfassungsgerichtsbarkeit. Doch inhaltliche Defizite sind immer noch erheblich, sie werden größer an systematisch zentralen Stellen: beim Schutz des Eigentums244, der Berufsfreiheit245. Systematische Gegenbewegungen drängen die Wirkungen der formalen Systematisierung in der Verfassung zurück, Stichwort: „Sozialstaat gegen Rechtsstaat“246. Die systematische Einheit des Freiheitsschutzes zerfällt in der Befriedigung unzähliger Bedürfnisse der zahllosen kleinen Volkssouveräne.

4. „Platonischer Verfassungsweg“ Die Straße der Nomoi ist, diesen „Holzwegen“ gegenüber, gerade, ruhig führt sie nach oben, aus einer einheitlich-übergreifenden Systematik in die Normenordnung 240

In dem „Anspruchssystem“ Dürigs, in dessen Erstkommentierung in Maunz/Dürig, GG. Leisner, W., Grundrechte und Privatrecht, 1960. Seither insbesondere Schwabe, J., Die sog. Drittwirkung der Grundrechte, 1971; Rupp, H.-H., AöR 101 (1976), 161 (170); Canaris, C. W., JZ 1987, 993; ders. FS f. Leisner 1999, 413 ff.; Oeter, St., Drittwirkung der Grundrechte und Autonomie des Privatrechts, AöR 119 (1994), 529 ff.; Classen, C. D., Die Drittwirkung der Grundrechte in der Rechtsprechung des BVerfG, AöR 122, (1997), 651 ff. 242 S. dazu Huber, P. M., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 19, Rn. 43 ff. 243 Dass darin, längst nicht mehr in Ausprägungen einer allgemeinen „Handlungsfreiheit“, das Zentralproblem heutiger Verfassungssystematik liegt, hat sich auch hier immer wieder gezeigt. 244 In Tendenzen einer Schrankenziehung durch einfache Gesetzgebung (vgl. Leisner, W., Eigentum, HStR3, § 173, Rn. 143 ff.), die nicht selten auch begrifflich auf „Eigentum nach Gesetz“ hinausläuft. 245 Hier unterliegt die einst strenge „Stufentheorie des BVerfG“ (vgl. Manssen, G., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 12, Rn. 125 ff.) seit langem einer Erosion, wenn nicht Auflösung, im Namen immer stärker betonter, aber nur zu oft unklarer Verhältnismäßigkeit. 246 Vgl. dazu Leisner, W. G., Existenzsicherung im Öffentlichen Recht, 2006, S. 150 ff. 241

IV. Und viele gesetzliche Einzelschritte

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der Verfassung, darin bereits in etwas wie einer Staats-Idealität: Es sind dies (alle) die Räume, in denen Menschen ge-bildet werden, und sie alle sind „öffentlich“, zugänglich, aber überwacht247. Den „Großen Bruder“ mag man hier eingerichtet sehen. Alles Recht ist ein Öffentliches, wie in einer großen Antithese zu jener „Privatisierung des Öffentlichen Rechts“248, in welcher der Verfassungsstaat seine Überhöhung sucht in privater Freiheit – vielleicht seine eigene Auflösung, sein Sterben, ganz un-marxistisch, befördert. Die Nomoi nehmen immer deutlichere Konturen an auf platonischen „GesprächsWegen“ – aber sie kennen keine Entwicklung: Gefunden werden sie, erkannt in einer Statik des Intellektualismus, nicht in einem „bemühenden Streben“, das nach Belohnung drängt, in privater Freiheit: Im System-Geist des platonischen VerfassungsStaates sind Gesetze zu allererst, und vor allem anderen, über allem in der Welt, „bereits da“; Platon lässt sie schauen, holt sie damit aus ihren Himmeln – nein: den gebildeten Menschen heben sie hinauf in ihre Höhen der Aretai, der vielen Tüchtigkeiten, Qualitäten – der „Verfassungs-Werte“249. Das ist der platonische „Verfassungs-Staat aus den Gesetzen“, nicht „über dem Gesetz“. Er führt keine Verfassungsprozesse mit sich selbst. Er ist in den Gesetzen. Ganz rund rollt seine Kugel – aufwärts in der systematischen Bildung des Menschen.

IV. Und viele gesetzliche Einzelschritte 1. Fragestellungen vor allem In diesen Nomoi läuft Staatlichkeit nicht (ab) auf festen Schienen, auf Gleisen ihrer Züge, die eine ebenfalls eiserne Staatsgewalt hält. In immer neuen Fragestellungen bereits bewegt sich der Gedankengang hin und her, in einer Elastizität von Zweifel und Verbesserung. Wirklich ganz sicher, in Idealität, sind nicht die Mittel der Paideia im Staat, sicher ist nur ihr Ziel, der Mensch, der denkt und darüber redet mit anderen, in dem einzigen, was platonische Gemeinschaft im Letzten bedeutet: im Gespräch. Fragestellungen sind alles in den „Gesetzen“, aus ihnen entfalten sich nicht nur die vielen staatsrechtlichen Antworten – sie liegen bereits in ihnen, werden aus ihnen 247 Dies sind die „überwachten öffentlichen Plätze“ des Verfassungsrechts, vgl. Abate, C., Präventive und repressive Videoüberwachung öffentlicher Plätze, DuD 2011, 451; Krist, G., Videoüberwachung auf öffentlichen Straßen und Plätzen, LKRZ 2011, 171; Roggan, F., Die Videoüberwachung von öffentlichen Plätzen oder: Immer mehr gefährdete Orte für Freiheitsrechte, NVwZ 2001, 134. 248 FN 91. 249 Dazu f. Viele Antal, A., Verfassungswerte im konstitutionellen Rechtsstaat, 2001; Diekmann, H. E., Überpositives Recht als Prüfungsmaßstab im Geltungsbereich des GG, 2006; Wernsmann,Th., Wert, Ordnung und Verfassung, 2007.

