Wozu philosophieren? 9783495817636, 9783495489789

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Wozu philosophieren?
 9783495817636, 9783495489789

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Kapitel 1. Der Mensch als Philosoph
Kapitel 2. Die Philosophie und die Wissenschaften
Kapitel 3. Zwei Wege zu sich selbst
Kapitel 4. Der Nihilismus und die Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart
Kapitel 5. Widerlegung des Realismus aus der Mannigfaltigkeitslehre
Kapitel 6. Kritik des naturwissenschaftlichen Weltbildes
Kapitel 7. Konstruktionismus und Konstellationismus als Versuchungen in der Geschichte
Kapitel 8. Subjektive und objektive Tatsachen
Kapitel 9. Wozu philosophieren?
Personenregister
Sachregister

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Hermann Schmitz

Wozu philosophieren?

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495817636

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B

Hermann Schmitz Wozu philosophieren?

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Hermann Schmitz

Wozu philosophieren?

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Hermann Schmitz Why philosophize? Animals get trapped in as well as protected by situations whose internally diffuse meaningfulness leads their vital drive into the future. A human being though faces the future all by himself, and in order to avoid potential dangers as well as to be able to take possible opportunities, one has to systematically get an idea of the future by analyzing his own memory. The present field of study dealing with this art is natural science, which also lights the path of technological advancement. Once nature has been sufficiently domesticated though, an effort to also establish a harmonious relationship with it becomes more urgent. The latter requires that humans consciously reflect on how they are situated within their respective environment. That is philosophy, which, however, is faced with difficulties arising from two different ways in which a human encounters himself. On the one hand, we find the encounter of objective facts whose attribution to a human is only vague and random. Indubitable and necessary though is the other way of self-encounter of a human, which occurs through affective involvement, because when one gets affected by something, he also gets confronted with himself. It is these very subjective facts that Hermann Schmitz distinguishes from the objective ones and further elaborates on them philosophically. In doing so, he shows why idealism (including existential approaches) as well as realism (altogether with its predecessors nominalism, positivism, and constructivism) actually miss their goals.

The Author Hermann Schmitz was born in Leipzig (Germany) in 1928. He achieved his Ph.D. in philosophy in 1955 and afterwards successfully finished his habilitation (German qualification for a teaching career in higher education) in 1958. He taught as a regular professor of philosophy at the German University of Kiel from 1971 to 1993. He is the founder of the philosophical branch called New Phenomenology and author of numerous books and essays.

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Hermann Schmitz Wozu philosophieren? Die Tiere werden durch Situationen gefangen und beschützt, deren binnendiffuse Bedeutsamkeit ihren vitalen Antrieb in die Zukunft führt. Der Mensch steht der Zukunft allein gegenüber und muss sich planmäßig durch Auswertung seiner Erinnerung ein Bild von ihr machen, um Gefahren zu vermeiden und Chancen zu nutzen. Der jetzige Ausbildungsstand dieser Kunst ist die Naturwissenschaft, in deren Licht sich die Technik vorantastet. Wenn die Umwelt auf diese Weise hinlänglich gezähmt ist, wird das Bestreben drängender, sich mit ihr in ein harmonisches Verhältnis zu setzen. Dazu bedarf es der Besinnung des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung. Das ist Philosophie. Sie wird aber kompliziert durch zwei Wege der Bekanntschaft des Menschen mit sich selbst. Einerseits ist es die Bekanntschaft mit den objektiven Tatsachen, deren Zuschreibung an den Menschen unsicher und zufällig ist. Unzweifelhaft und notwendig ist dagegen die Begegnung des Menschen mit sich selbst auf dem anderen Weg, im affektiven Betroffensein, denn er wird gleichsam auf sich gestoßen, wenn ihm etwas nahegeht. Es sind diese subjektiven Tatsachen, die Hermann Schmitz von den objektiven abhebt und philosophisch entfaltet, wobei er zeigt, warum Idealismus – einschließlich existentialistischer Ansätze – und Realismus – mit seinen Fortsetzungen Nominalismus, Positivismus, Konstruktivismus – ihre Ziele verfehlen.

Der Autor Hermann Schmitz, geb. 1928 in Leipzig, promoviert 1955, habilitiert für Philosophie 1958; 1971 bis 1993 ordentlicher Professor für Philosophie an der Universität Kiel. Begründer der Neuen Phänomenologie. Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze. Zuletzt im Verlag Karl Alber erschienen sind: Phänomenologie der Zeit (2014), Gibt es die Welt? (2014), Atmosphären (2014), selbst sein (2015), Ausgrabungen zum wirklichen Leben (2016), Epigenese der Person (2017).

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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: Pantheon, Rom, © ksenija1803z / Fotolia Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48978-9 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81763-6

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Inhalt

Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Kapitel 1 Der Mensch als Philosoph . . . . . . . . . . . .

25

Kapitel 2 Die Philosophie und die Wissenschaften . . . .

47

Kapitel 3 Zwei Wege zu sich selbst . . . . . . . . . . . .

61

Kapitel 4 Der Nihilismus und die Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart . . . . . . . . . . .

77

Kapitel 5 Widerlegung des Realismus aus der Mannigfaltigkeitslehre . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

Kapitel 6 Kritik des naturwissenschaftlichen Weltbildes . 103 Kapitel 7 Konstruktionismus und Konstellationismus als Versuchungen in der Geschichte . . . . . . . . . . . 113 Kapitel 8 Subjektive und objektive Tatsachen . . . . . . . 127 Kapitel 9 Wozu philosophieren? . . . . . . . . . . . . . . 147 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Sachregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158

7 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Vorwort

Dieses Buch ist unter anderen Umständen als meine früheren Bücher entstanden. Ich war seit Jahrzehnten gewohnt, den Text meiner Bücher mit der Hand zu schreiben und das Resultat zur Übertragung auf eine Maschine anderen zu überlassen. Das ist mir unmöglich geworden durch eine Augenkrankheit, die mich am scharfen Sehen und damit am Lesen und Schreiben verhindert. Die Kapitel dieses Buches habe ich unabhängig voneinander diktiert, so dass gewisse Wiederholungen unvermeidlich waren. Bestimmte Gedankenschritte und Beispiele gehören in verschiedene Zusammenhänge oder haben sogar leitmotivischen Charakter, weshalb ich darauf verzichtet habe, die Wiederholungen durch Verweise auf frühere Stellen zu ersetzen. Ich stehe jetzt im 90. Lebensjahr. Es wäre durchaus ehrenhaft und verständlich, diese literarische Produktion, jedenfalls sofern sie in Büchern besteht, aufzugeben, doch bin ich dazu noch nicht endgültig entschlossen, obwohl ich im Augenblick keine weitere Aufgabe dafür sehe. Wenn aber dieses Buch mein letztes sein sollte, so wollte ich es nicht abschließen, ohne auf das Thema zurückzukommen, mit dem ich auch schon meine philosophische Arbeit am System der Philosophie vor 60 Jahren begonnen habe: die Frage »Was ist Philosophie? Wozu philosophieren wir?«. Die Frage habe ich jetzt noch etwas ausführlicher als Thema eines Buches beantwortet. Ohne die Hilfe befreundeter Menschen wäre dies Buch nicht zustande gekommen. An erster Stelle danke ich Herrn Andreas Kuhlmann, der mir durch unermüdliche treue 9 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Vorwort

Hilfsbereitschaft mit feinfühligem und freundlichem Entgegenkommen und Geschick die Last der Leiden meines Alters sehr erleichtert hat. Zu diesem Leiden gehört besonders meine Augenkrankheit, die seine Hilfe bei der Abfassung des Buches erforderlich machte. Wir haben den Stil in Gesprächen geglättet und Andreas Kuhlmann hat die Änderungen elektronisch in den Text eingegeben und überdies in selbständiger Arbeit die Register angefertigt. Er hat mir bei der Abfassung jede erdenkliche Hilfe geleistet. Ohne diese Hilfe wäre es nicht vorstellbar, dass ich in wenigen Monaten den Text zustande gebracht hätte. Auch danke ich besonders Frau Angelika Bernhard für ihre schon längst bewährte Verbindung von Freundlichkeit, Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit bei Bewältigung der schwierigen Aufgabe, den gesprochenen Text in ein Schriftbild zu übertragen. Ferner danke ich dem Verlag Karl Alber, und besonders seinem Leiter, Herrn Lukas Trabert, für anhaltend gute Zusammenarbeit. Hermann Schmitz

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Einleitung

Der Mensch entgeht der Gefangenschaft und damit auch dem Schutz durch die Situationen, die die Tiere mit Hilfe von Programmen und Protentionen, das heißt unwillkürlichen Vorwegnahmen, in die Zukunft führen, indem sie ihren vitalen Antrieb an sich binden. Stattdessen muss der Mensch nun als der erste Freigelassene der Schöpfung, wie Herder sagte, sich selbst in der Zukunft zurechtfinden und durch bewusste Vorwegnahme nach begründeten Prinzipien die Orientierung vor den Potentialitäten suchen, die die Zukunft ihm als Gefahren und als Aussichten auf eigene Nutzung zu bieten hat. Diese planmäßige Orientierung in der Zukunft ist der Anfang der Naturwissenschaft. Er wird zur Naturwissenschaft später hochstilisiert. Naturwissenschaft ist die Fähigkeit der schematischen Vorhersage aufgrund von bereits gemachten Erfahrungen und damit die Grundlage auch für die Technik, die nun diese Vorhersage benützt, um sich voranzutasten zum Zweck der Beherrschung und Nutzung der Natur und der gesamten Umwelt. Auf der anderen Seite, neben dieser offensiven und defensiven Durchsetzungsmethode, die sich in der Naturwissenschaft und der Technik offenbart, ist der Mensch darauf angewiesen, in der Welt, in der er sich einigermaßen zurechtgefunden hat, so dass er nicht ständig auf der Hut zu sein braucht, in dieser Welt sich einzurichten und mit ihr in harmonischer Weise auszukommen. Zu diesem Zweck aber muss er sich von sich selbst Rechenschaft geben, und zwar nicht nur von sich selbst, sondern von seiner Stellung zu seiner Umgebung, um nun dieser gerecht zu werden und dafür zu sorgen, dass sie mehr oder weniger ihm und 11 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Einleitung

seinen Ansprüchen gerecht wird, so dass ein Ausgleich stattfindet. Zu dieser Besinnung auf sich selbst in seinem Verhältnis zur Umgebung benötigt nun der Mensch die Philosophie. Deswegen habe ich definiert: Philosophie ist das Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung. Dieses Sichfinden wird aber dadurch kompliziert, dass der Mensch auf zwei ganz verschiedene Weisen mit sich bekannt gemacht wird. Die eine Weise ist reichhaltig, aber zufällig und unzuverlässig. Die andere Weise ist sehr viel karger, dafür aber notwendig und zuverlässig. Die erste Weise besteht in den Informationen, die der Mensch über sich selbst einholen kann, und zwar in einer objektiven oder neutralen Sprache, bezüglich auf objektive und neutrale Tatsachen; das sind solche, die jeder aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann. Diese Tatsachen können etwa zusammengestellt werden zur Lebensgeschichte des Menschen. Er besitzt sie als Nachrichten über sich, weil er alle diese Nachrichten beziehen kann auf ein ursprünglicheres Wissen, das er bereits aus anderer Quelle hat, das aber gewissermaßen nur als Nachhall ihm zur Verfügung steht und notwendig ist, um die Nachrichten, die er über seine Lebensgeschichte empfängt, auf sich selbst zu beziehen und damit umzugehen. Diese Quelle der Information ist zwar sehr reichhaltig, aber deswegen unzuverlässig und zufällig, weil alles das, was dem Menschen auf diese Weise zugesprochen wird, ebenso gut einem anderen passieren könnte, und das gilt sogar für den Inbegriff alles dessen, was der Mensch als sein Leben versteht; auch dies könnte das Leben eines anderen sein. Das sieht man daran, dass es zwar aussichtslos, aber keineswegs sinnlos ist, wenn ein Mensch sich aus seinem vermeintlich elenden Leben in ein anderes hinübersehnt, in dem er zum Beispiel schöner, reicher, klüger oder in weiterer Weise begabter wäre, so dass er es im Leben leichter hätte. Das ist eine ganz natürliche Einstellung. Diese Einstellung wäre ab12 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Einleitung

surd, wenn die Tatsachen, die das Leben des Menschen bilden, so zu ihm gehörten, dass er nicht auch von ihnen loskommen kann und ein ganz anderes Leben führen könnte, ohne dass sich ein Widerspruch ergäbe. Denn es wäre natürlich ganz unmöglich, dass der Mensch einerseits dieses Leben hätte und andererseits das Leben, das er sich ersehnt; das wäre ja ein logischer Widerspruch. Der Mensch hat also immerhin so viel Abstand von sich selbst und seinem Leben, sofern dieses Leben ihm durch Darstellung objektiver Tatsachen mitgeteilt werden kann, dass er sich auch da herausnehmen und in ein anderes Leben hineinträumen kann, ohne dass sich ein Widerspruch ergibt. Insofern ist das eigene Leben dem Menschen gewissermaßen locker aufgehängt als etwas, das ihm zwar zukommt, aber nicht in der Weise, dass er aus diesem Leben nun gebildet wäre, so dass er mit diesem Leben sich selbst abstreifen würde. Er selbst steht in gewisser Weise über diesem Leben. Die andere Quelle der Information, zwar karger, aber wesentlich zuverlässiger, ist das affektive Betroffensein, das Betroffensein von etwas, was dem Menschen nahegeht und ihn mitnimmt, so dass er nicht umhin kann, sich damit auseinanderzusetzen und bei dieser Gelegenheit sich selbst zu spüren. Man kann nicht von etwas betroffen werden, ohne sich als den, den eben dieses trifft, gleichfalls mit zu spüren, wenn auch vielleicht ohne jede Reflexion, ohne jede Besinnung auf sich. Das affektive Betroffensein hat aber nicht nur diese Eigenschaft, im Gegensatz zu allen Nachrichten, die er empfängt, den Menschen unvermeintlich auf sich selbst aufmerksam zu machen; sondern es lässt sich auch ein präzises Merkmal angeben, wodurch alle Tatsachen des affektiven Betroffenseins sich von allen anderen Tatsachen unterscheiden, und das besteht darin, dass nur der Betroffene, der affektiv Betroffene selbst die Möglichkeit hat, diese Tatsache seines affektiven Betroffenseins im eigenen Namen auszusagen. Das zeige ich folgendermaßen: Es gibt viele Beschrei13 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Einleitung

bungen von Tatsachen, die nicht jeder andere jedem Menschen nachsprechen kann, wenn er etwas Wahres sagen will. Ein Beispiel bietet der Philosoph Thomas Nagel mit dem Satz »Ich heiße Thomas Nagel.« Das kann nur derjenige in Wahrheit dem Thomas Nagel nachsprechen, der zufällig ebenso heißt. Man kann aber ganz leicht die Tatsache, die Thomas Nagel mitteilt, in eine Form bringen, in der jeder in dieser Lage ist, sie in der Weise einer objektiven und neutralen Tatsache nachzusprechen. Man kann etwa sagen, wenn Thomas Nagel in einer affektiv neutralen Situation sich einer Behörde vorstellt, dann braucht er nicht zu sagen: »Ich bin Thomas Nagel«, sondern es ist etwa gleichsinnig, wenn er sagt: »Der Mann, der hier vor Ihnen steht, ist Thomas Nagel.« Das ist ein Satz, den jeder nachsprechen kann. Der Sachverhalt selbst zwingt nicht zu einer Formulierung, die höchstens einer aussprechen könnte, wenn auch alle anderen in der Lage sind, mit Hilfe von Kennzeichnungen über diese Tatsache zu sprechen, und das ist der Fall bei allen Tatsachen des affektiven Betroffenseins, wie ich folgendermaßen zeige. Wenn man eine Tatsache des affektiven Betroffenseins, eine einfache Tatsache wie »Ich bin fröhlich« oder »Ich bin traurig«, wenn jemand solche Tatsachen ausspricht, dann muss er von sich selbst sprechen. Das kann nur er, denn kein anderer ist er selbst. Wenn man jetzt entsprechend einen solchen Sachverhalt umformt wie zum Beispiel »Hermann Schmitz ist traurig«, »Hermann Schmitz ist fröhlich«, dann kommt etwas anderes heraus, wie man ganz deutlich einsieht, wenn man einen schärferen, besonders ausgeprägten Fall heranzieht, in dem das affektive Betroffensein drastisch hervortritt. Ich benütze als Beispiel gerne eine Erzählung, die ich frei nach Dürrenmatt 1 so zurechtmache: Ein schmächtiger Bewunderer Vgl. Friedrich Dürrenmatt, Abendstunde im Spätherbst: ein Hörspiel, Zürich 1959

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Einleitung

eines herkulisch gebauten Dichters hört von diesem die Mitteilung, dass der Dichter beabsichtigt, einen lebenden Menschen zum Fenster herauszustürzen, um die Reaktion des Geängstigten in Todesangst zu erforschen. Der Bewunderer hört sich dies mit behaglichem, aber immer noch bewunderndem Grausen an, bis er an der allmählich immer genaueren Schilderung der zu stürzenden Person durch den Dichter heraushört, dass er selbst, der Besucher, es ist, der gestürzt werden soll. In diesem Augenblick verändert sich seine Reaktion vollständig und ebenso sein Befinden. Er ist nicht mehr von gelassener Bewunderung erfüllt, sondern ist panisch und wild, der Mann versucht sich zu retten und was weiß ich, wie er zum Ausdruck bringt, dass er nun überwältigt ist. Es hat ihn etwas ganz anderes mit ganz anderem Gewicht getroffen. Man kann nun sagen, das läge einfach daran, dass jeder sich selbst der Nächste ist, er merkt also, dass er es selber ist. Aber darum handelt es sich nicht. Jeder ist sich selbst der Nächste, wenn er ein wenig hartherzig reagiert, zum Beispiel einem Bekannten, dem er etwas geliehen hat und der das eigentlich immer noch braucht, das Geliehene ohne Not auf Heller und Pfennig wieder abfordert. Damit zeigt er, dass er sich selbst der Nächste ist, er handelt also aus Egoismus. Aber deswegen ist der Mann keineswegs in solchem Sinne affektiv betroffen wie der Besucher des Dichters, sondern er kann in affektiv ganz ruhiger Weise reagieren. Vielmehr handelt es sich um diese neue Tatsache, die bei affektivem Betroffensein hervortritt, um etwas, was auf den Menschen zukommt, dem er passiv ausgesetzt ist, das ihn trifft, das er aber gleichzeitig auch auffängt mit einer mehr oder weniger unterschwelligen Aktivität, indem er sich der Herausforderung stellt und sie in der einen oder anderen Weise mit einer gewissen Gesinnung, zum Beispiel verzweifelt oder ärgerlich oder resigniert oder wie auch immer er diese Tatsache aufnimmt, begrüßt oder aber ablehnt und jedenfalls mit ihr um15 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Einleitung

geht. Das ist die Reaktion des affektiven Betroffenseins auf die ursprünglich passive Begegnung mit dem, was dem Menschen zuteil wird. Sie findet ebenso auch in allen anderen Fällen statt, in denen es sich nicht um ein so großes Unglück wie in dem bevorstehenden Verlust seines Lebens handelt, sondern um irgendein Glück. Hier handelt es sich nicht um das große Interesse an sich selbst, das auch ohne besonderes affektives Betroffensein möglich wäre, sondern um das wirkliche Betroffen- oder Getroffensein von etwas, das dem Menschen nahegeht. Dieses Betroffensein ist eine Tatsache, die nur der Mensch selbst von sich aus darstellen kann, und zwar in Satzform, denn wenn er davon abzieht, dass er es selber ist, der so getroffen wird, dann kommt nur eine neutrale Tatsache heraus, wie im Falle des Besuchers des Dichters die Tatsache, dass irgend jemand zum Fenster herausgestürzt werden soll, was kein besonders intensives affektives Betroffensein auslöst, wenn auch ein gewisses affektives Betroffensein, das aber noch neutral ist, in Gestalt einer immerhin etwas leicht schaudernden Bewunderung. Dies zeigt, dass es sich um eine andere Tatsache handelt, nicht bloß um eine andere Einstellung, etwa eines besonderen Interesses an sich selbst, sondern um eine andere Tatsache, die erst bei diesem Getroffenwerden zustande kommt, so dass man die Tatsachen des affektiven Betroffenseins sämtlich durch diese Eigenschaft auszeichnen kann: es kann immer nur einer sie von sich selbst aussagen, obwohl die anderen in der Lage sind, mit Hilfe von Kennzeichnungen auch darüber zu sprechen, aber aussagen, die Tatsache als solche durch eine wahre Behauptung konstatieren, das können sie nicht. Natürlich können sie das sagen, aber dann ist das nicht richtig; es wird immer nur der Betroffene selbst gemeint, der diese besondere, ihn so intensiv beschäftigende Tatsache von sich selbst aussagen kann. Dass es sich hier aber nicht nur um eine Spezialität des philosophischen Grübelns handelt, diese besonde16 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Einleitung

re Auszeichnung der Tatsachen des affektiven Betroffenseins, sondern dass sie auch im Alltag jedermann vertraut ist, das zeigt ein Beispiel einer missglückten Liebeserklärung, für die ich eine fiktive Figur namens Peter Schulze bemühe. Es spielt sich bei dieser Liebeserklärung folgender Dialog ab: Mann: »Peter Schulze liebt dich.« Frau: »Warum sagst du nicht: ›Ich liebe dich‹ ?« Mann: »Das ist doch ganz überflüssig.« Frau: »Das ist gar nicht überflüssig. Gerade darauf kommt es mir an!« Die Frau ist verstimmt, die Liebeserklärung missglückt. Was ist schiefgegangen? Peter Schulze hat ganz recht, wenn er meint, dass zur Identifizierung der die Frau liebenden Person die Angabe genügt, dass es sich um Peter Schulze handelt. Aber er übersieht, dass die Frau etwas anderes hören will, nämlich eine Tatsache, die nur der von Liebe zu ihr Ergriffene selbst sagen kann, während alle anderen Menschen nur darüber sprechen können, aber nicht diese Tatsache selbst in Satzform ausdrücken können. Da nun die Reaktion dieser Frau ganz normal ist, zeigt sich, dass schon im ganz gewöhnlichen Umgang es für selbstverständlich gehalten wird, dass es solche subjektiven Tatsachen gibt, die höchstens einer aus eigener Betroffenheit im eigenen Namen aussagen kann. Der Unterschied zwischen den subjektiven und den objektiven oder neutralen Tatsachen hat eine hohe ontologische Bedeutung. Sie besteht darin, dass man von keiner der beiden Seiten zur anderen eine Brücke schlagen kann, mit der diese Seite über sich hinausginge und die andere erreichte, zum Beispiel durch eine kausale Wirksamkeit der objektiven Seite für die subjektive. Dass dies unmöglich ist, ergibt sich aus der Übereinstimmung beider Seiten. Im Inhalt sind sie nämlich völlig gleich. Ich bin tatsächlich Hermann Schmitz. Die objektiven Tatsachen, die denen seiner Subjektivität entledigten Hermann Schmitz betreffen, stimmen völlig überein mit meinen subjektiven Tatsachen, wie ich sie mehr oder weniger erlebe. Daher kommt man nie von einer Seite zur anderen, 17 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Einleitung

sondern es bleibt der Sprung in der Tatsächlichkeit, der bei aller Übereinstimmung des Inhalts die Bereiche auseinanderhält. Der Grund dafür besteht darin, dass es lediglich eine ganz besondere Tatsächlichkeit ist, wodurch die subjektiven Tatsachen über die objektiven hinausgehen. Worin dieses Milieu der Tatsächlichkeit besteht, das kann man ungefähr ablesen an einer Bemerkung, die in Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre Wilhelm in einem Brief an seine Frau Natalie macht, nachdem er ihr von einem Jugenderlebnis erzählt hat. Er hat zuerst am Arm eines schönen und sympathischen Mädchens einen Garten durchwandert und hat sich dann gefreut, seinem frisch gewonnenen Freund von diesem Erlebnis erzählen zu können, was leider durch ein dazwischen getretenes Unglück schließlich vereitelt wurde. Wilhelm setzt diesen Brief mit folgender Reflexion fort: »Und wenn ich hier noch eine Betrachtung anknüpfe, so darf ich wohl bekennen: daß im Laufe des Lebens mir jenes erste Aufblühen der Außenwelt als die eigentliche Originalnatur vorkam, gegen die alles übrige, was uns nachher zu den Sinnen kommt, nur Kopien zu sein scheinen, die bei aller Annäherung an jenes doch des eigentlich ursprünglichen Geistes und Sinnes ermangeln.« 2 Die Welt, die der erwachsene Mensch schließlich kennenlernt nach dem Ende der Jugendzeit, ist dieser ursprünglichen Subjektivität beraubt, mit der der junge Mensch in die Natur, in die Außenwelt hineintrat und ihre Intensität und ihre Tatsächlichkeit erlebte, die er später abgearbeitet hat durch Ernüchterung und Kritik, die allerdings zum Erwachsenwerden höchst notwendig, aber zugleich ein Verlust sind, der übersehen wird, wenn man ihn sich nicht deutlich vor Augen hält. Worin besteht nun aber der Unterschied zwischen dieJohann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre, Hamburger Ausgabe, München 1982, S. 273 f.

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Einleitung

sen beiden grundsätzlich getrennten, auch kausal getrennten Bereichen des wirklichen, ursprünglichen Lebens? Was bleibt übrig nach der Ernüchterung im Blick von außen? Lukrez verdeutlicht sich das in seinem Epos De rerum natura, indem er den epikureischen Philosophen einem Besucher am Strand vergleicht, der auf das tobende Meer hinausschaut und als ästhetisches Schauspiel genießt, was den Schiffern, die dort vom Sturm erfasst sind, auf das Äußerste zu schaffen macht. So ungefähr verhält sich die ernüchterte, die abgeblasste Natur aus der Perspektive eines Beobachters wie Wittgensteins, wenn er die Welt schildert, wie er sie wahrgenommen hat, und das in ein Buch des bloßen Beobachters einträgt. Er findet darin alle möglichen Inhalte, aber nicht mehr sich selbst. Das ist gar nicht erstaunlich; dass es obendrein ihn selbst, und zwar für sich selbst gibt, ist ein Zuwachs an Realität, der wieder abgearbeitet wird, wenn man die bloße Beobachterperspektive einnimmt. Man steht dann vor einer paradoxen Situation der Selbstverdoppelung. Einerseits findet man sich als den Beobachter am Strand, der bloß nüchtern wahrnimmt, was er an objektiven Tatsachen festzustellen glaubt, die jeder in Satzform darstellen kann, wenn er genug weiß und gut genug sprechen kann, und zwar mit Recht dann als eigene Behauptung darstellen kann. Das ist die eine Seite, und die andere Seite ist diejenige der subjektiven Tatsachen, die die volle Subjektivität enthält. Wenn man das aber abgearbeitet hat, dann sieht man sich als bloßen Beobachter am Strand mit einem »View from Nowhere«, wie der amerikanische Philosoph Thomas Nagel sich ausdrückt. 3 Das ist dasselbe wie Wittgensteins metaphysisches Subjekt, Kants transzendentales Subjekt. Dieses Subjekt schaut bloß zu und sieht gleichzeitig sich selbst in der Erscheinungswelt, mit aller Leidenschaft einbegriffen in das wirkliche Geschehen. 3

Thomas Nagel, The View from Nowhere, New York 1986.

