Philosophieren mit Dilemmata 9783787337460, 9783787337453

Moralisch handeln in scheinbar ausweglosen Situationen? Die Auseinandersetzung mit Dilemmata im Unterricht fokussiert di

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Philosophieren mit Dilemmata
 9783787337460, 9783787337453

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Die Reihe Methoden im Philosophie- und Ethikunterricht ist auf neun Themenbände angelegt, die bis 2023 erscheinen werden: 1

Philosophieren mit Filmen im Unterricht

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Philosophieren mit Gedankenexperimenten

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Philosophieren mit Dilemmata

4

Philosophieren mit Bildern und Comics

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Vom Umgang mit philosophischen Texten

6

Der Einsatz von Spielen im Philosophie- und Ethikunterricht

7

Literatur und Jugendliteratur im Philosophie- und Ethikunterricht

8

Das Sokratische Gespräch im Philosophie- und Ethikunterricht

9

Theatrales Philosophieren, Musik und Videoclips im Philosophie- und Ethikunterricht



Ausführliche Informationen unter: www.philosophie-didaktik.de

Martina und Jörg Peters

Philosophieren mit Dilemmata Methoden im Philosophie- und Ethikunterricht

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3745-3 ISBN eBook: 978-3-7873-3746-0 www.meiner.de © Felix Meiner Verlag Hamburg 2020. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: 3W+P GmbH, Rimpar. Druck und Bindung: Druckhaus Nomos, Sinzheim. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

INHALT Einführung: Über die Rolle von ethisch-moralischen Dilemmata für den Philosophie- und Ethikunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Martina Peters und Jörg Peters

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Dilemmata im Philosophie- und Ethikunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Georg Lind

Die erweiterte Dilemma-Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Marie-Luise Raters

Dilemmadiskussion – ein Weg der Werteerziehung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bernd Rolf

Dilemmadiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Klaus Blesenkemper

Einsatz von Dilemmata zur Wertebildung in Schulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Birgitta Maria Kopp

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Beispiele aus der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Soll Calvin »pfuschen«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Jörg Peters

Das ist unser Land!? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Simon Mayer

Wann ist Kooperation vernünftig? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Reinhold Breil

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Auswahl ethischer und philosophischer Dilemmata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Bernd Rolf, Martina Peters, Jörg Peters

Auswahlbibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

EINFÜHRUNG Über die Rolle von ethisch-moralischen Dilemmata für den Philosophie- und Ethikunterricht Martina Peters und Jörg Peters

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ieser Band zum Philosophieren mit Dilemmata richtet sich hauptsächlich an drei unterschiedliche Zielgruppen: Die erste Zielgruppe stellen die Studierenden der Fächer Philosophie, Praktische Philosophie, Ethik, Werte und Normen sowie Lebenskunde – Ethik – Religion (L-E-R) dar, die sich möglicherweise aus didaktischen Gründen erstmals mit Dilemmata auseinandersetzen und sich in diesem Bereich orientieren wollen. Die zweite Zielgruppe, die diese Anthologie erreichen will, sind Referendarinnen und Referendare bzw. Junglehrerinnen und Junglehrer, die gerade ihre ersten praktischen Erfahrungen mit Dilemmata sammeln und daher auf der Suche nach Praxisbeispielen und motivierendem Material für ihre Unterrichtsstunden sind. Zielgruppe drei umfasst all diejenigen, die den Einsatz von Dilemmageschichten im Philosophie- bzw. Ethikunterricht längst als sinnvolle Vorgehensweise in ihr Methodenrepertoire aufgenommen haben und nun ihr Beispielspektrum durch neue Impulse erweitern bzw. sich mit den derzeit diskutierten theoretischen Ansätzen befassen möchten. Darüber hinaus wenden sich natürlich auch Menschen, die philosophisch interessiert sind oder aus beruflichen Gründen mit ihnen konfrontiert werden – man denke beispielsweise an Ärztinnen und Ärzte, Pflegepersonal oder Juristinnen und Juristen –, moralischen Dilemmata zu. Auch sie mögen in diesem Band reizvolle Anregungen finden. Allerdings konzentrieren sich die zusammengestellten Beiträge auf den Einsatz im Philosophieund Ethikunterricht, da die Bücher dieser Reihe auf einen didaktischen Schwerpunkt hin ausgerichtet sind. Aber was sind überhaupt Dilemmata, und warum besteht in derart vielen Gruppen eine so hohe Motivation, sich damit auseinanderzusetzen? Wenn man im Bereich der Philosophie über Dilemmata spricht, mag man entweder »an mehr oder weniger eng verwandte Schlüsse« 1 denken, wie sie in der Logik vorkommen, oder an ethisch-moralische Zwickmühlen, wie sie insbesondere in der Ethik anzutreffen sind. Dass im vorliegenden Buch ausschließlich dem ethisch-moralischen Dilemma Aufmerksamkeit

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Vgl. Artikel: »Dilemma«, in: Regenbogen, Armin; Meyer, Uwe (Hrsg.): Wörterbuch der philosophischen Begriffe, begründet von Kirchner, Friedrich und Michaëlis, Carl, fortgesetzt durch Hoffmeister, Johannes, PhB 500, Felix Meiner Verlag, Hamburg 2013, S. 151– 152.

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Martina Peters und Jörg Peters

geschenkt wird, liegt daran, dass die Logik im Kanon der zu unterrichtenden philosophischen Teildisziplinen nur eine – wenn überhaupt – untergeordnete Rolle spielt. Dementsprechend besteht derzeit auch kein ausdrücklicher Bedarf, logische Dilemmata für den schulischen Kontext aufzuarbeiten, so dass eine didaktische Auseinandersetzung mit ihr momentan kaum stattfindet. Für das ethisch-moralische Dilemma gilt genau das Gegenteil. Der Einsatz von Dilemmageschichten hat sich als eine wichtige Methode des modernen Philosophie- und Ethikunterrichts etabliert und lässt sich aus ihm ebenso wenig wegdenken wie der Einsatz von philosophischen Texten und Gedankenexperimenten.2 Bevor der Einsatz von ethisch-moralischen Dilemmata im Philosophie- bzw. Ethikunterricht in den Blick genommen wird, soll zunächst ein kurzer Überblick über die verschiedenen Dilemmatypen erfolgen.

 Dilemmatypen Zu unterscheiden sind drei Dilemmatypen, nämlich positive, falsche und negative Dilemmata: 1. Positive Dilemmata sind eigentlich keine richtigen Dilemmata. Bei ihnen stellt sich lediglich die Frage nach dem einzuschlagenden Weg, weil das Ergebnis – egal welches Mittel man wählt – immer das gewünschte sein wird. Man kann sich beispielsweise zwei unterschiedliche medizinisch-therapeutische Maßnahmen vorstellen, deren Anwendungen gleichermaßen zur Genesung einer Patientin oder eines Patienten führen. In diesem Fall ist es daher unerheblich, für welche der beiden Maßnahmen sich die behandelnde Ärztin bzw. der behandelnde Arzt entscheidet, da die Patientin bzw. der Patient durch das gewählte Verfahren auf alle Fälle gesunden wird. 2. Wie der Name schon andeutet, handelt es sich bei einem falschen Dilemma ebenfalls um kein wirkliches Dilemma. Es trägt seinen Namen deshalb, weil man die Vorstellung gewinnt, dass es zu einer Streitfrage nur genau zwei sich widersprechende Standpunkte gibt, selbst dann, wenn beide Positionen gar nicht im Widerspruch zueinander stehen oder zumindest eine weitere Handlungsoption angedacht werden kann. Das von Frank Zenker angeführte Beispiel für ein falsches Dilemma, »Wir machen das entweder richtig, oder wir machen das gar nicht« 3, zeigt klar, dass die Sprecherin oder der Sprecher erstens überhaupt nur zwei Handlungsmöglichkeiten vor Augen hat, nämlich »es richtig zu machen« 4 oder »gar nicht«, und zweitens sie bzw. er keine wei-

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Vgl. Peters, Martina; Peters, Jörg: »Der Einsatz von Gedankenexperimenten im Philosophie- und Ethikunterricht«, in: Peters, Martina; Peters, Jörg (Hrsg.): Philosophieren mit Gedankenexperimenten, Methoden im Philosophie- und Ethikunterricht, Bd. 2, Felix Meiner Verlag, Hamburg 2020, S. 7– 12: S. 7. Zenker, Frank: »Argumentationstheorien«, auf: Internet Archive Wayback Machine vom 31. Mai 2012, auf: https://web.archive.org/web/20120531132628/http://www.frankzenker.de/downloads/Zenker% 202008_Argumentationstheorie_RUB.pdf#page=13 (Stand: 15.08.2020). Es ist unklar, a) was der Begriff »richtig« hier eigentlich bedeuten soll und b) wie viele Möglichkeiten, »etwas richtig zu tun«, im Terminus »richtig« bereits angelegt sind.

Die Rolle ethisch-moralischer Dilemmata für den Philosophie- und Ethikunterricht

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tere Handlungsoptionen ins Kalkül zieht, obwohl die Aussage, »es richtig zu machen«, diese durchaus impliziert. 3. Ein negatives Dilemma meint eine Situation, in der eine Person zwischen zwei unerwünschten Alternativen5 eine Entscheidung herbeiführen muss. Die Person weiß also vom ersten Moment an, dass sie sich mit der Wahl von Möglichkeit A nicht nur gegen Möglichkeit B entscheidet bzw. umgekehrt, sondern zugleich die jeweils andere unmöglich werden lässt. Darüber hinaus weiß sie auch, dass es in einer solchen Zwickmühle6 keine – weder für sie selbst noch für andere Beteiligte – irgendwie zufriedenstellende Lösung geben kann bzw. wird. Da sie mit ihrer Wahl in jedem Fall gegen eine von zwei gebotenen moralischen Pflichten verstößt, zieht jede der von ihr in Augenschein genommenen Alternativen unweigerlich negative Konsequenzen nach sich.7 Das Beispiel »Sophies Wahl« aus dem gleichnamigen Roman von William Styron verdeutlicht das Gesagte: Sophie wird mit ihren beiden Kindern während des Zweiten Weltkrieges nach Auschwitz deportiert. Von einem NS-Offizier wird sie dort vor die Wahl gestellt, entweder beide Kinder in den sicheren Tod zu schicken oder eines von ihnen zu retten. Sie habe – so sagt ihr der sadistische Offizier – die Wahl, zu entscheiden, welches Kind weiterleben dürfe. Treffe sie keine Entscheidung, würden ihr beide Kinder weggenommen. Sophie entscheidet erst im letzten Moment, als die Nazis bereits beginnen, ihr die Kinder zu entreißen, dass ihr Sohn weiterleben soll. Egal, welche Entscheidung Sophie auch trifft, sie hat keine Option, in irgendeiner Weise richtig zu agieren. Trifft sie die Wahl, dass ihr Sohn weiterleben darf (Möglichkeit A), entscheidet sie sich gegen ihre Tochter, die dann in einer Gaskammer ihr Leben verlieren wird. Trifft sie die Wahl, dass ihre Tochter weiterleben darf (Möglichkeit B), muss ihr Sohn sein Leben hingeben. Trifft sie keine Wahl (Möglichkeit C), sterben beide Kinder. Man kann also sagen, dass Sophies Handeln zugleich etwas Positives als auch Negatives bewirkt. Positiv ist die Tatsache, dass sie einem ihrer Kinder das Leben retten kann, negativ, dass sie das andere dem Tod preisgeben muss. Indem Sophie sich gegen eines ihrer Kinder wendet, verstößt sie unweigerlich gegen das moralische Gebot, jeglichen (körperlichen) Schaden von Menschen grundsätzlich fernzuhalten. Die Entscheidung, die Sophie zu treffen hat, dürfte wohl jeden Menschen moralisch extrem belasten. Wie oft wird sich Sophie in der Folge wohl vorgeworfen haben, auf die Konversation mit dem deutschen NS-Offizier eingegangen zu sein? Hätte sie ihm seine Frage, ob sie eine »dreckige Kommunistin« sei, nicht beantwortet, wäre sie wohl nie vor die schreckliche Wahl gestellt worden. Sowohl die Tatsache, dass Sophie sich Vorwürfe macht, sie hätte die Situation umgehen können, eine Entscheidung treffen zu müssen, als auch der Umstand, eine (tödliche) Entscheidung herbeigeführt und selbst den

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Vgl. Artikel: »Dilemma«, in: Redaktion Schule und Lernen: Schülerduden Philosophie. Ein Lexikon zu Philosophie und Ethik für Schule und Studium, Dudenverlag, Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich 2002 (völlig neu bearbeitete Auflage), S. 93 – 94: S. 93. Vgl. Artikel: »Dilemma«, in: Schischkoff, Georgi (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch, begründet von Schmidt, Heinrich, KTA 13, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 1991, S. 142. Vgl. Artikel: »Dilemma«, in: Regenbogen, Armin; Meyer, Uwe (Hrsg.): Wörterbuch der philosophischen Begriffe, a.a.O., S. 151– 152.

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Martina Peters und Jörg Peters

Holocaust überlebt zu haben, lösen bei Sophie das sogenannte ÜberlebensschuldSyndrom aus. Ein wesentliches Merkmal dieses Syndroms besteht darin, dass der oder die Betreffende von Schuldgefühlen geplagt wird, die Internierung in einem Konzentrationslager »überlebt zu haben, obwohl viele Menschen durch dieses Ereignis oder bei diesem Ereignis ums Leben gekommen sind. Entscheidend […] ist das Schuldgefühl des Betroffenen, dass er gewollt oder ungewollt überlebt hat, während andere Personen um ihn herum gestorben sind, ohne dass er diesen hat helfen können«.8 Das Überlebensschuld-Syndrom macht evident, wie schwierig es für Sophie fortan sein wird, mit der Schuld, die sie vermeintlich auf sich geladenen hat, zu leben: »Wenn Sophie dem […] [Offizier] nicht geantwortet hätte, wären beide Kinder in die Gaskammern von Auschwitz geschickt worden. Dies ist schrecklich. Doch dann hätte sie lediglich die Nazis, das Schicksal oder Gott verfluchen müssen. Jetzt muss sie sich jedoch auch selbst anklagen und sich mit unerträglichen Selbstvorwürfen quälen. Hätte sie geschwiegen, hätte […] nicht die Verantwortung für den Tod ihrer Tochter auf sie […] [abgewälzt werden] können«.9

 Ethisch-moralische Dilemmata im Philosophie- und Ethikunterricht Negative bzw. moralische und insbesondere tragische Dilemmata stellen »Handelnde vor die Herausforderung […], in Situationen eine Entscheidung zu treffen, in denen sie es nicht vermeiden können, einer Pflicht zuwiderzuhandeln.« 10 Handelnde, die sich in einer ausweglosen Situation befinden, sollten nicht erwarten, dass ethische Theorien in der Frage, was sie tun sollen, »entscheidungsrelevante Hilfe bieten. Denn ein tragisches Dilemma ist gerade dadurch definiert, dass man die eine ebenso wie die andere Handlung auszuführen verpflichtet ist«.11 Aber es ist genau diese Aporie, die sich in besonderem Maße für den Einsatz im Philosophie- und Ethikunterricht eignet. Die Gründe dafür sind mannigfaltig: 1. In Anlehnung an den amerikanischen Psychologen Lawrence Kohlberg sollen die am Philosophie- bzw. Ethikunterricht teilnehmenden Schülerinnen und Schüler ihre jeweilige moralische Kompetenz erweitern. Dazu bieten sich Dilemmadiskussionen an, denn sie fordern zu einer begründeten Stellungnahme geradezu heraus. 2. Je mehr ethische Positionen Schülerinnen und Schüler kennen, desto kenntnisreicher können sie Dilemmata dahingehend analysieren, welche ethische Theorie dazu

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Vgl. Artikel: Überlebensschuld-Syndrom, auf: https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%9CberlebensschuldSyndrom (Stand: 30.089.2020). Dahl, Edgar: »Ein unerträgliches Dilemma«, in: Humanistischer Pressedienst, Ausgabe vom 17. Januar 2014, auf: https://hpd.de/node/17615/seite/0/1 (Stand: 30.08.2020). Schmidt, Thomas: »Gibt es unauflösbare moralische Konflikte?«, auf: https://www.philosophie.huberlin.de/de/lehrbereiche/ethik/mitarbeiter/schmidt/schmidt-moralische-konflikte-zuerich30-09-2015.pdf (Stand: 30.08.2020). Ibid.

Die Rolle ethisch-moralischer Dilemmata für den Philosophie- und Ethikunterricht

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beiträgt bzw. welche ethischen Theorien dazu beitragen können, zu einer eventuell vertretbaren Lösung des aufgeworfenen Problems zu gelangen. 3. Auch der hohe motivationale Charakter, der von Dilemmageschichten ausgeht, darf keineswegs außer Acht gelassen werden. Gerade weil unterschiedliche Positionen eingenommen werden können, mag dies eine höhere Beteiligung an den häufig sehr konträr geführten Diskussionen zur Folge haben. Auf dieses Weise kann außerdem die Gesprächskultur innerhalb einer Klasse oder eines Kurses weiter gefördert werden. 4. Das oberste Ziel aber, das im Philosophie- oder Ethikunterricht mit der Durchführung von Dilemmadiskussionen angestrebt wird, besteht – folgt man Lawrence Kohlberg – in der (Weiter-) Entwicklung der moralischen Urteilskraft.12 Für die Schulung moralischer Kompetenz ist es seiner Theorie zufolge förderlich, Schülerinnen und Schüler in echte Moralkonflikte zu versetzen, um sie dann mit Argumenten zu konfrontieren, die eine Stufe höher liegen als die von ihnen derzeit vertretenen. Durch diese Vorgehensweise soll erreicht werden, dass die jungen Menschen zur nächsthöheren Moralstufe geführt werden. Kohlberg, der seine (ausschließlich männlichen) Probanden mit Dilemmata buchstäblich überfrachtete, musste allerdings einsehen, dass sich eine moralische Weiterentwicklung nicht allein durch den permanenten Einsatz von Dilemmata erreichen ließ. Dennoch ist es ihm – sozusagen als Vater des methodischen Einsatzes von Dilemmata – zu verdanken, dass im modernen Philosophie- und Ethikunterricht der Auseinandersetzung mit moralischen bzw. negativen Dilemmageschichten eine tragende Rolle zukommt. Der didaktische Hauptgrund für die mittlerweile gängige Beschäftigung mit Dilemmata im Unterricht liegt klar auf der Hand: Die Lernenden werden auf diese Weise förmlich dazu gezwungen, rational über emotionale Zwangslagen nachzudenken, ihre Ansichten ständig neu zu hinterfragen und die von ihnen vertretenen Standpunkte immer wieder zu überprüfen.13 Wer der »didaktischen Falle« 14 von Dilemmageschichten aufsitzt, sich auf sie einlässt und sich in die Lage der oder des Handelnden begibt, wird nicht umhinkönnen, sich philosophisch zu betätigen. Das Sich-Einlassen auf eine moralische Dilemmasituation bedeutet automatisch, sich mit einem nicht zu lösenden moralphilosophischen Problem auseinanderzusetzen. Für die Fächer Philosophie und Ethik lässt sich aus dem Gesagten ableiten, dass es nahezu unmöglich ist, mit dem Einsatz von Dilemmata einen nicht-problemorientierten Unterricht durchzuführen. Aus den angeführten Aspekten erwächst geradezu die Notwendigkeit des unterrichtlichen Einsatzes von Dilemmata. Dabei ist es sinnvoll, dass ein zur Verwendung kommendes Dilemma möglichst der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler entstammt. Der Vorteil einer solchen Dilemmageschichte liegt darin, dass sie, ohne Umwege einzuschlagen, direkt zum Problem der Schülerinnen und Schüler avanciert. Be-

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Vgl. dazu das sechsstufige Stufenschema Kohlbergs. Ähnlich argumentiert auch Johnson, Lee: Ethical Dilemmas to Pose to Students, auf: https://classroom. synonym.com/ethical-dilemmas-pose-students-8066466.html (Stand: 10.08.2020). Rolf, Bernd: »›Wie soll ich mich entscheiden?‹ Dilemmata im Philosophie- und Ethikunterricht«, in: Ethik & Unterricht 11/2001, Heft 3: Praktische Philosophie, S. 18 – 22: S. 18.

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Martina Peters und Jörg Peters

nutzt man allerdings ein Dilemma, das – wie Sophies Wahl – fernab der Lebenswelt der Lernenden liegt, so regt es natürlich auch zum Denken an. Damit es sich aber für die Moralentwicklung als gewinnbringend erweist, ist es von entscheidender Bedeutung, dass es von den Schülerinnen und Schülern nicht als weit von ihnen entferntes und daher für sie irrelevantes fiktionales Beispiel wahrgenommen, sondern in seiner ganzen Dramatik nicht nur mitgedacht, sondern auch mitgefühlt wird.

 Der Aufbau des Buches Wie in den beiden bisher erschienenen Bänden Philosophieren mit Filmen im Unterricht und Philosophieren mit Gedankenexperimenten hat sich auch für dieses Buch eine Dreiteilung in einen Theorie-, einen Praxis- und einen Materialteil angeboten. Der Theorieteil umfasst alle maßgeblichen deutschsprachigen Ansätze, die sich aus didaktischer Sicht mit dem Einsatz von Dilemmata im Philosophie- und Ethikunterricht der Sekundarstufen beschäftigen. Die Rezipientinnen und Rezipienten, für die sich der Umgang mit Dilemmata als etwas Neues darstellt, können hier die theoretische Basis dafür kennenlernen oder – sofern sie schon Kenntnisse besitzen – diese weiter vertiefen. Der anschließende Praxisteil wartet mit einigen Vorschlägen auf, wie sich Dilemmata konkret im Unterricht umsetzen lassen. Die vorgestellten Beispiele machen evident, welche Chancen Dilemmata mit sich bringen, aber auch, welche Schwierigkeiten sie im Unterricht bereiten können und wie man diese meistern kann. Der dritte und letzte Teil des Buches, der Materialteil, enthält eine Sammlung von 43 Zwickmühlen. Neben einigen Klassikern finden sich dort auch zahlreiche eher unbekannte Dilemmageschichten. Damit die didaktische Methode des Philosophierens mit Dilemmata nicht eintönig verläuft, haben bei der Auswahl auch innovativere Präsentationsweisen eine Rolle gespielt: Zwar werden die meisten Dilemmata als klassische Kurztexte vorgestellt, darüber hinaus aber auch in Form von (nacherzählten) Filmausschnitten oder Comics. Der Band endet mit einer umfangreichen Auswahlbibliographie, in die unter Berücksichtigung der zu Beginn umrissenen Zielgruppen ausschließlich Beiträge zum Einsatz von Dilemmata aus didaktischer Perspektive aufgenommen worden sind.

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DILEMMATA IM PHILOSOPHIE- UND ETHIKUNTERRICHT

Die Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion Georg Lind

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ie kann man die Fähigkeit effektiv fördern, Probleme und Konflikte auf der Grundlage moralischer Prinzipien durch Abwägen und Diskutieren zu lösen, statt durch Gewalt, Betrug oder Unterwerfung unter andere? Wie kann man also das fördern, was wir Moralkompetenz nennen? Die meisten, wenn nicht alle Methoden der Moralerziehung zielen auf die Vermittlung ethischer Konzepte oder auf die Änderung moralischer Einstellungen und Werthaltungen oder auf die Modifikation des »Verhaltens«. Keine dieser Methoden scheint geeignet, Moralkompetenz zu fördern. Die wenigen Studien, die es dazu gibt, zeigen kaum Effekte.1 Einige haben, wie die experimentellen Studien von Hartshorne und May2 zeigen, sogar einen negativen Effekt: Jugendliche, die in der Sonntagsschule in Religion unterwiesen wurden, neigten eher zur Übertretung von Regeln als zum Beispiel Schüler von Reformschulen (progressive schools). Auch die Methode der »Werteklärung«, die zeitweise stark genutzt wurde, zeigt kaum Wirkung.3 Zu anderen Methoden liegen bislang kaum Studien vor, in denen die Wirksamkeit für die Moralkompetenz geprüft wurde. Zu den wenigen Methoden der Moralerziehung, die empirisch evaluiert wurden und sich als wirksam erwiesen, gehören die Blatt-Kohlberg-Methode der Dilemmadiskussion, die Kohlberg trotz ihrer Wirksamkeit nicht mehr empfiehlt, und die hieraus entwickelte Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion. Beide sollen hier vorgestellt werden. Beide Methoden haben wenig gemein mit spontanen Diskussionen, mit Rollenspielen, mit philosophischen Seminardiskussionen oder mit den im angelsächsischen Raum bekannten Debatten, die auch bei uns populärer werden.

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Vgl. Lind, Georg: Ist Moral lehrbar? Ergebnisse der modernen moralpsychologischen Forschung, Logos Verlag, Berlin 2002. Vgl. Hartshorne, Hugh; May, Mark A.: Studies in the Nature of Character, 3 Vols., Vol. 1: Studies in deceit, Book one and two, The Macmillan Company, New York 1928. Vgl. Leming, James S.: »Tell me a Story: An Evaluation of a Literature-based Character Education Program«, in: Journal of Moral Education 29, 2000, S. 413 – 427.

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Georg Lind

 Die Dilemma-Methode von Blatt und Kohlberg Moshe Blatt und Lawrence Kohlberg4 waren wohl die ersten, die Dilemmadiskussionen einsetzten, um Moralkompetenz zu fördern. Diese Methode erwies sich auf Anhieb als sehr wirksam. In einer Analyse der weit über hundert Studien, die in den 1970er und 80er Jahren veröffentlicht wurden, ergab sich eine mittlere Wirksamkeit von d = 0.86 bzw. r = 0.405 – ein Wert, der weit über den sonst gefundenen Effektstärken liegt.6 Trotz dieses Erfolgs riet Kohlberg davon ab, sie zu benutzen: »Unsere Forschungsbefunde zeigten an, dass die Operation erfolgreich war […] Der Patient jedoch starb: das heißt, wir kamen ein Jahr später zurück und fanden, dass kein einziger Lehrer weiter Dilemmadiskussionen machte, nachdem ihre Teilnahme an der Forschung zu Ende war.« 7 Kohlberg deutet auch den Grund für die Ablehnung durch die Lehrer an. Die Lehrkräfte waren »kaum in der Methode ausgebildet.«8 Den Erfolg verdankten sie also mehr den Leitern der Forschungsprojekte, an denen sie beteiligt waren. Ohne deren Hilfe sahen sie sich offenbar nicht in der Lage, selbst die Dilemmadiskussion durchzuführen. Dafür war die Blatt-Kohlberg-Methode wohl auch zu komplex, worauf Oser und Althof hinwiesen: »Erstens ist die Konstruktion von Dilemmata mit zwei sich wirklich widersprechenden Grundwerten eine äußerst zeitaufwendige Sache […] Zweitens ist es für Lehrpersonen äußerst schwer, das Basismodell der Dilemma-Diskussion durchzuführen: […] (a) Dilemma-Erfahrung, (b) Kontroverse, (c) +1-Konvention (Konfrontation mit Argumenten, die eine Stufe höher anzusiedeln sind als die Stufe des eigenen Denkens), (d) Prozessreflexion, die notwendig ist, um wirksam in Richtung der nächst höheren Stufe des sozio-moralischen Urteils zu entwickeln. […] Drittens besteht die Gefahr, dass das Argumentationsmaterial einer höheren Stufe, das Lehrpersonen unter Umständen vorbringen, in eine moralisierende Bewertung der Schülerargumente abrutscht.« 9 Trotz Kohlbergs Abkehr von der Dilemmamethode gab es für mich zwei wichtige Gründe, an ihr festzuhalten – und sie zu verbessern:

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Vgl. Blatt, Moshe; Kohlberg, Lawrence: »The Effect of Classroom Moral Discussion upon Children’s Level of Moral judgment«, in: Journal of Moral Education 4, 1975, S. 129 – 161. Vgl. Lind, Georg: Ist Moral lehrbar? Ergebnisse der modernen moralpsychologischen Forschung, a.a.O. Lipsey, Mark W.; Wilson, David B.: »The Efficacy of Psychological Educational and Behavioral Treatment Confirmation From Meta-Analysis«, in: American Psychologist 48, 1993, Issue 12, S. 1181– 1209. Kohlberg, Lawrence: »The Just Community Approach to Moral Education in Theory and Practice«, in: Berkowitz, Marvin W.; Oser, Fritz (Hrsg.): Moral education: Theory and application, Erlbaum, Hillsdale, NJ. 1985, S. 27–87: S. 33. Ibid. Oser, Fritz; Althof, Wolfgang: »Die Gerechte Schulgemeinschaft: Lernen durch Gestaltung des Schullebens«, in: Edelstein, Wolfgang; Oser, Fritz; Schuster, Peter (Hrsg.): Moralische Erziehung in der Schule: Entwicklungspsychologie und pädagogische Praxis, Beltz Pädagogik, Beltz Verlag, Weinheim/Basel 2001, S. 233 – 268: S. 250 – 251.

Die Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion

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1. Die Blatt-Kohlberg-Methode war bis dahin die einzige Methode, mit der sich die Moralkompetenz effektiv fördern ließ, und zwar viel effektiver, als dies sonst in Interventionsstudien der Fall ist. Mir schien, dass man sie noch effektiver und vor allem besser lehrbar machen konnte, so dass Lehrer sie besser lernen können. 2. Sie nimmt die Teilnehmer als moralische und denkende Wesen ernst. Auch hier, schien mir, konnte noch einiges verbessert werden. Vor allem schien es mir wichtig, den Teilnehmern viel mehr Zeit für die eigene Auseinandersetzung mit Dilemmasituationen zu geben, als dies dort der Fall war.

 Die Ziele der Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion\R Die KMDD wurde entwickelt, um die Fähigkeit von (jungen und alten) Menschen zu fördern, Probleme und Konflikte auf der Basis von universellen moralischen Prinzipien durch Denken und Diskussion zu lösen, also das zu fördern, was wir als Moralkompetenz bezeichnen. Diese Fähigkeit stellt eine Schlüsselkompetenz für das Zusammenleben in einer demokratischen Gesellschaft dar.10 Fehlt diese Fähigkeit, dann bleibt den Menschen zur Lösung von Problemen und Konflikt nur Gewalt, Betrug und die Unterwerfung unter andere. Die KMDD zielt primär nicht darauf ab, die Teilnehmer mit Ethik vertraut zu machen und zum moralphilosophischen Diskurs zu befähigen. Aber in Dilemma-Diskussionen entsteht meist ein starkes Interesse an moralphilosophischen Fragestellungen und, je nach Thema der Dilemmageschichte, auch an akademischen Fachgebieten, auf das Ethik- und Fachunterricht aufbauen können. Moralkompetenz setzt sich aus einer Vielzahl von Teilfähigkeiten zusammen, die in Dilemmadiskussionen gebraucht und geübt werden: ¬ ¬ ¬ ¬

sich der eigenen Moralprinzipien bewusst werden; sie in Worte fassen. Umstände und Fakten einer Situation genau beachten. Die eigenen Prinzipien nach ihrer Wichtigkeit und Angemessenheit unterscheiden. Bei Konflikten zwischen gleichrangigen Prinzipien ein übergeordnetes Prinzip finden, das helfen kann, moralische Konflikte aufzulösen. ¬ Den eigenen Standpunkt auch dann vertreten, wenn Gegner anwesend sind und eine andere Meinung vertreten als man selbst. ¬ Sich Zeit und Gelegenheit zum Denken und Diskutieren zu nehmen, auch wenn man zeitlich, emotional oder sozial unter Druck steht. ¬ andere Meinungen nicht nur zu tolerieren, sondern sie zu schätzen, weil sie einen zur Überprüfung der eigenen Argumente zwingen und dadurch vor Fehlern bewahren können.

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Vgl. Lind, Georg: Moral ist lehrbar. Wie man moralisch-demokratische Kompetenz fördern und damit Gewalt, Betrug und Macht mindern kann. Mit Diskussionstheater, Logos Verlag, Berlin 2019 (erweiterte und neu bearbeitete Auflage).

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Didaktische Leitideen der KMDD Bei der Entwicklung der Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion standen fünf lernpsychologische Erkenntnisse über optimale Lernbedingungen Pate11 :

I. Maximale Aufmerksamkeit und Lernbereitschaft Optimale Aufmerksamkeit wird bei der KMDD durch verschiedene Mittel erreicht. Die wichtigsten sind a) das Abwechseln von Phasen der Unterstützung und Herausforderung im Laufe einer KMDD-Sitzung, b) die Selbststeuerung der Diskussion durch die so genannte Pingpong-Regel, c) die Auswahl einer geeigneten Dilemmageschichte, und d) die Grundregel, dass in der Diskussion über die Sache diskutiert wird und nicht über Personen. Für die Wirkung der KMDD ist es wichtig, dass die Übungsaufgaben für die Teilnehmer nicht zu einfach und nicht zu schwer sind, also eine mittlere Schwierigkeit besitzen. Wenn man die Lernenden mit zu einfachen Aufgaben unterfordert, lösen sie kaum Lernaktivitäten aus, ebenso wenn man sie mit zu schweren Aufgaben überfordert, was passieren kann, wenn man sie mit Geschichten konfrontiert, in denen eine reale Person vor einer schwierigen Entscheidungen steht. Wir lassen daher nur Geschichten diskutieren, in denen es um eine fiktive Person geht.

II. Wechselnde Phasen der Unterstützung und Herausforderung Das Abwechseln zwischen Phasen der Unterstützung und der Hausforderung hat sich als der beste Weg herausgestellt, sich an das optimale Lernvermögen der Teilnehmer heranzutasten. Zudem hilft dies, das Aufmerksamkeitsniveau bei allen Schülerinnen und Schülern hoch zu halten. Es hat sich als günstig erwiesen, eine Dilemma-Stunde mit stützenden, helfenden Phasen zu beginnen, dann herausfordernde Phasen einzubauen und diese beiden Phasen während einer KMDD-Sitzung mehrmals zu wechseln. Wie das konkret aussieht, ist im Ablaufschema dargestellt.12

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Vgl. ibid. Vgl. den Ablaufplan am Ende dieser Studie.

Die Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion

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III. Selbststeuerung der Diskussion Autonomie kann nur gelernt werden, wenn sie praktiziert wird. Daher erfolgt die Moderation bei der KMDD nicht durch den Lehrer oder die Lehrerin, sondern durch die Teilnehmer selbst. Nur auf diese Weise können die Teilnehmer lernen (und Vertrauen darin entwickeln), solche Diskussionen auch dann vernünftig und gewaltfrei zu gestalten, wenn keine Autorität eingreift. Die Selbstmoderation wird durch die PingpongRegel gesteuert, bei der derjenige, der gerade gesprochen hat, aus der anderen Gruppen jemanden aufruft, der sich durch Handzeichen meldet, um ihm zu antworten. Die Lehrperson ruft nur den ersten Redner auf, sonst beschränkt sie sich darauf, die Einhaltung der beiden Regeln zu überwachen. Diese Selbstmoderation hat sich sehr gut bewährt. Der jeweilige Redner bekommt dadurch die Möglichkeit, die eigene Nervosität, die fast immer vorhanden ist, in den Griff zu bekommen und demjenigen zuzuhören, der auf ihn antwortet. Durch die Pausen, die hierdurch entstehen, bekommen die anderen Teilnehmer die Gelegenheit, das Gesagte zu verarbeiten und dem weiteren Diskussionsverlauf zu folgen. Man kann auch beobachten, dass – von wenigen Ausnahmen abgesehen – die Teilnehmer versuchen, beim Aufrufen der Teilnehmer aus der anderen Gruppe gerecht zu verfahren. Sie rufen bevorzugt jene auf, die zuvor noch nicht aufgerufen worden waren. Die Aufzeichnung eines Beobachters (s. Graphik von Hartmut Neuschwander) beschreibt die Aufrufe in einer vergleichsweise kleinen Gruppe, gibt aber ein typisches Aufrufmuster wider: obwohl manche sich viel öfter als andere meldeten, wurde jeder mindestens einmal aufgerufen.

IV. Auslösung einer Diskussion durch eine semi-reale Dilemmageschichte Dilemmageschichten sollen »semi-real« sein, denn in ihnen ist das Dilemma realistisch, der Protagonist jedoch fiktiv. Sie bieten dem Lehrer bzw. der Lehrerin eine gute Möglichkeit, den Grad der Emotionalisierung in der Klasse auf einem mittleren, optimalen Niveau zu halten. Semi-reale Geschichten lassen einen breiten Spielraum für die Wahl der Geschichte. Sie kann sich aus den Themen ergeben, die in einem bestimmten Fach gerade behandelt werden (z. B. Stammzellengewinnung in der Biologie oder das Gleichnis vom ›verlorenen Sohn‹ in Religion), oder aus der unmittelbaren Erfahrung der Teilnehmer. Man kann eine fertige Geschichte der Literatur oder den Medien entnehmen oder eine erfinden. Wichtig ist, dass die Geschichte dem Zweck der KMDD angepasst wird: Sie muss von einer Person handeln, die vor einer schweren Entscheidung steht; sie muss in einer einfachen Sprache verfasst und so kurz wie möglich sein (nicht länger als eine Viertelseite), damit die Teilnehmer sich in der Diskussion noch an die Fakten präzise erinnern

18

Georg Lind

können; sie darf keine Wertungen und Vermutungen enthalten; sie soll andeuten, dass der Protagonist nachdenkt, und sie muss mit einer klaren Entscheidung enden, damit die Teilnehmer Stellung beziehen und abstimmen können: War sie richtig oder falsch?

Wichtige Definitionen Dilemma: ¬ Zwangslage; Wahl zwischen zwei [unangenehmen] Dingen. (Duden) Moralisches Dilemma: ¬ Die Wahl zwischen zwei Verhaltensalternativen, wenn beide eigenen moralischen Prinzipien widersprechen und es keine dritte Alternative gibt. Semi-reales (hypothetisches) moralisches Dilemma: ¬ Die Zwangslage einer fiktiven Person, die zwischen zwei Verhaltensalternativen wählen muss, die gegen ihre moralischen Prinzipien verstoßen. Edukatives moralisches Dilemma: ¬ Ein (semi-reales oder reales) Dilemma, das Teilnehmer an einer Dilemmadiskussion so zum Nachdenken über moralische Problemlösungen anregt, dass bei ihnen die Entwicklung der moralischen Urteils- und Diskursfähigkeit gefördert wird. Das Dilemma sollte so realistisch formuliert sein, dass beim Zuhörer Neugier und Spannung, aber keine lernhemmenden Emotionen (z. B. Ängste, Hass) ausgelöst werden.

V. Sachorientierung statt Personenorientierung Um möglichst günstige Bedingungen für den Lernprozess zu schaffen, ist es sehr wichtig, dass sich die Diskussion auf das Dilemma, also den Widerstreit der beteiligten Moralprinzipien, konzentriert und nicht »persönlich« wird. Der Moralphilosoph und Soziologe Georg Simmel argumentiert, dass dies nicht nur aus didaktischen, sondern auch aus moralischen Gründen geboten ist: »Die Loslösung des Interesses an der Sache von dem an der Person, um derentwillen jenes ursprünglich entstand, ist einer der wichtigsten Vorgänge im ethischen Leben«.13 Die KMDD hilft, einen Konflikt zu versachlichen, indem sie die Aufmerksamkeit der Teilnehmer auf den »moralischen Kern« eines Konflikts lenkt. Das wird zum einen durch die Dilemmageschichte zu erreichen versucht: Der Protagonist ist fiktiv, so dass die Teilnehmer nicht in Versuchung kommen, eine konkrete Person anzugreifen oder zu

13

Simmel, Georg: Gesamtausgabe, 24 Bde., Bd. 3: Einleitung in die Moralwissenschaft, Bd. 1, hrsg. von Ramstedt, Ottheim, stw 803, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt 1989, S. 153.

Die Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion

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verteidigen. Zum anderen durch die Grundregel der Diskussion: Es darf alles gesagt werden, aber es dürfen keine wertenden Bemerkungen über reale Personen gemacht werden, weder negative noch positive. Das heißt nicht, dass bei dieser Methode emotionales Engagement für den eigenen Standpunkt verboten ist. Im Gegenteil, damit die KMDD wirkt, ist es wichtig, dass moralische Emotionen geweckt werden. Die Methode soll den Teilnehmern ja helfen, diese bewusst zu machen, sie in Worte zu fassen und so moralisch-emotionale Konflikte durch Denken und Diskussion lösen zu können. Der Ablauf der gesamten neun Phasen einer KMDD-Sitzung wird in einer Tabelle im Anhang wiedergegeben.

 Wie unterscheiden sich KMDD und Blatt-Kohlberg-Methode? Die wichtigste Neuerung der KMDD bestand darin, den Teilnehmern mehr Gelegenheit zu geben, sich mit ihren eigenen moralischen Gefühlen und denen von Gegnern auseinanderzusetzen, also sich ihrer eigenen Moral bewusst zu werden und zu lernen, diese in Worte zu fassen, und damit kommunizierbar zu machen. Dafür wird die Rolle der Lehrperson stärker zurückgenommen, damit sie diesen Lernprozess nicht stört: ¬ Statt die Teilnehmer vier und mehr Dilemmageschichten in 45 Minuten diskutieren zu lassen, gibt die KMDD nur eine Geschichte vor und lässt den Teilnehmern 90 Minuten Zeit zum Nachdenken, zu Gesprächen und zur Reflexion über die eigenen moralischen Gefühle und die Gefühle der anderen. ¬ Statt durch höherstufige Argumente, die der Lehrer bzw. die Lehrerin vorgibt, wird bei der KMDD die Moralkompetenz der Teilnehmer durch die Auseinandersetzung mit Gegenargumenten stimuliert. Walker14 wies nach, dass es keiner »höher-stufigen« Argumente bedarf, sondern dass generell alle Argumente, die von den eigenen verschieden sind, das moralische Denken herausfordern und die Entwicklung anregen können. Unsere Erfahrungen mit der KMDD bestätigen seine Befunde. ¬ KMDD-Teilnehmer bekommen – anders als bei der Blatt-Methode – vor der Diskussion Gelegenheit, sich der moralischen Gefühle, die bei ihnen durch die Dilemmageschichte ausgelöst werden, bewusst zu werden und sie in Worte zu fassen. Nach der Präsentation der Geschichte bekommen sie Zeit, zunächst allein für sich und dann in der Gruppe, darüber nachzudenken, ob die Geschichte wirklich ein moralisches Dilemma (oder auch mehrere) enthält und worin dieses besteht. Denn ein Dilemma liegt immer im Auge des Betrachters. Jeder Teilnehmer kann also ein anderes Dilemma in der präsentierten Geschichte sehen. ¬ Vor der Diskussionsphase bekommen die Teilnehmer zudem Gelegenheit, sich in kleinen Gruppen von drei bis vier auf die Diskussion im Plenum vorzubereiten. Meine

14

Walker, Lawrence J.: »Cognitive Processes in Moral Development«, in: Sapp, Gary L. (Hrsg.): Handbook of Moral Development: Models, Processes, Techniques, and Research, Religious Education Press, Birmingham, AL 1986, S. 109 – 145.

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Georg Lind

Erfahrung ist, dass je mehr wir tun, um die Teilnehmer zu stärken, diese umso weniger dazu neigen, in der Diskussion »persönlich« zu werden und einen aggressiven Ton anzuschlagen. ¬ Bei der KMDD wechseln sich Phasen der Unterstützung und Herausforderung rhythmisch ab. Damit wird erreicht, dass alle Teilnehmer über die ganzen 90 Minuten hinweg aufmerksam sind. Es passiert selten, dass sich jemand gelangweilt oder überfordert fühlt. Diese Maßnahme zur Affektregulierung im Unterricht fehlt bei der Blatt-Methode und ist auch sonst im Unterricht selten anzutreffen. ¬ Bei der KMDD moderieren die Teilnehmer die Diskussion selbst, nicht der Lehrer bzw. die Lehrerin. ¬ Der Lehrer bzw. die Lehrerin greift also nicht, wie bei der Blatt-Kohlberg-Methode, inhaltlich in die Diskussion der Teilnehmer ein, sondern hilft nur durch Handzeichen, die beiden Regeln einzuhalten. Am Ende dankt er allen für die lebhafte und faire Diskussion, aber enthält sich jeder inhaltlichen Bewertung. Bei einer Methode, die die moralische Autonomie der Teilnehmer stärken soll, sind Zensuren fehl am Platz.

 Vorbereitung und Durchführung einer KMDD-Sitzung Die der KMDD zugrunde liegende Idee einer universalistischen Moral kann nur verwirklicht werden, wenn die Methode selbst inklusiv ist. Sie auf bestimmte Menschengruppen zu begrenzen, wäre ein Widerspruch in sich selbst. Natürlich kann es aus praktischen Gründen notwendig sein, die Teilnahme zahlenmäßig zu begrenzen. Aber die Teilnahme an KMDD-Sitzungen sollte an keine Bedingungen geknüpft werden. Die Wahl der Dilemmageschichte sollte sich immer an den Teilnehmern orientieren, die die wenigsten Voraussetzungen mitbringen, damit niemand von der Diskussion ausgeschlossen wird. Weitere Maßnahmen können sein: Vereinfachung der Dilemmageschichte, einfachere Sprache und längere Mikropausen beim Vortrag der Geschichte. An KMDD-Sitzungen können Kinder schon ab der dritten Grundschulklasse und Erwachsene bis ins hohe Alter teilnehmen. Es können auch problemlos lernbehinderte Schülerinnen und Schüler und demente Seniorinnen und Senioren teilnehmen. Die KMDD ist weder auf so genannte »Risikogruppen« begrenzt, noch ist sie ausschließlich für »gute« Klassen geeignet. Sie ist für alle Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen gleichermaßen empfehlenswert, auch wenn Inhalt und Form der Dilemmageschichte den jeweiligen Bedürfnissen und Voraussetzungen angepasst werden müssen. Die KMDD ist in allen Gruppen gleich wirksam. Aber am augenfälligsten ist ihre Wirkung bei Menschen, die als schwierig gelten und denen man eine vernünftige Diskussion heikler Themen nicht zutraut. Besonders fruchtbar sind KMDD-Sitzungen mit bunt zusammengesetzten Gruppen, jungen und alten Menschen und Menschen mit einem unterschiedlichen kulturellen und ethnischen Hintergrund. Fraglos stellen diese aber besondere Anforderungen an die Lehrperson.

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Die KMDD wurde ursprünglich für Sekundarschulen und Hochschulen entwickelt, wurde aber auch schon in der Bundeswehr15 und in Gefängnissen16 eingesetzt. Seit einiger Zeit gibt es sie auch als öffentliche Veranstaltung in Form des DiskussionsTheaters »Reden & Zuhören«.17 Damit eine KMDD-Sitzung gelingt und die Moralkompetenz der Teilnehmer wirksam fördert, sollten folgende Voraussetzungen erfüllt sein: ¬ Die Teilnehmer bedürfen keiner Einführung oder Vorbereitung. Sie müssen außer grundlegenden Lese- und Schreibfähigkeiten keine Voraussetzungen erfüllen. ¬ Für die Lehrer bzw. die Lehrerin hingegen ist eine gründliche Ausbildung notwendig.18 Es empfiehlt sich die Teilnahme an einem KMDD-Trainings- und Zertifizierungslehrgang.19 ¬ Je besser eine KMDD-Sitzung durchdacht und vorbereitet wird, desto weniger muss der Lehrer bzw. die Lehrerin in den Ablauf eingreifen und desto mehr kann er auf die Selbstregulierung durch die Teilnehmer vertrauen. Vor einer Sitzung sollte man sich zehn Minuten zurückziehen, um die Präsentation der Geschichte zu üben und sich den Ablauf vor Augen zu führen.

Optimale Länge Eine KMDD-Sitzung sollte mindestens 90 Minuten dauern. Die Teilnehmer zeigen keine Ermüdung. Meist würden sie gern noch länger diskutieren. Das taktvolle Beenden einer KMDD-Sitzung gehört zu den Herausforderungen dieser Methode. Ich erlebe immer wieder, dass Teilnehmer beim Hinausgehen weiterdiskutieren und noch eine Weile vor dem Gebäude in kleinen Gruppen zusammenstehen. Ich kann nicht sagen, wann ein von KMDD-Sitzungen angestoßener Lernprozess endet. Einmal sprach mich eine Teilnehmerin nach einem Jahr auf der Straße an, um mir mitzuteilen, dass sie, ihr Mann und ihr Sohn, denen sie von der KMDD-Sitzung erzählt hatte, noch immer über den dort behandelten Fall diskutieren würden, sie aber noch immer keine Lösung gefunden hätten. Kürzer als 90 Minuten sollte eine KMDD-Sitzung nicht sein. Ich hatte versucht, die KMDD auf 45 Minuten zu kürzen, was jedoch nicht den gewünschten Erfolg brachte.

15

16

17

18 19

König, Josef: »Konstanzer Methode der Dilemmadiskussion – ein neuer Ansatz. Interview mit dem Stabsabteilungsleiter FüS I General Robert Bergmann zum Verhältnis Lebenskundlicher Unterricht und ethisch – moralische Bildung der Soldatinnen und Soldaten«, in: Kompass. Soldat in Welt und Kirche, hrsg. vom katholischen Militärbischof für die Deutsche Bundeswehr, Ausgabe 05/2007, S. 8 – 11. Vgl. Hemmerling, Kay: Morality Behind Bars – An Intervention Study on Fostering Moral Competence of Prisoners as a New Approach to Social Rehabilitation, Peter Lang Verlag, Frankfurt 2014. Lind, Georg: »Diskussions-Theater – Eine Methode der Demokratieerziehung«, in: Lehren & Lernen 10, 2018, S. 24 – 33. Vgl. Lind, Georg: Moral ist lehrbar. Mit Diskussionstheater, a.a.O. Anmeldungen zur Ausbildung eines KMDD-Leiters bzw einer KMDD-Leiterin können unter https:// www.uni-konstanz.de/ag-moral/ vorgeommen werden.

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Georg Lind

Ich musste feststellen, dass alle Phasen für den Lernerfolg der Methode essentiell sind, ich also keine Phase auslassen durfte.

Verteilung im Stoffplan KMDD-Sitzungen reichern den Fachunterricht an. Sie führen, wie mir Lehrer und Lehrerinnen immer wieder berichten, generell zu einer stärkeren Beteiligung der Schülerinnen und Schüler am Unterricht und fördern auch ihre Motivation zum fachlichen Lernen. Sie können den Schülerinnen und Schülern den Einstieg in ein Thema erleichtern und ihnen helfen, das Thema mit ihrer eigenen Erfahrungswelt in Beziehung zu setzen. Und sie eignen sich zur Behandlung kontroverser Themen. Zum Beispiel haben die Schülerinnen und Schüler kritische Fragen zur Gentechnologie gestellt: Darf man Embryonen »verbrauchen«? Die Lehrerin bietet an, darüber in der darauffolgenden Stunde ausführlich zu diskutieren. Sie entwickelt dafür eine Dilemmageschichte, die vor dem Hintergrund dieser Problematik handelt. Bereits ein bis zwei KMDD-Sitzungen im Jahr reichen, um die Moralkompetenz der Teilnehmer deutlich zu fördern.20 Eine »Überdosierung« bringt keinen großen Mehrgewinn, kann aber leicht dazu führen, dass die Teilnehmer der Methode überdrüssig werden. Wenn es an Lehrerinnen und Lehrern fehlt, die in der KMDD ausgebildet sind, sollte man eher mehr Schülerinnen und Schülern eine Gelegenheit geben, ihre Moralkompetenz zu üben, als wenige Schülerinnen und Schüler damit (zu) reichlich zu versorgen. Lehrpersonen, die nicht in der KMDD ausgebildet sind, erzielen bei Ihren Teilnehmern kaum Fördereffekte, selbst wenn sie die Methode häufig einsetzen. Sie können u. U. sogar eine schädliche Wirkung haben, da in der Diskussionsphase oft starke moralische Emotionen ausgelöst werden, mit denen die Lehrperson umgehen können muss. Wie man die eigene Lehrwirksamkeit mit dem Moralische Kompetenz-Test selbst evaluieren kann, wird in Lind21 gezeigt.

 Resümee Obwohl die Methode der Dilemmadiskussion sich als sehr wirksam erwies, hat Kohlberg sie für tot erklärt. Durch dieses Verdikt Kohlbergs ist die Methode bei vielen Experten und Lehrern – zu Unrecht – in Verruf geraten. Die KMDD ist noch effektiver als die Blatt-Kohlberg-Methode und findet bei den Lehrpersonen, die sich darin haben ausbilden lassen, große Zustimmung. Es gibt keine andere Methode, die ähnlich in-

20

21

Vgl. Lind, Georg: Ist Moral lehrbar? Ergebnisse der modernen moralpsychologischen Forschung, a.a.O. und vgl. Lind, Georg: Moral ist lehrbar. Mit Diskussionstheater, a.a.O. Vgl. ibid.

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tensiv erforscht ist und die sich als wirksam erwiesen hat. Voraussetzung für ihre Wirksamkeit ist allerdings eine gute Ausbildung der Lehrperson in der Methode.22 Die KMDD ist keine Methode, um Konflikte zwischen realen Personen zu lösen. Hierfür gibt es andere Methoden. Die KMDD ist auch keine Diskussion über abstrakte Themen, sondern über konkrete Fälle; sie ist kein Rollenspiel, sondern verlangt das Engagement für die eigene Meinung; sie ist kein Streitgespräch, bei dem es um die endgültige Lösung eines bestimmten Problems geht, sondern eine Gelegenheit, die eigene Moralkompetenz zu üben. Sie ist auch kein Debattierwettbewerb mit einem Sieger. Bei ihr gewinnen alle, nämlich die Erfahrung, dass man mit anderen auch über heikle Themen diskutieren kann, ohne dass man dabei persönlich werden muss, und dass Meinungsgegner keine Feinde sind, die man allenfalls tolerieren sollte, sondern dass sie wichtige Partner für die eigene Entwicklung sind. »Die Argumente der Gegner waren wichtig, weil ich dadurch nochmals meine eigenen Argumente überdenken musste«, resümierte eine 10-jährige Schülerin nach einer KMDD-Sitzung.