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F. Vom Idealstaat zum Realstaat – Abstieg oder weiter(er) Weg?

entbunden, in platonischer Maieutik. In einzelnen Problemstellungen aber ist der Philosoph der Gegenwart ganz nah, hier vor allem vermag er das Staatsrecht auch heute zu befruchten, ja zu korrigieren. Denn die Fragen kommen, damals wie heute, von zahllosen Menschen, in ihrem wirtschaftlichen Zusammenwirken, ihrer immer weiteren, immer engeren Vernetzung. In einer Höhe des geistigen Entwicklungszustandes stellen sich die Probleme, wie sie sich seit so vielen Jahrhunderten noch nie vergleichbar haben auch nur denken lassen. Platonische Zusammenschau von Vielem, Heterogenem in den Nomoi ist es also, was diese einer Gegenwart nahebringt. In Spektren von Frauenemanzipation bis zum (Staats-)Geheimnis der Wächter, von Kleinkindbetreuung bis zum Außenhandel bewegen sich der antike Philosoph wie das gegenwärtige Staatsrecht. Der Bürger der Gegenwart sucht – oft fast nur mehr – nach „Reiselektüre“; hier wird sie ihm geboten, auf eine Reise in die Zeit, eine ganz andere, ferne, aufregende, gerade in ihrer zugleich so einfachen menschlichen Nähe. Fragestellungen sind es, welche hier bereits in ersten Nähen verbinden, in einer wahrhaft modernen Lektüre. Gleichklänge über die Zeit hinweg – etwas wie eine geistige Sphärenmusik – sind hier zu hören. Zeitlich-historisch befriedigen sie das Erweiterungsstreben der Gegenwart bis in physische Unendlichkeiten hinaus. Das war und ist die „platonische Dimension“.

2. Einzelantworten aus der Vergangenheit Doch das platonische Raumschiff kehrt nicht leer zurück, aus seinen Entdeckungsreisen zu Näherem und bis zu Fernstem aus heutiger Sicht. Die Verantwortung der Gedankenfreiheit aller Autoren, in allen heutigen Medien, ist eine platonische Mahnung an die Gegenwart: Sie hat zu denken an die Zentralprobleme heutiger Paideia: an den Schutz einer Jugend vor allem, welche die Demokratie immer früher schon für erwachsen hält, in Zurückhaltung bei der staats-, der menschenverändernden Einwanderung, einem wahrhaft brennenden Thema der staatsrechtlichen Gegenwart, in Verehrung für das Gesetz als erkannte Wahrheit, nicht als aufgezwungener Mehrheitswille, sondern als Königsweg einer, neuen, Autorität: Wäre das nicht ein neuer Rechtsstaat? Solche Beispiele für die vielen einzelnen Wege, die schmaleren wie die breiteren, lassen sich vervielfachen, entlang den gedanklichen Spaziergängen der Nomoi. Sie laden ein zum Nach-Denken, drängen die Gegenwart auch dort zu einem solchen, wo sie ihr fern erscheinen, in ihrer „ganz anderen Antike“. Doch hier wandeln Götter, damals wie in heutiger Zeit, in welcher Karl Barth Gott als den „ganz Anderen“ entdeckt hat250.

250

Insbesondere in seinem „Kommentar zum Römerbrief“, 1919/1922.

V. Ein Ende der Moral in Geist

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Das Fernste ist das Nächste: Dies steht über dem Eingang zu den Gesetzen – welches Buch könnte häufiger zitiert werden in parlamentarischen Einzeldebatten der Gegenwart? Humanismus verschwindet aus ihnen, im Namen wahrhaft „anstehender“ Einzelfragen. Doch wie es nicht nur die große Staatsweisheit gibt, sondern die kleinen Weisheiten der Gesetze, nicht nur „das“ Große Gesetz, sondern, und stets zuerst, die zahllosen Seiten der Gesetzesblätter – so lässt sich zu so Vielem im Licht des platonischen Idealstaats gerade heute „etwas sagen“, zu täglicher Jurisprudenz, stündlichen Meldungen in Medien. Einzelheiten der Thesen vor allem sind es, die erstaunen in solchem Nach-Gang zu Platon. Sie sind nicht hier am Ende zu wiederholen, lehrbuchhaft aufzulisten. Es genügt, dass der weite Blick bleibe, fest gerichtet sei auf das Höchstbild der Erziehung des Einen – (des) Menschen.

V. Ein Ende der Moral in Geist 1. „Moralverliebte“ Gegenwart – bis ins Staatsrecht Strenge Richter, nicht nur „konservative“, stellen die Gegenwart gerne an ihren eigenen moralischen Pranger251: Driftet sie nicht ab, in Frei-Denken und Seximus, in Vergnügungswahn und Geldgier, in ein wahres Sodoma und Gomorrha, das sich den Feuerregen der Atomkatastrophe verdient? Ist es dann nicht eine Antike, in deren „Degeneration“ auch noch Heilmittel gesucht werden sollen gegen diese wahren „Entartungen“? Und dies hier nun gerade noch in jener Platon-Zeit, in der auch die strengen Nomoi antike Päderastie kaum verdecken können? Die Demokratie wandelt sich: Von der Staatsform der kriegerischen Abrüstung, und in dieser, zur Rechtswelt der moralischen Entrüstung – als ob diese nicht auch bereits Anfang eines Krieg wäre, eines unerbittlichen bis zum geistigen und physischen Scheiterhaufen. Zunächst mag dies nur ein Alibi sein: dafür, dass „sogleich etwas brenne“ – das Feuer der Ethik. Denn in sie, in neue Formen der Moral, ist keine Staatsform von jeher mehr, geradezu brennend verliebt als die Demokratie, und dies auch noch zu allererst mit den Flammen des Geistes. Mahnung, Vorwurf, Verurteilung, daheim und bis in fernste Länder – darin marschieren Demokraten über Skandale in Staatsmoral immer weiter, und „wenn alles in Scherben fällt“, ihr Staat, ja der Frieden in der Welt, den sie doch am Eingang ihres Grund-Gesetzes noch besingen. Dass Überzeugung auch hier aus „Solidarität“ komme, aus Nächstenliebe – dies ist eine staatsrechtliche Hoffnung. Zweifel an der Güte von Normen, bis zu der von Staatsformen, lassen sich wegwischen mit Patriotismus, mit der „staatsmännischen Hand aufs Herz“ – vielleicht sogar in wahrer Liebe zum Land, zum Staat, dann aber auch zu seiner Staats-Moral. Fahnen trägt man allerdings nicht mehr im Gefecht voraus, vor ihnen sprechen demokratisch Regierende. Helmbusch ihrer 251

Vgl. Leisner, W., Das Letzte Wort. Der Richter späte Gewalt, 2003, S. 199 ff.