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Einleitung

Das ist besonders paradox, wenn man, wie etwa Kant, dieses wirkliche Geschehen einer bloßen Erscheinung zuschreibt, während das ziemlich gespensterhafte transzendentale Subjekt, das sich lediglich herabbeugt auf das objektive Selbst, nun zum Ding an sich erklärt wird. Das ist eine Besonderheit der Kantischen Philosophie, während diese Ich-Spreizung ein Paradox ist, das immer zum Vorschein kommt, wenn man die Perspektive des bloßen Beobachters zur überlegenen und absoluten erhebt und die Perspektive des Betroffenen in die Welt der objektiven Tatsachen hineinschiebt, indem man dafür eine besondere Provinz erfindet, nämlich das Seelenleben, neben dem Leben des Körpers, worin das affektive Betroffensein unterkommt. Tatsächlich handelt es sich nicht darum, dass zwei Personen oder zwei Teilpersonen ein beobachtendes metaphysisches Subjekt von außen und ein beobachtetes leidenschaftliches Subjekt im Inneren des Bildes sich sowohl unterscheiden als auch irgendwie zusammenfallen. Es sind vielmehr zwei Schichten der Tatsächlichkeit, wobei der unteren Schicht die volle Lebendigkeit und Wirklichkeit (die eigentliche Originalnatur, wie Wilhelm Meister sagt) noch fehlt. Das ist die Perspektive, auf die man sich zurückzieht, wenn man bloß noch nüchtern und kritisch, gewissermaßen von außen die Dinge betrachtet. Die andere Perspektive ist die der subjektiven Tatsächlichkeit, in der man gewissermaßen mitten im Leben, in der Wirklichkeit steht, von der Wirklichkeit getroffen und heimgesucht wird, indem sie dem Subjekt im affektiven Betroffensein nahegeht. Dieser Unterscheid wird verkannt, indem man sich in der bloßen Perspektive erhaben fühlt über das Darinsein in der Welt der subjektiven Tatsachen, die die objektiven in sich schließen, aber nur als Rest, als Abziehbilder nach Abziehen der Subjektivität. Mit dieser Reflexion komme ich nun auf das gegenwärtige Thema zurück, nämlich die Sonderstellung der Philo20 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Einleitung

sophie als Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung im Verhältnis zu den partiellen Einzelwissenschaften; zu den Einzelwissenschaften, die von vornherein nur die Perspektive der objektiven Registrierung und Bearbeitung eines Materials einnehmen, wie sie dem erwachsenen Leben nach der Abarbeitung der eigentlichen Originalnatur im Sinne von Wilhelm Meister gemäß sind. Die Philosophie kann sich auf diese Einzelwissenschaften nicht verlassen, weil sie das Sichfinden des Menschen in seiner Umgebung in seiner ganzen ursprünglichen Fülle betrachten muss, in der Fülle der Wirklichkeit, in der ein Mensch es tatsächlich erlebt. Dazu gehört eben die Subjektivität, die dem Schattenbild der bloß noch objektiven Tatsachen erst die Farbe gibt und das Gewicht der vollen Wirklichkeit. Darauf kann die Philosophie nicht verzichten, wenn sie das Sichfinden des Menschen in seiner Umgebung untersucht, so dass sie sich nicht damit begnügen kann, bei den sogenannten positiven Wissenschaften Anleihen zu machen, obwohl sie diese Wissenschaften wichtig nehmen wird. Diese Spreizung zwischen der Subjektivität und der Objektivität, die zunächst eine Sache der Tatsachen ist, ist aber ebenso eine Sache der Betrachtungsweise, weil es sich um ganz verschiedene Möglichkeiten des Redens und Sprechens handelt. Dieser Unterschied zwischen Subjektivität und Objektivität hat in der Geschichte der Philosophie eine gewaltige Rolle gespielt, und darauf gehe ich im Folgenden in diesem Buch ein, nachdem ich zunächst grundsätzlich die Aufgabe der Philosophie beschrieben und von der Aufgabe der Einzelwissenschaften abgegrenzt habe. Es handelt sich darum, dass unmittelbar nach Kant, und zwar beginnend mit dem Philosophieren Fichtes, diese Problematik der Subjektivität aufgetreten ist. Fichte entdeckte im Grundsatz die Subjektivität der für jemand subjektiven Tatsachen. Aber er verkannte sie, weil er alle Tatsachen automatisch als objektive Tatsachen missverstand 21 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Einleitung

und das Ich, bei dem es sich nach seiner Meinung um subjektive Tatsachen handelt, von allen Tatsachen als vermeintlich bloß objektiven Tatsachen abrückte, und zwar zunächst indem er dieses Ich in eine erhabene absolute Einsamkeit des bloßen Sichsetzens zurückzog. Indem das isolierte Ich sich als unmöglich und lebensfremd herausstellte, ersetzte Fichte die Isolierung durch das Schweben der Einbildungskraft und den transzendentalen Zirkel des Schwebens zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit; das haben dann die Romantiker und die Existenzphilosophen benützt. Die eine Reaktion ist die der Existenzphilosophen. Kierkegaard fasst sie zusammen in einer Charakteristik der Angst nach Art eines Höhenschwindels, mit der der Mensch niederschaut in die Tiefe der Möglichkeiten unter ihm, alles dessen, was er sein kann und sein könnte. In diesem Schwindel sinkt die Freiheit zusammen, und der Mensch greift nach der Endlichkeit, um sich an irgend etwas halten zu können. Diesem Schicksal sind übrigens die großen Apologeten dieser existenzphilosophisch verstandenen entfremdeten Subjektivität verfallen; ich nenne insbesondere Kierkegaard, Friedrich Schlegel, Heidegger und Sartre. Kierkegaard verfiel einem engen christlichen Glauben, Schlegel dem Katholizismus, Heidegger der Vorstellung vom Menschen als Hirten des Seins und Sartre dem Kommunismus. Alles das sind Formen der Endlichkeit im Sinne dieser Charakteristik der Angst durch Kierkegaard. Die Existenzphilosophie hat das Interesse an Subjektivität wachgehalten, aber eben nur an einer entfremdeten Subjektivität, die in irgendeinem Schweben befangen ist, das eine auf die Dauer schwer erträgliche Unsicherheit bewerkstelligt. Die andere Perspektive, die noch viel mächtiger ist, ist diejenige der romantischen Ironie. Friedrich Schlegel hat dieses Schweben der Einbildungskraft nach Fichte umstilisiert zu einer Virtuosität des Schwebens über allen Standpunkten, so dass man sich über jeden Standpunkt erheben und zugleich eben 22 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Einleitung

deswegen auch auf jeden zurückversetzen kann. Diese Ironie hat man später Coolness genannt, sie ist praktisch über die ganze Welt verbreitet worden und hat zu der Vergiftung, eines gewissen Rückgradschwundes des Eigenwillens und des eigenen Bekenntnisses in einem ironistischen Zeitalter geführt, in dem der Mensch glaubt, er könnte sich über alles stellen und alles bemeistern, indem er sich bald auf diesen, bald auf jenen Standpunkt stellt. Dazu kommt noch als dritte Reaktion die völlige Verleugnung der Subjektivität, die eigentlich auch erst nach Fichte losgeht mit dem Positivismus, der die Subjektivität dann schließlich völlig leugnet, bei Autoren wie Avenarius, Mach und Wittgenstein und ebenso dann bei Carnap. Es fängt bei Lichtenberg an, gleichzeitig mit Fichte, und das wuchert sich weiter durch den gesamten Positivismus und die Subjektfeindlichkeit etwa der analytischen Philosophie. Diese Bewegung hat ihre Wurzel in der Verleugnung des Subjektiven, die schon sehr viel älter ist, in einem naiven Objektivismus. Mit diesen beiden Flügeln der Reaktion auf Fichte, nämlich einerseits dem existentialistischen Schweben in Angst und andererseits dem positivistisch-realistischen Zutrauen auf die Welt, in der das Subjektive mehr oder weniger untergeht, mit diesen beiden Perspektiven beschäftige ich mich im folgenden Teil des Buches, und zwar zunächst mit der existentialistischen Perspektive, mit dem Schweben in Angst. Dies wurde im Grundsatz theoretisch bereits aufgelöst durch die Entdeckung und angemessene Berücksichtigung der subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins. Die Welt besteht nicht eigentlich aus objektiven Tatsachen, sondern was dann an objektiven Tatsachen übrig bleibt, das sind nur Abziehbilder der vollen Realität. Wenn man das vernachlässigt, dann bleibt immer noch die Problematik des Befangenseins in der Coolness des ironistischen Zeitalters. Wie soll man damit umgehen, denn das ist letzten Endes ein Gift, obwohl es natürlich gut ist, 23 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Einleitung

wenn der Mensch so locker ist, sich nicht fanatisch auf irgendeinen Standpunkt einzulassen. Aber er sollte nicht den Rückhalt des festen eigenen Willens und des Bekenntnisses für etwas, für das er auch sterben kann, preisgeben. Deswegen ist es nicht nur wichtig, den Irrtum Fichtes und seiner Nachfolger theoretisch zu widerlegen, sondern auch praktisch einen Weg zu weisen. Als solchen habe ich angegeben die Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart.

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Kapitel 1 Der Mensch als Philosoph

Was ist Philosophie? Ich habe seit 1964 häufig geantwortet: Philosophie ist die Besinnung des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung. In diesem ganz allgemeinen Sinne ist Philosophie dem Menschen wesentlich. Das ergibt sich sehr leicht, wenn man ihn als Person mit seiner Herkunft aus dem Kind und mit den Tieren vergleicht. Tiere und Säuglinge sind in Situationen gefangen. Ihr gesamtes Bestreben wird geleitet von dem Programmanteil der Situationen, den ich den Nomos der Situation nenne. Sie bedürfen dafür keiner Besinnung, sondern ihr vitaler Antrieb ist ohne weiteres an diesen Bestandteil der Situation geheftet. Der Mensch vermag es, sich aus dem Diktat der Situationen zu befreien, sich gewissermaßen über sie zu stellen, ohne aber die Situationen zu verlassen, aus denen er vielmehr weiterhin schöpfen muss. Immerhin ist er jetzt nicht mehr automatisch geführt, sondern er muss sich selbst in der Welt zurechtfinden, und dazu bedarf er natürlich auch der Besinnung auf sein Sichfinden in seiner Umgebung. So weit ist das ohne weiteres verständlich, aber die Ausdrücke sind noch zu allgemein und zu wenig präzisiert, um deutlich zu machen, worum es sich eigentlich handelt. Deswegen muss ich zunächst einmal darauf eingehen, wie die vorpersonale Situation des Menschen und des Tieres sich verhält zu der des Menschen, der sich besinnt, und zweitens, in welcher Weise der Mensch dann darüber hinaussteigt. Nun zum Ersten. Eine Situation im allgemeinen ist ein Ganzes, das heißt nach außen abgehoben und in sich zusammenhängend, das so zusammengehalten wird durch 25 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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eine binnendiffuse Bedeutsamkeit, die aus Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme oder Probleme sind, besteht. Ein Sachverhalt, dass etwas ist, ein Programm, dass etwas sein soll oder sein möge, ein Problem, ob etwas ist. Statt des Singulars »ist« kann man natürlich auch die Negation und die anderen Modi des Verbums einsetzen. Die Situation ist binnendiffus, weil nicht alle Elemente in ihr einzeln sind, sehr oft sogar gar nichts in ihr einzeln ist, das gilt besonders für die Bedeutungen in der Bedeutsamkeit der Situation. Einzeln ist, was eine Anzahl um eins vermehrt. Aber ich will darauf erst nachher in abstracto eingehen und jetzt vielmehr verdeutlichen, was ich meine, am Beispiel des Säuglings, der in einer solchen Situation befangen ist, die geladen ist und die zusammengehalten wird durch Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme und Probleme sind. Als Sachverhalt schwebt ihm vor etwa sein Nassliegen oder sein Hungrigsein. Als Problem schwebt ihm vor die Schwierigkeit, die für ihn damit verbunden ist und als Programm das energische Bedürfnis, sich aus dieser Schwierigkeit zu befreien, wovon sein Schreien um Hilfe Zeugnis gibt. All diese Bedeutungen, die in der Situation für den Säugling selbst enthalten sind, sind nicht einzeln. Der Säugling kann ja nicht sagen, ich liege nass oder dergleichen, ich verlange Hilfe. Der Säugling kann weder ein solches Programm noch ein solches Problem oder einen solchen Sachverhalt isolieren. Diese Bedeutungen sind vielmehr in die Situation versenkt, wie wenn Salz im Wasser gelöst wird, sie sind gewissermaßen gelöst in der Situation, aber sie sind wirksam. Ein weiterer Schritt ergibt sich erst dann, wenn die Sprache hinzukommt, die Möglichkeit gewissermaßen, Sachverhalte, Programme und Probleme aufzuspießen durch sprachlichen Hinweis auf sie. Anders als sprachlich lässt sich kein Sachverhalt, kein Programm, kein Problem isolieren. Es bleibt immer vieldeutig, was man meint, wenn man das nicht sagt, z. B. durch einen Wunsch26 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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satz, einen Fragesatz, einen Aussagesatz, jedenfalls in satzförmiger Rede. Andernfalls bleibt das Einzelne in der Situation von den Bedeutungen her unfassbar. Dies ganz allgemein ist die Situation, von der der Mensch ausgeht wie das Tier, und diese Bedeutungen, wenn sie auch nicht einzeln sind, bestimmen ganz deutlich das Verhalten des Menschen, sie geben der gesamten Situation das Gesicht, auch wenn sie nicht einzeln herausgegriffen werden können. Damit erübrigt sich auch die Besinnung auf sie. Anders ist es beim Menschen. Der Mensch steigt über die Situation hinaus. Und wie geht das? Es gelingt mit Hilfe der Sprache, deren fundamentale Funktion die Vereinzelung ist. Die Sprache ist nur nebenbei ein Instrument der Mitteilung. Mitteilung geschieht durch Rede. Rede gibt es auch bei den Tieren, wenn auch in anderer Weise, ohne Sprache. Sprache tritt erst auf, wenn sie eine Anleitung dafür gibt, aus den Situationen Einzelnes herauszuheben und sonach zunächst einzelne Bedeutungen, einzelne Sachverhalte, Programme und Probleme und an deren Hand dann auch einzelne Sachen aus der Quelle von Gattungen, die gewisse Sachverhalte sind. Diese fundamentale Leistung der Sprache zu vereinzeln zeigt sich also deutlich daran, dass die Situation aufgebrochen wird. Und das beginnt bei den Bedeutungen der Situation, bei den Sachverhalten, Programmen und Problemen. Ganz allgemein ist einzeln das, was Element einer Menge mit der Anzahl 1 ist, und das, was eine Anzahl um 1 vermehrt, wobei 1 die Anzahl jeder Menge ist, in der jedes Element mit jedem identisch ist. Was ist eine Menge? Eine Menge ist der Umfang einer Gattung. Eine Gattung hat Fälle. Wir sind in einem fort umgeben von Dingen, die wir als Fälle von irgendwelchen Gattungen ansprechen. Die Fälle einer Gattung werden sämtlich zusammengefasst zu dem Umfang dieser Gattung, der sie und nur sie enthält, und zwar durch eine gedankliche Zusammenfassung, die erst beim Menschen vorkommt, und zwar ist ein 27 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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solcher Umfang einer Gattung eine Menge, wenn dieser Umfang eine Zahl hat. Mit anderen Worten: Der Begriff der Menge ist an den der Gattung unvermeidlich gebunden, und zwar durch den Begriff des Falles, insofern die Fälle der Gattung miteinander Elemente der Menge sind und die Menge erklärt ist als die gedankliche Zusammenfassung der Elemente. So ist also die Menge auf jeden Fall von Gattungen abhängig. Was Gattungen selbst sind, habe ich erklärt in meinem Kapitel »Fall und Gattung« des Kapitels »Mannigfaltigkeit« meines Buches Ausgrabung zum wirklichen Leben. 4 Das ist im Augenblick etwas zu kompliziert, ich komme aber darauf zurück. Jedenfalls ist eine Menge Umfang einer Gattung, und eine Menge hat eine Zahl, wobei die Anzahl einer Menge besteht in der Möglichkeit der umkehrbar eindeutigen Abbildung einer Menge auf diese Menge. Und zwar ist das so zu erklären: Eine umkehrbar eindeutige Abbildung zweier Mengen findet statt, wenn jedes Element jeder Menge in der Paarung beider Mengen vorkommt, wobei auf beiden Seiten der Paarung das Element nicht mehr als einmal vorkommen darf. Wenn die Mengen elementefremd sind, sich nicht überschneiden, dann kann man auch einfacher sagen: wobei jedes Element nur einmal in einer Paarung vorkommt. Dies ist also der Begriff der Zahl: Die Zahl einer Menge ist die Möglichkeit, irgendeine Menge umkehrbar eindeutig auf diese Menge, um deren Zahl es sich handelt, abzubilden. Mengen werden in elementefremde Klassen eingeteilt, je nachdem, wie groß die betreffende Menge ist. (Dies nebenbei.) Die Mengen sind unvermeidlich, um überhaupt Zahlen in die Welt hineinzubringen, um das Mannigfaltige der Welt zahlfähig zu machen. Die Mengen bestehen also aus Einzelnem, wenn einzeln das ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt, was Element Hermann Schmitz, Ausgrabungen zum wirklichen Leben, Freiburg 2016, S. 74–81