22

Vgl. Lind, Georg: Moralerziehung auf den Punkt gebracht, Auf den Punkt gebracht, Bd. 3, Debus Pädagogik Verlag, Schwalbach 2017, und vgl. Lind, Georg: »Moralkompetenz. Eine Schlüsselqualifikation fürs Leben und Lernen«, in: Praxis Schulpsychologie, Heft 15, Oktober 2018, S. 4 – 5.

24

Georg Lind

 Die neun Phasen einer KMDD-Sitzung / Diskussions-Theater Dilemma-Geschichte: Schule: Klasse: Lehrer/in: Datum: Stunde: Besonderheiten:

Minuten 5

Plan Änderung Phasen* Die Geschichte von X möglichst frei vortragen. X ist die Person, die vor einer schweren Entscheidung steht. Sprechen Sie langsam, klar und deutlich. Machen Sie kurze Pausen.

5

Geschichte auf Papier austeilen. Die Geschichte still lesen lassen (Kein Zwang!) Die Fragen beantworten lassen: Wie schwer ist die Entscheidung? Worüber denkt X nach? Regel: Die Anderen nicht stören. Störer lautlos ermahnen.

10

Dilemmaklärung im Plenum: Durch Handheben abstimmen lassen: »War das eine leichte Entscheidung für X?« »War die Entscheidung schwer?« Danach fragen: Warum? Möglichst jeden zu Wort kommen lassen. Keine Wiederholungen oder Diskussion zulassen.

*

Die 90 Minuten voll ausschöpfen, aber nicht überziehen. Keine Phase auslassen!

Die Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion

Minuten 5

25

Plan Änderung Phasen Abstimmung: »Hat X richtig oder falsch gehandelt?« (Stimmen laut auszählen. Das Ergebnis für alle sichtbar notieren.) Richtig: Falsch: Enthaltung: Falls einige Teilnehmer/innen unentschieden sind, sollten sie gebeten werden, sich zu entscheiden. Danach noch einmal abstimmen lassen. (Kein Zwang!) Falls Wenige unentschieden bleiben, diese zur Beobachtung der Diskussion mittels Beobachtungsbogen einteilen. Bei zu vielen Unentschiedenen oder bei zu geringer Stimmenzahl auf einer Seite endet die KMDD. Der Leiter sollte nicht das Gefühl haben, dass etwas falsch gelaufen ist. Keine Diskussion künstlich herbeiführen! Den Teilnehmern danken und fragen, wie sie die Dilemmaklärung fanden und warum.

10

Die Teilnehmer in Pro- und Contra-Gruppen aufteilen, so dass sie sich gegenüber sitzen: Innerhalb der beiden Gruppen Kleingruppen (3 – 4 Personen) auf die Diskussion vorbereiten lassen. Auf Einhaltung der Gruppengröße achten!

30

Diskussion im Plenum. Die Grundregeln ansagen; #1) Jeder darf sagen, was er will. Aber nur Argumente dürfen bewertet werden, keine Personen! #2) Das Rederecht wandert zwischen den beiden Gruppen hin und her (Pingpong-Regel): Der letzte Redner bestimmt jeweils, wer aus der anderen Gruppe antworten darf. Der Lehrer bzw. die Lehrerin achtet darauf, dass die beiden Regeln eingehalten werden. Er zeigt durch das Zeigen von ein oder zwei Fingern an, welche Regel verletzt wurde. Start der Diskussion (die kleinere Gruppe darf anfangen): »Sie haben gesagt, dass X richtig/ falsch gehandelt hat. Warum? Überzeugen Sie Ihre Gegner mit Ihren Argumenten, dass Sie recht haben!«

10

Nominierung der besten Argumente der Gegner: Die Teilnehmer zunächst zu zweit die Argumente der Gegenseite in Erinnerung rufen lassen. Dann darf jeder sagen, was für ihn oder sie das beste Argument der Gegenseite war. Keine Wiederholung bereits gemachter Vorschläge zulassen, damit verschiedene Argumente vorgeschlagen werden können.

26

Minuten 5

Georg Lind

Plan Änderung Phasen Zweite Abstimmung: »Hat X richtig oder falsch entschieden?« (Stimmen laut auszählen. Das Ergebnis für alle sichtbar notieren.) Richtig: Falsch: Enthaltung:

10

Nachfragen: Hat die Veranstaltung Spaß gemacht? Was haben Sie gelernt? Den Teilnehmern für die Beiträge danken. Ende der KMDD-Sitzung.

Quelle: Lind, Georg: ”Die Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion”, in: Lind, Georg: Moral ist lehrbar. Wie man moralisch-demokratische Kompetenz fördern und damit Gewalt, Betrug und Macht mindern kann. Mit Diskussionstheater, Logos Verlag, Berlin 42019, S. 107 – 115 (vom Autor für diesen Band überarbeitet und mit Ergänzungen versehen).

Die erweiterte Dilemma-Diskussion* Marie-Luise Raters

 Die Dilemma-Methode Die schulpraktische Arbeit mit der Dilemmadiskussion Dilemma-Methode scheint auf den ersten Blick denkbar einfach zu sein. Den Schülerinnen und Schülern wird eines der von Kohlberg erdachten moralischen Dilemmata vorgelegt. Dann werden ihre Antworten analysiert, um den Schülerinnen und Schülern die Struktur ihres moralischen Denkens bewusst zu machen. Anschließend werden ihre Antworten hinterfragt, um sie durch das Herstellen einer produktiven Unzufriedenheit dazu anzuregen, auf der jeweils höheren Stufe eine alternative Antwort mit einer moralisch höherrangigen Begründung zu geben, bis die Schülerinnen und Schüler im Idealfall die sechste und höchste Stufe erreicht haben, auf der sie die vorgelegten Dilemmata unter Rückgriff auf universale rnoralphilosophische Prinzipien lösen können. Schematisch dargestellt könnte eine Unterrichtseinheit zum moralischen Dilemma damit etwa wie folgt1 aussehen:

*

1

Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine in Teilen stark gekürzte Version des originalen Artikels. Die Kürzung beziehen sich auf Textabschnitte, die Themen behandeln, die innerhalb des vorliegenden Bandes bereits ausführlich diskutiert wurden und daher hier nicht erneut einer Erwähnung bedürfen. Vorlagen für die Planung konkreter Unterrichtsreihen finden sich beispielsweise in: Oser, Fritz: »Acht Strategien der Wert- und Moralerziehung«, in: Edelstein, Wolfgang; Oser, Fritz; Schuster, Peter (Hrsg.): Moralische Erziehung in der Schule. Entwicklungspsychologie und pädagogische Praxis, Beltz Pädagogik, Beltz Verlag, Weinheim/Basel 2001, S. 63 –89: S. 79 –89; vgl. auch Pfeifer, Volker: Didaktik des EthikUnterrichts. Bausteine einer integrativen Wertevermittlung, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2009; vgl. auch Dubs, Rolf: Lehrerverhalten. Ein Beitrag zur Interaktion von Lehrenden und Lernenden im Unterricht, Verlag des Schweizerischen Kaufmännischen Verbandes, Zürich 1995; vgl. auch Lind, Georg: Moral ist lehrbar. Handbuch zur Theorie und Praxis moralischer und demokratischer Bildung, Erziehung – Gesellschaft – Schule (EGS-Texte), Oldenbourg Schulbuchverlag, München 2003; vgl. auch die graphische Darstellung zum »vermutlich ältesten Vorschlag zur Methodik von Dilemma-Diskussionen« von Robert E. Galbraith und Thomas M. Jones in Kuld, Lothar; Schmid, Bruno: Lernen aus Widersprüchen. Dilemmageschichten im Religionsunterricht, Auer Verlag GmbH, Donauwörth 2001, S. 154. Dort findet sich der Verweis auf: Galbraith, Robert E.; Jones, Thomas M.: «Teaching Strategies for Moral Dilemmas. An Application of Kohlberg’s Theory of Moral Development to the Social Studies Classroom«, in: Social Education 39, 1975, S. 16 – 22: S. 21; vgl. auch Mauermann; Lutz: »Unterrichtsplanung zur Diskussion eines moralischen Dilemmas in der 8./9. Jahrgangsstufe«, in: Mauermann, Lutz; Weber, Erich (Hrsg.): Der Erziehungsauftrag der Schule. Beiträge zur Theorie und Praxis moralischer Erziehung unter besonderer Berücksichtigung der Wertorientierung im Unterricht, Verlag Ludwig Auer, Donauwörth 1978, S. 192 – 201: S. 198; und vgl. Oser, Fritz; Althof, Wolfgang: Moralische Selbstbestimmung: Modelle der Entwicklung und Erziehung im Wertebereich. Ein Lehrbuch, Klett-Cotta, Stuttgart 1992, S. 107.

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Marie-Luise Raters

Phase

Schülerinnen und Schüler

Aktion

Lehrerin oder Lehrer

1.

Erste intuitive Reaktion

Präsentation eines Dilemmas

Rückversicherung, ob das Dilemma und alle Begriffe etc. verstanden worden sind. Eventuell Klärung

2.

Formulierung der Position mit Begründung

Festlegung einer ersten Position

Klärende Nachfragen

3.

Erläuterung der Position inkl. ihrer Begründungen

Sichtung der verschiedenen Positionen

Schematische Auflistung der Pro- und Contra-Begründungen an der Tafel

4.

Verteidigung der Position mit ihren Begründungen

Diskussion in Kleingruppen oder im Moderation oder OrganisatiKlassenverband on der Kleingruppenarbeit

5.

Selbstkritische Re- Analyse der Begründungsstruktuflexion ren nach Kohlbergs Stufenfolge und Diskussion über Stärken und Schwächen der Begründungen

Moderation ohne Indoktrination

6.

Revision

Erneute Festlegung einer Position

Moderation

Nachbesprechung

Rekapitulation und Auswertung

7.

In einem ersten Schritt wird von der Lehrperson ein moralisches Dilemma präsentiert, bei dem darauf geachtet werden sollte, dass es altersgerecht ist. Die Präsentationsformen können variieren: Das Dilemma kann vorgelesen oder erzählt, aber auch per Video oder per Power-Point-Präsentation präsentiert werden. Nachdem sich die Lehrperson versichert hat, dass alle Schülerinnen und Schüler das Dilemma in seinen moralisch relevanten Grundzügen verstanden haben, geht es in einer zweiten Phase darum, dass die Schülerinnen und Schüler eine erste Stellungnahme abgeben, wie das Dilemma in ihren Augen entschieden werden sollte. In dieser Phase ist es wichtig, dass die Dilemma-Struktur der geschilderten Situation offensichtlich wird. In einem nächsten Schritt sollten die abgegebenen Stellungnahmen mit Hilfe der Lehrperson geordnet und an der Tafel o. ä. festgehalten werden. Dann sollte es darum gehen, Gründe für die Positionen herauszuarbeiten und diese Gründe in Kleingruppen zu diskutieren, wobei Pfeifer hervorhebt, dass in dieser Phase »eine eindeutige und zeitlich begrenzte Aufgabenstellung« 2 wichtig sei und dass die Gruppen möglichst heterogen zusammengesetzt sein sollten. Am Ende dieser Phase sollten die jeweils stärksten Gründe für und wider eine Position exponiert werden. Die Phase der Selbstreflexion ist dann das Herzstück der Dilemma-Methode. Sie stellt besondere Anforderungen an die Lehr-

2

Pfeifer, Volker: Didaktik des Ethik-Unterrichts. Bausteine einer integrativen Wertevermittlung, a.a.O., S. 298.

Die erweiterte Dilemma-Diskussion

29

person, weil sie die Schülerinnen und Schüler in dieser Phase dazu bringen muss, die Struktur ihrer Begründungen und Argumente zu erkennen und im Bestfall zugunsten einer Argumentation zu revidieren, die in Kohlbergs Stufenfolge höher anzusiedeln wäre. In einer letzten abschließenden Phase müsste die Lehrperson den Diskussionsverlauf mit der Klasse rekapitulieren, wobei der Fokus der Aufmerksamkeit auf die Phase der Selbstreflexion zu legen wäre. Besser als durch weitere Detailerläuterungen erschließt sich die Dilemma-Methode vielleicht durch einen Blick auf die Erwartungen, die bis heute mit ihr verknüpft werden.3 Im Vordergrund steht die Erwartung, dass durch den Einsatz der Dilemma-Methode eine »Anhebung des Niveaus der Urteilsbildung« 4 bei den Schülerinnen und Schülern bewirkt werden kann. In diesem Sinne bezeichnen Oser und Althoff die »Stimulierung« einer jeweils »höheren Stufe sensu Kohlberg« in ihrem Lehrbuch Moralische Selbstbestimmung von 1992 als das »übergeordnete Ziel« 5 dieser Methode. Mit diesem Anspruch können sie sich unmittelbar auf Kohlberg berufen. Formuliert wird dieser Anspruch beispielsweise in dem Abschnitt ›Ziele der Erziehung‹ von Kohlbergs Essay Moralische Entwicklung und demokratische Erziehung von 1973. Unmissverständlich stellt Kohlberg hier klar, dass die »offene, ›sokratische‹ Diskussion von Wertkonflikten unter Gleichaltrigen« nur der erste Schritt einer umfassenden Moralerziehung sein und nicht als Selbstzweck betrachtet werden dürfe. Das eigentliche »Ziel des Ethikunterrichts müsse in einer ›Voranbewegung‹ zur nächsten Stufe des moralischen Denkens« 6 gesehen werden. Althoff und Oser verknüpfen mit der Dilemma-Methode zweitens auch die Erwartung einer gerechteren Gestaltung der Schule als »Lebenswelt« und als »Basis für das

3

4

5

6

Prominente Diskussionsbeiträge zu Kohlbergs didaktischer Dilemma-Methode sowie Vorschläge zu einer kreativen Weiterentwicklung finden sich in u.a. in Edelstein, Wolfgang; Oser, Fritz; Schuster, Peter (Hrsg.): Moralische Erziehung in der Schule. Entwicklungspsychologie und pädagogische Praxis, a.a.O. und Oser, Fritz; Althof, Wolfgang: Moralische Selbstbestimmung: Modelle der Entwicklung und Erziehung im Wertebereich. Ein Lehrbuch, a.a.O. So heißt es bei Franzen, Winfried: »Ethikunterricht«, in: Hastedt, Heiner; Martens, Ekkehard (Hrsg.): Ethik. Ein Grundkurs, re 538, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 301– 323: S. 315. Die Äußerung ist interessant, weil sie von einem Didaktiker kommt, der sich nicht ausdrücklich der Dilemma-Methode verpflichtet. Oser, Fritz; Althof, Wolfgang: Moralische Selbstbestimmung: Modelle der Entwicklung und Erziehung im Wertebereich. Ein Lehrbuch, a.a.O., S. 160. Kohlberg, Lawrence: »Moralische Entwicklung und demokratische Erziehung«, in: Lind, Georg; Raschert, Jürgen (Hrsg.): Moralische Urteilsfähigkeit. Eine Auseinandersetzung mit Lawrence Kohlberg über Moral, Erziehung und Demokratie, Reihe Pädagogik, Beltz Verlag, Weinheim/Basel 1987, S. 25 – 43: S.35.

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Marie-Luise Raters

Lernen« 7. Entstanden ist diese Idee aus der Debatte darüber, inwieweit die Schülerinnen und Schüler durch rein hypothetische Dilemmata zum Handeln befähigt werden. Gegen entsprechende Zweifel trat Kohlberg 1974 die Flucht nach vorne an, indem er die Einrichtung einer demokratischen Schule (engl. just community) als zweites didaktisches Element neben der Dilemma-Methode vorschlug. Es sollte sich um eine Schulform handeln, in der die realen Konflikte des Schulalltags nach dem Vorbild der Dilemma-Methode thematisiert und gelöst werden. Anders als Althoff und Oser steht ein Didaktiker wie Lind beispielsweise der Idee jedoch skeptisch gegenüber, weil »von allen Schulen« berichtet worden sei, dass ein solches Projekt so »hohe Anforderungen an alle Beteiligten, an Lehrer, Schulleitung, Eltern, Schüler« gestellt hätte, dass nicht alle bereit gewesen seien, »diese Aufgabe auf sich zu nehmen«.8 Pfeifer verweist zudem auf das schulorganisatorische Problem, dass eine umfassende Umsetzung des Konzepts »wohl nur auf Kosten des Fachunterrichts« erfolgen könne, wobei mit »erheblichem Widerstand nicht nur von Seiten der Schulleitung, sondern auch von Seiten zahlreicher Fachkollegen« und »wohlmöglich auch der Eltern zu rechnen« 9 wäre. Erwartet wird zudem auch die Beförderung von ethischen Tugenden und Kompetenzen. Althoff und Oser exponieren in diesem Zusammenhang Tugenden wie »Toleranz und Offenheit«. Außerdem versprechen sie eine »Stimulierung der Konfliktsensibilität«.10 Mit ähnlicher Stoßrichtung heißt es bei Pfeifer, dass in einer »DilemmaDiskussion die für den Ethikunterricht zentralen Möglichkeiten der Kompetenzförderung fokussiert und versammelt« würden. Konkret exponiert Pfeifer die Kompetenzen der Selbstreflexion, der Empathie durch Perspektivenwechsel, der Kommunikation durch Verbalisierung der eigenen Position, der Argumentation und Begründung, der Achtung vor dem je besseren Argument sowie der Ambiguitätstoleranz gegenüber Zweideutigkeiten und Widersprüchen.11 Nach Kuld und Schmid sollen Dilemma-Diskussionen schließlich »sensibel für fremdes Leid (engl. compassion)« 12 machen. […]

7

8

9 10

11 12

Vgl. dazu Z.B. Oser, Fritz; Althof, Wolfgang: »Die gerechte Schulgemeinschaft. Lernen durch Gestaltung des Schullebens«, in: Edelstein, Wolfgang; Oser, Fritz; Schuster, Peter (Hrsg.): Moralische Erziehung in der Schule. Entwicklungspsychologie und pädagogische Praxis, a.a.O., S. 233 – 267; und vgl. Oser, Fritz: »Lernen durch Gestaltung des Schullebens. Der Ansatz der ›Gerechten Gemeinschaft‹«, in: Wurst, Franz; Rothbucher, Heinz; Donnenberg, Rosemarie (Hrsg.): Aufwachsen in Widersprüchen, Veröffentlichung der Salzburger Internationalen Pädagogischen Werktagungen, Tagungsbericht der 38. Werktagung 1989, Otto Müller Verlag, Salzburg/Wien 1990, S. 11– 115. Vgl. mit Details zum Konzept der ›just community‹ auch Pfeifer, Volker: Didaktik des Ethik-Unterrichts. Bausteine einer integrativen Wertevermittlung, a.a.O., S. 308 – 316. Lind, Georg: »Kohlberg auf dem Prüfstand. Ein fiktives Gespräch über Schule, Demokratie und kognitiv-moralische Entwicklung«, in: Lind, Georg; Raschert, Jürgen (Hrsg.): Moralische Urteilsfähigkeit. Eine Auseinandersetzung mit Lawrence Kohlberg über Moral, Erziehung und Demokratie, a.a.O., S. 93 – 115: S.108. Pfeifer, Volker: Didaktik des Ethik-Unterrichts. Bausteine einer integrativen Wertevermittlung, a.a.O., S. 314. Oser, Fritz; Althof, Wolfgang: Moralische Selbstbestimmung: Modelle der Entwicklung und Erziehung im Wertebereich. Ein Lehrbuch, a.a.O., S. 160. Pfeifer, Volker: Didaktik des Ethik-Unterrichts. Bausteine einer integrativen Wertevermittlung, a.a.O., S. 299. Kuld, Lothar; Schmid, Bruno: Lernen aus Widersprüchen. Dilemmageschichten im Religionsunterricht, a.a.O., S. 111.

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Didaktische Standardeinwände Eine erste didaktische Debatte kreist um die Frage, ob es so etwas wie ›moralische Erziehung‹ überhaupt geben kann.13 Bekanntlich wurde diese Frage unter der Überschrift ›Die Lehrbarkeit der Tugend‹ schon von Sokrates, Platon und Aristoteles gestellt. So alt die Frage auch sein mag, so obsolet ist sie in meinen Augen, weil Moralerziehung selbstverständlich ein sinnvolles und erfolgversprechendes Projekt darstellt. Ebenso eindeutig Position beziehen möchte ich in der Frage, ob die Schule ein angemessener Ort für moralische Erziehung sein kann, weil das in meinen Augen selbstverständlich der Fall ist.14 Damit soll nicht gesagt sein, dass die Schule die primäre moralische Erziehung im Elternhaus ersetzen kann. Sie kann sie aber sinnvoll vertiefen und im Falle von problematischen Elternhäusern in gewissen Grenzen auch gegensteuern und Verschiebungen im Wertehorizont bewirken. Von größerem Gewicht scheint mir jedoch der Einwand der Anwendungsschwierigkeiten der Dilemma-Methode zu sein. Schmid und Kuld beispielsweise heben hervor, dass sowohl die »Zuordnung der Schüleräußerungen« zu Kohlbergs Stufen als auch die »kategoriale Abgrenzung« einzelner Stufen untereinander in der Schulpraxis manchmal »schwierig« 15 seien. Besonders deutlich legt Pfeifer den Finger in diese Wunde. Insgesamt kommt er zu dem Resultat, dass Dilemma-Diskussionen »methodischpraktisch nicht immer leicht zu operationalisieren« seien. Seinen schulpraktischen Erfahrungen zufolge stellt »die unterrichtspraktische Durchführung von Dilemma-Diskussionen« an die »Lehrperson nicht geringe Anforderungen«. So sei beispielsweise die »Schaffung eines guten, vertrauensvollen Diskussionsklimas« eine unabdingbare Voraussetzung für ein erfolgreiches Arbeiten mit dieser Methode. Eine weitere notwendige Voraussetzung sei die Fähigkeit der Lehrperson zu »flexibel und sorgfältig gesetzten Frageimpulsen«. »Sicherlich zu Recht« ist in Pfeifers Augen die »Homogenität und strenge Sequenzialität« von Kohlbergs Stufenfolge kritisiert worden. Entgegen dieser Stufenfolge sei die »Zuordnung bestimmter Schüleräußerungen zu einer bestimmten Stufe« in der Praxis der Dilemma-Methode »selten eindeutig« vorzunehmen, zumal sie immer auch von »entwicklungspsychologischen, situativen und anderen relativierenden Faktoren« und nicht zuletzt von »dem interpretierenden Auge der Lehrperson« 16 abhängig seien. Diesem Einwand ist in meinen Augen stattzugeben.

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Lind, Georg: »Kohlberg auf dem Prüfstand. Ein fiktives Gespräch über Schule, Demokratie und kognitiv-moralische Entwicklung«, in: Lind, Georg; Raschert, Jürgen (Hrsg.): Moralische Urteilsfähigkeit. Eine Auseinandersetzung mit Lawrence Kohlberg über Moral, Erziehung und Demokratie, a.a.O., S. 93. Gestellt wird diese Frage beispielsweise in Lind, Georg: »Kohlberg auf dem Prüfstand. Ein fiktives Gespräch über Schule, Demokratie und kognitiv-moralische Entwicklung«, in: Lind, Georg; Raschert, Jürgen (Hrsg.): Moralische Urteilsfähigkeit. Eine Auseinandersetzung mit Lawrence Kohlberg über Moral, Erziehung und Demokratie, a.a.O., S. 93 – 111: S. 98 – 105. Kuld, Lothar; Schmid, Bruno : Lernen aus Widersprüchen. Dilemmageschichten im Religionsunterricht, a.a.O., S. 129. Pfeifer, Volker: Didaktik des Ethik-Unterrichts. Bausteine einer integrativen Wertevermittlung, a.a.O., S. 181 und S. 299 – 301.

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Ernst nehmen möchte ich auch den Einwand einer möglichen Überfrachtung des EthikUnterrichts durch moralische Dilemmata.17 Selbstverständlich sollte die Dilemma-Methode nicht die einzige Methode eines Ethik-Unterrichts oder Ethik-Studiums sein. Die Schülerinnen und Schüler sollten im Gegenteil möglichst mit mehreren philosophischen und ethischen Methoden vertraut gemacht werden. Der wichtigste didaktische Einwand ist zweifellos der Einwand der nur hypothetischen Dilemmata. Von welchem Wert ist ein Unterricht, der zu moralischen Urteilen führt, von denen nicht sichergestellt ist, dass die Schülerinnen und Schüler sie im praktischen Ernstfall auch in die Tat umsetzen würden? In Fantasie und Fiktion ist es leicht, ein Held oder ein moralisches Vorbild zu sein. Es muss aber offensichtlich auch das Ziel des Ethik-Unterrichts sein, dass dem gut begründeten moralischen Urteil auch die entsprechende Tat folgt.18 Tatsächlich scheint gegen das Problem der rein hypothetischen Dilemmata im EthikUnterricht jedoch kein Kraut gewachsen zu sein. Die einzig denkbare Alternative wäre eine Fokussierung auf ein reales Dilemma, in dem sich ein Mitglied der Schülergruppe gerade befindet. Es bedarf jedoch wohl keiner weiteren Erläuterungen, dass die Lehrperson mit einem solchen Vorgehen wichtige Scham- und Intimitätsgrenzen überschreiten würde. Außerdem müsste sich die Auswahl der Dilemmata dann nach dem willkürlichen Kriterium vollziehen, von welchem Schülerinnen- bzw. Schüler-Dilemma die Lehrperson zufällig gerade Kenntnis hat. Aus Respekt vor den Schülerinnen und Schülern scheint es zum hypothetischen Dilemma keine Alternative zu geben. Man sollte aus dem Einwand der nur hypothetischen Dilemmata jedoch zum einen die Konsequenz ziehen, dass man den Unterschied zwischen realen und hypothetischen Dilemmata im Zuge einer von der Dilemma-Methode geprägten Unterrichtseinheit durchaus auch anspricht und thematisiert. Vor allem aber sollte man die Konsequenz ziehen, die Schülerinnen und Schüler (das gilt erst recht für Studentinnen und Studenten) mit altersgerechten hypothetischen Dilemmata zu konfrontieren, die ihnen in ihrem konkreten Alltag auch tatsächlich begegnen können. Man kann sich Rolf nur anschließen, der in einer Internet-Veröffentlichung betont, dass es »für didaktische Zwecke« in seinen Augen »unerlässlich« sei, dass »Konfliktsituationen« gefunden werden, »in denen Aspekte der Lebens- und Erfahrungswelt der Schüler angesprochen werden«.19 Deshalb sollte vor allem das gute alte Heinz-Dilemma endlich in den lang verdienten Ruhestand geschickt werden. Vielleicht sollte auf konstruierte Dilemmata

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Dieser Einwand wurde in den entsprechenden Gutachten nach dem Schulversuch in NRW im Jahr 1986 erhoben. Vgl. dazu www.learn-line.nrw.de/…ldilemma_rolf.html (Stand: 05.01.2011). Vgl. zum Hiat zwischen moralischem Urteil und tatsächlicher Handlung auch den Sammelband Garz, Detlef; Oser, Fritz; Althof, Wolfgang: (Hrsg.): Moralisches Urteil und Handeln, stw 1393, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1999. www.learn-line.nrw.de/…/dilemma_rolf.html (Stand: 05.01.2011).

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sogar ganz verzichtet und stattdessen auf lebensweltliche Dilemmata, etwa aus der Tagespresse, zurückgegriffen werden.20 […]

 Die 7. Stufe der Moralerziehung Kohlbergs Philosophie des moralischen Dilemmas beruht in meinen Augen auf falschen Voraussetzungen. Tatsächlich lässt sich die Möglichkeit von unauflösbaren moralischen Dilemmata moralphilosophisch nicht ausschließen. Unauflösbare moralische Dilemmata sind aus pragmatischer Sicht ein großes Problem, weil jede Form von Entscheidungsunsicherheit handlungshemmend wirkt. Wenn im Ethik-Unterricht ›das moralische Dilemma‹ auf dem Plan steht, muss deshalb letztlich auch die Möglichkeit des unauflösbaren moralischen Dilemmas thematisiert werden, wenn die Schülerinnen und Schüler auf die moralische Praxis bzw. ›das Leben‹ vorbereitet werden sollen. […] Dem Kohlbergianer ist nun zunächst einmal zuzugestehen, dass es das Problem der Handlungshemmung durch Restzweifel an der getroffenen moralischen Entscheidung auf der 7. Stufe tatsächlich gibt. Ein unauflösbares moralisches Dilemma ist eine Situation, in der ein moralischer Akteur gezwungen ist, sich zwischen zwei Handlungsoptionen zu entscheiden, obwohl beide Handlungs-optionen unter gewissen Rücksichten moralisch falsch sind, ohne dass es einen glücklichen dritten Weg geben würde, bei dem der moralische Akteur nicht gegen ein gewichtiges moralisches Verbot oder Prinzip verstoßen müsste. Wenn der Akteur aus Kants Lügenschrift seinen Freund retten will, muss er lügen, und wenn er dem Aufrichtigkeitsgebot folgt, liefert er seinen Freund einem Mörder aus. Die 7. Stufe der Moralentwicklung ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass der moralische Akteur sich der moralischen Ausweglosigkeit deutlich bewusst ist, die das unauflösbare moralische Dilemma bedeutet. Das heißt, dass ein Akteur der 7. Stufe mit der Diagnose eines unauflösbaren moralischen Dilemmas genau weiß, dass er mit jeder der beiden ihm möglichen Entscheidungen eine moralische Verfehlung begehen muss. Das wiederum ist ein höchst bedrohliches Wissen, weil nach einer moralischen Verfehlung erfahrungsgemäß Schuldgefühle drohen, die sich je nach Intensität im Ernstfall ausgesprochen unangenehm, schmerzhaft und quälend entfalten können. Es läge aus Sicht des moralischen Akteurs deshalb nahe, den Versuch zu unternehmen, die Situation gänzlich zu vermeiden, in der sich die drohenden Schuldgefühle tatsächlich einstellen – die Situation nämlich, dass er seine Entscheidung in die Tat umgesetzt hat. Es läge nahe, dass er die Entscheidung hinauszuzögern versucht, weil er vermeiden will, dass er unter den

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Es ist in meinen Augen unmittelbar nachvollziehbar, wenn Oser und Althof betonen, dass »in einer Reihe von Experimenten« gezeigt werden konnte, dass »lebensgeschichtliche Problemlösungsvorgänge im moralischen Bereich signifikant länger diskutiert werden als künstliche Dilemmata« (Oser, Fritz; Althof, Wolfgang: Moralische Selbstbestimmung: Modelle der Entwicklung und Erziehung im Wertebereich. Ein Lehrbuch, a.a.O., S. 252). Dort ist auch ein Verweis auf: Oser, Fritz: Moralisches Urteil in Gruppen, soziales Handeln, Verteilungsgerechtigkeit. Stufen der interaktiven Entwicklung und ihrer erzieherische Stimulation, stw 335, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1981.

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quälenden Gefühlen leiden wird. Die Diagnose ›unauflösbares moralisches Dilemma‹ ist somit alles andere als eine banale moralphilosophische Diagnose. Es besteht vielmehr die Gefahr, dass eine solche Diagnose handlungshemmend wirkt. Das Problem der Handlungshemmung durch Restzweifel im Falle eines als unauflösbar identifizierten moralischen Dilemmas muss nun gerade auch vom Standpunkt einer Didaktik des Ethik-Unterrichts ernst genommen werden. Schließlich soll der EthikUnterricht die Schülerinnen und Schüler vor allem zu verantwortungsvollem und situationsadäquatem Handeln und nicht (nur) zu richtigen Haltungen und Einsichten führen. Insofern hätte eine didaktische Methode ihren Sinn verfehlt und wäre für den Ethik-Unterricht der Schulen nicht zielführend, wenn sie in einem handlungsgehemmten Zustand münden würde. Eine Antwort auf die Frage, wie sich im Ethik-Unterricht eine Haltung etablieren lässt, aus der heraus die Schülerinnen und Schüler im Ernstfall eines realen unauflösbaren moralischen Dilemmas eine Entscheidung trotz der wegen Restzweifel drohenden Schuldgefühle in die Tat umsetzen können, könnte sich im Zuge einer näheren Analyse dessen herleiten lassen, was es für einen moralischen Akteur eigentlich bedeutet, sich in einem Dilemma zu befinden, das man als unauflösbar identifiziert zu haben glaubt. Von einem ›unauflösbaren moralischen Dilemma‹ sollte man in meinen Augen sprechen, sobald jemand zu einer Entscheidung zwischen zwei inkompatiblen Handlungsoptionen gezwungen ist, für die auch nach sorgfältiger moralischer Reflexion noch jeweils zwingende Gründe zu sprechen scheinen, ohne dass die Ausweichmöglichkeit einer dritten Handlungsoption gegeben wäre. […] Es gibt grundsätzlich zwei Arten, ein moralisches Dilemma aufzulösen. Eine Auflösung ist zum einen möglich, wenn ein dritter Weg gefunden wird, der sich durch die beiden konkurrierenden Handlungsgründe zumindest nicht explizit ausschließt bzw. verbietet, der aber mit deutlich weniger unangenehmen Konsequenzen verbunden ist. Eine zweite Möglichkeit zur Auflösung eines Dilemmas besteht darin, dass sich nach einigem Überlegen die Gründe für eine der beiden Handlungsoptionen als deutlich überlegen oder die drohenden Handlungskonsequenzen in einem Fall als deutlich weniger unangenehm erweisen, wobei auch beides gleichzeitig der Fall sein kann. Bei einem unauflösbaren moralischen Dilemma sind beide Lösungswege aus der Sicht des Akteurs (ob es die ›eine ideale Lösung‹ jenseits der Grenzen menschlicher moralischer Akteure gibt, möchte ich hier nicht diskutieren) verschlossen. Im Falle eines unauflösbaren moralischen Dilemmas sprechen für beide Handlungsoptionen auch nach intensiver moralphilosophischer Reflexion noch gleich starke Gründe, so dass sich die moralisch eindeutig richtige Entscheidung nicht ausmachen lässt. Deshalb bleiben Restzweifel, von denen der moralisch ausgereifte Akteur weiß, dass sie zu Schuldgefühlen führen werden, sobald er die auf unsicherem moralischen Boden gefällte Entscheidung in die Tat umsetzt. Wenn die Frage im Raum steht, was es für einen Akteur bedeutet, sich (tatsächlich) in einem unauflösbaren moralischen Dilemma zu befinden, wird zudem auch der Unterschied zwischen realen und hypothetischen Dilemmata relevant. Das reale Dilemma ist eines, mit dem man im wirklichen Leben konfrontiert ist, während das hypothetische Dilemma ein nur vorgestelltes Dilemma ist. Der Protagonist eines unauflösbaren mo-

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ralischen Dilemmas würde sich in einem realen Dilemma befinden, während sich die Schülerinnen und Schüler, die sich im Rahmen einer von der Dilemma-Methode geprägten Unterrichtseinheit mit der Möglichkeit des unauflösbaren moralischen Dilemmas befassen sollen, in einem hypothetischen Dilemma befinden. Mindestens drei Merkmale unterscheiden reale Dilemmata in pragmatisch folgenreicher Weise von hypothetischen Dilemmata. Hypothetische und reale moralische Dilemmata unterscheiden sich in pragmatischer Hinsicht erstens dadurch, dass das hypothetische Dilemma niemals von der Entscheidungsphase in eine Handlungsphase übergeht, während im Falle des realen Dilemmas ein unmittelbarer Entscheidungsdruck besteht, weil auch das Verweigern einer Entscheidung zu einer Form von Handlung mit entsprechenden Konsequenzen wird. Während man im Falle des hypothetischen Dilemmas die Entscheidung durchaus verweigern bzw. offen lassen kann, ist genau das im Falle des realen Dilemmas nicht möglich, weil dort jedes Hinauszögern oder Verweigern einer Entscheidung faktisch eine Entscheidung für oder wider eine der beiden Optionen mit den entsprechenden Konsequenzen bedeutet. Wenn ein Akteur beispielsweise in einem Sterbehilfe-Dilemma steckt, würde ein Hinauszögern seiner Entscheidung faktisch eine Entscheidung gegen Sterbehilfe bedeuten, weil der Betroffene (zumindest in der Zeit des Hinauszögerns) weiter leidet.21 Ein zweiter wichtiger Unterschied besteht darin, dass im realen Dilemma mit dem unmittelbaren Entscheidungsdruck in aller Regel ein großer Zeitdruck verbunden ist, und im hypothetischen Dilemma nicht. Wenn der Ethik-Unterricht mit einem hypothetischen moralischen Dilemma konfrontiert, sollen die Schülerinnen und Schüler eine möglichst sorgfältige rationale Analyse des Dilemmas vornehmen. Wenn ein Akteur hingegen mit einem realen moralischen Dilemma konfrontiert ist, muss er möglichst schnell eine Entscheidung treffen und in die Tat umsetzen. Wer sich in einem hypothetischen Dilemma befindet, hat in aller Regel die Zeit, sich kompetenten Rat zu holen. So könnten sich Schülerinnen und Schüler, die im Unterricht mit dem Sterbehilfedilemma konfrontiert werden, beispielsweise entschließen, sich an die Ethik-Kommission des nächstliegenden Krankenhauses zu wenden. Sie könnten aber auch Gedankenexperimente anstellen, um eventuell einen Ausweg aus der Dilemma-Situation zu finden, der sich auf den ersten Blick nicht eröffnete, oder Planspiele erfinden, um die Konsequenzen der möglichen Handlungsoptionen zu prüfen. Die Entscheidung eines realen moralischen Dilemmas hingegen muss in aller Regel unter großem Zeitdruck getroffen werden. Das wiederum bedeutet, dass sie sehr viel weniger reflektiert sein kann als im Falle des hypothetischen Dilemmas. Wegen dieses Zeitdrucks steht die Entscheidung im realen Dilemma in aller Regel auf entschieden unsichererem Boden als im hypothetischen Dilemma – obwohl das mit Rücksicht auf die möglichen Folgen eigentlich umgekehrt sein sollte. Mit den möglichen Folgen ist der pragmatisch wichtigste Unterschied zwischen realen und hypothetischen Dilemmata angesprochen: Während das reale Dilemma

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Sinnott-Armstrong, Walter: Moral Dilemmas, Blackwell Publishing Ltd., Oxford 1988, S. 5 –8.

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ganz reale Folgen für den Entscheidenden und gegebenenfalls auch (das gilt im Falle des realen moralischen Dilemmas) für andere Betroffene hat, bleibt man im Falle des hypothetischen Dilemmas von solchen realen Folgen verschont.22 Deshalb könnte man im Falle des hypothetischen moralischen Dilemmas einen Computer dazu programmieren, bis ans Ende aller Zeiten moralphilosophische Gewichtungen vorzunehmen und nach alternativen Handlungsmöglichkeiten zu suchen. Man kann den Entscheidungsfindungsprozess aber auch zu einem beliebigen Zeitpunkt einfach abbrechen. Beides bleibt im Falle des hypothetischen moralischen Dilemmas pragmatisch folgenlos. Genau von dieser Folgenlosigkeit kann im Falle des realen moralischen Dilemmas keine Rede sein. Jenseits des Ethik-Unterrichts und jenseits von Kohlbergs Versuchslabor konfrontiert vor allem das Theater mit hypothetischen Dilemmata. Die Figur der Nora in Ibsens gleichnamigem Theaterstück befindet sich beispielsweise in einem realen moralischen Dilemma: Sie muss die Entscheidung treffen, ob sie einen Betrug begeht, um eine Heilbehandlung für ihren Mann bezahlen zu können. Wie das Theaterstück zeigt, wird sie viele Jahre später schmerzhaft mit den Folgen ihrer moralischen Entscheidung konfrontiert. Nora muss die Folgen tragen, als ein Erpresser auftaucht. Der Zuschauer hingegen befindet sich lediglich in einem hypothetischen Dilemma, das vielleicht mit Nervenkitzel und hoher reflexiver Anstrengung verbunden ist, aber nie mit wirklicher Gefahr. Das Beispiel zeigt, wie groß der Graben zwischen den realen und den hypothetischen Dilemmata ist.

 Schülerinnen und Schüler in einer hypothetischen Dilemma-Situation Um eine angemessene Dilemma-Entscheidung treffen zu können, müssen sie aber auch wissen, was es bedeuten würde, sich real bzw. tatsächlich in dem Dilemma zu befinden, das im Ethik-Unterricht zur Debatte steht. Zum jetzigen Zeitpunkt wissen die Schülerinnen und Schüler, dass im Falle eines unauflösbaren moralischen Dilemmas wesentliche Restzweifel an jeder möglichen Entscheidung bleiben, die im Falle eines realen Dilemmas wiederum zu Schuldgefühlen führen können, weil die Entscheidung eines realen Dilemmas für die von der Entscheidung Betroffenen ja ganz reale Folgen hat. Sie wissen aber auch, dass ein Akteur eines realen moralischen Dilemmas tatsächlich eine Entscheidung treffen muss, weil jedes Hinauszögern der Entscheidung faktisch auch eine Entscheidung wäre. Von diesem Wissen ausgehend ist es meines Erachtens nach nur ein kleiner Schritt zu der Einsicht, dass ein Verweigern einer Entscheidung auf außenstehende Beobachter

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Wenn hier gesagt wird, dass das hypothetische Dilemma keine realen Folgen hat, soll nun ausdrücklich nicht behauptet werden, dass das hypothetische Dilemmata schlicht folgenlos bliebe. Tatsächlich ist das Gegenteil ist der Fall. Durch die Beschäftigung mit hypothetischen Dilemmata lernen die Schüler schließlich, jenseits der Verantwortung einer realen Entscheidung, mit moralischen Konflikten umzugehen und sich über moralische Handlungsgründe zu verständigen. Ich halte die Beschäftigung mit den hypothetischen moralischen Dilemmata in unseren Schulen also für alles andere als für ein sinnloses Spiel.

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erbärmlich und verächtlich wirken würde, sobald es um eine Situation geht, in der ein Verweigern der Entscheidung faktisch einer Entscheidung gleichkommt, jedoch ohne dass der Akteur die Entscheidung in Übernahme seiner Verantwortung für die Situation tatsächlich ausdrücklich getroffen hätte.23 Plausibilisieren lässt sich das am Beispiel der biblischen Figur des Pontius Pilatus. Dieser ist in die Geschichte eingegangen als eine Person, die eine Entscheidung eines moralischen Dilemmas schlicht verweigert hat, obwohl er sich über die Tatsache im Klaren sein musste, dass diese Verweigerung faktisch einer Entscheidung mit gravierenden Konsequenzen für andere gleich kam. Als Statthalter Roms im besetzen Jerusalem war er für die Entscheidungen über Hinrichtungen zuständig. Der Hohe Rat der Stadt hatte Jesus von Nazareth als Gotteslästerer und Aufwiegler zum Tode verurteilt. Vollstreckt werden durfte ein solches Urteil jedoch erst, wenn es von Pontius Pilatus als Vertreter Roms bekräftigt wurde. An Jesus von Nazareth konnte Pilatus keine Schuld finden. Insofern befand sich Pilatus in einem moralischen Dilemma, nämlich in einer Situation, in der er zwischen zwei sich ausschließenden Handlungsoptionen entscheiden musste, wobei für beide jeweils sehr gute moralische Gründe sprachen. Wenn er Jesus seinen Gerechtigkeitsvorstellungen entsprechend freigesprochen hätte, hätte er als Statthalter Roms einen vom Hohen Rat initiierten Aufstand riskiert. Wenn er Jesus jedoch hätte hinrichten lassen, hätte er gegen seine Gerechtigkeitsvorstellungen verstoßen. Wie die Bibel berichtet, verweigerte Pilatus die Entscheidung mit einer Geste des Händewaschens. Mit dieser Geste steht Pontius Pilatus bis heute stellvertretend für alle, die sich einem moralischen Dilemma durch eine Verweigerung der Entscheidung entziehen wollen, obwohl sie de facto wissen, dass das (wie es in jedem echten moralischen Dilemma der Fall ist) ebenfalls einer Entscheidung gleichkommt: Jesus von Nazareth wurde hingerichtet, so wie es der Hohe Rat der jüdischen Priester gefordert hatte. Pilatus wusste, dass seine Entscheidungsverweigerung einer Verurteilung gleichkam, ebenso wie er wusste, dass es seine Pflicht gewesen wäre, aktiv eine Entscheidung zu treffen. Dennoch verweigerte er diese, weshalb er von der Geschichte für seine Entscheidungsschwäche verachtet wird: Bis heute steht die metaphorische Redeweise ›seine Hände in Unschuld waschen‹ für hilflos-erbärmliche Versuche des Abwälzens von Verantwortung.

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Dieser Gedanke findet sich der Sache nach auch beim späten Kohlberg. In dem mit Candee verfassten Essay The Relationship of Moral Judgment to Moral Action von 1984 wird das Gefühl der »Schuld« in einer Seitenbemerkung nämlich als »emotionale Reaktion auf die innere Inkonsistenz« erklärt, die sich einstellt, sobald ein Akteur so handelt, »dass es dem eigenen Verantwortungsurteil nicht entspricht« (Kohlberg, Lawrence; Candee, Daniel: »The Relationship of Moral Judgement to Moral Action«, in: Kohlberg, Lawrence: Essays on Moral Development, Vol. II: The Psychology of Moral Development. The Nature and Validity of Moral Stages, a.a.O., S. 403. Kohlberg zitiert hier zustimmend Blasi, Augusto: »Moral Cognition and Moral Action«, in: Developmental Review 3, 1983, Issue 2, S. 178 – 210: S. 204. Ich glaube zwar nicht, dass man das Gefühl als ›Schuldgefühl‹ bezeichnen sollte; in meinen Augen wäre der Begriff ›Scham‹ (als emotionale Reaktion darauf, dass man sich für seine Feigheit selbst verachtet) adäquater. Dennoch aber legt Kohlberg den Finger in die Wunde, wenn er hervorhebt, dass sich bei einem Auseinanderklaffen von Verantwortungsurteil und tatsächlicher Handlung quälende Gefühle einstellen.

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Auf gänzlich andere Reaktionen stößt jedoch derjenige, der sich im Falle eines moralischen Dilemmas der ganzen Tragweite seiner Entscheidung zum Trotz bewusst ist und dezidiert eine Entscheidung trifft: Er wird in aller Regel zwar nicht unbedingt auf Zustimmung, aber immerhin doch auf Respekt stoßen. Das hat wiederum seinen guten Grund: Wer bewusst und überlegt eine Entscheidung fällt, kann diese Entscheidung im Nachhinein rational begründen. Vor allem aber übernimmt er die Verantwortung, welche die Situation an ihn stellt. Damit verdient er sich den Respekt von Beobachtern. So hätte Pontius Pilatus vermutlich ein anderes Bild von sich und seinem Charakter in der Geschichte hinterlassen, wenn er eine dezidierte Entscheidung für oder wider die Kreuzigung getroffen hätte. Zwar wäre er mit keiner Entscheidung auf die Zustimmung aller Betroffenen gestoßen. Um das Urteil des Hohen Rates zu bestätigen, hätte er seine eigenen Überzeugungen verwerfen und einen in seinen Augen Unschuldigen zum Tode verurteilen müssen. Hätte er Christus jedoch freigesprochen, hätten die Anhänger des Hohen Priesters Kaiaphas sicherlich protestiert, und vielleicht wäre es sogar zu einem Aufstand gekommen. Beide Entscheidungen wären also mit einem hohen Preis verbunden gewesen – aber wenn er die Folgen zu tragen bereit gewesen wäre, hätte sich Pontius Pilatus den Respekt der Geschichte verdient, in der er aufgrund seiner Entscheidungsverweigerung als verachtenswerte Figur gehandelt wird. Wer sich einer moralisch schwierigen Situation stellt und eine Entscheidung trifft, die er vor anderen begründen und zu der er im Folgenden auch stehen kann, verdient damit in aller Regel zwar nicht die Zustimmung, aber immerhin doch den Respekt der Beobachter. Wer Verantwortung übernimmt, erntet nicht unbedingt Zustimmung, aber immerhin Respekt. Wer seiner Verantwortung hingegen ausweicht, darf weder mit Zustimmung noch mit Respekt rechnen. Das kann man den Schülerinnen und Schülern an der Figur des Pontius Pilatus veranschaulichen, um eine Haltung zu etablieren, aus der heraus sie im Ernstfall eines realen unauflösbaren moralischen Dilemmas ihre Entscheidung trotz der durch Restzweifel drohenden Schulgefühle in eine Handlung umsetzen können. Das Faktum, dass sich der Protagonist eines unauflösbaren Dilemmas tatsächlich schuldig macht, lässt sich demnach durch keine Wortkosmetik verharmlosen oder verbergen. Deshalb wird es schließlich nötig sein, sich der Tatsache zu stellen, dass man sich im Falle eines unauflösbaren moralischen Dilemmas letztendlich wirklich schuldig machen wird, so dass der moralische Akteur tatsächlich Schuldgefühle empfinden wird, die sich wegen ihres realen Gehalts nicht ganz beseitigen, sondern im Bestfall lediglich ablindern lassen. Wie Williams treffend betont, lassen sich Schuldgefühle erfahrungsgemäß am besten dadurch ablindern, dass man sich um Wiedergutmachung und letztlich um eine Entschuldigung (im wörtlichen Sinne) durch die Opfer der Entscheidung bemüht. Sollte das nicht möglich sein, hat es sich bewährt, den Geschädigten zumindest Respekt zu bekunden. An diese Erfahrung sollte die Dilemma-Methode anknüpfen. In dieser letzten Phase sollte der Ethik-Unterricht deshalb die Sphäre der moralischen Reflexion im engeren Sinne verlassen und ästhetisch kreativ werden, indem er die Schülerinnen und Schüler anleitet, den Schuldgefühlen entsprechende Rituale der Wiedergutmachung oder auch der Erinnerung zu erarbeiten und entgegenzustellen. Auf theoretischer Basis kann hier nicht weiter ins Detail gegangen werden, da die ästhetischen Rituale der

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speziellen Dilemma-Situation konkret angepasst sein müssen, um adäquat und angemessen zu sein. Deshalb möchte ich an einem Beispiel plausibilisieren, was gemeint ist.

 Die erweiterte Dilemma-Diskussion Eine Unterrichtseinheit, in der die erweiterte Dilemma-Methode in allen Etappen einschließlich der Phase der Erfindung von Ritualen der Wiedergutmachung und Erinnerung eingesetzt wird, würde das didaktische Ziel verfolgen, die Schülerinnen und Schüler auch dann zu einem Handeln aus moralisch guten Gründen zu befähigen, wenn eine moralische Entscheidung nicht ohne Restzweifel getroffen werden kann, so dass nach der Umsetzung der Entscheidung in Handlung Schuldgefühle drohen. In folgenden Etappen könnte die Unterrichtseinheit vielleicht verlaufen. (1) In einer ersten Phase sollte ein moralisches Dilemma präsentiert werden, von dem die Lehrperson annimmt, dass es sich dabei um ein unauflösbares moralisches Dilemma handelt.24 Die erweiterte Dilemma-Methode lässt sich nur bei moralisch schon sehr weit fortgeschrittenen Lerngruppen sinnvoll einsetzen. Auch daran sollte das zur Diskussion gestellte Dilemma angepasst sein. Als Beispiel würde ich den berühmten Fall des »Baby Doe« vorschlagen, wie es in dem Buch Should the Baby live von Peter Singer und Helga Kuhse von 1985 vorgestellt wird. Es handelt sich um ein Baby, das mit einem Down-Syndrom sowie mit einer schweren Missbildung der Speiseröhre zur Welt kam.25 Obwohl auch die Eltern von Baby Doe das Kind nicht wollten, ordneten die Gerichte eine lebenserhaltende Operation an. Bevor diese jedoch stattfinden konnte, starb das Baby. Daraufhin bekam die Familie einen Brief von einer Familie West, deren Kind 18 Monate zuvor mit denselben Behinderungen geboren, aber operiert worden war. In dem Brief heißt es, dass das Kind »in den 18 Monaten seines Lebens aufgrund seiner Missbildungen, der Operationen und den damit verbundenen anschließenden Komplikationen viel Schmerzen, Leid und Elend erfahren« musste. Dem Brief zufolge ist das Kind der Familie West zum Zeitpunkt seiner Abfassung »immer noch nicht gesund und nicht in der Lage, durch den Mund Nahrung aufzunehmen«. Der Brief schließt mit der Bemerkung, dass es für die Eltern »wirklich schwer« sei, »daneben zu stehen und all dem zuzuschauen«.26 Wenn die Schülerinnen und Schüler die Entscheidung zu treffen hätten, wie mit Baby Doe und Baby West umgegangen werden soll – wie würden sie entscheiden? In einem ersten Schritt sollte die Lehrperson das Dilemma vorstellen und

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Dass ein moralisches Dilemma in einem objektiven Sinne tatsächlich nicht aufzulösen ist, kann man nicht behaupten, weil es ja immer sein kann, dass man die eine richtige Lösung nicht gefunden hat. Ein Down-Syndrom allein kann natürlich ausdrücklich kein Grund für die nachfolgenden Überlegungen sein. Moralisch relevant ist ausschließlich der Schmerz des Babys. Kuhse, Helga; Singer; Peter: Should the Baby live? The Problem of Handicapped Infants, Oxford University Press, Oxford/New York/Melbourne 1985. Im Text zitiert nach: Kuhse, Helga; Singer; Peter: Muss dieses Kind am Leben bleiben? Das Problem schwerstgeschädigter Neugeborener, von der Autorin und dem Autor überarbeitete und erweiterte deutsche Ausgabe, übers. von Schust, Jutta, Harald Fischer Verlag, Erlangen 1993, S. 28 und S. 45.