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Begeisterung ist dann stets „(M)eine tiefe Überzeugung“ – etwas von Moral ist im Raum, von Staatsmoral.

2. Platons Gesetze: Ethik, aber „moralinfrei“ Und da sollte in den Nomoi „gesucht werden nach Staat für die Gegenwart“? Ist da etwas von jener Staatsmoral? In sie ist die Volksherrschaft schon deshalb wahrhaft verliebt, weil hier „alle“ geliebt werden können, alle als Nächste, sogar noch die Fernsten, ja die politischen Gegner, in Correctness. In den Nomoi findet sich wenig von solcher Moral, von Gesellschaftsmoral, Staatsmoral. „Verdammt wenig“ möchten vielleicht selbst amerikanische Staatsrechts-Lehrer dort finden, von der puritanischen Moral ihrer Pilgerväter. „Böses“ kommt zwar vor und „Gutes“; doch es verschwindet – verliert sich vielleicht gar – in dem „Besseren“ und „Schlechteren“ der platonischen Arete, in ihrer Beurteilung nach handwerklicher Güte des menschlichen Werks, das den Meister loben soll, unter dem Segen von Oben, aus der philosophischen Göttlichkeit. In den Nomoi, bei ihrem athenischen Philosophen vor allem, geht es immer zuerst mehr um Schönes und Wahres, im und am Menschen, bevor das Dritte erreicht wird, das Gute. Über diesen „Gesetzen“ lebt ja auch kein christlicher Gott, der sie hielte, in Belohnung und Strafe, Himmel und Hölle; sie sind sich selbst ihre Götter, die in ihnen herabsteigen zu den Menschen – Gesetze als Halbgötter zu Menschen, die sie zu solchen werden lassen (sollen). Dies ist dann keine antike Unter-Welt, sondern eine jener „Zwischen-Welten“, in denen der Gesetzes-Staat angesiedelt ist, bereits an Hängen des Olymp. Von ihnen gibt es immer nur Abstürze; deshalb müssen die Wächter ihre Wachtfeuer brennen, auch, gerade dann, wenn es Nacht wird um den Staat, und in ihm. Die Nomoi kennen den „Staat in Ethik“. Seine „Sitte“, im Sinne Kants, wächst allein aus und in der Bildung des Menschen, des Einen platonischen Staatsideals, in Paideia. Hier sei dies „Ethik“ genannt, damit solche Blätter nicht sogleich auf Scheiterhaufen der öffentlichen, der demokratischen Moralinbegeisterung enden. Es hat diese Platonik ja auch etwas von jener Ethik, in welcher ihre Gedanken von den größten späteren Philosophen (nur) weiter-gedacht werden konnten: Ethik sind die Nomoi ganz, soweit sie wächst aus Erkenntnis, in einer Bildungsmacht, die sich nur in Ordnung vollendet. Der Edle strebt nach Ordnung und Gesetz – nach solchen Nomoi. Platons Gesetze – das ist im Letzten das Ideal der höchsten ethischen, aber einer gänzlich „moralinfreien“ Staatlichkeit, in einer Welt, in welcher nur aus Erkennen geurteilt wird, letztlich nie ver-urteilt, selbst dort nicht, wo sie dem Unheilbaren den Tod gönnt – gibt: nur zu seinem eigenen Besten. Die Katholische Kirche betete solange am Ende eines Jahres: „Und wenn Du uns Leid und Mühsal sandtest, so hattest Du doch stets nur unser Bestes im Auge“. Dieser christliche Gott begegnet

VI. Vom Machtstaat zur „Force tranquille“

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bereits – in Platons Staat. Seine Bürger sollten sich nicht ständig empören, sie sollten wieder beten lernen – anbeten, sich selbst in ihrem Staat, ihrem wahren Nächsten. Wer über Moral spricht, nimmt gerne Moralin. Auch der Verfasser muss hier um Nachsicht bitten.

VI. Vom Machtstaat zur „Force tranquille“ 1. Staat als Ruhe und Aufstieg – Soziales in Bildung Platonisches Staatsideal ist die politische Ruhe. Die Gesetze hängen unabänderlich über diesem Gemeinwesen, ja sie sind es. Dieser Staat ist ein „Körper“ (Nr. 964), darin liegt seine „Menschen-Gleichheit, Menschen-Vor-Bildlichkeit“. Er entwickelt sich in jener Paideia, welche ja ihrem Wesen nach Entfaltung von Kräften ist, darin Bewegung bedeutet. Seine „Grund-Haltung nach Oben“, im Streben nach Perfektion, ändert er aber nicht. Sein Staatsrecht ist statisch, wie es eine vokale Wortnähe schon bisher, unbewusst, der Jurisprudenz nahelegen mag. Fern ist dieses Denken dem Fortschrittsglauben der Demokratie, aber nur in einer Horizontale, welche im Neueren das Bessere sieht, wie es der Definition der Mode eben entspricht. Die „Bewegung nach Oben“ liegt, andererseits, im Wesen dieses Staatsideals, die Annäherung an das menschliche Ideal der Perfektion. Platons Idealstaat ist eine „Ordnung des Aufstiegs“, sie ist ganz vertikal ausgerichtet. Vertikale Nähe – Horizontale Ferne: Das bedeutet platonische Verwandtschaft zu all jenem sozialen Streben der staatsrechtlichen Gegenwart, das auf sozialen Aufstieg gerichtet ist, und hier vor allem auf platonische Stufen der Bildung als Aufstieg. Schichtendiskriminierung darf es ja ohnehin nicht geben in einer Ordnung, welche Eigentum verteilt, Erwerbsstreben nicht kennen will.