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einer Menge mit der Anzahl 1 ist. Dieses Einzelne kommt außer in Mengen auch noch in Komplexen vor. Komplexe sind Verbindungen, die durch jeweils paarende Verbindungen zwischen einzelnen Teilen entstehen, paarende Verbindungen, die von ganz verschiedener Art sein können, z. B. durch Mörtel oder durch gedankliche Assoziationen oder auf irgendeine andere Weise. Diese können innerhalb eines Komplexes auch abwechseln. Ein Komplex kann eine Anzahl nur haben mit Hilfe von Mengen, denn dem Komplex ist als solchem nicht ohne weiteres anzusehen, aus wie viel wahren verbundenen Teilen er besteht. Das hängt davon ab, welche Menge man als Einteilungsgrund nimmt. Wenn ein Konditor einen Kuchen in 16 Teile einteilt, kann man zwar sagen, der Kuchen ist ein Komplex aus 16 Kuchenstücken, aber das ist dem Kuchen ja nicht anzusehen. Man kann ebenso zwei Stücke zusammennehmen. Man kann ebenso alle Krümel einzeln herauswischen, die in dem Kuchen stecken, dann gibt es sehr viel mehr Teile. Es handelt sich um die Menge, die durch den betreffenden Konditor zu der betreffenden Zeit aus dem Ganzen herausgeschnitten worden ist, durch entsprechende Einschnitte. Ganz allgemein ist in diesem Fall immer die Zahl auch eines Komplexes abhängig von einer Menge, und eine andere Form der Zusammenfassung von Einzelnem als Mengen und Komplexe gibt es wohl nicht, es gibt wohl andere Zusammenfassungen etwa durch Situationen, aber das ist dann nicht eine Zusammenfassung von Einzelnem. Das Einzelne ist das Zahlfähige, das es möglich macht, in die Welt Zahlen einzuführen und nach Zahlen zu bestimmen. Entscheidend für die Fähigkeit des Menschen, aus dem Diktat der Situationen auszusteigen, ist die Auffassung des Einzelnen, d. h. des zahlfähigen Mannigfaltigen, das Element einer Menge sein kann, als Fall von Gattungen. Diese Auffassung des Einzelnen als Fall von Gattungen gibt nun den Menschen die Gelegenheit zur Umordnung dessen, was 29 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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er in den Situationen vorgefunden hat. Was eine Gattung ist, habe ich definiert, indem ich den Begriff der Gattung zurückgeführt habe auf eine logische Folgerung. Es handelt sich darum, dass ein Aussagesatz einen Sachverhalt beschreibt, und wenn wir nun als Fall nehmen z. B. den Fall des Sokrates, dann ist eine Gattung des Sokrates die Tatsache, dass er Ehemann der Xanthippe war. Und zwar handelt es sich hierbei um das, was ich ein Attribut des Sokrates nenne, d. h., wenn man dieses Attribut ganz abzieht, dann wäre Sokrates nicht mehr Sokrates, denn Sokrates ist der Gatte der Xanthippe, und es ist unmöglich, dass er Gatte der Xanthippe und doch nicht Gatte der Xanthippe ist, indem nämlich dieses Prädikat abgezogen wird. In dem Augenblick, wo das also abgezogen wird, ist ein anderes Wesen als Sokrates da. Und so ist es ganz allgemein. Ich will das hier nicht in abstracto vorführen, sondern nur an diesem Beispiel: Wenn eine Sache S, beispielsweise Sokrates, ein Attribut A hat, zum Beispiel Ehemann der Xanthippe zu sein, oder gerade jetzt aufzustehen oder eine gewissen Zahl von Haaren auf seinem Kopf zu haben oder ein Mensch zu sein. Wenn also etwas ein Attribut ist, dann gilt, dass dieses Attribut der Sache notwendig zukommt. Dann ist also notwendig, wenn der betreffende Gegenstand ist, z. B. Sokrates, dass auch das betreffende Attribut Fälle hat, und zwar in Form eines partikulär quantifizierten Satzes, d. h. in dem Sinne, dass es mindestens einen Ehemann der Xanthippe gibt. Wenn Sokrates existiert, ist es also notwendig, dass es mindestens einen Ehemann der Xanthippe gibt. Und in diesem Fall ist der betreffende Sachverhalt, dass es mindestens einen Ehemann der Xanthippe gibt, die betreffende Gattung von Sokrates, die man abkürzend nennt »Ehemann der Xanthippe«. Es ist nötig, dass es tatsächlich diesen Sachverhalt gibt, denn es könnte ja auch ein widerspruchsvoller Satz sein, um den es sich handelte. Und dann wäre gar kein Sachverhalt vorhanden. Aber selbstver30 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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ständlich ist es nicht notwendig für dieses Verhältnis von Fall und Gattung, dass es tatsächlich einen Sokrates gibt oder tatsächlich einen Ehemann der Xanthippe, man muss ja Sachverhalte und Tatsachen unterscheiden. Sachverhalte sind viel allgemeiner, sie finden auch dann statt, wenn das nicht wirklich der Fall ist, sondern bloß denkbar ist oder mal gewesen ist. Dies nur zur Verkürzung, damit ich nicht die etwas umständliche und etwas abstraktere Definition der Gattung als Sachverhalt hier anführen muss. Ich habe diese Umschreibung der Gattungen in Sachverhalte deswegen vorgenommen, weil Gattungen manchmal als ontologisch fragwürdige Gegenstände angesehen werden, z. B. von Nominalisten, während Sachverhalte tatsächlich zuverlässig gesichert sind. Ich habe am Beispiel des Verhältnisses von subjektiven und objektiven Sachverhalten und Tatsachen nachgewiesen, auch wieder in dem Buch Ausgrabungen zum wirklichen Leben im Kapitel 1.1 über Subjektivität und subjektive Bedeutungen, dass es Sachverhalte und Tatsachen als eigenartige Gegenstände gibt, und damit sind auch die Gattungen gesichert durch Zurückführung auf Sachverhalte. Dies also nur vorläufig und nebenbei, es wird aber noch darauf zurückzukommen sein. Hier haben wir es zu tun mit Gattungen. Die Gattungen bilden ein System von Gattungen und Untergattungen. In dieses System kann etwas, nachdem es einzeln geworden ist, aus den Situationen herausgenommen werden. Auf diese Weise wird es möglich, etwas in einen anderen Zusammenhang hineinzustellen, und das ist die wichtige Leistung des Menschen, dass er die Dinge aus den Situationen herausnehmen kann. Keineswegs ist die Einzelheit die erste Auszeichnung von etwas, so dass es sich abhebt von dem Übrigen, sondern der Einzelheit geht das voraus, was ich die absolute Identität oder Selbstheit nenne. Und zwar ist etwas absolut identisch, wenn es in der Weise selbst ist, dass es von anderen verschieden ist. Hier ist also schon eine Relation der Ver31 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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schiedenheit, aber das ist eine absolute Identität, nicht etwa die relative Identität von etwas mit etwas. Davon ist noch gar nicht die Rede, wenn etwas nur sich abhebt. Das ist nicht der Fall im bloßen Kontinuum, man nehme z. B. die intensiven Kontinuen, die beim Steigen und Fallen von Lautstärke, Helligkeit und von Stärke und Schwäche einer Kraft und von Wärme zugänglich werden. Wenn etwas wärmer wird, kommt mehr Wärme herein, die Fülle wächst. Aber was ist das für eine Fülle? Das ist nicht eine Fülle von einzelnen Teilen, nicht einmal die Fülle von absolut identischen Teilen, die selbst sind. Denn es wäre sinnlos, diese Wärmen, die da drinstecken, irgendwie vergleichen zu wollen mit anderen ihresgleichen. Es ist unmöglich, über die betreffenden Wärmen orientiert zu sein, sie gehen völlig ohne jede Verschiedenheit und ohne sich abzuheben und ohne sie selbst zu sein unter in der Fülle von Wärmen, die sich vereinigen zu der größeren Wärme beim Anstieg der Wärme. Mit Hilfe des Thermometers überführt man das dann in das zahlfähige Mannigfaltige, aber damit hat man es in ein ganz anderes Element gebracht als die Wärmen selbst, so wie sie tatsächlich auf der Haut oder anderswo gespürt werden. Das ist also ganz allgemein die Selbstlosigkeit der Teile eines Kontinuums; man kann das von den intensiven Kontinuen auch auf die extensiven übertragen. Daraus ergibt sich dann als nächste Stufe der Bestimmtheit, dass etwas selbst wird, und zwar ist das keineswegs selbstverständlich, dass es selbst wird, denn die Welt könnte auch zerlaufen in lauter extensive und intensive Schwankungen, ohne dass man bei irgendetwas ankäme, das von anderem seinesgleichen verschieden wäre, und nur ein Zunehmen und Abnehmen selbstloser Füllen geben. Aber tatsächlich ist hier bei der Erweckung aus dem Kontinuum die nächste Stufe erreicht. Wenn etwas sich abhebt, dazu bedarf es nicht etwa eines Zusatzes, indem nun irgendetwas außerdem noch das Merkmal, es selbst zu sein, erhielte, denn 32 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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dieser Zusatz würde ja schon fordern, dass er adressiert ist an etwas, das bereits es selbst ist, sondern durch einen Abbruch, ein Verschwinden, indem eine Lücke aufbricht, wodurch etwas exponiert werden kann, gewissermaßen am Rande der Lücke oder jenseits der Lücke, indem der Zusammenhang des Kontinuums unterbrochen wird. Und das ist der Fall bei der plötzlichen Ankunft des Neuen, das Dauer zerreißt in eine fortwährende Dauer und eine Dauer, die abbricht ins Nichtmehrsein oder ins Vorbeisein verschwindet. Diesen Spalt füllt die primitive Gegenwart. Diese primitive Gegenwart beginnt also im Kontinuum, mit ihm die Selbstheit, die Möglichkeit, das etwas von anderem verschieden ist. Und diese Möglichkeit führt schon diesseits der Einzelheit, noch bevor es Einzelnes gibt, in einem fort zu einer Konfiguration innerhalb von Situationen, in der die Bedeutungen verschieden verteilt sind. Man denke nur an irgendwelche Körperbewegungen, zum Beispiel das Kauen mit der Zunge und den Zähnen in völliger Achtlosigkeit, wenn man gleichzeitig in ein Gespräch vertieft ist. Hier ist Identität und Verschiedenheit selbstverständlich vorhanden, und damit absolute Identität, denn niemand wird die eingetroffene Nahrung mit seiner Zunge verwechseln und sie auch an den Zähnen zermalmen. Das wäre doch wirklich gar zu töricht und unzumutbar. Also hier ist bereits Identität und Verschiedenheit, aber noch nicht Einzelheit. Denn einzeln wird etwas erst, wenn es etwa als Bissen auffällt durch Schwierigkeiten beim Zerkauen oder durch Zähigkeit oder irgendwie. Sonst verläuft das achtlose Essen und Verschlingen ganz ohne Vereinzelung, und so ist es auch bei anderen Körperbewegungen, beim Gehen und beim Schwimmen und dergleichen. Normalerweise werden die Glieder nicht einzeln, aber wohl muss über ihre Identität und Verschiedenheit schon Auskunft gegeben sein, und es muss bekannt sein, denn sonst würde der Mensch zugrunde gehen, wenn er ohne Beachtung der Identität und Verschie33 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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denheit seiner Glieder zu schwimmen versuchte. Hier haben wir auch wieder einen wichtigen Fall von dem Nochnichtvorhandensein der Einzelheit, wohl aber Vorhandensein der absoluten Identität im Mannigfaltigen. Die absolute Identität wird dann zur Einzelheit weitergebildet, das ist ein ganz entscheidender Schritt auf dem Wege zur Orientierung des Menschen in einer Weise, die von Situationen unabhängig ist. Er hat es also jetzt mit Einzelnen zu tun und kann Beliebiges vereinzeln, indem er es als Fall von Gattungen auffasst und in ein System von Gattungen eingliedert, unabhängig von den Situationen, in denen es anfänglich gebunden war. Diese Fähigkeit des Menschen, womit er sich über den Zusammenhang von Situationen zu stellen vermag, ist aber erst Anfang seiner Ankunft in der Welt, denn der Mensch konnte ja auf diese Weise zwar in sehr vielen Formen schon mit Einzelheit umzugehen verstehen, aber immer nur in Fragmenten, sozusagen in abgerissenen Fäden der Vereinzelung, wobei er immer wieder neue Gattungen herbeischafft, aber das Ganze nicht in einen einheitlichen Zusammenhang zu bringen vermag. Dieses Ganze ist die Welt. Ich bestimme die Welt als Entfaltung der primitiven Gegenwart. Die primitive Gegenwart ist dieses Ereignis des Zerreißens der Dauer oder vielmehr der Weite, die erst im Zerreißen zur Dauer wird, indem sie sich trennt in eine verschwindende Dauer und in eine fortwährende Dauer. Dieses Ereignis, dieser Einbruch des Neuen, der das Kontinuum zerreißt, setzt in diese Lücke die primitive Gegenwart hinein. Die primitive Gegenwart hat fünf Seiten, diese Seiten sind aber nicht getrennt oder nur durch Beziehungen verbunden, sondern durch unspaltbare Verhältnisse vereinigt, das heißt Verhältnisse, die man nicht in Beziehungen von etwas zu etwas aufspalten kann. Das ist eine Vorform des Mannigfaltigen vor dem Einzelnen. In unspaltbaren Verhältnissen verbunden sind diese Momente: Hier, Jetzt, Sein, Dieses, Ich. Man kann sich das veranschau34 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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lichen am Beispiel eines Menschen, der unerwartet aus einem Zustand der geringen Aufmerksamkeit des Dösens, etwa beim Herumschlendern im Feld, herausgerissen wird durch einen Anruf mit dem eigenen Namen. Der Betreffende fährt zusammen und befindet sich an einem Ort, aber nicht etwa an einem Ort, über dessen Lage und Abstände zu anderen Orten er orientiert ist, sondern nur in dem Sinn, dass man überhaupt nur getroffen werden kann, z. B. von einem Anruf, wenn man irgendwo, wenn man an einem Ort ist, an einem absoluten Ort, und ebenso in einem absoluten Augenblick. Er ist ohne Besinnung herausgerissen aus seinem dösenden Zustand und gewissermaßen in einen absoluten Augenblick ohne zeitliche Orientierung versetzt. Der Betreffende erfährt dies als etwas, was ihm widerfährt, was ihm sogar gewissermaßen Gewalt antut, worüber er nicht hinweggleiten kann wie über irgendwelche Träumereien oder die Zustände, die in dem Dösen zugänglich waren. Und so ist hier das Sein in artikulierter Form mitgegeben, und das weitere Moment ist das, was ich das Dieses oder die absolute Identität genannt habe, dass etwas nicht zerläuft, sondern abgehoben ist als etwas selbst von etwas anderem, egal womit es identisch ist. Jedenfalls hebt es sich als es selbst ab und ist verschiedenheitsfähig. Das fünfte Moment ist das, was man Ich nennen könnte, also die Seite der Subjektivität, die im affektiven Betroffensein offenbar wird. Den Menschen, der plötzlich angerufen wird, trifft es wie ein Schlag, und er ist derjenige, dem etwas im buchstäblichen Sinne nahegeht oder dem etwas zustößt oder wie man es nennen will, und zwar im affektiven Betroffensein zustößt. Irgendwie nimmt er dieses auf, er lässt es zu, er wendet sich ihm in gewisser Weise zu, er ist nicht taub dagegen. Und dies ist nun ein unvermeidliches Zubehör der Eindeutigkeit, die als absolute Identität in der primitiven Gegenwart zuerst auftritt, denn wenn alles nur flöhe und sich nicht stellte und das nicht aufnehmen würde, was da als 35 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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Schock, als Einschlag des Neuen geschieht, dann würde sich gar nichts abheben, würde auch nichts es selbst werden. Subjektivität und Selbstheit oder absolute Identität gehören also zusammen, an der Wurzel wenigstens. Später können sie sich voneinander lösen, da es auch absolute Identität und ihre Selbstheit ohne jede Subjektivität gibt. Ausgehend von der vereinzelnden Leistung der Sprache für Bedeutungen und Sachen entwickelt sich aus eigenen Quellen unter Benützung dieser Vereinzelung, aber weit über sie hinausgehend, die Welt aus der primitiven Gegenwart als das umfassende Feld für Vereinzelung aller Art. Man kann auch sagen, die Welt ist das Auffangbecken, wodurch die einzelnen Fäden der Vereinzelung zusammen Platz finden, um sich miteinander zu vereinigen. Die primitive Gegenwart hat, wie gesagt, fünf Seiten: Hier, Jetzt, Sein, Dieses, Ich. Und jede dieser Seiten entfaltet sich nun, und zwar das Hier der primitiven Gegenwart, der Ort des plötzlichen Betroffenwerdens von etwas entfaltet sich mit Hilfe der Einzelheit zu einem System von einzelnen relativen Orten in einem Ortsraum, in dem die Orte sich gegenseitig durch Lagen und Abstände an ihnen befindlichen Gegenständen identifizierbar machen. Die Zeit ist im Einbruch der primitiven Gegenwart erst Modalzeit, d. h. Abschied der vergehenden Dauer zusammen mit der Fortdauer ins Künftige. Den Zwischenraum zwischen beiden füllt die primitive Gegenwart mit ihren fünf Seiten, die sich dann jeweils entfalten, also etwa das absolute Hier, der absolute Ort zum Ortsraum mit relativen Orten, der absolute Augenblick des Jetztbetroffenwerdens zur modalen Lagezeit mit Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft einerseits und der Anordnung des Früheren und Späteren mit entsprechenden dazwischengelegten Abschnitten der Dauer. Es entfaltet sich ferner die absolute Identität zur relativen Identität, wodurch etwas mit etwas identisch wird. Dadurch entsteht die Möglichkeit, etwas unter verschiedenen Gesichtspunkten auf36 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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zufassen, etwas vielseitig zu sehen, und das bezieht sich nicht nur auf alle möglichen Sachen, sondern auch auf das Selbstverständnis des Menschen, der sich als Fall verschiedener Gattungen durch relative Identität verstehen kann und dann eine gewisse Herrschaft über sich selbst auszuüben vermag, indem er die Akzente zwischen diesen Gattungen verschieden setzt, weitere hinzunimmt, andere abstreift, die Verbindung zwischen den verschiedenen Rollen, die er auf diese Weise übernimmt, in verschiedener Weise modifizierend, so dass er in einem gewissen Maße darüber verfügen kann, wer er ist, dank dieser relativen Identität als ein und derselbe Fall verschiedener Gattungen. Das ist die Entfaltung der absoluten Identität. Das Ich der primitiven Gegenwart, das sich öffnet für das affektive Betroffensein und damit zur Stellungnahme, die Seite der Subjektivität entfaltet sich zunächst durch Auffassung als Fall von Gattungen zur einzelnen Person. Dieser Ansatz der personalen Emanzipation aus der primitiven Gegenwart wird jetzt ergänzt durch eine wichtige zweite Entwicklung, nämlich die partielle Abstreifung der Subjektivität von allen Bedeutungen. Es ergibt sich die Dimension der Fremdheit, die sich in einer von mir bestimmten Weise auch auf alle Sachen ausdehnen kann, so dass schließlich eine persönliche Fremdwelt entsteht, die nur noch neutral oder objektiv gesehen wird, die beschrieben werden kann mit Beschreibung von Sachverhalten, Programmen und Problemen, zu denen nicht mehr gehört, dass nur ich sie im eigenen Namen aussagen kann, dass sie also in diesem Sinne für mich subjektiv sind. Hierdurch entsteht die Möglichkeit einer Abgrenzung einer persönlichen Eigenwelt gegen eine persönliche Fremdwelt und die Abgrenzung einer persönlichen Situation innerhalb der persönlichen Eigenwelt, also zur Profilierung dieser Person, die sich als Einzelnes aus der Subjektivität des affektiven Betroffenseins herausgeschält hat. Und schließlich die Emanzipation des Seins, des fünften 37 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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Moments, des einzigen, was nicht erst mit der primitiven Gegenwart auftaucht, was aber mit ihr Gestalt annimmt. Dieses Sein emanzipiert sich zum Gegensatz des Nichtseins mit der Möglichkeit, etwas aus dem Seienden ins Nichtseiende zu projizieren, weil die Form der Einzelheit die Grenze zwischen dem Sein und dem Nichtsein übersteigt, und auf die Weise ergibt sich die Möglichkeit von Erwartung und Erinnerung, von Planung, von Hoffnung, von Furcht, von Wagnis und von all dem, was der Phantasie ganz besonders eigen ist, was eben die Grenze von Sein zum Nichtsein überschreitet. Das ist die Welt, in der der Mensch sich findet und in der er sich selbst zurechtfinden muss, denn er hat zwar den Anstoß gegeben zur Entfaltung der Welt als dem universalen Boden möglicher Vereinzelung, aber er hat nur den Anstoß gegeben. Das Hervorgehen der Welt aus der primitiven Gegenwart geht weit hinaus über die Ansätze zur Vereinzelung, die durch satzförmige Rede allein ermöglicht wird. Es ist ein eigener Prozess, in den der Mensch dann selbst, obwohl er ihn gewissermaßen angestoßen hat, mit hineingerissen wird. Er wird also, obwohl er eigentlich der Initiator, der Urheber ist, mit hineingerissen in die Vereinzelung. Er wird zur einzelnen Person, die Subjektivität der für ihn subjektiven Bedeutungen fällt ab, und damit ist der Mensch selbst etwas in der Welt geworden. Welt und personales Menschsein entfalten sich miteinander, das personale Menschsein ist eine von den fünf Dimensionen dieser Entfaltung und ist nicht etwa ihr Urheber. Der Mensch findet sich auf diese Weise in einer Welt als einem ihn umfassenden Feld möglicher Vereinzelung mit sehr vielen Chancen, die aber noch nicht dazu ausreichen, dass er sich zurechtfindet. Zu den größten Möglichkeiten, die er auf diese Weise erringt, gehört die Aufspaltung der unspaltbaren Verhältnisse in spaltbare durch Abspaltung in gerichtete Beziehungen. Die gerichteten Beziehungen setzen nämlich Zahlen voraus, sie müssen also zwei-, drei-, vier38 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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oder fünfstellig sein. Die Zahl sowohl der Stellen als auch der Teilnehmer ist der Beziehung wesentlich, und zahlfähig ist eben nur das Einzelne, das Element einer Menge mit einer bestimmten Anzahl sein kann. Insofern wartet die Möglichkeit, gerichtete Beziehungen zu finden, auf diese Vereinzelung und ihre Entfaltung zur Welt. Damit aber, nämlich durch die Aufspaltung von vorher unspaltbaren Verhältnissen in Beziehungen, gewinnt der Mensch die Fähigkeit zu experimentieren, also auszukundschaften, was möglich ist. Er gewinnt die Möglichkeit, Beziehungen zu setzen von diesem zu jenem, statt nur in einem großen Tableau, einem großen Gebäude des ihm mit vielen Einzelheiten Gegebenen immer wieder sich selbst zurechtzufinden. So kann der Mensch die Dinge umgruppieren, in Beziehungen zueinander setzen und von den Beziehungen wieder absehen, die Beziehungen wechseln; er ist nicht bloß gleichsam als anschauende Intelligenz gebunden an das Tableau dessen, was sich ihm wie ein Bild zeigt. Diese Möglichkeit nützt der Mensch, indem er über das verfügt, was ihm die Entfaltung der primitiven Gegenwart schon geschenkt hat: den Ortsraum, die modale Lagezeit, Sein und Nichtsein, relative Identität und die persönliche Eigenwelt. Alles dieses nützt nun der Mensch zum Aufbau einer Welt, auf die er sich verlassen kann. Ganz wesentlich ist hier zum Beispiel die Egalisierung der Dauer, die sich von vornherein in ein einheitliches Gleichmaß fügt, durch die Findung von Uhren. Das sind zunächst natürliche Uhren, wie der Sonnenstand, und später auch künstliche Uhren. Und mit deren Hilfe gelingt es, den zeitlichen Ablauf der modalen Lagezeit so in den Raum zu übersetzen, dass abmessbare Zeitstrecken möglich werden. Damit kann sich jetzt der Mensch bezüglich der Zeit und des Datums mit sich selbst und mit anderen einig werden, wieviel Zeit vergangen ist und wann es an der Zeit ist, irgendetwas einzeln und miteinander zu tun. Und ebenso ist ein Zusatz des Menschen zu 39 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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dem, was ihn von der Entfaltung der primitiven Gegenwart her ohne weiteres gegeben ist, die Umdeutung der vielen Halbdinge, die plötzlich den Menschen ergreifen mit einer Kausalität, die nicht auf dem Hintergrund einer beständigen Dingwelt steht und immer wieder plötzlich neu sich ereignet. Diese Welt der Halbdinge wird stabilisiert zu einer Welt von Dingen, die der Mensch mit seinen optischen und seinen taktilen Fähigkeiten sich gegenüberstellt und durchorganisiert, so dass er im voraus mehr oder weniger darauf rechnen kann, was geschehen wird, was ihm droht und was er wagen kann, ohne dass eine Katastrophe eintritt. Damit ist der menschliche Vorblick gesichert, und auf diese Weise organisiert sich der Mensch selbst, mit Hilfe dessen, was ihm von der Entfaltung der Gegenwart zur Verfügung gestellt wird, eine überschaubare Umwelt. Die Neutralisierung der Bedeutungen, die dem Menschen eine persönliche Eigenwelt verschafft, im Gegensatz zu einer persönlichen Fremdwelt, gibt ihm zugleich den Abstand von den Dingen, der es ihm möglich macht, sein eigenes Tun einzustellen auf das, was ihm nun entgegentritt als durch seine eigenen Zusätze als eine Dingwelt, vervollständigt zur gegenüberstehenden Welt mit gleichmäßiger Dauer. Da kann er sich jetzt selbst einordnen und zurechtfinden. Dies ist eine Art und Weise des Menschen, sich auf sein Sichfinden in seiner Umgebung zu besinnen. Dieses Sichfinden ist zunächst von defensiver Natur. Der Mensch, der jetzt nicht mehr von den Situationen geführt wird, sondern sich in einer Welt findet, in der er sich selbst zurechtfinden muss, dieser Mensch muss sich gewissermaßen bewahren, er muss sich behüten, er muss sich in Schutz bringen vor den Dingen, mit denen er zu tun hat und von denen er nicht von vornherein weiß, was er von ihnen zu erwarten hat. Er muss in die Zukunft vorausblicken. Dieses Vorausblicken in die Zukunft wird dem Menschen beim Leben aus primitiver Gegenwart abgenommen durch 40 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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die Protentionen, insbesondere durch die Zugewandtheit zu dem, was kommen wird, was sich ereignet, mit Hilfe von Programmen etwa des Hungers und des Durstes und der geschlechtlichen Befriedigung. Für diese Art der Zugewandtheit in die Zukunft und des Eingefügtseins in das Bevorstehende muss nun der Mensch, der aus den Situationen ausgetreten ist in die Welt, entschädigt werden, indem er lernt, sich dem, was kommen wird, zuzuwenden, indem er erwarten lernt, und zwar in Bezug auf einzelne Daten, die ihm bevorstehen können in einer gewissen zeitlichen Ordnung mit gewissen zeitlichen Abständen. Diese Fähigkeit zum Erwarten wird nun kultiviert in der Wissenschaft der schematischen Erwartbarkeit, deren höchste Gestalt, mit der wir heute vertraut sind, die Naturwissenschaft ist. Die Naturwissenschaft ist eigentlich die Wissenschaft der schematischen Erwartbarkeit aufgrund dessen, was man bisher vernünftigerweise erwarten kann aufgrund gewonnener, auch selbst provozierter Ergebnisse von Versuchen mit dem, was vernünftigerweise erwartbar ist. Das sind also die sogenannten Experimente, und aufgrund dieser Experimente und ihres Zusammenhanges wird dann ein Bereich des Erwartbaren aufgebaut, in dem man sich erstens hüten kann, in dem man zweitens die Aussichten auf Erfolg des eigenen Tuns abschätzen kann. Das führt dann zu einem ganz hochkomplizierten Umgehen mit künstlich erfundenen Maschinen, wodurch der Mensch gewissermaßen lernt, auf besonnene Weise zu zaubern, also Abstände im Raum und in der Zeit zu überbrücken und dergleichen. Das also ist jetzt der eine Weg der Besinnung des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung, und das ist der Umgang mit dem Erwartbaren, das ist die eigentliche Leistung der Naturwissenschaft: der Umgang mit dem Erwartbaren als künstlich erzeugter Vernünftigkeit des Umgangs in Bezug auf das, was nicht mit Sicherheit, aber nach dem, was bisher erfahren worden ist, als dessen Fortset41 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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zung aus diesem Erwartbaren herauszuholen ist, etwa mit Hilfe von Experimenten. Das wäre die eine Seite, die im weitesten Sinne zur Besinnung des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung gehört. Aber das ist nicht die eigentlich philosophische Seite. Denn jetzt gehört noch ein Zweites dazu. Zu den Überlegungen, die den Menschen durch sein Heraustreten aus der Gefangenschaft in Situationen und dem Diktat ihres Nomos in die Welt aufgedrungen werden, gehört hiernach zweierlei: Erstens eine sowohl defensive als auch später offensive Einstellung, die darauf zielt, in der neuen Umgebung durch schematische Voraussicht auf das zu Erwartende dem Begegnenden gewachsen zu sein. Diese Aufgabe führt dann erst zur Naturwissenschaft als der Wissenschaft der schematischen, das heißt auf die Auswahl ganz bestimmter Merkmale als Ausgangspunkt der Beachtung ausgerichteten Wissenschaft des Vorhersagenkönnens und zur Technik, die der Naturwissenschaft folgt und in deren Dienst die Naturwissenschaft tritt. Und zweitens gehört dazu eine Art und Weise des Menschen, sich mit der so geöffneten und einigermaßen abgesicherten Umgebung in Beziehung zu setzen, in eine Beziehung, die beiden Seiten irgendwie gerecht wird, die Ansprüche beider Seiten berücksichtigt. Und dazu bedarf es einer Besinnung des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung, und das ist die Philosophie im eigentlichen Sinn, in sehr weitem Sinne, eine Philosophie, die sich in jedem einzelnen Leben allmählich entwickelt, sofern dieses Leben nachdenklich ist, unter der Herausforderung durch Erfahrungen verschiedener Art, eine Philosophie, die sich absetzt in einzelnen Sprüchen, z. B. als Sprichworte oder aus dem Mund irgendwelcher Weisen und Propheten. Vor allen Dingen auch besteht diese Philosophie in einer großen Summe von Dogmen, von Lehren, die institutionell unterstützt wer42 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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den, z. B. durch religiöse und politische Organisationen. Dies ist die Philosophie im ganz allgemeinen Sinn, die dem Menschen ganz natürlich ist und nicht irgendwie darauf angewiesen ist, Wissenschaft zu bleiben. Jetzt aber ist die Frage, wie aus dieser Philosophie, ohne die der Mensch sein Verhältnis zu dem, worin er lebt, nicht in eine befriedigenden Weise regeln kann, wie diese Philosophie im weiteren Sinn zu der engeren Philosophie wird, zu der wissenschaftlich kontrollierten Philosophie. Den Weg dazu bahnt meines Erachtens aus der Philosophie als ganz allgemeines Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung das Bedürfnis des Dialogs. Wenn nämlich jemand mit irgendwelchen Überzeugungen, Maximen oder Dogmen an einen anderen Menschen herantritt, um ihm diese seine Weisheit, philosophische Weisheit nahezubringen, dann kommt es sehr schnell zu den Fragen »Wie meinst du das?«, »Woher weißt du das?«. Das Erste ist die Frage, die den Weg zur Definition öffnet, das Zweite die Frage, die den Weg zur Begründung öffnet. Und beides sind die wichtigsten Instrumente des Übergangs der Philosophie im allgemeinen Sinn als Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung zur wissenschaftlichen Philosophie, denn jetzt muss dies herausgehoben, präzisiert werden, was eigentlich gemeint ist. Und es müssen Gründe dafür angegeben werden, dass dies richtig ist, dass es also nicht irgendeine beliebige Annahme oder Phantasie ist, sondern begründet auf die Tatsachen. Diese beiden Aufgaben führen von der Aufgabe im weitesten Sinn, die im Leben teils in Lebensweisheiten, teils in Aufforderungen, Verkündungen und Imperativen und teils in institutionell gesicherten Dogmen niedergelegt ist, zur wissenschaftlichen Philosophie, die genau nachprüft, worauf der Mensch sich einigermaßen verlassen kann. Es kann der Dialog zwischen beiden durch den einsamen Zweifel des Einzelnen ersetzt werden, aber das ist kein so natürlicher und 43 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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selbstverständlicher Weg, denn in vielen Fällen kann der Mensch sich auch mit seinen eigenen Erfahrungen zufriedengeben, damit zufrieden sein, daraus gelernt zu haben, ohne viel zu zweifeln. Aber im Dialog wird es immer sehr leicht zu Zweifeln kommen, wenn der Zuhörer kritisch ist. Das ist der Ursprung der Philosophie im wissenschaftlichen Sinn. Die Philosophie ragt damit in die Wissenschaft hinein und die Aufgabe im Folgenden wird sein, zu untersuchen, wie sich die wissenschaftlich gewordene Philosophie, als Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung, zu den schon aus anderen Gründen etablierten Wissenschaften verhält. Im übrigen kann man abgesehen von der hier angegebenen Auffassung der Philosophie noch andere in Erwägung ziehen und zum Vergleich heranziehen, zum Beispiel die Definition, die meiner Erinnerung nach Bolzano gegeben hat, und zwar die Philosophie zu verstehen als die Wissenschaft der obersten und höchsten Prinzipien der Erkenntnis. Und das hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der Art und Weise, wie Aristoteles im ersten Buch der Metaphysik die sogenannte »erste Wissenschaft«, die »erste Philosophie« einführt. Aber erstens ist diese Auffassung sehr nebelhaft, man weiß nicht genau, wie weit der Bereich der ersten Prinzipien reicht; zum Beispiel erklärt Aristoteles als das oberste Prinzip der Metaphysik den Satz des Widerspruchs, aber damit ist ja eigentlich nicht sehr viel erreicht. Der zweite und gewichtigere Einwand ist der, dass diese Art und Weise der Definition, die die Philosophie zu einer rein spekulativen Weisheit macht, den Bedürfnissen des Menschen nicht genügt. Der Mensch braucht eine Möglichkeit, sich selbst in Frage zu stellen, sich in seiner Umgebung zu finden, und dieses Bedürfnis ist ganz besonders stark und lebendig, wenn den Menschen eine Beunruhigung erfasst, wenn also der Philosoph aufgrund einer Beunruhigung seines Sichfindens in seiner Umgebung zur Reflexion veranlasst wird. Und das ist 44 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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in vielen Fällen der Fall und ganz besonders auch in Fällen der Krankheit, etwa der Krankheit im psychiatrischen Sinn, wo der Mensch vollkommen unsicher wird, allerdings meistens zu hilflos, um irgendwie zu einem Ergebnis zu kommen. Aber immer ist Philosophie Sichbesinnen des Menschen in seiner Umgebung, ganz besonders auch eine Angelegenheit des schwierigen Menschen, der es mit dem Leben nicht leicht hat und dadurch zur Besinnung veranlasst wird. Aber was braucht dieser Mensch gerade die Beschäftigung mit den allerobersten Prinzipien des Wissens? Das ist ihm vielleicht nicht so wichtig wie die Frage, wie er sich in seiner Umgebung finden soll, sowohl in Bezug auf das, was er jetzt von ihr zu erwarten hat und was er an sie an Ansprüche stellen darf, als auch in Beziehung darauf, was er an sich zu erwarten hat und was er seinerseits dieser Umgebung schuldig wird. Das sind Fragen, die ganz bestimmt das spezifisch philosophische Interesse wecken und die mit den Fragen nach den allerobersten Prinzipien des Wissens in einer gewissen Verbindung stehen, die aber eher locker ist.

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Kapitel 2 Die Philosophie und die Wissenschaften

Wenn Philosophie das Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung ist, dann liegt es nah, an die Wissenschaften zu denken, die diese Umgebung einschließlich des Menschen, der sich in ihr findet, in vielen einzelnen Hinsichten sorgfältig untersucht und zu ihrem Thema gemacht haben, so die Naturwissenschaften die Natur, die Geschichtswissenschaften die Geschichte, die Sprachwissenschaften die Sprachen und so weiter. Die Aufgabe des Philosophen wäre dann, die Ergebnisse dieser Wissenschaften heranzuziehen, sie zu diskutieren, sie auf ihre Stichhaltigkeit noch einmal nachzuprüfen, sie zu sammeln, anzuordnen und in ein Gesamtgebilde zusammenzufassen. So etwa hat Wilhelm Wundt die Aufgabe der Philosophie verstanden als Synthese des vielfältigen schon vorhandenen Wissens der einzelnen Wissenschaften, mit dem Ziel, das jeweils bestverantwortbare Weltbild zu erzeugen. Eine solche Aufgabe wäre nun aber ersichtlich eine Unterbestimmung der Philosophie, die vielmehr dazu berufen ist, eigene Impulse zu geben. Warum das nun so ist, das ist eine Frage, die zu sehr viel weiterführenden Untersuchungen Veranlassung gibt, vor allen Dingen im Gebiet der Subjektivität und ihrer ontologischen Bedeutung. Damit will ich mich nun befassen. Die Wissenschaften, auf die die Philosophie zurückgreifen könnte, wollen mit gutem Grunde objektiv sein, objektiv oder neutral so wie der Richter, der zwischen den Parteien steht und zu keiner neigen kann. Sine ira et studio, wie Tacitus seine Aufgabe als Historiker betrieb, also ohne Zorn und ohne Eifer, viel47 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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mehr gewissermaßen rein sachlich. Das ist eine schöne und unerlässliche Bedingung wissenschaftlicher Neutralität. Die Wissenschaft ist nicht berufen, als solche Partei zu nehmen, aber sie ist zugleich eine sehr verführerische Einstellung, denn sie zielt darauf, den Gegenstand der Wissenschaft dem wissenschaftlichen Subjekt gegenüber im Stande der Passivität zu halten, wie aktiv und in sich bewegt auch der Inhalt dieses Gegenstandes sein mag. Es mögen also ganz gewaltige Massen von Eifer und Zorn in der Geschichte investiert sein, aber dem Historiker als solchen, wenn er in seiner neutralen Objektivität verharrt, tun sie nichts mehr an, ihm stehen sie ganz passiv vor Augen. Das liegt an einer gewissermaßen bloß vorstellenden protokollierenden Einstellung, wie sie zum Beispiel der Geschichtslehrer hat, der den Gang einer Schlacht übrigens einschließlich aller der Leidenschaften und der emotionalen Beteiligung der Parteien zwar irgendwie erwähnt und durchnimmt, aber vielleicht gelangweilt und mit seiner Schulklasse nach einiger Zeit darüber hinweggeht, ohne wesentlich berührt worden zu sein. Es muss zwar der Wissenschaftler sich in gewisser Weise heraushalten, aber dabei gerät ihm aus dem Blick die eigene Aktivität, um von dem Menschen abzusehen, was den Menschen berührt, das ihm nahegeht, das ihn angreift, das ihn mitnimmt, das ihn ergreift und ihn eventuell sehr stark in Anspruch nimmt, alles das im emotionalen Sinne des affektiven Betroffenseins durch Gefühle oder leibliche Regungen. Diese Seite der Welt geht verloren, wenn man sich von der protokollierenden Einstellung der Wissenschaft dazu verführen lässt, die Seite der Welt zu vernachlässigen, in der sie dem Menschen nahe tritt. So wie etwa Spinoza sich entschloss, die Leidenschaften der Seele zu studieren, gleich wie man Geraden, Kreise und Dreiecke in der Mathematik studiert. Geraden, Kreise und Dreiecke tun dem Menschen nichts an, und so völlig neutral, nicht nur selbst von sich aus neutral, sondern vom Gegen48 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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stand her, der in eine passive Rolle versetzt wird, wollte Spinoza Psychologie oder philosophische Psychologie betreiben mit den Leidenschaften der Seele. Und das ist die Einstellung, in der David Hume erklärte, er könne sich selbst nicht mehr finden, wenn er in sich selbst hineinschaue, sondern statt dessen finde er nur Liebe und Leid, Wärme und Kälte. Er hat die ergreifenden Leidenschaften der Liebe und des Leides oder des Hasses auf eine Stufe gestellt mit den physischen Empfindungen der Wärme und Kälte, die zwar unter Umständen auch emotional wirken können, aber jedenfalls nicht so sehr wie Liebe und Hass von vornherein dazu bestimmt sind, sondern auch ganz neutral aufgenommen werden können. Hume konnte sich selbst nur vermissen, indem er diesen Sprung des Unterschiedes zwischen den beiden Welten, so wie sie einer neutralen Vorstellung passiv vorliegen wie in den Wissenschaften und so wie sie den Menschen ergreifen, ignorierte. Das ist die Sache des Lebens, sofern es in den betrachtenden Wissenschaften keinen Platz hat. Der gleiche Fehler unterlief Wittgenstein in dem von mir herangezogenen Aphorismus aus seiner Logisch-Philosophischen Abhandlung, wo es heißt: »Wenn ich ein Buch schriebe ›Die Welt, wie ich sie vorfand‹, so wäre darin auch über meinen Leib zu berichten und zu sagen, welche Glieder meinem Willen unterstehen und welche nicht etc., dies nämlich ist eine Methode, das Subjekt zu isolieren, oder vielmehr zu zeigen, dass es in einem wichtigen Sinn kein Subjekt gibt. Von dem allein nämlich könnte in diesem Buch nicht die Rede sein.« 5 Und das, so meint Wittgenstein, ist ein wichtiges Zeichen dafür, dass es in einem bestimmten wichtigen Sinne gar kein Subjekt gibt, denn dieses Subjekt könnte in dem Buch gar nicht enthalten sein. Daran ist natürlich richtig, dass in dieser Vorstellung, die auf das bloße Vorfinden aus ist, also in der 5