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gegebenenfalls die wichtigsten medizinischen Details erklären. Vielleicht könnte sie den Schülerinnen und Schülern auch mit Hilfe von Abbildungen etc. eine Vorstellung davon vermitteln, was eine Missbildung der Speiseröhre für die Säuglinge bedeutet. (2) In einem zweiten Schritt sollen die Schülerinnen und Schüler, ganz dem Verfahren der konventionellen Dilemma-Methode entsprechend, eine erste Entscheidung treffen und begründen, die dann im Klassenverband diskutiert wird. Die Lehrperson kann die Lösungsvorschläge an der Tafel festhalten. (3) In der darauffolgenden Stufe könnte es um die Frage gehen, ob sich das vorliegende Dilemma unter Rekurs auf situationsunspezifische moralphilosophische Prinzipien auflösen lässt, wie es Kohlbergs Philosophie des moralischen Dilemmas behauptet. Um eine Position zu dieser Frage zu finden, sollten die Schülerinnen und Schüler wie in der 5. Etappe der erweiterten Dilemma-Methode versuchen, das moralphilosophische Prinzip zu finden, mit dem sich das vorliegende Dilemma den theoretischen Vorgaben von Kohlbergs Philosophie des moralischen Dilemmas entsprechend eindeutig und ohne jeden Restzweifel auflösen lassen soll. Insofern man es nicht mit einer sehr homogenen Lerngruppe zu tun hat (beispielsweise in einer eindeutig konfessionell geprägten Schule), wird die Schülergruppe relativ bald zu dem Resultat kommen, dass die verschiedenen Prinzipien der Philosophie zu unterschiedlichen Handlungen führen würden. Würde man mit Thomas von Aquin naturrechtlich argumentieren, müssten die Babys wohl am Leben erhalten werden. Schopenhauers Mitleidsmoral würde hingegen wohl ebenso zu schmerzfreiem Töten anweisen wie die verschiedenen Varianten utilitaristischer Moralprinzipien. (4) In einer nächsten Phase der Unterrichtseinheit sollte der Eindruck der Heterogenität der Positionen, die in der professionellen Moralphilosophie mit dem Anspruch auf Universalisierbarkeit vertreten werden, verstärkt und bestätigt werden. Dazu könnten beispielsweise einschlägige moralphilosophische Texte von den Schülerinnen und Schülern in Kleingruppen rekonstruiert und erarbeitet werden. Die Texte sollten durch die Lehrperson so ausgewählt worden sein, dass das moralphilosophische Grundmuster besonders deutlich wird, so dass die Schülerinnen und Schüler möglichst rasch erkennen können, ob der Autor ausgehend von einer religiösen Position argumentiert, beispielsweise als Deontologe oder als Utilitarist. Folgende Texte bieten sich zum vorliegenden Thema an: (4.1) Die Lehrperson könnte eine Kleingruppe zunächst mit einem entsprechend gekürzten Auszug aus dem von Helga Kuhse und Peter Singer im Jahr 1985 veröffentlichten Buch Should the Baby live konfrontieren.27 Die Autoren plädieren hier für ein schmerzfreies Töten von schwerstbehinderten Babys. Dafür führen sie im Wesentlichen zwei Argumente ins Feld. Das erste Argument lautet, dass das Leben der Kinder wertlos sei in dem Sinne, dass sie niemals ein menschenwürdiges Leben ohne Schmerzen werden führen können. Das zweite Argument lautet, dass ein aktives Töten für das Baby mit weniger Leid verbunden sei als unzählige Operationen auf der einen oder ein Sterbenlassen auf der anderen Seite.

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Kuhse, Helga; Singer; Peter: Should the Baby live? The Problem of Handicapped Infants, a.a.O.

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(4.2) Zur Diskussion stellen könnte die Lehrperson außerdem den Essay Zur EuthanasieDiskussion in den USA von Adrian Holderegger aus dem Jahr 1999.28 Mit Rekurs auf die katholische Doppelwirkungslehre (die von der Lehrperson gesondert erklärt werden müsste) vertritt Holderegger hier die Auffassung, dass die Verabreichung von sehr starken Schmerzmitteln im Falle von schwerstbehinderten Säuglingen erlaubt sei, insofern die eigentliche Absicht der Medikamentengabe die Schmerzlinderung sei und die Tötung des Säuglings lediglich mit in Kauf genommen würde. (4.3) Ebenfalls einbringen könnte die Lehrperson den Essay Das missgebildete Kind von Richard M. Hare, in dem die Auffassung vertreten wird, dass man das Leben von schwerstgeschädigten Säuglingen nicht erhalten sollte, damit die Möglichkeit besteht, dass die Eltern an seiner Statt ein gesundes Geschwisterkind zur Welt bringen werden, dass die Chance auf ein ungleich glücklicheres Leben hätte.29 (4.4) Wenn die Lehrperson darüber hinaus eine provokante Position zur Diskussion stellen will, würde sich der Essay Ethische Probleme beim Behandeln einiger schwer geschädigter Kinder von John Harris anbieten, der kompromisslos die Auffassung vertritt, dass schwerstgeschädigte Menschen überhaupt kein Lebensrecht besitzen.30 (4.5) Um demgegenüber einen Kontrapunkt zu setzen, könnte man die Antworten zur Diskussion stellen, die beispielsweise Lorber und Anscombe auf die radikale Position von Harris gegeben haben.31 (5) Damit die Schülerinnen und Schüler selbst zu der Einsicht gelangen, dass sich zumindest das vorliegende Dilemma mit den Mitteln der Moralphilosophie keineswegs so eindeutig auflösen lässt, wie es Kohlberg in seiner Philosophie des moralischen Dilemmas behauptet, sollten sie dazu angehalten werden, die Position des von ihnen rekonstruierten Textes vor dem Klassenverband so gut wie möglich zu verteidigen. Dazu bietet sich die Talk-Show-Methode an. Es werden Kleingruppen von jeweils drei Personen gebildet; jede Kleingruppe benennt dann eine Moderator-Person, eine ProPerson und eine Contra-Person. Die Moderator-Person eröffnet die Sitzung mit Hin-

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Holderegger, Adrian: »Zur Euthanasie-Diskussion in den USA«, in: Holdregger, Adrian: Das medizinisch assistierte Sterben: Zur Sterbehilfe aus medizinischer, ethischer, juristischer und theologischer Sicht, Studien zur theologischen Ethik, Universitätsverlag Freiburg i.Ue., Verlag Herder, Freiburg i. Br. 1999, S. 123 – 137. Hare, Richard M: »Survival of the Weakest«, in: Gorovitz, Samuel; Jameton, Andrew L.; Macklin, Ruth; O’Connor, John M.; Perrin, Eugene V.; St. Clair, Beverly Page; Sherwin, Susan (Hrsg.): Moral Problems in Medicine, Prentice Hall, Englewood Cliffs, NJ 1976, S. 369 – 375. Die deutsche Übersetzung lautet: Hare, Richard M.: »Das missgebildete Kind. Moralische Dilemmata für Ärzte und Eltern«, in: Leist, Anton (Hrsg.): Um Leben und Tod, stw 846, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1992, S. 374 – 384. Harris, John: «Ethical Problems in the Management of Some Severely Handicapped Children”, in: Journal of Medical Ethics 7, 1981, S. 107– 120. Die deutsche Übersetzung lautet: Harris, John: »Ethische Probleme beim Behandeln einiger schwer geschädigter Kinder«, in: Leist, Anton (Hrsg.): Um Leben und Tod, a.a.O., S. 349 – 359. Lorber, John; Anscombe, Gertrud E. M.; Cousine, Douglas J.: »Commentaries – Reply«, in: Journal of Medical Ethics 7, 1981, S. 120 – 124; Journal of Medical Ethics 8, 1982, S. 40 – 41. Die deutsche Übersetzung lautet: Lorber, John; Anscombe, Gertrud E. M.; Cousine, Douglas J.: »Kommentare«, in: Leist, Anton (Hrsg.): Um Leben und Tod, a.a.O., S. 360 – 369.

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Marie-Luise Raters

tergrunderläuterungen. Dann rekonstruiert die Pro-Person ihre Position, die von der Contra-Position anschließend kritisiert wird. Nach einer kurzen Verteidigung durch die Pro-Person öffnet die Moderator-Person die Diskussion für den gesamten Klassenverband. Für die Lehrperson gilt es, die Moderator-Person darauf vorzubereiten, dass sich die Debatte vor allem auf die Universalisierbarkeit der zur Disposition gestellten Lösung konzentriert. Wenn alles gemäß der Unterrichtsplanung verläuft, kommt die Klasse nach mehreren solcher Runden zu dem Resultat, dass es mehrere vergleichbar gut begründete moralphilosophische Lösungsvorschläge gibt, die zumindest soweit miteinander konkurrieren können, als dass keiner der Lösungsvorschläge so deutlich von sich überzeugen kann, um das Dilemma als gelöst betrachten zu können. […] (6) Damit ist der Zeitpunkt gekommen, das Prinzip des situativ begründeten Prinzipienverstoßes zur Anwendung kommen zu lassen. (6.1) Voraussetzung ist, dass dieses Prinzip den Schülerinnen und Schülern aus vorangegangenen Unterrichtseinheiten zur erweiterten Dilemma-Methode bekannt und seine Anwendung weitgehend vertraut ist. Im Rahmen der jetzt skizzierten Unterrichtseinheit zum unauflösbaren moralischen Dilemma kann es nämlich nicht um eine Etablierung dieses Prinzips gehen. Tatsächlich wird die Schülergruppe im Ernstfall vermutlich mit dem Prinzip des begründeten Prinzipienverstoßes konfrontiert werden, welches sich im Falle von hypothetischen Dilemmata in besonderem Maße stellt. Die Schülergruppe wird sich jetzt mit dem Problem konfrontiert sehen, dass das Resultat der Anwendung des Prinzips des begründeten Regelverstoßes ganz wesentlich davon abhängt, was die jeweilige Situation vorgibt und was man über die individuelle Situation als moralischer Akteur weiß bzw. wissen kann. Wenn die Lehrperson die Schülerinnen und Schüler auffordert, das Dilemma unter Anwendung des Prinzips des situativ begründeten Prinzipienverstoßes wenigstens zu entscheiden, wenn es sich mit den Mitteln der Moralphilosophie schon nicht auflösen lässt, ist zu erwarten, dass die Schülerinnen und Schüler ihre Entscheidung von situativen Komponenten abhängig machen, über die in der vorliegenden Situation nur spekuliert werden kann, von denen man in einer realen Dilemma-Situation aber wirkliches Wissen haben kann. So würde ich beispielsweise erwarten, dass der Lebenswille des Babys eine große Rolle spielen soll, oder auch die Stabilität der elterlichen Partnerschaft oder die Religion der Eltern oder die Einstellung der Eltern gegenüber Behinderungen. Über weitere Details zu theoretisieren, wäre an dieser Stelle nicht nur überflüssig, sondern sogar regelrecht störend: Das Prinzip des situativ begründeten Prinzipienverstoßes stößt im Falle des hypothetischen Dilemmas schnell an seine Grenzen, weil es auf der Kenntnis von individuellen situativen Faktoren basiert. (6.2) Um das Problem zu lösen, sollte die Lehrperson den Schülerinnen und Schülern die Anregung geben, dass sie sich keineswegs auf eine Entscheidung festlegen müssen, sondern dass es vielmehr erlaubt sei, für bestimmte Fälle eine Entscheidung zu treffen und für anders gelagerte Fälle eine andere. Damit sich der Prozess der Entscheidungsfindung nicht in Details verliert, sollte die Lehrperson allerdings gleichzeitig die Anweisung geben, dass die Details der fiktiven Situationen von den Kleingruppen festgelegt werden, bevor sie sich um eine Entscheidungsfindung unter Anwendung des Prinzips des situativ begründeten Regelverstoßes bemühen.

Die erweiterte Dilemma-Diskussion

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(7) Der siebte Schritt ist die entscheidende Gelenkstelle der Unterrichtseinheit. Hier geht es um die Plausibilisierung des pragmatischen Unterschiedes zwischen der zweifelsfreien und restlosen Auflösung eines moralischen Dilemmas im Gegensatz zu einer bloßen Entscheidung des Dilemmas, mag diese Entscheidung auch noch so gut begründet sein. Damit sich dieser Unterschied den Schülerinnen und Schülern erschließt, können zwei Wege beschritten werden: (7.1) Die Kleingruppen können einmal aufgefordert werden, selbst Einwände gegen ihre eigene Position zu formulieren. Je besser ihnen dies gelingt, umso stärker werden ihre Zweifel an der Eindeutigkeit ihrer vorangegangenen Entscheidung sein. (7.2) Es besteht auch die Möglichkeit, im Zuge von Rollenspielen die Situation der Eltern nach der Entscheidung zu antizipieren. Ein ästhetisches Mittel, sich die Situation nach der Entscheidung auch im Falle eines hypothetischen Dilemmas zu vergegenwärtigen, könnte darin bestehen, dass die Schülerinnen und Schüler aufgefordert werden, in die Rolle der Eltern zu schlüpfen und einen Tagebucheintrag zu verfassen, dessen Handlung eine Woche nach der Umsetzung der Entscheidung datiert sein könnte. Das intendierte Ziel der siebten Phase ist erreicht, wenn die Schülerinnen und Schüler realisieren, dass jede mögliche Entscheidung mit so gravierenden Folgen für die Eltern, für das Baby bzw. für alle Beteiligten verbunden ist, dass das Dilemma nicht als reibungslos aufgelöst gelten kann. Das intendierte Ziel ist erreicht, wenn aller Reflexion und moralphilosophischer Anstrengung zum Trotz Restzweifel bleiben, ob die Eltern ohne Schuldgefühle mit der Entscheidung weiterleben können. (8) Sollte dieses Resultat mit den Schülerinnen und Schülern tatsächlich erreicht werden, ist der Zeitpunkt für das Pontius-Pilatus-Argument gekommen, mit dem die Schülerinnen und Schüler auf reale Dilemma-Situationen vorbereitet werden sollen, indem sie lernen, Restzweifeln zum Trotz ihren moralischen Entscheidungen entsprechend zu handeln, wenn sie sich sicher sein können, dass sie die moralische Entscheidung nach sorgfältiger Abwägung verantwortungsvoll getroffen haben und dass es keine situativ bessere Entscheidungsmöglichkeit gibt. Dass im Falle des Säuglingsdilemmas unmittelbarer Entscheidungs- und Handlungsdruck bestehen würde, falls Eltern im realen Leben in ein solches Dilemma gerieten, könnte man den Schülerinnen und Schülern auch unter den Bedingungen eines hypothetischen Dilemmas deutlich machen, indem man sie auffordert, die Situation zu beschreiben, die entstünde, wenn die Eltern ihre Entscheidung hinauszögern oder gar ganz verweigern würden. Es würde vermutlich relativ schnell deutlich, dass im Falle des Säuglingsdilemmas unter realen Bedingungen jedes Herauszögern und erst recht ein Verweigern der Entscheidung durch die verantwortlichen Eltern einer Entscheidung für ein qualvolles Sterbenlassen gleich käme. Wenn sich den Schülerinnen und Schülern die Verächtlichkeit einer solchen Strategie im Zuge ihrer Überlegungen zu ihren Folgen nicht sowieso schon erschlossen hat, könnte die Lehrperson historische Figuren wie etwa Pontius Pilatus ins Spiel bringen. (9) Im Bestfall haben die Schülerinnen und Schüler im Laufe der Unterrichtseinheit bis zum Eintritt in die vorletzte neunte Phase gelernt, dass die moralphilosophische Praxis auch mit unauflösbaren moralischen Dilemmata konfrontieren kann und dass man in einem solchen Falle als reifer moralischer Akteur eine Entscheidung treffen und

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diese auch in Handlung umsetzen muss, obwohl man weiß, dass Schuldgefühle drohen, die tatsächlich auch ein fundamentum in re haben, weil man tatsächlich gegen eine gewichtige moralische Anforderung verstoßen hat. Die Unterrichtseinheit soll die Schülerinnen und Schüler letztlich zu einem Handeln aus moralisch guten Gründen trotz der Belastung drohender Schuldgefühle befähigen. Dabei sollte sie aber letztlich nicht stehen bleiben. Schließlich sind Schuldgefühle auch dann eine große Belastung für den moralischen Akteur, wenn dieser erstens weiß, dass er nicht anders handeln konnte, weil die Situation keine anderen Optionen offen gelassen hat, und wenn er zweitens auch weiß, dass er nach den situativ besten moralischen Gründen entschieden und sich seine Entscheidung wohl überlegt und alles andere als leicht gemacht hat. Bevor sie durch die Phase der Rekapitulation abgeschlossen wird, sollte die Unterrichtseinheit also in eine Phase der Rituale eintreten, durch welche die Schuldgefühle zwar nicht gänzlich negiert, aber immerhin doch gemildert werden können, indem man ihnen einen adäquaten Ausdruck gibt. Die Rituale sollten der Situation und insbesondere den Opfern der Entscheidung mit Takt und Einfühlungsvermögen angepasst sein. In diese Richtung sollte die Lehrperson die Schülerinnen und Schüler gegebenenfalls lenken. Ansonsten bietet die Phase die Möglichkeit, den künstlerischen Begabungen der Schülerinnen und Schüler freien Lauf zu lassen. Wiedergutmachungen oder Erinnerungen können durch ein Gedicht ebenso geschehen wie durch ein ritualisiertes Ereignis, ein Lied oder einen Gedenkstein. Die diesbezüglichen Möglichkeiten sind vielfältig, zumal sich auch die Möglichkeit bietet, in dieser Phase interdisziplinär zu arbeiten und so etwa den Kunst- oder Musikunterricht mit einzubeziehen. Am Beispiel des Säuglingsdilemmas kann aufgezeigt werden, wie die Phase der Rituale konkret aussehen könnte. (9.1) Diejenigen Schülerinnen und Schüler, die sich in der achten Phase der Unterrichtseinheit für ein Sterbenlassen oder ein aktives Töten entschieden haben, sollten sich zunächst einmal einen Namen ausdenken, den die Eltern dem Kind im Realfall geben könnten. Dann sollten sie sich Rituale ausdenken, durch die das Kind in der Zeit, in der es noch lebt, die Nähe der Eltern spüren kann. Sie könnten beispielsweise ein Lied schreiben, das der Liebe der Eltern zu dem Kind Ausdruck gibt und das die Eltern im Realfall nur für dieses Kind singen würden. Vor allem aber sollen sie sich Gedanken machen, wie im Realfall die Beerdigung und der Grabstein des Kindes aussehen sollte. Schließlich sollten sie auch ein Ritual der Verabschiedung erfinden, aus dem ein Ritual der Erinnerung hervorgehen kann, das im Realfall von den Eltern in genau geregelten Zeitabständen regelmäßig wiederholt werden könnte. (9.2) Diejenigen Schülerinnen und Schüler, die sich in der achten Phase für die Lebenserhaltung entschieden haben, sollten Rituale erfinden, durch die die Eltern im Realfall den Tages- und Wochenablauf ihres Lebens mit einem schwer behinderten Kind gestalten könnten. Auch hier sind der Fantasie nur durch die Erfordernisse der Rücksichtnahme Grenzen gesetzt. (10) Eine letzte Phase sollte schließlich der Vorführung der gefundenen Rituale vor dem Klassenverband und einem gemeinsamen Nachspüren der Stimmigkeit des gesamten Prozesses gewidmet sein. Graphisch dargestellt könnte die Unterrichts-Einheit in folgenden Etappen verlaufen:

Die erweiterte Dilemma-Diskussion

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Phase Schülerinnen und Schüler

Aktion

Lehrerin oder Lehrer

1.

Erste intuitive Reaktion

Präsentation eines Dilemmas

Präsentation eines Dilemmas, das als Beispiel für ein unauflösbares moralisches Dilemma gelten kann; Rückversicherung, ob das Dilemma und alle Begriffe etc. verstanden worden sind. Eventuell Klärung

2.

Formulierung der Position mit Begründung (eventuell in Gruppen)

Festlegung einer ersten Position

3.

Versuch der Lösung des Dilemmas durch ein moralphilosophisches Prinzip in Gruppenarbeit

Prüfung der Reichweite von Moderation und Tafelbild moralphilosophischen Prinzur Gegenüberstellung der zipien (6. Stufe), 1. Teil Lösungsmuster

4.

Textlektüre und Textrekonstruktion; anschließend Diskussion der Positionen im Klassenverband

Festlegung der Zweifel an der eindeutigen Auflösbarkeit des Dilemmas

5.

Diskussion im Klassenverband nach der Talk-ShowMethode

Festlegung des Resultats, dass sich zumindest das vorliegende Dilemma mit situationsunspezifischen Prinzipien nicht eindeutig auflösen lässt

Moderation und Auflistung an der Tafel o. ä.

Präsentation mehrerer moralphilosophischer Lösungsvorschläge, die jeweils den Anspruch situationsunspezifischer Allgemeinheit vertreten; eventuell Hilfestellung bei der Textrekonstruktion; anschließende Moderation

Moderation

6.

Suche nach einer situativ Anwendung des Prinzips des situativ begründeten angemessenen moralischen Entscheidung des Di- Prinzipienverstoßes lemmas in Kleingruppen

7.

Rollenspiel; fiktives Tagebuch nach der Entscheidung etc.

Plausibilisierung des Unterschieds zwischen der eindeutigen Auflösung und der gut begründeten situativen Entscheidung eines Dilemmas

Hilfestellung bei der Herstellung einer fiktiven Situation, die von den Konsequenzen der Entscheidung geprägt wäre

8.

Die Schülerinnen und Schü- Handlungsentscheidung ler malen ein Bild aus der aufgrund des Pontius- PilaSicht des Babys oder vertus-Arguments fassen einen Tagebucheintrag

Moderation und Pro- und Contra-Tabelle an der Tafel

Organisation der Kleingruppen und ggf. Hilfestellung

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Marie-Luise Raters

Phase Schülerinnen und Schüler

Aktion

Lehrerin oder Lehrer

9.

Kreatives Erfinden von situationsadäquaten Ritualen der Erinnerung und Wiedergutmachung

Auffinden von Ritualen

Hilfestellung und ggf. Korrektur; Ausweitung des Ethik-Unterrichts in die ästhetischen Bereiche Musik, Kunst, Theater etc.

10.

Ausführen der Rituale vor dem Klassenverband und intuitives Nachspüren der Stimmigkeit des gesamten Prozesses

Konsolidierung Rekapitulation und Auswertung, u. a. unter Einbeziehung von außermoralischen Kriterien wie z. B Rücksichtnahme

Quelle: Raters, Marie-Luise: Das moralische Dilemma im Ethik-Unterricht. Moralphilosophische Überlegungen zur Dilemma-Methode nach Lawrence Kohlberg, Thelem, Dresden 2011, S. 17 – 21; S. 23 – 29; S. 125; S. 142 f.; S. 149 – 156; S. 160 – 169.

Dilemmadiskussion – ein Weg der Werteerziehung? Bernd Rolf

A

ndreas und seine Freunde sind begeisterte Skateboard-Fahrer. Eines Tages stiftet Tom, der Anführer der Gruppe, die anderen dazu an, sich aus einem Versteck heraus an vorbeifahrende LKWs anzuhängen und sich ein Stück weit von ihnen ziehen zu lassen. Andreas findet das zu gefährlich und weigert sich, mitzumachen. Er muss aber mit ansehen, wie einer der Jungen dabei stürzt. Der Fahrer des LKW hat nichts bemerkt und fährt weiter. Der Junge wird schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert, in dem Andreas’ Vater als Arzt tätig ist. Tom nötigt Andreas das Versprechen ab, über den Hergang des Unfalls zu schweigen. Abends berichtet der Vater Andreas, dass der eingelieferte Junge eine Querschnittslähmung davongetragen hat und eine lange Zeit an den Rollstuhl gefesselt sein wird. Er fragt seinen Sohn, ob er vielleicht wisse, wie sich der Unfall zugetragen habe. – Was soll Andreas ihm antworten? Eine Antwort auf diese Frage fällt nicht leicht, weil Andreas sich in dieser Geschichte in einem unausweichlichen Wertkonflikt, einem Dilemma, befindet. Darunter versteht man allgemein eine Entscheidungssituation, in der man sich zwischen zwei Handlungsmöglichkeiten entscheiden muss, die beide als geboten erscheinen, aber einander ausschließen, so dass das Befolgen eines Gebotes einen Verstoß gegen ein anderes darstellt. Entweder hält Andreas sein Versprechen gegenüber Tom oder er kommt der Verpflichtung nach, seinem Vater die Wahrheit zu sagen. Wie er sich auch entscheidet – er wird dabei immer ein Gebot verletzten. Welche Entscheidung ist in dieser Situation die richtige? Worauf soll man mit Schülerinnen und Schülern hinarbeiten, wenn man den Konflikt im Unterricht thematisiert? Eine Lehrperson würde vielleicht dazu tendieren, den Wert der Wahrheit höher anzusetzen als den des Versprechens gegenüber (zweifelhaften) Freunden. Im Unterricht auf ein solches Lernziel hinzusteuern, wäre jedoch kaum sinnvoll. Es entspricht einem weitgehenden Konsens der neueren Didaktik, dass es in Fragen der Werteerziehung nicht zielführend ist, Schülerinnen und Schülern »das Richtige« vorzugeben. Vielmehr kommt es darauf an, Anlässe zu schaffen, dass Schülerinnen und Schüler sich selbstständig mit Wertkonflikten auseinandersetzen und je eigene Entscheidungen treffen, diese begründen und miteinander diskutieren können. Diese Auffassung geht zurück auf ein Konzept zur Förderung der moralischen Urteilsfähigkeit des US-amerikanischen Psychologen und Pädagogen Lawrence Kohlberg (1927 – 1987). Fritz Oser und Wolfgang Althof von der Universität Fribourg/Schweiz griffen es in den 1980er Jahren auf, und Georg Lind entwickelte auf der Basis von Kohlbergs Ansatz die Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion (KMDD). 1986 wurde in Nordrhein-Westfalen unter Beteiligung von Oser, Althof und Lind ein Mo-

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dellversuch zur »Förderung moralisch-demokratischer Urteilsfähigkeit« durchgeführt. Kohlbergs Ideen zur Förderung der moralischen Urteilsfähigkeit gingen maßgeblich in die Konzeption des Faches Praktische Philosophie in NRW ein und fanden auch Berücksichtigung in den Lehrplänen der Ethikfächer. Auf dieser Grundlage können auch weitere Fächer zur Werteerziehung beitragen. Im Folgenden soll kurz auf Kohlbergs Konzept der Förderung der moralischen Urteilsfähigkeit eingegangen werden, um in einer kritischen Auseinandersetzung damit und unter Bezug darauf die Weiterentwicklung dieses Konzept durch Oser, Althoff und Lind aufzuzeigen, was die Dilemmadiskussion zur Werteerziehung beitragen und wie sie im Unterricht praktiziert werden kann.

 Das Dilemma in Kohlbergs Studien zur Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit Kohlberg betrachtet moralisches Handeln vor allem als eine Frage der moralischen Urteilsfähigkeit, die sich in einer bestimmten Weise entwickelt. Um diese Entwicklung zu untersuchen, führte er – beginnend in den 1950er Jahren – mehrere bis zu 30 Jahre andauernde Längsschnittuntersuchungen in verschiedenen Ländern (USA, Israel, Türkei) durch. Die Probanden wurden in bestimmten zeitlichen Abständen mit hypothetischen Dilemmata konfrontiert und nach einem standardisierten Verfahren (Moral Judgement Test) dazu befragt. Eines der bekanntesten dieser Dilemmata ist das sogenannte Heinz-Dilemma.

Dilemma III: Heinz

»In einem fernen Land lag eine Frau, die an einer besonderen Krebsart erkrankt war, im Sterben. Es gab eine Medizin, von der die Ärzte glaubten, sie könne die Frau retten. Es handelte sich um eine besondere Form von Radium, die ein Apotheker in der gleichen Stadt erst kürzlich entdeckt hatte. Die Herstellung war teuer, doch der Apotheker verlangte zehnmal mehr dafür, als ihn die Produktion gekostet hatte. Er hatte 100 Dollar für das Radium bezahlt und verlangte 2000 Dollar für eine kleine Dosis des Medikaments. Heinz, der Ehemann der kranken Frau, suchte alle seine Bekannten auf, um sich das Geld auszuleihen, und er bemühte sich auch um eine Unterstützung durch die Behörden. Doch er bekam nur 1000 Dollar zusammen, also die Hälfte des verlangten Preises. Er erzählte dem Apotheker, dass seine Frau im Sterben lag, und bat, ihm die Medizin billiger zu verkaufen bzw. ihn den Rest später bezahlen zu lassen. Doch der Apotheker sagte: »Nein, ich habe das Mittel entdeckt, und ich will damit viel Geld verdienen.« – Heinz hat

Dilemmadiskussion – ein Weg der Werteerziehung?

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nun alle legalen Möglichkeiten erschöpft; er ist ganz verzweifelt und überlegt, ob er in die Apotheke einbrechen und das Medikament für seine Frau stehlen soll.« 1 Die Versuchspersonen sollten sich in den Interviews zu den vorgelegten Handlungskonflikten äußern – hier zu der Frage, ob Heinz einbrechen sollte oder nicht – und ihre Entscheidung begründen. Kohlberg machte dabei die Beobachtung, dass in den Begründungen charakteristische Denkmuster zum Ausdruck kamen, die er in einem Stufenmodell der Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit zusammenfasste. Dieses umfasst drei Ebenen (präkonventionell, konventionell, postkonventionell) mit je zwei Stufen. Die Entwicklung über sechs Stufen lässt sich in Bezug auf die für sie charakteristischen Urteilsstrukturen – vereinfacht – wie folgt darstellen2 : Stufe 1 Das Urteil richtet sich nach dem, was für den Einzelnen angenehm ist; unangenehme Folgen (z. B. Strafe, Sanktionen) gilt es zu vermeiden. Stufe 2 Das Urteil wird durch die Einsicht bestimmt, dass eigene Interessen mit Interessen anderer kollidieren können; es wird ein Interessenausgleich auf Gegenseitigkeit angestrebt. Stufe 3 Die Eigeninteressen treten in den Hintergrund; die Erwartungen der Gruppe, der man sich zugehörig fühlt, bestimmen das Urteil. Stufe 4 Der Blick richtet sich über konkrete soziale Zusammenhänge hinaus auf allgemeine gesellschaftlich vermittelte Normen, die es einzuhalten gilt. Stufe 5 Das Urteil wird bestimmt durch moralische Prinzipien, die auf freiwilligen vertraglichen Bindungen, etwa im Sinne eines Gesellschaftsvertrags, beruhen. Stufe 6 Das Urteil wird bestimmt durch ein Gefühl der Verpflichtung gegenüber universalen moralischen Prinzipien.

Diese Stufen sind nach Kohlberg universal gültig: Sie wurden bei Angehörigen verschiedener Ethnien in den USA, in Israel und der Türkei beobachtet. Sie bilden ferner eine invariante Sequenz: Die Probanden befanden sich zu jedem Untersuchungszeitpunkt auf der gleichen oder nächst höheren Stufe wie beim vorherigen; das Überspringen einer Stufe oder ein Stufenrückschritt wurden nie beobachtet. Außerdem stellen sie hierarchische Integrationen dar: Das Denken auf einer bestimmten Stufe schließt das Denken auf einer darunter liegenden Stufe ein.3

1

2 3

Kohlberg, Lawrence: Die Psychologie der Moralentwicklung, Material übers. von Eckensberger, Uta S., hrsg. von Althof, Wolfgang unter Mitarbeit von Noam, Gil und Oser, Fritz, stw 1232, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1996, S. 495. ausführlicher in ibid., Frankfurt 1996, S. 51– 56 u. S. 128 – 132. vgl. Dürr, Rolf: »Moralerziehung – Erziehung zur Demokratie«, in: Bovet, Gislinde; Huwendiek, Volker: Leitfaden Schulpraxis. Pädagogik und Psychologie für den Lehrberuf, Cornelsen Scriptor, Berlin 2004, S. 444 – 458: S. 452 – 453.

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Kohlbergs Studien belegen einen Zusammenhang zwischen Lebensalter und Entwicklungsstufen, der lässt sich wie folgt darstellen lässt4 :

Wie aus der Grafik hervorgeht, ist die moralische Urteilsfähigkeit im Alter von 10 Jahren bei knapp 40 % der Probanden der Stufe 1 zuzuordnen, knapp 30 % der Stufe 2 und etwa 20 % der Stufe 3. Bis zum Alter von 16 Jahren hat sich die Urteilsfähigkeit so entwickelt, dass die Stufe 5 mit ca. 30 % dominiert, gefolgt von Stufe 4 und 3. Die Stufen 2 und 1 sind stark abgesunken; Stufe 6 ist auch hier noch nicht weit entwickelt. Mit diesem kognitiven Entwicklungsmodell gelingt es Kohlberg, Elemente zweier anderer Theorien der Moralentwicklung, die sich bisher unversöhnlich gegenüberstanden, aufzunehmen und miteinander zu verbinden. Nach der – auf Rousseau zurückgehenden – Reifungstheorie entfaltet sich die moralische Urteilsfähigkeit mit der Zeit praktisch ohne äußere Einflüsse als Ergebnis eines natürlichen (genetisch gesteuerten) Prozesses. Der – u. a. von Emile Durkheim vertretenen – Sozialisationstheorie zufolge geschieht Moralentwicklung durch das Erlernen von Normen und Werten derjenigen Gruppen, der man angehört. Nach Kohlberg ist die Entwicklung kognitiver Strukturen eher das Resultat der Interaktion zwischen der Struktur des Organismus und der Struktur der Umwelt als das direkte Resultat der Reifung; jedoch sind

4

Oerter, Rolf; Montada, Leo (Hrsg.): Entwicklungspsychologie. Ein Lehrbuch, Psychologie-VerlagsUnion, Beltz Verlag, Weinheim 1998, S. 877.

Dilemmadiskussion – ein Weg der Werteerziehung?

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Richtung und Abfolge dieser Entwicklung festgelegt, insofern die Stufen eine invariante Ordnung bilden.5 Das hat Konsequenzen für die Moralerziehung. Nach der Reifungstheorie wäre es das Beste, wenn man Kinder sich selbst überlässt und sie möglichst wenig erzieht. Nach der Sozialisationstheorie fällt den Erziehungsinstanzen Familie und Schule die Aufgabe der Vermittlung von sozialen Normen und die Kontrolle ihrer Einhaltung zu. Aus Kohlbergs Ansatz folgt: Beides sind keine erfolgversprechenden Wege. Die moralische Entwicklung kann in der Tat durch die Erziehung gefördert werden, aber nicht in der Weise, dass man Werte einfach nur vorgibt. Die Förderung geschieht am besten indirekt – quasi mäeutisch –, nämlich dadurch, dass man Situationen schafft, in denen Edukanden sich gemäß ihrer Entwicklungsstufe mit moralischen Fragen auseinandersetzen und eigene Antworten darauf finden können. Hierbei kann das Stufenmodell wertvolle Orientierung leisten. Einschränkend ist darauf hinzuweisen, dass Kohlbergs Modell nicht ohne kritische Einwände geblieben ist. So wurde angemerkt, dass die Zuordnung der Äußerungen der Probanden zu den Stufen selten eindeutig ist. Die Homogenität, strenge Sequentialität und Universalität des Kohlberg’schen Konzeptes der Moralentwicklung wurden in Frage gestellt: Verläuft die Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit wirklich immer und in allen Kulturen entlang dieser Stufen? Sind nicht auch andere Entwicklungswege denkbar? Aus feministischer Sicht wurde moniert, dass Kohlberg seine Untersuchungen allein mit männlichen Probanden durchgeführt hat, so dass das Modell die Entwicklung einer geschlechtsspezifischen Prinzipienethik darstelle, in welcher der Aspekt der Fürsorge (care) nicht hinreichend berücksichtigt ist. Solche Kritik stellt den Wert des Modells für Bildungszwecke jedoch nicht grundsätzlich in Frage. »Mit der entsprechenden kritischen Distanz« kann es – so Volker Pfeiffer – »als ein heuristisches Instrument zum Verstehen von Schüleräußerungen« 6 gesehen und im Unterricht entsprechend eingesetzt werden. »Es sensibilisiert im Allgemeinen für das kognitive Urteilsniveau« der Schülerinnen und Schüler und gibt der Lehrperson somit die Möglichkeit, Schüler in der Entwicklung ihrer Urteilsfähigkeit zu unterstützen.

 Die Dilemmadiskussion als Instrument der Werteerziehung Kohlberg setzte das Dilemma nicht nur als diagnostisches Instrument ein, sondern begriff es auch als ein Instrument zur Förderung der moralischen Urteilsfähigkeit. 1975 veröffentlichte er zusammen mit seinem Doktoranden Moshe Blatt eine Studie über den Effekt der Diskussion von Dilemmageschichten in Schulklassen. Blatt hatte an einer

5

6

vgl. Lind, Georg: Ist Moral lehrbar? Ergebnisse der modernen moralpsychologischen Forschung, Logos Verlag, Berlin 2002, S. 17. Pfeifer, Volker: Didaktik des Ethikunterrichts. Bausteine einer integrativen Wertevermittlung, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2003, S. 231.

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Sonntagsschule zwölf Wochen lang die von Kohlberg zu entwickelten Dilemmata eingesetzt und festgestellt, dass sich 64 Prozent der Schüler in ihrem moralischen Urteil um eine ganze Stufe weiterentwickelt hatten. Diesen Effekt erklärte sich Kohlberg folgendermaßen: Individuen bauen in der interaktiven Auseinandersetzung mit ihrer sozialen Umwelt bestimmte Denk- und Urteilsstrukturen auf, und sie begreifen und beurteilen die soziale Umwelt auf der Grundlage ihres jeweiligen kognitiven Schemas. Neue Erfahrungen führen – wenn sie mit dem Schema übereinstimmen – zu dessen Festigung. Mit dem Schema nicht zu vereinbarende Erfahrungen bewirken dagegen eine Verunsicherung, die dazu führt, dass die alte Struktur aufgelöst wird und durch den Einbau neuer Elemente eine neue Struktur entsteht. Die Urteilsfähigkeit hat sich weiterentwickelt. Dieser Prozess lässt sich wie folgt illustrieren7 :

Grundsatz erzieherischen Einwirkens ist es nach Kohlberg, die Schülerinnen und Schüler Situationen auszusetzen, die sich auf der Grundlage der jeweils aktuell verfügbaren kognitiven Struktur nicht lösen lassen und einen kognitiven Konflikt herbeiführen. Nach der »+1-Konvention« sollen sie dabei mit Denkstrukturen der jeweils nächsthöheren Stufe konfrontiert werden, die sie verstehen und deshalb integrieren können, während die darüber hinausgehenden Strukturen außerhalb ihres Verständnishorizontes liegen. Angenommen, die moralische Urteilsfähigkeit einer 13-jährigen Schülerin ist der Stufe 3 zuzuordnen. Dann könnte sie durch Auseinandersetzung mit dem eingangs dargestellten Dilemma einen Anstoß zur Weiterentwicklung auf die nächsthöhere Stufe enthalten. In diesem Dilemma geht es nämlich um einen Konflikt zwischen Verpflichtung gegenüber einer bestimmten sozialen Gruppe, die der Freunde (Stufe 3), und der Orientierung an Wahrhaftigkeit als einer gesellschaftlich geforderten Norm (Stufe 4). Dagegen wäre es nicht sinnvoll, die Schülerinnen und Schüler mit einem Dilemma zu befassen, das einen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Normen (Stufe 4) und postkonventionellen Orientierungen (Stufe 5/6) thematisiert. Die praktische Anwendung der »+1-Konvention« im Klassenverband wirft indessen manche Probleme auf. Schon ein Blick auf die Abbildung, in welcher der Entwick-

7

Dobbelstein-Osthoff, Peter: »Werteerziehung als Förderung von Urteilsfähigkeit«, in: Landesinstitut für Schule und Weiterbildung (Hrsg.): Schule und Werteerziehung. Beiträge zur Gestaltung des Schullebens und Öffnung von Schule, Soester Verlagskontor, Soest 1991, S. 9 – 190: S. 19

Dilemmadiskussion – ein Weg der Werteerziehung?

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lungsverlauf der moralischen Urteilsfähigkeit nach Kohlberg präsentiert wird, zeigt, dass in einer Altersstufe mit unterschiedlichen Urteilsniveaus zu rechnen ist. Mit einem hohen Maß an Heterogenität hat man insbesondere um das 13. Lebensjahr herum zu rechnen, wo – bezogen auf die untersuchten Kohorten – die Stufen 3, 4 und 2 (in dieser Reihenfolge) einen Anteil zwischen 30 % und 20 % einnehmen. Es ist nahezu unmöglich, den Überblick über die moralische Entwicklung jeder Schülerin / jedes Schülers zu behalten und mit passenden Argumenten auf darauf eingehen.8 Georg Lind stellt die Effektivität der »+1-Konvention« grundsätzlich in Frage und ersetzt sie durch die »Pround Contra-Konvention«: »Die beste Förderung der moralischen Urteilsfähigkeit wird besser durch Argumente erreicht, die der Meinung des Edukanden widersprechen (die Pro/Con-Konvention), als durch solche, die eine höhere Stufe repräsentieren (+1Konvention).« 9 Gemäß der »Pro-und-Kontra-Konvention« ist auch die Rolle der Lehrperson neu zu definieren. So stellten Oser und Althof fest, dass die Argumente der Mitschüler, die dabei ins Spiel kommen, effektiver wirken als die der Lehrperson.10 Es ist davon auszugehen, dass der Transformationsprozess auf eine höhere Stufe der Urteilskraft vor allem durch die interaktive Auseinandersetzung mit den Argumenten der Mitdiskutierenden angeregt wird. Daher ist bei der Durchführung von Dilemmadiskussionen vor allem auf den Einsatz schülerzentrierter Verfahren zu achten. Weitere Revisionsbedürftigkeit des Kohlberg’schen Ansatzes zeigt sich in Bezug auf die Verwendung hypothetischer Dilemmata, die – wie das zitierte Heinz-Dilemma – »in einem fernen Land« angesiedelt und weit entfernt sind von der tatsächlichen Erfahrungswelt der Schülerinnen und Schüler. Dies sollte in den Moral-Judgement-Tests verhindern, dass das Urteil durch wirklichen Handlungsdruck und möglicherweise dadurch entwickelte Abwehrstrategien verfälscht werden kann. Aber gerade diese Eignung für analytische Zwecke stellt die Eignung für Erziehungszwecke in Frage. Bei fehlendem Lebensweltbezug kommt es nicht zur Legitimationskrise, die zur Auflösung der alten und zum Aufbau neuer kognitiver Strukturen führt.11 Daher empfiehlt es sich, im Unterricht mit realen Dilemmata oder semi-realen Dilemmata zu arbeiten, die in der Lebenswelt der Schüler vorkommen könnten. Vermutlich wird sich auch durch eine stärkere Berücksichtigung der Schülerrealität das größte Problem des Kohlberg’schen Konzeptes noch nicht hinreichend lösen lassen, nämlich die Differenz von Urteilen und Handeln. Moralisches Urteilen führt nicht zwangsläufig zu moralischem Handeln (obwohl es eine wichtige Voraussetzung dafür

8

9

10

11

vgl. Oser, Fritz; Althof, Wolfgang: Moralische Selbstbestimmung: Modelle der Entwicklung und Erziehung im Wertebereich. Ein Lehrbuch, Klett-Cotta, Stuttgart 1992, S.114. Lind, Georg: »Rekonstruktion des Kohlbergansatzes: Das Zwei-Aspekte-Modell der Moralentwicklung«, in: ibid., a.a.O., S. 204 – 208: S. 207. Vgl. Oser, Fritz; Althof, Wolfgang: Moralische Selbstbestimmung: Modelle der Entwicklung und Erziehung im Wertebereich. Ein Lehrbuch, a.a.O., S. 113. Vgl. Dobbelstein-Osthoff, Peter: »Werteerziehung als Förderung von Urteilsfähigkeit«, in: Landesinstitut für Schule und Weiterbildung (Hrsg.): Schule und Werteerziehung. Beiträge zur Gestaltung des Schullebens und Öffnung von Schule, a.a.O., S. 10.

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ist).12 Kohlberg hat, als ihm klar wurde, wie weit der Weg vom einsichtigen Urteilen über die in moralischen Dilemmageschichten agierenden Protagonisten zu eigenem Tun ist, seinen Ansatz in Richtung des »Just-Community-Modells« weiterentwickelt. Durch die Mitbestimmung in gerechten Schulgemeinschaften soll die Fähigkeit gefördert werden, tatsächlich auftretende Konflikte mit anderen Menschen demokratisch, friedlich und gewaltfrei zu lösen. Für das Konzept der Dilemmadiskussion ergibt sich daraus die Konsequenz, es möglichst durch handlungsorientierte Verfahren anzureichern. So sind Formen kooperativen Lernens, Probehandeln im Rahmen von Rollenspielen, Projektarbeit, besonders im Rahmen der Gestaltung des Schullebens und der Öffnung der Schule, gute Möglichkeiten, die Fähigkeit zu fördern, das moralische Urteilsvermögen im Alltag konsistent und differenziert anzuwenden.

 Der Einsatz von Dilemmata im Unterricht Wie können Lehrerinnen und Lehrer das Verfahren der Dilemmadiskussion im Unterricht praktisch umsetzen? Dazu lassen sich vor dem Hintergrund der vorangegangenen Ausführungen folgende Tipps formulieren: Eine der wichtigsten Voraussetzung ist es, dass die Schülerinnen und Schüler sich auf einen Konfliktfall, sei es eine Geschichte oder eine bildhafte Darstellung, einlassen. Dies wird umso eher geschehen, je näher sich das Dilemma an die Lebens- und Erfahrungswelt der Schülerinnen und Schüler anschließt. Hypothetische Dilemmata wie das Heinz-Dilemma sind zu weit von der Lebenswelt entfernt. Wenn es möglich ist, kann man vorliegende Konfliktfälle (real-life-Dilemmata) aufgreifen; darüber hinaus empfiehlt sich der Einsatz semi-realer Dilemmata, d. h. solcher Fälle, die im Erfahrungsbereich der Schülerinnen und Schüler vorkommen könnten. Der Konflikt, um den es geht, sollte für die Schülerinnen und Schüler verständlich und nachvollziehbar sein. Daher ist es ratsam, sich an der Stufenzugehörigkeit der Mehrheit der Schülerinnen und Schüler zu orientieren. So empfiehlt Volker Pfeifer für den Fall, dass sich diese mehrheitlich auf Stufe 2 oder 3 befinden, ein Szenario, das den Konflikt zwischen ichbezogenen Interessen und Normen der Gegenseitigkeit (z. B. Egoismus vs. Versprechen) ansiedelt.13 Für Schülerinnen und Schüler, die sich zwischen den Urteilsstufen 3 und 4 befinden, bietet sich ein Dilemma an, das den Konflikt zwischen den Interessen einer Bezugsgruppe und gesellschaftlichen Normen problematisiert (z. B. Loyalität vs. Gesetz). Es wirkt sich günstig aus, wenn Dilemmadiskussionen integraler Bestandteil der unterrichtlichen Arbeit sind. Daher empfiehlt es sich, darauf zu achten, dass sie ent-

12

13

vgl. Schirp, Heinz: »Moralisch-demokratische Erziehung in der Schule«, in: Landesinstitut für Schule und Weiterbildung (Hrsg.): Werteerziehung in der Schule – aber wie? Ansätze zur Entwicklung moralischdemokratischer Urteilsfähigkeit, Verlag für Schule und Weiterbildung, Bönen 1993, S. 7– 37: S. 29. Pfeifer, Volker: Didaktik des Ethikunterrichts. Bausteine einer integrativen Wertevermittlung, a.a.O., S. 227.

Dilemmadiskussion – ein Weg der Werteerziehung?

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weder zu unterrichtlichen Fragestellungen hinführen oder zur weiteren Klärung von Frage- und Problemstellungen beitragen, die im Unterricht behandelt werden. Eine Dilemmadiskussion sollte offen geführt werden, d. h., ihr Ziel sollte nicht sein, auf bestimmte Lösungen hinzuarbeiten, sondern den Schülerinnen und Schülern Gelegenheit zu geben, ihre eigenen Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln. Dabei steht nicht die Entscheidung für oder gegen eine der Handlungsalternativen und die ihnen zugrundeliegenden Wertvorstellungen im Fokus, sondern die Begründung der jeweils getroffenen Entscheidung. Daher empfiehlt es sich auch, den Schülerinnen und Schülern Gelegenheit zu geben, die Auseinandersetzung mit den gegnerischen Argumenten selbst zu steuern. Die Lehrperson kann sich dabei auf die Moderationsaufgaben und auf unterstützende Maßnahmen beschränken. Unterstützung könnte vor allem bei der Herausarbeitung der Probleme und der Klärung der Aufgabenstellung und der Einhaltung des methodischen Ablaufs nötig sein. Für den Ablauf einer Dilemmadiskussion empfiehlt sich folgendes Grundschema14 : Phase 1

Kennenlernen des Dilemmas, Erfassen der gegebenen Situation.

Phase 2

Erarbeitung des Dilemma-Kerns: Was ist das moralische Problem? Welche moralischen Normen geraten miteinander in Konflikt?

Phase 3

Probeabstimmung: Wie soll sich die betreffende Person verhalten? Ist das Verhalten der zentralen Personen richtig oder falsch?

Phase 4

Sammlung von Argumenten einzelner Schüler/innen für die eine oder andere Position.

Phase 5

Auseinandersetzung mit den Gegenargumenten / Überprüfung der Argumente.

Phase 6

Schlussabstimmung bzw. Festlegung einer eigenen Position.

Einzelne Phasen dieses Schemas lassen sich unterschiedlich ausgestalten. So kann die Sammlung von Argumenten und deren Überprüfung (Phase 3 und 4) in einer Diskussion im Plenum erfolgen. Ein höheres Maß an Schüleraktivierung lässt sich dadurch erreichen, dass die Sammlung von Argumenten (Phase 3) in Kleingruppen vorgenommen wird. Dabei können entweder heterogene Gruppen (aus Schülerinnen und Schülern mit unterschiedlichen Auffassungen) gebildet werden. Sie erhalten den Arbeitsauftrag, die jeweils besten Pro- bzw. Contra-Argumente zu sammeln und in eine Rangordnung zu bringen. So setzen sich die Schülerinnen und Schüler bereits in der Gruppenarbeit mit unterschiedlichen Standpunkten auseinander.

14

Vgl. Lind, Georg: Moral ist lehrbar. Handbuch zur Theorie und Praxis moralischer und demokratischer Bildung, Erziehung – Gesellschaft – Schule, Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 2003, S. 83, und vgl. Pfeifer, Volker: Didaktik des Ethikunterrichts. Bausteine einer integrativen Wertevermittlung, a.a.O., S.149.

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Eine andere Möglichkeit besteht in der Bildung homogener Gruppen. Nach der Probeabstimmung setzen sich die Schülerinnen und Schüler in Pro- und Contra-Gruppen zusammen, um jeweils Argumente für ihre Position zu finden. Die Überprüfung der Argumente (Phase 5) kann im Gespräch im Plenum erfolgen, nachdem die (heterogen oder homogen zusammengesetzten) Gruppen ihre Argumente vorgetragen haben und diese (z. B. an der Tafel) gesichert worden sind. Georg Lind schlägt an dieser Stelle eine formalisierte Ping-Pong-Diskussion15 vor: Aus einer Gruppe trägt ein Teilnehmer zunächst die eigene Meinung und die wichtigsten Gründe hierfür vor. Nach seinem Beitrag folgt eine Entgegnung aus der anderen Gruppe. Dabei ruft derjenige, der gerade gesprochen hat, aus der anderen Gruppe eine Person auf, die sich zu Wort meldet usw. Die Pro- und Contra-Argumente werden (z. B. an der Tafel) gesichert. Ein weiterer Vorschlag Georg Linds geht dahin, dass sich die Gruppen zu einer Position in der Weise mit den Argumenten der Gegenposition auseinandersetzen, dass sie diese in eine Rangordnung bringen.16 Das fördert nicht nur den Perspektivwechsel, sondern kann auch für eine hilfreiche Irritation und eine vertiefte Auseinandersetzung sorgen. Nach der Schlussabstimmung, die der Festlegung auf eine eigene Position dient, empfiehlt sich ein Metagespräch, in dem die Teilnehmer zum Ausdruck bringen können, wie sie die Diskussion empfunden haben, was gewinnbringend, was störend war usw. Um den Schülern nicht nur die Bildung und Diskussion von Urteilen, sondern auch ein Probehandeln zu ermöglichen, ist es sinnvoll, geeignete Dilemma-Szenarien in Form von Rollenspielen durchzuführen. Dabei werden die gefundenen Handlungsoptionen, die dabei auftretenden Gefühle und Erlebnisse der Spieler mit den Beobachtungen der übrigen Schüler als Zuschauer in Zusammenhang gebracht und diskutiert. Der Zeitbedarf für eine Dilemmadiskussion liegt – wenn man die ausführlichere Variante mit Gruppenarbeit oder Rollenspiel wählt – bei bis zu 90 Minuten. Unter Umständen lässt sich das Verfahren aber auch schon in 45 Minuten durchführen.

 Ein Beispiel Inwiefern wird durch eine Dilemmadiskussion nach diesem Muster tatsächlich die moralische Urteilsfähigkeit gefördert? Welche Prozesse der Urteilsbildung durchlaufen Schülerinnen und Schüler, wenn so vorgegangen wird? Das soll im Folgenden an einem Beispiel verdeutlicht werden, in dem diese Prozesse in Form eines Erwartungshorizontes operationalisiert werden.

15

16

Lind, Georg: Moral ist lehrbar. Handbuch zur Theorie und Praxis moralischer und demokratischer Bildung, a.a.O., S. 84. Vgl. ibid., a.a.O., S. 84.

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Das Beispiel beschreibt einen Konflikt der Stufen 3 und 4: Die gesellschaftliche Norm, das Eigentum anderer zu respektieren, steht dem Gefühl der Verpflichtung gegenüber einer bestimmten sozialen Gruppe (hier: Bewohner eines afrikanischen Dorfes) entgegen. Hinsichtlich Anspruch und dem Lebensweltbezug ist es für Schülerinnen und Schüler gegen Ende der Sekundarstufe I geeignet. In Kenntnis philosophischer Positionen – etwa der Positionen Benthams und Kants – ließe es sich auch für eine Konfrontation zwischen utilitaristischer Güterabwägung und deontologischen Überlegungen verwenden. In diesem Fall wäre es ein Dilemma für die Sekundarstufe II.