2. Die platonische Zeit In diesem Sinn ist Zeit für die Nomoi kein Problem des Heraufkommens und Verfallens der Macht; Änderungen, Verfassungsrevisionen sind keine staatsrechtlichen Themen. Die Zeit ist überhaupt kein Topos in dieser Welt der ruhigen Geltung. Rechts-, Verfassungsgeschichte steht nicht in Allmacht auch noch über dem Gesetzgeber, allerdings auch nicht als Vorbild vor ihm. Rechts-Ruinen gibt es nicht, überhaupt keine Ruinen, da doch unablässig höher gebaut wird, im Staat der Menschenbildung. Diese Ruhe des platonischen Staats ist nicht Quietismus, keine Staatsromantik untergehender Sonnen und Staatsformen; sie bedeutet Kraft in Ruhe, la Force tranquille, wie sie einst ein französischer Präsident ausstrahlen wollte. Der Staat ist kein unruhig Getriebener, der sich laufend in seiner Gesetzgebung profilieren

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müsste. Seine Leiter sind „Wächter im Dunkeln“, nicht politische Fahnenträger im Scheinwerferlicht. Doch seine Nacht, die eben porta consiglio, die Rat bringt – und es bringt ihn nicht einfach die Zeit des Abwartens –, sie ist die des Denkens in Ruhe, nicht der Friedhofsruhe des gedankenerstickenden staatlichen Zwangs. In dieser „platonischen Zeit“ werden die Uhren nicht angehalten, sie laufen immer perfekter. Gegraben wird nicht in den Boden der Gräber – „Lasset die Toten ihre Toten begraben!“ – sondern, es wird hinaufgeschritten in Gedankengängen, nicht überflogen, in immer konkreteren, damit klareren, ruhigeren Staatsgedanken, im Fort-Schritt des Geistes.

3. Dialog – kein Freund-Feind-Denken, keine „Politik“ Trial and Error des angelsächsischen Parlaments- und Parteiensystems ist voll platonisch gedacht, soweit Wahrheitsfindung stattfindet im Gespräch, nicht in trennender, in „auseinanderschlagender Dis-kussion“. Staatsrecht läuft in jener Ruhe ab, in welcher allein der Idealstaat leben kann. Wer (Wahrheit) sucht, streitet nicht; er verfolgt seine Gedanken im Gespräch, nicht den politischen Gegner in Majorität, in einer Ab-Stimmung, sondern in der Fein-Stimmung der Saiten, der Instrumente des Geistes. In der demokratischen Populär-Vorstellung vom politischen Ring, in welchem Akteure sich schlagen, liegt etwas Primitivierendes, welches sogar die Abwertung zum Populismus verdienen mag. In der platonischen Akademie begegnet, wie später in ihrem raphaelischen Stanzen-Bild im Vatikan, die große Ruhe des Gesprächs mit dem „Finger nach oben“, nicht in einem schäumenden Volks-Umstand, im Aufschrei eines Schluss-Gongs. Freund-Feind-Beziehung als Politik gibt es in diesen wahrhaft „heiligen Hallen des Geistes“ nicht, im Idealstaat des Platon herrscht nicht Politik in jenem wahrhaft landläufig-demokratischen Sinn. Dass diese Vorstellung, gewonnen aus der Volkssouveränität mit ihrem wogenden, schäumenden Meinungsmeer, den äußeren Krieg beenden würde, in innerem Streit – diese demokratische Hoffnung hat sich (gewiss noch) nicht voll erfüllt. Schaden aber hat sie zugefügt der Idee der Vielen als Träger einer höchsten Staatsgewalt, dem Volk als Gesetzgeber. Gesetzgebung als Kampf und Sieg – das verwirrt eine in Pazifismus geprägte Gegenwart, Politik als „belebender Streit“ führt am Ende in Politikverdrossenheit. Platon beruhigt in seinem Idealstaat. In Erziehungsdenken deutet seine mahnende Hand nach oben, keine Mehrheit schreit, keine Faust streckt hier einen Gegner nieder. Platonische Akademie, die Nomoi als ihre guten Geister – das ist keine Stätte der Vergnügung, kein Raum nervenerregender Politik. Über dem Eingang der Akademie von Toulouse wurde in Zeiten der Renaissance geschrieben: „Politik sei verbannt aus diesen Hallen, denn ich liebe, was Menschen eint, ich hasse, was sie entzweit“. Dies ist wahre Wiedergeburt – platonische.