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Vorstellung, die das Objektivitätsideal der Wissenschaft zur passiven Rolle des Gegenstandes der Wissenschaft verschärft, dass in dieser Einstellung selbst nichts mehr vorkommen kann, was dem Subjekt nahegeht, und daher auch nichts von dem, dem es nahegeht, nämlich von dem Subjekt. Sondern dass alles ist wie ferngerückt für einen Blick von nirgendwo her, wie der amerikanische Philosoph Thomas Nagel gesagt hat. Die Welt wird also in eigentümlicher Weise verkürzt, wenn man hier den Anteil des affektiven Betroffenseins vermisst, und zu welcher Weltfremdheit das führt, kann man sehr schön einer Geschichte entnehmen, die ich frei nach dem schweizerischen Novellisten Friedrich Dürrenmatt mir ausgedacht habe. Es handelt sich um Folgendes: Ein sehr muskulöser, kraftvoller Dichter wird von einem schmächtigen Verehrer besucht, dem er die Absicht mitteilt, einen lebenden Menschen zum Fenster hinauszustürzen, um seine Kenntnisse der menschlichen Natur, die dem Dichter notwendig sei, durch Studium des Verhaltens in der Todesangst zu ergänzen. Der Besucher hört sich das mit behaglichem Grausen an, während der Dichter ihm die Eigenschaften der zu stürzenden Person allmählich genauer ausführt. Es handelt sich um viele Kleinigkeiten, die aber immer näher an die Besonderheiten unseres Besuchers heranführen, so dass er an irgendeiner Stelle schließlich merkt, dass er selbst, der Besucher, es ist, der gestürzt werden soll. In diesem Augenblick verändert sich seine Einstellung grundsätzlich. Sie ist nicht mehr durch behagliches Grausen gekennzeichnet, sondern durch eine ganz enorme Erschütterung und Betroffenheit, die sich zum Beispiel in seinem eigenen Fluchtdrang und seiner panischen Aufregung verrät. Und hier ist ein Umsturz passiert, es ist etwas ganz Neues an ihn herangetreten, etwas ganz Wichtiges. Und jetzt ist die Frage, worum es sich hier eigentlich handelt. Was dieser Zusatz ist, der hier mit hereinkommt, zusammen mit dem affektiven Betroffensein 50 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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der Bestürzung, der Angst, der Todesangst, die jetzt bei dem Besucher aufkommt. Das Nächstliegende wird sein zu sagen, der Besucher hat einfach gemerkt, dass es sich um ihn selbst handelt, der gestürzt werden soll. Es gibt ja das Sprichwort: Jedermann ist sich selbst der Nächste. Und so sollte man meinen, dieser bloße Umstand würde genügen, um ein und dieselbe Tatsache, dass dieser soundso beschriebene, immer deutlicher beschriebene Mensch herausgestürzt werden soll, von einer relativen neutralen Tatsache zu einer so für ihn ungeheuer bedeutenden und ihn so ergreifenden Tatsache werden zu lassen. Aber das ist nicht richtig, denn der betreffende Besucher hat ja auch ganz andere Gelegenheit, sich auf sich selbst zu beziehen, als durch das affektive Betroffensein. Und dann geht ihm das längst nicht so nah. Beispielshalber die Engländer, die das eigentümlich Subjektive eliminieren wollten, haben die Rede der ersten Person »Ich bin der und der« zu ersetzen versucht durch die Rede »Die Person, die jetzt gerade spricht, ist die und die«. Die gerade spricht, kann man natürlich sagen, wenn es sich um einen kleinen Kreis mit geringer Verwechslungsgefahr handelt. Die Person, die sich gerade räuspert oder die gerade hustet, die wird also dieses oder jenes Schicksal erleiden. Aber das alles wäre längst nicht so ein Anlass zur Aufregung, wie er über unseren Besucher hereinfällt. Und man sieht das auch empirisch bestätigt an der sog. Bälz’schen Emotionslähmung. Erwin Bälz, ein Psychiater, erlebte in Japan ein Erdbeben und beschrieb daraus diese eigenartige Emotionslähmung, für die ich viele Beispiele angeführt habe, auch aus anderen Zusammenhängen. Und zwar immer von besonders erschütternden Erlebnissen, die den Menschen gleichsam emotional überfordern. Da handelt es sich etwa um ein Erdbeben oder um einen Flugzeugabsturz oder um den Überfall eines wilden Tieres, etwa eines Löwen, in unmittelbarer Todesgefahr, oder entsprechende Situationen im Krieg. In allen diesen Fällen bleibt 51 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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das Bewusstsein erhalten, aber die Ergriffenheit setzt aus. Die Person hat das Gefühl, neben sich selbst zu stehen, sich zu beobachten, aber an sich keinen Anteil mehr zu nehmen. Also die Tatsache, dass die Person selbst betroffen ist, weckt selbst beim lebhaften Bewusstsein davon, dass man es selber ist und dass man eventuell dem Untergang geweiht ist, keineswegs diese besondere Betroffenheit, die wir hier als affektives Betroffensein bezeichnen, sondern beides ist durchaus trennbar, wenn auch nur in besonderen Situationen mit besonderen Augenblicken. Somit handelt es sich nicht etwa nur um die Selbstbeziehung, die der Tatsache ein ganz neues Gewicht gibt, wenn sie in dieser Weise von dem Menschen auf sich selbst bezogen wird, wozu wir grammatisch die erste Person Singular haben mit dem Pronomen Ich. Aber das ist gar nicht nötig, denn andere Sprachen haben kein solches Pronomen. Schon die Alten kommen ohne Pronomina aus, mit der bloßen Konjugation. Und so kann man rein sprachlich diese Tatsache auf verschiedene Weise umschreiben, die sich dem Menschen dann ergibt, wenn er merkt, dass etwas so an ihn herankommt, dass er davon affektiv betroffen ist. Dieses affektive Betroffensein besteht also nicht einfach darin, dass es sich um den Menschen selbst handelt, sondern um eine ganz und gar eigenartige Weise der Begegnung mit sich, in der ihm eine Tatsache von ganz neuem Gewicht entgegenkommt, eine Tatsache, die weit über das hinausgeht, was in der bloßen Beschreibung oder bloßen Protokollierung enthalten ist. Diese Tatsache hat zwei auszeichnende Eigenschaften, von denen die erste schon erörtert wurde. Die erste Eigenschaft besteht darin, dass diese Tatsache für den Menschen notwendig aufdringlich ist und ihn sich selbst nahe bringt, während bei anderen Tatsachen, die nicht mit affektivem Betroffensein geladen sind, es rein zufällig ist, dass es sich um ihn selbst handelt. Also wenn ich tatsächlich affektiv betroffen bin, dann ist es für mich unmöglich, zu verkennen, 52 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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dass ich es bin, der betroffen ist. Denn das bedeutet dieses Betroffensein, dass etwas bei mir einschlägt und mich in Anspruch nimmt, und dazu gehört, dass ich selbst dabei bin und dies irgendwie mitbekomme, dass es sich um mich handelt. Ganz im Gegenteil ist es bei Nachrichten, die in der rein objektivierenden Einstellung vorgetragen und mitgeteilt werden; etwa bei Nachrichten aus meiner Biographie, meinen Lebensumständen usw. ist es in keiner Weise notwendig, dass es sich um mich handelt, sondern das könnte in all diesen Fällen immer auch ein anderer sein, um den es sich handelt. Alle diese Nachrichten, die nicht zum affektiven Betroffensein gehören, sind also mir zufällig. Aus diesem Grunde ist es zwar unrealistisch, aber keineswegs sinnlos, wenn jemand, der mit seinem Leben in irgendeiner Hinsicht unzufrieden ist, z. B. dass er nicht genug Reichtum oder genug Ansehen hat oder es in anderer Weise schwer hat mit seinem Weiterkommen, dass ein solcher Mensch sagt, »Ach, ich möchte doch so gerne ein anderer sein!« Dies ist zwar insofern absurd, als er eben dieser ist und als dieser nicht auch ein anderer sein kann, ohne dass ein Widerspruch entsteht. Es ist tatsächlich nicht durchführbar, aber es ist nicht sinnlos, es ist nicht widersinnig. Denn das, was er ist, ist ihm nicht wesentlich. Er besteht nicht einfach darin, aus diesen und jenen Merkmalen, die man aufzählen kann, zusammengesetzt zu sein. Denn dann wäre es ja widersinnig, neben diesen Merkmalen noch mit ihnen unverträgliche andere, die er herbeisehnt, für ihn zu fordern. Das ist aber gar nicht wesentlich, denn alle Attribute, die dem Menschen zufallen jenseits des affektiven Betroffenseins, sind zufällig für den Menschen und insofern kann er von ihnen abstrahieren und sie in Gedanken sinnvoll durch andere ersetzen, obwohl er tatsächlich an all diese Merkmale gebunden ist. Das ist das eine Merkmal der Tatsachen des affektiven Betroffenseins. Das andere Merkmal besteht darin, dass diese Tatsachen des affektiven 53 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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Betroffenseins höchstens einer im eigenen Namen aussagen kann, wenn überhaupt einer. Und das sieht man sehr leicht so. Es gibt viele Formulierungen, die man nur im eigenen Namen verwenden kann. Wenn man z. B. sich bei einem anderen Menschen oder einer Behörde vorstellt mit den Worten »Ich bin der Sowieso«, »Ich bin Hermann Schmitz« oder »Ich bin der Ihnen bereits avisierte Ankömmling, auf den Sie warten«, wenn so etwas der Fall sein sollte. Das sind Formulierungen, die natürlich nicht so ohne weiteres ein anderer einem nachsprechen kann, denn der andere ist ja nicht man selbst. Aber all solche Formulierungen, wenn sie affektiv neutral sind, etwa bloß bei einer Vorstellung zum Zweck der Identifizierung mit affektiv neutralem Hintergrund, wird man sinngleich so ändern können, dass auch der Andere sie nachsprechen kann. Ganz anders ist es beim affektiven Betroffensein. Wenn ich zum Beispiel und mit Recht sagen kann »Ich bin sehr glücklich« oder »Ich bin tief traurig«, dann handelt es sich um etwas, das mir in solcher Weise nahegeht, dass gerade ich ausgezeichnet bin als derjenige, um den es sich handelt, und dass dies nicht ebenso bei einem beliebigen anderen stattfinden kann, weil es sich um ein Betroffensein handelt, das gerade mir als dem Betroffenen zufällt. In diesem Falle ist also die Aussage, dass es sich so verhält, mir vorbehalten, denn wenn der andere sagt, »Ich bin sehr beglückt oder tief traurig«, dann ist das etwas anderes, weil dann er der Betroffene ist. Die Tatsachen des affektiven Betroffenseins sind also durch die Besonderheit ausgezeichnet, dass höchstens einer im eigenen Namen sie direkt aussagen kann, obwohl andere durchaus in der Lage sind, sie zu kennzeichnen, sie zu benennen und daher ebenso wie er davon zu sprechen. Sie können zum Beispiel diejenige Tatsache sagen, die der Betreffende, wenn er sprechen könnte und wollte, mit diesen Worten »Ich bin der und der« aussagen könnte. Damit ist 54 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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die Tatsache dann eindeutig gekennzeichnet. Es ist also durchaus möglich, über die Tatsachen des affektiven Betroffenseins eines anderen zu sprechen. Aber aussagen und damit auch behaupten kann nur er sie. Und das ist ein ganz bemerkenswertes zusätzliches Merkmal, denn daran kann man die Besonderheit dieser Tatsachen des affektiven Betroffenseins sehr deutlich machen. Denn hier haben wir ein Merkmal, das zwar linguistisch scheint, aber an keine besondere Sprache und kein besonderes Sprachvermögen gebunden ist, sondern auch gegen jeden noch so guten Sprecher gewandt werden kann, der noch so viel versteht und noch so gut in irgendeiner Sprache aussprechen kann. Hier handelt es sich also um ein Sachmerkmal, dass es also gewissen Tatsachen vorbehalten ist, höchstens von einem Einzigen, nämlich dem Betroffenen, ausgesagt werden zu können. Diese beiden Merkmale, dass Tatsachen des affektiven Betroffenseins den Betreffenden unvermeidlich auf sich selbst hinweisen und dass eben höchstens einer sie aussagen kann, heben diese Tatsachen des affektiven Betroffenseins über den Rahmen der gewissermaßen protokollierbaren Welt hinaus. Diese Tatsachen des affektiven Betroffenseins sind reicher als die bloß objektiven Tatsachen, die jeder sagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann, mindestens also der allwissende und in jeder Weise mächtige, auch sprachmächtige Gott. Die Tatsachen des affektiven Betroffenseins sind insofern reicher als die Tatsachen, die durch Abschälung der Subjektivität aus ihnen entstehen können, die bloß noch objektiven oder neutralen Tatsachen. Sie sind die sozusagen blutvollen Tatsachen, die Tatsachen des vollständig erlebten Lebens, das nicht durch eine Neutralisierung und Passivierung gegenüber dem neutralen Zugriff verdünnt ist. Diese subjektiven Tatsachen enthalten das, was Goethe in Wilhelm Meisters Wanderjahren durch den Mund des Wilhelm Meister im 12. Kapitel des 2. Buches die eigentliche Originalnatur 55 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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nennt, die beim ersten Aufblühen der Außenwelt uns entgegenkommt, wobei alles andere uns als bloße Kopien, als Abklatsch erscheinen müsste, weil es zwar sehr viel reicher ist, aber dieser ursprünglichen lebendigen Subjektivität durch Gewohnheit und Abschleifung aller Art entbehrt. Das ist ein Beispiel für den Verlust von Subjektivität, der den Tatsachen ihre volle Lebendigkeit nimmt. Tatsachen des affektiven Betroffenseins können in keiner Weise von unten her aufgebaut werden. Das sieht man daran, dass sie ja dem Inhalt nach vollständig mit den entsprechenden reduzierten objektiven Tatsachen übereinstimmen. Ich bin ja Hermann Schmitz, und wenn Hermann Schmitz ohne Rücksicht darauf, dass ich er bin, traurig ist oder sonst irgendein affektives Betroffensein durchmacht, dann haben alle diese Tatsachen dieselben Merkmale, genau dieselben Attribute meiner Person in sich, wie wenn ich im vollen affektiven Betroffensein davon spreche, also die Objektivität ergänze zur vollen subjektiven Tatsache dieses affektiven Betroffenseins. Die Merkmale, die Eigenschaften sind dieselben. Und daraus ergibt sich, dass die Überhöhung der bloßen Objektivität und Neutralität durch die Subjektivität des affektiven Betroffenseins in keiner Weise eine inhaltliche Bereicherung ist, so dass irgendwelche Attribute hinzukämen. Es ist vielmehr die Versetzung in ein anderes Milieu, gleich welche Attribute ich noch hinzunehmen kann auf der Seite der objektiven Tatsachen. Sie finden sich ebenso auf der Seite der subjektiven Tatsachen, aber eben im Milieu der Subjektivität als eine Eigenschaft von Tatsachen und von Sachverhalten. Es ist also keineswegs möglich, durch Ergänzung solcher Inhalte den Sprung von den bloß objektiven zu den subjektiven Tatsachen zu schaffen. Die subjektiven sind immer noch reicher, und daraus folgt auch, dass man nicht durch irgendwelche Zusätze zu den Attributen, die mit objektiven Tatsachen beschrieben werden, die subjektiven erreichen kann, zum Bei56 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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spiel auf dem Wege eines kausalen Bewirken. Das Attribut wäre dann das Bewirktwerden, das kausale Bewirktwerden der Subjektivität der Tatsache von der Objektivität aus. So etwas kann nicht gelingen, sondern hier handelt es sich um etwas auch kausal unerreichbar Neues. Während also die subjektiven Tatsachen von den objektiven aus unerreichbar sind, sind im Gegenteil die objektiven Tatsachen von den entsprechenden subjektiven, die die Subjektivität für jemand voraushaben, sehr wohl erreichbar und zugänglich, nämlich durch bloße Abschälung der Subjektivität. Sie stecken ja drin, die objektiven in den subjektiven, aber überhöht und bereichert durch das neue Milieu der Subjektivität für jemand, und das kann abgezogen werden, das ist sogar ein ganz wichtiger und unerlässlicher Teil unserer Lebenserfahrung, denn darin besteht das Erwachsenwerden, überhaupt die Reifung, die den Mensch zur Person macht. Der Mensch muss gewissermaßen auch objektiv werden können, er muss sachlich denken können, er muss sich der Überflutung durch affektives Betroffensein entziehen können, um sich ein Urteil zu bilden, um die Lage zu durchschauen. Die Tiere haben das nicht nötig, denn sie können sich führen lassen von ihren Instinkten, von den Programmen, die die jeweilige Situation ihrem vitalen Antrieb eingibt. Aber der Mensch ist aus dieser automatischen Führung durch die Situation herausgekommen, und jetzt muss er fähig sein, sich selbst ein Urteil zu bilden, und dazu braucht er die Abschälung der Subjektivität von den subjektiven Tatsachen und sonstigen Bedeutungen, das sind untatsächliche Sachverhalte, Programme und Probleme. Selbstverständlich kann eine vorher bloß objektiv wahrgenommene Tatsache ein solches Gewicht bekommen, dass sie zur subjektiven Tatsache wird, aber das geschieht nicht durch Nachrüstung mit Subjektivität, sondern durch eine Art Wiedergeburt, als für jemand subjektive Tatsache. So steht immer dieser Vorrang der Subjektivität als des Ur57 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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sprünglichen vor der Objektivität, der sich das Gegebene passiv als Tatsache darbietet. Die Person wächst aus der Subjektivität des affektiven Betroffenseins hervor, ohne das würde sie mit sich selbst gar nicht bekannt werden. Sie enthebt sich dieser unbedingten Bindung an das affektive Betroffensein auf diese zwei Weisen: einerseits der Vereinzelung, wodurch die kompakte Situation des Lebens aus primitiver Gegenwart zur Welt wird, und zweitens durch die Entsubjektivierung, wodurch sie fähig ist, sich über das affektive Betroffensein zu erheben, ohne es aber preiszugeben. Denn ohne affektives Betroffensein wüsste sie gar nicht, um wen es sich handelt. Es wäre da irgendjemand im Spiel der Welt begriffen, aber das sie es ist, könnte die Person gar nicht mehr sehen, sie weiß es sehr wohl und übernimmt es gewissermaßen als nachhallender Anspruch aus dem affektiven Betroffensein, so dass sie immer darauf pochen kann, genau diese Person selbst zu sein. Aber die Deckung dieses Anspruches ist überhaupt nur möglich, indem tatsächlich ein solches affektives Betroffensein eintritt. Sonst ist es nur eine Redensart, dass dieser Mensch nicht nur diese bestimmte Figur in der Welt ist, sondern gerade ich er bin. Durch die bloße Person, die in der Welt so auftritt, mit allen ihren Attributen, ist noch lange nicht gegeben, um wen es sich handelt. Denn alle diese Attribute könnte auch ein anderer haben, und sogar alle zusammen, das ergibt sich aus der Situation eines Menschen, der mit sich ganz und gar unzufrieden ist und sich in eine ganz andere Lebensform hineindenkt, in der er existieren würde. Und das ist nicht nur faktisch eine Möglichkeit, sondern es geschieht auch, zum Beispiel bei Wahnsinnigen, die sich tatsächlich in eine ganz andere Rolle hinein träumen und in wahnhafter Selbstverkennung damit identifizieren. Zum Beispiel der Wahnsinnige, der sich als Jesus oder als Napoleon versteht, und hiermit hat er sich über das, was er ist, zwar gründlich 58 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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getäuscht, aber er weiß immer noch, dass er er selbst ist. Und er selbst ist unabhängig von dieser Täuschung unverändert und sich auch ganz richtig dessen bewusst, dass er immer dieser selbst ist. Dieses tiefere Selbstbewusstsein findet statt im bloßen affektiven Betroffensein, unabhängig von allen Attributen, die den so Betroffenen zukommen. Diese Attribute sind immer nur zufällig, und das hat der Mathematiker Hermann Weyl in einen sehr tiefsinnigen Witz gefasst, indem er dem Philosophen Leibniz entgegenhielt: Wenn Leibniz sagte, Gott würde Notwendigkeit und Freiheit vereinen, indem er den Menschen, so wie er ist mit seiner Freiheit, in die beste aller möglichen Welten versetzte, sagt Weyl, dass diese Lösung zwar zureichend sein mag, »sie zerbricht aber vor dem Verzweiflungsschrei des Judas: Warum mußte ich Judas sein!« 6 So ist also auch der Mensch als Person in dieser seiner Subjektivität seines affektiven Betroffenseins verwurzelt in den entsprechenden subjektiven Tatsachen. Aus dem Gesagten ergibt sich die im Titel angekündigte Entscheidung über das Verhältnis der Philosophie zu den »positiven Wissenschaften«. Diese lassen nur objektive Tatsachen gelten und verfehlen damit den konkreten Menschen, der er selbst ist durch die subjektiven Tatsachen seines affektiven Betroffenseins. Auf diesen Menschen aber muss die Philosophie zurückgehen, um sich auf sein Sichfinden in seiner Umgebung zu besinnen. Daher muss sie schon bei der Sichtung ihres Gegenstandes über die positiven Wissenschaften hinausgehen und darf nicht nur deren Befunde verwerten. Andererseits muss die Philosophie, wenn sie Wissenschaft sein will, sich mit den übrigen Wissenschaften auf eine Stufe stellen, d. h. objektive oder neutrale Tatsachen zur Begründung ihrer Behauptungen anführen, z. B. die objektiHermann Weyl, Erkenntnis und Besinnung (1954), in: Gesammelte Abhandlungen, Berlin/Heidelberg/New York 1968, S. 645

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ve Tatsache, dass es subjektive Tatsachen gibt. Die Philosophie bleibt also als methodische Wissenschaft hinter ihrem Fragehorizont als Philosophie zurück. In ihr klafft ein Zwiespalt zwischen den philosophischen Fragen und den methodischen Antworten. Das gilt aber nur, wenn die Philosophie wissenschaftlich sein will. Von sich aus ist sie eine wesentliche Aktivität des Menschen, auch wenn sie dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit nicht genügt. Von Heraklit bis zu Pascal und Nietzsche gab es große unwissenschaftliche Philosophen. Der Mensch kann nicht auf wissenschaftliche Begründungen warten, um sich auf sein Sichfinden in seiner Umgebung zu besinnen.

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Kapitel 3 Zwei Wege zu sich selbst