Müllers Problem

»Der Held unserer ersten Geschichte (nennen wir ihn Müller) ist nach einigem Suchen froh, in der hintersten Reihe des untersten Stockwerks [eines Parkhauses] noch einen freien Platz gefunden zu haben. Beim Aussteigen findet er eine auf dem Boden liegende Brieftasche. Ihr Inhalt besteht aus mehreren tausend Euro sowie der Visitenkarte des Besitzers: Es handelt sich um einen stadtbekannten Immobilienspekulanten. Müller weiß natürlich, dass er die Brieftasche ›eigentlich‹ ihrem Besitzer zurückgeben sollte; dennoch zögert er. Der Grund seines Zögerns liegt darin, dass er sich seit langem für die Belange der Dritten Welt engagiert. Gegenwärtig sammelt er im Rahmen eines örtlichen Solidaritätskomitees Hilfe für Afrika Geld für den Bau einer Meerwasserentsalzungsanlage in einem afrikanischen Dorf; diese Anlage würde etlichen Familien einen ausreichenden Lebensunterhalt als Bauern ermöglichen. Müller weiß nun, dass die in der Brieftasche enthaltene Summe ausreichen würde, die Anlage zu finanzieren; dass andererseits der Verlust einiger tausend Euro dem Immobilienspekulanten nicht sonderlich wehtun würde.« 17

Phase 1 Die Schüler/innen lernen das Dilemma kennen. Dabei stellen sie die genauen Umstände dar, unter denen eine Entscheidung getroffen werden muss: Herr Müller, der sich für notleidende Familien in einem afrikanischen Dorf engagiert, findet in einem Parkhaus unbeobachtet eine Brieftasche mit mehreren tausend Euro und der Visitenkarte des Besitzers, eines stadtbekannten Immobilienmaklers.

17

Bayertz, Kurt: Warum überhaupt moralisch sein?, Verlag C.H. Beck, München 2004, S.14.

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Phase 2 Die Schüler/innen erklären, dass das moralische Problem in dieser Situation darin besteht, dass Herr Müller sich zwischen zwei Handlungsoptionen, die beide moralisch geboten sind, entscheiden muss, und bestimmen die zugrundeliegenden Normen: Handlungsoption A:

Handlungsoption B:

Herr Müller gibt die Brieftasche dem Eigentümer zurück.

Herr Müller verwendet das gefundene Geld für den Bau einer Meerwasserentsalzungsanlage in einem afrikanischen Dorf.

Moralische Norm A:

Moralische Norm B:

Man soll Gefundenes seinem Eigentümer zurückgeben.

Man soll notleidenden Menschen helfen.

Phase 3 Die Probeabstimmung darüber, für welche Handlungsoption sich Herr Müller entscheiden soll, führt dazu, dass Schüler/innen sich ihrer eigenen Wertmaßstäbe bewusst werden (z. B. Schutz des Eigentums) und erkennen, dass Mitschüler/innen möglicherweise andere Wertmaßstäbe besitzen (z. B. Hilfe für notleidende Menschen).

Phase 4 In dieser Phase finden und formulieren Schüler/innen Gründe für die von ihnen vertretene Handlungsoption und formulieren Pro- und Contra-Argumente, z. B.: Pro Handlungsoption A:

Pro Handlungsoption B:

Herr Müller ist moralisch verpflichtet, dem Immobilienspekulanten das Geld zurückzugeben, weil dieser der Eigentümer ist.

Herr Müller fühlt sich zur Solidarität mit notleidenden Menschen in Afrika verpflichtet. Das Geld kann Familien im Dorf einen ausreichenden Lebensunterhalt als Bauern ermöglichen.

Contra Handlungsoption A:

Contra Handlungsoption B:

Der Verlust vom mehreren tausend Euro wiegt für den Immobilienspekulanten nicht schwer. Außerdem hat er es möglicherweise durch zweifelhafte Geschäfte (Spekulationen) erworben.

Das Geld, das Herr Müller zur Unterstützung notleidender Menschen in Afrika einsetzen möchte, wäre unrechtmäßig erworben. Er darf nicht darüber verfügen, weil es ihm nicht gehört.

Dilemmadiskussion – ein Weg der Werteerziehung?

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Phase 5 Hier vertreten die Schüler/innen ihre Argumente für eine der beiden Handlungsoptionen gegenüber anderen und setzen sich mit deren Argumenten auseinander. Bei der Diskussion kommen die Argumente auf den Prüfstand.

Phase 6 Die Festlegung der eigenen Position geschieht aufgrund einer Güterabwägung. Dabei vertritt eine Schülerin bzw. ein Schüler z. B. die Auffassung: ›Zu Unrecht Geld an sich zu nehmen wiegt schwerer, als seine Pflicht zu vernachlässigen, Notleidenden zu helfen; den notleidenden Dorfbewohnern in Afrika kann auch durch rechtmäßig erworbenes Geld geholfen werden‹. Dementsprechend kann die Schülerin bzw. der Schüler nun eine begründete Entscheidung treffen, die gemäß der Güterabwägung lauten würde: ›Es ist richtig, wenn Herr Müller das Geld dem Eigentümer zurückgibt und ihn darüber hinaus bittet, Geld für Familien in Afrika zu spenden, bzw. den Finderlohn für diesen Zweck einsetzt‹. Welche Fähigkeiten haben die Schüler/innen bei dieser Dilemmadiskussion gezeigt? Sie haben ¬ die Umstände und Fakten einer gegebenen Situation präzise beschrieben, ¬ ein moralisches Problem (einander widerstreitende Handlungsoptionen) benannt, ¬ die den verschiedenen Handlungsoptionen zugrundeliegenden moralischen Normen bestimmt, ¬ dadurch Fachwissen erworben oder gefestigt, ¬ sich ihre eigenen Wertmaßstäbe bewusst gemacht und wahrgenommen, dass Mitschülerinnen und Mitschüler andere Wertmaßstäbe haben können, ¬ Argumente und Begründungen für die von ihnen vertretene Handlungsoption formuliert, ¬ ihre Argumente gegenüber anderen vertreten und sich mit den Argumenten anderer auseinandergesetzt, ¬ Argumente auf ihre Stimmigkeit hin überprüft, ¬ eine Abwägung zwischen Handlungsoptionen und den ihnen zugrundeliegenden Wertmaßstäben vorgenommen, ¬ eine begründete Entscheidung getroffen. Möglicherweise haben sie am Ende dabei ihr anfängliches, in der Probeabstimmung geäußertes Urteil revidiert und so einen Entwicklungsschritt auf eine höhere Stufe der Urteilsfähigkeit vollzogen oder einen Impuls erhalten, der sie im Zusammenwirken mit weiteren Impulsen dazu führt, einen solchen Entwicklungsschritt zu vollziehen. Auf jeden Fall sind sie umfassend in ihrer moralischen Urteilsfähigkeit gefördert worden.

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Darüber hinaus haben sie offensichtlich Kommunikations- und Kooperationsbereitschaft gezeigt und jene Diskursfähigkeit entwickelt, die eine wichtige Voraussetzung dafür ist, gesellschaftliche Konflikte demokratisch austragen zu können.

 Die Dilemmamethode in einzelnen Unterrichtsfächern Im Fach Praktische Philosophie und den Ethik-Fächern dürfte es kein Problem sein, in der beschriebenen Weise mit Dilemmata zu arbeiten. Anlässe dazu ergeben sich in nahezu allen vorgesehenen Fragenkreisen bzw. Themenfeldern. Die einschlägigen Unterrichtswerke geben dazu eine Fülle von Anregungen. Darüber hinaus finden sich geeignete moralische Dilemmata in dem Handbuch von Georg Lind18 und auf dem Arbeitsblätter-Portal des österreichischen Psychologen Werner Stangl.19 Der oben schon angesprochene Modellversuch des Landesinstitutes für Schule und Weiterbildung in Nordrhein-Westfalen hat gezeigt, dass sich auch in anderen Fächern zahlreiche Ansatzpunkte zur Förderung der moralischen Urteilsfähigkeit bieten. Dies gilt insbesondere für den Deutschunterricht und den fremdsprachlichen Unterricht. In Erzählungen, Novellen, Kurzgeschichten, Dramen, Romanen werden häufig Konflikte der dargestellten Figuren thematisiert. Beispielsweise geht es in einem Kapitel von Hans Peter Richters Jugendroman Damals war es Friedrich um den Konflikt eines Jungen, der eine Wahl treffen muss zwischen der Pflicht, einen Rabbi zu schützen, der sich in einer Wohnung seines Hauses versteckt hält, und der Pflicht zur Wahrhaftigkeit.20 Der Politikunterricht thematisiert Konflikte zwischen Gruppen, Verfahren demokratischer Entscheidungsfindung usw. Damit sind auch immer Werte- und Normenentscheidungen gegeben, die Gegenstand des Unterrichts werden können, z. B. bei dem Streit um den Bau einer neuen Bundesstraße. Im Erdkundeunterricht sind ökologische Fragen und Überlegungen – beispielsweise Umweltzerstörung durch Braunkohleabbau, durch Skitourismus usw. – mögliche Ansatzpunkte für Dilemmadiskussionen. Im Geschichtsunterricht besteht die Möglichkeit, anhand moralischer Dilemmata, in denen sich historische Figuren wie der Spartanerkönig Leonidas befunden haben, die Diskrepanz zwischen der Gegenwartsperspektive der Schülerinnen und Schüler und der historischen Perspektive zu verdeutlichen. Der Biologieunterricht könnte z. B. Wertkonflikte im Zusammenhang mit Tierversuchen thematisieren. Im Chemieunterricht könnte man u. a. die Frage aufwerfen, ob eine Chemiefabrik, die Giftgas produzieren kann, an eine Diktatur verkauft werden darf.

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19

20

Lind, Georg: Moral ist lehrbar. Handbuch zur Theorie und Praxis moralischer und demokratischer Bildung, a.a.O., S. 138 – 148. https ://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/MORALISCHEENTWICKLUNG/KohlbergDilemmata.shtml (Stand: 15.07.2019). Richter, Hans Peter: Damals war es Friedrich, dtv pocket 7800, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1974.

Dilemmadiskussion – ein Weg der Werteerziehung?

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Im Religionsunterricht lässt sich die Dilemmadiskussion als methodisches Instrument zur Auseinandersetzung mit dem Handeln und der Botschaft Jesu einsetzen, etwa beim Gleichnis vom verlorenen Sohn. Von besonderem Interesse könnten Projekte zur Öffnung von Schule sein. Im kommunalen Umfeld geschieht vieles, was für moral-kognitive Diskussionen von Interesse sein könnte. Soll z. B. aus einem Ökologieprojekt, in dem problematische Giftstoffeinträge in einem Gewässer festgestellt werden, eine kommunalpolitische Initiative ergriffen werden? Welche Interessen bestehen, welche Konsequenzen sind möglich, welche wünschbar? Konkrete Vorschläge für die Diskussion von Dilemmata im Fachunterricht und in Projekten finden sich in dem vom LSW Werkstattbericht Schule und Werteerziehung.21 Quelle: Rolf, Bernd: »Dilemmadiskussion. Ein Weg der Werteerziehung«, in: Lernchancen, 17, 2014, Heft 102: Kulturelle Schule, S. 18 – 25 (vom Autor für diesen Band überarbeitet).

21

Landesinstitut für Schule und Weiterbildung (Hrsg.): Schule und Werteerziehung. Beiträge zur Gestaltung des Schullebens und Öffnung von Schule, a.a.O.

Dilemmadiskussion Klaus Blesenkemper

 Aspekte einer etablierten Methode Das breit angelegte Unternehmen des amerikanischen Psychologen und Erziehungswissenschaftlers Lawrence Kohlberg (1927 – 1987), Dilemmageschichten mit diagnostischen und moralpädagogischen Intentionen diskutieren zu lassen, ist in Deutschland seit den 1980er Jahren fachphilosophisch diskutiert1 und vor allem allgemein- und fachdidaktisch aufgegriffen und weiterentwickelt worden.2 Bis in die Gegenwart hinein gilt in Schulbüchern zum Unterricht in Ethik, Praktische Philosophie, Werte und Normen usw. für die Sekundarstufe I wie auch für den Philosophieunterricht in der gymnasialen Oberstufe die Diskussion mit Dilemmata als eine Standardmethode; sie wird immer wieder vorgeschlagen und vorgestellt. Ergänzt werden diese Hinweise um einige mehr oder weniger für den Gebrauch in Schulen entwickelte Sammlungen von Dilemmata3 sowie um Abhandlungen zur Dilemma-Methode, die selbst eine Reihe von Dilemmata enthalten.4 Das Spektrum der in den erwähnten Materialien vorgeschlagenen Dilemmata ist recht breit. Das hängt auch mit je unterschiedlichen Auffassungen bezüglich dessen zusammen, was ein Dilemma ist bzw. was als Dilemma gelten soll. Dieser Begriffsklärungsfrage werde ich mich daher zuerst zuwenden. Die Beantwortung der didaktischen Fragen nach ›Warum und Wozu‹ der Dilemma-Diskussionen im Unterricht ist die Vor-

1

2

3

4

Vgl. Habermas, Jürgen: »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, in: Habermas, Jürgen: Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, stw 422, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1983, S. 127– 206. Vgl. z.B. Raters, Marie-Luise: Das moralische Dilemma im Ethik-Unterricht. Moralphilosophische Überlegungen zur Dilemma-Methode nach Lawrence Kohlberg, Thelem, Dresden 2011, S. 11– 43; vgl. Rolf, Bernd: »Dilemmadiskussion. Ein Weg der Werteerziehung«, in: Lernchancen, 17, 2014, Heft 102: Kulturelle Schule, S. 18 – 25. Vgl. Piel, Inga: Wie soll ich mich entscheiden? Dilemmageschichten mit Arbeitsanregungen für Jugendliche, Verlag an der Ruhr, Mülheim an der Ruhr 2009; vgl. Mutzbauer, Monica: Dilemmageschichten. Ethik Jahrgangsstufe 5 – 10, Bayrischer Schulbuch Verlag, München/Düsseldorf/Stuttgart 2006. Vgl. z.B. Lind, Georg: Moral ist lehrbar. Handbuch zur Theorie und Praxis moralischer und demokratischer Bildung, Erziehung – Gesellschaft – Schule, Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 22009; vgl. Kuld, Lothar; Schmid, Bruno: Lernen aus Widersprüchen. Dilemmageschichten im Religionsunterricht, Auer Verlag GmbH, Donauwörth 2001; vgl. Cohen, Martin: 99 moralische Zwickmühlen. Eine unterhaltsame Einführung in die Philosophie des richtigen Handelns, übers. von Seuß, Rita; Wollermann, Thomas, SP 4515, Piper Verlag GmbH, München/Zürich 2005; vgl. Zellux. Das Themenportal: Dilemmamethoden, auf: https://zellux.net/m.php?sid=208&page=1 (Stand: 21.09.2020).

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aussetzung dafür, begründete Verlaufspläne für den Einsatz dieser Methode im Unterricht zu skizzieren. Neben diesen Vorschlägen für ›klassische‹ Dilemmadiskussionen werde ich abschließend zwei spielerische Varianten vorstellen.

 Was ist ein Dilemma und was soll als Dilemma gelten? Befinde ich mich in einem Dilemma, wenn ich darlegen soll, was ein Dilemma ist? Die meisten würden die Frage verneinen, aber immer mehr Menschen könnten sie auch bejahen. Am 26. 09. 2012 beschrieb der Moderator Ingo Zamperoni in den ARD-Tagesthemen die verzweifelte Wirtschaftslage der Griechen mit den Worten: »Mit dem SisyphusDilemma kennen die Griechen sich aus. Da unternimmt man gewaltige Anstrengungen und am Ende reicht’s doch nicht. Athen spart und spart und trotzdem tun sich immer neue Finanzlücken auf.« Die Vergeblichkeit der griechischen Finanz-Bemühungen im Jahre 2012 schien in der Tat Ähnlichkeiten mit der ausweglosen, frustrierenden, gar absurden Arbeit des mythischen Sisyphus zu haben. Aber befanden sich Sisyphus, befanden sich die Griechen wirklich in einem Dilemma? Im alltäglichen Sprachgebrauch (und zum Teil auch in wissenschaftlicher Literatur) wird »Dilemma« immer häufiger zur Bezeichnung derartiger Zwangs- und Problemlagen verwendet. Wo es schwierig wird, etwa bei der Bestimmung dessen, was ein Dilemma ist, da wird schon vom Dilemma gesprochen. Dem ursprünglichen Wortsinn entspricht die einfache Gleichsetzung von »Zwangslage« und »Dilemma« aber nicht. Das griechische Wort besteht aus di für »zwei« und lemma für »Annahme« oder »Voraussetzung«. Es bezeichnete ursprünglich eine Schlussfigur der Logik. Heute wird der Begriff überwiegend auf Handlungen bezogen, so dass mit einem Dilemma ein praktisches und damit ethisch relevantes Problem bezeichnet wird. Wenn die Zwei für ein Dilemma konstitutiv ist, ist nicht jede praktische Zwangslage ein Dilemma, sondern nur eine solche, in der es einen Zwang gibt, sich zu ent-scheiden, nämlich zwischen zwei möglichen Handlungsoptionen. Und diese Entscheidung ist das Problem. Sie ist schwierig, problematisch aus folgenden Grunde: entweder ist die Verfolgung einer Option, egal welcher, immer mit unerwünschten Konsequenzen verbunden (Wahl zwischen ›Pest‹ oder ›Cholera‹), oder die Konsequenzen einer Option sind zwar positiv, aber schließen durch ihre Verfolgung die Bewirkung auch erwünschter positiver Konsequenzen der anderen nicht gewählten Option aus (im Tun des einen wird das andere versäumt). Sisyphus war in einer Zwangslage, aber nicht in der, zwischen Optionen wählen zu müssen, er hatte nichts zu ent-scheiden. Er war verurteilt, die von einem Gott verhängte Strafe zu vollziehen. Im Folgenden wird an der Zwei im (praktischen) Dilemma-Begriff festgehalten. Dass »Dilemma« heute auch in einem inflationär weiten Sinne ohne implizierte Zwei verwendet wird, ist möglicherweise ein Kommunikationsproblem, aber selbst kein Dilemma für die Begriffsbestimmung. Denn mit der Abweisung der weiten Bedeutung handelt man sich keine unerwünschten Konsequenzen ein. Es wird im Gegenteil die

Dilemmadiskussion

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Möglichkeit eröffnet, zwischen unterschiedlichen Arten von Zwangslagen präziser zu unterscheiden. Der Kernbereich ethisch relevanter dilemmatischer Zwangslagen werden moralische Dilemmata genannt. Nach Sellmaier liegen sie dann vor, wenn fünf Bedingungen erfüllt sind.5 Sie werden hier in vereinfachter Form aufgelistet und mit Beispielen, die sich meist auf das Müller-Dilemma beziehen (s. u.), angereichert: 1. In einer Entscheidungssituation gibt es zwei einander ausschließende Handlungsalternativen. (Beispiel: Eine Fundsache unterschlagen oder nicht unterschlagen) 2. Die Handlungsalternativen basieren auf zwei moralischen Forderungen oder Werten, die beide für den Handelnden maßgeblich sind und nicht durch eine(n) übergeordnete(n) Forderung/Wert übertroffen werden. (Beispiel: Hilfeleistungen für Notleidende und Achtung des Eigentumsrechtes) 3. Die Entscheidungssituation ist weder fahrlässig noch absichtlich herbeigeführt worden. (Gegenbeispiel: Jemand verspricht zwei Menschen, die sich an unterschiedlichen Orten befinden, sie zur selben Zeit zu besuchen. Die von ihm selbst herbeigeführte Zwangslage ist dann nicht dilemmatisch.) 4. Der Handelnde ist im Prinzip in der Lage, den beiden moralischen Forderungen entsprechend zu handeln. (Beispiel: Der Handelnde ist mit seinen Mitteln in der Lage, Notleidenden zu helfen und auch das Eigentumsrecht zu achten. Gegenbeispiel: Ein gelähmter Rollstuhlfahrer steht nicht vor dem Dilemma ›Selbstgefährdung versus Hilfestellung für einen Ertrinkenden‹, da er diesem nicht helfen kann.) 5. Der Handelnde kann in einer konkreten Entscheidungssituation nicht beiden für ihn maßgeblichen Forderungen oder Werten gleichzeitig gerecht werden. (Beispiel: Er kann in einem spezifischen Entscheidungsfall nicht zugleich das Eigentumsrecht achten und Notleidenden effektiv helfen.) Mit diesen Bedingungen für das moralische Dilemma grenzt sich Sellmaier von anderen Begriffsbestimmungen ab. Eine Abgrenzung wird im Folgenden aufgegriffen, zwei andere sollten aus didaktischen Gründen aufgeweicht werden. In der fachwissenschaftlichen Diskussion wird zum Teil bestritten, ob es tatsächlich moralische Dilemmata gibt. Viele moralische Konflikte erwiesen sich als Scheinkonflikte, die sich bei genauerer Analyse der Situation und der moralischen Forderungen lösen ließen. Aber auch dort, wo dies nicht möglich zu sein scheint, bliebe letztlich kein wirklicher Widerspruch zwischen moralischen Anforderungen bestehen. Denn nach dem kantisch-ethischen Grundsatz ›Sollen impliziert Können‹ könne es keine ver-

5

Sellmaier, Stephan: Ethik der Konflikte. Über den angemessenen Umgang mit ethischem Dissens und moralischen Dilemmata, Ethik im Diskurs, Bd. 2, hrsg. vom Münchner Kompetenzzentrum Ethik (MKE), Verlag W. Kohlhammer Stuttgart 2011, S. 50 – 51.

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bindliche Pflicht geben, der man nicht entsprechen könne. Eine Pflicht, die in einer bestimmten Situation keine Pflicht ist, ist eben keine Pflicht.6 Eine solche Argumentation hält Sellmaier für problematisch. Die Existenz von echten Dilemmata ausschließen zu wollen, werde der Komplexität vieler ethisch relevanter Phänomene nicht gerecht und verbaue der Ethik Problemlösungschancen: »Die Annahme der Realität genuiner Dilemmata […] ist näher an den tatsächlichen, von uns ethisch zu untersuchenden Phänomenen und erlaubt uns eine Entwicklung von Theorien, einer Ethik der Konflikte, die besser für die Bewältigung unserer tatsächlichen Entscheidungsprobleme geeignet ist«.7 Und die Annahme der Existenz von Dilemmata entspricht auch eher dem Vorverständnis der meisten Menschen und vor allem der meisten Schülerinnen und Schüler, die sich vielfältig in »Zwickmühlen« gefangen sehen. Sie sind aber gleichwohl aufgefordert, ein Dilemma auf seine mögliche Scheinhaftigkeit hin zu überprüfen. Zu den moralischen Konflikten, die Sellmaier aus dem Bereich der Dilemmata ausschließen möchte, gehören ethische Dissense. Wenn etwa eine Fallbeurteilung unterschiedlich ausfällt, je nachdem ob utilitaristische oder deontologische Prinzipien zugrunde gelegt werden, dann liege ein solcher Dissens vor, nicht aber ein moralisches Dilemma. Dieses beziehe sich immer auf eine ethische Grundtheorie. Zu einer besonderen Form des Dissenses gehören folgende: »Bei Rollenkonflikten, denen einzelne Individuen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenen kulturell differenzierten Teilgemeinschaften einer Gesellschaft ausgesetzt sind, handelt es sich um den auf den Einzelfall spezifizierten ethischen Dissens. In pluralen Gesellschaften kommt es zu einer Häufung dieser individuellen Rollenkonflikte«.8 Begrifflich mögen solche Rollenkonflikte sinnvoll als Dissense zwischen zwei Theorien gefasst werden, aus der Perspektive des ganzheitlichen Erlebens vor allem jüngerer Akteure sollten sie unter didaktischen Gesichtspunkten als Dilemmata im weiteren Sinne gelten können. Aus derselben Perspektive folgt für didaktische Zwecke eine noch gravierendere Erweiterung des Dilemmabegriffs. Sellmaier zählt – sicherlich in Übereinstimmung mit den meisten Moralphilosophen – Kollisionen »zwischen moralische[n] Forderungen mit dem Selbstinteresse eines Akteurs […] nicht zu dem Bereich moralischer Dilemmata«.9 Welche Gegenüberstellung hier gemeint ist, soll an zwei ähnlichen, im entscheidenden Punkt aber divergierenden Situationen illustriert werden. Sie werden

6

7

8 9

Vgl. Boshammer, Susanne: »Von schmutzigen Händen und reinem Gewissen – Konflikte und Dilemmata als Problem der Ethik«, in: Ach, Johann S.; Bayertz, Kurt; Siep, Ludwig (Hrsg.): Grundkurs Ethik, 2 Bde., Bd. 1: Grundlagen, mentis Verlag, Paderborn 2008, S. 143 – 161: S. 152 – 153; vgl. Raters, MarieLuise: Das moralische Dilemma im Ethik-Unterricht. Moralphilosophische Überlegungen zur Dilemma-Methode nach Lawrence Kohlberg, a.a.O., S. 128 – 130. Sellmaier, Stephan: Ethik der Konflikte: Über den angemessenen Umgang mit ethischem Dissens und moralischen Dilemmata, a.a.O., S. 55. Ibid., S. 11. Ibid., S. 49.

Dilemmadiskussion

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ausführlich zitiert, da sie auch zur ethischen Reflexion innerhalb und außerhalb von Dilemmadiskussionen in der Schule geeignet sind. Der Moralphilosophie Kurt Bayertz stellt eine Entscheidungssituation des fiktiven Herrn »Müller« der des ebenso erfundenen Herrn »Meier« gegenüber: »Beide Geschichten haben ihren Ausgangpunkt in der Suche nach einem Parkplatz in einer Tiefgarage. […].« Die erste Geschichte, die des fiktiven Herrn Müller, zitiert auch Bernd Rolf in seinem Beitrag zu diesem Band.10 In der zweiten Geschichte, die der ersten gegenübergestellt wird, findet jemand »(nennen wir ihn Meier) an der dunkelsten Stelle der Tiefgarage die wohlgefüllte Brieftasche eines reichen Immobilienspekulanten. Auch Meier kennt die grundsätzliche moralische Verpflichtung, Gefundenes zurückzuerstatten; und auch er zögert. Der Grund für sein Zögern unterscheidet sich allerdings von dem Müllers. Er möchte nämlich seit langem einen Urlaub in einem komfortablen Golfhotel auf den Bahamas verbringen, von dem ihm betuchte Freunde vorgeschwärmt haben. Die gefundene Summe würde ausreichen, diesen Urlaub zu finanzieren«.11 Herr Müller befindet sich in einem moralischen Dilemma, das den Bedingungen von Sellmaier entspricht, erkennbar an den den Bedingungen beigefügten Beispielen. Herr Meier nicht, er weiß genau, was moralisch geboten ist. Insofern braucht er sich nicht zu ent-scheiden. Er befindet sich nicht in einem Konflikt innerhalb einer Moral, sondern mit der Moral. Sein Zwiespalt ist der zwischen Moral und Eigeninteresse. Die Psychologin Monika Keller beklagt in ihrem Forschungsgebiet die Nicht-Berücksichtigung von Dilemmata, »in denen moralische Verpflichtungen mit egoistischen Neigungen im Konflikt stehen und eigene Interessen zu Gunsten der Bedürfnisse anderer zurückgestellt werden müssen. […] Dieser Typ von moralischen Dilemmata hat in der entwicklungspsychologischen Forschung unverdient wenig Beachtung gefunden, obwohl solche Konflikte im Alltagshandeln allgemein und insbesondere bei Kindern und Jugendlichen sehr häufig sind«.12 Was für die Erforschung der moralischen Motivation billig ist, die Berücksichtigung dieser Art von Dilemmata, sollte auch für Dilemmadiskussionen als Methode des philosophischen Unterrichts recht sein, vor allem dann, wenn die Schülerinnen und Schüler noch so jung sind, dass ihr moralischer Horizont den des eigenen Ichs noch nicht sehr weit übersteigt, also – in Termini Kohlbergs – das Urteilsniveau noch präkonventionell ist. Zur Erinnerung: Kohlberg unterscheidet zwischen dem präkonventionellen Urteilsniveau mit der Orientierung an Gehorsam, Strafe und Autorität (1. Stufe) oder individuellem Austausch von Interessen (2. Stufe), dem konventionellen Urteilsniveau

10

11 12

Bayertz, Kurt: Warum überhaupt moralisch sein?, Verlag C.H. Beck, München 2004, S. 14. Im vorliegenden Band S. 57. Ibid., S. 18. Keller, Monika: »Moral in Beziehungen. Die Entwicklung des frühen moralischen Denkens in Kindheit und Jugend«, in: Edelstein, Wolfgang; Oser, Fritz; Schuster, Peter (Hrsg.): Moralische Erziehung in der Schule. Entwicklungspsychologie und pädagogische Praxis, Beltz Pädagogik, Beltz Verlag, Weinheim/ Basel 2001, S. 111– 140: S. 112; vgl. Rolf, Bernd: »Dilemmadiskussion. Ein Weg der Werteerziehung«, a.a.O.

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mit der Orientierung an der sozialen Gruppe im Nahbereich (3. Stufe) oder der Gesellschaft im ganzen (4. Stufe) sowie dem postkonventionellen Niveau mit der Orientierung am revidierbaren Sozialvertrag (5. Stufe) oder der Orientierung an universalen Prinzipien bzw. dem dies berücksichtigenden Gewissen (6. Stufe).13 Im Sinne der vorgeschlagenen Erweiterung des Dilemmabegriffs empfiehlt auch der Philosophiedidaktiker Pfeifer für die inhaltliche Gestaltung des Dilemmas, man »sollte sich an der Stufenzughörigkeit der Schüler orientieren: Befinden sie sich zwischen Stufen 1 und 2, dann sollte in dem zur Diskussion stehenden Dilemma der Konflikt zwischen den eigenen Bedürfnissen und den Interessen anderer im Mittelpunkt stehen (z. B. selbstbezogener Spaß vs. Gehorsam gegenüber Autoritäten)«.14 Zusammenfassend ergibt sich folgendes Bild: Das begriffliche Spektrum von ›Dilemma‹ umfasst an einem Pol alle möglichen Zwangslagen, und auf der entgegengesetzten Seite ist das Begriffswort so eng gefasst, dass dem so Begriffenen alle Realität abgesprochen wird. Diese Extreme bleiben für die folgenden Erwägungen unberücksichtigt. Der fachphilosophisch begründete Begriff des moralischen Dilemmas nach Sellmaier – zwischen diesen Extremen verortet – soll aber unter didaktischen Gesichtspunkten erweitert werden, um Rollenkonflikte wie auch um Situationen des Zwiespalts zwischen moralischen Forderungen und egoistischen Neigungen. Als ›Dilemma‹ für Dilemmadiskussion soll daher – einfach formuliert – gelten: eine »konflikthafte Situation, in der sich unvereinbare Interessen und Werte gegenüberstehen und jede Handlungsmöglichkeit falsch zu sein scheint«.15 Diese für Schülerinnen und Schüler formulierte Definition entspricht der hier geforderten Weite und motiviert zudem auch zu genauerer Untersuchung, da der ›Schein‹ ja trügen könnte.

 Warum und wozu Dilemmadiskussionen? Eine der vier Kantischen Fragen, nämlich die ethische Grundfrage, lautet: »Was soll ich tun?« In dilemmatischen Ent-scheidungssituationen wird sie individualisiert und konkretisiert zu: »Was soll ich bloß in dieser Situation tun? Wie soll ich mich hier nur entscheiden?« Dilemmasituationen sind somit ethisch relevante Probleme par excellence

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Vgl. Kohlberg, Lawrence: »Moralstufen und Moralerwerb«, in: Kohlberg, Lawrence: Die Psychologie der Moralentwicklung, dieser Beitrag übers. von Döbert, Rainer; Portele, Marei, hrsg. von Althof, Wolfgang unter Mitarbeit von Noam, Gil und Oser, Fritz, stw 1232, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1996, S. 123 – 174; vgl. Raters, Marie-Luise: Das moralische Dilemma im Ethik-Unterricht. Moralphilosophische Überlegungen zur Dilemma-Methode nach Lawrence Kohlberg, a.a.O., S. 11– 16. Pfeifer, Volker: Didaktik des Ethikunterrichts. Bausteine einer integrativen Wertevermittlung, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2013 (überarbeitete und erweiterte Auflage), S. 316. Brauer, Leonore; Blesenkemper, Klaus; Breun, Richard; Christmann, Andreas; Dannecker, Susanne; Eis, Andreas; Glöfe, Katrin; John, Brigitte; Kenngott, Eva-Maria; Kötteritzsch, Hans-Ulrich; Littmann, Franz; Paschenda, Klaus; Puhl, Bernd; Rink, Manfred; Schäfer, Thomas; Tworuschka, Monika; Usarski, Frank; Vering, Axel: Leben leben 2, Schulbuch für Praktische Philosophie und Ethik für Klasse 7– 9 an Gymnasien und 7– 10 an Real- und Gesamtschulen, Ernst Klett Verlag, Stuttgart/Leipzig 2009, S. 102.

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– ein erster fachphilosophischer Grund, sie im philosophischen Unterricht zur Diskussion zu stellen. Moralische Konflikte, auch moralische Dilemmata, vor allem wenn sie – wie hier vorgeschlagen – weiter gefasst werden, begegnen uns überall. Sie gehören zur alltäglichen Erfahrungswelt auch und gerade jüngerer Menschen. Solche Alltagskonflikte von Schülerinnen und Schülern können in zweifacher Weise im Unterricht zum Gegenstand werden: entweder ihrer Struktur nach, insofern sie sich als moralische Dilemmata (mehr oder weniger beliebigen Inhalts) erweisen, oder strukturell und inhaltlich als konkrete Dilemmata der Lernenden selbst. In beiden Fällen – im zweiten mehr als im ersten – werden die Schülerinnen und Schüler die Erfahrung machen: tua res agitur. Dass es mit Dilemmata in vielen Fällen um die ureigenen Angelegenheiten der Schülerinnen und Schüler selbst geht, ist ein zweiter, motivationaler Grund, sie im Unterricht zu diskutieren. Nicht zu wissen, was man tun soll, stellt eine Verunsicherung dar, einen kognitiven Konflikt.16 Vor allem für junge Menschen sind solche Perturbationen Anlässe und Quellen der Erweiterung ihrer kognitiven Fähigkeiten. Schon der Schweizer Entwicklungspsychologe Jean Piaget (1896 – 1980) hatte mögliche Lernzuwächse als ein Wechselspiel von Assimilation und Akkommodation des Subjekts im Hinblick auf Begegnendes in der Welt begriffen. Wenn etwas nicht in die Strukturen der im Subjekt etablierten Denkweise passt, kann das Subjekt versuchen, das Neue für sich passend zu machen (Assimilation), wird häufig aber dazu bewogen werden, umgekehrt die eigenen Strukturen angesichts des Neuen anzupassen (Akkommodation). Dies aufgreifend ging auch Kohlberg davon aus, dass die Begegnung mit Dilemmasituationen junge Menschen in der Art und Weise verunsichert, dass sie genötigt sind, eine etablierte und bewährte Urteilsweise infrage zu stellen und ein neues, differenzierteres Beurteilungsschema zu erproben. Dilemmata können und müssen so zur Erweiterung der Urteilsfähigkeit beitragen. Sie ermöglichen Lernenden, auf einer höheren Stufe des Argumentationsniveaus im Sinne Kohlbergs moralische Probleme anzugehen.17 Der dritte Grund, sie im Unterricht zu diskutieren, ist somit entwicklungs- und lerntheoretischer Provenienz. Mit der Dilemmamethode werden folglich hohe Erwartungen verbunden. Pfeifer nennt bezüglich der durch sie erweiterbaren Kompetenzen nicht weniger als sechs Teilbereiche: 1. »Selbstreflexion: Die Schüler werden sich ihrer Werthaltungen bewusst. 2. Empathie: Die Schüler fühlen sich durch Perspektivenwechsel in fremde Wahrnehmungen, Einstellungen ein.

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Henke, Roland W.: »Die Förderung philosophischer Urteilskompetenz durch kognitive Konflikte«, in: Nida-Rümelin, Julian; Spiegel, Irina; Tiedemann, Markus (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik, 2 Bde. Bd. 1: Didaktik und Methodik, UTB 8617, Ferdinand Schöningh, Paderborn 2015, S. 86 – 95. Vgl. Rolf, Bernd: »Dilemmadiskussion. Ein Weg der Werteerziehung«, a.a.O.

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3. Kommunikation: Die Schüler verbalisieren ihre Positionen, nehmen andere auf und setzen sich damit auseinander. 4. Argumentation: Die Schüler untersuchen Gründe auf ihre Relevanz und Triftigkeit. Sie setzen Prioritäten und nehmen Güterabwägungen vor. Sie urteilen kontextsensitiv, indem sie die Besonderheiten des Einzelfalls berücksichtigen. Sie suchen konstruktiv nach Lösungen und entwickeln moralische Phantasie. 5. Argumentierhaltung: Die Schüler entwickeln eine rationale Argurnentierhaltung. Sie werden sich bewusst, einer rationalen Diskursgemeinschaft anzugehören, in der ein ›milder Zwang des besseren Arguments‹ herrscht. 6. Ambiguitätstoleranz: Die Schüler lernen, mit Zweideutigkeiten, Widersprüchen und Aporien umzugehen«.18 Lawrence Kohlberg und sein Schüler Georg Lind sind auch aufgrund entsprechender empirischer Untersuchungen überzeugt, dass die Dilemmadiskussionen zu einer signifikanten Steigerung der moralischen Urteilsfähigkeit führen.19 In diesem Sinne gelte: »Moral ist lehrbar«.20 Aber moralische Urteilsfähigkeit und die Fähigkeit zu moralischem Handeln fallen nicht per se zusammen.21 Doch entsprechende Einflüsse gebe es durchaus. Lind verweist auf ein Experiment, bei dem zwei Probandengruppen bezüglich ihrer Bereitschaft getestet wurden, in einer Notsituation schnell zu helfen. In beiden Gruppen war die Haltung, gegebenenfalls helfen zu wollen, nahezu gleich ausgeprägt. Die Gruppen unterschieden sich aber hinsichtlich des Niveaus der Urteilsfähigkeit. Die Gruppe mit höherem Urteilsniveau (im Sinne Kohlbergs) war deutlich schneller in der Lage zu helfen als die Kontrollgruppe. Warum? »Der offenkundigste Unterschied zwischen beiden Gruppen bestand darin, dass diejenigen, die schließlich etwas unternahmen, es schneller schafften, die widerstreitenden Überlegungen zu klären und zu einer Entscheidung zu kommen, als die Gruppe, die regungslos sitzen blieb. Ihr Nichtstun war offenbar nicht die Folge einer bewussten Entscheidung gegen das Helfen auf Grund antisozialer Motive, sondern die Folge einer Unfähigkeit, die inneren Dilemmas zu lösen, die durch den Vorfall [der plötzlichen Konfrontation mit einer Notsituation im psychologischen Experiment, K.B.] ausgelöst wurden«.22 Insofern könnten Dilemmadiskussionen sogar dazu beitragen, prosoziales Verhalten zu fördern.

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Pfeifer, Volker: Didaktik des Ethikunterrichts. Bausteine einer integrativen Wertevermittlung, a.a.O., S. 318. (bei Pfeifer ohne Nummerierung) Vgl. Rolf, Bernd: »Dilemmadiskussion. Ein Weg der Werteerziehung«, a.a.O. Lind, Georg: Moral ist lehrbar. Handbuch zur Theorie und Praxis moralischer und demokratischer Bildung, Erziehung, a.a.O. Kohlberg, Lawrence: »Die Beziehung zwischen moralischem Urteil und moralischem Handeln« (1984)«, in: Kohlberg, Lawrence: Die Psychologie der Moralentwicklung, dieser Beitrag übers. von Eckensberger, Uta S., hrsg. von Althof, Wolfgang unter Mitarbeit von Noam, Gil und Oser, Fritz, stw 1232, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1996, S. 373 – 493. Lind, Georg: Moral ist lehrbar. Handbuch zur Theorie und Praxis moralischer und demokratischer Bildung, Erziehung, a.a.O., S. 57.

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In der kritischen Diskussion und Revision des Ansatzes von Kohlberg weist Marie-Luise Raters23 in eine Richtung, welche die von Pfeifer genannte 4. Kompetenz (s. o.) genauer entfaltet. Unter anderem von Habermas angeregt, der dem richtigen moralischen Urteil als notwendige weitere Kompetenz eine »praktische Klugheit bei der Regelanwendung« und die Fähigkeit zur »kontextsensitiven Anwendung allgemeiner Normen« 24 an die Seite stellt, plädiert Raters für eine neue 7. Stufe des Kohlbergschemas. Gemäß dieser seien Menschen in der Lage, für einen »situativ begründeten […] Prinzipienverstoß« 25 argumentativ einzutreten. Ein Denken auf dieser Stufe sei von Erfahrungen geprägt, »dass es Situationen geben kann, in denen ein Verstoß gegen etablierte moralphilosophische Prinzipien moralisch geboten ist, obwohl der Akteur weiß, dass es generell nicht erstrebenswert ist, die jeweiligen Moralprinzipien im Sinne eines moralischen Nihilismus ganz aufzugeben oder im Sinne eines moralischen Relativismus infrage zu stellen«.26 Auch Günther Ortmann verweist in seinen organisationssoziologischen Erwägungen auf Habermas’ These, dass Regeln mit Anwendungsproblemen verbunden seien, verlangt aber mehr, vielleicht sogar mehr als Raters: »Daß die Anwendung von Regeln paradoxerweise ihre regelmäßige Verschiebung, Veränderung, Ergänzung, Ersetzung und Verletzung impliziert […], finde ich dort [bei Habermas und seinen Nachfolgern, K. B.] nicht energisch thematisiert«.27 Erst der Einbezug der Regelverletzung, die »Inklusion des Chaos in das Reich der Ordnung stabilisiert die Ordnung«.28 Dies erfordert somit als kontextsensitive neue Kompetenz die »Regelverletzungskompetenz«.29 Wie sie von Lehrenden zur Geltung gebracht werden muss und gebracht wird, zeigt Ortmann eindrucksvoll.30 Man wird sie auch für Schülerinnen und Schüler als »praktische Klugheit« zu einer förderungswürdigen Kompetenz erklären dürfen. Im Sinne eines energischen Plädoyers für die Förderung einer so verstandenen Regelverletzungskompetenz bei Schülerinnen und Schülern – auch durch Dilemmadiskussionen – scheint Raters argumentieren zu wollen: »Für mein Plädoyer für eine Erweiterung von Kohlbergs Stufenfolge um eine 7. Stufe des situativ begründeten Prinzipienverstoßes führe ich vor allem das normative Argument ins Feld, dass es in meinen Augen nicht zu verantworten wäre, wenn in unseren Schulen puristische Prinzipienmoralisten ›herangezüchtet‹ würden.« 31

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Vgl. S. 27– 46 in diesem Band. Habermas, Jürgen: »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, in: Habermas, Jürgen: Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, a.a.O., S. 193 – 194. Raters, Marie-Luise: Das moralische Dilemma im Ethik-Unterricht. Moralphilosophische Überlegungen zur Dilemma-Methode nach Lawrence Kohlberg, a.a.O., S. 87. Ibid., S. 87. Ortmann, Günther: Regel und Ausnahme. Paradoxien sozialer Ordnung, es 2293, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003, S. 137. Ibid., S. 189. Ibid., S. 204. Ibid. Raters, Marie-Luise: Das moralische Dilemma im Ethik-Unterricht. Moralphilosophische Überlegungen zur Dilemma-Methode nach Lawrence Kohlberg, a.a.O., S. 95.

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 Verlaufspläne für Dilemmadiskussionen Bevor ich auf Verlaufspläne eingehe, zunächst noch einige Bemerkungen zur Auswahl des zu diskutierenden Dilemmas: Aus oben bereits erwähnten motivationalen Gründen sind vor allem Dilemmata geeignet, die eine Nähe zur Lebenswelt der jeweiligen Schülerinnen und Schüler aufweisen.32 Die erwähnten Sammlungen entsprechen dem in der Regel. Sie sind auch so gestaltet, dass eine Entscheidung schwer fällt und sich meist die Gesamtlerngruppe tendenziell in zwei gleichgroße Untergruppen (Pro- und Contra-Gruppe) aufteilt. Kaum geeignet ist das berühmteste Dilemma in der Geschichte der Dilemmamethode, das Heinz-Dilemma von Kohlberg. Als rein hypothetisches Dilemma hat es mit deutschen Verhältnissen und erst recht mit den Lebensumständen junger Menschen in Deutschland nichts zu tun. Es sollte daher, wie Raters mit Recht fordert, aus didaktischen Gründen »in den längst verdienten Ruhestand geschickt werden«.33 Der Lebensweltbezug eines Dilemmas ist dann sicherlich nicht verfehlt, wenn es nicht nur als in die Lebenswelt junger Menschen eingepasst gedacht werden kann, sondern wenn es direkt aus ihr stammt (vgl. das zum Abschluss vorgestellte Spiel). Hinsichtlich des generellen Ablaufschemas einer Dilemmadiskussion, für die eine Lehrkraft nach Möglichkeit 90 Minuten einplanen sollte, herrscht unter Didaktikern im Prinzip weitgehend Einigkeit. Je nach Differenzierungsgrad in der Darstellung skizzieren oder entfalten sie drei bis neun gegebenenfalls wieder unterteilte Unterrichtsschritte.34 Im Folgenden orientiere ich mich am Vier-Schritt-Schema von Pfeifer35 und füge unter Berücksichtigung der anderen Vorschläge Erläuterungen, Ergänzungen und Differenzierungen hinzu:

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Vgl. Rolf, Bernd: »Dilemmadiskussion. Ein Weg der Werteerziehung«, a.a.O.; vgl. Goergen, Klaus: »Argumentationsschulung«, in: Nida-Rümelin, Julian; Spiegel, Irina; Tiedemann, Markus (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik, 2 Bde. Bd. 1: Didaktik und Methodik, UTB 8617, Ferdinand Schöningh, Paderborn 2015, S. 214 – 223. Raters, Marie-Luise: Das moralische Dilemma im Ethik-Unterricht. Moralphilosophische Überlegungen zur Dilemma-Methode nach Lawrence Kohlberg, a.a.O., S. 29. Vgl. Zellux. Das Themenportal: Dilemmamethoden, a.a.O.; vgl. Pfeifer, Volker: Didaktik des Ethikunterrichts. Bausteine einer integrativen Wertevermittlung, a.a.O., S. 190; vgl. Piel, Inga: Wie soll ich mich entscheiden?: Dilemmageschichten mit Arbeitsanregungen für Jugendliche, a.a.O., S. 6; vgl. Rolf, Bernd: »Dilemmadiskussion. Ein Weg der Werteerziehung«, a.a.O., erläutert anhand des oben zitierten MüllerDilemma von Bayertz; vgl. Raters, Marie-Luise: Das moralische Dilemma im Ethik-Unterricht. Moralphilosophische Überlegungen zur Dilemma-Methode nach Lawrence Kohlberg, a.a.O., S. 17– 18; vgl. Mutzbauer, Monica: Dilemmageschichten. Ethik Jahrgangsstufe 5 – 10, a.a.O., S. 5 – 6; vgl. Lind, Georg: Moral ist lehrbar. Handbuch zur Theorie und Praxis moralischer und demokratischer Bildung, Erziehung, a.a.O., S 133; weitere Schemata in Kuld, Lothar; Schmid, Bruno: Lernen aus Widersprüchen. Dilemmageschichten im Religionsunterricht, a.a.O., S. 151– 158. Pfeifer, Volker: Didaktik des Ethikunterrichts. Bausteine einer integrativen Wertevermittlung, a.a.O., S. 190.

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1. »Konfrontation mit einem moralischen Dilemma« Die Schülerinnen und Schüler lernen das ausgewählte Dilemma kennen, indem die Lehrkraft es vorträgt oder sie selbst den entsprechenden Text in Einzelarbeit gründlich lesen. Kennenlernen heißt hier auch, dass sich eine kürzere Unterrichtsphase anschließt, in der gemeinsam der Kern des moralischen Problems herausgearbeitet wird, so dass allen das Dilemmatische klar vor Augen steht. Insbesondere gilt es zu klären, welche Normen, Werte und Interessen sich hier widersprechen.

2. »Festlegung einer ersten Position« Dem Zwang, sich für ein ›Übel‹ entscheiden zu müssen, wollen sich erfahrungsgemäß nicht alle Schülerinnen und Schüler unterwerfen. Sie suchen nach Auswegen oder Kompromissen. Die Lehrperson muss hier aber um der Klarheit willen auf der Struktur des Entweder-Oder beharren und kann allenfalls mögliche Differenzierungen für spätere Diskussionen in Aussicht stellen. Dieser erste Schritt dient dazu, dass die Lernenden im Sinne der 1. von Pfeifer genannten Kompetenz sich ihrer Werthaltungen bewusst werden. Außerdem wird so die Chance eröffnet, klarer zu erkennen, ob sich die Einstellung durch den diskursiven Prozess (vgl. 4. Schritt) ändert. Diese erste Abstimmung sollten nach Lind zunächst mit geschlossenen Augen erfolgen, damit gruppendynamische Einflüsse auf die eigene Entscheidung weitgehend ausgeschlossen werden. Für die weitere Diskussion muss aber allen klar sein, wer welche Position vertritt.

3. »Überprüfen der Positionen und ihrer Begründungen« Dies ist der diskursive Kern einer Dilemmadiskussion, die in Kleingruppenarbeit erfolgen sollte. Die Gruppen können arbeitsgleiche Aufgaben erhalten und sind bezüglich der vorläufig eingenommenen Positionen heterogen zusammengesetzt. In diesem Fall erörtert jede Gruppe den Gesamtkomplex des Dilemmas mit Pro- und Contra-Begründungen. Nach Lind ist es erfolgversprechender, wenn die Gruppen positionshomogen zusammengesetzt sind. Pro- und Contra-Gruppen sammeln zunächst für sich die Argumente. Im nächsten Schritt werden sie vor allem dadurch geprüft, dass sie mit Argumenten hierarchisiert werden. Die Ergebnisse werden für alle sichtbar notiert. Dann folgt nach Lind ein wie mir scheint besonders wichtiger Teilschritt: Die Untergruppen wenden sich den Argumenten der Gegenposition zu und versuchen, diese in eine Rangordnung zu bringen. Auf diese Weise werden Perspektivwechsel und fruchtbare Irritationen gefördert (vor allem 2. und 5. Kompetenz nach Pfeifer). Nach diesem Teilschritt erfolgt im Plenumsgespräch ein Austausch zwischen allen Gruppen. Lind votiert für eine Ermutigung von Minderheitenmeinungen; Piel plädiert

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für das »Fällen einer gemeinsamen Entscheidung«. Dies mag in manchen Fällen möglich sein, eine Konsensfindung sollte bei Dilemmata aber nicht obligatorisch sein.

4. »Nachdenken über die eigene Position« (Stellungnahme und Auswertung) Am Ende des Diskurses steht die Re-flexion, die Rück-Beugung des lernenden Subjektes auf sich selbst. Jede(r) Einzelne sollte auf der Basis der vorgebrachten und bewerteten Argumente zu einer definitiven Position finden, diese in einer Schlussabstimmung bekunden und mit der vorläufigen Abstimmung aus dem 2. Schritt vergleichen. Die dann noch von manchen vorgeschlagene Nachbesprechung kann sich auf einzelne Aspekte des Dilemmas, mögliche (Teil-)Auswege und/oder auf die Methode beziehen.

 Zwei Spielerische Varianten von Dilemmadiskussionen Das Gefangenen-Dilemma36, das hier im Detail nicht entfaltet werden kann37, spielt eine wichtige Rolle in der Diskussion um Möglichkeiten und Grenzen kooperativer Handlungen von Akteuren, die am eigenen Interesse orientiert sind. Seine Bedeutung gewinnt es dadurch, dass es eine Struktur abbildet, »die sich in vielen ansonsten sehr unterschiedlichen Handlungssituationen wiederfinden lässt«.38 So gelingt es auch Piel39 eine solche Handlungssituation aus der Schülerlebenswelt für ihre Dilemmata-Vorschläge auszugestalten. Es kann dann im Sinne der oben umrissenen Ablaufpläne diskutiert werden. Das Gefangenen-Dilemma ist aber auch im Original aufschlussreich und diskussionswürdig. Seine Tragweite kommt nach meinen Erfahrungen dann besonders gut zur Geltung, wenn es im Unterricht nicht nur diskutiert, sondern simulierend gespielt wird. Demnach sollen zwei Schülerinnen bzw. Schüler sich in die Situation versetzen, als ›Gefangene‹, durch eine wirksame Sichtblende getrennt und schweigend an Tischen sitzend, eine Entscheidung treffen zu müssen. Jede(r) nimmt zunächst die Dilemmasituation in Textform zur Kenntnis, überlegt und soll dann durch entsprechend beschriftete Karten nur den Mitschülerinnen und Mitschülern, die auch den Dilemmatext kennen, gegenüber bekunden, ob sie oder er die für dieses Dilemma angenommene ›Straftat gesteht‹ oder ›leugnet‹. In einer weiteren Phase können dann Entscheidungsgründe genannt, erläutert und hinsichtlich der allgemeinen Konsequenzen für

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Bayertz, Kurt: Warum überhaupt moralisch sein?, a.a.O., S. 147– 155. Spiegel, Irina: »Logik & Entscheidungs- und Spieltheorie«, in: Nida-Rümelin, Julian; Spiegel, Irina; Tiedemann, Markus (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik, 2 Bde. Bd. 1: Didaktik und Methodik, UTB 8617, Ferdinand Schöningh, Paderborn 2015, S. 224 – 229. Bayertz, Kurt: Warum überhaupt moralisch sein?, a.a.O., S. 150. Piel, Inga: Wie soll ich mich entscheiden?: Dilemmageschichten mit Arbeitsanregungen für Jugendliche, a.a.O., S. 94.