VI. Vom Machtstaat zur „Force tranquille“

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4. Kein Macht-Staat Von einem Ideal wird Hohes erwartet, im Letzten Unerreichbares. Die Nomoi bieten es in der Vollendung, nach der in ihnen gesucht wird, überall in ihrem Staat. Eines findet sich bei dieser Suche nie, begegnet nicht in historischer Drohung: Der Macht-Staat, der Staat (nur) als Gewalt. Immer bleibt er Pädagoge, zu Zeiten wird er zum Arzt, Totengräber nur, wenn die letzte Hoffnung der Besserung verschwunden ist. Die Ordnung dieses Staatsideals erscheint Manchen noch immer als verabscheuungswürdiger Zwang eines Totalen Staates. Gedacht ist sie jedoch, in Wahrheit, als ein totales Absterben der Zwangsstaatlichkeit, in einem Aufstieg der inneren Bildung in Paideia, in einem „Bindung in, nein: als Bildung“. Hier wird wirklich etwas gepredigt wie ein „Freiwilliger Zwang“, in einer Selbstorientierung des Menschen, die gerade in ihm sich weckt, sodann sich aus ihm entfaltet, in seinen Staat hinein. Nicht „in Mächtigkeit“ vollzieht sich dies, am Ende aber doch mit einer Macht: der überzeugenden, geistigen Erziehung. Nach innen, in die Ordnung des Zusammenlebens dieser Menschen hinein – denn nur dies kennt Platon, nicht „Gemeinschaft als Selbstzweck“ – sind dem keine Grenzen regelnden Ordnens gesetzt. Der einzelne Mensch ist ja immer weiter perfektionierbar, unbegrenzt, eben bis ins Ideal. Nach außen aber sind die Grenzen, die Mauern des Staates hoch, wie sich am Ende noch einmal zeigt in den Nomoi (Nr. 951), bis zu einer utopischen Steigerung. Dies gilt in beiden Richtungen: Diese Ordnung ist eben nicht die eines Machtstaats, sie ruht wesentlich allein in sich, es ist dies der „geschlossene Verteidigungsstaat“. Seine Prinzipien kann er schon deshalb, anders als einst Französische und Russische Revolutionäre, nicht nach außen tragen, nicht aufzwingen, weil sie nur in der Wahrheit liegen. Vincit Veritas – diese Wahrheit wird siegen, auch wenn sie hinwegführt über den amicus Plato. Das ist bereits StaatsCredo, nicht mehr Staatsrecht. Bewachte Grenzen schützen diesen Idealstaat auch gegen Bewegungen im umgekehrten Sinn: Das Heil liegt nicht in schrankenlosem Zuzug aus anderen Ländern. Darin darf der Staat nicht das Objekt der Erziehung – zugleich „seinen Gegenstand“ –, er darf eben nicht seine Identität verlieren, bevor er in Bildung herangewachsen ist, in seinen Bürgern. Hier findet „Entwicklung zur Entwicklungshilfe“ statt, in einem ganz uneitlen, ja unpolitischen Sinn des Erziehens. Vermieden wird Bildungsdünkel wie die Atemlosigkeit wirtschaftsgieriger Aufnahme Fremder, die auch noch einer Eitelkeit Tribut zollt, mit welcher diese „ihre Kultur mitbringen wollen – sollen“, vor allem aber „Gewinn bringen“. Kultur – es gibt nur eine: die eines Geistes, der sich in der vorausschauenden, der vorsichtigen Ruhe seiner Staatlichkeit entfaltet. Im platonischen Reich stirbt wirklich Staatlichkeit ab – die des Machtstaats.

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F. Vom Idealstaat zum Realstaat – Abstieg oder weiter(er) Weg?

VII. Gesetz: Sieg des Geistes über die Leidenschaft 1. Gesetzesgeltung aus Erkenntnis Der platonische Idealstaat ist, das hat sich auf diesem Nachfolge-Spaziergang, immer wieder gezeigt, „intellektuell gedacht“, in Allem und Jedem. Die Gesetze wirken nur daraus, dass sie „erkannt“, darin eben gesetzt sind – in ihre Geltung. Ihre Adressaten unterwerfen sich in ihnen einer „Staatswahrheit“252. Es ist aber nicht die der stärkeren Bataillone, auch nicht die (einer „Demokratie) der Siegerstaaten“. Diese Staatswahrheit ist nicht Staats-Gesetz, sie ist, sie wird „staats-erkannt“, in den öffentlichen Räumen, im Staats-Recht. Die „Gesetze“ – sie sind nicht das „Richtige Recht“, in ihnen „ist“ der „Wahre Staat“. Es stellt sich mit ihm die Wahrheitsfrage, nicht ein Machtproblem. Darin sogar ist Platonik fortschrittsorientiert, in der Erkenntnishöhe, nicht in Neuerungshoffnung. Es ist dies das „Gesetz, nach dem wir angetreten“, das Gesetz der ewigen Paideia zur Arete, zu einem „immer Besser-Werden“. Denn diese Gesetze, die platonischen, sie kommen aus uns, aus unserem ruhigen Erkennen, nicht aus unserem passionierten, gefühlsgesteuerten Wollen. Schopenhauersche Wahrheitserkenntnis der „Welt als Wille und Vorstellung“ ist in dieser Akademie überwunden, überholt ist damit auch ihre tiefe Skepsis253. Die Geltung der platonischen Nomoi „zwingt niemandem“ ihren Willen auf – auch oder gar eine gefühlsgesteuerte, leidenschaftliche Entscheidung. Leidenschaften werden in sportlicher Erziehung gebändigt, in „Paideia zum Geist“ abgekühlt. „Kühle“ strahlt dieses Werk aus, bis zur Unbarmherzigkeit, aber nicht im Sinne der eitlen gleichgültigen Überlegenheit, der Nebenbedeutung des gegenwärtigen angelsächsischen Modeworts. Der Staats-Bau öffnet sich nur an einem Zugang: dem der Vernunft. Im Sinne der „Gesetze“ sind dies nicht nur (irgendwelche) Formen diskursiven Denkens; es ist der Mensch, gebildet in der Einheit all seiner Persönlichkeits-Kräfte, also auch von Willen, von Gefühlen, bis in Leidenschaften hinein, aber eben immer unter dem Gewölbe der Gedanken. Wie immer gegenwärtige Philosophie und Psychologie diese menschlichen Kräfte unterscheiden mögen – in den „Gesetzen“ werden sie zur Einheit integriert, als eine solche geordnet. Dies ist platonische Erkenntnis, diese Wahrheit bieten die Gesetze, bietet alles Recht, nicht aus sich heraus, sondern aus dem Menschen, der sich in ihm ausgebildet hat, seine Gesetze daraus bildet zur Geltung. Eine Absage bedeutet dies auch an Vorstellungen – vor allem in der Nachfolge Hegels – von einer „Dynamik systematischer Selbstentwicklung des Rechts“, in 252 Dazu eingehend Leisner, W., Die Staatswahrheit. Macht zwischen Willen und Erkenntnis, 1999. 253 Jener Philosoph bleibt in diesem Sinn in der Tat „unakademisch“, worunter er, in einem heute erstaunlichen Prestigedenken, ein Leben lang gelitten hat, mochte er dem „Geistigen“ noch so nahe sein.