Jemand geht gedankenlos durchs Feld und plötzlich trifft ihn ein Anruf beim eigenen Namen. Er fährt zusammen, aufgerüttelt durch den Zuruf, noch ohne nähere Besinnung in die Plötzlichkeit des Geschehens verloren. Er weiß diesen Augenblick lang weder Näheres über sich selbst noch über die Umstände, aber desto deutlicher spürt er den Ort, an dem er gerufen worden ist, denn ohne an einem Ort zu sein, könnte man von keinem Ruf getroffen werden. Er spürt sich also an diesem Ort hier und jetzt, aber es ist kein relativer Ort, der ihm Auskunft gäbe über seine Lage und seine Abstände zu anderen Orten, sondern es ist ein absoluter Ort, der bloß durch das Angerufen-werden als er selbst hervortritt, verschieden von anderen Orten, die aber durch ihn nicht näher bestimmt sind. Ebenso ist der Augenblick ein solcher absoluter Augenblick. Er weiß, dass er er selbst ist, auch wenn er gerade nicht über nähere Informationen über sich verfügt. Er weiß, dass dieses alles, was er jetzt erlebt, er selbst ist, das heißt verschieden von anderem, und er weiß, dass es wirklich geschieht, nicht dass es bloß erdacht oder fingiert ist. Dies alles ist das, was ich primitive Gegenwart nenne: hier im Augenblick des Aufschreckens, ebenso aber in vielen anderen und noch eindringlicheren Situationen des Erschreckens im weiteren Sinn des plötzlichen Getroffenwerdens von der Ankunft eines Neuen, das die gleitende Dauer zerreißt und ins Vergangene des Gewesenseins zurückstößt, indem dieses Neue aus der Dauer Gegenwart abreißt und exponiert. Gegenwart mit den drei eben genannten Seiten des Hier, Jetzt, 61 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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des Wirklichseins, der absoluten Identität oder der Selbstheit des Verschiedenseins von anderem und der Subjektivität, affektiv betroffen zu sein. Das nenne ich die primitive Gegenwart. Solche Ereignisse sind zum Beispiel die Begegnung mit den von mir sogenannten und näher charakterisierten Halbdingen, die nicht zu erkennen geben, was sie sind, nämlich etwa der niederreißenden Schwere, wenn man stürzt oder sich gerade noch fängt, dem Wind, der einem plötzlich als Windstoß entgegenschlägt, oder dem Schmerz, der plötzlich aufkommt, denen man sich also stellen muss, selbst wenn man gerade keinen Begriff von ihnen hat, weil sie von selbst über den Menschen kommen und ihn zum Standhalten zwingen. Ebenso kann es sich um einen freudigen Schreck handeln, der einen fassungslos macht, wenn man zum Beispiel plötzlich einem Menschen begegnet, den man lange gesucht und lange vermisst hat und nun kaum glauben kann, dass er da ist, und dergleichen mehr. Das also sind solche Einschnitte, die etwas eindeutig durch ihr plötzliches Eintreten und Zerreißen der gleitenden Dauer als dieses Bestimmte auftauchen lassen, indem sie zugleich im affektiven Betroffensein eingreifen in das Befinden des Menschen. Diese Information ist zwar zuverlässiger, sie führt auch an das heran, was unleugbar man selber ist, aber sie ist wenig aufschlussreich, weil sie kaum etwas als das momentan Verfügbare zu verstehen gibt, zum Beispiel den Menschen über sich selbst nicht näher informiert, wer und was er ist, welche Beschaffenheit er hat, und ebenso wenig über die Umstände, sondern sie ist eingeschränkt auf das augenblickliche Getroffenwerden. Die beiden Komponenten dieses Zustandes sind das abgerissene, aber eindeutige und unverkennbare Gegebensein der primitiven Gegenwart bezüglich Hier, Jetzt, Sein, Dieses, Ich und andererseits das affektive Betroffensein, dass etwas in mich eingreift, mich ergreift, mich trifft, mich berührt, mir nahekommt und dergleichen, dieses affektive Betroffen62 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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sein, das ist die zweite Komponente dieses Zustandes und das gibt es auch, wenn nicht diese Informationslosigkeit besteht, sondern wenn man normal orientiert ist. In allen den Fällen, in denen jemand mit affektivem Betroffensein entweder von bloßen leiblichen Zuständen wie Schmerz, Hunger, Durst oder von Gefühlen wie Liebe, Freude, Trauer, Zorn, Scham durchdrungen ist, so dass dieses Betroffensein ihm persönlich ganz individuell nahegeht, sind darin enthalten allerlei Informationen des besonnenen Menschen über seinen Zustand, andererseits aber dieser Umstand, dass er es selber ist, und dass er es selber ist, spürt er dann nur daran, dass er tatsächlich in dieser Weise affektiv berührt wird, dass ihn irgendetwas ergreift im leiblichen Zustand, auch als Gefühl, das ja immer nur durch den Leib hindurch ergreift. Hier also mischen sich normale Orientierung und affektives Betroffensein, und auch das ist ein Zugang zu einem selbst, der unverkennbar ist und der Menschen unvermeidlich darauf aufmerksam macht, dass er es selber ist, um den es sich handelt. Das ist ganz anders, wenn er von sich Kenntnis nimmt, ohne dass es sich dabei um sein eigenes affektives Betroffensein handelt, wenn er im normalen Umgang mit anderen Menschen oder mit Dingen zu tun hat, von denen er entweder gar nicht besonders betroffen ist oder nur so am Rande betroffen ist, zum Beispiel nebenbei sich ärgert, ohne dass ihn wirklich irgendetwas heimsucht und erschüttert und ihm ernstlich nahegeht, was da passiert ist. Das ist ja in vielen Fällen der Fall. Dann gibt es zwar eine gewisse Kenntnis von sich selbst, aber diese Kenntnis ist sehr unsicher. Man nimmt im Wesentlichen Kenntnis von einem gewissen Individuum, das man für sich selber hält. Es geht ja um mich und ich weiß, dass es um mich geht. Hier handelt es sich um eine Grauzone zwischen dem affektiven Betroffensein und der rein sachlichen Einstellung. Freilich geht das affektive Betroffensein mit sachlicher Selbstkontrolle sehr oft überein, dass man ei63 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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nerseits wirklich ergriffen ist und andererseits auch sich davon nüchtern Rechenschaft zu geben versteht; beides ist verträglich, aber sehr häufig sind diese Zustände, dass man zwar noch weiß, dass es sich um einen selber handelt, aber ohne eigentlich zu realisieren, wie man darauf kommt, dass es sich gerade um einen selber handelt. Wenn man lediglich sich Rechenschaft gibt, was man dann vorfindet, dann geht es einem wie Wittgenstein und Avenarius, die unter dem, was sie vorfanden, niemals sich selbst fanden, sondern nur irgendwelche Umstände, oder David Hume, der sich selbst auflöste in irgendwelchen sensations, irgendwelchen Empfindungen, zu denen er Hitze, Kälte, Liebe und Hass rechnete, unter denen er aber nicht mehr sich selbst finden konnte. Das ist das Schicksal des Menschen, der sich vollständig objektiviert, nur noch als Zuschauer dessen, was ihm aus einer gleichsam neutralen, unbeteiligten Position begegnet. Dann kommt er selbst gar nicht mehr vor, sondern es sind irgendwelche Verhältnisse, in denen er selbst gewissermaßen nur in der dritten Person vorkommt als einer unter vielen, nicht mehr als er selbst, denn er hat sich ja zurückgezogen in die Rolle des reinen Beobachters, der dem gegenübersteht, was dann als Welt dient. Dies ist die andere Art und Weise, mit sich selbst bekannt zu werden, dass nämlich alle diese Informationen zur Verfügung stehen, die teils aus dem affektiven Betroffensein stammten, teils aus dem, was man gelernt hat und womit man vertraut geworden ist, und die dann in ein Zwischenreich eingebettet werden, das noch gerade eben aus dem affektiven Betroffensein die Erinnerung daran enthält, dass man doch irgendwie selbst da ist, aber nicht mehr in der Realisierung, die sich aufdrängt, wenn man affektiv betroffen ist, sondern nur noch als Nachhall, während man sich in das Gegebene versenkt, in dem als solchem nichts mehr von dem zu finden ist, dass man es selbst ist, um den es sich handelt. Diese beiden Weisen des Gegebenseins müssen unterschie64 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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den werden; wenn das affektive Betroffensein wachgerufen ist, dann gibt es eine automatische Kenntnis davon, dass man es selbst ist, ohne dass diese automatische und unwiderrufliche, unbestreitbare Kenntnis, dass man es selbst ist, nähere Aufschlüsse gibt, was man ist, das heißt, sie stellt nicht viele Gattungen zur Verfügung, unter die man sich subsumieren könnte. Man kann das auch so ausdrücken, dass man nicht viele Eigenschaften von sich kennt. Aber die Rede von Sachen mit Eigenschaften ist ein Erbe der alten Ontologie, wie wir sie bei Aristoteles finden, und ist längst nicht so präzise wie die Rede von Gattungen, deren Fall man ist. Was Gattungen sind, habe ich anderswo genau präzisiert. Was eigentlich Eigenschaften sind, das kann man nicht so gut sagen. Diese Informationen stammen erst dann in reicher Hülle aus einem Bereich, wenn man herausgetreten ist aus dem Betroffensein, dass irgendetwas einem nahegeht, einen intensiv berührt. So weiß man zum Beispiel immer, dass ich es bin, selbst wenn man sich selbst verkennt, selbst wenn man im Traum etwa sich für etwas ganz anderes hält, oder gar in wahnhafter Selbstverkennung, dann ist immer noch diese Gewissheit vorhanden, dieses elementare Sichbewussthaben, dass ich es bin, um den es sich handelt, aus dem affektiven Betroffensein. Das ist der eine Zugang und dieser Zugang gehört notwendig zu dem Betroffensein, zu dem, was auf einen zukommt. Dagegen hat alles das, was dem anderen Zugang entstammt, nämlich die reiche Information über sich auf dem Weg über Gattungen, als deren Fall man sich selbst weiß, diese reichere, aber weniger zuverlässige Information hat nicht dieselbe Notwendigkeit, denn sie ist vielmehr zufällig, denn alles, was ich mir auf diesem Wege zuschreibe als Fall dieser oder jener Gattung, als Mensch oder als Professor oder als irgendetwas, was ich sonst noch bin, das alles könnte genauso gut ein anderer haben; nichts davon ist notwendig, sondern es ist, sofern es nicht Platz hat in der schmalen Hülle 65 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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von Informationen, die durch das bloße affektive Betroffensein übrig bleibt, verfügbar für beliebige Täuschungen, etwa in Träumen oder in sonstigen Zuständen geistiger Abnormität oder in ganz gewöhnlichen Zuständen, wie denen der Selbstüberschätzung oder Selbstunterschätzung, wo der Mensch sich selbst ja auch verkennt. Diese Vertrautheit mit sich ist sehr oft außerordentlich labil und täuschbar, wenn auch unentbehrlich, um sich in der Welt zurechtzufinden. Sie ist zufällig, ohne dieselbe Notwendigkeit wie das Gegebensein dessen, dass ich es selber bin im affektiven Betroffensein. Das ist eine Gegebenheit, die, wie ich in anderen Zusammenhängen nachgewiesen habe, ohne Einzelheit auskommt, ohne die Möglichkeit, einzutreten in eine Menge, die dann eine bestimmte Anzahl haben kann, und damit auch ohne die Möglichkeit, als einzelnes Glied in einen Komplex einzutreten, der durch Verbindungen zwischen seinen Gliedern zusammengehalten wird. Vor dieser Einzelheit liegt die absolute Identität, sich herauszuheben als etwas, das verschieden ist von anderem, wenn es Vieles gibt. Diese absolute Identität ist eine geschichtliche Errungenschaft des Hervortretens eines Augenblicks aus dem Geschehen des Kontinuums der Dauer, das dann zerrissen wird durch die Ankunft des Neuen. Diese absolute Identität fehlt zum Beispiel bei allen Stufen, die in einem intensiv steigenden oder sinkenden Fall einer Qualität der Hitze oder Kälte oder der Lautheit und der Kraft und dergleichen gewonnen und verloren werden. Alle diese Grade sind in der betreffenden Intensität zusammengepackt, ohne dass irgendeiner einzeln oder auch nur absolut identisch ist. Es wäre nach Verschiedenheit von ihnen zu suchen ebenso verkehrt wie nach Einzelheit, obwohl man sie zum Teil im Ansteigen messen, das heißt in ein anderes messbares Element, etwa des Thermometers, übertragen kann. Aber das spielt für die Art und Weise, wie diese Bestandteile im intensiven Quantum einer Qualität sind, keine 66 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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Rolle. Das ist ein Beispiel für das Fehlen absoluter Identität. Diese verlangt nicht das Vorkommen von Gattungen, von denen etwas der Fall ist. Erst die Fähigkeit, Element einer Menge mit einer bestimmten Zahl zu werden, verlangt das Fallen unter eine Gattung, wie ich anderswo nachgewiesen habe. Dies fehlt in den Fällen der plötzlichen Begegnung, etwa mit solchen Halbdingen wie Schwere, Windstoß und Schmerz, denen man standhalten muss, noch ehe sie zu erkennen geben, was sie sind. Zwischen dem unmittelbaren Betroffensein und der mittelbaren Selbstkenntnis, der bloßen Kenntnisnahme aus der Beobachterperspektive und insbesondere den Grauzonen, den Zwischenphasen zwischen dem Nachwirken des sich Kennens aus affektivem Betroffensein und der bloßen Beobachterrolle, zwischen diesen beiden Weisen des Zugangs zu sich selbst gibt es den modalen Gegensatz, dass man selbst notwendig mit dabei ist im affektiven Betroffensein von etwas, während das bloß zufällig ist, was man zur Kenntnis nimmt in der anderen objektivierenden Einstellung von sich, die nicht mehr getragen ist vom Betroffenwerden. Dieser modale Unterschied hängt engstens zusammen mit einem zweiten Unterschied, nämlich dem Unterschied der Tatsachen, mit denen man vertraut wird durch das bloße affektive Betroffensein, und denen, mit denen man durch die mehr oder weniger objektivierende Einstellung vertraut wird. Es handelt sich um ganz verschiedene Tatsachen, die Tatsachen des affektiven Betroffenseins, die ganz vollen eindrücklichen Tatsachen, in denen die Wirklichkeit an den Menschen heranrückt; die anderen Tatsachen, die in der bloßen Beobachterrolle festgestellt werden und in den Grauzonen dominieren, diese Tatsachen sind die gewissermaßen abgeblassten Tatsachen ohne die Schärfe und Lebendigkeit und Fülle der für jemand subjektiven Tatsachen seines affektiven Betroffenseins. Ich mache das gerne an einem Beispiel deutlich, das ich einer fiktiven Erzählung von Friedrich Dür67 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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renmatt entnehme. Es handelt sich um folgendes: Ein sehr robuster, kräftiger Dichter wird besucht von einem schwächlichen Bewunderer seiner Kunst, und der Dichter trägt dem Bewunderer seine Absicht vor, einen lebendigen Menschen zum Fenster herauszustürzen, um die dem Dichter so nötige Kenntnis der menschlichen Natur durch Beobachtung des Verhaltens in der Todesangst zu bereichern. Der Besucher hört sich das mit behaglichem Grausen an, schwankend zwischen Bewunderung und Fassungslosigkeit, bis ihm dann durch immer genauere Schilderung dessen, der herausgestürzt werden soll, auch an ganz kleinen Einzelheiten seiner Erscheinung immer deutlicher wird, um wen es sich handelt, bis er plötzlich feststellen muss, dass er selber gestürzt werden soll. In diesem Augenblick bereichert sich ihm der mitgeteilte Sachverhalt um eine ganz neue und sehr wichtige Nuance, die sich daran ablesen lässt, dass sein Verhalten nun nicht mehr behaglich grausend, sondern panisch ist und er mit aller Kraft zu entkommen sucht. Es handelt sich um einen Wechsel von einem nebensächlichen Sachverhalt zu einem Sachverhalt, der von ganz großem Gewicht im eigenen Erleben ist. Ähnlich in den anderen Fällen. Es kann sich natürlich auch um irgendetwas Beglückendes handeln. Man könnte nun sagen, was hier hinzugekommen ist, ist einfach die Feststellung, dass es sich um ihn selber handelt und nicht irgend jemand anders, der ihm mehr oder weniger gleichgültig sein könnte. Aber das genügt keineswegs, denn er selber kommt ja auch in ganz neutralen Zusammenhängen vor. So hat man zum Beispiel in der analytischen Philosophie versucht, diese Rede in der ersten Person, ich bin es, zu ersetzen durch eine Rede in der dritten Person, zum Beispiel als derjenige, der gerade spricht. Man kann in einer solchen Situation auch sagen: der gerade Niesende oder sich Räuspernde und dergleichen, wenn sonst niemand gerade niest oder sich räuspert, und das ist eine eindeutige Kennzeichnung des In68 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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dividuums, das ich selbst bin. Aber das genügt überhaupt nicht, um der Situation diese besondere Schwere und Eindrücklichkeit zu geben. Den schmächtigen Besucher ergreift die Dichte einer ganz anderen Dimension als die bloße Feststellung, dass es sich um ihn selber handelt, um das Individuum, das tatsächlich er selber ist, denn das würde ihn nicht besonders aufregen, sondern dieses Erlebnis, dass diese Person gestürzt werden soll, wird erst in dem Augenblick zu einem ganz anderen unvergleichlich wichtigeren Sachverhalt für ihn, wenn das affektive Betroffensein hinzukommt, an dem er merkt, dass dieses betreffende Individuum er selber ist. Es handelt sich nicht um die bloße Identifizierung eines bestimmten Individuums mit einem mehr oder weniger schrecklichen oder erfreulichen Schicksal durch eine Tatsache, die genau auf die Person zutrifft, um die es sich handelt, sondern um etwas Zusätzliches, um eine besondere Subjektivität, die erst erforderlich ist, um der betreffenden Tatsache mehr Gewicht zu geben, als die noch ziemlich gewöhnliche Tatsache hat, die übrig bleibt, wenn man nur objektive Sachverhalte in Anspruch nimmt. Als objektiv oder neutral bezeichne ich einen Sachverhalt, insbesondere eine Tatsache, wenn jeder sie aussagen kann, sofern er nur genug weiß und gut genug sprechen kann. Als subjektiv bezeichne ich eine Tatsache, die höchstens einer im eigenen Namen aussagen kann, wenn auch alle anderen in der Lage sind, auf dem Weg über Kennzeichnungen diese Tatsache in den Blick zu nehmen und zu besprechen, aber sie können nicht den Satz, der genau diese Tatsache, diesen Sachverhalt darstellt, von sich aus formulieren. Wenn ich selbst sage, ich erschrecke auf das Äußerste, etwa in der Situation des Dichterbesuchers, dann ist das etwas, was kein anderer nachsprechen kann, denn er ist nicht ich, und wenn dabei nur ein neutraler Sachverhalt herauskommt, wie, derjenige, der gerade spricht, erschrickt auf das Äußerste, dann ist überhaupt nicht mehr das 69 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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besondere Gewicht enthalten, dass nur im affektiven Betroffensein mitgegeben ist als das Gewicht, dass es sich um jeweils diesen Betroffenen selber handelt, und zwar in seiner eigenen Einstellung auf sich, und das drückt man in der ersten Person bei uns so aus, dass dies für mich in ganz besonderer Weise gilt, was jetzt gesagt wird, dass mich das ganz besonders angeht. Es gibt andere Sprachen, die andere Mittel als die erste Person des Singulars haben, darauf kommt es hier nicht an, nur auf die Tatsache, dass jemand von sich selber spricht und zwar als von sich selber, insofern er mit sich selber bekannt ist. Das kommt nur im affektiven Betroffensein heraus. Wenn ich also eine Tatsache darstelle, dann kommt dieses volle Gewicht dazu, das sich nur im affektiven Betroffensein erschließt und das verlorengeht als Gewicht einer besonderen Tatsache, wenn man die Tatsache in eine neutrale Tatsache verwandelt, wenn man also über irgendeinen Hermann Schmitz spricht, ohne gerade hinzufügen zu wollen, dass es sich um mich selber handelt, ich, der ich Hermann Schmitz bin. Das sind ganz wesentliche Merkmale, die diese Tatsachen des affektiven Betroffenseins auszeichnen vor allen anderen bloß objektiven oder neutralen Tatsachen, solchen Tatsachen, die in bloß objektivierender Einstellung gesprochen werden. Man sagt davon, dass man bloß objektiv urteilt, wie Richter urteilen, also ohne Abneigung und ohne Zuneigung von allem affektiven Betroffensein abstrahierend; was dann übrig bleibt, ist immer nur eine Rumpftatsache und von dieser Rumpftatsache aus kann man die vollen Tatsachen der Subjektivität, die aus dem affektiven Betroffensein stammen, überhaupt nicht aufbauen. Man kann sie durch keine Ergänzung des Inhalts hinzufügen, indem man irgendwelche Eigenschaften oder Relationen, in denen der betreffende Mensch steht, noch hinzusetzt, sondern es ist ein Unterschied der Tatsächlichkeit. Diese ganz neutrale Darstellung, die für den bloß noch neutralisierend zuschauenden und re70 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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gistrierenden Wissenschaftler und dergleichen übrig bleibt, ist also keineswegs das, was ich selber sagen kann, wenn ich mein affektives Betroffensein von irgendetwas bekenne, zum Beispiel meine Todesangst in der Rolle des Besuchers des Dichters, wobei dieser Besucher merkt, dass er aus dem Fenster gestürzt werden soll. Hier handelt es sich um wesentlich verschiedene Tatsachen, wovon die eine relativ belanglos ist, jedenfalls eine ganz andere nicht so ernsthafte Einstellung ermöglicht. Insofern haben wir hier zwei deutliche Merkmale, die zeigen, dass es sich um unterschiedliche Tatsächlichkeiten handelt, aber der Inhalt ist in diesem Falle genau derselbe, wenn Herr Schmitz traurig ist, dann kann man alle möglichen Zusammenhänge aufzählen, die ihn traurig machen oder die auf die Traurigkeit hinwirken; beispielsweise Gehirnzustände, wenn irgendein Gehirnzustand geeignet sein sollte, Traurigkeit hervorzurufen und dergleichen, alles das kann man genauso gut mit den neutralisierten Tatsachen, die den Hermann Schmitz betreffen, verbinden wie mit den für mich subjektiven Tatsachen, die erst herauskommen, wenn hinzukommt, dass ich es bin, der Hermann Schmitz ist. Diese Tatsachen decken sich im Inhalt; durch bloße Ergänzung des Inhaltes kommt man nicht zu den für mich subjektiven Tatsachen, denn wie auch immer der Inhalt ergänzt wird, es handelt sich um die gleichen Inhalte, aber die Tatsächlichkeit ist eine andere. Die subjektive Tatsächlichkeit, die alle diese Inhalte in sich aufnimmt, hat ein weit größeres Gewicht, eine größere Lebendigkeit, eine größere Fülle als die bloß noch objektive Tatsache. Sie ist unerreichbar durch Hinzufügung weiteren Inhalts an Eigenschaften oder Relationen, so dass die Tatsachen des affektiven Betroffenseins, die für jemand subjektiven Tatsachen, unerreichbar sind von den objektiven Tatsachen aus. Zum Beispiel findet der Umstand, dass die subjektiven Tatsachen hervorgebracht werden, im Bereich der objektiven Tatsachen keinen Platz. Wenn Her71 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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mann Schmitz traurig ist, kann es viele objektive Tatsachen geben, die dies bewirken, dass Hermann Schmitz traurig ist. Andererseits gilt aber auch, dass umgekehrt die objektiven Tatsachen sehr leicht erreichbar sind von den subjektiven Tatsachen, man kann die subjektiven nicht aus den objektiven aufbauen, aber die subjektiven Tatsachen zu objektiven abbauen, indem man von der Subjektivität abstrahiert. Das ist unvermeidlich für das Erwachsenwerden jedes Menschen. Er muss rein sachlich denken, er muss sich selbst sachlich einordnen können in die Gruppe der Menschen und der Dinge, mit denen er zu tun hat. Er muss nüchtern und objektivierend Rechenschaft von sich geben können. Es gibt zwei Quellen meines Zugangs zur Bekanntschaft mit mir selbst, nämlich erstens das affektive Betroffensein und zweitens den Hinblick auf den Inbegriff der Attribute, die ich mir zuschreibe aufgrund verschiedener Informationen aus der eigenen Lebenserfahrung, aus den Mitteilungen anderer aus meinem gegenwärtigen Zustand und so weiter. Die erste Quelle ist untrüglich hinsichtlich meiner Existenz und meiner absoluten Selbstheit, in dem Sinn, dass ich mich abhebe von allem dem anderen, was mir aus meiner Umgebung begegnen kann. Die übrigen Inhalte, über die mein affektives Betroffensein mich über mich unterrichtet, sind relativ spärlich und auch nicht absolut zuverlässig, denn man kann sich in Bezug auf sich selbst, zum Beispiel hinsichtlich eines erlittenen Gefühls, täuschen, sei es etwa durch falsche Subsumtion, aus Eitelkeit oder Autoritätsglauben, aber solche Irrtümer sind durch Nachsehen an der Quelle des affektiven Betroffenseins immer korrigierbar. Die andere Quelle, nämlich die Einsicht in das Bild, das sich ergibt durch Kenntnis aller meiner Umstände, ist sehr viel reicher in Bezug auf den Aufschluss, den sie mir gibt, reicher an Gelegenheiten, mich selbst unter Gattungen einzuordnen, als deren Fall ich mich selbst auffasse. Aber diese Quelle ist nicht nur gleichfalls trü72 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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gerisch, sondern es ist auch viel weniger bestimmt, dass es sich bei dem, was ich mir so zuschreibe, dass es sich dabei um mich selbst handelt. Jede Tatsache, jede objektive Tatsache, die nicht zu den subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins gehört und die mir einen Aufschluss über mich selbst gibt, könnte ebenso gut ein Zug eines anderen sein. Das ist im Inhalt dessen, was ich mir auf diese Weise mithilfe objektiver Tatsachen zuschreibe, nicht zu erkennen, und das gilt nicht nur für die einzelnen Tatsachen, sondern auch für die Gesamtheit. Ich bin so wenig der Inbegriff aller meiner Attribute, sofern sie mir nicht durch affektives Betroffensein zur Verfügung stehen, sondern nur als objektive Tatsachen, so wenig bin ich dieser Inbegriff aller meiner Attribute, dass es zwar aussichtslos, aber keineswegs sinnlos ist, wenn jemand, der von seinem Leben enttäuscht ist, sich hineinträumt in die Rolle irgendeines anderen, den er wegen seiner Eigenschaften und Beziehungen beneidet. Das ist zwar aussichtslos, weil er tatsächlich daran gebunden ist, der zu sein, der er nun einmal geworden ist, aber das, was er so geworden ist, ist ihm zufällig und es ist daher kein Widerspruch, wenn er die Vorstellung hat, selbst ein anderer zu sein. Hieraus folgt, dass das, was der Mensch, abgesehen von seinem affektiven Betroffensein und den darin enthaltenen für ihn subjektiven Tatsachen, über sich selbst weiß, ihn nicht eindeutig festlegt aus dem, was er an Attributen erfahren kann, wenn er sich ablöst von den subjektiven Tatsachen seines affektiven Betroffenseins und sich nur noch objektiv betrachtet. Dies ist nicht eindeutig und notwendig er selbst. Das ergibt sich auch sehr hübsch aus einem tiefsinnigen Witz des Mathematikers Hermann Weyl bezüglich des göttlichen Weltplanes, den Leibniz Gott zuschrieb, woran alle Individuen genau mit allen ihren Attributen und Rollen untergebracht sind, einschließlich ihrer Freiheit. Dieser Versuch, Notwendigkeit und Freiheit zu versöhnen, scheitert an dem 73 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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Verzweiflungsruf des mit einer besonders unglücklichen Rolle bedachten Jesusverräters Judas: »Warum musste gerade ich Judas sein?« In seinem affektiven Betroffensein durch Verzweiflung merkt Judas, dass er Abstand hat von der ihm zugedachten Rolle, also nicht etwa, wie Leibniz es sich dachte, der Inbegriff oder Komplex aller dieser ihm zugedachten Rollen, dieser Attribute, Eigenschaften, Beziehungen, Zustände und so weiter ist. Dieser Abstand führt nun dazu, dass es keineswegs selbstverständlich ist für einen Menschen, dieser zu sein, der er ist, so dass er in dem, was er in Einstellung auf objektive Tatsachen von sich finden kann, nicht zuverlässig das findet, was er ist, sondern er muss auf die viel gewichtigere Quelle im affektiven Betroffensein zurückgreifen. Nur dadurch hat er Gelegenheit zum Selbstbewusstsein, denn an allem dem, was er an Attributen irgendwelcher Art findet, kann er nicht ablesen, dass es sich um ihn selbst handelt, es sei denn, dass ihm eben sein affektives Betroffensein wenigstens im Nachhall aus dem intensiven affektiven Betroffensein darüber belehrt. Dann allerdings im Abstieg von dem affektiven Betroffensein kann er auch in objektivierender Einstellung wissen, dass es sich um ihn selbst handelt. Aber dieses Wissen ist ein nicht ursprüngliches. Es konkurrieren immer bei jedem Komplex von Attributen, von Eigenschaften und Verhältnissen, in denen ein Mensch sich befindet, mehrere mögliche Subjekte und eines davon ist derjenige, der er ist im affektiven Betroffensein, nicht in irgendwelchen Zuschreibungen durch objektive Tatsachen. Deswegen kann man sagen, dass es in einer Welt, in der es gar kein affektives Betroffensein gäbe, nicht nur kein Selbstbewusstsein geben könnte, sondern überhaupt kein Bewusstsein im Sinne eines Bewusstgehabtwerdens, was ja Bewussthaber voraussetzt, und diese Bewussthaber existieren nicht durch die Rollen, die in der Darstellung objektiver Tatsachen angebbar sind, sondern diese Tatsache, dass ein solcher Bewussthaber da ist 74 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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und auch zu finden ist, besteht nur aufgrund des affektiven Betroffenseins; eine Welt, in der es kein affektives Betroffensein gäbe, sondern alles nur in neutraler Einstellung wahrgenommen würde, wäre eine Welt ohne Bewussthaber, ohne Bewusstsein und ohne Selbstbewusstsein, also etwas ganz anderes als die Welt, in der wir jetzt leben und dieses fantastische Bild einer entsprechend verarmten Welt entwerfen. Alle Positivisten, wenn sie sich lediglich auf den Standpunkt des neutralen Beobachters stellen, der sich seinerseits alles affektiven Betroffenseins entledigt hat, um nur noch zu registrieren, was sie vorfinden, denken so wie Wittgenstein in seinem Aphorismus: Wenn ich ein Buch schriebe, die Welt, wie ich sie vorfand, so würde darin von meinen Zuständen und dergleichen die Rede sein, aber nicht von mir selbst, der dies alles vorfindet. Dies ist eine Einstellung, in der gewaltsam die Evidenz der Existenz seiner selbst im affektiven Betroffensein ausgeblendet wird, ebenso von Avenarius und Mach und von all den Leuten, die mit Lichtenberg zu dessen Ausspruch sich bekennen. Der Ausspruch ist leider inzwischen in den Sudelbüchern verlorengegangen, man hat ihn noch in älterer Überlieferung. Lichtenberg schrieb, gleichzeitig mit Fichte übrigens, etwa 1794: Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt, es blitzt. Zu sagen »cogito« ist schon zu viel, wenn man es mit »ich denke« übersetzt. Das Ich anzunehmen, zu postulieren, ist praktisches Bedürfnis. Das hat die begeisterte Zustimmung solcher Positivisten wie Carnap gefunden. Hier bleiben nur einzelne Zustände, einzelne Empfindungen, wie Mach sagte, übrig und niemand mehr, der das alles erleidet und zur Kenntnis nimmt. Diese Verkürzung der Welt ist durch eine vollkommen willkürliche Ausblendung der Hälfte unserer Lebenserfahrung bedingt, wenn die Menschen wirklich affektiv betroffen sind, das gilt auch für die Positivisten, dann spüren sie schon ohne Weiteres, dass sie es selber sind, um den es sich handelt. Hier haben 75 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Zwei Wege zu sich selbst

wir es mit einem Versuch zu tun, die Welt zurückzuführen auf das, was übrigbleibt, wenn sich nur noch objektive Tatsachen feststellen lassen und nicht einmal alle objektiven Tatsachen, insbesondere nicht die objektive Tatsache, dass es für jemand subjektive Tatsachen gibt.

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Kapitel 4 Der Nihilismus und die Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart

Nietzsche hat den Nihilismus, dass dem Menschen nichts mehr an sich wichtig ist und seinem Willen nicht mehr ein beharrliches Ziel vorgibt, sondern alles nur noch wie eine Laune dem Belieben als Spielball dienen kann, für seine Zeit und erst recht für das folgende Jahrhundert diagnostiziert bzw. prognostiziert und darauf zurückgeführt, dass die obersten Werte entwertet worden seien. Diese Diagnose ist kaum glaubhaft, wie das Beispiel der alten Griechen zeigt. Die Griechen waren in diesem Sinne keineswegs im Großen und Ganzen Nihilisten, und dennoch fehlten ihnen die obersten Werte. Ihre wichtigsten Werte waren nämlich personifiziert in Gestalt von Göttergestalten, die wie Dionysos und Apollon zueinander konträr standen oder gar wie Aphrodite und Artemis nach dem Hippolytos des Euripides einander bekriegten, so dass es keine obersten Werte gab, die das Wertesystem vereinheitlicht hätten. Das Fehlen solcher obersten Werte reicht also nicht zum Nihilismus aus. Nietzsche hat den Nihilismus an der falschen Stelle gesucht, nämlich bei den Objekten des Willens, die mehr oder weniger entwertet worden seien. Tatsächlich ist diese Wurzel aber auf der Subjektseite zu suchen in einer Krise des Selbstbewusstseins, die ihren Ausgang in Deutschland im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts bei Johann Gottlieb Fichte nahm und sich sodann mit langfristigen Folgen ausgebreitet hat und auch noch in der Gegenwart fortwirkt. Fichte hatte nämlich die Eigenart der subjektiven Tatsachen, dass höchstens einer sie im eigenen Namen aussagen kann, entdeckt am Selbstbewusstsein, 77 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Der Nihilismus und die Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart

nämlich als die Tatsache, dass ich selbst jeweils etwas bin, wodurch eine Tatsache in einer ihm nicht ganz durchsichtigen Weise herausgehoben wurde gegenüber den Tatsachen, die das betreffen, was ich demnach bin. Er spricht davon, dass im Gegensatz zu den Tatsachen, was überhaupt los ist und was ich jeweils bin, die Tatsache, dass ich selbst dieses oder jenes bin, nicht gelernt werden könnte, weder aus der Erfahrung noch aus apriorischen Prinzipien, sondern dass man dies von sich aus mitbringen müsste. Nun ist Fichte aber mit der Eigenart dieser subjektiven Tatsachen nicht zurechtgekommen, weil er alle Tatsachen mit all seinen Zeitgenossen und seinen Vorgängern für objektiv hielt, und zwar für objektiv in folgendem Sinn: Eine Tatsache ist objektiv, wenn jeder sie aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann. Dagegen ist eine Tatsache subjektiv, wenn immer nur höchstens einer im eigenen Namen sie aussagen kann, obwohl auch andere so gut wie er in der Lage sind, darüber zu sprechen, und zwar mit geeigneten Kennzeichnungen und Benennungen. Die richtige Einordnung der subjektiven Tatsachen in die Tatsachen überhaupt ist Fichte nicht gelungen. Stattdessen ist er, um diesen Tatsachen gerecht zu werden, von allen vermeintlich immer nur objektiven Tatsachen ausgewichen, und zwar zunächst auf das Ich, das sich selbst setzt als Tathandlung im Gegensatz zu allen Tatsachen. Und dann, nachdem diese Lösung sich als unhaltbar weil allzu weltfremd erwies, ist er sich selbst korrigierend und geschichtlich weit folgenreicher ausgewichen auf die Deutung des Ich als Schweben über allen Tatsachen im Zirkel von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Bestimmen und Bestimmtwerden durch das Nicht-Ich. Diese Deutung des Ich als ein Schweben, die Novalis dann aufgenommen hat, ist geschichtlich sehr folgenreich gewesen, und zwar in zwei Beziehungen. Einerseits bei Kierkegaard und den ihm nachfolgenden Existenzialisten, wobei das Schweben verstanden wurde nach Kierkegaard als 78 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Der Nihilismus und die Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart

ein Höhenschwindel, der als Angst das Subjekt oder den Geist, wie er sagt, fasst, wenn er aus der Höhe hernieder sieht auf seine eigenen Möglichkeiten und im Schwindel dann irgendein endliches Gehäuse, wie Jaspers es ausdrückt, fasst und sich darin verschanzt, um überhaupt noch irgendeinen Halt zu haben. Das ist das Grundmotiv der Existenzphilosophie. Die andere, geschichtlich eher noch folgenreichere Auswertung von Fichtes Schweben des Ich über allen Tatsachen findet sich bei Friedrich Schlegel als romantische Ironie. Diese romantische Ironie besteht in einem Virtuosentum, aus dem Abstand von allen beliebigen Standpunkten sich auf jeden beliebigen versetzen zu können und ebenso von jedem beliebigen Standpunkt sich wieder zurückziehen zu können. Diese virtuose Wendigkeit, die die Not des Schwebens zu einer Tugend macht, hat sich dann weiter entwickelt im 19. Jahrhundert zur Figur des Dandys, und während sie bei Friedrich Schlegel und Novalis noch mehr ein poetisches Spiel war, ist diese Ironie von Max Stirner blutig ernst genommen und ins Nihilistische umgedeutet worden, indem er sich aus einem Vers von Goethe den Wahlspruch zu eigen machte: »Ich hab’ mein’ Sach’ auf nichts gestellt«. 7 Daran nun knüpft Nietzsche an mit seiner Diagnose des Nihilismus, die ja vielmehr zurückgeht auf Jacobi, der dieses von Fichte für das Ich vorgesehene Schweben über allen Tatsachen und allen Standpunkten bereits als Nihilismus bezeichnet hatte, unmittelbar während Fichte seine These aufstellte. Dieser Nihilismus ist in diesem Sinne als romantische Ironie zu verstehen, verschärft durch Max Stirner, indem nämlich jetzt der Mensch aus einem großen Abstand heraus mit allen möglichen Standpunkten zu spielen lernt. Das ist heute noch ganz besonders durch die Technik und die technischen Möglichkeiten der Kommunikation – am harmlosesten ist noch 7

Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, Freiburg 2009, S. 13

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das Radio – den Menschen direkt nahegelegt worden. Friedrich Schlegel hat die Büchse der Pandora aufgemacht, die sich seither als das ironistische Zeitalter ergießt und mit der Macht der Technik zusammengeht, die dem Menschen ein irreführendes Souveränitätsgefühl beibringt, während er in der Tat von der Technik ganz und gar abhängig ist. Nietzsche, der selbst der romantischen Ironie verpflichtet ist, bezeichnet sich zum Beispiel als Souverän, der sich auf seine Leidenschaften und Erregungen setzen kann wie auf Pferde, ja wie auf Esel, also der mit seinen Gefühlen spielen kann, und er gibt sich aus als freier Geist, ja als sehr freier Geist, für den der Grundsatz der Assassinen gilt: Nichts ist wahr, alles ist erlaubt. Hier wird schon bei Nietzsche aus der romantischen Ironie die Folgerung gezogen, die der Philosoph Feyerabend in die noch kürzere Formel brachte: »Anything goes«, »alles Beliebige geht«, und damit sind wir in der Tat beim Nihilismus in der eben angezeigten Weise. Während nämlich die Existentialisten nach Kierkegaard dieses Etwas ganz besonders wichtig nahmen, was Kierkegaard als die ewige Seligkeit im Interesse des Ich ausgab, ist doch die ironistische Konsequenz dieses Schwebens in scheinbarer Souveränität über allen Standpunkten mit beliebiger Zugriffsmöglichkeit geschichtlich noch folgenreicher geworden. Ich will noch den Unterschied zwischen subjektiven und objektiven Tatsachen etwas ausführen, weil es darauf hinausläuft, dass die theoretische Überwindung jedenfalls dieses Nihilismus abhängt von der Verdeutlichung dieses Unterschiedes, während die praktische Überwindung eine Sache der Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart ist. Der begriffliche Unterschied zwischen objektiven und für jemand subjektiven Tatsachen wurde schon erläutert. Die objektiven Tatsachen, die jeder aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann, sind, sofern sie einen Menschen betreffen, für ihn zufällig. Denn jede von diesen 80 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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Tatsachen könnte ebenso gut für einen anderen Menschen gelten, und das gilt sogar für alle diese Tatsachen zusammen, für alles, was das Leben und die Person eines Menschen ausmacht, mit allen zugehörigen Attributen, das heißt Eigenschaften und Relationen, sofern sie in objektiven Tatsachen aufgehoben werden können, denn nicht nur jedes einzelne solches Attribut könnte ebenso gut auch einem anderen zukommen, sondern das gilt auch für alle diese Attribute, wie sich daran zeigt, dass es zwar aussichtslos, aber widerspruchsfrei ist, wenn ein Mensch, der mit seinem Leben unzufrieden ist, sich in ein anderes Leben, eine andere Person hineindenkt, was ganz unmöglich und ganz widerspruchsvoll wäre, wenn er mit der Summe der Eigenschaften und Relationen, also insgesamt der Attribute seines Lebens und seiner Person identisch wäre, als Zusammenfassung aller dieser Merkmale. Denn dann entstünde ja der Widerspruch, dass er selbst mit allen diesen seinen Attributen gleichzeitig damit unvereinbar andere Attribute hätte, nach denen er sich sehnt, indem er in die Haut eines Anderen hereinzuschlüpfen begehrt und entsprechenden Träumereien nachhängt. Das gelingt ohne jeden Anstoß, und daran zeigt sich, dass dieser Gesamtbestand dessen, was zu der Person gehört an Attributen, sofern es in objektiven Tatsachen aufgehoben ist, der Person zufällig ist, es könnte auch dieselbe Person ganz andere Attribute und ein anderes Leben haben. Dagegen ist das Zeugnis des affektiven Betroffenseins in der Tat unvermeidlich und hat den Charakter der Notwendigkeit und nicht der Zufälligkeit. Affektiv betroffen ist die Person dann, wenn ihr etwas nahegeht, wenn etwas sie mitnimmt, sie ergreift, sie in seinen Bann zieht, und das kann sowohl in erhebender Weise geschehen als auch ganz besonders, und dann noch eindrücklicher, in engender und eventuell niederdrückender Weise, also beim Schmerz und bei der Sorge und bei der Bedrückung. Daher ist es im affektiven Betroffensein notwendig, dass der Betrof81 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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fene sich selbst spürt, denn es wäre ein Widerspruch, das eigene Betroffensein, das einen trifft und mitnimmt, zu spüren, ohne sich selbst als den so Betroffenen zu spüren. Dieser Widerspruch wäre aber nicht nur logisch wie im Fall des »Cogito ergo sum« des Descartes, sondern diese Notwendigkeit wäre auch eine erlittene Notwendigkeit, denn im affektiven Betroffensein, besonders in dem engenden, das jede Ausgelassenheit ausschließt, wird der Mensch spürbar mitgenommen und der Wirklichkeit eines ihm angetanen Zwanges gewiss, während er beim bloßen Betrachten gewissermaßen draußen bleibt; insofern ist das bloße Betrachten unverbindlich, als ob die Welt wie durch ein Schaufenster nur betrachtet werde. Lukrez im Anfang des 2. Buches seines epikureischen Lehrgedichtes De rerum natura vergleicht den epikureischen Philosophen einem Strandgänger, der einen Seesturm mit Genuss betrachtet, dem die Schiffer, die auf dem Meere der Leidenschaften umgetrieben werden, gnadenlos ausgesetzt sind. Im Fall dieser Schiffer befindet sich der ernstlich vom affektiv Betroffensein heimgesuchte Mensch im Gegensatz zum bloßen Betrachter. Dadurch bekommt das affektive Betroffensein für den Betroffenen, insofern es ihm sich selbst als so betroffen zeigt, eine gewisse Durchschlagskraft, einen Ernst, der beim bloßen Betrachten fehlt und sich dadurch zum Ausdruck bringt, dass er hier spürt, dass es tatsächlich er selbst ist, der sich mit Notwendigkeit begegnet, im Gegensatz zu alledem, was ihm an objektiven Tatsachen entgegenkommt als seine Attribute. Diese besondere Nuance des Ernstes der Notwendigkeit gibt nun den Tatsachen des affektiven Betroffenseins ein Gewicht, das sie über die objektiven Tatsachen hinaushebt, zum Beispiel in meinem Fall, dass ich selbst so betroffen bin über die Tatsache hinaus, dass ein gewisser Hermann Schmitz, von dem ich allerlei weiß, in solcher Weise betroffen ist. Das wäre nur eine objektive Tatsache, aber dass ich selbst dieser Her82 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Der Nihilismus und die Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart