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Kooperationsfragen diskutiert werden. Die dürre Matrix für mögliche Entscheidungskombinationen beim Gefangenen-Dilemma40 wird auf diese Weise mit Leben gefüllt. Schülerinnen und Schüler spüren gleichsam am eigenen Leibe oder als Mitschülerin bzw. Mitschüler in Empathie mit den ›Gefangenen‹, dass eine rein egoistische Entscheidung zu suboptimalen Ergebnissen führt und andererseits kooperatives Verhalten risikoreich ist. »Deine Klassenkameradin hat Mundgeruch. Sagst du es ihr?« »Du stehst mit deiner Clique zusammen und redest. Dann kommt ein Mädchen, was ihr alle nicht mögt. Lasst ihr sie mitreden?« »Du hast heimlich die Lieblingsbluse deiner Schwester getragen und kaputt gemacht. Hängst du sie zurück, ohne etwas zu sagen?« »Eine Freundin gibt dir ihre Philomappe, da dir einige Sachen fehlen. Ihre Mappe ist perfekt. Sie kommt kurzfristig ins Krankenhaus. Gibst du ihre Mappe als deine ab?« »Dein Freund will von dir Geld ausleihen. Du weißt, dass er es nicht zurückgeben kann, weil er ganz viele Schulden hat. Gibst du ihm trotzdem das Geld?« »Du siehst auf der Straße ein Mädchen, das von 3 Skinheads bedrängt wird. Hilfst du ihr?« Dies ist eine kleine Auswahl von Dilemmata von Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe I. Sie sind notiert auf Karten des Spiels »Wie soll ich mich entscheiden?«. Es handelt sich um ein Dilemmaspiel, das Schülerinnen und Schüler ohne großen Aufwand weitgehend selbst entwickeln und im Unterricht spielen können.41 Der Kerngedanke des Kartenspiels ist folgender: Schülerinnen und Schüler sammeln eine Reihe von Dilemmata aus ihrem Alltag und notieren sie auf Fragekarten. Im Spiel in einer Gruppe von bis zu zehn Schülerinnen und Schülern wird jeweils ein Dilemma von einem Mitspieler (a) vorgelesen, so dass sich alle damit gedanklich auseinandersetzen müssen. Ein weiterer Mitspieler (b) muss laut eine begründete Entscheidung zu einer solchen Dilemma-Frage bekanntgeben. Er hat dazu drei Antwortmöglichkeiten »Ja«, »Nein« oder »Es kommt darauf an«. Im Falle der letzten Antwort muss angegeben werden, worauf es ankommt. Hier ist besondere Kontextsensitivität gefordert. Alle Antworten müssen begründet werden. Es geht also auch um Argumentationskompetenz. Der Mitspieler (a) beweist besondere Menschenkenntnisse bzw. Empathie, wenn er die Antwort von (b) vorausgeahnt hat, d. h. wenn er ihn mit der richtigen Antwortkarte vorab verknüpft hat. In diesem Falle hat er formal den Spielzug gewonnen. In der Risikovariante des Spiels kann jeder Spieler die gegebene Antwort von (b) anzweifeln und eine kurze Dilemmadiskussion initiieren. Der von Schülerinnen und Schülern bestätigte Reiz des Spiels besteht vor allem darin, dass es ›ihre‹ Dilemmata sind, mit denen sie sich spielerisch auseinandersetzen. Außerdem sind sie auch schon bei der Vorbereitung kreativ. In mehreren Lerngruppen eingesetzt, wächst im Laufe der Zeit der Stapel der Fragekarten, so dass das Spiel immer abwechslungsreicher wird und in mehreren Untergruppen gleichzeitig gespielt werden kann.

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Bayertz, Kurt: Warum überhaupt moralisch sein?, a.a.O., S. 148. Spielregeln und Druckvorlagen in: Blesenkemper, Klaus: »Wie soll ich mich entscheiden? Dilemmata diskutieren mithilfe eines Spiels«, in: Lernchancen 17, 2014, Heft 102: Kulturelle Schule, S. 25 – 27.

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Wenn es richtig ist, dass Werteerziehung verstanden als Klärung von und selbsttätiger Auseinandersetzung mit divergierenden Werten auf die Konfrontation mit Beispielen, Beispielen und nochmals Beispielen angewiesen ist, könnte dieses Spiel dazu einen Beitrag leisten.42 Quelle: Blesenkemper, Klaus: »Dilemmadiskussion«, in: Nida-Rümelin, Julian; Spiegel, Irina; Tiedemann, Markus (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik, 2 Bde. Bd. 1: Didaktik und Methodik, UTB 8617, Ferdinand Schöningh, Paderborn 2015, S. 178 – 187.

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Vgl. Blesenkemper, Klaus: »Werteerziehung? – An Beispielen!«, in: Lernchancen 17, 2014, Heft 102: Kulturelle Schule, S. 2 – 5.

Einsatz von Dilemmata zur Wertebildung in Schulen Birgitta Maria Kopp  Einleitung Im UNICEF-Kinderwertemonitor von 2014 wurden Kinder befragt, wer ihnen Werte am besten beibringt. Die Ergebnisse zeigen, dass für Kinder nach Eltern und Großeltern die Lehrkräfte an dritter Stelle stehen, und zwar weit vor Freunden, Medien oder sozialen Netzwerken.1 Dieses Ergebnis ist einem Bedeutungszuwachs der Lehrkräfte geschuldet: Fanden 2006 nur 50 Prozent der Kinder die Lehrkräfte wichtig für ihre Wertevermittlung, liegen sie 2014 bei 80 Prozent. Somit haben Lehrkräfte aus Sicht der Kinder in ihrer Bedeutung für die Weitergabe von Werten gegenüber den Vorjahren deutlich zugenommen. Neben diesem Bedeutungszuwachs der Lehrkräfte für die Bildung von Werten aus Sicht der Schülerinnen und Schüler werden Werte auch vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungen mit Themen wie Digitalisierung, Globalisierung und Migration wichtiger.2 Gerade das Thema Migration wird im Schulkontext in den letzten Jahren bedeutsamer und mit ihm die Auseinandersetzung mit Werten aus verschiedenen Kulturen und Religionen. Nachfolgender Beitrag möchte zunächst einen Blick auf die Wertebildung werfen. Anschließend wird die Bedeutung der Schule, von Unterricht und Lehrkräften im Kontext der Wertebildung näher betrachtet. Im dritten Abschnitt werden Dilemmata und Dilemmageschichten zur Förderung von Wertebildung im Schulkontext dargelegt.

 Wertebildung Stand früher der Begriff der »Wertevermittlung« oder »Werteerziehung« im Mittelpunkt der Betrachtung, so wird dieser zunehmend vom Begriff der ›Wertebildung‹ abgelöst. Gründe dafür liegen darin, dass mit der Wertevermittlung bzw. Werteerziehung die Aktivität des Erziehenden in den Mittelpunkt gerückt wird, während der Be-

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Vgl. GEOlino-Unicef: GEOlino-Unicef Kinderwertemonitor 2014, auf: https://www.unicef.de/blob/ 56990/a121cfd7c7acbdc2f4b97cbcdf0cc716/geolino-unicef-kinderwertemonitor-2014-data.pdf (Stand: 24.07.2019). Vgl. Mandl, Heinz: Mint und Werte – Wertebildung im Experimentalunterricht, Interview mit der Siemens Stiftung (2016), auf: https://www.siemens-stiftung.org/de/projekte/mint-undwerte/einblick/ (Stand: 28.04.2017).

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griff der Wertebildung den Fokus vor allem auf den Lernenden richtet, der mit Hilfe von Erziehung selbst Werte erwirbt.3 In diesem Zusammenhang wird Wertebildung als bidirektionaler Prozess verstanden, den sowohl die Erziehenden als auch die Kinder beeinflussen.4 Wertebildung betont die aktive Auseinandersetzung des Individuums mit der Umwelt und deren vielfältigen, zum Teil widersprüchlichen Werteangeboten.5 Individuen müssen im Alltag Entscheidungen fällen, die häufig in Abwägung konkurrierender Werte getroffen werden und damit einen Konflikt auslösen.6 In der Reflexion darüber, welcher Wert in der jeweiligen Situation bedeutender ist, findet Wertebildung statt. Somit bezeichnet Wertebildung den individuellen Prozess der Herausbildung, Entwicklung und Aneignung von Werten bzw. Werthaltungen im Laufe der Persönlichkeitsentwicklung7. Damit ist nicht nur die Aneignung von Werten in der Interaktion zwischen Individuum und Umwelt von Bedeutung, sondern auch die Veränderung von Werten über die gesamte Lebensspanne hinweg. Beide Prozesse sind komplex und finden lebenslang statt.8 Sie können indirekt, also implizit und beiläufig stattfinden, oder direkt, also intentional und bewusst durch geeignete Maßnahmen initiiert werden. Eine direkte Steuerung dessen, welche Werte sich Kinder letztendlich aneignen

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Vgl. Schubarth, Wilfried: »›Die Rückkehr der Werte.‹ Die neue Wertedebatte und die Chancen der Wertebildung«, in: Schubarth, Wilfried; Speck, Karsten; Lynen von Berg, Heinz (Hrsg.): Wertebildung in Jugendarbeit, Schule und Kommune. Bilanz und Perspektiven, VS Verlag für Sozialwissenschaften Wiesbaden 2010, S. 21– 42. Vgl. Erbes, Annegret: »›Ich bin meine Didaktik‹ – Handlungstheoretische Ansätze einer wertesensibilisierenden pädagogischen Praxis in der Familienbildung«, in: Erbes, Annegret; Giese, Charlotte; Rollik, Heribert (Hrsg.): Werte und Wertebildung in Familien, Bildungsinstitutionen und Kooperationen. Beiträge aus Theorie und Praxis, Deutsches Rotes Kreuz e.V., Berlin 2013, S. 78 – 104. Vgl. Schubarth, Wilfried: »›Die Rückkehr der Werte.‹ Die neue Wertedebatte und die Chancen der Wertebildung«, in: Schubarth, Wilfried; Speck, Karsten; Lynen von Berg, Heinz (Hrsg.): Wertebildung in Jugendarbeit, Schule und Kommune. Bilanz und Perspektiven, a.a.O. Vgl. Schwartz, Shalom H.: An Overview of the Schwartz Theory of Basic Values (2012), auf: http://scholar works.gvsu.edu/orpc/vol2/iss1/11 (Stand:25.07.2019). Vgl. Franz, Margit: Hauptsache Wertebildung. Mit Kindern Werte erleben und entwickeln, Handbuch zur Werteerziehung in Kindergarten und Hort, Don Bosco Verlag, München 2010; vgl. Multrus, Ute: »Werteerziehung in der Schule – Ein Überblick über aktuelle Konzepte«, in: Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus (Hrsg.): Werte machen stark. Praxishandbuch zur Werteerziehung, Brigg Pädagogik, Augsburg 2008, S. 22 – 37; vgl. Nunner-Winkler, Gertrud: »Zum Verständnis von Moral – Entwicklungen in der Kindheit«, in: Horster , Detlef (Hrsg.): Moralentwicklung von Kindern und Jugendlichen, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2007, S. 51– 76; vgl. Schubarth, Wilfried: »›Die Rückkehr der Werte.‹ Die neue Wertedebatte und die Chancen der Wertebildung«, in: Schubarth, Wilfried; Speck, Karsten; Lynen von Berg, Heinz (Hrsg.): Wertebildung in Jugendarbeit, Schule und Kommune. Bilanz und Perspektiven, a.a.O.; vgl. Speck, Karsten: »Wertebildung und Partizipation von Kindern und Jugendlichen«, in: Schubarth, Wilfried; Speck, Karsten; Lynen von Berg, Heinz (Hrsg.): Wertebildung in Jugendarbeit, Schule und Kommune. Bilanz und Perspektiven, a.a.O., S. 61– 90; vgl. Standop, Jutta: WerteErziehung: Einführung in die wichtigsten Konzepte der Werteerziehung, Studientexte für das Lehramt, Bd. 18, Beltz Verlag, Weinheim/Basel 2005. Vgl. Speck, Karsten: »Wertebildung und Partizipation von Kindern und Jugendlichen«, in: Schubarth, Wilfried; Speck, Karsten; Lynen von Berg, Heinz (Hrsg.): Wertebildung in Jugendarbeit, Schule und Kommune. Bilanz und Perspektiven, a.a.O.

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und an welche sie sich binden, ist nicht möglich. Dies hängt maßgeblich davon ab, was Kinder wahrnehmen und erleben, wie sie die Prozesse verarbeiten und reflektieren.9 Ziel der Wertebildung ist es, moralische Werturteilsfähigkeit zu erlernen und sich moralische Werthaltungen anzueignen.10 Dies wird auch unter dem Begriff der ›Wertekompetenz‹ zusammengefasst. Sie ermöglicht es, sich konstruktiv mit unterschiedlichen Werten und Werthaltungen auseinanderzusetzen sowie produktiv mit Wertevielfalt und Wertekonflikten umzugehen.11 Auch Werturteilsfähigkeit und die Fähigkeit zu wertorientiertem Denken, Urteilen und Handeln gehören hier dazu. Dieser Handlungsaspekt, der in der Wertekompetenz bereits angedeutet wird, stellt neben einem stärkeren kognitiven Fokus der Wertebildung, der sich in der Auseinandersetzung und Reflexion von Werten niederschlägt, die Umsetzung der Wertebildung in Form von wertorientiertem Handeln dar. Wertorientiertes Handeln umfasst die Anwendung der eigenen Werte in Handlungssituationen. »Handeln kann somit definiert werden als reguliertes, nicht beobachtbares Verhalten, das motivational, emotional und als moralisch zulässig erlebt wird«.12 Dies bedeutet, dass das Individuum über geeignete Werthaltungen verfügt (Kognition), motiviert ist, wertorientiert zu handeln (Motivation), den Wunsch und die Kontrollfähigkeit hat, mit seinem Verhalten etwas zu bewirken (Volition) sowie im sozialen Umfeld unter Berücksichtigung herrschender Normen und Werte angemessen zu reagieren (Sozial). Werte und wertorientiertes Handeln hängen eng miteinander zusammen13, wenn sich Individuen ihrer eigenen Werte bewusst sind.14 Darüber hinaus ist die Situation ein bestimmender Bedingungsfaktor: Neben den persönlichen Werten spielen hier die allgemeinen gesellschaftlichen Normen ebenso eine Rolle wie die Normen des unmittelbaren Nahraums der sozialen Interaktion, also die Regeln, die in der aktuellen

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Vgl. Erbes, Annegret: »›Ich bin meine Didaktik‹ – Handlungstheoretische Ansätze einer wertesensibilisierenden pädagogischen Praxis in der Familienbildung«, a.a.O. Vgl. Schubarth, Wilfried: »›Die Rückkehr der Werte.‹ Die neue Wertedebatte und die Chancen der Wertebildung«, in: Schubarth, Wilfried; Speck, Karsten; Lynen von Berg, Heinz (Hrsg.): Wertebildung in Jugendarbeit, Schule und Kommune. Bilanz und Perspektiven, a.a.O. Arbeitskreis Grundlagen der Wertebildung: Wertebildung in Familien. Grundlagen einer wertesensibilisierenden Familienbildung. Eine Arbeitshilfe, Deutsches Rotes Kreuz, Berlin 2010, auf: http://www.wert ebildunginfamilien.de/wp-content/uploads/2014/12/Arbeitshilfe_Wertebildung.pdf (25.07.2019), S. 8. Straka, Gerald: »Zur Bedeutung lern-lehr-theoretischer Konzepte für aktuelle didaktische Prinzipien der beruflichen Bildung – Kritisch-konstruktive Analyse von ›Kompetenz‹, ›Handlungsorientierung‹ und des Stellenwerts von Wissen«, in: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik-online, Ausgabe 24, 2013, auf: http://www.bwpat.de/ausgabe24/straka_bwpat24.pdf (Stand: 25.07.2019), S. 6. Vgl. Bardi, Anat; Schwartz, Shalom H.: »Values and Behavior. Strengths and Structure of Relations«, in: Personality and Social Psychology Bulletin 29, 2003, Issue 10, S. 1207– 1220; vgl. Verplanken, Bas; Holland, Rob W.: »Motivated Decision Making. Effects of Activation and Self-Cantrality of Values on Choices and Behavior«, in: Journal of Personality and Social Psychology 82, 2002, Issue 3, S. 434 – 447. Vgl. Kristiansen, C. M.; Hotte, A. M.: »Morality and the Self. Implications for the When and How of ValueAttitude-Behavior Relations«, in: Seligman, Clive; Olson, James M.; Zanna, Mark P. (Hrsg.): The Ontario Symposium, Vol. 8: The Psychology of Values, Lawrence Erlbaum Associates, Inc., Mahwah, NJ 1996, S. 77– 106.

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Gruppe gelten.15 So kann sich ein Jugendlicher mit Gleichaltrigen beim gemeinsamen Ausgehen völlig anders verhalten als mit den eigenen Eltern.

 Wertebildung an Schulen Die Schule ist an der Wertebildung maßgeblich beteiligt. Als öffentliche Institution ist die Schule an das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, an das jeweilige Landesgesetz (Bayern, Baden-Württemberg etc.) sowie an das Schulgesetz gebunden. Zentrale Werte des Grundgesetzes sind Menschenwürde, innere Sicherheit, individuelle Freiheit, rechtliche und soziale Gleichheit, Volkssouveränität und Demokratie.16 Auch in den Landesgesetzen wird auf Werte verwiesen, u. a. auf Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit, Toleranz oder Solidarität.17 Darüber hinaus verpflichtet sich jede Schule durch ihre eigene Schulordnung, sich an die öffentlichen Werte zu halten. Erfahrbar sind diese durch das Schulklima, in dem »die Wertschätzung und Gleichberechtigung der einzelnen Glieder in ihrer Verschiedenheit« 18 zum Ausdruck kommen soll. Ein wertschätzendes Klima zeichnet sich dadurch aus, dass die Fähigkeiten und Stärken der Kinder unterstützt werden, um Selbstbewusstsein zu entwickeln und die Lernmotivation zu steigern.19 Dabei spielen auch die räumlichen, sachlichen und personellen Rahmenbedingungen eine große Rolle, weil darüber Lehrern und Schülern der Grad an gesellschaftlicher Wertachtung bzw. Missachtung aufgezeigt wird.20 Im Unterricht findet der Erwerb von Wissen durch die Lernenden vom Lehrenden, unterstützt meist in einer Institution wie Schule oder Hochschule, statt. Darin wird der Unterricht als Kommunikationsprozess gesehen, in dem in der Interaktion von Lehrendem und Lernenden planmäßig initiierte und geführte Lernprozesse für die Qualifikation, Sozialisation und persönliche Entwicklung stattfinden. Nach Giesecke berüh-

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Vgl. Bardi, Anat; Schwartz, Shalom H.: »Values and Behavior. Strengths and Structure of Relations«, a.a.O. Vgl. Detjen, Joachim: Verfassungswerte: Welche Werte bestimmen das Grundgesetz?, Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn 2012. Vgl. Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen vom 28.06.1950; vgl. Verfassung des Landes Brandenburg vom 20.08.1992, zuletzt geändert durch das Gesetz vom 05.12.2013; jeweils mit Stand vom 01.02.2017. Naurath, Elisabeth: »Wertschätzung als pädagogische Grundhaltung zur Werte-Bildung«, in: Naurath, Elisabeth; Blasberg-Kuhnke, Martina; Gläser, Eva; Mokrosch, Reinhold; Müller-Using, Susanne (Hrsg.): Wie sich Werte bilden. Fachübergreifende und fachspezifische Werte-Bildung, Werte-Bildung interdisziplinär, Vandenhoek & Ruprecht unipress, Universitätsverlag, Osnabrück 2013, S. 29 – 42: S. 37. Vgl. Naurath, Elisabeth; Blasberg-Kuhnke, Martina; Gläser, Eva; Mokrosch, Reinhold; Müller-Using, Susanne (Hrsg.): Wie sich Werte bilden. Fachübergreifende und fachspezifische Werte-Bildung, a.a.O. Vgl. Scherr, Alert: »Subjektbildung in Anerkennungsverhältnissen. Über »soziale Subjektivität und ›gegenseitige Anerkennung‹ als pädagogische Grundbegriffe«, in: Hafeneger, Benno; Henkenberg, Peter; Scherr, Albert (Hrsg.): Pädagogik der Anerkennung. Grundlagen, Konzepte, Arbeitsfelder, Wochenschau Verlag, Schwalbach am Taunus 2002, S. 26 – 43.

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ren Unterrichtsstoffe in jedem Schulfach Werte und Normen. Dabei heißt Wertebildung in der Schule, »die werthaltigen Aspekte der Sachverhalte wieder stärker in den Mittelpunkt des Unterrichts zu rücken.« 21 Dies geschieht insbesondere über die Reflexion und das gemeinsame Nachdenken, in denen grundlegende Fragen der Moral oder Ethik argumentativ diskutiert und ausgehandelt werden. Möglich ist dies, indem Schülerinnen und Schüler mit den Werten und Normen konfrontiert werden, die im fachspezifischen Unterricht, z. B. in einem literarischen Text im Fach Deutsch, vorhanden sind.22 Während in sprach- und sozialwissenschaftlichen Fächern der Werteaspekt eher implizit enthalten ist, findet in Ethik oder Religion eine stärker explizite Wertediskussion statt. In den naturwissenschaftlichen Fächern werden Werte kaum behandelt. Insgesamt wird im alltäglichen Unterricht meist der kognitive Aspekt von Wertebildung betont, also die Reflexion darüber, welche Werte und Normen angesprochen werden. Sehr viel seltener führt dies zu einer konkreten wertorientierten Handlung. Eine weitere Möglichkeit der Wertebildung stellt die Lehrkraft selbst dar. Diese dient für die Schülerinnen und Schüler als Rollenmodell bzw. als Vorbild. So nimmt die Lehrperson im Unterricht eine bedeutende Rolle ein, da diese mit ihrer Persönlichkeit sowie der von ihr geplanten Unterrichtskonzeption und eingesetzten Didaktik den Lernprozess maßgeblich bestimmt. Dabei leben Lehrerinnen und Lehrer den Umgang mit Werten in ihrem Verhalten als Vorbild vor. Das Verhalten und die Einstellungen von Vorbildern geben Orientierung und Halt. Wichtig ist dabei, dass Vorbilder authentisch handeln, um in ihrer Rolle glaubwürdig zu sein.23 So spielt es eine große Rolle, wie die Lehrkräfte mit Schülerinnen und Schülern kommunizieren, wie sie Konflikte bewältigen, sich fachlich und didaktisch präsentieren, mit dem geistigen Gehalt des Unterrichtsstoffes umgehen, Stärken und Schwächen der Schülerinnen und Schüler berücksichtigen sowie zwischen persönlicher Meinung und sachlicher Information unterscheiden.24 Damit hat Wertebildung in der Schule in einem hohen Maße etwas mit der Qualität erlebter personaler Beziehungen zu tun.25 In diesem Zusammenhang ist auf die sozial-kognitive Lerntheorie von Bandura hinzuweisen.26 Diese nimmt an, dass soziales Lernen am Vorbild durch Beobachtung und Nachahmung von Handlungen in der Interaktion erfolgt.27 Um dies zu erreichen, sind besondere Voraussetzungen und Bedingungen notwendig, die insbesondere die

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Giesecke, Hermann: »Was kann die Schule zur Werteerziehung beitragen?«, in: Gruehn, Sabine; Kluchert, Gerhard; Koinzer Thomas (Hrsg.): Was Schule macht. Schule, Unterricht und Werteerziehung: theoretisch, historisch, empirisch. Achim Leschinsky zum 60. Geburtstag, Beltz Wissenschaft, Deutschen Studien Verlag, Beltz Verlag, Weinheim/Basel 2004, S. 235 – 246: S. 237. Ibid. Vgl. Riemer, Holger Ludwig: Vorbilder und Vorbildhandeln. Über den Wandel der Werte und die Chancen ihrer Neuentdeckung, Verlag Dr. Köster, Berlin 2011. Giesecke, Hermann: »Was kann die Schule zur Werteerziehung beitragen?«, a.a.O., S. 238. Ibid., S. 239. Vgl. Bandura, Alfred: Social Learning Theory, Prentice Hall, Englewood Cliffs, NJ 1977. Vgl. Lokhande, Mohini: Der Erwerb von Werten und ihr Einfluss auf individuelles Verhalten. Expertise für die Bertelsmann Stiftung, Programm »Lebendige Werte«, Bertelsmann, Gütersloh 2011.

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Persönlichkeitsmerkmale des Modells und des Beobachters sowie deren Beziehung zueinander und die Situation umfassen. Damit eine Lehrerin bzw. ein Lehrer zum Vorbild wird, ist sein sozialer Status, seine Macht und sein Ansehen von Bedeutung, aber auch ob er sympathisch und attraktiv wirkt und ob er die Bedürfnisse einer Schülerin bzw. eines Schülers erfüllen kann. Selbstvertrauen, Erfahrungen, Interessen, Wertvorstellungen, Gefühle oder Stimmungen spielen auf Seiten des Beobachters eine Rolle. Insbesondere eine emotional positive Beziehung zwischen Lehrerin bzw. Lehrer und Schülerinnen und Schüler als auch empfundene Ähnlichkeit fördert die Nachahmungsbereitschaft der Lernenden. Die Situation, in der das Verhalten gezeigt wird, sowie dessen Konsequenzen sind ebenfalls bedeutsam. Wird ein Verhalten belohnt und bekräftigt, steigt die Wahrscheinlichkeit beim Beobachter, dieses nachzuahmen. Im Gegensatz dazu wird Verhalten, das bestraft wird, seltener gezeigt. Neben einer eher impliziten Wertebildung durch den Unterricht oder die Vorbildfunktion der Lehrerin bzw. des Lehrers gibt es auch explizite Maßnahmen, Wertebildung in der Schule zu fördern. Dies sind u. a. Service Learning28 oder die Just-Community-Schulen.29 In diesem Beitrag wird der Fokus auf Dilemmata bzw. Dilemmageschichten gelegt.

 Dilemmata zur Förderung von Wertebildung Ein Dilemma ist eine Zwangslage oder Situation, in der sich jemand befindet, wenn er zwischen zwei in gleicher Weise unangenehmen Alternativen wählen soll oder muss.30 Diese Zwangslage fordert vom Individuum ein moralisches Urteil, in dem mögliche konkurrierende Werte abzuwägen sind und gegebenenfalls priorisiert werden müssen. Je nachdem, welchen Werten eine größere Bedeutung beigemessen wird, fallen die moralischen Entscheidungen und Beurteilungen unterschiedlich aus. Jedes Individuum muss eine Entscheidung fällen. Solche Dilemmata oder Dilemmageschichten regen die Diskussion, Argumentation und Reflexion bei der Auseinandersetzung mit Werten an. Diese Aktivitäten bewirken neben einer tiefergehenden Durchdringung des Sachverhalts auch, dass die Rangordnung und Wichtigkeit eigener Werte durchdacht werden. Umgesetzt werden Dilemmata und Dilemmageschichten in verschiedenen Ansätzen.

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Vgl. Seifert, Anne; Zentner, Sandra: Service Learning – Lernen durch Engagement: Methode, Qualität, Beispiele und ausgewählte Schwerpunkte, unter Mitwirkung von Baltes, Anna-Maria, Lernen durch Engagement, Freudenberg Stiftung, Weinheim 2010. Vgl. Baader, Meike Sophia: »Zur Theorie und Praxis des Just Community-Ansatzes in der Moralerziehung«, in: Liebau, Eckart (Hrsg.): Die Bildung des Subjekts. Beiträge zur Pädagogik der Teilhabe, Juventa. Verlag, Weinheim 2001, S. 159 – 193. Vgl. Lind, Georg: »Moralerziehung«, in: Zierer, Klaus; Kiel, Ewald (Hrsg.): Basiswissen Unterrichtsgestaltung, 3 Bde., Bd. 2, Schneider Verlag Hohengehren GmbH, Baltmannsweiler 2011, S. 51– 64.

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Nachfolgend werden vier vorgestellt: 1. die Konstanzer Methode der Dilemmadiskussion31, 2. der Wertediskurs32, 3. der Values-and-Knowledge-Education-Ansatz für die Zusammenführung von wert- und sachorientiertem Unterricht33 sowie 4. Dilemmageschichten für die Sensibilisierung von Werten im naturwissenschaftlichen Kontext in Grundschulen.34

 Konstanzer Methode der Dilemmadiskussion Die Konstanzer Methode der Dilemmadiskussion (KMDD) geht auf die Theorie der Moralentwicklung von Kohlberg35 zurück. Kohlberg verwendete Dilemmata, um verschiedene Stufen der Moralentwicklung bei Kindern und Jugendlichen zu klassifizieren36 und diese Entwicklung anzuregen, indem die Schülerinnen und Schüler mit Argumenten konfrontiert wurden, die eine Stufe über ihrem eigenen moralischen Niveau lagen. Ziel der Konstanzer-Dilemma-Diskussion ist es, die Wertekompetenz zu fördern, um letztendlich neben einem eher kognitiven Aspekt der stärkeren Reflektiertheit und Denkfähigkeit auch einen handlungsorientierten Aspekt zu vermitteln.37 Hauptziel ist jedoch die Förderung kognitiver Fähigkeiten. Diese umfassen folgende Aspekte38 : ¬ ¬ ¬ ¬ ¬ ¬

sich der eigenen Prinzipien bewusst werden; Umstände und Fakten einer Situation genau beachten; eigene Prinzipien nach ihrer Wichtigkeit und Angemessenheit unterscheiden; eigene Prinzipien in einem sozialen Kontext artikulieren; den Argumenten anderer zuhören; bei Konflikt gleichrangiger Prinzipien Meta-Prinzipien zur Auflösung eines Konflikts finden.

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Vgl. Lind, Georg: Moral ist lehrbar: Handbuch zur Theorie und Praxis moralischer und demokratischer Bildung, Erziehung – Gesellschaft – Schule, Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 2009. Vgl. Oser, Fritz; Spychiger, Maria: Lernen ist schmerzhaft. Zur Theorie des negativen Wissens und zur Praxis der Fehlerkultur, Beltz Pädagogik, Beltz Verlag, Weinheim/Basel 2005. Vgl. Patry, Jean Luc: »VaKE-Introduction and Theoretical Background«, in: Tirri, Kirsi (Hrsg.): Values and Foundations in Gifted Education, Peter Lang Verlag, Bern/Berlin/Frankfurt am Main/New York/Oxford 2007, S. 157– 169. Vgl. Kopp, Birgitta; Wallner, Katrin; Mandl, Heinz: »Impulses and Dilemma Stories For Values Education in STEM Context in Elementary Schools«, in: Journal of Modern Education Review 7, 2017, Issue 2, S. 91– 105. Vgl. Kohlberg, Lawrence: »Development of Moral Character and Moral Ideology«, in: Hoffman, Martin L.; Hoffman, Lois Wladis: Review of Child Development Research, Vol. 1, Russell Sage Foundation, New York, NY 1964, S. 381– 431. Vgl. Nunner-Winkler, Gertrud: »Prozesse moralischen Lernens und Entlernens«, in: Zeitschrift für Pädagogik 55, Heft 4, S. 528 – 548. Vgl. Lind, Georg: »Die Methode der Dilemmadiskussion«, in: Sander, Wolfgang; Igelbrink, Christian; Brüggen, Friedhelm (Hrsg.): UrteilsBildung – eine lösbare pädagogische Herausforderung. Theoretische Grundlagen und praktische Hinweise, Urteils-Bildung, Bd. 2, LIT Verlag, Berlin 2014, S. 302 – 309. Ibid., S. 3.

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Lind39 wählt drei zentrale Aspekte für die Förderung von Wertebildung, die empirisch in ihrer Effizienz bestätigt wurden: erstens werden Pro-Argumente gewählt, die eine geringe Differenz zur eigenen moralischen Entwicklung aufweisen40, oder es werden Gegenargumente eingesetzt.41 Ein zweiter Aspekt ist die rhythmische Abwechslung von Phasen der Unterstützung und der Herausforderung, um ein optimales Aufmerksamkeitsniveau bei den Schülerinnen und Schülern zu erzielen. Der dritte Aspekt bezieht sich auf die Gestaltung der Dilemmata selbst: Hier werden semi-reale Dilemmata bevorzugt. Semi-reale Dilemmata entsprechen nicht der Wirklichkeit, weisen aber einen großen Alltagsbezug auf. Didaktisch aufbereitet entfaltet sich eine typische Unterrichtsstunde mit der Konstanzer-Dilemma-Diskussion folgendermaßen42 : 1. 2. 3.

Unterrichtsbeginn: Die Lehrkraft wartet, bis alle Teilnehmer aufmerksam sind. Präsentation des semi-realen Dilemmas durch die Lehrkraft. Stilles Nachdenken durch die Teilnehmer: Teilnehmer erhalten die Geschichte und können diese nochmal in Ruhe lesen und sich Notizen dazu machen. 4. Dilemma-Klärung: Die Lehrkraft klärt die Wahrnehmung der Teilnehmer hinsichtlich der Geschichte und fragt, ob sie diese als Dilemma empfinden oder nicht. 5. Erste Abstimmung: Die Lehrkraft führt eine Abstimmung pro und contra durch, bezogen auf die Entscheidung der Hauptfigur. 6. Vorbereitung der Diskussion in kleinen Gruppen: Es werden Pro- und ContraGruppen von je 3 – 4 Personen gebildet, die ihre Argumente sammeln und durch weitere Argumente ergänzen. 7. Diskussion im Plenum: Die pro und contra Gruppen treffen sich und diskutieren ihre verschiedenen Standpunkte. Dabei sind zwei Regeln von Bedeutung: 1. Jedes Argument ist zulässig, ohne 2. jedoch ein Kind verbal anzugreifen oder zu bewerten. 8. Die Teilnehmer rufen den nächsten Sprecher aus dem Gegenlager selbst auf. 9. Nominierung der besten Gegenargumente: Jeder Teilnehmer darf das beste Argument der jeweiligen Gegenseite nominieren. 10. Zweite Abstimmung: Pro und Contra werden erneut abgestimmt. 11. Reflexion (Unterstützung): Die Stunde wird hinsichtlich erlebter Freude und erzieltem Lernerfolg reflektiert.

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Ibid. Vgl. Berkowitz, Marvin W.: »A Critical Appraisal of the ›plus-one‹ Convention in Moral Education«, in: Phi Delta Kappan 62, 1981, Issue 7, S. 488 – 489. Vgl. Walker, Lawrence J.: »Cognitive Processes in Moral Development«, in: Sapp, Gary L. (Hrsg.): Handbook of moral development. Models, Processes, Techniques, and Research, Religious Education Press, Birmingham, AL 1986, S. 109 – 145. Vgl. Lind, Georg: Moral ist lehrbar: Handbuch zur Theorie und Praxis moralischer und demokratischer Bildung, Erziehung – Gesellschaft – Schule, Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 2009; vgl. Lind, Georg: »Moralerziehung«, in: Zierer, Klaus; Kiel, Ewald (Hrsg.): Basiswissen Unterrichtsgestaltung, 3 Bde., Bd. 2, Schneider Verlag Hohengehren GmbH, Baltmannsweiler 2011, S. 51– 64.

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Ein Dilemma-Beispiel ist folgendes43 :

Kätzchen-Dilemma Diese Geschichte erzählt von Paula. Paula ist acht Jahre alt und klettert sehr gerne auf Bäume. Sie ist sogar die beste Kletterin in der Nachbarschaft. Eines Tages fällt sie von einem Baum, verletzt sich aber nicht. Ihr Vater sieht den Sturz. Er ist besorgt und sagt ihr, sie solle ihm versprechen, nicht mehr auf Bäume zu klettern. Paula verspricht es und beide geben sich die Hand. Am gleichen Tag trifft Paula ihre Freundin Anna und andere Freunde. Annas süßes Kätzchen sitzt auf einem Baum und kommt nicht mehr alleine herunter. Es muss sofort etwas getan werden, denn sonst könnte das Kätzchen vom Baum fallen. Da Paula die beste Kletterin ist, fragen die Kinder sie, ob sie auf den Baum klettern könnte, um das Kätzchen zu retten. Doch Paula erinnert sich an das Versprechen, das sie ihrem Vater gegeben hat. Studien zum Einsatz der Konstanzer-Dilemma-Diskussion wurde weniger mit Schülerinnen und Schülern als mit Studierenden durchgeführt. So konnte eine Längsschnittstudie von Lind44 mit über 3.000 Psychologie- und Lehramtsstudierenden zeigen, dass die Konstanzer-Dilemma-Diskussion für die Förderung von Wertebildung geeignet ist. Dieser Effekt zeigt sich in Seminaren stärker als in Vorlesungen. Wenig beeinflussbar ist die generelle wertbezogene Orientierung der Befragten.

 Wertediskurs Der Wertediskurs45 verwendet ebenfalls Dilemmata zur Förderung der moralischen Entwicklung, die in die Stufen nach Kohlberg gegliedert werden. In diesem Ansatz geht es darum, Konflikte zu lösen, in denen moralische Normen verwendet und legitimiert werden. Der Wertediskurs-Ansatz geht davon aus, dass professionelle Moral nur dann gelernt wird, wenn sich die Lehrkraft den moralischen Themen stellt und diese in

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Nach Lickona, Thomas: Wie man gute Kinder erzieht! Die moralische Entwicklung des Kindes von der Geburt bis zum Jugendalter und was Sie dazu beitragen können, übers. von Althof, Wolfgang; Schmidt, Rolf, Kindt Verlag, München 1989. Vgl. Lind, Georg: »Favorable Learning Environments for Moral Competence Development. A Multiple Intervention Study with 3.000 Students in a Higher Education Context«, in: International Journal of University Teaching and Faculty Development 4, 2015, Issue 4, S. 1– 28, auf: https://pdfs.semanticscholar. org/edbf/0461501049b5fa675a7570210305afd41fe3.pdf (25.07.2019). Vgl. Oser, Fritz: »Moral Education and Values Education. The Discourse Perspective«, in: Wittrock, Merlin C. (Hrsg.): Handbook of Research on Teaching, Collier Macmillan, New York, NY 1986, S. 917– 941.

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spezifischen Klassenraum- und Problemlösesituationen diskutiert.46 Das gemeinsame Aushandeln von Wertefragen im Miteinander von Lehrkraft und Schülerinnen und Schülern ist in diesem Ansatz von besonderer Bedeutung.47 Durch Rollenübernahme, gegenseitiges Verständnis und praktische Lösungen von wertbezogenen Fragestellungen besitzt der Wertediskurs vor allem ein prozedurales Konzept, das sich die Lehrkraft aneignen kann. Daher liegt der Schwerpunkt des Ansatzes auf der Lehrkraft selbst. Ziel des Wertediskurses ist es, die moralische Entwicklung innerhalb einer moralischen Entwicklungsstufe anzuregen.48 Bei Oser und Spychiger49 geht es darum, moralisches Lernen durch Einsicht in die möglichen Folgen des Handelns zu fördern. Gerade Erlebnisse, in denen Kinder negative Werte wie Ungerechtigkeit erfahren, dienen dazu, positive Werte, wie hier den Wert der Gerechtigkeit, zu erwerben.50 Im Rahmen der Diskussion und Lösung von Dilemmata sind didaktisch vier Schritte wesentlich51 : Erstens ist die Lehrkraft dafür verantwortlich einen runden Tisch zu kreieren, in dem alle Schülerinnen und Schüler eingeladen sind, daran teilzunehmen. In einem zweiten Schritt dürfen die Schülerinnen und Schüler sämtliche Meinungen äußern, unabhängig davon, ob Bedürfnisse, Begründungen, Schuldzuweisungen oder mögliche Lösungen präsentiert werden. Jeder Teilnehmer ist angehalten, den anderen Personen zuzuhören, um letztlich zu einer besten Lösung zu gelangen. Hier agiert die Lehrkraft einerseits als Diskussionsleiter und andererseits als Informationsträger, der ebenfalls seine Meinung in die Diskussion einbringt. In einem dritten Schritt muss jeder Teilnehmer zur Lösung beitragen und Verantwortung für seine Meinung übernehmen, also diese auch begründen. Wenn diese drei Aspekte erfüllt sind, so kommt es zum vierten Schritt, nämlich zu einer Lösung des Dilemmas.52 Ein mögliches Beispiel-Dilemma, das auch zur Erfassung moralischer Werturteilsfähigkeit eingesetzt wird, lautet folgendermaßen53 :

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Vgl. Oser, Fritz K.: »Morality in professional Action: a Discourse Approach for Teaching«, in: Oser, Fritz K.; Dick, Andreas; Patry, Jean-Luc (Hrsg.): Effective and Responsible Teaching, Jossey-Bass, San Francisco 1992, S. 109 – 125. Vgl. ibid. Vgl. ibid. Vgl. Oser, Fritz; Spychiger, Maria: Lernen ist schmerzhaft. Zur Theorie des negativen Wissens und zur Praxis der Fehlerkultur, a.a.O. Vgl. Oser, Fritz: »Negatives Wissen und Moral«, in: Zeitschrift für Pädagogik 49, 2005, S. 171– 181. Vgl. Oser, Fritz K.: »Morality in Professional Action. A Discourse Approach for Teaching«, a.a.O. Vgl. ibid. Vgl. Colby, Anne; Kohlberg, Lawrence; Speicher, Betsy; Hewer, Alexandra; Candee, Daniel; Gibbs, John; Power, Clark: The Measurement of Moral Judgement, 2 Vols., Vol 2: Standard Issue Scoring Manual, Cambridge University Press, 1987.

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Valjean-Dilemma

In einem europäischen Land konnte ein armer Mann namens Valjean ebenso wie seine Schwester und sein Bruder keine Arbeit finden. Da er kein Geld besaß, stahl er Essen und Medizin, die er benötigte. Er wurde gefangen genommen und für sechs Jahre ins Gefängnis geschickt. Nach ein paar Jahren konnte er aus dem Gefängnis ausbrechen und er begann ein neues Leben in einem anderen Teil des Landes unter einem neuen Namen. Er sparte Geld und baute eine Fabrik auf. Er zahlte seinen Arbeitern die höchsten Löhne und verwendete den Gewinn der Fabrik dafür, ein Krankenhaus für solche Menschen zu bauen, die sich keine gute medizinische Versorgung leisten konnten. Zwanzig Jahre vergingen, bis ein Schneider den Eigentümer der Firma als Valjean erkennt, den entlaufenen Gefangenen, den die Polizei in seiner Heimatstadt immer noch sucht.  Soll der Schneider Valjean an die Polizei verraten? Warum oder warum nicht?  War es richtig, von Valjean, Essen und Medikamente zu stehlen, weil er es für einen guten Zweck tat?  Sollen Menschen, die das Gesetz für einen guten Zweck brechen, ins Gefängnis?  Soll Valjean zurück ins Gefängnis geschickt werden, obwohl er armen Menschen mit seinem Krankenhaus hilft?  Hat ein Bürger die Pflicht, einen entflohenen Gefangenen den Behörden zu melden?  Hat der Schneider auch das Recht, dies nicht zu tun?  Was ist das verantwortungsvollste, das der Schneider machen soll?  Was würdest du machen, wenn du an der Stelle des Schneiders wärst? Studien zum Wertediskurs existieren vor allem mit angehenden Lehrkräften. In diesem Zusammenhang wurden unterschiedliche Studienserien durchgeführt.54 Im Rahmen einer Interventionsstudie ging es um die Veränderung der Einstellung zu Werten von Lehrkräften. Um diese zu erzielen, wurden die Lehrkräfte mit Dilemmata, Rollenspiel oder Fallstudien konfrontiert, die mit Hilfe des Wertediskurses bearbeitet wurden. In diesem quasiexperimentellen Design zeigte sich, dass die Lehrkräfte in der Interventionsgruppe in ihrer kognitiven Konzeption bezüglich einer Diskursorientierung besser abschnitten als die anderen Gruppen. Darüber hinaus zeigten sich hohe Korrelationen zwischen wertorientierten Diskursen von Lehrkräften und der Einschätzung von Ehrlichkeit, Engagement, Respekt, Gerechtigkeit und didaktischer Kompetenz durch die Schülerinnen und Schüler. Auch fühlten sich die Schülerinnen und Schüler solcher Lehrkräfte wohler in der Klasse.55

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Vgl. Oser, Fritz K.: »Morality in Professional Action. A Discourse Approach for Teaching«, a.a.O. Vgl. ibid.

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 Values-and-Knowledge-Education-Ansatz (VaKE) Auch im VaKE-Ansatz werden Dilemmata eingesetzt.56 Diese sind so konzipiert, dass ein Protagonist aus zwei moralisch nicht miteinander vereinbaren Handlungsalternativen eine Entscheidung fällen muss. Die Entscheidung zugunsten einer Alternative impliziert immer, dass ein wichtiger Wert verletzt wird. Die Schülerinnen und Schüler sind dazu angehalten, für den Protagonisten der Geschichte die Entscheidung zu fällen und diese anschließend zu begründen. Um zu einer solchen Entscheidung zu gelangen, wird dieser wertorientierte Sachverhalt mit sachorientierten Unterrichtsinhalten verknüpft. Damit dies erzielt wird, können die Schülerinnen und Schüler alle verfügbaren Ressourcen (z. B. Recherchearbeit im Internet, Diskussion mit Peers) nutzen.57 Ziel des Ansatzes ist es, dass die Schülerinnen und Schüler lernen, den gewählten Standpunkt überzeugend mit Argumenten, Beweisen und Belegen darzulegen und zu verteidigen, also ihre Meinung argumentativ zu begründen. Die didaktische Durchführung von VaKE umfasst 10 bzw. 11 Schritte58 : 1. 2.

Klasse: Dilemma einführen und dazugehörige Werte benennen; Gruppe: erste individuelle Entscheidung zur eigenen Meinung. Anschließend kann dies in der Klasse geäußert werden. 3. Kleingruppe: erstes Argumentieren (Dilemmadiskussion) und Suche nach Gründen für die eigene Meinung; 4. Klasse: Austausch über Erfahrungen und Argumente sowie über fehlende Informationen hinsichtlich ihrer Klarheit und Überzeugungskraft; 5. Kleingruppe: Suche nach Information zur Unterstützung der Argumentation; 6. Klasse: Austausch der Ergebnisse (Informationen) und Prüfung auf deren Ausführlichkeit; 7. Kleingruppe: zweites Argumentieren der Meinung auf Basis der neuen Informationen; 8. Klasse: Austausch der neuen Informationen (Dilemmadiskussion); 9. Klasse/Gruppe: Wiederholung der Schritte 4 – 8, wenn notwendig; 10. Klasse: Endprodukt, Synthese; 11. Generalisation: Das Thema wird hinsichtlich verwandter Inhalte am Ende mehrerer Dilemmageschichten in der Klasse diskutiert.

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Vgl. Patry, Jean Luc: »VaKE-Introduction and Theoretical Background«, a.a.O. Vgl. Zierer, Klaus: Schulische Werteerziehung, Kompendium, Schneider Verlag Hohengehren GmbH, Baltmannsweiler 2010. Vgl. Patry, Jean Luc; Weinberger, Alfred; Weyringer, Sieglinde; Nussbaumer, Martina: »Combining Values and Knowledge Education«, in: Irby, Beverly J.; Brown, Genevieve; Lara-Alecio, Rafael; Jackson, Shirley (Hrsg.): The Handbook of Educational Theories, Information Age Publishing, Charlotte 2012, S. 563 – 577: S. 565 – 566.

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Ein Beispiel für eine Dilemmageschichte aus dem VaKE ist folgende59 :

Die Menschen auf dem Planeten Wahinu

Es ist das Jahr 2173. Auf der Erde leben 15 Milliarden Menschen. Es gibt für so viele Menschen nicht genug Wasser und Nahrung. Deshalb suchen die Menschen nach einem neuen Planeten. Sie entdecken einen neuen Planeten und geben ihm den Namen »Wahinu«. Nun fliegen aus jedem Teil der Erde einige Menschen mit Raketen dorthin. 100 Menschen können auf diesem Planeten ein ganz neues Leben beginnen. Am Anfang sind alle sehr glücklich. Alles ist neu und interessant. Sie lernen zuerst die neue Umgebung und die anderen Menschen kennen. Alle sind verschieden. Viele sprechen eine andere Sprache und verstehen einander nicht. Es gibt keine Regeln und Gesetze. Es ist ein Chaos! Die Menschen beginnen zu streiten. Sie sagen: »Wir brauchen Regeln und ein neues System!« Die eine Gruppe sagt: »Es muss eine Person geben, die für uns die Regeln und Gesetze bestimmt. Diese Person muss für uns entscheiden, was richtig und falsch ist.« Die zweite Gruppe sagt: »Nein, wir alle müssen gemeinsam über unsere Regeln und Gesetze bestimmen!«  Was sollen die Menschen tun? Für welches System sollen sich die Menschen des Planeten Wahinu entscheiden?60 Verschiedene Studien mit VaKE bei unterschiedlichen Zielgruppen wie Grundschülerinnen und Grundschüler61, Jugendlichen aus verschiedenen mitteleuropäischen Ländern mit unterschiedlichen Muttersprachen62 und auszubildenden Lehrkräften63 zeigen folgende drei zentrale Ergebnisse: Bei Vergleichen zwischen mit VaKE-unterrichteten Gruppen und Kontrollgruppen gibt es keinerlei Unterschiede hinsicht-

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Patry, Jean Luc; Weyringer, Sieglinde; Aichinger, Kathrin; Weinberger, Alfred: »Integrationsarbeit mit eingewanderten Jugendlichen mit VaKE (Values and Knowledge Education)«, in: International Dialogues on Education. Past and Present 3, 2016, Issue 3, S. 123 – 139: S. 132. Ibid. Vgl. Demetri, Alexandra: Kombination moralischer Werterziehung mit konstruktivistischem Wissenserwerb in der Grundschule. Das Unterrichtsmodell VaKE in der Grundschule, Dissertation der Kultur- und Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Salzburg, Salzburg 2015. Vgl. Weyringer, Sieglinde: Die Anwendung der VaKE-Methode zur Entwicklung eines Europäischen Bürgerbewusstseins – dargestellt am Platon Jugendforum, Dissertation, Universität Salzburg 2008. Vgl. Weinberger, Alfred; Patry, Jean-Luc; Weyringer, Sieglinde: »Improving Professional Practice Through Practice-based Research: VaKE (Values and Knowledge Education) in University-based Teacher Education«, in: Vocations and Learning 9, 2016, Issue 1, S. 63 –84.

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lich des unterrichtsbezogenen Wissens.64 Zweitens zeigen VaKE-Teilnehmer eine sehr hohe Motivation65 und arbeiten selbst gesteuert.66 Drittens weisen VaKE-Teilnehmer darüber hinaus eine erhöhte moralische Kompetenz auf.67

 Dilemmageschichten in der Grundschule Ähnlich zu Dilemmata – wenngleich weniger moralisch – sind Dilemmageschichten68, die im sachorientierten Unterricht in der Grundschule eingesetzt werden. Hier werden kindgerechte Situationen beschrieben, in denen sich Schülerinnen und Schüler in die Rolle der Protagonisten versetzen müssen und ebenfalls verschiedene Werte und Handlungsalternativen abwägend eine Entscheidung zu treffen haben. Diese Dilemmageschichten werden derart erstellt, dass sie die Unterrichtsinhalte aufgreifen, mit dem Werteaspekt verknüpfen und damit über die inhaltliche Wissensvermittlung hinaus das vermittelte Wissen und die angesprochenen Werte auf alltagsrelevante Situationen transferieren. Solche Dilemmageschichten können in verschiedenen Unterrichtsfächern eingesetzt werden. Während in Religion ein stärkerer moralischer Anspruch vorhanden ist, ist dies in naturwissenschaftlichen Fächern weniger der Fall. Solche Dilemmageschichten wurden im MINT-Bereich in Grundschulen (3./4. Klasse) integriert. Hauptgegenstand der Unterrichtseinheit stellt hier das Experimentieren zu verschiedenen Themen in den Bereichen Energie (z. B. Strom), Umwelt (z. B. Mülltrennung) und Gesundheit (z. B. Sinnesorgane) dar. Insgesamt gibt es zu allen Themen 42 Einzelexperimente, von denen fünfzehn ausgewählt wurden, um sie zusätzlich mit Dilemmageschichten zu versehen, in denen Werte angesprochen werden.69

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Vgl. Demetri, Alexandra: Kombination moralischer Werterziehung mit konstruktivistischem Wissenserwerb in der Grundschule. Das Unterrichtsmodell VaKE in der Grundschule, a.a.O.; vgl. Mayerhofer, Barbara: Das Unterrichtsmodell VaKE im englischsprachigen und deutschsprachigen GWK-Unterricht, Fonds für Unterrichts- und Schulentwicklung I(MST-Fonds), S4 »Interaktionen im Unterricht & Unterrichtsanalyse«, 2008, auf: https://www.imst.ac.at/imst-wiki/images/9/91/1183_Langfassung_Mayer hofer.pdf (Stand: 25.07.2019); vgl. Weinberger, Alfred: Kombination von Werteerziehung und Wissenserwerb. Evaluation des konstruktivistischen Unterrichtsmodells VaKE (Values and Knowledge Education) in der Sekundarstufe I, Verlag Dr. Kovač, Hamburg 2006. Vgl. Weyringer, Sieglinde: Die Anwendung der VaKE-Methode zur Entwicklung eines Europäischen Bürgerbewusstseins – dargestellt am Platon Jugendforum, a.a.O. Mayerhofer, Barbara: Das Unterrichtsmodell VaKE im englischsprachigen und deutschsprachigen GWK-Unterricht, a.a.O. Vgl. Weinberger, Alfred; Patry, Jean-Luc; Weyringer, Sieglinde: »Improving Professional Practice Through Practice-based Research: VaKE (Values and Knowledge Education) in University-based Teacher Education«, a.a.O. Vgl. Kopp, Birgitta; Wallner, Katrin; Mandl, Heinz: »Impulses and Dilemma Stories For Values Education in STEM Context in Elementary Schools«, a.a.O. Vgl. Mandl, Heinz; Kopp, Birgitta; Niedermeier, Sandra; Meixner, Marina: Leitfaden »Naturwissenschaften, Technik und Werte«. Methoden zur Implementierung des Werteaspekts in den naturwissenschaftlich-technischen Unterricht mit Experimento I 8+, Siemens-Stiftung, München 2015.