VII. Gesetz: Sieg des Geistes über die Leidenschaft

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einer geistigen Rechts-Welt, die etwa über den Menschen existierte, jenseits von ihnen sich öffnete und bewegte254. System ist ein Mittel der Erkenntnis, ein Weg, der auf ein Ziel hinführt. Doch Systematisierung bedeutet keine Selbstgesetzlichkeit der Geltung von Normen in einem Reich der Wahrheit. In seiner Mitte steht der erkennende Mensch – er bleibt dort stehen, in ruhigem Platonismus.

2. Unwandelbares Gesetz – Innere Überzeugung Die platonische Wahrheit liegt im Menschen, sie entbindet sich aus ihm in den Staat, im Wahrheitsgehalt der Gesetze; deshalb allein sind diese in ihrem Tiefsten, Innersten, in ihrem Kern255 unwandelbar. Der Mensch könnte nur, bräche er sie, sich selbst verlieren, sich aufgeben in dem, was seine „wahre Würde“ ausmacht, im tiefsten Sinn dieser schönen Wortverbindung. Diese Würde des Menschen liegt wirklich – in der als Wahrheit erkannten Wirklichkeit und, wie es eine weitere Begriffsverbindung ausdrückt, wiederum so überzeugend: in einer „inneren Würde“; es ist dies eben das immer neu zu beschwörende „Gesetz nach dem er angetreten ist“, dieser Mensch: zu einem wahren Appell der Bildung, einem Aufruf zu Höherem. Hier wird Kant erreicht in Platonismus. Dies ist das „innere Gesetz“, das „moralische Gesetz in mir“, aus dem geistigen Königsberg – möge nicht auch dieses noch den Deutschen verloren gehen, dem einstigen „Volk der Denker!“. In diesem „inneren Gesetz“ ist der Mensch „mehr als er scheint“; aber er ist es nicht in der politischen Moral der Gegenwart, ihrer Staatsmoral. Diese Nomoi sind nicht in Erz gegossen, in antiken Marmor gemeißelt, sie verwehen nicht mit den Worten des Freundes aus Athen. Sie erreichen unser Innerstes, sie gelten für dieses Innerste, das nicht verschlossen ist als stilles Kämmerlein, deshalb wirken sie auch aus ihm heraus, hinein in die Öffentlichkeit des Staats. Der Mensch muss sich nicht staatsfern bewegen zur höchsten Macht, er braucht sich nicht zu erschöpfen in einem Genießen in der Staatsferne eines Horaz gegenüber der Römischen Weltmacht256. Der platonische Staat ist die Wahrheit, die wirken will und gestalten, nicht im Besser-Wissen einer (auch noch) „moralisch stärkeren“ richterlichen Gewalt257, sondern in einem ruhigen höheren Erkennen, in jener Würde, in der sich nur der wahrhaft Vornehme bewegt, der sich etwas vor-genommen hat: Wahrheitssuche, nicht Freiheit von Sünde. Innere Überzeugung als Gesetz – das ist es, was bleibt von den Gesetzen des Platon, und wenn alles Irrtum sein sollte in diesem Buch und in den Auslegungen, wie

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In diesem Sinn darf auch „Institutionelle Evolution“ (FN 1) nicht verstanden werden. Zum „Kernbereichdenken“ im Verfassungsrecht, vgl. Leisner, Vertragsstaatlichkeit (FN 119), S. 52; ders., Institutionelle Evolution (FN 1), S. 46, 66, 86 ff. 256 S. dazu Leisner, W., Staatsferne Privatheit in der Antike. Horaz: In Machtdistanz das Leben genießen, 2012. 257 FN 251. 255

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sie hier versucht wurden. Heutige Bürger wissen es: Demokratie ist Kompromiss258. Doch an eine Grenze stößt diese notwendige, so oft auch rettende Flexibilität des menschlichen Charakters, um es hier nur so zu nennen: Auf diesem Altar darf nie Erkenntnis geopfert werden, vielleicht der Freund Platon, nie die Wahrheit.

VIII. Der platonische Idealstaat als antikes Kunstwerk 1. Der Staat als Gesamt-Kunstwerk: Platon – Wagner – Nietzsche Der Humanismus hat die Antike als Einheit erfasst; er hat sie „zurückbringen“ wollen in ihrem großen geistigen Zusammenhang von Philosophie und Kunst, Recht und Staat. Unvorstellbar war es für Franzosen über Jahrhunderte, ihre Académie in der Villa Medici in Rom nicht als Hort und Schule zugleich eines Zweiten Rom an der Seine zu begreifen, in der Nationalkunst der dort auferstandenen Renaissance, wie bald in den Staatskonstruktionen des Colbertschen Staates des Sonnenkönigs. Aus ihnen heraus wehte Montesquieus Geist der Gesetze in einer staatsrechtlichen Variation der Antike bis ins ferne Britannien. Wenig später entdeckte Rousseau die Volonté générale, das alte Volksgesetz, wiederum ausgehend vom antiken System der Staatsformen, wie es bereits die Nomoi kannten, er glaubte eine Demokratie zu schauen, in welcher (nur) (griechische) Götter leben würden259. Deutschland hat in seinem großen geistigen (19.) Jahrhundert, seinem Grand Siècle, die antike Reichsidee zurückgebracht in seinen Staat, zur gleichen Zeit und zugleich auch mit der Ausdruckskraft der ganz großen Musik. Die Vorstellung vom Gesamtstaat der Deutschen wurde zwar gebrochen, fast wäre sie zerbrochen, in Kriegen. Das „Gesamtkunstwerk“ aber blieb Richard Wagners geistiges Geschenk, in den Meistersingern hinauf in eine Staatlichkeit gesungen, die es nicht hat geben sollen. Die Vorstellung von einer „Staatskunst“ verfolgte die großen Deutschen Historiker bis in die Antike – nein: vor allem aus ihr heraus. Erziehung, Pädagogik – Bildung fand in diesem schwerfälligen, doch bildsamen Volk eine Heimstatt, vom Kinder-Garten bis zur einst wahrhaft großen Deutschen Universität, in einem „Gesamtkunstwerk in Wissenschaftlichkeit“. In diesem 19. Jahrhundert begegneten sich zwei Deutsche – schon in räumlicher Nähe geboren – welche beide Staat und Kunst, als künstlerische Schöpfung, der Gegenwart nahegebracht, beide sie aus ferner Vergangenheit haben zurückholen wollen: Richard Wagner aus dem Reich des Mittelalters, ja der germanischen Götter, Friedrich Nietzsche aus der Antike der 258