mann Schmitz bin, das ist die Tatsache, wodurch dieser Ernst hinzukommt, den ich auf mich nehmen muss, indem mir etwas so nahegeht, dass ich mich dem nicht mehr entziehen kann. Dies ist diese Nuance, die jeder Mensch nur im eigenen Namen sagen kann, denn im Gegensatz zu dem, was ihm als objektive Tatsache mitgeteilt wird, was er als objektive Tatsache zur Kenntnis nimmt, ist dieser Umstand, dass er eben er selbst ist, so wie er sich im affektiven Betroffensein erfährt, eine subjektive Tatsache, die nur er sagen kann, kein anderer, denn kein anderer ist er selbst, der dies sagen kann. Wenn der Andere so etwas sagt, dann ist es von ihm selbst gesagt und nicht von dem, auf den es jetzt ankommt. Insofern haben die Tatsachen des affektiven Betroffenseins dieses Besondere, dass höchstens einer im eigenen Namen sie aussagen kann, auch wenn die Anderen ebenso wie er darüber sprechen können, und diese Besonderheit unterscheidet sie von allen objektiven Tatsachen, die jeder aussagen kann, wenn er nur genug weiß und gut genug sprechen kann. Hiermit ist ein Unterschied zwischen den objektiven Tatsachen und den subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins gefunden, der in einem sachlichen Kriterium verankert ist und insbesondere dem Irrtum vorbeugt, den man begehen würde, wenn man das Besondere dieser subjektiven Tatsache lediglich darin sehen würde, dass auch ganz gewöhnliche Tatsachen zusätzlich eine gewisse Bewertung aufgesetzt haben, eine Bewertung ihrer Wichtigkeit im Sinne der Redensart »Jeder ist sich selbst der Nächste«, seinen Interessen nach, denen man insbesondere den Egoisten nachsagt. Es handelt sich nicht um eine zusätzliche Bewertung gewöhnlicher Tatsachen, sondern um Tatsachen eigener Art, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sie dem Betreffenden als für ihn notwendig entgegentreten und dass sie nur von ihm selbst aus gesagt werden können, auch wenn Andere so gut wie er darüber sprechen können. Ein solches Kriterium für diese sub83 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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jektiven Tatsachen, dass ich es bin, um den es sich handelt, hat Fichte nicht gefunden, sondern mit verschiedenen Redensarten nur umkreist. Er ist damit nicht fertig geworden, weil er alle Tatsachen für objektiv hielt und daher das Besondere dieser subjektiven Tatsachen in ein Ich verlegte, das entweder nur sich selbst setzt oder vielmehr über allen Tatsachen zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit schwebt. Dieses Schweben hat starke geschichtliche Wirkungen gehabt, diese erhöhte Besorgnis und Aufmerksamkeit auf sich selbst als Schwebenden in der Existenzphilosophie und außerdem in der Virtuosität der romantischen Ironie, die dann in den Nihilismus übergeht. Soweit zum Nihilismus. Die Überwindung des Nihilismus geschieht theoretisch durch die Einsicht in die Sonderstellung der subjektiven Tatsachen als echte Tatsachen, die ihren Sitz im affektiven Betroffensein haben, praktisch aber geschieht sie durch die Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart. Eine Verankerung, die nicht darin besteht, dass man sich ausschließlich auf die Gegenwart konzentriert und die Vergangenheit und Zukunft dahingestellt sein lässt, sondern diese Verankerung besteht darin, dass der Lebenswille schon an dem Gegenwärtigen genügend Nahrung findet, selbst wenn das, was noch bevorsteht, das Zukünftige, nur Enttäuschungen zu bieten hätte. Ein Beispiel für eine solche Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart ist die Liebe, und zwar sowohl als Paarliebe als auch als karitative Liebe, die Frau von Guyon um 1700 zu dem Bekenntnis veranlasste, dass sie an der Liebe und an der tätigen Liebe unbedingt festhalten würde, selbst wenn sie wüsste, dass sie von Gott zur Hölle vorherbestimmt sei. Dies also ist die Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart. Aber was ist denn nun die Gegenwart? Die zeitliche Gegenwart, von der hier die Rede ist, ist die Auswirkung der primitiven Gegenwart in der Zeit. Die primitive Gegenwart entsteht dadurch, dass in die Weite des Urkontinuums noch vor 84 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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der Trennung in Raum und Zeit, wie man es in Augenblicken der Gedankenlosigkeit und des Dahindämmerns, der Selbstvergessenheit oft erlebt, dass in diese Weite des Urkontinuums der Angriff des Neuen eindringt, was leiblich zur Engung etwa im Schreck führt, im übrigen aber in die zur Dauer werdende Weite einen Riss hineinbringt, indem etwas davon durch den Schock bei der Ankunft des Neuen in die Vergangenheit des Nichtmehrseins versinkt, während auf der anderen Seite diese zerrissene Dauer sich fortsetzt, und zwar so, dass sie offen steht für weiteres Eindringen des Neuen, das abermals das Kontinuum zersetzt. In dieser Wunde, diesem Eingriff hat die primitive Gegenwart ihren Sitz mit ihren fünf Momenten der Herausgehobenheit, die möglich wird durch den Riss in der zur Dauer gewordenen Weite. Von diesen fünf Momenten ist das erste das Hier; man kann sich das deutlich machen an einem plötzlichen Ruf, der einen im Dahindösen befindlichen oder in irgendwelchen eigenen, fern liegenden Gedanken begriffenen Menschen herausreißt durch den Anruf mit dem eigenen Namen. Zwar befindet er sich hier zunächst an einem Ort, einem absoluten Ort, denn man kann nur getroffen werden, indem man sich an einem Ort befindet. Aber dieser Ort ist ein absoluter Ort, das heißt ist ohne räumliche Orientierung zu anderen Orten; der Mensch fühlt sich herausgerissen. Zweitens findet er sich in einem Augenblick, der ebenso herausgerissen ist. Drittens fühlt er sich dem Sein der Wirklichkeit plötzlich ohne Gelegenheit zum Ausweichen gegenübergestellt, indem er von diesem Ruf betroffen wird. Er fühlt etwas als dieses Eindeutige, das sich abhebt von anderen im Gegensatz etwa zu den Teilen eines intensiven Kontinuums einer Qualität etwa beim Lauterwerden oder beim Hellerwerden oder beim Kräftigerwerden oder beim Wärmerwerden. Da haben wir sehr viele Teile, die hinzukommen, sogar in einer bestimmten Ordnung hinzukommen, aber ohne Identität und Verschie85 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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denheit. Es wäre sinnlos, unter diesen Teilen, die im Wärmerwerden hinzukommen, nach solchen zu suchen, die als sie selbst hinzukommen und von anderen unterschieden sind. Das geschieht erst, wenn man von der Wärme etwa zur Messung der Wärme auf einem bestimmten Stand mit dem Thermometer übergeht, aber davon ist hier nicht die Rede. Diese identitätslose Ergossenheit des Seienden wird unterbrochen durch den Moment des Selbstseins der absoluten Identität als verschieden von Anderem. Ich nenne die Identität absolut, weil sie noch nicht die relative Identität mit etwas ist, und diese absolute Identität verbindet sich nun an letzter Stelle in der primitiven Gegenwart mit dem Ich-Moment; das ist das Betroffene im affektiven Betroffensein im Beispielsfall von dem plötzlichen schreckhaft ergreifenden Anruf. Dieses affektive Betroffensein ist das fünfte Moment, und dieses affektive Betroffensein gehört notwendig zusammen mit dem vierten Moment, dem Selbstsein als verschieden von Anderem, der Abhebung von etwas aus dem bloßen Kontinuum. Denn wenn alles bloß dem Ansturm des Neuen nachgäbe und gleichmäßig damit sich abfände oder davon treiben ließe, dann würde nichts davon sich selbst abheben, und von den fünf Momenten ist es eben dieses subjektive Moment, das affektive Betroffensein, das sich dem Ergreifenden zuwendet, ihm gewissermaßen Stand hält und offen bleibt und dazu aber auch in gewisser Weise schon Stellung nimmt. Es ist also notwendig dafür, dass etwas als es selbst sich abhebt und als verschieden von Anderem. Dieser Zusammenhang zwischen Identität und Subjektivität kommt der Subjektivität zugute, insofern das Betroffene diese absolute Identität von etwas und jemandem, der betroffen ist, annimmt und nicht gewissermaßen zerläuft in einen bloßen anonymen Zustand; es kommt dem Selbstsein, dem anderen Moment zugute. Diese fünf Momente Hier, Jetzt, Sein, Dieses, Ich der primitiven Gegenwart nisten sich ein in dem Spalt, der durch den 86 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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Andrang des Neuen und das Vergehen der Weite als Dauer entsteht; er wird gefüllt von der primitiven Gegenwart. Die zeitliche Gegenwart ist nur die Auswirkung der primitiven Gegenwart auf die Dauer, zu der die Weite in der Zeit geworden ist, und zwar so, dass in der zeitlichen Gegenwart sich die beiden Momente der Dauer trennen als vergehende und ins Nichtsein versinkende und in Dauer als fortwährende, die offen ist für eine Zukunft, in der sich Weiteres ereignen kann, insbesondere wieder Neues eindringen kann. Diese beiden Momente verbinden sich zwiespältig und ambivalent zur zeitlichen Gegenwart. Sie hat also sozusagen zwei Richtungen, zwei Pole, wie auf einer Kippschaukel, wo der Betreffende in der zeitlichen Gegenwart sich selbst im labilen Gleichgewicht halten muss, weil er nach zwei Richtungen gezogen wird, einerseits zum Vergehen, andererseits zum Fortwähren hin. Die Seite des Vergehens ist gleichzeitig eine Seite des Entzugs der Dauer, die ins Nichtsein verfällt. Und dadurch ist immer weniger Dauer vorhanden, das heißt in Richtung auf dieses Extrem der vergehenden Dauer wird die Gegenwart eng, sie wird gedrängt, sie wird schnell, sie wird dauerlos. Und in Richtung auf das Neue, das noch zu erwarten ist, wird die Gegenwart weit und langsam und schwer. Das entspricht etwa dem synästhetischen Gegensatz zwischen den hellen, hohen Tönen auf der einen Seite und den tiefen, dunklen Tönen und Geräuschen auf der anderen Seite. Diese Entsprechung wird vermittelt durch die Leiblichkeit, die ebenso in die Zeitlichkeit hineinwirkt wie in die synästhetischen Charaktere der Sinnesqualität. Diese Zwischenstellung der zeitlichen Gegenwart ist ein gewissermaßen unsicheres, zwiespältiges Element, das aber dem Menschen vielerlei Gelegenheit gibt, und zwar einerseits die Gelegenheit, sich auf die Seite der Entfaltung zu verlegen und die Entfaltung von Neuem zu kultivieren, wie in solchen Zuständen der Ruhe, wie etwa Rousseau sie von seinem Aufenthalt auf der 87 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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St. Petersinsel berichtet, wo ihm nur noch das reine Gefühl des Daseins übrig blieb, als der Genuss von allem Werden verschont zu bleiben. Das andere Extrem ist die Komplikation, der Verstrickung in den Untergang, in Gefahrensituationen und dergleichen. Zwischen den beiden Extremen, die aber nur einseitig sind und den Zwiespalt der Gegenwart zwischen beiden Seiten verdecken, findet sich jeweils der gegenwärtige Mensch. Die zeitliche Gegenwart ist die schmale Brücke des Seienden zwischen zwei Massen des Nichtseienden, die auf dieser Brücke ihr Gesicht wechseln: der noch nicht seienden Zukunft und der nicht mehr seienden Vergangenheit. Die Brücke ist nicht nur schmal, sondern auch wackelig wegen des Zwiespalts zwischen fortbestehender und vergehender Dauer. Der Mensch auf dieser schmalen und gebrechlichen Brücke sehnt sich weg und trauert über den Abschied von dem, was nicht mehr ist. Er rettet sich aus diesem Unwohlsein in das offene Feld der Zukunft, in das er sich mit Planen und Fantasieren, Wagen, Bangen und Hoffen projiziert. Er gleicht damit dem Existenzialisten nach Kierkegaard, der im Höhenschwindel des Schwebens über den Möglichkeiten den Halt verliert, mehr noch dem romantischen Ironiker mit seinem eleganten Schweben über allen Standpunkten und Perspektiven. Die Flucht in die Zukunft ist die verbürgerlichte moderne Gestalt der romantischen Ironie, die zu dem Nihilismus mit der Maxime führt: Alles ist möglich. Die Gegenwart ist dann mediatisiert zum bloßen Stützpunkt des Ausblicks in die Zukunft, in der die Technik dem Menschen ein riesiges Angebot für Stadien auf dem Lebensweg von Weiche zu Weiche anbietet und damit das einstimmige Wollen ins Beliebige zersetzt. Gegen diese nihilistische Verführung habe ich die Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart aufgeboten, wo der Mensch im Wirklichen einen Stützpunkt für seine Bereitschaft zum Leben finden kann, ohne die Zukunft 88 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Der Nihilismus und die Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart

und die Vergangenheit gering zu achten. Mein philosophisches Bemühen geht dahin, die Chancen der Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart auszuloten, z. B. das leiblich affektive Betroffensein von Atmosphären des Gefühls und die mit diesen erfüllten Situationen voll binnendiffuser Bedeutsamkeit, aus denen der Mensch einzelne bedeutsame Sachverhalte, Programme und Probleme schöpfen und verbinden kann. Dazu gehören auch die vielsagenden Eindrücke, die als Halbdinge mit unterbrechbarer Dauer den Menschen nahe- und nachgehen. Diese Reserven der Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart möchte ich den Menschen nahebringen und durch aufklärendes Sprechen vor Vorurteilen schützen.

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Kapitel 5 Widerlegung des Realismus aus der Mannigfaltigkeitslehre

Es ist einer der größten Mängel der rein theoretischen Betrachtungsweise, aus der notwendigen Nüchternheit des nicht von Affekten geleiteten Stellungnehmens, das zur Unparteilichkeit des Urteils erforderlich ist, den Schluss zu ziehen, dass auch das Seiende selbst sich dieser Einstellung fügen müsste und diesem unparteiischen Anblick völlig passiv sich darbietet. Dieser Fehler, abzusehen von der Zudringlichkeit und der Angriffshaltung des Seienden im affektiven Betroffensein, das dem Menschen nahegeht, dieser Fehler führt dazu, dass das Seiende in der theoretischen Einstellung nicht in seinem vollen Gewicht, mit dem es andringt und erschüttend dem Menschen nahe kommt, sich geltend macht, sondern nur in einer gewissen Entfernung wie ein Bild, auf das man sieht, an dem man aber selbst nicht mehr beteiligt ist. Diese Übertreibung der theoretischen Haltung zur Passivität des Gegebenen für das Betrachten ist die Ursache von dem, was Goethe einmal die bloße Kopiehaftigkeit nennt, die dann entsteht, wenn das ursprüngliche Aufblühen der Außenwelt, die eigentliche Originalnatur, im späteren Verlauf des Lebens verlorengeht. Ursprünglich war die volle Subjektivität dabei und wird später abgezogen. Es war das Betroffensein dabei, das Wirkliche war ganz nah und klopfte an, und jetzt wird es distanziert, um einen Überblick zu gewinnen, um sich zu orientieren, und dadurch verblasst es dann zum bloßen Gegenstand. Dieser selbe Fehler, der dem Wirklichen die eigentliche Mächtigkeit des Zudringlichen nimmt, führt in der Theorie dazu, das Gegebene wie ein Bild sich gegenüber91 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Widerlegung des Realismus aus der Mannigfaltigkeitslehre

zustellen, in das man auch selbst eingetragen wird, so dass sich eine ganz paradoxe Spaltung des Subjektes einerseits in eine Figur, die in dem Tableau des Wirklichen, das dann zur Betrachtung übrig bleibt, auch noch vorkommt, mit vielen anderen, und andererseits in den Betrachter selbst, mit seinem Blick von nirgendwo, wie ein amerikanischer Philosoph es ausführt. Tatsächlich aber ist jeweils der Betrachter ein und derselbe, der zugleich affektiv betroffen ist, auch wenn er teilweise in seiner abstrahierenden Einstellung davon absehen kann, dass er selbst so betroffen ist, indem er gewissermaßen darüber steht und sich selbst beobachtet. Aber es ist ein und derselbe Beobachter, und es sind nicht etwa zwei, von denen der eine draußen stünde als bloßer Bildbetrachter, der andere aber in dem Bild selbst vorkäme. Diese distanzierende Einstellung kann von den subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins in gewissem Sinne abstrahieren und sie in neutralen Tatsachen zur Seite stellen, aber es ist immer ein und derselbe Mensch, der zugleich drinnen steht, indem er sich über das Betroffensein hinaus erhebt auf eine distanzierte Position. Diese Spaltung ist also fiktiv; tatsächlich ist die Spaltung vielmehr eine Zweideutigkeit, eine Zwiespältigkeit zwischen den Rollen des Verwickelten und den Rollen des darüber hinaus sich Erhebenden. Es gibt unglaublich viele Zwiespälte in dieser Welt. Ich habe selbst eine eigene Theorie des Zwiespalts und sogar eine Logik des Zwiespalts entwickelt, die auf vielen Gebieten wichtig ist, und so ist es auch hier der Fall. Keine Person ist ohne solchen Zwiespalt, der kein Widerspruch ist, weil die beiden Rollen nicht auseinandertreten, sondern unzertrennlich zusammenhängen. Diese Tatsache, dass man involviert ist und doch zugleich den Überblick behält, muss berücksichtigt werden, wenn man die falsche Passivierung des Begegnenden aufheben will. In der Theorie führt sie dazu, die Welt als ein großes Feld aufzufassen, in dem irgendwo auch der Mensch nebenbei vorkommt. 92 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Widerlegung des Realismus aus der Mannigfaltigkeitslehre

Er könnte auch draußen bleiben, es könnte die Welt in geologischen Zeitaltern längst schon da sein, ohne dass irgendeine Spur des Bewusstseins wäre; die Welt ist völlig unabhängig. Dieser Realismus kann sich sehr leicht zum Materialismus steigern. Das Subjektive wird zum Geistigen oder Seelischen, einem nachträglichen Zusatz zum Materiellen als Sache unter Sachen, Gegenstand unter Gegenständen, wobei die abgespaltene Funktion des Betrachters des ganzen Subjekts draußen gelassen wird. Wie etwa Wittgenstein sich das dachte in seinem logisch-philosophischen Traktat. Diese Einstellung des Realismus bis hin zum Materialismus ist in sich paradox, und sie ist auch widerlegbar. Der Mensch schwebt nicht wirklich darüber als bloßer Betrachter, sondern er nimmt nur diese Position ein, indem er zugleich auch auf der anderen Seite affektiv betroffen ist. Wenn man nun dieses Ganze in Betracht nimmt, also nicht diese sogenannte Subjekt-Objekt-Spaltung aufnimmt, die das Subjekt exportiert aus dem Begegnenden und in diesem nur ein Ersatz im Betrachten eines Mitspielers in einer Rolle des Weltspiels übrig lässt, dann ergibt sich die Möglichkeit, diesen Realismus und Materialismus grundsätzlich zu kritisieren. Der Mensch ist nicht von vornherein in eine Welt, die auch ohne ihn schon fertig wäre und sich nur mit ihm weiter entwickelt, hinein versetzt. Diese Welt ist etwas, was sich entwickelt im Prozess eines Geschehens, das dem Menschen nahe kommt und dann mehr oder weniger von ihm abgehalten werden muss, nicht etwas, was ihm von Natur aus vorausginge und gegenüberstünde. Um diesen ganzen Prozess des MenschWelt-Verhältnisses als integrierten und nicht gespaltenen Ganzen deutlich zu machen, werde ich jetzt den Realismus kritisch unter die Lupe nehmen. Diesen Standpunkt zu überwinden, werde ich mich meiner Mannigfaltigkeitslehre bedienen. Ich stelle zunächst einmal die beiden Positionen des Realismus und des Idealismus einander gegenüber. Sie bezie93 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Widerlegung des Realismus aus der Mannigfaltigkeitslehre

hen sich alle beide auf das Verhältnis von Welt und Mensch. Die Position des Realismus besagt, die Welt ist an sich schon da, unabhängig davon, ob es den Menschen oder ein menschenähnliches Wesen gibt, das durch sein Dabeisein, durch sein bewusstes Aufnehmen und Beantworten des Begegnenden, diese Welt erst hervorbringt. Nun zur These des Idealismus: Die Welt ist etwas, was erst durch die Stellungnahme eines Wesens, wie der Mensch es ist, möglich wird, eines Wesens, das affektiv betroffen sein und erschüttert werden kann und auf diese Erschütterungen dann reagiert und Fragen stellt und sich orientiert und dies alles mit Reflexion und bei Bewusstsein. Erst im Verhältnis zu einem solchen Menschen gibt es die Welt als Welt, und sie ist nicht einfach im Seienden; unabhängig vom Menschen und seinesgleichen, also Wesen mit solchen gleichsam geistigen Vermögen ist sie keineswegs schon von sich aus vorhanden. Dies wären die beiden Thesen, die ich gegenüberstelle; ich will der These des Idealismus beipflichten, aber keineswegs eines Idealismus in dem vergröberten Sinn, dass der Mensch irgendwie als Schöpfer die Welt macht, in der Weise wie Kant oder Husserl sich das vorstellen. Das Verhältnis ist sehr viel komplizierter. Der Mensch wird in diese Welt, zu der er gewissermaßen den Anstoß gegeben hat, mit hineingezogen. Er hat keineswegs irgendwelche Schöpferqualitäten. Ich werde nun die beiden Thesen gegenüberstellen in der Form, dass ich die Theorie des Realismus widerlege, indem ich sie ins Ganze eines Geschehens hineinstelle, das dann Subjekt und Objekt umfasst und nicht etwa ein betrachtendes Subjekt außerhalb der Welt übrig lässt. Was aber ist die Welt, um die es hier geht? Ich antworte: Die Welt ist der Spielraum oder das Feld für die Vereinzelung des Mannigfaltigen. Nicht alles Mannigfaltige verschwindet in einem Nebel des Vielfachen und Vieldeutigen, sondern Einzelnes hebt sich heraus, wie ein einzelner Baum, ein einzelner Mensch, ein einzelner Farbfleck und der94 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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gleichen. Vielmehr kann man von Welt erst sprechen, wenn sich etwas als dies und das und in dieser und jener Hinsicht herausgeschält hat. Die Frage, was die Welt sei, führt zu der Frage, was das Einzelne ist. Diese Frage beantworte ich im Zuge meiner Mannigfaltigkeitslehre, indem ich die verschiedenen Typen der Mannigfaltigkeit durchmustere, die überhaupt nicht mehr beim Einzelnen ansetzen, sondern das Einzelne ist eine hohe Stufe der Entwicklung des Mannigfaltigen. Das Seiende fängt zunächst als das vollkommen Selbstlose an, das wir im Kontinuum finden, sowohl im expansiven Kontinuum als im intensiven Kontinuum, wo sich das besonders deutlich zeigen lässt an den intensiven Steigerungen und Verminderungen der verschiedenen Qualitäten des Warmen und Kalten, des Hellen und Dunklen, des Lauten und Leisen, des Starken und Schwachen. Diese Qualitäten kommen jeweils mit verschiedener Intensität vor. Es ist also eine Quantität dabei, aber ganz gewiss keine Quantität von Einzelnem; in einer großen Wärme stecken nicht viele laue Hitzen drin. Trotzdem kommt Wärme hinzu, wenn es wärmer wird. Es ist eine alte Frage, worin das besteht, was da hinzukommt. Es sind bestimmt nicht einzelne Teile, es sind aber auch nicht einmal Teile, die selbst wären in dem Sinne, dass sie verschieden wären von anderen Teilen. Denn es ist vollkommen sinnlos, in der starken Wärme Verschiedenheit in ihr enthaltener milderer Wärmen zu suchen. Man kann sich das auch klar machen an dem Verhalten eines Schwimmers im Wasser. Einzelnes begegnet dem Schwimmer überhaupt nicht, wenn er nicht auf seine Glieder besonders achtet. Das tut er nur, wenn er beim Schwimmen noch nicht sicher ist. Sonst geschieht das Schwimmen mehr oder weniger automatisch. Aber keineswegs so, dass die Verschiedenheit der Glieder gleichgültig wäre für den Schwimmer. Sie muss ihm vielmehr bewusst werden, sonst würde er untergehen. Dagegen das Wasser, in dem er schwimmt: wenn es einiger95 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Widerlegung des Realismus aus der Mannigfaltigkeitslehre

maßen ruhig ist, das ist nicht nur ohne Einzelheit, sondern auch ohne Verschiedenheit. Die Wassermassen begegnen ihm als eine große, sich ständig im Vorwärtsschwimmen vergrößernde Masse, immer wieder andrängend, aber ohne dass in dieser Masse Teile herausgehoben werden müssen. Und es wäre auch ganz überflüssig für den Schwimmer, wenn er das versuchen wollte. So verhält sich das Mannigfaltige, dem die absolute Identität fehlt. Die Einzelheit bringt dem Menschen einen weiteren wesentlichen Gewinn ein, nämlich die Aufspaltung der komplexen ungerichteten Verhältnisse in gerichtete Beziehungen von etwas zu etwas. Dazu bedarf es der Zahl, die erst durch Einzelheit möglich wird. Beziehungen bedürfen der Zahl als der Ordinalzahl ihrer Stellen; so ist bei einer zweistelligen Beziehung das erste Glied das, was sich auf etwas bezieht, und die Ordinalzahl steigt entsprechend bei mehrstelligen Relationen. Die Zahl kommt aber erst mit der Einzelheit in die Welt, als dem Element einer Menge, d. h. dem Fall einer Gattung, deren Umfang eine Zahl hat. Damit können Beziehungen in die Verhältnisse eingeführt werden, um deren feste Ordnung aufzulockern und in Gedanken beliebig umordnen zu können. Das Denken wird diskursiv, und die Vorstellung, die Planung und die Phantasie folgen dieser Befreiung. Der Mensch kann zum Erfinder werden. Zu diesen beiden Vorteilen der Weltbildung, nämlich der Unterordnung des vorher in Situationen Gebundenen unter Gattungen und der Überführung der starren Verhältnisse in bewegliche Beziehungen, kommt nun noch als dritter großer Vorteil der Gewinn der relativen Identität. Die relative Identität besteht darin, dass etwas nicht nur unter einer Gattung, sondern unter mehreren Gattungen der Fall ist. Dadurch wird ermöglicht, eine Sache von vielen Seiten anzusehen, beispielshalber einen Menschen als Fall vieler Gattungen oder als Inhaber vieler Rollen zu sehen, so dass er zwischen diesen Rollen wählen oder Akzente setzen kann, 96 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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dass er sie in der einen oder anderen Form zusammennehmen kann, erweitern oder ausschließen kann, wodurch der Mensch als Person ein sehr erhebliches Maß an Selbstbestimmung erhält. Außerdem dient die relative Identität dazu, vieles über Raum und Zeit zu identifizieren, zum Beispiel das, was die Menschen meinen, als dieselben Bedeutungen, wo auch immer sie sich befinden. Dies sind die drei ganz wichtigen Werkzeuge, die die Welt dem Menschen anbietet: die Umordnung des Mannigfaltigen, so dass es unter Gattungen fällt, die Umbildung der Verhältnisse in Beziehungen und die Erweiterung der absoluten Identität zur relativen Identität. Damit ist das Eigentümliche der Welt als Struktur charakterisiert. Eine Struktur, die – wie ich vorhin ausgeführt habe – sich dann nach den fünf Seiten der primitiven Gegenwart entfaltet, in räumlicher Weise, in zeitlicher Weise, in der Weise des Seins im Gegensatz zum Nichtsein, in der Weise der relativen Identität und in der Weise der personalen Emanzipation, der personalen Selbständigkeit durch Vereinzelung und Entsubjektivierung. Wie kommt es eigentlich dazu? Es kommt ganz gewiss nur durch Sprechen dazu, durch Sprechen einer Sprache. Ohne Sprechen ist es nicht nötig, auf etwas Einzelnes zu zeigen, dass es eindeutig als dieses Einzelne ausgezeichnet wäre. Das, worauf gezeigt wird, ist für das Zeigen immer vieldeutig. Zum Beispiel in zeitlicher Beziehung, ob nur ein Augenblick gemeint ist oder eine etwas kürzere oder längere Periode. Ebenso, ob irgendein Zug oder wie auch immer, ob ein Ding gemeint ist oder etwas anderes, eine Zusammensetzung von Halbdingen oder Sinnesdaten oder von momentanen Eindrücken und dergleichen. Alles das ist unklar, wenn bloß gezeigt wird, man braucht dazu unbedingt die Sprache. Und die Sprache stellt etwas als Fall von Gattungen dar, also dieser Baum z. B. ist dieser bestimmte Baum, dieses Einzelding, nur weil es ein Baum oder sonst etwas ist, es kann auch eine Täuschung vorliegen. Aber es muss irgend97 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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eine Subsumtion unter eine Gattung erfolgen, um etwas als Einzelnes zu haben. Das erfordert die Explikation von Gattungen, es muss so etwas wie ein Baum sein oder dergleichen oder ein Ton oder eine Zahl oder ein Vogel oder ein Augenblick, eine Sekunde. Alles dergleichen wird zu Vereinzelten unter Gattungen. Die Gattungen können nur sprachlich herausgegriffen werden, es gibt gar keine Möglichkeit, Gattungen voneinander zu differenzieren, als indem sie sprachlich gefasst werden. Es gibt wohl gewisse Fähigkeiten, Unterschiede wahrzunehmen, zum Beispiel bei Tönen, bei Tongeschlechtern. Da hat man sehr viele Unterschiede, auch schon ohne dass man Namen dafür hat. Aber das bezieht sich nicht auf ein allgemein anwendbares Verfahren, es dient auch keineswegs zur Erhebung des Einzelnen aus den Situationen heraus. Die Sprache ist zur Identifizierung von Bedeutungen, von Gattungen unentbehrlich. Die Sprache ist erforderlich, um die Gattungen zu unterscheiden; je verschiedene Sprachen in ganz verschiedener Weise, das bahnt dem Menschen den Weg zur Welt. Die Sprache ist selbst eine Situation, in die er hineingreifen muss, um ihr einzelne Sätze zu entnehmen, mit denen er einzelne, oft zusammen viele einzelne Sachverhalte, Programme und Probleme darstellen und zu Konstellationen kombinieren und so in die Situationen explizierend hineingreifen kann. Diese Umwandlung der Welt durch Einführung der Einzelheit ist durch und durch ein Werk des von Sprache geleiteten Sprechens. Das ist eine Leistung, die, sofern wir wissen, den Menschen vorbehalten ist. Was man die Sprache der Tiere nennen könnte, ihr Repertoire an Lautäußerungen ist von ganz anderer Art, das erschließt nur ganze Situationen und dient ebenso wie die menschliche Sprache der Kommunikation. Aber die Kommunikationsfähigkeit ist für die menschliche Sprache nicht das Spezifische, das teilt sie eben mit der tierischen Verständigung, sondern das Spezifische ist diese Leistung der Ver98 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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einzelung, wodurch ineinander übergreifende oder nebeneinander stehende Situationen überführt werden in ein einheitliches Gewebe und Netz der Welt, in dem dann lauter Einzelheiten unterkommen können. Insofern ist die Sprache erst der mögliche Ursprung der Welt, denn es mag zwar in der Welt alles Mögliche geben, es gibt ja auch schon im tierischen Leben eine große Hierarchie von Dingen, die nebenund übereinander angeordnet sind in ganz bestimmten Rängen und ganz bestimmten Funktionen, aber eben nur als Verhältnisse, nicht als Beziehungen, nur in dieser starren Form, die dem intuitiven Erkennen zugeordnet ist, nicht eigentlich als diskursive, wechselfähige und dadurch planungsfähige und analysenfähige Verhältnisse zwischen Einzelnem. Diesen Gewinn darf man nicht zurückdatieren hinter die Menschen mit ihren spezifischen Fähigkeiten. Die Welt ist etwas, das nur zustande kommt, wenn es diese Leistung der Explikation von Einzelnem gibt mit Hilfe des Sprechens einer Sprache von der Art der menschlichen. Aber noch viel weiter führt der Übergang zum Einzelnen, d. h. zahlfähigen Mannigfaltigen, wie er beim Menschen stattfindet, bei jedem normalen Menschen im Lauf seiner Entwicklung. Diese Abhängigkeit fußt auf der primitiven Gegenwart, aus der die absolute Identität stammt. Wir können uns davon überzeugen, dass die Welt insofern nur für den Menschen besteht. Wir können das auch noch etwas konkretisieren. Erst mit der Verflüssigung der Verhältnisse zu Beziehungen wird es möglich, Fragen zu stellen. Dieser Übergang zur Vereinzelung ist gewissermaßen gleichbedeutend mit der Herausforderung des Seienden durch den Menschen, zunächst nicht durch effektive Fragen, aber durch die Möglichkeit des Fragens, durch das Infragestellen. Das Seiende antwortet gewissermaßen auf diese Herausforderung, indem es das Gesicht der Welt annimmt, das ohne diese Verfraglichung eventuell immer dunkel bliebe und nicht diese verschiedenen Gestalten 99 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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in Raum, Zeit, Sein, Identität und Subjektivität annehmen würde. Insofern ist die Welt die Antwort des Seienden auf den entweder fragenden oder zur Frage bereiten Menschen. Mit dem Menschen selbst verschwände auch die Welt, ebenso wie sie erst mit dem Menschen entstanden ist. Die Vorstellung, uns eine Astronomie oder Kosmologie und dergleichen naturwissenschaftlich formulierte Genealogien vorzuführen, ist zwar eine sehr sinnvolle Gedankenübung, gut gestützt durch allerlei Anlässe zu einleuchtenden Schlüssen, aber sie hat selbst eine gewisse Naivität, indem man annimmt, dass es lauter einzelne Sekunden gibt, bis zu den ersten drei Sekunden, von denen ein amerikanischer Nobelpreisträger einmal geschrieben hat, was nach dem Urknall in diesen ersten drei Sekunden passiert sein soll. Als ob es so viele einzelne Sekunden gegeben hätte, als ob die Form der Einzelheit selbstverständlich sei. Diese Einzelheit ist eine späte Errungenschaft und wäre ohne menschliche Sprache wahrscheinlich nie zustande gekommen, obwohl wir nicht wissen, was es sonst noch für intelligente Wesen außer den Menschen gibt, die dann natürlich dasselbe genauso gut erledigen könnten wie der Mensch. Durch diese Einsicht ist der Realismus widerlegt. Ebenso falsch ist der Idealismus, der mit Kant den Menschen als synthetischen Weltgestalter aus amorphem Mannigfaltigen ausgibt. Das ist reine Fiktion, sondern der Mensch wird hineingezogen durch die Entfaltung der Gegenwart in das, was er angestiftet hat, durch die Einführung der Einzelheit in das Seiende, das dann in dieser fünffältigen Weltform entfaltet und verfestigt und in Zusammenhang gebracht ist. Das Seiende nimmt erst für den Menschen das Gesicht der Welt an. Damit findet er sich in der Welt aber erst zurecht, wenn er gewisse zusätzliche Konstruktionen zugrunde legt, die die Weltform ergänzen, wie zum Beispiel die Homogenisierung der Dauer mit Hilfe der Uhren zu einer gleichförmig verlaufenden Zeit und anderes mehr. Aber auch 100 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Widerlegung des Realismus aus der Mannigfaltigkeitslehre

dies ist dem Menschen bisher immer gelungen, und man darf es nur nicht wie die Weltform als selbstverständlich hinnehmen. Man darf nicht den Prozess, in dem das Begegnen und der davon betroffene Mensch miteinander ringen, reduzieren auf den Gegenstand, der für den Menschen dabei herauskommt. Der Mensch kann nur dadurch aus den Situationen zur Welt hinübertreten, dass er die Form der Einzelheit einführt und ihm dabei die Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Hilfe kommt.