Einsatz von Dilemmata zur Wertebildung in Schulen

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Ziel dieser Dilemmageschichten ist es, die Kinder im naturwissenschaftlichen Kontext für verschiedene Werte zu sensibilisieren. Zentrale Werte stellen hier u. a. Umweltbewusstsein, Verantwortungsübernahme oder Zuverlässigkeit dar. Besonderer Fokus liegt auf der Sensibilisierung für Werte durch eine aktive Auseinandersetzung und Diskussion verschiedener Handlungsalternativen der Dilemmageschichte. Darüber hinaus kann durch die Wahl der besten Handlungsmöglichkeiten auch generelles wertorientiertes Handeln, das im Alltag gezeigt wird, angeregt werden. Die Lehrkraft wird didaktisch angeleitet, folgende Schritte durchzuführen70 : 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Methodische Vorbereitung der Wertediskussion; Diskussion des Einstiegsproblems mit den Schülerinnen und Schülern; Abklären verschiedener Positionen und wertebezogener Meinungen; Festhalten der Positionen und Argumente der Schülerinnen und Schüler; Unterrichtsgespräch für die Erarbeitung adäquater Handlungsmöglichkeiten; Ergebnissicherung.

Im Experiment »Wiederverwertung von Biomüll« geht es darum zu erkennen, wie Biomüll funktioniert. Dabei wird den Schülerinnen und Schülern näher gebracht, welche Inhaltsstoffe Biomüll umfasst, wie dieser aufgebaut wird, wie die Zersetzung von Biomüll stattfindet und wie er eingesetzt werden kann. In diesem Zusammenhang wurde folgende Dilemmageschichte entwickelt:

Paul-Müll-Dilemma

Dein Mitschüler Paul hat heute Geburtstag. Seine Mutter gibt ihm für seine Klassenkameraden Gummibärchen in kleinen Tüten mit. Er sammelt den ganzen Müll in einer Tüte. Du siehst, wie Paul nach der Pause die ganze Tüte einfach in die Biomülltonne wirft.  Überlege dir: Was würdest du tun?71 Nachdem sich die Kinder inhaltlich mit dem Biomüll und einem Experiment zur Erstellung einer eigenen Bio-Mülltonne beschäftigt haben, dürfen sie sich mit dieser Geschichte auseinandersetzen, um sensibel für Werte wie Umweltbewusstsein oder Verantwortungsübernahme zu werden. Studien, die in diesem Rahmen durchgeführt wurden, zeigen, dass die Schülerinnen und Schüler aktiv und inhaltlich passend zur Geschichte diskutieren konnten und die

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Ibid., S. 14. Vgl. Kopp, Birgitta; Wallner, Katrin; Mandl, Heinz: »Impulses and Dilemma Stories For Values Education in STEM Context in Elementary Schools«, a.a.O.

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Perspektive des Protagonisten einnahmen.72 Darüber hinaus wurden sie für Werte wie Verantwortungsübernahme oder Eigenaktivität sensibilisiert und konnten adäquate Handlungsmöglichkeiten zur Lösung der Dilemmageschichten entwickeln.73

 Vergleich der vier Ansätze Gemeinsamkeiten Allen hier beschriebenen Ansätzen zur Unterstützung der Auseinandersetzung mit Werten sind zwei Dinge gemeinsam: zum einen die Verwendung von Dilemmata, zum anderen das didaktische Prozedere. Alle vier Ansätze setzen Dilemmata bzw. Dilemmageschichten ein, um Schülerinnen und Schüler für Werte zu sensibilisieren. Da es sich dabei um eine Zwangslage handelt, die stets negative Konsequenzen nach sich zieht, sind die Lernenden angehalten, verschiedene Aspekte der Geschichte zu berücksichtigen und damit unterschiedliche Standpunkte einzunehmen. Das didaktische Prozedere der Auseinandersetzung mit Dilemmata oder Dilemmageschichten im Unterricht umfasst folgende fünf Schritte, die sich vor allem auf kognitive Prozesse beziehen: Als Erstes wird das Dilemma in der Klasse eingeführt. Dies kann über das selbständige Lesen, das Erzählen durch die Lehrerin bzw. den Lehrer oder anschauliche Bilder erfolgen. Dabei ist es zentral, dass die Schülerinnen und Schüler das Dilemma erkennen, also die Zwangslage, in der sich der Protagonist befindet, erfassen. Dem Alter der Kinder entsprechend verändert sich solch eine Zwangslage in ihrer Komplexität. In einem zweiten Schritt kommt es zur Stellungnahme der Schülerinnen und Schüler und zum Austausch der Meinungen. Dies kann zunächst allein, dann aber in der Kleingruppen oder in der gesamten Klasse erfolgen, mündlich oder mit schriftlicher Unterstützung, z. B. in Form einer Auflistung der Meinungen. Hierbei werden unterschiedliche Werte ausgetauscht, miteinander verglichen und diskutiert. Meist kommt es zu einer Konfrontation der eigenen Werte mit den Werten anderer. Stimmen diese nicht überein, finden möglicherweise sozio-kognitive Konflikte statt, die zu einer tieferen Verarbeitung bzw. zu weiteren Elaborationen führen können.74 In diesem Zusammenhang ist die Argumentation von Bedeutung, die in einem dritten Schritt die Meinung zu begründen versucht. Diese beschreibt eine Situation, in

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Vgl. Ibid. Vgl. Ibid. Vgl. Doise, Willem; Mugny, Gabriel: The Social Development of Intellect, transl. by St. James-Emler, Angela; Emler, Nicholas in colloboration with Mackie, Diane, Pergamon Press, Oxford/New York/Toronto/ Sydney/Paris/Frankfurt 1984; vgl. Piaget, Jean: The moral Judgment of the Child, transl. by Gabain, Majorie with the help of seven collaborators, The Free Press, New York, NY 1932.

Einsatz von Dilemmata zur Wertebildung in Schulen

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der einzelne Argumente, die einen thematischen Bezug zueinander aufweisen, zur Unterstützung des jeweiligen Standpunktes in einem Dialog ausgetauscht werden.75 Ein Argument ist eine bedeutungsvolle einzelne Äußerung zur Unterstützung einer anderen Aussage76 und umfasst zwei aufeinander bezogene Propositionen77, nämlich eine These und deren Begründung durch Fakten, Beweise oder Belege. Dabei sind zwei Prozesse von Bedeutung: zum einen umfasst das Generieren von Argumenten kognitive Aktivitäten wie kritisches Denken und Schlussfolgern78 und zum anderen das Aushandeln von Meinungen in der Argumentationssituation sozio-kognitive Aktivitäten des Vergleichens, Abwägens und Bewertens verschiedener genannter Argumente.79 Das Argumentieren kann entweder in der Kleingruppe oder im Plenum stattfinden. Neben der Argumentation ist in einem vierten Schritt auch die Reflexion über Werte von Bedeutung. Reflexion »bezeichnet insbesondere die Fähigkeit, eigenes Verhalten, mentale Konzepte, Gefühle und Haltungen wahrzunehmen und in Bezug zur Umwelt kritisch zu hinterfragen. Sie ist notwendige Voraussetzung, um aus gemachten Erfahrungen zu lernen, vor, während oder nach dem Ereignis.«80 Mit Hilfe von Reflexion wird es uns möglich, Ungereimtheiten in unseren Überzeugungen und Fehler im Problemlösen zu korrigieren.81 Daher sind reflexive Aktivitäten für die Wertebildung von Bedeutung. Die Reflexion ist zunächst eine individuelle Tätigkeit, die später in geäußerten Argumenten oder Begründungen zum Ausdruck kommt. Am Ende dieses kognitiven Prozesses des Erkennens, der Diskussion, Argumentation und Reflexion, steht als fünfter Schritt die Entscheidung der Schülerinnen und Schüler, die mit sachlichen Informationen ebenso begründet wird wie mit den eigenen Werthaltungen. Der Begründung wird hier ein besonders wichtiger Beitrag beigemessen.

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Vgl. Baker, Micheal: Argumentation and Cognitive Change in Collaborative Problem-Solving Dialogues, COAST Research Report Number CR-13/96, University of Lyon, Lyon 1996; vgl. Leitao, Selma. »The Potential of Argument in Knowledge Building«, in: Human Development 43, 2000, Issue 6, S. 332 – 360. Vgl. Andriessen, Jerry; Baker, Michael; Suthers, Dan: »Argumentation, Computer Support, and the Educational Context of Confronting Cognition«, in: Andriessen, Jerry; Baker, Michael; Suthers, Dan (Hrsg.): Arguing to Learn. Confronting Cognitions in Computer-supported Collaborative Learning Environments, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht 2003, S. 1– 25. Vgl. Baker, Micheal: Argumentation and Cognitive Change in Collaborative Problem-Solving Dialogues, a.a.O. Vgl. Andriessen, Jerry; Baker, Michael; Suthers, Dan: »Argumentation, Computer Support, and the Educational Context of Confronting Cognition«, a.a.O. Vgl. Kopp, Birgitta: Effekte schematheoretischer Unterstützung auf Argumentation und Lernerfolg beim kooperativen Lernen in Videokonferenzen, Logos. Verlag, Berlin 2005. Wirtz, Markus Antonius: Dorsch – Lexikon der Psychologie, Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Bern 182017, S. 1419. Vgl. Mezirow, Jack: »How Critical Reflection Triggers Transformative Learning«, in: Mezirow, Jack and Associates: Fostering Critical Reflection in Adulthood. A Guide to Transformative and Emancipatory Learning, Jossey-Bass Publishers, San Francisco 1990, S. 1– 20.

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Unterschiede Unterschiede zwischen den einzelnen Ansätzen finden sich vor allem in der fachlichen Anbindung von Dilemmata. So eignen sich die vier Ansätze für unterschiedliche Anwendungsszenarios im Unterricht. Die Konstanzer Methode der Dilemmadiskussion und der Wertediskurs eignen sich insbesondere für ethische oder religiöse Themen. Die Konstanzer Methode der Dilemmadiskussion verwendet semi-reale Dilemmata, die von der Lehrerin bzw. vom Lehrer selbst entworfen werden und sehr zielgerichtet bestimmte Themen ansprechen. Diese Dilemmata eignen sich vor allem für höhere Klassen fortführender Schulen. Im Gegensatz dazu ist der Wertediskurs sehr viel breiter angelegt und greift Probleme aus dem Alltag auf, die im Klassenraum diskutiert werden. Solche Probleme können in sämtlichen Jahrgangsstufen auftreten. Besonderer Fokus liegt beim Wertediskurs auf der Lehrerbildung, denn: Die Lehrerinnen und Lehrer sollen für solche Alltagsprobleme sensibilisiert werden, in denen Werte zum Ausdruck kommen. Der Umgang und die Lösung dieser Probleme im Berufsalltag von Lehrerinnen und Lehrern stellen hier die zentralen Aspekte dar. Der VaKE-Ansatz und die Dilemmageschichten in der Grundschule sind inhaltlich an naturwissenschaftlichen Themen ausgerichtet. In beiden findet eine stärkere Verzahnung von vermittelten naturwissenschaftlichen Inhalten und entsprechenden Werten statt. Da sich solche Themen auch sehr viel häufiger im unmittelbaren Alltag finden, ist hier auch ein starker Handlungsbezug gegeben, z. B. beim Thema Mülltrennung.

 Probleme des Einsatzes von Dilemmata im Unterricht Werden Dilemmata in Schulen eingesetzt, so wird man mit verschiedenen Einschränkungen und Problemen konfrontiert. Eine wichtige Einschränkung ist der zeitliche Aspekt. Die Auseinandersetzung mit Dilemmata benötigt immer Zeit. Häufig beklagen Lehrerinnen und Lehrer den Umstand, dass diese aufgrund eines straffen Lehrplans nicht zur Verfügung steht. Umso wichtiger ist eine langfristige und umfassende Planung des Einsatzes solcher Maßnahmen zur Wertebildung. In diesem Zusammenhang ist auch der Nachhaltigkeit Rechnung zu tragen: Die Diskussion über Werte führt nur dann zur Bildung neuer Werte oder zu einer Änderung alter Werte, wenn diese in verschiedenen Situationen und Kontexten stattfindet. Das heißt, dass ein einmaliger Einsatz von Dilemmata oder Dilemmageschichten oft nicht ausreicht, um eine nachhaltige Wertebildung zu ermöglichen. In Zusammenhang mit der Nachhaltigkeit ist auch das wertorientierte Handeln von Bedeutung. Schließlich geht es darum, Denken und Handeln miteinander in Verbindung zu bringen.

Einsatz von Dilemmata zur Wertebildung in Schulen

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Indem Dilemmata und Dilemmageschichten an die Lebenswelt und Erfahrungen der Lernenden anknüpfen, wird ein Transfer in den Alltag möglich gemacht.82 Denken und Handeln in Auseinandersetzung mit alltäglichen Problemstellungen in der Lernumgebung stellen die zentralen Komponenten dar, die sich auf die Persönlichkeit, auf deren Bildung und Wertvorstellungen auswirken können. Auch die Lehrkräfte müssen adäquat ausgebildet sein, um die verschiedenen Ansätze zur Wertebildung erfolgreich im Unterricht einsetzen zu können. Dazu gehört auch, geeignete Dilemmata und Dilemmageschichten verfassen zu können, die für die Zielgruppe und das jeweilige Thema passend sind. Dies scheint nicht immer einfach zu sein, wie die obigen Beispiele zeigen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist auch, dass sich die Lehrkräfte ihrer Bedeutung bewusst sein müssen, dass sie selbst Werte verkörpern, die sie ihren Schülerinnen und Schülern als Vorbilder vorleben und damit auch weitergeben.

 Fazit Insgesamt scheinen Dilemmata aufgrund ihrer inhaltlichen Adaptierbarkeit eine geeignete Methode zur Wertebildung für die Schule und den Unterricht darzustellen. Insbesondere im Kontext zunehmend globaler Probleme wie Klimawandel, Armut und Hungersnöten ist es notwendig, Kindern schon früh nicht nur Werte zu vermitteln, sondern ihnen die aktive Wertebildung sowie wertorientiertes Handeln zu ermöglichen; nicht zuletzt, indem die Lehrerin bzw. der Lehrer selbst als authentisches Vorbild für wertorientiertes Denken und Handeln dient. Quelle: Kopp, Birgitta: Einsatz von Dilemmata zur Wertebildung in Schulen, Ludwig-Maximilians-Universität, München 2017 (für diesen Band von der Autorin überarbeitet).

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Vgl. Gerstenmaier, Jochen; Mandl, Heinz. »Bildung und Lernen in der Tradition von Kerschensteiner und Dewey«, in: Tippelt, Rudolf (Hrsg.): Zur Tradition der Pädagogik an der LMU München. Georg Kerschensteiner: Biographische, bildungs-, erziehungs- und lehrtheoretische Aspekte, Münchner Beiträge zur Bildungsforschung, Bd. 10, Herbert Utz Verlag, München 2004, S. 21– 27.

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BEISPIELE AUS DER PRAXIS

Soll Calvin »pfuschen«? Über die Bedeutung des Lebensweltbezugs in Dilemmageschichten Jörg Peters

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ilemmata werden in Philosophie- und Ethik-Kursen1 gerne eingesetzt, weil sie ein hohes motivationales Potential in sich tragen. Dies sollte aber nicht der alleinige Grund sein, diese Methode für unterrichtliche Zwecke zu nutzen. Der Einsatz von Dilemmageschichten legitimiert sich m. E. unter anderem durch das anzustrebende Ziel, Schülerinnen und Schülern deutlich zu machen, wie schwierig es ist, wichtige und insbesondere moralische Entscheidungen zu treffen. Aus diesem Grund soll nach dem Versuch, den Begriff des moralischen Dilemmas näher zu bestimmen, anhand einer Analyse gezeigt werden, dass sich eine Dilemmageschichte – ob als Narration oder wie in dem von mir gewählten Beispiel als Comic – dann für den Philosophie- und EthikUnterricht als tragfähig erweist, wenn sie 1. ein moralisches Problem enthält, ihr 2. ein erkennbarer Lebensweltbezug zugrunde liegt und sie 3. dazu beiträgt, die Urteilskompetenz von Schülerinnen und Schülern zu fördern.

 Das moralische Dilemma Der Begriff Dilemma stammt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie ›zwischen zwei (griech. δύο) Annahmen (griech. λῆμμα) stehen, die man beide nicht zur selben Zeit vertreten kann‹. Damit ist gemeint, dass man mit einem Problem konfrontiert wird, welches genau zwei sich widersprechende Lösungsmöglichkeiten kennt2, von denen

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Neben den Fächern der Sekundarstufe II sollen unter dieser Bezeichnung auch die Fächer der Sekundarstufe I aus den deutschen Bundesländern subsumiert werden, die sich mit ethischen und/oder philosophischen Themen auseinandersetzen: Philosophie, Praktische Philosophie, Ethik, Werte und Normen und L-E-R. Es müssen genau zwei sich widersprechende Lösungsmöglichkeiten vorliegen, denn bei drei Optionen würde es sich um Trilemma und bei vier um ein Tetralemma handeln. Bei noch mehr Lösungsmöglichkeiten spricht man von einem Polylemma.

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aber klar ist, dass der Handelnde von beiden gleichermaßen gefangen genommen wird. Er weiß deshalb nicht, für welche Option er sich entscheiden soll, zumal ihm kein befriedigender Ausweg aus seiner Misere angeboten wird. Kurz: Der Handelnde steckt in einer Zwickmühle (man kann auch von einer Kalamität oder einer Bredouille sprechen), der er nicht zu entrinnen vermag. Und dennoch kommt er nicht umhin, in einer solchen Situation eine Entscheidung zu fällen.3 In der Philosophie betreffen Entscheidungsfragen häufig Probleme der Moral, die man Lind zufolge in moralische, semi-reale (hypothetische) moralische oder edukative moralische Dilemmata unterteilen kann. Er definiert die Begriffe folgendermaßen: ¬ »Moralisches Dilemma: Die Wahl zwischen Verhaltensalternativen, wenn beide eigenen moralischen Prinzipien widersprechen und es keine dritte Alternative gibt. ¬ Semi-reales (hypothetisches) moralisches Dilemma: Die Zwangslage einer fiktiven Person, die zwischen zwei Verhaltensalternativen wählen muss, die gegen ihre moralischen Prinzipien verstoßen. ¬ Edukatives moralisches Dilemma: Ein (semi-reales oder reales) Dilemma, das Teilnehmerinnen und Teilnehmer an einer Dilemmadiskussion so zum Nachdenken über moralische Problemlösungen anregt, dass bei ihnen die Entwicklung der moralischen Urteils- und Diskursfähigkeit gefördert wird.« 4 Diese Varianten moralischer Dilemmata sind abzugrenzen von Dilemmasituationen des Alltags, die ebenfalls zwei Lösungswege anbieten. Im Unterschied zu den moralischen Dilemmata können diese aber durchaus ein erfreuliches Ergebnis hervorbringen, weshalb man sie auch positive Dilemmata nennt. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn man Hunger verspürt, im Kühlschrank zwei gleich schmackhafte Gerichte vorfindet und sich nicht entscheiden kann, welches der beiden man essen soll, obwohl sowohl der Verzehr von Speise A als auch der Verzehr von Speise B dazu beitragen würde, sich gesättigt zu fühlen. Maßgebend ist hier der Umstand, dass es keine Rolle spielt, für welche Option man sich entscheidet, weil beide Lösungen zum gewünschten Ziel führen. ¬ Moralische Dilemmata, die auch als negative Dilemmata bezeichnet werden, meinen dagegen Situationen, die zu keinem positiven Ende führen. Hierbei handelt es sich zwar um gebotene, aber gleichzeitig auch sich widersprechende Handlungen. Man kann auch sagen, es liegen bipolare Strukturen vor, womit zum Ausdruck gebracht

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Blesenkemper, Klaus: Dikemmadiskussion«, in: Nida-Rümelin, Julian; Spiegel, Irina; Tiedemann, Markus (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik, 2 Bde. Bd. 1: Didaktik und Methodik, UTB 8617, Ferdinand Schöningh, Paderborn 2015, S. 178 – 187: S. 179, der die Entscheidungsfindung eine Wahl zwischen Pest und Cholera nennt. Lind, Georg: »Die Methode der Dilemmadiskussion«, in: Sander, Wolfgang; Igelbrink, Christian; Brüggen, Friedhelm (Hrsg.): UrteilsBildung – eine lösbare pädagogische Herausforderung. Theoretische Grundlagen und praktische Hinweise, Urteils-Bildung, Bd. 2, LIT Verlag, Berlin 2014, S. 302 – 309: S. 308.

Über die Bedeutung des Lebensweltbezugs in Dilemmageschichten

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werden soll, dass zwei Wertebereiche miteinander in Konflikt stehen5 : Befolgt man Gebot A, von dem man weiß, dass es in dieser Situation eine richtige Handlung wäre, so handelt man gegen Gebot B, von dem man aber ebenfalls weiß, dass es eine richtige Handlung wäre, und umgekehrt – oder anders formuliert: Man verstößt mit dem Richtigen gegen das Richtige. Bernard Williams hat dies formal wie folgt dargestellt: 1. I ought to do a. 2. I ought to do b. 3. I cannot do a and b.6

 Die Funktion von Dilemmageschichten im Philosophie- und Ethik-Unterricht Für einen Unterricht, in dem ethische Fragestellungen behandelt werden, dürften in erster Linie solche Dilemmata von Relevanz sein, die Lind mit dem Etikett ›edukativ moralisch‹ versehen hat. Sie eignen sich besonders dazu, Schülerinnen und Schüler zum Nachdenken über moralische Probleme zu animieren und ihre Urteilsfähigkeit zu fördern. Bernd Rolf sieht deshalb generell in Dilemmageschichten eine »didaktische Falle« 7, weil derjenige, der sich darauf einlässt und sich mit der Situation des Handelnden identifiziert, gar nicht mehr anders kann, als philosophisch tätig zu werden. Den Grund dafür sieht Rolf in der in jeder Dilemmageschichte enthaltenen Zuspitzung auf konkurrierende Wertvorstellungen. Ein Handelnder muss eine Entscheidung treffen und – zumindest gegenüber sich selbst – Rechenschaft über sein Tun ablegen. Diesen Aspekt betont auch Sibylle Reinhardt, wenn sie darauf verweist, dass es unmöglich sei, ein Dilemma durch die Veränderungen von Tatsachen, durch die Abgabe von Verantwortlichkeit oder durch einen Kompromiss zu »lösen«. Vielmehr führe eine unausweichliche Entscheidung für eine Seite zur Verletzung der anderen und damit zugleich zu einer Verletzung eines moralischen Wertes. Der Verstoß gegen einen moralischen Wert macht aber eine Begründung notwendig, wodurch das entstandene Ungleichgewicht wieder ins Gleichgewicht gebracht werden kann. Dabei müssen die in einem Dilemma zur Entscheidung stehenden moralischen Werte Fragen

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vgl. Dobbelstein-Osthoff, Peter: »Werteerziehung als Förderung von Urteilsfähigkeit«, in: Landesinstitut für Schule und Weiterbildung (Hrsg.): Schule und Werteerziehung. Beiträge zur Gestaltung des Schullebens und Öffnung von Schule, Soester Verlagskontor, Soest 1991, S. 9 – 190: S.19. Willams, Bernard: «Ethical Consistency«, in: Raz, Joseph (Hrsg.): Practical Reasoning, Oxford Readings in Philosophy, Oxford University Press 1978, S. 91– 109: S. 103; vgl. auch Gowans, Christopher W.: »The Debate on Moral Dilemmas«, in: Gowans, Christopher W. (Hrsg.): Moral Dilemmas, Oxford University Press, Oxford /New York 1987, S. 3 – 33: S. 3. Rolf, Bernd: »›Wie soll ich mich entscheiden?‹ Dilemmata im Philosophie- und Ethikunterricht«, in: Ethik & Unterricht 11, 2001, Heft 3: Praktische Philosophie, S. 18 – 22: S. 18.

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betreffen, die einen Konflikt darstellen oder auslösen.8 Wird der Werte-Konflikt nicht deutlich, so entsteht kein Dilemma mit tatsächlich widerstreitenden, in etwa gleich relevanten Werten, sondern irgendein Problem.9 Das Werte-Konflikt-Prinzip, das allen moralischen Dilemmageschichten inhärent ist, geht auf die Forschungsergebnisse des amerikanischen Psychologen Lawrence Kohlberg zurück. Er entdeckte die didaktische Funktion von Dilemmata und nutzte sie zur Förderung der moral-kognitiven Entwicklung seiner Probanden. Er untersuchte, wie seine »Schüler« ihre Entscheidungen rechtfertigten und leitete daraus seine berühmten sechs Stufen der moralischen Urteilsbildung ab.10 Kohlberg wandte sich mit seinem Modell gegen die zwei vorherrschenden polaren didaktischen Auffassungen seiner Zeit. Er kritisierte einerseits die »Form der Indoktrination«, die sich der amerikanische Lehrerverband auf die Fahnen geschrieben hatte, um durch »Charaktererziehung« die alten Werte wiederherzustellen. Andererseits stellte er sich gegen die von Louis Raths und Sidney B. Simon vertretene »Werteerklärung«, die einen »expliziten Werterelativismus« mit dem Anspruch, »wertneutral zu sein«, postulierte. Im ersten Fall distanzierte sich Kohlberg, weil nur »relative Werte« vermittelt würden, die auf den Auffassungen der Lehrpersonen und der konventionellen Kultur beruhten und sich in ihrer Rechtfertigung lediglich auf das vom Lehrkörper Übernommene beziehen könnten. Von der zweiten Position distanzierte er sich mit dem Argument, dass die Schülerinnen und Schüler den Eindruck erhalten müssten, es gäbe keine richtigen moralischen Antworten, und dementsprechend würden lediglich unterschiedliche Werte aufgedeckt und ihre Differenzen untereinander diskutiert. Lehrerinnen und Lehrer würden ihre Schülerinnen und Schüler auf diese Weise aber nicht – wie es Kohlbergs Auffassung nach richtig wäre – zu der Einsicht führen, dass ein Wert adäquater sei als der andere. Dabei stellt die Auseinandersetzung mit einem Dilemma aber lediglich den ersten Schritt einer umfassenden Moralerziehung dar. Das eigentliche Ziel des Ethikunterrichts müsse in der Voranbewegung zur nächsten Stufe des moralischen Denkens (innerhalb des Kohlberg’schen Stufenmodells) gesehen werden.11 Das Voranbewegen wird initiiert, indem der Mensch mit der sozialen Umwelt konfrontiert wird und in ihr agieren muss. Kohlberg war davon überzeugt, dass ein Kind mit dem Lösen konkreter moralischer Konflikte einen Lernprozess durchlaufe, durch den es die nächst höhere Stufe der moralischen Entwicklung erklimmen würde. Seiner Meinung nach führt die Auseinandersetzung mit einer sich

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Vgl. Blesenkemper, Klaus: »Dilemmadiskussion«, a.a.O., S. 182. Dort heißt es: Als Dilemma soll eine »konflikthafte Situation, in der sich unvereinbare Interessen und Werte gegenüberstehen, und jede Handlungsmöglichkeit falsch zu sein scheint« gelten. Reinhardt, Sibylle: »Didaktische Reflexionen. Bericht aus der Materialentwicklungsgruppe«, in: Landesinstitut für Schule und Weiterbildung (Hrsg.): Schule und Werteerziehung. Beiträge zur Gestaltung des Schullebens und Öffnung von Schule, a.a.O., S. 197– 198. vgl. Kohlberg, Lawrence: »Moralstufen und Moralerwerb. Der kognitiv-entwicklungstheoretische Ansatz (1976)«, in: Kohlberg, Lawrence: Die Psychologie der Moralentwicklung, hrsg. von Althof, Wolfgang unter Mitarbeit von Noam, Gil und Oser, Fritz, stw 1232, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996, S. 123 – 174: S. 128 – 132 (der Aufsatz wurde übers. von Döbert, Rainer und Portele, Marei). vgl. Raters, Marie-Luise: Das moralische Dilemma im Ethik-Unterricht. Moralphilosophische Überlegungen zur Dilemma-Methode nach Lawrence Kohlberg, Thelem, Dresden 2011, S. 21.

Über die Bedeutung des Lebensweltbezugs in Dilemmageschichten

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ständig ändernden sozialen Umwelt beim Kind zu einem reversiblen, differenzierten und komplexen Denken, und infolgedessen wird sich sein Urteilsvermögen immer mehr auf universelle Prinzipien beziehen.12 Dass der zuletzt genannte Punkt in seinem Modell (zumindest so) nicht oder nur unter bestimmten Annahmen haltbar ist, haben z. B. Edelstein13 und Keller14 nachgewiesen, indem sie im Realexperiment mit kindgerechten Dilemmageschichten zeigen konnten, dass bei Regelverletzungen jüngere Kinder ihre moralischen Vorstellungen über ihre Gefühle schon äußerst differenziert artikulieren. Diese und weitere Untersuchungen – etwa die von Nunner-Winkler15 – machen evident, dass das Stufenmodell die moralischen Fähigkeiten von jüngeren Kindern nicht adäquat abbildet.16 Moralisches Urteilen baut also nicht ausschließlich auf der kognitiven Entwicklung auf, d. h., entgegen der Theorie Kohlbergs muss man nicht erst logisch denken können, bevor man moralisch urteilen und handeln kann. Auch wenn man kein Verfechter des Kohlberg’schen Stufenmodells ist und es nicht universelle Gültigkeit besitzt, besteht die Leistung des amerikanischen Psychologen doch darin, gezeigt zu haben, dass Dilemmata dazu beitragen, die moralischen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu fördern. Für den Philosophie- und Ethik-Unterricht bedeutet das, dass Dilemmageschichten Schülerinnen und Schülern helfen können, sich moralischer Probleme besonders bewusst zu werden: »Indem Kinder und Jugendliche Probleme in Dilemmageschichten gemeinsam diskutieren, werden sie zu ›lautem Denken‹ und zum Erkennen bisher noch nicht bedachter Aspekte gebracht«.17 Wenn das stimmt, dann kann entgegen der Annahme Kohlbergs die Bearbeitung eines Dilemmas nicht ergebnisorientiert sein. Vielmehr ist der Prozess der Auseinandersetzung mit einem vertrackten Problem

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vgl. Hößle, Corinna: »Theorien zur Entwicklung und Förderung moralischer Urteilsfähigkeit«, in: Krüger, Dirk; Vogt, Helmut (Hrsg.): Theorien der biologiedidaktishen Forschung. Ein Handbuch für Lehramtsstudenten und Doktoranden, mit 26 Abbildungen und 12 Tabellen, Springer-Lehrbuch, Springer Verlag, Berlin/Heidelberg/New York 2007, S. 197– 208: S. 202. Edelstein, Wolfgang; Keller, Monika: »Beziehungsverständnis und moralische Reflexion.. Eine enwicklungspsychologische Untersuchung«, in: Edelsetein, Wolfgang; Nunner-Winkler, Gertrud (Hrsg.): Zur Bestimmung der Moral. Philosophische und sozialwissenschaftliche Beiträge, stw 628, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1986, S. 321– 346. Vgl. Keller, Monika: »Moral in Beziehungen. Die Entwicklung des frühen moralischen Denkens in Kindheit und Jugend«, in: Edelstein, Wolfgang; Oser, Fritz; Schuster, Peter (Hrsg.): Moralische Erziehung in der Schule. Entwicklungspsychologie und pädagogische Praxis, Beltz Pädagogik, Beltz Verlag, Weinheim/Basel 2001, S. 111– 140: S. 123 – 124 Nunner-Winkler, Gertrud: »Moralentwicklung im Kindesalter. Zur der Frage nach dem Verhältnis von Moral und Religion«, in: Groß, Engelbert (Hrsg.): Der Kinderglaube. Perspektiven aus der Forschung für die Praxis, Verlag Ludwig Auer, Donauwörth 1995, S. 47– 64: S. 47– 50. vgl. Raters, Marie-Luise: Das moralische Dilemma im Ethik-Unterricht. Moralphilosophische Überlegungen zur Dilemma-Methode nach Lawrence Kohlberg, a.a.O., S. 30. Böhmig, H.-E.; Hoenecke, Ch.; Deeg, H.; Harbrucker, F.; Schaff, M.; Sylvester, Th. (Arbeitsgruppe der Leiterinnen und Leiter Berliner Schulpraktischer Seminare), unter Mitarbeit von Dipl.-Psych. Schuster, P., Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin: »Moralentwicklung und Moralerziehung nach Lawrence Kohlberg« als Thema in der Lehrerausbildung. Ein Arbeitspapier, auf: https://bildungsserver. berlin-brandenburg.de/fileadmin/bbb/zielgruppen/lehramtsanwaerterinnen/kohlberg1.pdf (Stand: 01.09.2018), S. 21.

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der die Entwicklung fördernde Faktor, so dass ein offenes Ende bewirkt, dass das Problem unter Umständen als Frage in den Schülerinnen und Schülern weiterwirkt.18 Dies gelingt vor allem dann, wenn im Philosophie- oder Ethik-Unterricht Anlässe geschaffen werden, sich Wertkonflikten zuzuwenden, in Konfliktsituationen Entscheidungen zu treffen, die getroffenen Entscheidungen zu begründen und sich auf andere Begründungen einzulassen.19 Auf diese Weise werden Werte und Normen infrage gestellt und nicht mehr als selbstverständlich betrachtet. Dies geschieht, indem die Schülerinnen und Schüler zum einen die polarisierenden Positionen abwägen und sie andererseits auf ihre Tragfähigkeit hin überprüfen, wodurch die moralische Urteilsfähigkeit in Gang gesetzt wird.

 Lebensweltbezug und Urteilskompetenz Es ist heute eine Binsenweisheit, dass man Dilemmata im Philosophie- oder Ethik-Unterricht nicht permanent einsetzen oder den Umgang mit ihnen zur Routine bzw. zum Ritual werden lassen darf. Denn Methoden, die allzu oft angewendet werden, nutzen sich nun einmal schnell ab. Kohlberg glaubte noch, allein auf die Dilemmamethode setzen zu können, musste sich aber eingestehen, dass das Interesse und die Motivation, sich auf Dilemmasituationen einzulassen, bei seinen Schülern schon nach kurzer Zeit abflaute. Auch Peter Dobbelstein-Osthoff, der in NRW einen groß angelegten Modellversuch zur Werteerziehung begleitet hat, gesteht, dass das Besprechen von zwei bis drei Dilemmata pro Woche das eigentliche Ziel, nämlich die Urteilsfähigkeit von Schülerinnen und Schülern zu fördern, verfehlt hat: »Es zeigte sich sehr bald, dass sich dies nicht in dieser Häufigkeit aus den Unterrichtsinhalten […] ergeben konnte. Die Dilemmageschichten erschienen den […] [Schülerinnen und Schülern] daher mehr und mehr aufgesetzt«.20 Anhand von Dobbelstein-Osthoffs Aussage lassen sich eine Reihe didaktischer Aspekte für den Einsatz von Dilemmata im Philosophie- und Ethik-Unterricht ableiten: 1. Die Dilemmamethode gehört fraglos zum Kanon eines problemorientiert angelegten Philosophie- und Ethik-Unterrichts – aber sie darf nicht mehr sein als eine Methode unter vielen. 2. Ein Dilemma darf niemals »aufgesetzt« erscheinen. Mit einem künstlichen, nicht aus ihrer Lebenswelt stammenden Fallbeispiel setzen sich Schülerinnen und Schüler nur deshalb auseinander, weil es ihnen oktroyiert worden ist, obwohl sie keinen wirklichen Sinn oder Nutzen für sich darin sehen. 3. Es ist sinnvoll, Dilemmata thematisch angebunden in das Unterrichtsgeschehen einfließen zu lassen21, denn dann ist für Schülerinnen und Schüler der Grund für die Auseinandersetzung mit einem Dilemma leicht nachvollziehbar.

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20 21

vgl. ibid, S. 21– 22. vgl. Rolf, Bernd: »‹Wie soll ich mich entscheiden?‹ Dilemmata im Philosophie- und Ethikunterricht«, a.a.O., S. 19. Dobbelstein-Osthoff, Peter: »Werteerziehung als Förderung von Urteilsfähigkeit«, a.a.O., S. 23. Vgl. ibid.

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4. Entgegen der Auffassung Kohlbergs scheint es richtig zu sein, moralische Dilemmata altersgerecht auszuwählen22, weil die zu behandelnden Probleme die Schülerinnen und Schüler sonst entweder unter- oder überfordern. 5. Dilemmata – so ergibt sich aus Punkt 4 – sollen einen deutlichen Bezug zur Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler aufweisen. Welche Typen von Dilemmageschichten dabei im Philosophie- oder Ethik-Unterricht zum Einsatz kommen, spielt keine Rolle. Schülerinnen und Schüler der heutigen Generation sind nämlich bestens vertraut mit moralischen Dilemmasituationen, die sie, wenn nicht aus der Realität, so doch immerhin aus Spielfilmen oder Fernsehserien (z. B. Science-Fiction, Arztserien etc.) kennen. Die etwa filmisch aufgegriffenen Fälle können dabei realen, semi-realen oder hypothetischen Charakter besitzen und sind damit alle – wie Lind sagen würde – edukativ-moralisch. Ob eine Dilemmadiskussion erfolgreich verläuft, hängt zum großen Teil auch davon ab, ob sich Schülerinnen und Schüler das vorgegebene Problem zu eigen machen können. Wird das Problem zu einem Teil ihrer selbst, besteht auf der Seite der Lernenden ein persönliches Interesse, einen Ausweg aus der Zwickmühle zu finden oder ihm zumindest auf die Spur zu kommen. Sibylle Reinhardt konstatiert daher zurecht, »dass die in der Literatur gebräuchliche Unterscheidung verschiedener Dilemmatypen eine analytische ist, d. h. sie hilft zu verstehen und zu differenzieren, spiegelt aber nicht die Realität [wider]. Für […] [Schülerinnen und Schüler] kann ein fiktives Dilemma hohen Realitätsgehalt haben, wenn es mit ihrer Lebenswirklichkeit verknüpft ist und jederzeit möglich erscheint. Ein tatsächlich […] gelebtes Dilemma [dagegen] kann als irreal empfunden werden, wenn keine Beziehung zur eigenen Welt gesehen wird«.23 6. Die Schülerinnen und Schüler werden sich ihrer unterschiedlichen Werthaltungen bewusst, können ihre Position verbalisieren, auf andere eingehen und sich mit deren Auffassungen auseinandersetzen.24 7. Schließlich lernen sie auch noch, mit der Ambiguität von Werthaltungen umzugehen, die sich in Zweideutigkeiten, Widersprüchen oder Aporien niederschlagen können.25 Insbesondere die Punkte 2 und 5 machen deutlich, wie wichtig der Lebensweltbezug ist, um bei Schülerinnen und Schülern die moralische Urteilsfähigkeit zu fördern. Der Philosophie- oder Ethik-Unterricht kann die äußeren Voraussetzungen dazu liefern, und die Lehrpersonen können die Schülerinnen und Schüler in der Entwicklung ihrer

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25

Diese Auffassung vertritt auch Raters, Marie-Luise: Das moralische Dilemma im Ethik-Unterricht. Moralphilosophische Überlegungen zur Dilemma-Methode nach Lawrence Kohlberg, a.a.O., S. 18. Reinhardt, Sibylle: »Didaktische Reflexionen. Bericht aus der Materialentwicklungsgruppe«, in: Landesinstitut für Schule und Weiterbildung (Hrsg.): Schule und Werteerziehung. Beiträge zur Gestaltung des Schullebens und Öffnung von Schule, a.a.O., S. 199 – 200; vgl. auch: Rolf, Bernd: »Dilemmadiskussion. Ein Weg der Werteerziehung«, in: Lernchancen 17, 2014, Heft 102: Kulturelle Schule, S. 18 – 25: S. 21, der ebenfalls betont, dass bei der Durchführung von Dilemmadiskussionen auf den Einsatz schülerzentrierter Verfahren zu achten ist. vgl. Pfeifer, Volker: Didaktik des Ethikunterrichts. Bausteine einer integrativen Wertevermittlung, überarbeitete und erweiterte Auflage, W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart 2013, S. 318. vgl. ibid.

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Urteilsfähigkeit unterstützen. Den eigentlichen Prozess aber müssen die Jugendlichen selbst durchlaufen.26

 Pfuschen oder nicht, das ist hier die (moralische) Frage Um Jugendliche in ihrer moralischen Urteilsfähigkeit zu fördern, ist es also hilfreich, ihnen im Philosophie- oder Ethik-Unterricht altersgemäße Dilemmageschichten, die ihre Lebenswirklichkeit betreffen, anzubieten, sie mit ihnen zu besprechen und zu analysieren. Ein Beispiel, das alle aufgestellten Kriterien erfüllt, ist ein Sunday-Strip aus dem von Bill Waterson geschaffenen Comic Calvin and Hobbes. In diesem Strip durchläuft Calvin einen moralischen Entscheidungsprozess und muss dabei lernen, dass es nicht nur schwierig, sondern manchmal sogar unmöglich ist, eine moralische Entscheidung herbeizuführen. Bevor dieses Comic-Beispiel im Unterricht von den Schülerinnen und Schülern gelesen wird, sollten sie aber zuerst zu einer Einschätzung ihrer jeweils eigenen Haltung gegenüber allgemeinen moralischen Fragen gelangen. Dazu kann man sie etwa mit den folgenden Fragen konfrontieren: 1. Darf ich etwas Schlechtes tun, um etwas Positives zu erreichen? 2. Gibt es Situationen, in denen man etwas Schlechtes tun darf? 3. Wenn ich die Möglichkeit habe, etwas Schlechtes zu tun, ohne dass es in irgendeiner Weise auffällt und sich für mich aus meinem Handeln Vorteile ergeben, werde ich dann schlecht handeln? 4. Ich stelle Frage 3 noch einmal und setze dieses Mal noch voraus, dass durch mein schlechtes Handeln niemandem Schaden zugefügt wird. 5. Gibt es Situationen, in denen mein schlechtes Handeln moralisch gerechtfertigt sein könnte? Im Anschluss an die Diskussion zwischen bzw. mit Schülerinnen und Schülern kann dann folgender Calvin and Hobbes-Comic gelesen werden27 :

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vgl. Oser, Fritz; Althof, Wolfgang: Moralische Selbstbestimmung. Modelle der Entwicklung und Erziehung im Wertebereich, mit einem Beitrag von Garz, Detlef, Klett-Cotta, Stuttgart 1992, S. 113 – 114, die darauf hinweisen, dass die moralische Urteilsfähigkeit nicht nur von schulischen Einflüssen, sondern auch von den sozialen Erfahrungen abhängt und nicht von heute auf morgen passiert. Vielmehr präsentiert sich der Erwerb moralischer Urteilsfähigkeit als ein Langzeitunternehmen. Waterson, Bill: Calvin and Hobbes © 1996, Andrews McMeel Publishing, Kansas City, a Universal Press Syndicate Company, übersetzt und gelettert von Peters, Jörg. Der Comic wurde entnommen aus: Peters, Jörg; Rolf, Bernd: Ethik aktuell. Texte und Materialien zur Klassischen und Angewandten Ethik, C.C. Buchner Verlag, Bamberg 2002, S. 8 – 9.

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Die fünf Fragen, mit denen sich die Schülerinnen und Schüler zu Beginn der Unterrichtssequenz auseinandergesetzt haben, werden nach der Lektüre des Comics in leicht veränderter Form noch einmal gestellt. Der Unterschied zum ersten Fragenkomplex besteht darin, dass der Begriff »das Schlechte« gegen den des »Pfuschens« ausgetauscht wird:

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1. Darf ich pfuschen, um etwas Positives zu erreichen? 2. Gibt es (überhaupt) Situationen, in denen man pfuschen darf? 3. Wenn ich die Möglichkeit habe zu pfuschen, ohne dass es in irgendeiner Weise auffällt und sich für mich aus meinem Handeln Vorteile ergeben, werde ich dann pfuschen? 4. Ich stelle die Frage noch einmal und setze dieses Mal sogar noch voraus, dass durch mein Pfuschen niemandem Schaden zugefügt wird. 5. Gibt es Situationen, in denen mein Pfuschen moralisch gerechtfertigt sein könnte? Da die Schülerinnen und Schüler in der Mehrheit wahrscheinlich zu dem Ergebnis gelangen, dass »schlechtes Handeln« moralisch verwerflich ist, während »Pfuschen« eher als Kavaliersdelikt und damit moralisch als nicht anstößig angesehen wird, bedarf es einer genauen Analyse, um zu sehen, zu welchen Ergebnissen Calvins Überlegungen in Bezug auf das Dilemma führen: Calvin weiß, dass er eine Entscheidung treffen muss. In seinem Fall kann die Antwort entweder »Ich pfusche« oder »Ich pfusche nicht« lauten:

Wenn ich, so überlegt Calvin, pfusche, dann tue ich das Falsche und wenn ich nicht pfusche, das Richtige.

Aber – so lautet seine nächste Überlegung – meine Handlungen führen zu Konsequenzen: Tue ich das Falsche, so wird die Auswirkung positiv sein, tue ich das Richtige, wird sie negativ ausfallen. Im ersten Fall schreibe ich eine »1«, im zweiten Fall muss ich dagegen eine »5« akzeptieren:

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Aber beide Ausgänge befriedigen Calvin nicht wirklich, denn er gelangt zu der Erkenntnis, dass weder unverdienter Erfolg noch verdienter Misserfolg befriedigen:

Aus dieser Analyse ergeben sich für Calvin folgende Überlegungen, die ihn schließlich zu seinem moralischen Dilemma führen: Zunächst setzt er eine Prämisse, indem er sagt: 1. Jeder pfuscht einmal. Aus seiner Beobachtung und Erfahrung weiß er: 2. Die meisten Menschen interessiert es nicht, dass sie pfuschen oder – generell gesprochen – moralisch schlecht handeln, weil sie meinen, mit ihrem Tun durchzukommen. Damit liegt

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aber das Problem auf der Hand: 3. Rechtfertigt das Handeln der anderen Menschen – das moralisch falsch ist – mein moralisch falsches Handeln? Calvin ist wieder am Ausgangspunkt angelangt und überlegt neu, was es bedeutet, wenn er pfuscht bzw. nicht pfuscht. Er stellt nun fest, dass er es nicht nötig hat zu pfuschen, wenn er lernt und sich auf den Test vorbereitet:

Eine völlig andere Situation liegt vor, wenn er nicht lernt. In diesem Fall kommt er zu zwei Resultaten, wobei das eine besagt, sein Pfuschen sei nicht schlimm, weil er keinem anderen einen Schaden zufügen würde. Sein zweites Ergebnis zeigt, dass er sich – um weiterhin vor sich selbst bestehen zu können – auf die Suche nach einer vernünftigen Begründung begeben muss, um die Konsequenzen seines Nicht-Lernens nicht akzeptieren zu müssen:

Überträgt man Calvins Gedanken auf die Welt, wie sie sich uns darstellt, ergibt sich folgendes Bild:

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Aus dieser Widersprüchlichkeit kommt Calvin nicht heraus, woraus sich ein neues, ihm aber nicht bewusstes Dilemma ergibt: Er hat, ohne es zu wissen, wahrscheinlich einen viel tieferen Einblick in die moralischen und/oder ethischen Probleme als seine Mitschülerinnen und Mitschüler erhalten. Man kann auch sagen, dass durch die Auseinandersetzung mit einer ihn betreffenden, seiner Lebenswirklichkeit entnommenen Dilemmasituation seine moralische Urteilsfähigkeit gefördert worden ist. Gleichzeitig hat er aber am Ende des Tests ein leeres Blatt Papier abgegeben, so dass seine äußerst differenzierte philosophische Leistung nicht überprüfbar und damit für seine Lehrerin auch nicht bewertbar ist. Unbeantwortet bleiben am Ende die Fragen, ob Calvin tatsächlich einen moralischen Erfolg zu verbuchen hat, weil es sich schließlich um einen Ethik-Test handelt, in dem er pfuschen wollte. Und: Hätte Calvin nicht vielleicht doch gepfuscht, wenn die Zeit dazu gereicht hätte? Quelle: Peters, Jörg: »Soll Calvin ›pfuschen‹? Über die Bedeutung des Lebensweltbezugs in Dilemmageschichten – dargestellt an einem Comic«, in: Bussmann, Bettina; Tiedemann, Markus: Lebenswelt und Wissenschaft, Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik 19, 2018, Thelem, Dresden 2019, S. 265 – 279.

Das ist unser Land!? Ein moralisches Dilemma zwischen Eigentum, Autonomie und der Pflicht, Menschen in Not zu helfen Simon Mayer

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chon früh entwickeln Kinder einen Begriff von Eigentum und damit verbundene Intuitionen vom Recht an Gütern und Gerechtigkeit im Hinblick auf ihre Verteilung. Diese Einheit möchte Schülerinnen und Schülern der Orientierungsstufe die abstrakte Argumentation der Migrationsethik zugänglich machen und so ihre ethische Urteilsfähigkeit für eine politisch hochaktuelle und auch in absehbarer Zukunft relevante Frage schärfen.

 Eigentum Ein dreijähriger Junge, ein Erwachsener und eine von einem anderen Erwachsenen gespielte Puppe sitzen an einem Tisch. Alle drei malen jeweils ein Bild. Als sie fertig sind, äußert sich die Puppe begeistert über die Bilder des Jungen und des Erwachsenen und versucht, deren Bilder zu schnappen. Der Junge protestiert, als die Puppe nach seinem Bild greift, und bringt es in Sicherheit. Auch als die Puppe nach dem Bild des Erwachsenen greift, protestiert der Junge. Die Autoren1 der dieser Szene zugrundeliegenden Studie deuten das Verhalten des Jungen so, dass Kinder ab drei Jahren eine erstaunlich entwickelte Vorstellung von Eigentum haben. Sie scheinen zu verstehen, dass Eigentum keine Relation zwischen einer Person und einer Sache ist, sondern eine Relation zwischen mindestens zwei Personen in Bezug auf eine Sache.2 Der Junge protestiert nicht nur, als ihm sein eigenes Eigentum weggenommen zu werden droht. Er protestiert auch, als das Eigentum einer dritten Partei beeinträchtigt zu werden scheint. Eigentumsrechte gelten für alle Personen einer Gruppe, und deshalb kann der Eigentümer einer Sache alle anderen von ihrem Gebrauch ausschließen. Als Recht gegenüber anderen hat der Eigentumsbegriff eine ethische Dimension. Darf ich andere prinzipiell von meinem Eigentum ausschließen oder gibt es Bedin-

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2

Kanngießer, Patricia; Hood, Bruce M.: »Young children’s understanding of ownershiprights for newly made objects«, in: Cognitive Development 29,2014, S. 30 – 40. Munzer, Stephen R.: »Property«, in: Routledge Encyclopedia of Philosophy, auf: https://www.rep.rout ledge.com/ (Stand: 02.07.2019).

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gungen, unter denen ich mein Eigentum nicht nur teilen kann, sondern muss? Und vorausgesetzt, ich darf andere vom Gebrauch meines Eigentums ausschließen: Warum darf ich das?

 Eigentum, Freiheit und Migration Im Zentrum der zeitgenössischen Migrationsethik steht seit ihrer Entstehung in den 1980er Jahren die Frage, ob und in welchem Umfang souveräne Staaten dazu verpflichtet sind, ihre Grenzen für Migranten zu öffnen3, und spätestens seit dem Herbst 2015 bewegt die Frage, welche und wie viele Flüchtlinge Deutschland aufnehmen muss, eine breite Öffentlichkeit. Dabei spielt sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der akademischen Diskussion der Eigentumsbegriff eine wichtige Rolle. Politiker sorgen sich um die Kosten, die durch Flüchtlinge entstehen, und Populisten wissen mit Parolen wie »Die Migranten nehmen uns unsere XY weg« den Eigentumsbegriff geschickt für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.4 In der philosophischen Debatte spielen Argumente, die mehr5 oder weniger6 explizit mit dem Eigentumsbegriff operieren, eine zentrale Rolle. So argumentiert beispielsweise Hillel Steiner, dass ein Staat dann die Immigration beschränken dürfe, wenn die individuellen Eigentumsrechte seiner Bürger an dem Land rechtmäßig seien. Staaten dürfen nach diesem Argument – ganz ähnlich wie der Dreijährige sein Bild dem Zugriff der Puppe entziehen darf, weil es sein Eigentum ist – Menschen die Einreise in das Land verwehren, weil seinen Bürgern das Land gehört. Analog argumentieren Köllmann und Nida-Rümelin mithilfe eines Gedankenexperimentes: Stellen Sie sich vor, ein Obdachloser verschafft sich unerlaubt Zugang zu Ihrer Wohnung, und als Sie auf ihn treffen, bittet er um Zustimmung, dass Sie von nun an Ihre Wohnung mit ihm teilen. Nida-Rümelin glaubt, dass Sie als Wohnungseigentümer auch dann das Recht haben, seine Bitte abzulehnen, wenn Sie sicher davon ausgehen können, dass sich die

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Vgl. Dietrich, Frank: »Ethik der Migration – Zur Einführung«, in: Dietrich, Frank (Hrsg.): Ethik der Migration. Philosophische Schlüsseltexte, stw 2215, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Berlin 2017, S. 9 – 28. Beitzer, Hannah: »Alte Ressentiments statt neuer Ideen«, in: Süddeutsche Zeitung, 16. Februar 2015, auf: http ://www.sueddeutsche.de/politik/wahlerfolg-der-afd-alte-ressentiments-statt-neuer-ideen-1. 2345980-2 (Stand: 02.07.2019). Vgl. Marti, Urs: »Mein und Dein: Eigentum oder Eigenart? Überlegungen zur Begründbarkeit eines Rechts auf Exklusion«, in: Cassee, Andreas; Goppel,Anna (Hrsg.): Migration und Ethik, ethica, Bd. 20, mentis, Paderborn 2014, S.89 – 106; vgl. auch Steiner, Hillel: »Libertarismus und transnationale Migration«, in: Dietrich, Frank (Hrsg.): Ethik der Migration. Philosophische Schlüsseltexte, a.a.O., S. 48 – 59. Vgl. Köllmann, Carsten: »Migration in die Illegalität«, in: Cassee, Andreas; Goppel,Anna (Hrsg.): Migration und Ethik, a.a.O., S.233 – 252; vgl. auch Nida-Rümelin, Julian: Über Grenzen denken. Eine Ethik der Migration, Edition Körber Stiftung, Hamburg 2017.