Dieser Begriff ist allerdings, gerade im Staatsrecht, seinem ursprünglichen lateinischen – und auch noch klassisch-französischen – Wortsinn völlig entfremdet worden: „Kompromiß“ bedeutete dort Unterwerfung unter das streitentscheidende Wort eines gemeinsam bestellten (Schieds-)Richters: wesentlich also einer Autorität, darin Anerkennung rechtlicher Ordnung. 259 S’il y avait un peuple de Dieux, il se gouvernerait démocratiquement, Rousseau, Contrat social L III, ch. 8.

VIII. Der platonische Idealstaat als antikes Kunstwerk

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Griechen. Beide haben in großer Dichtung gedacht, in Musik wie in Sprache, und vor allem, in allem, auch an „ihren“ Staat, Deutschland. Über seine Gestaltung gerieten sie in Streit, nicht aber über seinen Halt in Höherem. Für Wagner lag er letztlich in der Transzendenz des Glaubens, für Nietzsche wuchs er aus der Aszendenz, im Aufsteigen seines Menschen zum Übermenschen. Eines aber war damals immer gemeinsam: Die Suche der „Schönheit“, überall, bis zum Idealstaat, zum Übermenschen dieses Über-Staates. Sie begegnet dem Leser auch in den Nomoi, eben als das „griechische Ideal“, im einheitlichen Anruf dieses Ordnungsgesamtwerks an seine Menschen: „Höher hinauf“, bis in ein „Hinüber in Bildung“ in Unendliche Musik. Keinen Vertreter „seiner“ Antike hat der klassische Philologe Nietzsche so verschont von seiner Radikalkritik, seiner „Umwertung aller Werte“ wie diesen Platon – er fühlte hier und in Wagner seine eigene Dimension. Die Glocken des Parzival laden ein zu einer Verehrung, wie sie in der Gralsburg der Nomoi herrscht, von dort aus Menschen erreicht, welche dieses Reich in Bildung tragen, wie Karyatiden – schwerelos. Platon hat uns ein „staatsrechtliches Gesamtkunstwerk“ geschenkt in den Nomoi. Seine Paideia, seine Bildung, mit der alles in den Nomoi steht und fällt – sie muss heute neu gedacht werden, ganz anders vielleicht. Ideal der Gegenwart ist es, zu weiteren Sternen zu fahren, immer noch mehr zu wissen. Aber auch auf dem Boden der Menschen muss gebaut werden, aus ihnen, bis sie sich selbst zum Vorbild werden. Das ist der platonische „Blick aus der Höhle“, hinauf zum Staat der Gesetze. Die Akropolis ist noch heute eine steinernes Abbild des platonischen StaatsIdeals: Diese „hohe Stadt“, die Wohnung der Staats-Weisheit der Athener, Heimstatt ihrer Stadtgöttin, Heimat des Geistes über den Menschen – dies alles ist eine Harmonie Stein gewordener ewiger Staatskunst.

Sachwortverzeichnis Ägypten 16 Ämter 53 ff. Allgemeine Staatslehre 51 Arete 28, 39 ff. Aristokratie 35, 72 – und Wahlen 88 Armut 84 f., 105, 114 Auslandskontakte 118 f. Außenhandel 118 Autorität 71, 87 f., 107 – der Eltern 76 – des Gesetzes 76, 79 f. – s. auch Eltern Besitz – Kritik 82 ff., 105 – s. auch Eigentum Bildung passim – Bildungsstaatlichkeit 81, 90, 93 Christentum 24 f., 72 – und Deismus 108 – und (Staats-)Ethik 130 – s. auch Religion Demagogie 88, 105 Demokratie 19 ff., 32 ff., 121 – attische 35 f. – Fortschrittsglaube 109, 131 – Kritik der Demokratie 72 – Platon und die Demokratie 35 ff. – und Religion 108 f. – Staatsziele 64 – Verfassungsinhalte 33 – s. auch Freiheit, Verfassung Dezisionismus 74, 119 Ehe 90 – als „Staatsorganisation“ 54 – s. auch Familie

Eigentum 114, 116 – s. auch Besitz, Verteilung Einwanderung – s. Immigration Elitebildung 72, 74, 120 f. Eltern – Autorität 76, 113 f. – und Erziehung 71, 76, 89 f. – s. auch Ehe, Familie, Erziehung Erbschaft(steuer) 113 Erziehung 70 ff. – Begriff 93 – Besitz als Mittel 83 – Inhalte 94 f. – als Pflicht 53 f. – Programm 80 – durch Strafe 103 Ethik 135 – s. auch Staatsmoral Euthanasie 104 – s. auch Strafrecht Evolution 125