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Kapitel 6 Kritik des naturwissenschaftlichen Weltbildes

In der Theorie der Naturwissenschaften werden ganz allgemein die beiden Funktionen der Vorhersage und der Erklärung für austauschbar gehalten, im dem Sinne, dass man einerseits von einem gewissen Ereignis oder Ereigniszusammenhang her sich zutraut, bevorstehende Ereignisse vorherzusagen, und andererseits in umgekehrter Richtung eben deshalb von den vorhergesagten Ereignissen, wenn sie tatsächlich eintreten, zurückschließen kann auf die Ereignisse, die die Vorhersage gestatteten, als die Ursache der betreffenden, wodurch die vorhergesagten Ereignisse erklärt werden. So passen also nach dem Schema von Hempel und Oppenheim, wie im dem großen Buch von Stegmüller 8 über die Theorie der Naturwissenschaften ausführlich dargelegt wird, Erklärung und Vorhersage zusammen. Es ergibt sich dann die Vorstellung eines universalen Erklärungssystems durch Zusammenstellung der nötigen Vorhersagen, die dann gleichzeitig Erklärungen liefern, und es ließe sich die ganze Welt überdecken, indem die Vorhersagen alle diese Umkehrung gestatten. Abgesehen davon natürlich, dass auf diese Weise immer nur zureichende und nicht etwa auch notwendige Ursachen eines Geschehens zu entdecken sind, es könnte also ganz andere Erklärungen geben, die ebenso berechtigt wären. Davon abgesehen, unterliegt aber diese Vorstellung von der leichten Umkehrbarkeit der Vorhersage in eine Erklärung Wolfgang Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Berlin/Heidelberg/New York 1974

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Kritik des naturwissenschaftlichen Weltbildes

einer logischen Täuschung, die ihr eine viel zu große Tragfähigkeit zuschreibt. Es handelt sich darum, dass eine solche Erklärung genau nur so viel wert ist, wie die entsprechende Vorhersage auf der anderen Seite, und mit all diesen erkenntnistheoretischen Belastungen der Vorhersage auch belastet ist. Für die Erklärung, die man vorgibt zu haben, um insgesamt ein Weltbild zu erzeugen, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfasst, muss man etwas sehr viel Weitergehenderes haben, man muss nämlich irgendwelche Zusammenhänge haben, von denen man auch ohne Abstützung auf ein Vorhersagen, das sich dann bewährt, sicher sein kann, dass diese Zusammenhänge bestehen. Diese Zusammenhänge sollen auch schon in grauer Vorzeit bestanden haben, wo man nicht mehr nachsehen kann, ebenso wenig, wie man in jüngster Vergangenheit nachsehen kann, was wirklich gewesen ist. Aber man muss hier an Zusammenhänge glauben, die eine Notwendigkeit besitzen, die aus der bloßen Möglichkeit des Vorhersagens nicht abzuleiten ist. Diese Umkehrung des Voraussagens in ein Erklären setzt voraus, dass die bewährten Regeln der Voraussage umgedeutet werden in allgemeine Naturgesetze; in Naturgesetze, die in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gültig sind und eventuell mehrere Schichten haben. Es kann also Naturgesetze geben, die nicht immer gültig sind, aber die werden dann überlagert durch allgemeinere Naturgesetze, die tatsächlich den Zusammenhang der gesamten Natur zu rekonstruieren gestatten, von der ältesten Vergangenheit bis in die fernste Zukunft. Aber dieser Sprung von der höchst problematischen Erklärung, die auf bloß bewährte Vorhersagen gegründet ist, zu einer apodiktischen Erklärung, die auf vermeintlich unumstößliche allgemeine Naturgesetze gegründet ist, dieser gedankliche Sprung ist die eigentliche verwundbare Seite des naturwissenschaftlichen Weltbildes, weil hier eine Voraussetzung gemacht wird, die widerlegbar ist. 104 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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Wenn es allgemeine Naturgesetze gäbe, müssten diese auch für die Zukunft gültig sein, aber für eine solche allgemeine Geltung irgendwelcher Naturgesetze gibt es gar keinen Anlass und die Annahme ist sogar widerlegbar. In meinem Buch Ausgrabungen zum wirklichen Leben 9 im Kapitel »Mannigfaltigkeit« habe ich bewiesen, dass der Grundsatz der vollständigen Bestimmtheit nach Kant für keinen Gegenstand erfüllt ist. Das ist gleichwertig mit der Erkenntnis, dass nicht alles einzeln ist. Wenn aber nicht alles vollständig bestimmt ist, dann kann auch nicht alles vollständig vorherbestimmt sein, insbesondere können dann nicht alle Ereignisse, die in der Zukunft liegen, in jeder Beziehung übereinstimmen mit Ereignissen, die dann später einmal eintreten. Denn man kann unter diesen Umständen nicht mehr sagen, dass alles in jeder Beziehung mit etwas übereinstimmt, weil überall Leerstellen vorkommen, die dem Gegensatz der durchgängigen Bestimmtheit widerstreiten. Es ist also, wie ich das auch ausdrücke, der Bereich der geschlossenen Zukunft, die alles umfasst, was noch nicht ist, aber einmal sein wird, weit enger als der Bereich der offenen Zukunft dessen, was jetzt noch möglich ist. Wenn tatsächlich die offene Möglichkeit in die Zukunft eingelassen ist, dann gibt es kein Halten mehr. Man könnte natürlich irgendeiner dieser Offenheiten der Zukunft Grenzen setzen, indem man sagt, gewisse Dinge sind absolut notwendig, z. B. das Gelten der Naturgesetze, obwohl sie immer wieder im Fortschritt der Naturwissenschaft revidiert werden. Aber das wäre vollkommen willkürlich, denn man kann dann mit genau demselben Recht immer wieder fragen, warum denn gerade das absolut notwendig sein soll. Es wäre doch möglich, dass auch die betreffenden Naturgesetze nicht immer gelten. Warum soll das unmöglich sein? Man müsste Hermann Schmitz, Ausgrabungen zum wirklichen Leben, Freiburg 2016, S. 74–142

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zu einer absoluten Grenze der Möglichkeit greifen, um diese Variation auszuschließen. Diese Möglichkeit ergibt sich nur im Satz vom Widerspruch, es kann also nichts geben, was sich selbst widerspricht, aus rein linguistischen Gründen. Wenn man einen Satz formuliert, in dem ein solcher Widerspruch enthalten ist, dann sagt der Satz über die betreffende Behauptung gar nichts mehr aus, sie hebt alles auf, was sie behauptet. Aber wenn ich die Zukunft irgendwie umdenke, zum Beispiel dass gewisse allgemeine Naturgesetze nicht mehr gelten, dann ist überhaupt keine Spur eines solchen Widerspruchs vorhanden, man muss nur in der Zukunft allerlei umräumen, damit kein Widerspruch entsteht. Wenn man dazu bereit ist, dann kann man die Zukunft ganz beliebig umdenken, ohne dass sich ein Widerspruch ergibt. Mit anderen Worten: Wenn man einmal die offene Möglichkeit in die Zukunft eingelassen hat, dann gibt es kein Halten mehr, dann kann man nicht mit vernünftiger Begründung sagen, genau an dieser Stelle setze ich nun doch eine absolute Notwendigkeit fest. Also diejenige absolute Notwendigkeit, auf die man sich verlassen kann, um unabhängig von der Bewährung augenblicklicher Vorhersagen auf die Immergültigkeit irgendwelcher naturgesetzlicher Zusammenhänge zu bauen, diese absolute Notwendigkeit ist nicht zu finden, und das ist die Schwachstelle der Konstruktion eines naturwissenschaftlichen Weltbildes. Es werden die bewährten, aber rein provisorischen Grundsätze der Voraussage umgedeutet in unumstößliche Naturgesetze, denen wir wenigstens auf der Spur sind, wenn wir sie vielleicht auch noch nicht oder nicht vollständig bzw. nur zum Teil kennen. Diese Umdeutung ist illegitim, die Naturwissenschaft zerfällt also in zwei Bereiche der Zuverlässigkeit und der vorgegebenen Sicherheit, die aber absolut unzuverlässig ist. Der wirklich zuverlässige Bereich der naturwissenschaftlichen Erkenntnis besteht in der Vorhersagbarkeit der Behauptung, der Prophe106 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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tie, in der Möglichkeit, künftige Ereignisse vorherzusagen von gegenwärtigen Ereignissen aus. Das kann die Naturwissenschaft immer wieder demonstrieren, und insofern erfüllt sie ein unvermeidliches Desiderat, ein unvermeidliches Interesse des menschlichen Lebens, besonders des Lebens als Person in der Welt. Der Mensch wird in die Zukunft nicht mehr von seinen Instinkten geführt, d. h. er wird nicht mehr geführt von den prospektiven Anteilen der zuständlichen und aktuellen Situation, in denen er jeweils lebt und die seinen vitalen Antrieb auf sich ziehen. So wird der Mensch nicht mehr in die Zukunft geführt, sondern er ist ausgetreten aus diesen Situationen mit ihrem ihn führenden Nomos und muss sich jetzt selbst orientieren, er muss sich ein Bild von der Zukunft machen, um zu sehen, womit er zu rechnen hat, um sich überhaupt behaupten zu können gegenüber seiner Umwelt. Das ist der Ursprung der Naturwissenschaft als Wissenschaft der schematischen Vorhersagbarkeit. Schematisch deshalb, weil die gesamte Erfahrung abgeschliffen wird auf solche Daten, die dann zugrunde gelegt werden, die eine hinlänglich präzise Vorhersagbarkeit gestatten durch Identifizierbarkeit und Wiedererkennbarkeit einerseits, durch die Möglichkeit der statistischen Zusammenstellung des Abzählens und durch die Möglichkeit, die einzelnen Faktoren der betreffenden Verflechtungen des Geschehens so zu sondern, dass ein Experimentieren möglich wird. Solche Eigenschaften, also die sogenannten primären Sinnesqualitäten, werden von der Naturwissenschaft ausgewählt, und daraufhin werden mit sehr kühnen, aber bewährten Konstruktionen die Hypothesen über das für die Zukunft zu Erwartende aufgebaut und in Experimenten geprüft. Das ist eine ganz natürliche Fortsetzung des für den Menschen unvermeidlichen Bestrebens, sich der Zukunft gegenüber so zu orientieren, dass ein planmäßiges Überleben möglich wird. Nur dass die Naturwissenschaft dann so übermütig war, die Natur und die 107 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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Welt so umzubauen, dass den beliebigen Wünschen, insbesondere denen nach menschlicher Bequemlichkeit, aber auch Unbequemlichkeit – man denke nur an die vielen Kriegswaffen – freier Raum gegeben wird. Die Naturwissenschaft ist eine Ausgestaltung und Hochstilisierung des personalen Bedürfnisses, sich in der Welt zu orientieren, in Bezug darauf, was zu erwarten ist, wenn der Mensch sich soundso verhält. Das ist der zweifellos unvermeidliche und völlig legitime Erkenntnisanspruch der Naturwissenschaft, der aber zusammenbricht, wenn statt auf solche mehr oder weniger bewährten Regeln der Prognose auf allgemeine Naturgesetze mit vermeintlicher Notwendigkeit gebaut wird, um den gesamten Zusammenhang des Geschehens auch da, wo man ihn nicht mehr im Experiment verfolgen kann, für die ganze Welt sicherzustellen. Es wird impliziert, dass im Grunde genommen auch die Zukunft entsprechend festläge, und das ist nicht der Fall. Man kann beweisen, dass die Zukunft im Prinzip offen ist und erst im Entstehen sich entscheidet, was als geschlossene Zukunft noch nicht war. Das ist nur eine nachträgliche Zukunft, vorher ist die Zukunft weitgehend offen und das ist mit der Vorstellung eines durchgängigen Zusammenhanges des Geschehens nach allgemeinen Naturgesetzen unverträglich. Es gibt noch einige speziellere Beanstandungen des naturwissenschaftlichen Weltbildes, die sich zunächst auf die Zeit beziehen. Die Zeit ist etwas, ohne das die Naturwissenschaft nicht auskommt, wenn sie ihren Erkenntnisanspruch erheben will, und zwar die Modalzeit in dem Sinn, dass etwas jetzt ist, etwas nicht mehr und etwas noch nicht. Das ist wohl zu unterscheiden von der Lagezeit, die in der Physik auch theoretisch berücksichtigt und sehr scharfsinnig durchdacht wird; die Lagezeit dessen, was früher, später oder gleichzeitig ist. Davon ist jetzt nicht die Rede, sondern von dem, was jetzt ist, was noch nicht ist und was einmal sein wird. Diese Modalzeit wird unver108 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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meidlich von der Physik in Anspruch genommen, wenn sie irgendwelche Behauptungen beweisen will, nämlich durch ein Experiment. Denn ein Experiment ist nur dann sinnvoll, wenn der Versuchende bei Beginn des Experimentes noch nicht weiß, was er dann einmal wissen wird, wenn das Experiment gelaufen ist. Das Experiment muss ihm also irgendeine Auskunft geben, sei es zur Bestätigung seiner Vormeinungen oder zu deren Veränderung. Diese Auskunft ist unmöglich, wenn dieses Experiment nicht in der Modalzeit stattfindet. Hier geht es gar nicht um die Lagezeit; ich habe das komplizierte Verhältnis von Lagezeit und Modalzeit sorgfältig untersucht, z. B. in meinem Buch Phänomenologie der Zeit. 10 Diese Modalzeit muss der Physiker zugeben; andererseits hat er aber keinen Begriff von ihr, denn der Physiker kann nicht sagen, dass irgendetwas jetzt ist und nicht früher oder später. Er kann zwar von vielen Zeitpunkten sprechen, von denen jeder irgendwann einmal jetzt ist. Aber er hat keinen Anlass, irgendeinen Zeitpunkt aus der theoretischen Physik herauszugreifen, der nun gerade jetzt ist, das kann er nur als lebender Mensch, wenn er Auskünfte aus der Physik vollständig verlässt und einfach in seinem Leben nachsieht, was gerade los ist. Die Physik gibt ihm gar keinen Wink dafür, sich da zurechtzufinden, um festzustellen, dass gerade dieser bestimmte Zeitpunkt diese Auszeichnung hat, nicht mehr noch nicht und noch nicht nicht mehr zu sein und eben gerade derjenige ist, auf dem er, der Physiker, gerade steht. Und insofern hat der Physiker keinen Begriff von dieser Modalzeit, die mit den Begriffen von nicht mehr und noch nicht operiert und dem Ausschluss von nicht mehr und noch nicht in der Gegenwart, sondern er muss das einfach voraussetzen. Er muss ins Leben hinabsteigen aus seiner Theorie; nur aus dem gelebten, außerphysikalischen Leben 10

Hermann Schmitz, Phänomenologie der Zeit, Freiburg 2014

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kann er seine wissenschaftlichen Theorien begründen und mit Hilfe von Experimenten plausibel machen. Andererseits aber kann er erst recht nicht ohne Zirkel diese ganze Welt, von der er die Gewissheit seiner eigenen Behauptungen schöpft, nun seinerseits erklären oder begründen, aus dem, was er erst aus dieser Welt schöpft, ohne es selbst begriffen zu haben. Sondern hier ist etwas Unbegreifliches, nämlich genau der modalzeitliche Zusammenhang, etwas physikalisch Unbegreifliches, was der Naturwissenschaftler braucht, um überhaupt einen Schlüssel zur Erklärung der Welt zu haben, in der er lebt und ohne die er nicht auskommt, wenn er seinen Behauptungen Plausibilität verleihen will. Ein anderer Einwand gegen das naturwissenschaftliche Weltbild ist der folgende: Im naturwissenschaftlichen Weltbild werden die Grundlagen für seine eigene Rechtfertigung durchgestrichen. Das liegt an der Informationsübertragung, die nicht konservativ genug ist, und zwar Informationsübertragung von den Gegenständen der sinnlichen Wahrnehmung, die als Quellen der Information dienen, zum Gehirn bzw. zum Geist. Diese Information wird nämlich nach Maßgabe des naturwissenschaftlichen Weltbildes auf dem Wege dermaßen verarmt und entstellt, dass es nicht mehr vorstellbar ist, wie sie mit zureichender Vollständigkeit ankommt. Das geschieht zunächst durch physikalische Signale, z. B. Licht, oder Schallwellen oder sonstige Signale, die von den Gegenständen nach vielen Richtungen ausstrahlen – es können auch Protonen sein – und nur zu einem ganz geringen Teil die Sinnesorgane treffen, wodurch es allein schon unwahrscheinlich wird, dass ein Gesamtbild der entsprechend ausgedehnten sinnlichen Gegenstände mitgeteilt werden könnte. Immerhin sind in den Sinnesorganen noch ziemlich viele Nuancen der ursprünglichen Informationen enthalten, aber auch diese werden vollständig nivelliert auf dem weiteren Weg der Information durch die Nerven ins Gehirn, denn alle diese 110 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Kritik des naturwissenschaftlichen Weltbildes

Nuancen werden gleichförmig umgewandelt in elektrische Signale, und dabei gehen die Unterschiede der betreffenden Informationsvielfalt weitgehend verloren. Es kommen dann nur solche gleichförmigen elektrischen Signale an verschiedenen Stationen im Gehirn an. Mag dies nun auch ausreichend sein oder nicht, um überhaupt sich ein Bild von der Außenwelt zu verschaffen, so ist es doch jedenfalls verhängnisvoll für die Gewinnung der Informationen, deren die Naturwissenschaft, insbesondere die Physik selbst bedarf. Sie braucht zum Beispiel zuverlässige Zahlen von den Messinstrumenten, die sie um den menschlichen Körper herum aufstellt, um dort die Signale zu messen, die von den Gegenständen ausstrahlen und zum menschlichen Körper hin gesendet werden. Ja, sie kann sogar mit solchen Instrumenten die Verladung der Signale von den Sinnesorganen ins Gehirn untersuchen. Was dort damit passiert, ist auch für die Naturwissenschaft vollkommen dunkel, denn die Rede von einer Übertragung vom Gehirn in den Geist ist so mysteriös und wunderbar, dass ich darauf gar nicht mehr eingehen will. Aber schon beim Weg ins Gehirn entsteht die genannte Schwierigkeit. Wie will sich die Naturwissenschaft sicher sein, dass der Naturwissenschaftler die betreffenden Informationen von den Messinstrumenten und sonstigen Quellen seiner Voraussagen und Erklärungen richtig ablesen kann, wenn die Übertragung von außen ins Gehirn in dieser Weise unvollständig und mangelhaft ist? Der Naturwissenschaftler hätte also gar keinen Anlass mehr, sich auf die Zuverlässigkeit der von ihm erhobenen Daten zu verlassen, und damit wäre die Grundlage der naturwissenschaftlichen Aussagen, sowohl was die Voraussage als auch was die Erklärung betrifft, vollkommen in der Schwebe, so dass auch von hier aus das naturwissenschaftliche Weltbild nicht der Aufgabe gewachsen ist, eine einstimmige und konsequente Darstellung zu liefern. Es mag noch weitere Einwendungen geben, 111 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Kritik des naturwissenschaftlichen Weltbildes

doch sind dies besonders drastische Spezialeinwände, der erste entnommen aus der Unfähigkeit der Naturwissenschaft, die Modalzeit zu begreifen, und der zweite aus der Unfähigkeit, die Konservierung der Information auf dem Weg von den Objekten ins Gehirn begreiflich zu machen.

112 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Kapitel 7 Konstruktionismus und Konstellationismus als Versuchungen in der Geschichte

Um einen Überblick über die Typen der Mannigfaltigkeit zu erlangen, empfiehlt es sich, die folgenden drei Begriffe scharf zu unterscheiden: erstens absolute Identität, zweitens Einzelheit, drittens relative Identität. Absolute Identität von etwas besteht darin, dass es selbst ist in der Weise, dass es von anderem verschieden ist, sofern es insgesamt Mannigfaltiges gibt. Dieses andere braucht nicht auch selbst zu sein, sondern kann gewissermaßen zerfließen. Dies zur Grundstufe der absoluten Identität. Einzelheit besteht darin, Element einer Menge mit der Anzahl 1 zu sein, wobei 1 die Anzahl jeder Menge ist, in der jedes Element mit jedem identisch ist. Ich habe gezeigt, dass es weitere zwei gleichwertige Definitionen der Einzelheit gibt, die logisch damit äquivalent sind, nämlich erstens: einzeln ist das, was die Anzahl einer Menge um 1 vermehrt, zweitens: einzeln ist, was Element einer endlichen Menge ist. Daraus folgt auch, dass alles, was überhaupt Element einer Menge ist, einzeln ist, weil jedes Element irgendeiner Menge auch Element einer endlichen Menge ist. Diese Definitionen umschreiben den Bereich desjenigen Mannigfaltigen, das arithmetisierbar ist oder numerisch ist in dem Sinn, dass es Element einer Menge sein kann, die eine Anzahl, die eine Zahl hat. Den Begriff der Zahl muss man definieren, wie es Hume als Erster entdeckte, und daran knüpfte dann Frege an. Diese Definition der Zahl muss man bestimmen durch die Möglichkeit einer umkehrbar eindeutigen Abbildung, und zwar ist die Anzahl einer Menge die Möglichkeit, irgendeine Menge auf sie umkehrbar eindeutig 113 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Konstruktionismus und Konstellationismus als Versuchungen

abzubilden. Die Abbildung ist umkehrbar eindeutig bei zueinander fremden Mengen, wenn alle Elemente beider Mengen in der Paarung verbraucht werden und dabei jedes Element nur einmal vorkommt. Bei Mengen, die sich überschneiden, eventuell sogar identisch sind, ist das Erfordernis, dass jedes Element beider Mengen tatsächlich in einem Paar vorkommt und dass auf jeder Seite der Paarung kein Element mehr als einmal vorkommt. Dies ist der Begriff der umkehrbar eindeutigen Abbildung. Was nun eine Menge ist und was ein Element ist, habe ich so erklärt: Eine Menge ist die Zusammenfassung ihrer Elemente, und ein Element einer Menge ist ein Fall einer bestimmten Gattung, wobei die Menge selbst der Umfang dieser Gattung ist, das heißt die gedankliche Zusammenfassung aller Elemente, die ein Fall der Gattung sind und nur dieser Fälle. Was nun aber eine Gattung ist, das ist etwas umständlicher zu erklären. Was ein Fall ist – ein Ausdruck, den wir ja auch im täglichen Leben in einem fort gebrauchen –, was ein Fall ist, damit was eine Gattung ist, das habe ich in anderer Weise erklärt durch Rückgang auf die Möglichkeit der logischen Folgerung. Aber das ist etwas zu umständlich, um es hier zu wiederholen. Ich setze also voraus: Mengen sind Zusammenfassungen derjenigen Fälle von Gattungen, die Fälle ein und derselben Gattung sind. Dies genügt für diese Grundbegriffe. Was nun eine Zahl ist, habe ich eben schon erklärt. Nicht jeder Umfang einer Gattung, das heißt die Gesamtheit aller ihrer Fälle, hat eine Zahl. Aber wenn dieser Umfang eine Zahl hat, dann handelt es sich um eine Menge. Dies sind die Grundbegriffe der Lehre vom zahlfähigen Mannigfaltigen, also von dem Mannigfaltigen, das in Zahlen eingehen kann auf dem Weg über Mengen, deren Element es ist, weil es der Fall derjenigen Gattung ist, deren Umfang eben diese Menge ist. Es gibt nun nach dem Gesagten drei mögliche Stufen des Mannigfaltigen, mit der Stufe des zahlfähigen Mannigfaltigen als der obersten. 114 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Konstruktionismus und Konstellationismus als Versuchungen

Und zwar zunächst die Stufe des ganz konfusen Mannigfaltigen, in dem es sogar an absoluter Identität fehlt, und das ist der Fall bei den homogenen und heterogenen Kontinua. Den heterogenen wie zum Beispiel denjenigen Größenveränderungen, die beim Steigen und Fallen der Intensität von Qualitäten zum Vorschein kommen. Darüber erhebt sich dann dasjenige Mannigfaltige, das immer noch nichts Einzelnes in sich enthält, wohl aber Identität und Verschiedenheit. Und darüber erhebt sich dann das Mannigfaltige, das in dem Sinne zählbar ist, dass es ein Element einer Menge mit einer bestimmten Anzahl sein kann, im Sinne der angegebenen Definitionen. Das Mannigfaltige, das nicht in diesem Sinne zahlfähig ist, ist entweder chaotisches Mannigfaltiges, bei dem die Einzelheit und eventuell sogar die absolute Identität überhaupt nicht vorkommen oder nicht vollständig durchgeführt sind, oder es ist das zwiespältige Mannigfaltige, bei dem verschiedene Gegenstände in Konkurrenz treten um Identität mit demselben Gegenstand, so dass eine Zweideutigkeit entsteht, ein Zwiespalt. Mit dieser Einteilung der Mannigfaltigkeiten hängt zusammen eine entsprechende Einteilung der Zusammenhänge, und zwar gibt es zwei Grundtypen des Zusammenhangs: Das eine sind die Verhältnisse, das andere die Beziehungen. Verhältnisse sind ungerichtet, Beziehungen sind gerichtet. Ein Verhältnis ist zum Beispiel das Nebeneinanderliegen; eine Beziehung besteht dann darin, dass dieses Nebeneinanderliegen aufgespalten wird in der Weise, dass etwas rechts vom anderen und etwas links vom anderen liegt. Also die Beziehung enthält immer eine Richtung von dem, was sich bezieht, auf das hin, worauf es sich bezieht, eventuell durch Zwischenglieder. Das Verhältnis aber enthält keine solche Richtung. Nun habe ich gezeigt, dass alle Beziehungen aus Verhältnissen durch Spaltung von Verhältnissen hervorgehen, dass es aber auch unspaltbare Verhältnisse gibt, beispielsweise einen musika115 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Konstruktionismus und Konstellationismus als Versuchungen

lischen Akkord in simultaner Darbietung. Aber es gibt Unzähliges davon, auch unzählige unspaltbare Verhältnisse, jedenfalls nicht in Beziehungen spaltbare Verhältnisse. Diese unspaltbaren Verhältnisse durchziehen alle Typen des Mannigfaltigen. Es gibt sie sowohl im zahlfähigen oder numerischen Mannigfaltigen als auch im chaotischen Mannigfaltigen und erst recht im zwiespältigen Mannigfaltigen, dessen widerspruchsfreie Möglichkeit gerade darauf beruht, dass die verschiedenen Seiten des Zwiespalts – es können auch mehr als zwei sein – nicht so auseinanderkommen, dass sie in Beziehungen gegeneinander ausgespielt werden könnten. Es genügt, dies hier so abstrakt ausgeführt zu haben, um überhaupt eine Grundlage zu besitzen für das Nachdenken über den Umgang der Menschen mit dem Mannigfaltigen in der Geschichte. Und da ergibt sich zunächst eine ganz entschiedene Bevorzugung des numerischen Mannigfaltigen, eine Bevorzugung, die von den Pythagoreern ausgeht, von denen der Satz stammt »Alles ist Zahl« oder, was noch besser und konkreter das Gemeinte trifft: »Alles gleicht der Zahl«, arithmo de te pant’ epeoiken. Das ist der Anfang einer Arithmetisierung der ganzen Welt. Man muss nun bedenken, dass die Alten nur einen sehr unzulänglichen Zahlbegriff hatten, und zwar abstrahierten sie, wie etwa Euklid, von der Art und Weise, wie jeder Gegenstand ein Eines ist, nämlich ein Fall irgendeiner Gattung, zum Beispiel ein Blatt oder ein Baum oder ein Mensch und dergleichen, also ein Irgendetwas. Von dieser Art von Einheit abstrahierten sie hypostasierend ein Eins. Jede solche Einheit einer ganz konkreten Sache sollte von ihr abstrahiert sein als ein Eins, ein bloß gedankliches Eins. Und diese vielen Einsen bildeten dann den Gegenstand der Arithmetik – oder wie Aristoteles sagt: Das sind die Zahlen, mit denen gezählt wird, im Gegensatz zu den Zahlen, die gezählt werden. Es handelt sich um die Anzahlen von Mengen. Aber auch das war den Alten nicht ganz deutlich, dass es 116 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Konstruktionismus und Konstellationismus als Versuchungen