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materielle Situation des Obdachlosen durch das Zusammenleben mit Ihnen erheblich verbessert und Ihre materielle Situation sich nur unwesentlich verschlechtert. Aber wie kann dafür argumentiert werden? Für Libertäre wie Robert Nozick7 sind Eigentumsrechte absolut, weil sich Eigentumsunterschiede unweigerlich aus den freien Handlungen von Menschen ergeben. Wenn Eigentum beschränkt würde, würde auch die Freiheit beschränkt, und das darf nach Nozick nicht geschehen. Nida-Rümelin ist hier weniger radikal. Nach ihm müssen Eigentumsrechte gegen andere Rechte, wie etwa das Recht auf Leben, abgewogen werden, und deshalb müssten Sie den Obdachlosen auch für einen begrenzten Zeitraum in ihrer Wohnung beherbergen, wenn zu befürchten ist, dass er andernfalls stirbt. Migranten, die nicht nur ihre Lebensbedingungen verbessern wollen, sondern um ihr Leben fürchten, muss ein Staat also vorerst einreisen lassen. Aber daraus könne nicht die Pflicht abgeleitet werden, Flüchtlinge dauerhaft zu beherbergen, denn das schränke die Freiheit der Beherbergenden zu sehr ein.8

 Eigentum, Hilfspflichten und Migration In der (Rechts-)Praxis scheint in den allermeisten Fällen festzustehen, was wessen Eigentum ist. Aber natürlich können genau diese Praxis und der sich aus ihr ergebende Eigentumsbegriff hinterfragt und abgelehnt oder eingeschränkt werden.9 Während Marx das private Eigentum an Produktionsmitteln ablehnt, weil es unweigerlich dazu führe, dass Lohnarbeiter zum Objekt der Ausbeutung werden, gehen Anarchisten wie Proudhon, Bakunin und Kropotkin noch einen Schritt weiter und möchten im Namen der Freiheit jedes private Eigentum abschaffen und eine umfassende Gleichheit des Besitzes herbeiführen.10 In der Migrationsethik geht Matthias Hoesch davon aus, dass »aus moralischer Sicht niemand ein besonderes Recht geltend machen [kann], dass ihm ein größerer Anteil an

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Nozick, Robert: Anarchy, State, and Utopia , Basic Books, New York, NY 1974, S. 167– 174; vgl. auch Carens, Joseph: »Fremde und Bürger. Weshalb Grenzen offen sein sollten«, in: Cassee, Andreas; Goppel,Anna (Hrsg.): Migration und Ethik, a.a.O., S.25 – 27. Nach Carens Interpretation von Nozicks Theorie ermöglicht dessen individueller Eigentumsbegriff gerade keinen kollektiven staatlichen Ausschluss von Migranten. Hier argumentiert Nida-Rümelin mit einem Analogieargument von Judith Jarvis Thomson: Eine Frau wird ohne ihr Einverständnis in einer Klinik mit dem Herz-Kreislauf-System eines komatösen, weltberühmten Geigers verbunden, der in den nächsten neun Monaten ohne sie sterben würde. Thomson hält es für zulässig, dass die Frau sich in dieser Situation dazu entscheidet, die Klinik zu verlassen und den Geiger sterben zu lassen, weil das Selbstbestimmungsrecht der Frau stärker wiegt als das Lebensrecht des Geigers.. Eckl, Andreas; Ludwig, Bernd: »Einleitung«, in: Eckl, Andreas; Ludwig, Bernd (Hrsg.): Was ist Eigentum? Philosophische Positionen von Platon bis Habermas, C.H. Beck, München 2005, S. 12 – 28. Ibid., S. 25 – 26.

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der Erdoberfläche zustehe als einem anderen« 11, weil die Erde keine Schöpfung der Menschen ist, sondern vorgefunden wird. Hoesch will (anders als Marx oder die Anarchisten) durch diesen Bezug zum Naturzustand nicht prinzipiell die Institution des Eigentums in Frage stellen, seine These ist vielmehr, dass Eigentum auf besondere Weise über staatliche Grenzen hinweg verpflichtet. Staaten, die Besitz an Rohstoffen oder Territorium beanspruchen, müssen »eine gewisse Verantwortung dafür übernehmen, dass dem Rest der Menschheit noch ausreichend« 12 Territorium und Rohstoffe zur Verfügung stehen. Da Flüchtlingen weder genügend Territorium noch genügend Rohstoffe zur Verfügung stünden, um ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen, seien sie von anderen Ländern aufzunehmen. Eigentum verpflichtet nach Hoesch in einer weiteren Hinsicht, wofür er mit einer Variante eines bekannten Gedankenexperiments von Peter Singer13 argumentiert. Wenn zwei Personen an einem See vorbeigehen, in dem jemand zu ertrinken scheint, dann hat diejenige Person größere Hilfspflichten, die gesund und ein guter Schwimmer ist. Bezogen auf die Notsituation der Flüchtlinge bedeutet dies, dass die Staaten, die mehr Eigentum haben, auch umfangreichere Hilfspflichten gegenüber Flüchtlingen haben.

 Unterrichtsverlauf Das zentrale Anliegen der Einheit ist, jungen Schülerinnen und Schülern die abstrakte Argumentation der Migrationsethik zugänglich zu machen und so ihre ethische Urteilsfähigkeit für eine politisch aktuelle und auch in nächster Zukunft relevante Frage zu schärfen. Dies geschieht, indem sie sich mit dem Eigentumsbegriff, der schon in der Lebenswelt von Kleinkindern eine Rolle spielt, auseinandersetzen, methodisch über ein aus dem kindlichen Nahbereich stammendes Gedankenexperiment und medial über ein Bilderbuch.14 In dem Bilderbuch (M1) lernen die Schülerinnen und Schüler an einem auf Punkte reduzierten Modell eines wohlhabenden (volle Punkte) und eines armen Staates (leere Punkte) Armut als Fluchtursache kennen und erschließen Bedenken der die Aufnahme von Flüchtlingen erwägenden Staaten. Das ermöglicht es ihnen, eine erste spontane Antwort auf die zentrale Frage der Einheit zu notieren, ob die vollen Punkte keine, wenige, viele oder alle leeren Punkte auf ihre Seite kommen lassen sollten.

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Hoesch, Matthias: »Wie viele Flüchtlinge sollten wir aufnehmen?«, in: Ethik & Unterricht 29, 2018, Heft 2: Migration, S. 8 – 12: S. 9. Ibid. Singer, Peter: »Hunger, Wohlstand und Moral«, in: Bleisch, Barbara; Schaber,Peter (Hrsg.): Weltarmut und Ethik, ethica, Bd. 13, mentis, Paderborn 2007, S.37– 51. Marci, Giancarlo; Zanotti, Carolina: Punkte, übers. von Naoura, Salah, Gabriel in der ThienemannEsslinger Verlag GmbH, Stuttgart 32017.

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Darauf wird der implizit voll entwickelte Eigentumsbegriff15 als Recht, alleine über einen Gegenstand zu verfügen, expliziert und angewendet (M2). Es folgt eine auf die Altersgruppe abgestimmte Version des Gedankenexperimentes vom Obdachlosen in der Wohnung (M3), an dem der Eigentumsbegriff als Recht, andere vom Gebrauch von Gegenständen auszuschließen, weiter konturiert und sein Bezug zur persönlichen Freiheit deutlich wird. Sobald eine Verbindung zwischen Gedankenexperiment und Punktewelt hergestellt wurde, können fruchtbar Argumente gegen die Aufnahme der leeren Punkte in das Land der vollen gesucht werden. M4 soll mit seinen Fragen den in M2 und M3 herausgearbeiteten, alltäglichen, von unserer Rechtspraxis geprägten Eigentumsbegriff erschüttern. Gibt es vielleicht Dinge, die niemandem oder allen gehören? Wie kommt es dazu, dass jemandem etwas gehört? Darf ich auch dann jemanden von der Benutzung meines Eigentums ausschließen, wenn das sein Leben gefährdet? Die in Kleingruppen erarbeiteten Antworten auf diese Fragen werden im Plenum reflektiert und durch das Schreiben einer Fortsetzung zu M 4 gesichert. Schließlich wird auch hier eine Verbindung zur Punktewelt hergestellt und es werden Argumente für die Aufnahme der leeren Punkte gesucht. Die abschließende Pro-Kontra-Diskussion kann durch das Zeichnen von unterschiedlichen Fortsetzungen des Bilderbuches und ein Think-Pair-Share vorbereitet und sollte anschließend reflektiert werden (Haben wir uns in unseren Beiträgen aufeinander bezogen? Welche Argumente der anderen Seite haben mich überzeugt?). Nachdem die differenzierte Meinung neben dem anfänglichen Spontanurteil aufgeschrieben und begründet wurde, werden die beiden Meinungen und ihre Begründungen miteinander verglichen, bevor die Abstimmung zur zentralen Frage der Einheit wiederholt wird. Erfahrungsgemäß interessiert die Schülerinnen und Schüler der Ausgang der Geschichte so sehr, dass das Ende erzählt werden sollte: Die vollen Punkte erlauben den leeren Punkten, so lange in ihr Land zu kommen, bis es zu voll wird. Dann gehen volle Punkte in das Land der leeren und helfen beim wirtschaftlichen Aufbau, schließlich verschwindet die Grenze zwischen den beiden Staaten und am Ende begrüßen den Leser ein halbvoller und ein halbleerer Punkt. Es lohnt sich, abschließend dieses Ende des Bilderbuchs zu diskutieren und eine Verbindung von der Punktewelt zu weltweiten Fluchtbewegungen herzustellen.

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Noles, Nicholaus S.; Keil, Frank C.: »Exploring ownership in a developmental context«, in: Ross, Hildy; Friedman, Ori (Hrsg.): Origins of ownership of property, New Directions for Child and Adolescent Development, Vol. 132 (Summer 2011), John Wiley & Sons Inc., Hoboken, NJ, S.91– 103.

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M1 Punkte16

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Marci, Giancarlo; Zanotti, Carolina: Punkte, übers. von Naoura, Salah, Gabriel in der ThienemannEsslinger Verlag GmbH, Stuttgart 32017.

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M2 Eigentum17

Eigentümer einer Sache ist derjenige, dem die Sache gehört. Als Eigentümer kann man mit seiner Sache machen, was man möchte. Man kann zum Beispiel sein Fahrrad in einer neuen Farbe anmalen, wenn einem die alte Farbe nicht mehr gefällt, es verkaufen oder sogar ganz kaputt machen. Dabei muss der Eigentümer aber immer beachten, dass er mit seiner Sache nicht die Sachen anderer beschädigt, andere Personen verletzt oder sonst etwas Verbotenes tut. Deshalb darf man als Eigentümer eines Fußballs zwar damit spielen, ihn aber nicht gegen fremde Fensterscheiben schießen. Eigentum wird geschützt, vor Diebstahl und Beschädigung. Wenn ein anderer […] die Sache hat und dafür keinen guten Grund (zum Beispiel einen Mietvertrag), dann muss er sie herausgeben. Eigentum zu haben, bedeutet jedoch nicht nur, dass man Rechte an der Sache hat, sondern man bekommt auch Pflichten. Der Eigentümer eines Hundes muss sein Haustier beispielsweise immer gut füttern, mit ihm Gassi gehen und es verarzten, wenn es krank wird.

Arbeitsanregung  Erkläre anhand von Beispielen, was du mit deinem Eigentum machen darfst und was nicht.

M3 Besuch im Kinderzimmer18 Stell dir vor, du wachst morgens in deinem Bett auf, weil eine Stimme dich anspricht. Als du die Augen öffnest, siehst du aber statt des vertrauten Gesichtes deiner Mutter ein dir unbekanntes Kind. Das Kind erklärt dir freundlich aber bestimmt, dass es nichts besitze und kein Zuhause habe und es deshalb heute Nacht in dein Kinderzimmer eingebrochen sei. Da dein Bett genug Platz für zwei böte und du auch sehr viele Spielsachen hättest, die man problemlos teilen könne, würde das Kind von nun an mit dir in deinem Kinderzimmer leben. Du hast keinen Grund, daran zu zweifeln, dass das Kind dir die Wahrheit erzählt, und deine Eltern wollen dir die Entscheidung überlassen, da sie vor allem dich betrifft.

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Eigentum und Besitz, auf: http://www.recht-kinderleicht.de/eigentum/ (Stand: 02.07.2019). Autorentext , inspiriert durch Köllmann, Carsten: »Migration in die Illegalität«, in: Cassee, Andreas; Goppel,Anna (Hrsg.): Migration und Ethik, ethica, Bd. 20, mentis, Paderborn 2014, S.233 – 252; vgl. auch Nida-Rümelin, Julian: Über Grenzen denken. Eine Ethik der Migration, Edition Körber Stiftung, Hamburg 2017, S. 157– 160.

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Arbeitsanregungen  Erläutere, warum du das Kind bei dir wohnen lässt bzw. warum du es nicht bei dir einziehen lässt.  Stell dar, inwieweit ein ständiger Besucher in deinem Kinderzimmer deine Freiheit einschränkt.  Erläutert, was die Vorstellung vom Besuch im Kinderzimmer mit der Punktewelt zu tun hat.  Sammelt Gründe, die zeigen, dass die vollen Punkte die leeren Punkte nicht auf ihre Seite lassen müssen.  Die leeren Punkte fragen, ob sie auf die Seite der vollen Punkte kommen dürfen. Erkläre einem Lernpartner, warum!

M4 Der Himmel ist die Grenze19 Die Königin spazierte mit ihrem Bruder, dem Prinzen, an einem frischen Wintermorgen durch die Gärten des Palastes. »Der Palast ist wundervoll heute Morgen«, bemerkte der Prinz. »Lässt ihn der Schnee nicht wie ein bezauberndes Märchenschloss erscheinen?« Die Königin nickte stolz: »Da hast du recht. Mein Palast sieht heute prachtvoll aus – und sehr teuer, und es ist meiner.« Sie achtete nicht weiter auf den Anblick. »Ich habe ihn natürlich selbst geplant«, fuhr sie fort. »Die Bauzeit betrug dreißig Jahre. Die Bauleute wollten schon nach zwanzig Jahren aufhören. Zwanzig? Ha! Ich habe ihnen gesagt, dass er noch nicht groß genug sei. […] Und jetzt hat er so viele Schlafzimmer, dass ich an jedem Tag im Jahr in einem anderen schlafen kann. Aber ich will nicht prahlen.« »Wirklich, der Palast sieht heute Morgen wunderbar aus«, erwiderte der Prinz. »Und auch die Gärten sind heute besonders hübsch.« »Du hast recht. Meine Gärten sehen heute prachtvoll aus. Sie sind so groß, und es sind meine«, antwortete die Königin. »Natürlich sind es die ausgedehntesten Gärten, die jemals eine Königin besessen hat. Die Gärten sind wirklich so groß, dass ich gar nicht sehen kann, was dahinterliegt.« »In der Tat«, murmelte der Prinz. »Ja, und die Schwäne …« »Du hast recht«, unterbrach ihn die Königin. »Meine Schwäne sehen heute prachtvoll aus. Sie sind so weiß, und es sind meine. […] Ich habe sie aus einem sehr weit entfernten, exotischen Land kommen lassen. Aber ich will nicht prahlen.« Langsam wurde der Prinz müde, von all den Dingen zu hören, mit denen die Königin nicht prahlen wollte. Als er den Blick zum Himmel richtete, um seinen Kopf wieder frei zu bekommen, fiel ihm auf, wie wunderbar er aussah.

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Worley, Peter (Hrsg.): Appetizer Philosophie. Ideen und Materialien für themenorientierte Stundeneinstige, übers. von Helmschrott, Friedrich, Verlag an der Ruhr, Mülheim an der Ruhr 2014, S. 245 – 247: S. 245.

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Simon Mayer

»Ist der Himmel heute nicht majestätisch? Er ist fast silberfarben«, sagte er, als ob er zum Himmel selbst sprechen würde. »Ja, das stimmt. Der Himmel gehört mir auch«, triumphierte die Königin. »Wie bitte?« Der Prinz schnappte nach Luft. »Er gehört mir. Es ist meiner. Der Prinz zweifelte: »Wie kannst du den Himmel besitzen?« »Ich habe ihn gekauft. Alles! Er war nicht billig, das kannst du mir glauben. Du blickst jetzt nur in den Himmel [und atmest Luft], weil ich es dir erlaube. Seit er mir gehört, könnte ich es dir verbieten. Aber ich bin ein großzügiger Mensch.«

Arbeitsanregungen  Erläutert, warum es der Königin erlaubt bzw. nicht erlaubt sein sollte, den Himmel zu besitzen.  Erörtert, ob ein gekauftes Produkt automatisch dem Käufer bzw. der Käuferin gehört.  Stellt dar, was passiert, wenn sich herausstellt, dass der Käufer bzw. die Käuferin gestohlene Ware erworben hat.  Beurteilt, ob es falsch ist, dass eine Person etwas besitzt, woran sich andere erfreuen (können) oder das andere benutzen (müssen).  Stell dir vor, du bist der Prinz und schreibst einen Brief an die Königin. Mach in dem Brief deutlich, warum sie nur bestimmte Dinge zu ihrem Eigentum machen kann. Lies dem Kurs deinen Brief vor.  Stellt eine Verbindung zur Punktewelt her.  Sammelt Gründe, die deutlich machen, dass die vollen Punkte die leeren Punkte auf ihre Seite lassen müssen.

Quelle: Mayer, Simon: »Das ist unser Land!? Ein moralisches Dilemma zwischen Eigentum, Autonomie und der Pflicht, Menschen in Not zu helfen«, in: Ethik & Unterricht 29, 2018, Heft 2: Migration, S. 13 – 18.

Wann ist Kooperation vernünftig? Das Gefangenendilemma im Philosophieund Ethikunterricht Reinhold Breil

I

m Philosophie- und Ethikunterricht lassen sich Paradoxien und Dilemmata immer wieder sinnvoll einsetzen, weil sie die Schülerinnen und Schüler auf eine zunächst überraschende Weise mit einer für sie unvertrauten philosophischen Fragestellung konfrontieren. Aus dem anfänglichen Überraschungsmoment lässt sich so ein weiterführender längerfristiger Motivationsschub gewinnen. Die hier vorzustellende Idee für den Umgang mit einem Dilemma im Philosophie- oder Ethikunterricht beruht auf einer für den Schulalltag umgearbeiteten Variante des sogenannten Gefangenendilemmas. In dieser Variante, dem 100-Millionen-Dollar-Spiel, lässt es sich leicht als Partner- oder Gruppenarbeit über etwa zehn Spielrunden hinweg in einer »spielerischen« Übung durchführen, deren Verlauf und Auswertung hier vorgestellt wird. Für die Durchführung und Auswertung der Übung sollte eine Doppelstunde eingeplant werden.

 Worum geht es im Gefangenendilemma? Als sich im Januar 1950 die beiden Mathematiker Merrill Flood und Melvin Dresher ein scheinbar harmloses kleines Spiel ausdachten1, ahnte keiner, dass sich bis heute Politiker und Generäle, Manager und Psychologen dafür interessieren würden. Es war kein besonders geistreiches Spiel, man brauchte nur A oder B zu sagen. Für jede Runde wählte jeder der beiden Mitspieler verdeckt A oder B: kooperieren oder nicht kooperieren. Hatten sich beide entschieden, gaben sie ihre Wahl bekannt. Abhängig von der Kombination ihrer Wahl wurden die Spieler belohnt oder bestraft. In der Folge wurden im Rahmen der mathematischen Spieltheorie weitere Spiele nach diesem Entscheidungsmuster entwickelt. In jedem Falle typisch ist, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung kein Konkurrent weiß, was der andere tun wird, aber alle wissen, dass das Endergebnis von den Entscheidungen aller abhängt. Albert Tucker, ein Kollege von Flood und Dresher, kleidete dieses Entscheidungsdilemma in eine andere Geschichte und gab ihm den Namen, der es berühmt machte: das Gefangenendilemma. Eine Version davon geht so: Zwei Mitglieder einer Gang werden verhaftet und einzeln verhört. Der

1

Flood, Merrill M.: Some Experimental Games, U.S. Air Force Project, Research Memorandum RM-789, RAND Corporation, Santa Monica, CA 1952.

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Polizei fehlen die Beweise, um beiden das Hauptvergehen nachzuweisen. Ein geringeres Vergehen, für das sich die Schuld der beiden ohne weitere Aussagen beweisen lässt, brächte beide ein Jahr ins Gefängnis. Die Polizei schlägt jedem einen Handel vor: Wenn einer gegen den anderen aussagt, ist er frei, während der andere drei Jahre ins Gefängnis muss. Der Haken: Wenn beide gegeneinander aussagen, müssen beide zwei Jahre ins Gefängnis. Ein vernünftiger Verdächtigter wird Folgendes überlegen: Wenn ich den anderen verrate, und er hält den Mund, komme ich sofort frei, anstatt ein Jahr ins Gefängnis zu müssen (wie wenn ich schweigen würde). Wenn wir beide einander gegenseitig verraten, sitze ich zwei Jahre anstatt drei (wie wenn ich schweigen und mein Partner mich verraten würde). Ich bin also auf jeden Fall besser dran, wenn ich rede. Das Problem ist bloß, dass der andere Verdächtige zum gleichen Schluss kommen muss und so beide zwei Jahre bekommen. Hätten sie bloß geschwiegen, dann wäre es nur eines gewesen. Das Gefangenendilemma besteht aus immer denselben Zutaten: einer Belohnung, wenn alle Spieler miteinander kooperieren, einer Strafe, wenn niemand kooperiert, und einer Versuchung, die darin besteht, dass man seinen Gewinn erhöhen kann, wenn man nicht kooperiert und die anderen kooperieren. Das Paradebeispiel für ein Gefangenendilemma war der Rüstungswettlauf zwischen den USA und der Sowjetunion. Flood und Dresher arbeiteten bei der Rand Corporation, einem armeenahen Forschungsinstitut in Santa Monica bei Los Angeles. Wenn zwei Nationen entscheiden, ob sie ein Atomwaffenarsenal aufbauen wollen, weiß jede: Wenn nur die andere Macht Atomwaffen baut, sind wir im Nachteil. Also werden beide Atomwaffen bauen lassen. Doch wenn beide so handeln, verkehrt sich der Vorteil in einen Nachteil. Sicherer wäre es gewesen, wenn beide ohne Waffen geblieben wären.2 Wenn durch bloße Logik keine Strategie als die bessere ermittelt wird, bleibt vielleicht eine »zweitbeste« Lösung. Der Politikwissenschaftler Robert Axelrod hat dies 1979 untersucht, indem er Spieltheoretiker mit ihrer Strategie in einem Turnier gegen Kollegen antreten ließ. Am erfolgreichsten war zu aller Überraschung die einfachste der angewendeten Strategien: Kooperiere in der ersten Runde; dann mache genau das, was der andere Spieler beim vorangegangenen Spielzug gemacht hat. Sie trug den Namen »Auge um Auge« oder »tit for tat« (dies für das). Die Strategie, nicht zu kooperieren, ist nämlich nur dann die beste, wenn sich die Kontrahenten nur einmal treffen. Falls sie wiederholt zusammenkommen wie zum Beispiel Menschen, die immer wieder Geschäfte miteinander machen, oder Affen, die einander gegenseitig lausen, sollte man anders, nämlich kooperativ vorgehen. Diese Strategie wird in der utilitaristischen Ethik als aufgeklärter Egoismus bzw. als reziproker Altruismus diskutiert. So lässt sich mithilfe der Spieltheorie zeigen, dass es für Egoisten vernünftig und lohnend

2

Eigen, Manfred; Winkler, Ruthild: Das Spiel. Naturgesetze steuern den Zufall, SP 410, Piper Verlag GmbH, München/Zürich 1985.

Das Gefangenendilemma

125

sein kann, aus Gründen des Selbstinteresses mit anderen zu kooperieren und sich moralisch zu verhalten.3

 Die philosophische Dimension des Gefangenendilemmas Unsere Lebenswelt ist voller Gefangenendilemmata: Lügen, bei Klassenarbeiten mogeln, Steuern hinterziehen, Ladendiebstahl, Schwarzfahren, der Kampf von Wirtschaftsunternehmen um Steuersubventionen: Solange die anderen bezahlen, funktioniert es, wenn niemand mehr bezahlt, sind alle bestraft. Offenbar handelt es sich bei dem Gefangenendilemma zunächst um eine »Rationalitätsfalle«, die unser ökonomisches Handeln und Verhalten im Zeitalter der Globalisierung besonders bedroht. Einerseits beziehen wir uns jederzeit auf das individuelle Eigeninteresse als Kernvoraussetzung unseres Gesellschaftssystems und unserer Volkswirtschaft, andererseits aber reicht der Bezug auf dieses Eigeninteresse allein nicht aus, um einen Interessenausgleich aller zu garantieren, dem jeder Betroffene zustimmen kann. Gesucht ist hier keine radikale Gesinnungsethik, die die Anwendung moralischer Prinzipien unabhängig von den Folgen fordert, sondern es geht eher pragmatisch um die Frage, welches Handeln unter bestimmten Bedingungen den höchstmöglichen Nutzen bringt. Insofern liegt das philosophische Problem moderner Wirtschaftsethik darin, unter welchen realen Bedingungen es überhaupt gelingen kann, das individuelle Eigeninteresse einzuschränken. Diese Frage wird in der Rechtsphilosophie unter dem Thema »Vertragstheorien« diskutiert. Schon bei Thomas Hobbes ist es so, dass es allein das Eigeninteresse des Individuums und seine damit verbundene Furcht vor dem Verlust von Eigentum, Gesundheit und Leben sind, die den Menschen veranlassen, den Naturzustand als »Krieg aller gegen alle« zu verlassen. Locke, Rousseau und Kant formulieren eine weitgehend ideale, »vernünftige« Begründung des Vertragsprinzips und sehen als einzige Möglichkeit, einen solchen Gesellschaftsvertrag zu begründen, darin, dass das Individuum auf die Ausübung unbeschränkter Freiheit verzichtet. Dieser Verzicht auf das ganz natürliche Vermögen (so groß oder klein es sein mag), die anderen in ihrer Freiheit nach persönlicher Willkür zu beschränken, könne bei jedem Menschen vorausgesetzt werden, der in Verhältnissen lebt, in denen er im Gebrauch seiner Freiheit durch andere eingeschränkt ist. Demnach könne keiner, sofern er Vernunft habe, wollen, beliebig von anderen beschränkt werden zu können, statt in seiner Freiheit durch Gesetze, die für alle gelten, beschränkt, aber auch geschützt zu sein. Dieser allgemein freie Wille muss nach Rousseau und Kant bei jedem vorausgesetzt werden, denn die Menschen können niemals wollen, unfrei zu sein. Ihr Hauptargument ist: Kein Mensch kann wollen, ein Spielball der beliebigen Willkür aller anderen zu sein.

3

Vgl. Rolf, Bernd: »Wirtschaftsethik«, in: Rohbeck, Johannes (Hrsg.): Praktische Philosophie, Praxishandbücher Philosophie/Ethik, Bd. 2, Siebert Verlag, Hannover 2003, S. 81– 103; und vgl. Axelrod, Robert: The Evolution of Cooperation, Basic Books, Inc., Publishers New York, NY 1984.

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Reinhold Breil

Diese eher formale Begründung aus der praktischen Vernunft und der damit verbundenen Freiheit des Menschen ist in der Folge bei den Utilitaristen (zum Beispiel John Stuart Mill) und besonders bei John Rawls auf die realen gesellschaftlichen Lebensverhältnisse bezogen worden. Das Grundproblem der Möglichkeit eines Gesellschaftsvertrags stellt sich unter den Bedingungen des Gefangenendilemmas in der Frage, ob es auch für Egoisten vernünftig sein kann, sich auf moralisch-rechtliche Normen zu verpflichten, und ob es für Gefangenendilemmata überhaupt eine »vernünftige« Strategie geben kann. Bleibt das Gefangendilemma prinzipiell unlösbar – und kann Kooperation auch von anderen zum Beispiel durch Recht eingefordert werden? Das Gefangenendilemma zeigt, dass hier auch unabhängig von grundsätzlichen ethischen Überlegungen ein pragmatisch-vernünftiger Grund bleibt, den vermutlich auch Kant und Rousseau im Blick hatten, als sie meinten, dass kein Mensch wollen könne, der beliebigen Willkür anderer ausgesetzt zu sein. Kooperation ist nicht nur vernünftig, sondern eine Möglichkeit, die Willkür aller gegenüber allen auf die Bedingung des Zusammenbestehens der freien Willkür aller mit dem gemeinsamen Willen einzuschränken, verbunden mit einem Maximum an Willkür für das Individuum.

 Wann ist kooperatives Verhalten »vernünftig«? Das Gefangenendilemma gibt es in einer Belohnungs- oder einer Bestrafungsvariante.4 Das 100-Millionen-Dollar-Spiel stellt eine Belohnungsvariante dar, bei der zwei Schülergruppen, die nicht miteinander kommunizieren können, sich in jeder Spielrunde zwischen den Wahlmöglichkeiten A und B entscheiden müssen (Enthaltung ist nicht zulässig). Als Einstieg wird den Schülerinnen und Schülern zu Beginn der Stunde mitgeteilt, dass ein Spiel im Mittelpunkt stehen wird: das 100-Millionen-Dollar-Spiel, dessen Ziel es ist, möglichst viel Gewinn zu machen. Gespielt wird in zwei Gruppen. Die Lehrerin bzw. der Lehrer erläutert die Spielregeln, die möglichen Strategien A und B mit ihren Konsequenzen und den geplanten Spielverlauf über eine unbestimmte Anzahl von Spielrunden. Wichtig ist an dieser Stelle, dass nicht zu viele Informationen gegeben werden. So muss ausdrücklich offen bleiben, ob die Gruppen miteinander oder gegeneinander spielen. Bei Nachfragen der Schülerinnen und Schüler wird lediglich der Text der Spielregeln bzw. der Zweck des Spieles wiederholt: »Sinn des Spiels ist es, möglichst viel Gewinn zu machen.« Außerdem sollte für die Schülerinnen und Schüler klar sein, dass über mehrere Runden gespielt wird, es sollte aber keine genaue Rundenzahl genannt werden, da sonst manche Gruppe strategisch auf das Spielende hin planen könnte. In diesem Fall erhielte man eine andere Spielvariante mit anderen Ergebnissen.

4

Vgl. Sainsbury, Richard M.: Paradoxien, übers. von Müller, Vincent C., UB 8881, Stuttgart 1993, S. 93 – 103, der das Gefangenendilemma in den Kontext der philosophischen Logik stellt.

Das Gefangenendilemma

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 Durchführung des Spiels Die Schülerinnen und Schüler werden nun in zwei Gruppen aufgeteilt, die sich möglichst in zwei getrennten Klassenräumen aufhalten, damit sie ihre Entscheidungen nicht miteinander abstimmen können. Jede Gruppe erhält mindestens einen Satz Spielregeln (M1) mit Gewinnrechnung (M2) und Gewinnaufzeichnung (M3). Für jede Runde überlegt jede Gruppe für sich, welche Variante, A oder B, sie wählt. Die Lehrerin bzw. der Lehrer pendelt zwischen beiden Räumen und übermittelt für jede Spielrunde jeder Gruppe, nachdem sie bzw. er die Spielentscheidungen beider Gruppen genannt bekommen hat, die gewählte Variante der jeweils anderen Gruppe. Anhand der Tabelle (M4) können beide Gruppen feststellen, zu welchem »Erfolg« ihre Entscheidung geführt hat: Mit der Tabelle »Gewinnrechnung« können die Gruppen bei Kenntnis der Entscheidung der jeweils anderen Gruppe auf dem Blatt »Gewinnaufzeichnung« Gewinn und Verlust in dieser Spielrunde ermitteln und notieren. Beide Gruppen beginnen nun die nächste Spielrunde und nennen wieder der Lehrerin bzw. dem Lehrer ihre gewählte Spielvariante für die nächste Spielrunde usw. Die Lehrerin bzw. der Lehrer bricht das Spiel nach spätestens zehn Spielrunden ab und leitet nach einem Erfahrungsaustausch beider Gruppen zur weiteren Bearbeitung und zur Ergebnisformulierung über. Man sieht an der Übersicht (M4), dass Strategie B nur dann einen maximalen Gewinn erzielt, wenn die Gegengruppe grundsätzlich in jeder Runde die kooperative Strategie A wählt, was über die gesamte Rundenzahl unwahrscheinlich ist. Die Wahlmöglichkeit B wird deshalb bei wiederholter Wahl zu einer Verluststrategie, wenn die Gegengruppe ebenfalls B wählt. Deshalb ist die »zweitbeste« Möglichkeit, immer A zu wählen, für beide Gruppen die vernünftigste Lösung, die zugleich maximalen Gewinn für den Fall verspricht, dass beide nicht gegeneinander, sondern miteinander spielen, also kooperieren. Das Gefangenendilemma kann sowohl den Auftakt zu einer Unterrichtssequenz wie auch eine abschließende Doppelstunde bilden, in der die Schülerinnen und Schüler noch einmal die behandelten philosophischen Positionen im Licht der vorhandenen Entscheidungsmöglichkeiten diskutieren und reflektieren. Es liegt nahe, das Gefangendilemma im Zusammenhang mit der Frage nach Egoismus und Kooperation zu behandeln. Es könnte zu der Einsicht verhelfen: Der wahre Egoist kooperiert.5

Spielmaterial für die Schülerinnen und Schüler ¬ 1 Foliensatz mit Spielanleitung, Spielregeln und Tabelle für die Auswertung ¬ Kopien des Foliensatzes für die beiden Schülergruppen ¬ 2 Spielkarten mit der Aufschrift »A« und »B« , je ein Satz pro Gruppe

5

Vgl. Langlet, Jürgen: »Der wahre Egoist kooperiert. Eigennutz und Altruismus aus biologischer Perspektive«, in: Ethik & Unterricht 16, 2005, Heft 3: Altruismus und Eigennutz, S. 9 – 12.

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Reinhold Breil

Spielregeln Die Lehrkraft erläutert die Spielregeln, die Gewinnmöglichkeiten und den Ablauf der Übung (M1). Sie sammelt nach jeder Runde getrennt die Spielkarten ein (je nach Gruppenentscheidung A oder B) und informiert nach jeder Runde beide Gruppen, sodass sie anhand der Auswertungsmatrix auf den entsprechenden Arbeitsblättern ihre Gewinn- oder Verlustrechnung vornehmen können. Sie teilt den beiden Gruppen vorab nicht mit, dass das Spiel nach zehn Runden beendet wird, sodass sie mit einem realitätsnahen, offenen Spielverlauf rechnen. Wichtig ist, dass zu Beginn bei Erläuterung der Spielregeln offen bleibt, ob beide Gruppen miteinander oder gegeneinander spielen. Außerdem ist darauf zu achten, dass während des Spiels beide Gruppen nicht miteinander kommunizieren können, deshalb ist eine Verteilung auf zwei Räume sinnvoll. Den Gruppen wird drei Minuten Bedenkzeit je Runde gegeben, in denen sie sich zwischen den Strategien A und B entscheiden müssen. Daraus ergibt sich für zehn Spielrunden ein Zeitbedarf von etwa dreißig Minuten, sodass eine knappe Stunde für die Auswertung der Übung im Unterricht bleibt. Wichtig ist, in der Überleitungsphase von der Übung zum folgenden Unterrichtsgespräch die Schülerinnen und Schüler zuerst das persönliche und gruppeninterne Verhalten benennen zu lassen, da das Spiel eine erhebliche gruppendynamische Energie freisetzen kann, besonders wenn die Kursstruktur heterogen ist und die Gruppenzusammensetzung nach Schülerwahl, nach Sympathie geschieht.6

Spielverlauf 1. Einstieg mit Spielerläuterung Die Lehrerin bzw. der Lehrer stellt das 100-Millionen-Dollar-Spiel ungefähr so vor: »Wir spielen heute das 100-Millionen-Dollar-Spiel. Mit diesem Spiel können wir etwas über den Menschen im Allgemeinen erfahren. Sinn und Zweck dieses Spiels ist es, möglichst viel Gewinn zu machen.« Dieser letzte Satz ist die Kernaussage. Bei Kooperation sind mehr als 100 Millionen Dollar Gesamtgewinn möglich, das sollte den Schülerinnen und Schülern aber zu Beginn nicht ausdrücklich gesagt werden. Die Lehrkrafterläutert Spielregeln, Spielverlauf und die Gewinnrechnung und erklärt, wie der Gewinn jeder Spielrunde ermittelt und auf dem Blatt »Gewinnaufzeichnung« (M3) notiert werden kann. Wichtig ist, dass im Wesentlichen nur die Spielregeln und der Sinn des Spieles den Schülerinnen und Schülern genannt werden. Anschließend werden die beiden Teilgruppen gebildet. Als Variante können aus der Gesamtgruppe auch einige Schülerinnen und Schüler als neutrale Beobachter für jede Teilgruppe bestimmt werden.

6

Vgl. zu den gruppendynamischen Implikationen besonders Antons, Klaus: Praxis der Gruppendynamik. Übungen und Techniken, Hogrefe Verlag, Göttingen 2000, S. 127.

Das Gefangenendilemma

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2. Durchführung des Spiels Die Lehrerin oder der Lehrer bricht nach spätestens zehn Runden ab und notiert die Strategien und Ergebnisse der beiden Gruppen (z.B an der Tafel, dem Whiteboard, auf Folie).

3. Reflexion der Übung mit Leitfragen Wie haben die Schülerinnen und Schüler das Spiel erlebt? Welche Entscheidungen haben die Spieler getroffen und warum? Wie sind die Entscheidungen gefallen – durch Mehrheitsentscheid oder einstimmig? Wie sehen die Schülerinnen und Schüler jetzt ihre Entscheidungen? Sind sie zufrieden mit dem Ergebnis?

4. Erarbeitung des philosophischen Problems, indem die optimale, vernünftigste Strategie für den größten Gewinn entwickelt wird (vgl. M4, Tabelle »maximaler Gewinn«).

5. Erörterung der Frage, warum die Schülerinnen und Schüler nicht sofort die vernünftigste Strategie gewählt haben; Aufgreifen bzw. Einführung der Begriffe kooperativ, egoistisch und Zuordnen der Strategien A und B.

6. Ergebnisformulierung These 1: Was vernünftig ist, hängt auch von den Entscheidungen der anderen ab. These 2: Wir verhalten uns nicht immer so, wie es vernünftig (im Hinblick auf das Gesamtinteresse richtig und erfolgreich) wäre.«

7. Einführung der Strategie »tit for tat« Kooperiere in der ersten Runde; dann mache genau das, was der andere Spieler beim vorausgegangenen Spielzug gemacht hat.

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8. Transfer Übertragung des Ergebnisses auf den Alltag: Erörterung der Frage, ob die erarbeiteten Ergebnisse auf den Menschen im Allgemeinen übertragen werden können (»Der wahre Egoist kooperiert«).

M1 Spielregeln zu Das 100-Millionen-Dollar-Spiel

¬ ¬ ¬ ¬ ¬ ¬ ¬

Es spielen 2 Gruppen. Ziel des Spiels ist es, möglichst viel Gewinn zu machen. Es gibt nur zwei Strategien: Strategie »A« und Strategie »B«. Es kann pro Runde nur eine Strategie gewählt werden: »A« oder »B«. Jede Gruppe wählt ihre Strategie für die nächste Runde. Je Runde bleiben 3 Minuten Zeit für die Gruppenentscheidung. Die Lehrerin bzw. der Lehrer gibt die gewählte Strategie an die jeweils andere Gruppe weiter.

M2 Gewinnrechnung

Gruppe 2 wählt A

Gruppe 2 wählt B

Gruppe 1 wählt A

Gruppe 1 wählt B

Gruppe 1 erhält + 7 Mio. $

Gruppe 1 erhält + 10 Mio. $

Gruppe 2 erhält +7 Mio. $

Gruppe 2 erhält -20 Mio. $

Gruppe 1 erhält -20 Mio. $

Gruppe 1 erhält -20 Mio. $

Gruppe 2 erhält +10 Mio. $

Gruppe 2 erhält -20 Mio. $

M3 Gewinnaufzeichnung Runde

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

Gruppe 1 Gruppe 2

M4 Maximale Ergebnisse nach 10 Runden Strategie

Gewinn

Gruppengewinn

Gewinn für alle

Gruppe 1

immer B

10 x 10 Mio. $

100 Millionen $

100 Millionen $

Gruppe 2

immer A

10 x (-20) Mio. $

- 200 Millionen $

Das Gefangenendilemma

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Strategie

Gewinn

Gruppengewinn

Gewinn für alle

Gruppe 1

immer B

10 x (-20) Mio. $

- 200 Millionen $

- 400 Millionen $

Gruppe 2

immer B

10 x (-20) Mio. $

- 200 Millionen $

Gruppe 1

immer A

10 x 7 Mio. $

70 Millionen $

Gruppe 2

immer A

10 x 7 Mio. $

70 Millionen $

140 Millionen $

Quelle: Breil, Reinhold: »Das 100-Millionen-Dollar-Spiel. Ein spielerischer Zugang zum Gefangenendilemma«, in: Ethik & Unterricht 16, 2005, Heft 3: Altruismus und Eigennutz, S. 27 – 30.

3

AUSWAHL ETHISCHER UND PHILOSOPHISCHER DILEMMATA

Bernd Rolf, Martina Peters, Jörg Peters

1. Sophies Wahl Sophie und ihre zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, werden in ein Konzentrationslager der Nazis gebracht. Einer der Wachleute informiert Sophie darüber, dass eines ihrer beiden Kinder weiterleben dürfe, das andere Kind dagegen getötet würde. Sophie soll nun eine schnelle Entscheidung treffen, welches ihrer beiden Kinder sie vor dem Tod bewahren will und welches sie zum Tode verurteilt. Nun verhält es sich aber so, dass Sophie ihre beiden Kinder gleich liebt und sowohl für ihren Sohn als auch für ihre Tochter gute Gründe anführen kann, warum er bzw. sie weiterhin leben und nicht sterben soll. Um die Situation für Sophie noch viel qualvoller zu gestalten, unterbreitet der Wachmann Sophie, dass beide Kinder sterben würden, sollte sie keine Entscheidung herbeiführen oder die Entscheidung herauszögern. Was soll Sophie tun? Quelle: Peters, Jörg, basierend auf Styron, William: Sophies Wahl, übers. von Thaler, Willy, Droemer Knaur Verlag, München 1980.

2. Das Rettungsboot (1) Jan befindet sich seit einigen Tagen auf einer Kreuzfahrt, als der Kapitän per Durchsage bekannt gibt, dass es technische Probleme gebe und er das Kreuzfahrtschiff mitten auf dem Atlantik anhalten müsse. Einige Stunden später meldet sich der Kapitän erneut bei den Passagieren. Dieses Mal kündigt er an, dass sie alle unverzüglich in die Rettungsboote steigen müssten, um evakuiert zu werden, da das Schiff auseinanderzubrechen drohe. Während der Evakuation wird allerdings eines der Rettungsboote so beschädigt, dass ein Leck im Rumpf entsteht, durch das ununterbrochen Wasser dringt und das Boot damit füllt. In diesem Boot befinden sich zehn Passagiere – unter ihnen auch Jan. Ihm ist schnell klar, dass das Boot nur funktionstüchtig bleibt, solange neun Leute mit ihren Händen zehn Minuten lang Wasser aus dem Boot befördern, während die zehnte Person in dieser Zeit Pause macht, um neue Kraft zu schöpfen. Nach der zehnminütigen Pause kehrt diese Person wieder zur Arbeit zurück und jemand anders darf sich ausruhen.

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Bernd Rolf, Martina Peters, Jörg Peters

Danach darf der oder die Nächste pausieren usw. Diese Maßnahme soll das Rettungsboot vom Sinken abhalten, bis ein Rettungsteam die auf offener See in Not Geratenen findet. Als Jan seine erste Pause einlegt, sieht er, wie sein bester Freund ihm von einem intakten Rettungsboot, in dem nur neun Leute sitzen, zuwinkt und ihm zu verstehen gibt, er solle herüberschwimmen und zu ihnen ins Boot kommen. Jan weiß, dass er, wenn er ins andere Boot gelangt, kein Wasser mehr schöpfen muss. Allerdings könnte dann keiner der neun Zurückbleibenden mehr eine Pause einlegen, ohne dass das leckende Rettungsboot untergehen würde. Jan sieht zudem, wie sich das Boot, in dem sich sein Freund befindet, immer schneller von dem Boot entfernt, in dem er sich aufhält. Wenn Jan sich nun entschiede, das beschädigte Boot zu verlassen und in das intakte stiege, hätten die neun verbleibenden Passagiere aber nur noch für zwei Stunden Kraft, ihr Boot über Wasser zu halten, statt für fünf, wenn er bliebe. Damit verringerten sich ihre Chance erheblich, gerettet zu werden, während umgekehrt Jans Rettung als wahrscheinlich anzusehen wäre. Jan hat aber nur noch 30 Sekunden, um eine Entscheidung zu fällen. Was soll er tun? Quelle: Peters, Jörg: Das Rettungsboot, basierend auf: A Sinking Sensation, auf: https://www.buzzfeed. com/tracyclayton/moral-dilemmas-that-will-break-your-brain?utm_term=.myapQqD05q#.ni9jPo5B1o (Stand: 03. 03. 2017)

3. Der Unfall Peter ist von Beruf Rettungssanitäter und wurde gerade zu einem schweren Unfall auf der nahegelegenen Autobahn gerufen. Als er dort ankommt, erkennt er sofort, dass es sich bei dem stark demolierten Auto um den Wagen seiner Frau handelt. Das Schlimmste befürchtend rennt Peter zu dem Wagen. Dort stellt er fest, dass seine Frau mit einem fremden Mann in dem Auto eingeklemmt ist. Obwohl sie kaum noch bei Bewusstsein ist, nimmt sie Peter wahr und schafft es noch »Es tut mir so leid!« zu sagen. Peter versteht zunächst überhaupt nicht, was seine Frau ihm sagen will, aber schließlich beantwortet ihr Blick seine Frage. Der Mann neben ihr ist ihr Liebhaber, mit dem sie schon seit einiger Zeit eine Affäre hat. Peter verfällt in einen Schock, weil er nicht glauben kann, was er gerade erfahren musste. Als er etwas vom Wagen zurücktritt, sieht er, dass seine Frau schwer verwundet ist und sofort behandelt werden muss. Selbst wenn er sich unverzüglich um sie kümmern würde, wäre die Wahrscheinlichkeit nur sehr gering, dass sie den Unfall überlebt. Auf dem Beifahrersitz sieht Peter den Liebhaber seiner Frau, der heftig aus einer Wunde im Nacken blutet. Diese Blutung müsste ebenfalls umgehend gestoppt werden, damit der Mann nicht verblutet. Obwohl diese Maßnahme nur fünf Minuten dauern würde, würde Peter mit dieser Entscheidung definitiv den Tod seiner Frau besiegeln.

Auswahl ethischer und philosophischer Dilemmata

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Würde Peter sich aber seiner Frau zuwenden, würde der Beifahrer verbluten, obwohl Peter genau das vermeiden könnte. Wem soll Peter zuerst helfen? Quelle: Peters, Jörg: »Der Unfall«, basierend auf: »The Accident«, in: Top 10 Moral Dilemmas, auf: http:// listverse.com/2007/10/21/top-10-moral-dilemmas/ (Stand: 03. 03. 2017).

4. Drogenrazzia Familie Meier macht in diesem Jahr mit ihrem achtzehnjährigen Sohn Malte Urlaub auf Bali. Nach zehn Tagen Aufenthalt soll es jetzt wieder zurück in die Heimat gehen. Am Flughafen stehen die drei in der Schlange am Schalter ihrer Fluggesellschaft und sind bereit zum Check-In. Ihre Koffer haben die Meiers auf einem Kofferkuli stehen. In diesem Moment kommt ein bewaffneter Polizeibeamter mit einem Spürhund auf die Schlange zu. Als der Hund bei ihnen ankommt, riecht er zunächst an Herrn Meiers, dann an Frau Meiers Koffer, ohne auffällig zu reagieren. Als er aber beginnt, an Maltes Koffer zu schnüffeln, wird der Hund auf einmal sehr unruhig. Malte wirkt ein wenig nervös, wie Herr Meier feststellen muss, als er zu ihm hinüberblickt. Er weiß, dass sein Sohn etwas Gras mit nach Bali genommen hat, aber er ist davon ausgegangen, dass Malte nicht so dumm sein würde, es auch wieder mit nach Hause zu nehmen. Als er gerade ansetzen und seinem Sohn ins Gewissen reden will, fällt ihm ein, dass sie auf Bali sind und es dort keine Toleranz in Bezug auf Drogen gibt. Das bedeutet, dass sein Sohn unter Umständen lebenslänglich ins Gefängnis gesperrt oder sogar hingerichtet werden könnte, wenn man Drogen in seinem Koffer finden würde. Herr Meier blickt seine Frau an und versteht, dass sie zu demselben Ergebnis gekommen ist wie er. Allerdings ist sie aus Angst auch noch ganz blass geworden. Je länger der Hund an Maltes Koffer riecht, umso ernster schaut der Polizeibeamte drein. Dann schaut er Herrn Meier an und fordert diesen auf, den Koffer zu öffnen. Als der Polizist immer mehr Sachen aus dem Koffer holt, sieht Herr Meier mit Entsetzen, dass sich zwischen der Kleidung seines Sohnes auch eine kleine Menge Gras befindet. Der Polizeibeamte schaut Herrn Meier an und fragt: »Wem gehört dieser Koffer?« Herr Meier weiß, dass er diese Frage beantworten muss, aber die Antwort auf die Frage fällt ihm nicht leicht. Er sieht aus dem Augenwinkel, dass seine Frau nach vorne treten und sagen will, dass es ihr Koffer ist. Was soll Herr Meier tun? Quelle: Peters, Martina: »Drogenrazzia«, basieren auf: »Drug Bust«, in: Top 10 Moral Dilemmas, auf: http:// listverse.com/2007/10/21/top-10-moral-dilemmas/ (Stand: 03. 03. 2017).

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Bernd Rolf, Martina Peters, Jörg Peters

5. Organtransplantation Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Ein prominenter und beliebter Staatsmann wird in ein Krankenhaus gebracht, weil er durch die Kugel eines Mörders schwer verwundet wurde. Um überleben zu können, müssten sowohl eine Herz- als auch eine Lungentransplantation durchgeführt werden. Dummerweise stehen zurzeit keine passenden Organspenden zur Verfügung. Aber auf der Intensivstation liegt ein Obdachloser, der an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen ist. Er hat nur noch ein paar Tage zu leben und wäre ein perfekter Spender. Ohne Organspende würde der Staatsmann definitiv sterben; der Obdachlose stirbt sowieso in ein paar Tagen. Die Sicherheitsmaßnahmen im Krankenhaus sind optimal. Das Transplantationsteam könnte nun den Tod der obdachlosen Person vorantreiben und die Transplantation vornehmen, ohne dass die Öffentlichkeit je erfahren würde, dass ein Obdachloser sein Leben für die Organe hat hingeben müssen. Soll das Transplantationsteam den Staatsmann retten? Quelle: Hinman, Lawrence M.: Utilitarianism, Power Point Presentation, 35 Slides, Slide 25, auf: https://de. slideshare.net/dborcoman/utilitarianism-7 (Stand: 12 – 07.2019, übers. von Peters, Jörg).

6. Million Dollar Baby Frankie Dunn lässt sich überreden, die nicht mehr junge Maggie Fitzgerald im Boxen zu trainieren. Innerhalb eines Jahres führt er sie in die Weltspitze des weiblichen ProfiBoxsports. Bei ihrem Kampf um den Weltmeisterschaftsgürtel bricht sie sich zwei Halswirbel, als sie mit dem Pausengong unglücklich auf ihren bereits in der Ecke stehenden Schemel fällt. Maggie ist fortan vom Hals abwärts gelähmt. Sie ist noch nicht einmal in der Lage, alleine zu atmen, und daher auf ein Beatmungsgerät angewiesen. Frankie kümmert sich in der Folgezeit rührend um sie, ist jeden Tag bei ihr, sitzt einfach da, liest oder versorgt Maggie. Aber ihr Zustand verschlechtert sich zusehends. Als ihr aufgrund von Durchblutungsstörungen und Druckgeschwüren ein Bein amputiert werden muss, fleht sie ihren Trainer immer wieder an, ihre Lebenserhaltungssysteme abzuschalten. Frankie, der eine innige Beziehung zu Maggie hat, ist sich bewusst, dass Maggie leidet und ihren eigenen Tod herbeiführen würde, wenn sie dazu körperlich in der Lage wäre. Was soll er tun? Quelle: Peters, Jörg: »Million Dollar Baby«, basierend auf: Million Dollar Baby (Clint Eastwood, USA 2004).