Familie 70 ff. – und Beruf 90 – Erziehungsgemeinschaft 71 ff. – griechisch-archaische 23 – und Testamentsrecht 113 – s. auch Ehe, Eltern, Erziehung Finanzkontrollen 117 f. Fortschritt(sglaube) 131 Frauen(rechte) – Emanzipation 93 f. Freiheit 30 f. – und Demokratie 36 f. – Schutzrichtungen 37 f. – s. auch Verfassung, Grundrechte Fremde – s. Immigration

Sachwortverzeichnis Gemeinschaft 96 ff. – Selbstwert? 38, 96 f., 133 – s. auch Individualismus Gesetz 64, 73 ff. – Abänderbarkeit 74 f., 119 – Einzelregelungen 127 f. – Gesetzesflut 75, 97 – und Religion 107 ff. – Umwandelbarkeit 135 Gesetzgeber 73 f. Gesetzgebungslehre 73, 76 Gewaltbegriff 105, 119 Gewaltenteilung 87 Gewerkschaften 91 Gleichheit 39 f. Grundrechte 125 f. – und Staatsorganisationsrecht 52 f. – als Verfassungsinhalt 34 – s. auch Freiheit Güterverteilung 99 f.

Liberalismus 56 ff., 83 – s. auch Außenhandel

Historia Magistra 14, 22, 43

Öffentlichkeit 55, 127

Idealismus, philosophischer 16 – deutscher 17, 41 Ideengeschichte 22 f. Immigration 81 f., 128 Individualismus 37 f., 46, 82 – als Bildungsgrundlage 84 – im Strafrecht 103 Induktion 61 Integrationslehre 96

Pädagogik 77 f., 80, 93 – durch Gesetz 77 Paideia 40 f. und passim Pazifismus 64 f. Politeia (Platons) 44 ff. Politik 56, 132 Politische Bildung 50, 95 Politologie 50 f. Polytheismus 407 f. – s. auch Religion Präambeln 77 f. Privatheit 65 f. – Privat/Intimsphäre 126 Privatrecht 58 Prognose 109 Prozess(recht) 114 f. – Mediation 114

Jugenderziehung 92 f. Kaufrecht 112 Kommunismus 83 ff., 113 Kompromiss 136 Konsens 77 Konstitutionalismus 41, 46, 80 Korruption(sbekämpfung) 117 Kulturbereich 93 Kunst 66 ff. – „Staatskunst“ 67 Landesverteidigung 116 f. Lehrer – als Staatsorgane 89

Machtstaat – Gegensatz Bildungsstaat 133 Materialismus 84, 105 Medien 68 Mehrheit 77 – s. auch Demokratie Meinung 94 Menschenrechte 38 Menschenwürde 49, 88, 135 Moral – s. Ethik, Staatsmoral Nachbarrecht 100 Naturrecht 124 f. – formales 125 Normstufen 86 – s. auch Verfassung

Rechtsstaatlichkeit 46, 75, 115, 128 – Milderes Gesetz 78 – Rechtsklarheit 77 f. – s. auch Gesetz Rechtstechnik 28 ff., 73, 78 Religion 57, 76, 106 ff. – antike 24 f.

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140 – – – – –

und Familie 71 f. Freiheit 106 und Gerechtigkeit 106 ff. invocatio Dei 95 f., 106 Theodizee 109 f.

Scheidung 114 Schule – s. Bildung, Erziehung, Pädagogik Schwächerenschutz 82 ff., 105, 112 Seele 107 ff. – Sexualbereich 98 f. – Sophistik 23, 35 – Soziale Probleme 30 – Sozialstaat(lichkeit) 80, 85 – Sozialvertrag 63, 88 – Sport 92, 98 Staat – als „Ganzes“ 49 ff., 123 – und „Gesellschaft“ 54 ff. – als Gesetz 46 – aus den Gesetzen 127 – Identität 82, 133 – Ursprung 69 f. Staatsaufgaben 51 ff. Staatsformen 50, 72 f. Staatskirche 72, 75, 106, 109 Staatsmoral 75, 105, 129 ff. Staatsorganisationsrecht 52 f., 85 ff. – und Grundrechte 52 – als „Technik“ 51 Staatsphilosophie 17 f. Staatsrechtfertigung 63 ff. – und „Gottesrechtfertigung“ 109 – s. auch Religion Staatsschutz 115 ff. – Strafrecht 115 f. Staatsutopismus 18, 21, 26 Staatswahrheit 134 Staatsziele 26, 63 f., 78 ff. Steuer(flucht) 117 Steuerrecht 86 Strafrecht 57, 101 ff. – als Erziehung 103 – als „Gesundheitsrecht“ 103 f.

Sachwortverzeichnis – Strafrechtstheorien 102 f. Strafprozess 104 Straftaten – Erscheinungsformen 104 f. System – Gesamtrechtsordnung 111 – Staatsphilosophie als System 123 Testamentsrecht 112 f. – s. auch Familie Toleranz 95 Verfassung 26, 75, 79, 85 f., 92, 124 ff. – Freiheitssicherung 125 f. – Prinzipien 26, 48, 79 – s. auch Freiheit, Grundrechte, Staat Verfassunggebung 70 Verfassungsgerichtsbarkeit 75, 86, 126 – Verfassungsrichterwahl 86 Verfassungswerte 127 – s. auch Naturrecht Vergnügen 65, 67 f., 80, 105 Verteilung 69 f., 82 f., 105, 114 – s. auch Besitz, Eigentum Vertragsrecht 111 Vertrauen 111 f. Volkswillen 20, 120 – des „Volkssouveräns“ 59 – s. auch Demokratie Wächterstaat 21, 55, 58 f., 137 – Wächter 199 – s. auch Verfassungsgerichtsbarkeit Wahl(en) 72, 87 ff. Wahrheit 73, 134 f. Wettbewerb 55, 97 f., 113 Wirtschaftliche Entwicklungen 23 f. Wirtschaftsethik 30 Wirtschaftsordnung 99 ff. Wohlfahrtsstaatlichkeit 65, 84 Zivilrecht 110 f. – als „Staatsrecht“ 111 f. – s. auch Vertragsrecht