Auswahl ethischer und philosophischer Dilemmata

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7. Ein selbstverursachtes Problem

Wie soll Kant handeln? Quelle: Muracka-Tylko, Magdalena; Tylko, Rafal: Da Philosophers. What philosophers would say to each other if they met: Moral Dilemma, 03. 06. 2011, auf: https://daphilosophers.wordpress.com/2011/03/06/moraldillema/ (Stand: 03. 03. 2017, gekürzt und ins Deutsche übertragen von Peters, Jörg).

8. Ein soziales Experiment Der Joker verübt in Gotham City einen tödlichen Anschlag nach dem anderen, weil er auf diese Weise erreichen möchte, dass Batman endlich seine Maske ablegt und seine wahre Identität preisgibt. Aus Angst, selbst das Ziel des mörderischen Vorgehens des Jokers zu werden, wollen über 30.000 Einwohner die Stadt verlassen und strömen zum Hafen, wo die Fähren ablegen. Zwei Fähren, die Spirit und die Liberty, kommen gerade an und könnten Passagiere aufnehmen. Aber die Spirit ist ausschließlich für Strafgefangene reserviert, die in ein

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anderes Gefängnis übersiedelt werden sollen, damit der Joker sie nicht für seine Zwecke missbrauchen kann. Nachdem die Liberty die maximale Anzahl an Passagieren aufgenommen hat, legen beiden Fähren ab. Doch noch im Hafen fallen bei beiden Schiffen gleichzeitig die Motoren aus und die Kapitäne müssen feststellen, dass in den Maschinenräumen jeweils hundert Fässer mit Sprengsätzen und je ein Zünder deponiert worden sind. Über Lautsprecher erklärt der Joker sowohl den Mannschaften als auch den Passagieren auf beiden Fähren: »Ihr werdet heute alle Teil eines sozialen Experiments sein. Durch die wundersame Wirkung von Diesel und Ammoniumnitrat könnte ich euch jetzt alle hoch in den Nachthimmel pusten. […] Wenn jemand versucht, von seinem Schiff zu kommen, werdet ihr alle sterben. […] Mit dem Fernzünder auf eurem Boot bringt ihr aufs andre Schiff den Tod. […] Um Mitternacht jage ich euch alle in die Luft. Wenn einer von euch allerdings vorher auf den Knopf drückt, lass’ ich dieses Schiff leben. Also, wer soll es sein? Harvey Dents [des Generalstaatsanwalts] meistgesuchtes Knacki-Kollektiv oder die süßen, unschuldigen Bürgerlein? Ihr habt die Wahl. Oh, und ihr solltet schnell entscheiden, denn die Leute auf dem anderen Schiff sind vielleicht nicht genau so edlen Gemüts«. Quelle: The Dark Knight (Christopher Nolan, USA 2008, Zeit: 1:56:03 – 1:57:20), bearbeitet von Peters, Jörg.

9. Joe Joe, ein 14-jähriger Junge, wollte sehr gern in ein Ferienlager fahren. Sein Vater versprach ihm, dass er fahren könne, vorausgesetzt, er würde das erforderliche Geld selbst zusammensparen können. So strengte sich Joe bei seinem Job als Zeitungsjunge besonders an und schaffte es, die 100 Dollar zu sparen, die das Lager kostete, und sogar noch etwas Geld dazu. Doch kurz vor Beginn des Lagers änderte der Vater seine Meinung. Er wollte mit seinen Freunden einen besonderen Angelausflug unternehmen – ihm fehlte aber das nötige Geld. Also sagte er Joe, er solle ihm das beim Zeitungsaustragen verdiente Geld geben. – Joe will auf das Ferienlager nicht verzichten und denkt daran, dem Vater das Geld zu verweigern. Quelle: Kohlberg, Lawrence; Candee, Daniel: »Das Interview zur Erhebung der Stufe des moralischen Verstehens. Dilemmatexte und Standardfragen«, in: Kohlberg, Lawrence: Die Psychologie der Moralentwicklung, Material übers. von Eckensberger, Uta S., hrsg. von Althof, Wolfgang unter Mitarbeit von Noam, Gil und Oser, Fritz, stw 1232, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 1996, S. 498.

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10. Judy Judy war ein 12-jähriges Mädchen. Ihre Mutter hatte ihr versprochen, sie könne zu einem besonderen Rockkonzert gehen, das in der Stadt demnächst stattfinden sollte, vorausgesetzt, sie würde das Geld für die Eintrittskarte selbst durch Babysitten und vom Taschengeld zusammensparen können. Judy gelang es auch, die für die Karte notwendigen 15 Dollar zu sparen, sie hatte sogar noch 5 Dollar zusätzlich. Doch dann änderte die Mutter ihre Meinung und verlangte von Judy, ihr Geld für neue Schulkleider auszugeben. Judy war sehr enttäuscht. Sie beschloss, trotzdem zum Konzert zu gehen. Sie kaufte sich eine Eintrittskarte und erzählte ihrer Mutter, dass sie nur 5 Dollar habe sparen können. An jenem Samstag ging sie zur Vorstellung; zu Hause hatte sie gesagt, dass sie den Tag mit einer Freundin verbringen würde. Die folgende Woche verging – die Mutter hatte nichts bemerkt. Nun erzählte Judy ihrer älteren Schwester, Louise, dass sie zum Konzert gegangen war und ihre Mutter in dieser Sache angelogen hatte. Louise ist sich im Unklaren, ob sie der Mutter erzählen sollte, was Judy getan hat. Quelle: Kohlberg, Lawrence; Candee, Daniel: »Das Interview zur Erhebung der Stufe des moralischen Verstehens. Dilemmatexte und Standardfragen«, in: Kohlberg, Lawrence: Die Psychologie der Moralentwicklung, a.a.O., S. 503.

11. Sterbehilfe Eine Frau hatte Krebs im fortgeschrittenen Stadium. Es gab keine Chance mehr, sie durch eine der bekannten medizinischen Behandlungsmethoden zu retten. Ihr Arzt, Dr. Jefferson, wusste, dass sie nur noch etwa sechs Monate zu leben hatte. Sie litt unbeschreibliche Schmerzen und war schon so geschwächt, dass eine starke Dosis eines schmerzdämpfenden Mittels wie Morphin oder Äther ihren früheren Tod bewirkt hätte. Sie phantasierte und war fast wahnsinnig vor Schmerzen. In ihren ruhigen Phasen bat sie Dr. Jefferson wiederholt darum, ihr doch soviel Morphin zu geben, dass sie sterben könne. Sie erklärte ihm, dass sie die Schmerzen einfach nicht mehr ertragen könne und dass sie ja sowieso in einigen Monaten sterben müsse. Der Arzt weiß, dass Sterbehilfe (zumal aktive Sterbehilfe) ungesetzlich ist; dennoch überlegt er, ob er den Wunsch der Frau erfüllen soll. Quelle: Kohlberg, Lawrence; Candee, Daniel: »Das Interview zur Erhebung der Stufe des moralischen Verstehens. Dilemmatexte und Standardfragen«, in: Kohlberg, Lawrence: Die Psychologie der Moralentwicklung, a.a.O., S. 499.

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12. Der 10 Euro-Schein Die Lehrerin kommt morgens in die Klasse und sagt zu den Kindern: »Hört mal alle her. Frau Scholz vom Sekretariat hat heute Morgen einen 10 Euro-Schein im Treppenhaus verloren. Sollte ihn jemand finden, bitte ich euch, ihr das Geld zurückzugeben.« Britta hatte das Geld vor Unterrichtsbeginn gefunden. Es lag hinter einem Abfallkorb. Sie war sich vollkommen sicher, dass sie keiner sah, als sie den Schein aufhob. Und sie war froh über den Fund, denn ihre Mutter hatte in der nächsten Woche Geburtstag, und sie wollte ihr ein Geschenk kaufen. Doch was sollte sie tun? Britta mag Frau Scholz gern und sie weiß, dass Frau Scholz das Geld braucht, denn sie hat eine große Familie. Quelle: Lickona, Thomas: Wie man gute Kinder erzieht! Die moralische Entwicklung des Kindes von der Geburt bis zum Jugendalter und was Sie dazu beitragen können, Kindt, München 1989.

13. Das Geheimversteck Henrik und Tobias sind die besten Freunde. Eines Tages verrät Henrik Tobias, dass er eine Höhle im Park gebaut hat, in der er eine Kiste mit Spielsachen und Heften versteckt hält. Henrik sagt, dass er nach der Schule zur Höhle gehen wird, um dort allein zu spielen. Tobias darf aber keinem davon erzählen. Tobias verspricht Henrik, dass er das große Geheimnis bei sich behalten wird. Nach der Schule trifft Henrik auf die Eltern von Tobias, die ihren Sohn mit dem Auto von der Schule abholen wollten. Sie sind besorgt und fragen Henrik, wo Tobias ist, denn sie wollten vor einer Stunde mit ihm zur Großmutter fahren. Quelle: Lickona, Thomas: Wie man gute Kinder erzieht! Die moralische Entwicklung des Kindes von der Geburt bis zum Jugendalter und was Sie dazu beitragen können, Kindt, München 1989.

14. Der Kaufhausdiebstahl Sharon und ihre beste Freundin Jill gehen einkaufen. Als sie so durch das Geschäft streifen, sieht Jill eine Bluse, die ihr unheimlich gefällt. Während Jill die Bluse anprobiert, schaut sich Sharon noch etwas um. Schon bald kommt Jill aus der Kabine und trägt ihren Mantel. Sie wirft Sharon einen vielsagenden Blick zu und guckt auf die Bluse unter ihrem Mantel. Ohne ein Wort dreht sich Jill um und geht aus dem Laden. Kurze Zeit später gehen ein Sicherheitsbeamter, ein Verkäufer und der Verkaufsmanager auf Sharon zu: »Das ist sie, das ist eines der Mädchen. Kontrollieren Sie ihre Tasche«, schreit der Verkäufer. Sharon gibt dem Sicherheitsbeamten die Tasche: »Keine Bluse.« »Ja, dann weiß ich, dass die andere es war«, sagt der Verkäufer. Der Sicherheitsbeamte fragt den Manager, ob er den Fall weiter verfolgen soll.

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»Auf jeden Fall«, meint dazu der Manager. »Ladendiebstahl wird zum größten Kostenfaktor in diesem Geschäft. Ich kann Ladendiebe nicht einfach laufen lassen und erwarten, dass das Geschäft großartig geht.« Der Sicherheitsbeamte wendet sich Sharon zu und fragt sie: »Wie ist der Name des Mädchens?« Sharon guckt ihn nur an und sagt nichts. »Komm, spuck es aus«, sagt der Sicherheitsbeamte. »Wenn du uns nichts sagst, kannst du für das Verbrechen oder zumindest der Mitschuld verantwortlich gemacht werden.« Lickona, Thomas: Wie man gute Kinder erzieht! Die moralische Entwicklung des Kindes von der Geburt bis zum Jugendalter und was Sie dazu beitragen können, Kindt, München 1989.

15. Gitta und Klaus Gitta erinnert sich noch gut. Klaus hat ihr bei einer für die Versetzung wichtigen Kursarbeit ganz entscheidend geholfen. Ohne seinen Spickzettel hätte ihre Leistung in der für die gefährdete Versetzung entscheidenden Arbeit sicherlich nicht ausgereicht. Gitta weiß das zu schätzen. Jetzt hat Gitta entdeckt, dass Klaus es ist, der die Schulwände mit Tags besprüht und damit gegen ein Abkommen verstoßen hat. Alle Klassen der Oberschule hatten sich dafür ausgesprochen, dass die Wandflächen auf dem Schulgelände und in der Schulumgebung nicht mehr mit Tags verunstaltet werden sollten. Mit finanzieller Unterstützung der Eltern und einiger Sponsoren hatten mehrere Klassen einen Großteil der verunzierten Flächen am letzten Wochenende mit großem Arbeitsaufwand von den Schmiereien befreit. Es soll auch eine extra Wandfläche für ein Graffiti- ein Kunstprojekt im Hof angelegt werden. Erste Vorentwürfe wurden schon ausgestellt. Als Gitta nun Klaus daraufhin anspricht und meint, das finde sie ganz unmöglich, antwortet ihr Klaus, er brauche den »Kick«, das Überschreiten des Verbotenen reize ihn. Und überhaupt, wenn er und seine Crew es nicht machten, dann würden es andere tun. Gerade das Revier, in dem die Schule liegt, sei von mehreren Crews hart umkämpft. Als Gitta diese Ausreden nicht akzeptiert, reagiert Klaus sauer und sagt energisch, dass sie sich gefälligst um ihre eigenen Sachen kümmern solle. Gitta fühlt sich nach dem Gespräch sehr unwohl und fragt sich, ob sie mit einem Lehrer oder einer Lehrerin ihres Vertrauens darüber sprechen soll. Auch zwei Mitschüler, denen sie von diesem Problem erzählt – ohne Klaus namentlich zu erwähnen –, meinen, in diesem Fall müsse man einen Lehrer hinzuziehen. Gitta ist sich darüber im Klaren, dass ein solcher Schritt sehr unangenehme Folgen für Klaus haben kann. Sollte Gitta ihren Freund Klaus bei einem Lehrer melden? Warum? Was spricht dafür? Was spricht dagegen?

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Was ist schlimmer: Jemanden wegen einer unerlaubten Tat zu verraten und dessen Bestrafung in Kauf zu nehmen, oder die Absprachen der (Schul-) Gemeinschaft zu verletzen und die begonnene Mühe in Frage zu stellen? Quelle: Quelle: Kledzik, Ulrich-Johannes; Boerner, H. (Hrsg.): Noffiti – Ein Materialangebot für den Sekundarbereich I, Prinz-Medien, Berlin 1997, S. 21, zitiert nach: Stangl, Werner: Moralische Entwicklung, Werner Stangls Arbeitsblätter (2019), auf: https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/MORALISCHEENTWICKLUNG/ KohlbergDilemmata.shtml (Stand: 12. 07. 2019).

16. Frau Dr. Paul Frau Dr. Paul war sich während der Anfangsphase ihres praktischen Jahres im Krankenhaus vollkommen dessen bewusst, dass die Entnahme von Organen oder Hauttransplantaten von Toten ohne das Einverständnis der Angehörigen illegal ist. Außerdem verletzte eine solche Entnahme grundsätzlich ihren Glauben. Sie erfuhr jedoch sehr schnell, dass es im Krankenhaus Engpässe gab, wenn es insbesondere darum ging, Menschen mit schweren Hautverletzungen mit Transplantaten zu versorgen. Eines Tages teilt ihr ihr Chefarzt mit: Das Team benötigt sofort Hauttransplantat für eine Notoperation. Weil jedoch keines zur Verfügung steht, soll Frau Dr.Paul in die Pathologie gehen und Toten Haut entnehmen. Sie darf jedoch mit niemandem darüber sprechen. Was soll Frau Dr. Paul tun? Quelle: Lind, Georg: Frau Dr. Paul, verteilt anlässlich der Tagung der American Association for Moral Education 1996 in New York, Überarbeitung: Hoenecke, Ch., zitiert nach: Stangl, Werner: Moralische Entwicklung, Werner Stangls Arbeitsblätter (2019), auf: https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/MORALISCHEENTWICKLUNG/KohlbergDilemmata.shtml (Stand: 12.07.2019)

17. Anselm Anselm S. lebt zusammen mit seiner Frau und den beiden Kindern in einem neuen Haus am Stadtrand, das sie erst vor drei Jahren bezogen haben. Er ist Chemiker in leitender Position bei einer Lebensmittelfirma, die ihre Zentrale direkt am Ort hat. Er ist ein Mann mit recht konservativen Ansichten und daher auch stolz darauf, dass seine Frau jetzt nicht mehr mitarbeiten muss. »Das schaffe ich schon alleine!« ist eine seiner Standardredewendungen. Anselms Frau ist mit diesem Zustand ebenfalls sehr zufrieden. Ihr macht es Spaß, sich um Haus und Garten zu kümmern. Außerdem hat sie so genug Zeit für ihre Mutter, der es in letzter Zeit nicht gut geht. Aber selbst wenn sie arbeiten wollte (sie ist gelernte Biologielaborantin), würde es für sie vermutlich sehr schwierig sein, eine Anstellung zu finden, da sie schon seit zwanzig Jahren nicht mehr berufstätig ist. In seiner Freizeit ist Anselm engagierter Mitarbeiter im örtlichen Tierschutzverein, den er vor etlichen Jahren mitbegründet hat, und der sich gerade wegen der von ihm mit-

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initiierten Aktionen zu einer in der Stadt anerkannten Institution entwickelt hat. Betreuung des Tierheims, Beratung für Haustierbesitzer, Aktionen gegen Tiertransporte und vor allem gegen Tierversuche, die in einer nahegelegenen Kosmetikfirma durchgeführt werden, charakterisieren die Arbeit, für die Anselm S. meist federführend ist. Dadurch ist er auch über die Grenzen der Stadt hinaus zu einer bekannten Persönlichkeit geworden. Auch im privaten Bereich hat Anselm S. mit den Mitgliedern der Tierschutzgruppe sehr viel zu tun. Sie und ihre Familien stellen den größten Teil seines Bekanntenkreises dar. Er ist bei allen sehr beliebt. Beruf, Familie und Hobby bereiten Anselm sehr viel Freude und eigentlich war er mit seinem Leben bisher sehr zufrieden. Doch nun droht dies alles, was er sich mühsam aufgebaut hat, zusammenzustürzen. Von seinem Vorgesetzten hat er erfahren, dass der Stellenabbau, der in seiner Firma seit der Übernahme durch die neuen Besitzer forciert wird, nun auch seine Abteilung treffen soll. Da man ihn als langjährigen Mitarbeiter nicht direkt entlassen kann, soll er, zunächst für ein halbes Jahr, in einer Filiale in der 250 km entfernten Landeshauptstadt eingesetzt werden. Allerdings nicht seiner bisherigen Position entsprechend. Innerhalb dieses Zeitraumes muss er sich dann um eine neue Stelle bemühen. Für einen Mann Anfang Fünfzig keine einfache Sache. Einige Tage später trifft er in dem kleinen Pub in der Altstadt, in dem er seit einiger Zeit auf dem Nachhauseweg noch einmal kurz ein Bier trinkt, seinen ehemaligen Schul- und Studienkameraden Benno F. Benno ist Chemiker und mittlerweile im Vorstand der großen Kosmetikfirma am Ort. Die einst gute Freundschaft der beiden ist in den letzten Jahren sehr abgekühlt. Der Grund dafür war, dass in dem Unternehmen, in dem Benno Karriere gemacht hat, gerade die Tierversuche durchgeführt werden, gegen die sich Anselm und seine Gruppe so vehement auflehnen. Benno hat von den Schwierigkeiten in Anselms Firma gehört und kommt ohne große Umschweife darauf zu sprechen. Im Laufe der Unterredung deutet er an, dass bei seiner Firma sehr bald eine Stelle neu zu besetzen sei, für die jemand mit seinen Fähigkeiten sehr geeignet wäre. Er läßt durchblicken, dass Anselm sich sogar finanziell besser stellen würde – auf Dauer, versteht sich. Wenn Anselm sich mit dem Gedanken anfreunden könne, er würde sich gerne für ihn stark machen. Da er Vorstandsmitglied sei, wäre dies sicher auch erfolgreich. Anselm spricht Benno auf die Versuche in den Labors seines Unternehmens an, worauf ihm sein früherer Freund zu verstehen gibt, dass er, wie immer, Scheuklappen trage: Erstens basierten die meisten Produkte nicht auf derartigen Versuchen, sie vertrieben ja auch zahlreiche Naturprodukte. Zweitens würden die Versuche nur einen ganz kleinen Teil von Anselms zukünftigem Arbeitsbereich darstellen. Und drittens, ob Anselm denn meine, dass er sich in seiner jetzigen Situation diese Bedenken leisten könne? Anselm bittet um eine längere Bedenkzeit, doch Benno teilt ihm mit, dass die Neubesetzung der Stelle schon bald ansteht und er innerhalb der nächsten zwei Wochen zu einer Entscheidung kommen müsse. In den nächsten Tagen geht Anselm so einiges durch den Kopf, vor allem auch seine beiden Kinder. Die ältere Tochter hat gerade ihr Abitur bestanden und freut sich auf den einjährigen Studienaufenthalt in den USA, den ihr ihre Eltern versprochen haben. Wenn sich die finanzielle Situation der Familie verschlechtert, wird dieser Aufenthalt nicht zu

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finanzieren sein. Der jüngere Sohn, 14 Jahre alt, hat mit der Schule zur Zeit nicht so viel im Sinn. Wie sein Vater ist er ein großer Tierfreund und widmet den größten Teil seiner Freizeit der Arbeit im Tierschutzverein. Sein Vater ist für ihn das große Vorbild. Soll sich Anselm S. für die Stelle in Bennos Firma entschließen oder soll er ablehnen? Quelle : Colby, Anne; Kohlberg, Lawrence ; Speicher, Betsy; Hewer, Alexandra ; Candee, Daniel; Gibbs, John; Power, Clark : The Measurement of Moral Judgement, 2 Vols., Vol 2 : Standard Issue Scoring Manual, Cambridge University Press, 1987, übersetzt von Fritz Oser, verteilt anlässlich der Tagung Berliner Seminarleiter im Oktober 1995, zitiert nach: Stangl, Werner: Moralische Entwicklung, Werner Stangls Arbeitsblätter (2019), auf : https ://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/MORALISCHEENTWICKLUNG/Kohl bergDilemmata.shtml (Stand: 12. 07. 2019 ).

18. Neil Neil Perry, Schüler der angesehehen Welton Akademie, soll nach dem Wunsch seines Vaters später ein Medizinstudium aufnehmen, das diesem verwehrt geblieben ist. Damit Neil sich voll auf das Lernen konzentrieren kann, wird ihm Mitarbeit am Jahrbuch der Schule, die ihm am Herzen liegt, untersagt. Angesteckt von einem unorthodoxen Literaturunterricht eines neuen Lehrers entdeckt Neil seine Leidenschaft für das Theaterspielen. Er möchte später Schauspieler werden und bewirbt sich ohne Wissen seines Vaters bei einer Laiengruppe um die Hauptrolle in Skakespeares »Ein Mittsommernachtstraum«. Am Tag vor der Premiere des Stückes erfährt der Vater von dem Engagement seines Sohnes und verbietet ihm die Schauspielerei. Voller Verzweifelung sucht Neil seinen Lehrer auf und fragt ihn um Rat. Was würdest du ihm an Stelle des Lehrers raten? Quelle: Rolf, Bernd nach dem Film Der Club der toten Dichter (USA 1988), Originalbeitrag.

19. Nora Bald nach ihrer Hochzeit mit dem Rechtsanwalt Torvald Helmer steht Nora in einer schwierigen Situation. Ihr Mann ist lebensgefährlich erkrankt; für den erforderlichen Genesungsaufenthalt im Süden des Landes müsste ein Darlehen aufgenommen werden. Ihr Vater, der einzige, der für sie bürgen hätte bürgen können, ist vor drei Tagen gestorben. Nun überlegt sie, ob sie die Unterschrift des Vaters fälschen soll. Wie würdet ihr in Noras Situation entscheiden? Was würdet ihr Nora raten? Quelle: Rolf, Bernd nach Ibsen, Henrik: »Ein Puppenheim«, in: Ibsen, Henrik: Henrik Ibsens sämtliche Werke in deutscher Sprache, 10 Bde., Bd. 6, durchgesehen und eingel. von Brandes, Georg; Elias, Julius; Schleuther, Paul, vom Dichter autorisiert, S. Fischer Verlag, Berlin 1900, S. 273 – 375, Originalbeitrag.

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20. In aller Freundschaft Andreas bekommt von seiner Tante ein Skate-Board geschenkt, das er sich immer schon gewünscht hatte. Er sucht Anschluss an eine Gruppe von Skateboard-Fahrern, die eine Mutprobe von ihm fordern. Er soll ein Zeichen geben, wann ein LKW sich nähert, damit die anderen sich auf ihren Boards daran anhängen können. Einer der Jugendlichen verunglückt dabei und wird mit Querschnitt-Lähmung ins Krankenhaus eingeliefert, in dem Andreas’ Vater als Arzt tätig ist. Der Anführer der Gruppe nötigt Andreas das Versprechen ab, zu schweigen und droht ihm andernfalls mit Sanktionen. Andreas, der ein schlechtes Gewissen hat, geht zu seiner Schwester und bittet sie um Rat. Was soll sie ihm sagen? Quelle: Rolf, Bernd nach: In aller Freundschaft, Staffel 4, Folge 92: Die Mutprobe, Ausstrahlung in der ARD am 12. 02. 2001.

21. Unschuldig verfolgt Denken wir uns also etwa, ein unschuldig Verfolgter sei von einem ihm nahestehenden mutigen Freunde heimlich an einen verborgenen Platz gebracht worden, wo er sich einstweilen sicher fühlen kann, und dieser Freund werde von den Verfolgern aufgesucht und nach dem Aufenthaltsort seines Schützlings befragt. Wie wird er sich verhalten? Quelle: Planck, Max: »Vom Wesen der Willensfreiheit,« in: Vorträge und Erinnerungen, Darmstadt 1949, S. 304.

22. Euthanasie Im Jahre 1941 standen ein deutscher Arzt wie viele seiner Kollegen vor folgender Entscheidung: Er wurde aufgefordert, bei der Tötung von Geisteskranken mitzuwirken, indem er Kranke in Verlegungslisten einträgt und damit zur Tötung freigibt. Der Arzt überlegte, ob er der Aufforderung nachkommen soll; er sah die Chance, durch entsprechende Gutachten einen Teil der Kranken, die von der Ermordung bedroht waren, zu retten. Wie hätte er sich eurer Meinung nach entscheiden sollen? Quelle: Rolf, Bernd nach Spaemann, Robert: »Die schlechte Lehre vom guten Zweck«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Ausgabe vom 23. 10. 1999.

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23. Präimplantationsdiagnostik Nachdem Herr und Frau Hagedorn über zehn Jahre lang kinderlos geblieben sind, möchten sie ihren Kinderwunsch durch In-vitro-Fertilisation erfüllen. Da in Frau Hagedorns Verwandtschaft in der Vergangenheit eine Erbkrankheit aufgetreten ist, rät ihr der Arzt, die Embryonen vor ihrer Einsetzung in die Gebärmutter mittels Präimplantationsdiagnostik untersuchen zu lassen. Frau Hagedorn zögert. Darf man das Erbgut selektieren und den Vererbungsvorgang bewusst steuern, also Eugenik betreiben? Und was sollte sie tun, wenn sich herausstellte, dass alle drei durch künstliche Befruchtung erzeugten Embryonen die Erbkrankheit in sich tragen? Was würdet ihr Frau Hagedorn raten? Quelle: Rolf, Bernd, Originalbeitrag.

24. Forschung an Embryonen Wie würden Sie sich entscheiden, wenn Sie sich beim Brand eines Krankenhauses vor die Wahl gestellt sähen, entweder ein Baby oder zehn Embryonen zu retten? – Wie würden Sie sich als Forscher entscheiden, wenn Sie die Möglichkeit hätten, durch sogenannte verbrauchende Forschung an Embryonen Erkenntnisse zur Herstellung von Medikamenten zu entwickeln, die später kranken Menschen das Leben retten könnten. Sehen Sie einen relevanten Unterschied zwischen beiden Situationen? Quelle: Rolf, Bernd nach einer rhetorischen Frage von Reinhard Merkel, Originalbeitrag.

25. Medikamente gegen Aids Am Landgericht Pretoria steht eine Klage der Pharmaindustrie gegen den Staat Südafrika an. Der Gesetzgeber hat angesichts der Aids-Epidemie, der wöchentlich 5000 Menschen zum Opfer fallen, die Nachahmung von patentgeschützten Arzneien erlaubt. Hilfsorganisationen stehen in Kontakt mit einem indischen Unternehmen, das AidsMedikamente für ein Drittel des üblichen Preises anbietet. Bisher betragen die Kosten für die Behandlung eines Aids-Kranken rund 15000 Dollar pro Jahr – ein Mehrfaches dessen, was die Menschen in vielen afrikanischen Staaten verdienen. Die deutsche Regierung forderte die Pharmakonzerne auf, ihre Klage zurückzuziehen. Wie soll Richter Bernard Ngoepe vom Landgericht Pretoria entscheiden? Was würdet ihr den Pharmakonzernen raten? Quelle: Rolf, Bernd nach einer Pressemeldung vom 06.03.01, Originalbeitrag.

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26. Genetischer Fingerabdruck Zur Bekämpfung sexuell motivierter Straftaten hat die Bayerische Landesregierung vorgeschlagen, die genetischen Daten aller Kriminellen, die wegen einer vorsätzlichen Straftat im Gefängnis sitzen, zu erfassen und zentral zu speichern. Kritiker halten den Zwang, sich einer DNA-Analyse zu unterziehen, für einen schwerwiegenden Eingriff in das Persönlichkeitsrecht. Wie würden Sie als Abgeordneter bei einem entsprechenden Gesetzesinitiative abstimmen? Quelle: Rolf, Bernd nach einer Pressemeldung vom 16. 05. 2001, Originalbeitrag.

27. Brent Spar Die Firma Shell stand im April 1995 vor folgendem Dilemma: Die Brent Spar, eine Plattform von 29 m Durchmesser und 95 m Höhe, die als Zwischenlager für in der Nordsee gefördertes Rohöl gedient hatte, sollte entsorgt werden. Eine Versenkung in Tiefwasser 250 westlich der Äußeren Hebriden sollte gegenüber einer Demontage an Land eine Kostenersparnis von ca. 34 Mio. Pfund erbringen. Dafür erhielt die Firma auch eine vorläufige Genehmigung der Britischen Regierung und die Zustimmung der Nordsee-Anreinerstaaten. Am 30. April besetzten Aktivisten der Umweltorganisationen Grrenpeace die Brent Spar und forderten einen Versenkungsverzicht, weil sie 130 Tonnen Ölschlamm und Giftmüll in der Plattform vermuteten. Diese Aktion und ein anschließender Boykott-Aufruf gegen Shell-Tankstellen fand große Resonanz in den Medien. Versetzen Sie sich in die Lage der Manager der Firma Shell. Wie hätten Sie an ihrer Stelle entschieden? Quelle: vgl. http://www.greenpeace.de/~Kampagnen/Öl und Offshore.

28. Zeche Enkirchen Das Verwaltungsgericht Saarlouis hat am 27. 4. 2001 der Klage auf Förderstop im Bergwerk Enkirchen vorläufig stattgegeben. Zur Begründung führt es an, das Landesoberbergamt habe die negativen Folgen des Steinkohleabbaus für die Anwohner nicht ausreichend geprüft. Der Kläger fürchtet Schäden an seinem Haus und an seiner Gesundheit durch Bodensenkungen, die im Nachbarort bis zu vier Metern betragen. Zwar werden die Bergschäden (Risse, Einstürze usw.) durch die Zeche reguliert, die Lebensqualität der Anwohner ist jedoch stark beeinträchtigt, weil sie auf einer ständigen Baustelle leben. Auf der Zeche müssen infolge des vorläufigen Förderstops 1800

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Kumpel Kurzarbeit leisten; insgesamt stehen 2700 Arbeitsplätze auf dem Spiel. Deshalb hat die Deutsche Steinkohle AG hat gegen das Urteil Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht eingelegt. Wie sollen die Richter sich entscheiden? Quelle: Rolf, Bernd nach ARD Tagesthemen, Ausgabe vom 30. 04. 2001, Originalbeitrag.

29. Poletown Folgendes Ereignis war Gegenstand eines Verfahrens vor einem Schwurgericht in den USA: Eine neue Montagehalle sollte die Wettbewerbsfähigkeit des Automobilkonzerns General Motors sichern helfen. Geeignete Bauplätze aber gab es nur außerhalb des Stammsitzes Detroit, mit der Abwanderung drohten Tausende von Arbeitsplätzen verloren zu gehen. Die Detroiter Stadtväter ersannen einen Ausweg: Sie wollten ein passendes Grundstück im Stadtteil Poletown enteignen, dem Alterssitz polnischer Einwanderer. General Motors akzeptierte, 104 Einwohner von Poletown haben jedoch vor dem Obersten Gerichtshof des Staates Michigan Klage eingereicht. Sie weisen darauf hin, dass ihre Häuser für sie den einzigen wertvollen Besitz darstellen und die stabile Nachbarschaft der polnischen Minderheit in vielen Situationen Halt gegeben hat. Der Beklagte verweist auf den Nutzen dieser Montagehalle für die Sicherung Tausender von Arbeitsplätzen und die Steuervorteile für die Stadt Detroit. Wie hättet ihr euch an Stelle der Richter entschieden? Quelle: Peters, Jörg; Rolf, Bernd: Poletown, basierend auf der Grundlage von Auerbach, J.: »Das PoletownDilemma«, in: Harvard-Manager 7, 1985, Heft 4: Forschung und Entwicklung im Konzern, S. 46 – 51, Originalbeitrag; auch in: Peters, Jörg; Rolf, Bernd: Ethik aktuell. Texte und Materialien zur Klassischen und angewandten Ethik, C.C.Buchner Verlag, Bamberg 2002, S. 76 – 77.

30. Flugzeugentführung Terroristen entführen ein Passagierflugzeug mit 82 Passagieren. Sie drohen mit der Sprengung der Maschine, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt werden: Freilassung ihrer Gesinnungsgenossen aus der lebenslänglichen Haft und ein Lösegeld von 20 Millionen. Wie würden Sie an Stelle der Verantwortlichen in der Regierung in dieser Situation handeln? Quelle: Rolf, Bernd nach einem Fall aus den 1970er Jahren, Originalbeitrag.

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31. Ehrenwort Ein Politiker hat einer Firma, die seiner Partei eine große Summe Geldes gespendet hat, versprochen, ihren Namen geheim zu halten. Bald darauf wird die illegale Spendenpraxis aufgedeckt und die Öffentlichkeit verlangt die Bekanntgabe des Spendernamens. Wie soll der Politiker sich eurer Meinung nach verhalten.

Quelle: Rolf, Bernd nach einem Fall aus den 1990er Jahren, Originalbeitrag.

32. Der Fall Daschner Am Frankfurter Landgericht begann im November 2004 ein Prozess gegen Wolfgang Daschner, den früheren Polizeipräsidenten der Stadt Frankfurt, wegen schwerer Nötigung. Daschner hatte im Oktober 2002 Wolfgang Gäfgen, dem Entführer des 11jährigen Bankiersohns Jakob von Metzler, die Zufügung von Schmerzen androhen lassen für den Fall, dass er nicht den Aufenthaltsort des Kindes nennt. Zu diesem Zeitpunkt ging die Polizei davon aus, dass die Geisel lebt, aber verdursten würde, wenn nicht innerhalb weniger Stunden Hilfe käme (in Wirklichkeit hatte Gäfgen das Kind schon ermordet). Sollte der Richter Daschner Ihrer Meinung nach verurteilen oder frei sprechen? Bei der Beurteilung des Falles ist zu bedenken, dass Folter (Erpressung von Informationen durch Anwendung von Gewalt) gesetzlich verboten ist. Andererseits könnte Daschner sich auf einen übergesetzlichen Notstand berufen und darauf, dass es der Polizei nach geltendem Recht erlaubt ist, jemanden zu töten, der das Leben eines anderen bedroht (Gefahrenabwehr durch einen »finalen Rettungsschuss«). Warum sollte Androhung von Gewalt zur Rettung des Lebens von Jakob von Metzler bestraft werden? Quelle: Rolf, Bernd nach: Dahlkamp, Jürgen; Friedrichsen, Gisela; Kurz, Felix; Schmidt, Caroline; Wassermann, Andreas: »›Machen Sie das!‹«, in: Der Spiegel 47/2004, vom 15. November 2004, S. 45 – 46.

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33. Die tickende Bombe Der Jurist Alan Dershovitz von der Harvard Uniiversity konstruierte folgenden Fall: Das FBI verhaftet einen Araber und entnimmt beschlagnamten Dokumenten, dass ein Anschlag auf zwei Wolkenkratzer in New York geplant sei. Nur wann? Und durch wen? Der Verdächtige schweigt. Ist Folter nun gerechtfertigt, um – wie Dershovitz fragt – »Menschenleben zu retten«? Quelle: Kleine-Brockhoff, Thomas: »Außer Kontrolle«, in: Die ZEIT, Ausgabe 20/2004 vom 06. Mai 2004, auf: https://www.zeit.de/2004/20/US-Folter/seite-2 (Stand: 12.07.2019).

34. Das Rettungsboot (2) Das Schlachtschiff Northern Spirit hat einen Torpedotreffer in den Maschinenraum bekommen und beginnt rasch zu sinken. »Alle Mann von Bord!«, ruft Kapitän Flintheart. Aber nur wenige Rettungsboote sind einsatzbereit. Eines, hoffnungslos überladen, schafft es, von dem sinkenden Schiff wegzukommen, Kapitän Flintheart stehend am Heck. Rundherum tönen die verzweifelten Schreie der Ertrinkenden über die kalten, grauen Wogen des Atlantiks. Sollen trotz der Gefahr, das kleine Rettungsboot zum Kentern zu bringen und dadurch das Leben derer aufs Spiel zu setzen, die bereits an Bord sind, weitere Matrosen aufgefischt und gerettet werden? Quelle: Hardin, Garret: »Living on a Lifeboat«, in: BioScience 24, 1974, S. 561 – 568, zitiert nach Cohen, Martin: 99 moralische Zwickmühlen. Eine unterhaltsame Einführung in die Philosophie des richtigen Handelns, übers. von Seuß, Rita; Wollermann, Thomas, SP 4515, Piper Verlag GmbH, München/Zürich 2005, S. 19.

35. Tiefer hinab Flintheart murmelt auf Lateinisch etwas Unverständliches in seinen Bart und gibt dann barsch den Befehl: »Nicht anhalten!« Auch einige der Bootsinsassen murmeln etwas vor sich hin – »Blanker Mord«, »Erbarmungsloser Schuft« und sogar »Ein anständiger Käpt’n geht mit seinem Schiff unter«, aber allen sitzt die Gewohnheit des Gehorsams in den Knochen. Da kämpft sich einer der Ertrinkenden an die Seite des Bootes heran. Es ist Tom, der Schiffsjunge, und er schafft es tatsächlich, sich mit seinen halb erfrorenen Händen am Dollbord festzuklammern (was immer das auch ist). Mit der Kraft der Verzweiflung versucht er sich hineinzuhieven und bringt dabei das Boot in eine bedrohliche Schräglage.

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»Stoß ihn zurück!«, brüllt Flintheart vom Heck des Bootes zu Bert, dem Schiffskoch, der dem jungen am nächsten steht. Soll Bert gehorchen? Quelle: Hardin, Garret: »Living on a Lifeboat«, in: BioScience 24, 1974, S. 561 – 568, zitiert nach Cohen, Martin: 99 moralische Zwickmühlen. Eine unterhaltsame Einführung in die Philosophie des richtigen Handelns, a.a.O., S. 20.

36. Die Bergbahn Versetzen wir uns in die Lage des Fahrers einer Bergbahn, die sich auf Talfahrt befindet. Plötzlich tauchen fünf Gestalten im Nebel vor ihm auf; eine Vollbremsung ist zwecklos. Der Fahrer könnte allenfalls auf ein Nebengleis ausweichen, wodurch ein Arbeiter zu Tode käme. Wie würde man selbst in dieser Situation handeln? Hat der Fahrer das Recht, die Gleise zu wechseln? Quelle: Sorensen, Roy A.: Thought Experiments, Oxford University Press, Oxford/New York 1992, S. 236, zitiert nach: Freese, Hans-Ludwig: Abenteuer im Kopf. Philosophische Gedankenexperimente, illustr. von Pey, Alexander, Beltz Quadriga, Weinheim/Berlin 1995, S. 268.

37. Die Transplantation Fünf todkranke Patienten benötigten fünf Organe; ein Chirurg könnte sie durch eine Transplantation retten unter der Bedingung, dass er diese Organe einem gesunden Spender mit einer seltenen Blutgruppe entnähme. Darf der Chirurg den potentiellen Spender töten, um die fünf anderen zu retten? Quelle: Sorensen, Roy A.: Thought Experiments, Oxford University Press, Oxford/New York 1992, S. 236, zitiert nach: Freese, Hans-Ludwig: Abenteuer im Kopf. Philosophische Gedankenexperimente; a.a.O.

38. Jürgens Problem Jürgen und »Kick« sind gute Freunde. Kick heißt eigentlich Sebastian. Er wird aber Kick genannt, weil er andere oft tritt. Er ist auch oft mit anderen in Kämpfe verwickelt. Aber mit Jürgen hat er nie Probleme gehabt. Auch Jürgen mag ihn. Kick hat ihm schon oft gegen Stärkere beigestanden. Eines Tages sieht Jürgen, wie Kick einen jüngeren Schüler aus einer anderen Schule verprügelt und erst aufhört, als der ihm seinen Geldbeutel gibt. Kick rennt davon, bevor Jürgen etwas tun konnte. Am nächsten Tag kommt die Polizei mit dem beraubten

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Jungen in die Schule. Sie fragt, wer gesehen habe, wie der Junge verprügelt und beraubt wurde. Der junge entdeckt Jürgen. Er deutet auf ihn und sagt, er habe Jürgen zusammen mit dem gesehen, der ihn überfallen habe und dass Jürgen den Überfall auch gesehen haben muss. Der Polizist fordert Jürgen auf, den Namen des Täters zu nennen, sonst würde er sich als Mitwisser strafbar machen. Jürgen verschweigt den Namen seines Freundes. Hat Jürgen richtig oder falsch gehandelt?

Quelle: Lind, Georg: Moral ist lehrbar: Handbuch zur Theorie und Praxis moralischer und demokratischer Bildung, Erziehung – Gesellschaft – Schule, Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 2003, S. 139.

39. Thomas war Zeuge Thomas hat ein Problem mit seinem besten Freund Mario. Mario brach die Schule ab, weil sein Vater schwer krank wurde, um als Fahrer zu arbeiten und die Familie finanziell zu unterstützen. Auf einer Party hatten sie beide zu viel getrunken, doch Thomas Freund wallte noch nach Hause fahren. Als er auf der Landstraße eine Linkskurve schneidet, kommt ihnen ein Auto entgegen. Die Fahrerin des Wagens versucht noch auszuweichen, aber die beiden Autos streifen sich und die Fahrerin kommt von der Fahrbahn ab. Thomas sagt Mario, er solle anhalten, um nach der Frau zu sehen, aber der hört nicht auf ihn. Am nächsten Morgen hört Thomas im Radio, dass die Beifahrerin des anderen Autos in Lebensgefahr schwebt und die Polizei nach Zeugen sucht und nach dem in den Unfall verwickelten PKW fahndet. Thomas drängt seinen Freund, sich bei der Polizei zu melden, sonst würde er es tun. Aber Mario sagt, er könne das nicht tun. Thomas verspricht ihm, zu schweigen. War die Entscheidung von Thomas eher falsch oder eher richtig? Quelle: Lind, Georg: Moral ist lehrbar: Handbuch zur Theorie und Praxis moralischer und demokratischer Bildung, a.a.O., S. 140.

40. Beruf oder Baby? Kerstin studiert Französisch, Spanisch und Italienisch. Sie möchte Dolmetscherin bei einer internationalen Behörde im Ausland werden. Ihr Freund studiert Physik und hofft ebenfalls, nach dem Studium einige Jahre an einem Institut im Ausland arbeiten zu können. Er hat sogar schon ein sehr gutes Angebot, an einem renommierten Forschungslabor im Ausland zu arbeiten, wo auch Kerstin eine Stelle bekommen kann. Kurz vor ihrem Examen wird Kerstin ungewollt schwanger. Als sie es bemerkt, ist sie schon im dritten Monat. Kerstin überlegt, was sie tun soll. Ein Kind käme ihr völlig ungelegen. Sie wollte später irgendwann schon Kinder haben. Zuerst wollte sie aber ihr

Auswahl ethischer und philosophischer Dilemmata

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Studium beenden und einen Beruf finden. Ein Kind würde bedeuten, dass sie das Examen und ihre Berufspläne lange hinausschieben müsste und auch nicht mit ihrem Partner ins Ausland gehen könnte. Ihr Partner sagt, dass er das Angebot nicht aufgeben kann und auf jeden Fall ins Ausland gehen will. Kerstin müsste sich dann allein um das Kind kümmern. Andererseits stammt sie aus einem streng katholischen Elternhaus. Ihre Eltern sind strikt gegen eine Abtreibung. Auch sie selbst befürchtet, dass sie deswegen später vielleicht einmal ein schlechtes Gewissen haben könnte. Sie ist schon 25 Jahre alt und vielleicht klappt es später nicht mehr mit einem Kind, wenn sie erst Karriere macht. Dennoch entscheidet sie sich, den Fötus abtreiben zu lassen. WasWar Kerstins Entscheidung richtig oder falsch? Quelle: Lind, Georg: Moral ist lehrbar: Handbuch zur Theorie und Praxis moralischer und demokratischer Bildung, a.a.O., S. 141.

41. Müllers Erfindung Herr Müller ist Chef-Chemiker in der Entwicklungsabteilung einer großen Chemiefabrik, dem einzigen Arbeitgeber in der Region. Die Firma droht geschlossen zu werden, da sie große Verluste macht. Vielen droht Arbeitslosigkeit. Auch Herr Müller ist besorgt. Er hat gerade ein Haus gebaut und seine drei Kinder gehen noch zur Schule und wollen studieren. Herr Müller arbeitet seit einigen Monaten an der Entwicklung einer neuen chemischen Kleiderfaser, die seiner Firma großen Gewinn bringen würde. Als er die Entwicklung vollständig abgeschlossen hat, merkt er, dass bei der Produktion dieser Faser große Mengen giftige Abfallstoffe entstehen werden. Er berichtet seinem Chef darüber. Sein Chef rechnet ihm vor, dass die gefahrlose Beseitigung des Abfalls den ganzen Gewinn wieder aufzehren würde und die Firma dann bankrott wäre. Der Chef ordnet an, dass der giftige Abfall, wie das schon früher geschehen ist, einfach in den nahen Fluss geleitet wird und Herr Müller darüber absolutes Stillschweigen wahren müsse. Als das neue Produkt der Presse vorgestellt wird, fragt ihn ein Journalist, ob bei der Faserherstellung Abfallprodukte entstehen würden. Nach kurzem Überlegen sagt Herr Müller, nein, es würde überhaupt kein Abfall entstehen. War die Entscheidung von Herrn Müller richtig oder falsch? Quelle: Lind, Georg: Moral ist lehrbar: Handbuch zur Theorie und Praxis moralischer und demokratischer Bildung, a.a.O., S. 142.

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42. Julia: Riskante Hilfe Julia, 18 Jahre alt, hat letztes Jahr an einem Erste-Hilfe-Kurs teilgenommen. Schon bald wird sie Zeuge eines schweren Unfalls, bei dem sie ihr Wissen und Können anwenden muss. Aus dem Nachbargarten hört sie die Hilferufe ihrer Nachbarin. Frau Winter ist eine gelähmt Dame, die auf die Hilfe ihres Enkels Sebastian angewiesen ist. Er kommt regelmäßig, um für sie einzukaufen, sie zum Arzt zu fahren und Haus und Hof in Ordnung zu halten. Doch heute hat er sich beim Schneiden der Hecke mit der Motorsäge schwer verletzt. Als Julia im Nachbargarten ankommt, findet sie Sebastian schon fast bewusstlos mit einer lebensgefährlichen Schlagaderverletzung vor. Sie weiß, dass sie schnell handeln, d. h. die Schlagader abdrücken und einen Druckverband anlegen müsste, um sein Leben zu retten. Es geht um Minuten. Aber sie weiß auch, dass Sebastian AIDS hat. Die Krankheit ist stark ansteckend und verläuft fast immer tödlich. Sie fasst Sebastian daher nicht an, sondern sucht nach Schutzhandschuhen und ruft den Rettungsdienst. Sie findet keine. Als der Rettungsdienst eintrifft, ist Sebastian bereits tot. War das Verhalten von Julia richtig oder falsch? Quelle: Lind, Georg: Moral ist lehrbar: Handbuch zur Theorie und Praxis moralischer und demokratischer Bildung, a.a.O., S. 143.

43. DNA nach Wunsch Heinz und Charlotte Steinkamp (er ist 42, sie 41) haben mit ihrer Speditionsfirma geschäftlich großen Erfolg. Ganz glücklich sind sie aber nicht. Sie leiden unter ihrer Kleinwüchsigkeit (beide sind nur etwa 1,40 m groß) und darunter, dass sie immer noch keine Kinder haben. Wegen der Kinderlosigkeit suchen sie ein Zentrum für extra-uterinäre Befruchtung auf, von dem sie gute Erfolge hörten. Nach eingehenden Untersuchungen wird ihr Fall aussichtsreich beurteilt. Während der Behandlung erklärt ihnen der leitende Arzt, dass sein Team eine Möglichkeit gefunden hätte, die DNA der Eizelle so zu verändern, dass man das Kind auf jede gewünschte Körpergröße später »programmieren« könne. Zwar sei die gesetzliche Grundlage für einen solchen Eingriff noch nicht vorhanden, aber wenn beide Partner als Besitzer der Eizelle und als spätere Eltern die Verantwortung übernehmen und eine entsprechende Erklärung unterschreiben würden, könnte man das in ihrem Fall machen. Sie würden dadurch auch der Wissenschaft helfen. Beide willigen ein und der Arzt führt die DNA-Änderung durch. War die Entscheidung des Arztes Ihrer Meinung nach eher falsch oder eher richtig? Quelle: Lind, Georg: Moral ist lehrbar: Handbuch zur Theorie und Praxis moralischer und demokratischer Bildung, a.a.O., S. 145.

Auswahlbibliographie Dilemmata im Philosophie- und Ethikunterricht Baldus, Verena: 50 Dilemmageschichten für Kinder zum Diskutieren, Schreiben, Weiterspielen, Verlag an der Ruhr, Mülheim an der Ruhr 2009. Blesenkemper, Klaus: »Dilemmadiskussion«, in: Nida-Rümelin, Julian; Spiegel, Irina; Tiedemann, Markus (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik, 2 Bde., Bd. 1: Didaktik und Methodik, UTB 8617, Ferdinand Schöningh, Paderborn 2015, S. 178 – 187. Blesenkemper, Klaus: »Wie soll ich mich entscheiden? Dilemmata diskutieren mithilfe eines Spiels«, in: Lernchancen 17, 2014, Heft 102: Kulturelle Schule, S. 25 – 27. Böhmig, H.-E.; Hoenecke, Ch.; Deeg, H.; Harbrucker, F.; Schaff, M.; Sylvester, Th. (Arbeitsgruppe der Leiterinnen und Leiter Berliner Schulpraktischer Seminare), unter Mitarbeit von Dipl.-Psych. Schuster, P., Max-PlanckInstitut für Bildungsforschung, Berlin: »Moralentwicklung und Moralerziehung nach Lawrence Kohlberg« als Thema in der Lehrerausbildung. Ein Arbeitspapier, auf: https://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/filead min/bbb/zielgruppen/lehramtsanwaerterinnen/kohlberg1.pdf (letzer Stand: 01.09.2018). Breil, Reinhold: »Das 100-Millionen-Dollar-Spiel. Ein spielerischer Zugang zum Gefangenendilemma«, in: Ethik & Unterricht 16, 2005, Heft 3: Altruismus und Eigennutz, S. 29 – 30. Cohen, Martin: 99 moralische Zwickmühlen. Eine unterhaltsame Einführung in die Philosophie des richtigen Handelns, übers. von Seuß, Rita; Wollermann, Thomas, SP 4515, Piper Verlag GmbH, München/Zürich 2005. Dobbelstein-Osthoff, Peter: »Werteerziehung als Förderung von Urteilsfähigkeit«, in: Landesinstitut für Schule und Weiterbildung (Hrsg.): Schule und Werteerziehung. Beiträge zur Gestaltung des Schullebens und Öffnung von Schule, Soester Verlagskontor, Soest 1991, S. 9 – 190. Foot, Philippa: »Moral Dilemmas Revisited«, in: Foot, Philippa: Moral Dilemma and other Topics in Moral Philosophy, Oxford University Press, Oxford/New York 2002, S. 37 – 58, S. 175 – 188. Gowans, Christopher W. (Hrsg.): Moral Dilemmas, Oxford University Press, Oxford/New York 1987. Grassian, Victor: Moral Reasoning: Ethical Theory and Some Contemporary Moral Problems, Prentice Hall, Englewood Cliffs/London 1981. Kopp, Birgitta: Einsatz von Dilemmata zur Wertebildung in Schulen, Ludwig-Maximilians-Universität, München 2017. Kuld, Lothar; Schmid, Bruno: Lernen aus Widersprüchen. Dilemmageschichten im Religionsunterricht, Auer Verlag GmbH, Donauwörth 2001. Lind, Georg: Moral ist lehrbar. Handbuch zur Theorie und Praxis moralischer und demokratischer Bildung, Erziehung – Gesellschaft – Schule, Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 2003. Lind, Georg: »Die Methode der Dilemmadiskussion«, in: Sander, Wolfgang; Igelbrink, Christian; Brüggen, Friedhelm (Hrsg.): UrteilsBildung – eine lösbare pädagogische Herausforderung. Theoretische Grundlagen und praktische Hinweise, Urteils-Bildung, Bd. 2, LIT Verlag, Berlin 2014, S. 302 – 309. Lind, Georg: Ist Moral lehrbar? Ergebnisse der modernen moralpsychologischen Forschung, Logos Verlag, Berlin 42019. Lutter-Link, Christine; Reinhardt, Sibylle: »Export einer Chemiefabrik. SchülerInnen diskutieren eine moralische Frage«, in: Landesinstitut für Schule und Weiterbildung (Hrsg.): Werteerziehung in der Schule – aber wie? Ansätze zur Entwicklung moralisch-demokratischer Urteilsfähigkeit, Verlag für Schule und Weiterbildung, Bönen 21995, S. 114 – 130. Maring, Matthias: »Verantwortungskonflikte und Dilemmata«, in: Ethik & Unterricht 4, 1993, Heft 1: Utilitarismus, S. 31 – 36.

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Auswahlbibliographie

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