sich hier um Mengen handelt und was Mengen sind. Insofern ist dieser Zahlbegriff ein Produkt einer Begriffsverwirrung, nämlich einer falschen Hypostasierung, und zugleich Erzeugung eines gespensterhaften arithmetischen Seins, das man überhaupt nicht braucht, das aber zum Beispiel bei Platon und in gewissem Sinne auch noch bei Aristoteles eine große Rolle spielt. Diese primitive Vorstellung von Zahl wurde zuerst von Hume und dann noch von Frege energisch angegriffen, und zwar haben sie sich bezogen auf die Möglichkeit umkehrbar eindeutiger Abbildung zwischen Mengen als das Fundament für die Bildung des Zahlbegriffes, wobei sie meines Erachtens beide doch noch verbesserungsbedürftig sind, und dann ergibt sich diese ganz einfache Definition, dass die Zahl in der Möglichkeit umkehrbar eindeutiger Abbildung zwischen Mengen besteht. Dies war jedenfalls der Ausgangspunkt der Pythagoreer: Alles ist Zahl, das heißt alles ist zählbar, alles ist einzeln, das heißt alles kann Element einer Menge sein, die eine Anzahl hat. Diese Begriffe sind äquivalent. Diese These der Pythagoreer hat zu der Vorstellung geführt, dass die ganze Welt durcharithmetisiert werden könne, dass sie im Grunde genommen aus lauter Elementen bestehe, die selbst Zahlen sind oder auf die Zahlen angewandt werden können, die reinen Zahlen. Diese Vorstellung geht von den Pythagoreern aus und wird dann von Platon aufgegriffen in seinem Timaios, der eine Konstruktion der ganzen Welt auf dieser arithmetischen Grundlage von Zahlen angibt, wobei allerdings Platon der Zahl und der zahlenmäßigen Ordnung der Welt ein Gegenbild gegenüberstellt, die sogenannte Amme des Werdens, die ein ganz unruhiges Element ist, mit ständigem Schwanken nach mehreren Seiten. Sie muss beruhigt werden vom Demiurgen, dem im Timaios eingeführten Weltschöpfer, der die zahlenmäßige Ordnung in die Welt einführt und dabei im wesentlichen auch Erfolg hat, so dass die Welt ihr Gesicht von den Zahlen empfängt, hinter denen 117 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Konstruktionismus und Konstellationismus als Versuchungen

die Ideen stehen, die selbst auch als Idealzahlen aufgefasst werden im platonischen Denken. Auf diese Weise setzt sich dieses pythagoreische Ideal mit dem kleinen Rest, dass auch noch eine von sich aus nicht zahlfähige Mutter des Werdens, eine Hyle, eine Materie zugegeben wird, durch, und im pythagoreisch-platonischen Dunstkreis, wenn ich so sagen darf, hat dieses mathematisierende Denken einen ganz ungeheuren Erfolg gehabt bis etwa hin zu Kepler, der über die Harmonia mundi schrieb, über die Harmonie der Welt in diesem Sinn eines zahlenmäßig geordneten Systems, wobei er dann allerdings gewisse Konzessionen machen musste, schon etwa in seinen Kepler’schen Gesetzen, aber er hielt an dem Ideal ohne Frage fest. Dazwischen ergießt sich die Tradition des pythagoreisch-platonischen Zahlendenkens. Diese erste Form eines arithmetischen und arithmetisierenden Konstruktivismus in der Weltauffassung ist in gewissem Sinne harmlos, und zwar deswegen, weil bei Platon im Timaios damit ein Beitrag zur Ordnung der Welt und des Lebens auch für den einzelnen Menschen geleistet werden soll, der die Bewegungen in seiner Seele den Bewegungen des Alls anzupassen hätte, diesen zahlenmäßig geordneten Bewegungen des Alls. Das ist eine Ermahnung zum geordneten Leben, und insofern geht davon keine sehr große Gefahr aus. Allerdings ist ein großer Verlust, der aus dieser Arithmetisierung der Welt bei den Alten folgt, dieser, dass das nicht zahlfähige Mannigfaltige, das diffuse oder konfuse, das chaotische, das zwiespältige Mannigfaltige zu kurz kommt. Es wird vernachlässigt, es wird herabgestuft im Denken der Alten zur bloßen Materie (Hyle) im Sinne des Unbestimmten, des Verschwommenen, das alle Präzision in der Welt ins Verschwimmen bringt, wie etwa im System des Aristoteles, aber selbst keine produktive Leistung vollbringt. Die produktive Leistung besteht nur in der Gestaltung nach Zahl. Damit haben sich die Alten die Chance verdorben, gerade diese Materie, 118 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Konstruktionismus und Konstellationismus als Versuchungen

den Bereich des nichtnumerischen Mannigfaltigen, der das menschliche Leben überall durchzieht, das Mannigfaltige der Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit, in seiner Fruchtbarkeit zu sehen. Es zu sehen in seiner Fruchtbarkeit voll von Andeutungen, die der Mensch aufgreifen kann, um aus ihnen Gestalten zu schöpfen, die von seinem Betroffensein durch seine Gestaltungskraft entbunden werden. Das war in der antiken Politik durchaus deutlich. Thukydides charakterisiert den Themistokles als einen Politiker, der der Stärkste darin war, noch im Undurchsichtigen das Passende und das Gehörige vorauszusehen und entsprechend zu handeln. Der Politiker muss immer in der noch undurchsichtigen Situation des Augenblickes die Anknüpfungspunkte für sein Handeln finden, mit dem er die politischen Verhältnisse so oder so gestaltet. Aber diese Chance, die in der antiken Politik sehr gut verwirklicht war, ist in der Theorie der Alten ungenützt geblieben. Das ist in großen Zügen das Erbe des pythagoreischen Denkens, das eigentlich nur den Zahlen und dem, was zahlenmäßig geordnet werden kann, einen eigenen Wert zuschrieb und die anderen Typen des Mannigfaltigen dagegen degradierte. Das geht so weiter bis zur Scholastik des Mittelalters, und zwar gibt es in der Scholastik von vornherein Ansätze, die darauf hinwirken, die Vorstellung vom Mannigfaltigen zusammenzuziehen auf die Vorstellung des numerisch Mannigfaltigen, also des Einzelnen, das geeignet ist, in eine Menge einzugehen, die ihrerseits dann eine Zahl hat. Dieses Denken fängt an bei den Spekulationen des Aristoteles über das Eine. Aristoteles bestimmt das Eine einerseits als das, was in sich unteilbar ist, das ist Griechisch das Adihaireton, Lateinisch Individuum, als das Individuum, das gewissermaßen sich abschließt in seiner Unteilbarkeit oder Ungeteiltheit. Andererseits aber verwendet er den Ausdruck »Eines« in einem viel weiteren Sinn, nämlich im Sinne des Einen als Gattungsfall, also so wie der unbestimmte Artikel: 119 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Konstruktionismus und Konstellationismus als Versuchungen

ein Mensch, ein Tier, ein Volk meinetwegen. Diese Doppelsinnigkeit hat die Scholastiker dazu verführt, alles das, was überhaupt unter eine Gattung gebracht werden kann, gleichzeitig auch als Einzelnes, als Individuum, als individuell, als in sich abgeschlossen, ungeteilt Ganzes aufzufassen. Die Folge dieser Vereinfachung sieht man sehr schnell bei Abaelard in der Frühscholastik. Abaelard vertritt den Nominalismus, er bekämpft also die Existenz allgemeiner Gattungen und Arten, er lässt nur Individuen gelten, Adihaireta nach Aristoteles, und zwar mit der Begründung, die er irrigerweise dem Boethius zuschreibt, dass alles, was Eines ist, auch diskret in seiner eigenen Essenz sei, also abgesondert in seiner eigenen Wesenheit, so in seiner Logica Ingredientibus. Diese Vorstellung pflanzt sich in der Scholastik weiter fort, zum Beispiel bei Thomas von Aquino, der in seiner Schrift De ente et essentia gegen die Vorstellung, dass es ein Allgemeines in den Individuen gebe, einwendet, dass zum Beispiel in Sokrates als einem Individuum alles, was darin sei, individuell sei, so dass es nichts Allgemeines in Sokrates geben könne. Also auch für Thomas ist wie für Boethius das jeweilige Einzelne, das Individuum in seiner eigenen Essenz so abgesondert, dass nichts, was darüber hinausgeht, in diese eigene Essenz eingehen kann. Diese Absonderungsidee, das discretum in sua propria essentia nach Abaelard, widerspricht ganz schroff dem neuplatonischen Denken, das Plotin etwa im Anfang seiner Schrift über intelligible Schönheit so ausdrückt, dass alles, was auseinandertritt, von sich selbst weg tritt. Das heißt, etwas ist es selbst nur im Zusammenhang und nicht in seiner abgesonderten, diskreten Essenz. Diese Vorstellung wird in der Scholastik mehr und mehr aufgegeben, unterschwellig bis zu Wilhelm von Ockham, dem Urheber des sogenannten Nominalismus, den man im Allgemeinen nur als Opposition gegen die Anerkennung allgemeiner Gattungen über den Individuen auffasst. Viel wichtiger aber ist bei Ockham noch 120 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Konstruktionismus und Konstellationismus als Versuchungen

die Ablehnung der Relationen. Ganz im Geiste des Boethius ist Ockham ein Mann, der nur abgesonderte, absolute Dinge gelten lässt. Wilhelm von Ockham lehrt in seinem Sentenzenkommentar: »Omnis res realiter distincta ab omni alia re est vere res a se quia abstracta secundum quidditatem et essentiam suam ab omni alia re; igitur praeter res absolutas nihil est in re.« Alles was ist, in eigener Essenz und Washeit, ist Seiendes von sich aus, abgesondert von allen anderen Essenzen. Daher gibt es in der Wirklichkeit nichts außer absoluten abgelösten Sachen. So Wilhelm von Ockham 11 . Dies ist das Prinzip von Wilhelm von Ockham, die Grundlage seiner ganzen Philosophie: Alles was es gibt, das ist ein Wesen von sich selbst. Deswegen gibt es nur absolute und keine relativen Sachen, natürlich auch keine allgemeinen Gegenstände, von denen die einzelnen Gegenstände abhängen, sondern jedes einzelne Ding ist in sich geschlossen, seiner ganzen Wesenheit und auch seiner ganzen Existenz nach. Es ist ein Seiendesvon-sich-Selbst, (ens a se), so wie man sonst in der Scholastik Gottvater von den beiden anderen trinitarischen Figuren unterschied. Es ist ein ungeheurer Anspruch auf die Selbständigkeit jedes beliebigen Einzelnen, der bei Ockham zum Beispiel dahin führt, dass er zwar in reduzierter Form die scholastische Kategorienlehre übernimmt, wenn auch reduziert auf Substanz und Qualität, aber mit dem Unterschied, dass er sogar die Qualitäten verselbständigt als absoluta, so dass sogar die moderne Idee auftaucht, dass es ein Denken und ein Wollen ohne Denkenden und Wollenden geben könnte, wenn Gott es so will. Diese vollständige VerabsoluWilhelm von Ockham, Opera theologica, Bd. IV, St. Bonaventure (NY) 1979, S. 321. Man findet das alles weiter ausgeführt in meinem Buch Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung, Band 2, Freiburg 2007, und zwar in den beiden Kapiteln über »Das Universalienproblem«, S. 53–86, und »Wilhelm von Ockham«, S. 133–154.

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Konstruktionismus und Konstellationismus als Versuchungen

tierung jedes Seienden hat bei Ockham ganz wichtige Folgen: sie führt ans Licht eine Tendenz, die in der Scholastik zwar zugrunde liegt und die in präziserer Form zurückzuführen wäre auf die Behauptung: alles ist einzeln. Dann hängt es zwar von Gattungen ab, aber das verleugnet man. Der Nominalismus sagt, alles ist einzeln von sich aus, auch wenn es gar nicht Fall einer Gattung ist. Diese sehr moderne Vorstellung wird hier von Ockham explizit eingeführt und hat in seinem System zwei sehr wichtige Konsequenzen. Zunächst, dass er den großen Zusammenhang der Dinge leugnet. In seinen Quodlibeta, in dem Quodlibet Nr. 7 polemisiert er gegen Simplicius, den Aristoteleskommentator, der in einem Exkurs in seinem Kommentar zu den Kategorien des Aristoteles oder vielmehr Pseudo-Aristoteles die Relation verteidigt hatte mit der Begründung, die Weltordnung selbst sei eine Relation, und wenn man keine Relation gelten ließe, könnte man auch keine Weltordnung gelten lassen. Von dieser Weltordnung als Relation, als Beziehung aufeinander will Wilhelm nichts wissen, im Gegensatz zu den Pythagoreern, im Gegensatz etwa zu Platons Timaios und den davon ausgehenden Traditionen. Sondern er sagt nein, tatsächlich gibt es nur diese einzelnen Dinge, seien sie Substanzen oder Qualitäten, jedes in seiner abgesonderten eigenen Wesenheit und Washeit. Sie fügten sich so zusammen, dass für den Blick des Beschauers alles so aussieht wie eine große Weltordnung, ohne dass in der Natur der Dinge irgendeine solche Weltordnung verankert wäre. Aber sie entspricht dem Gesamtbild, das sich für einen Betrachter ergibt. Das ist ähnlich wie bei Leibniz gedacht. Ockham ist hier weitgehend maßgeblicher Vordenker des neuzeitlichen – zum Beispiel Leibniz’schen – Denkens. Diese Option für das Einzelne führt bei Ockham in seinem Kommentar zur Physik des Aristoteles zu einer Umdeutung des Machens, des technischen Machens. Für Aristoteles, in dessen Ausführungen über das technische Machen, 122 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Konstruktionismus und Konstellationismus als Versuchungen

war das Machen das Schaffen nach einem Vorbild. Bei Platon sind das die Ideen, auf die der Handwerker etwa hinblickt, wenn er ein Bett macht, bei Aristoteles handelt es sich nicht um überzeitliche Ideen, sondern um ein Leitbild, das dem Handwerker, auch ohne dass es überzeitliche Ideen zu sein brauchen, vorschwebt. Aber immerhin ist es ein konstantes Leitbild, ein wiederholbares Leitbild, nichts Einmaliges. Dieses Leitbild führt das Schaffen und legt ihm eine gewisse Ordnung auf. Von dieser Ordnung abstrahiert Ockham nun auch genauso wie im Weltganzen beim technischen Machen. Er sagt nämlich, das sei gar nicht so, sondern das technische Machen bestehe nur in der Verschiebung von Sachen im Raum. Das heißt, jede beliebige Verschiebung wird von Ockham zugelassen, die Technik wird zum Probieren, wird zur Leistung des Probierens. Man kann dies probieren, man kann jenes probieren. Auch wenn es dafür kein etabliertes Leitbild gibt, das dem Techniker vorschwebt, sondern es ist alles erlaubt, die Sachen im Raum so und so herumzuschieben, bis etwas herauskommt, das dem Techniker eben passt. Es ist das neue Prinzip der möglichen Optimierung, denn jetzt braucht man sich nicht mehr an Leitbilder zu halten. Zum Beispiel wenn man ein Haus bauen will: Was ist überhaupt ein Haus? Wie kann ich denn nun ordentlich dem Leitbild eines Hauses folgen? Sondern man kann versuchen, wie weit man kommt, wenn man die schon bestehenden Leitbilder variiert. Dieses neue Prinzip setzt sich in der Neuzeit mehr oder weniger durch und baut auf auf der Tendenz des Dynamismus, wie ich sie beschrieben habe, also der Tendenz, das affektive Betroffensein an die Vorstellung von Macht zu binden. Das ist vom Christentum eingeübt worden mit dem Köder der Aussicht auf ewige Seligkeit, die die Menschen dazu brachte, ihr gesamtes affektives Betroffensein zusammenzufassen im Gehorsam gegen Gott, der über die ewige Seligkeit oder Unseligkeit verfügt und ihr affektives Betroffensein unter123 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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warf, das in der Antike zwar auch die Macht zum Thema hatte, aber unter vielen anderen Themen. Dieses affektive Betroffensein wurde an das Thema der Macht, zunächst der Macht Gottes, gebunden und, als dann diese transzendente Autorität Gottes ihre große, überragende Stellung verloren hatte, an die Macht des Menschen. Das zeichnet sich schon um 1300 ab in dem Spott des Königs Philipps des Schönen von Frankreich über den Papst Benedikt, den er dann sogar beinahe gefangen nehmen ließ. Er versklavte dann die Kirche zur Umsiedlung von Rom nach Avignon. Diese Tendenz, die transzendente Macht nicht mehr wichtig zu nehmen, weil sie sich selbst degradiert und desavouiert hatte durch Missbrauch dieser Macht zu weltlichen Zwecken, diese Entwicklung hat zwar dann weiter Verzögerungen erfahren, aber sie ist auf die Dauer nicht aufzuhalten gewesen. Sie führt dann dazu, dass die Menschen die Macht in die eigenen Hände nehmen. Das ist in der Neuzeit der Fall und wird formuliert von Descartes, von Hobbes und von Francis Bacon, von 1600 ab steigt die moderne Technik auf. Sie verbindet diesen Dynamismus, die Macht in der Hand des Menschen, mit dem Konstellationismus; sie nützt also die wechselnden Konstellationen dessen, was man aus der Welt machen kann, die seit Wilhelm von Ockham überall zugelassen werden. Man kann aus dem Grundgerüst, das schon die Pythagoreer den Seienden aufgedrückt hatten, dem Gerüst der Weltordnung, alles Beliebige machen nach den eigenen Zwecken, indem man diese Weltordnung, sobald man ihrer habhaft werden kann, entsprechend umordnet, soweit es den eigenen Zwecken genügt. Das heißt, diese Konstruktion einer zahlenmäßig geordneten Welt wird nun umgeordnet in eine Fülle von Konstellationen, die sich ergeben, wenn man etwas daran probiert, im Interesse einer gewissen Optimierung, die dem jeweils verfolgten Ziel des Menschen dient, worauf er gerade hinauswill. Ein Hauptziel ist die Beschleunigung. Der 124 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Konstruktionismus und Konstellationismus als Versuchungen

Mensch will möglichst viel möglichst schnell haben, und dadurch wird der Verkehr, sowohl der Körper einschließlich der Menschenkörper als auch der Nachrichten, und dies ganz besonders, und der Mitteilungen so sehr beschleunigt, dass es immer neuer Hilfsmittel bedarf, um der rasenden Bewegung Herr zu werden. Das aber erzeugt neuere Techniken, die dann ein noch schnelleres Vorgehen gestatten. Dann fängt die Bewegung wieder an, dass sich den Menschen die Netze ihrer Verkehrswege immer enger um die Hälse schlingen und sie immer neue Befreiungsversuche unternehmen, die immer tiefer hineinführen, ohne dass eigentlich neue Inhalte hereinkommen. Das ist der sogenannte Beschleunigungszirkel, den Hartmut Rosa entdeckt hat. Dasselbe findet sich auch bei Gernot Böhme, der das moderne Leben demaskiert hat, wegen dieser seiner Optimierungstendenzen, die die Umgestaltung der Welt außer Rand und Band geraten lassen. Böhme bemängelt besonders die Schubkraft des Verschönerungsinteresses, das er der sich potenzierenden Eitelkeit zuschreibt. Dieser Vorwurf ist wohl zu allgemein. Wilhelm Wundt nannte das die Heterogonie der Zwecke, das heißt etwas, was zunächst nur Mittel war, technisches Mittel, um irgendeinen Zweck zu gewinnen, wird jetzt durch sich selbst und an sich selbst Gegenstand der Bearbeitung um seiner selbst willen. Das Werkzeug wird geschmückt, das Werkzeug wird angenehm gestaltet, weil man eine Art Liebesverhältnis zum Werkzeug gewinnt. Diese Heterogonie der Zwecke ist ein ganz allgemeines Prinzip und lässt sich immer durchführen. Man soll sie nicht speziell zur Diskreditierung der Technik benützen.

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Kapitel 8 Subjektive und objektive Tatsachen

Tatsachen sind eine Sorte von Sachverhalten, die man, wenn es nicht darum ginge, einen Zirkel bei der Einführung des Wahrheitsbegriffes zu vermeiden, leicht so definieren könnte: Tatsachen sind diejenigen Sachverhalte, die in wahren Behauptungen behauptet werden können. Sachverhalte (dass etwas ist oder nicht ist), Programme (dass etwas sein soll oder sein möge oder nicht) und Probleme (ob etwas ist) – mit entsprechenden grammatischen Abwandlungen ebenso – die fasse ich zusammen unter dem Titel der Bedeutungen. Eine Bedeutung ist subjektiv, wenn höchstens einer, und zwar im eigenen Namen sie aussagen kann, obwohl beliebig viele andere in der Lage sein können, mit Hilfe von Kennzeichnungen ebenso wie er darüber zu sprechen. Eine Tatsache ist objektiv oder neutral, wenn jeder sie aussagen kann, sofern er genügend weiß und gut genug sprechen kann. Was hier für Tatsachen gesagt ist, gilt ebenso für die übrigen Bedeutungen. Eine Bedeutung, insbesondere eine Tatsache, ist subjektiv in dem angegebenen Sinn, sonst eben objektiv oder neutral, wenn jeder sie aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann. Den hier gemeinten Unterschied und die Sonderstellung der subjektiven Tatsachen erläutere ich durch Vergleich mit einer ähnlichen Lage bei bloß objektiven Tatsachen. Es gibt objektive Tatsachen, die mit denselben Worten einer richtigen Behauptung niemand aussagen kann, der nicht die betreffende Person selber ist, oder wenigstens nicht jeder aussagen kann. Beispiel ist der Satz »Ich bin Hermann Schmitz« bei der übrigens neutralen Vorstellung 127 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Subjektive und objektive Tatsachen

vor einer Behörde. Das kann ja nur jemand sagen, der wirklich so heißt, und wenn ich einen ganz ungewöhnlichen Namen hätte statt dieses sehr gewöhnlichen, dann wäre es noch viel unwahrscheinlicher, dass jemand das im Ernst mir so nachsprechen könnte. Andererseits aber ist es ganz leicht, den Sachverhalt, der durch die Worte »Ich bin Hermann Schmitz« dargestellt wird, in eine andere Form zu übertragen, die eben denselben Sachverhalt und vielleicht noch etwas mehr dazu aussagt, zum Beispiel, wenn ich vor einer Behörde stehe, kann ich etwa sagen: »Der Mann, der hier vor Ihnen steht, ist Hermann Schmitz«. Hier ist nun gar keine Schwierigkeit für irgendeinen anderen, dieselbe Aussage zu wiederholen. Bei den Tatsachen des affektiven Betroffenseins ist es aber anders. Affektiv betroffen ist jemand, dem etwas nahegeht, der von etwas getroffen wird, der von etwas ergriffen oder heimgesucht wird oder wie man dies im affektiven Sinne auch immer sagen möge. Bei den Tatsachen des affektiven Betroffenseins fällt nämlich diese leichte Überführungsmöglichkeit in die Behauptung einer objektiven Tatsache weg. Man sieht das am Vergleich einer solchen Tatsache wie beispielsweise »Ich bin sehr traurig«, »Ich bin von Unglück bedroht«, »Ich bin vom Glück begünstigt« und so weiter mit Tatsachen, die jeder andere in die neutrale Sprechweise übernehmen kann. Ich zeige das ganz besonders an dem folgenden sehr eklatanten Beispiel, das ich einer Erzählung von Friedrich Dürrenmatt nacherzählt habe. Die Erzählung geht so: Ein schmächtiger Bewunderer eines mächtig herkulisch gebauten Dichters besucht das Objekt seiner Bewunderung, von dem er die Mitteilung erfährt, dass er, der Dichter, beabsichtige, einen lebendigen Menschen zum Fenster herauszustürzen, um die dem Dichter so notwendige Kenntnis der menschlichen Natur durch Studium des Verhaltens in der Todesangst zu bereichern. Der Besucher hört sich das mit etwas schauderndem Behagen an, bis er immer 128 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Subjektive und objektive Tatsachen

Näheres erfährt über die Beschaffenheit der zu stürzenden Person, und schließlich kommen solche Details zur Sprache, dass er nicht umhin kann einzusehen, dass er selber gemeint ist, der also herausgestürzt werden soll. In diesem Augenblick hat sich zwar der beschriebene Sachverhalt bezüglich der Beschaffenheit des Menschen, der da herausgestürzt werden soll, um gar keine weiteren wesentlichen Merkmale bereichert, aber es ist eine ganz andere Tatsache herausgekommen. Dass diese Tatsache nun vollständig verschieden ist von der vorigen, die der Besucher mit behaglichem Grauen anhörte, das ergibt sich aus der vollständigen Änderung seines Verhaltens, das nicht mehr behaglich, sondern panisch ist und nur noch darauf ausgeht, heil davon zu kommen. Es ist also diese Tatsache des affektiven Betroffenseins eine Tatsache von besonderem Gewicht für ihn, die kann nun wirklich nur er selber aussagen, denn bei der Übersetzung in eine neutrale Tatsache wie »da ist ein Mann mit den und den Eigenschaften und der soll herausgestürzt werden« fällt diese ganz besondere Eindringlichkeit der subjektiven Tatsache weg. Man könnte allerdings meinen, das sei lediglich darauf zurückzuführen, dass er merkte, dass überhaupt von ihm selbst die Rede ist. Etwa nach dem bekannten Spruch »Jeder ist sich selbst der Nächste«, und so wäre er also an sich selbst besonders interessiert. Dies aber ist ein Fehlschluss, man kann nämlich auch genau über sich selbst unterrichtet sein und sich selbst meinen und dennoch des affektiven Betroffenseins in dem Sinne dieser gesteigerten Bedeutsamkeit vollständig entbehren. Ein Beispiel davon ist der sogenannte Bälz-Effekt, den ich mehrfach beschrieben habe. Dieser deutsch-japanische Mediziner beobachtete an sich selbst in Japan einen solchen Zustand, in dem er angesichts der schrecklichen Bedrohung durch das Erdbeben zwar ein vollständig erhaltenes nüchternes Selbstbewusstsein hatte, aber jeder Anteil an sich selbst war ihm entzogen. Und es gibt eine 129 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Subjektive und objektive Tatsachen

ganze große Anzahl von Berichten, die dieses Phänomen ebenso zur Geltung bringen. Ich habe dieses Material in meinem Buch über die Freiheit der sittlichen Verantwortung zusammengestellt. 12 Es geht zum Beispiel um viele schreckliche Ereignisse, die in einem Krieg vorfallen, oder das Fallen entweder vom Himmel in einem Flugzeug oder auch nur von einer Leiter, aber jedenfalls in einer gefährlichen Situation. Es geht weiter um den Überfall eines Löwen, der den betreffenden Menschen ergriffen hatte und gleich zu verschlingen gedenkt, und es dann schließlich doch ausbleibt. In allen solchen Fällen entsteht diese sogenannte Bälz’sche Emotionslähmung. Das affektive Betroffensein ist von dem gefährlichen und grässlichen Ereignis dermaßen überfordert, dass nichts ihm nachkommen und keine Antwort darauf finden kann, deswegen fällt es kurzfristig während des Ereignisses aus, um dann später in anderer Form, z. B. durch hysterisches Lachen, nachgeholt zu werden. Diese Bälz’sche Emotionslähmung zeigt also, dass der Anteil an sich selbst und das affektive Betroffensein in dem Sinne einer derart eindringlichen Tatsache voneinander getrennt werden können. Ebenso kann man auch sich selbst gerade nur im Licht einer ganz neutralen und objektiven Tatsache beurteilen und wird dann davon nicht mehr besonders aufgeregt werden, wenn man nicht zu sehr darauf achtet, dass es sich um einen selber handelt und damit alle für einen subjektiven Tatsachen mit betroffen sind. Dieser große Unterschied, dass es gerade bei den Tatsachen des affektiven Betroffenseins solche gibt, die nicht durch andere Formulierung denselben Sachverhalt betreffen und ebenso von einem beliebigen anderen, wenn der nur genug weiß und gut genug sprechen kann, reformuliert werden können, diese besondere Tatsache wähle ich jetzt zur Auszeichnung der von mir sogenannten subjektiven Tatsachen. 12

Hermann Schmitz, Freiheit, Freiburg 2007

130 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Subjektive und objektive Tatsachen

Diese Auszeichnung hängt damit zusammen, dass man nicht nur wie im täglichen Leben beständig an sich selbst erinnert wird, sondern dass man sozusagen auf sich selbst stößt, und dann notwendig mit sich selbst konfrontiert wird. Das affektive Betroffensein ist in dieser Beziehung in besonderer Weise reflexiv, eine Bezugnahme auf sich selbst in der Weise, dass man selbst für sich selbst zum Vorschein kommt, dass man dem nicht ausweichen kann, dass man es selbst ist. Das ist völlig anders als bei allen anderen Informationen über einen selbst, die nicht affektives Betroffensein sind, also allen Informationen durch bloß noch objektive Tatsachen, wie sie zum Beispiel in einer Lebensgeschichte über jemanden zusammengestellt werden können. Diese Nachrichten sind zwar inhaltlich viel reicher als die vom affektiven Betroffensein vermittelten, aber sie haben längst nicht diese Drastik, diese Fähigkeit einen selbst notwendig vorzuführen, sondern dass es sich um einen selbst handelt, ist bei allen diesen objektiven Tatsachen rein zufällig, denn genau dieselben Erlebnisse, die da von mir berichtet werden, könnte auch ein anderer haben. Das gilt sogar für den gesamten Umfang der Schicksale, die ein Mensch überhaupt haben kann, sofern sie in der Darstellung von objektiven Tatsachen berichtet werden, und für all diese Zustände, in denen er sich befinden kann. Man erkennt daran, dass es auf jeden Fall sinnvoll, wenn auch nicht realistisch ist wenn jemand in einer elenden Lage sich wünscht, ein Anderer, überhaupt ein anderer Mensch zu sein, zum Beispiel heilig oder besonders klug oder besonders schön oder besonders reich. So etwas wird sich ein Elender sehr oft wünschen, und das ist keineswegs absurd, sondern ein ganz vernünftiger Wunsch. Wenn er nun aber mit all den Eigenschaften, die er tatsächlich hat, identisch wäre als Summe aller dieser Attribute, die ihm zukommen, Eigenschaften und Relationen, dann wäre es ja vollkommen absurd, auch nur sich vorzustellen, ein Anderer zu sein, denn 131 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Subjektive und objektive Tatsachen

es müssten lauter unverträgliche Eigenschaften in demselben Menschen dann verbunden werden. Aber tatsächlich ist das eben nicht notwendig, weil kein Mensch durch sein Schicksal, so sehr dieses in der Darstellung neutraler Tatsachen erzählt werden kann, dadurch notwendig als er selbst ausgezeichnet ist. Sondern es ist zufällig, während das Mitgegebensein des Menschen selbst, des Subjektes im affektiven Betroffensein notwendig ist. Man sieht also, dass das affektive Betroffensein eine ganz besondere Auszeichnung für das Selbstbewusstsein hat, dass es den Menschen zu sich selbst hinführt, ohne dass das bloße Selbstbewusstsein von sich aus dasselbe schon leistete. Diese Besonderheit des affektiven Betroffenseins führt dazu, dass man die Tatsachen, die einen selbst betreffen, zerlegen kann in die neutralen Tatsachen, die mir zukommen aufgrund meiner Bildung und was weiß ich, meiner Körperform und dergleichen, sofern sie mir relativ gleichgültig sind und in adäquater Weise in Darstellung objektiver Tatsachen beschrieben werden können, und diese Subjektivität, die durchaus am affektiven Betroffensein hängt. Was das affektive Betroffensein auf diese Weise zu den Tatsachen des menschlichen Lebens hinzubringt, das ist ein ganz besonderes Gewicht, eine Wirklichkeit, die den bloß noch objektiven Tatsachen fehlt, indem sie gewissermaßen wie blasse Schatten der subjektiven sind. Goethe meint so etwas durch den Mund seiner Figur Wilhelm Meister im – wenn ich recht habe – 12. Kapitel des 2. Buches von Wilhelm Meisters Wanderjahre. Wilhelm Meister schreibt in einer Aufzählung entsprechender Jugenderfahrungen, dass dieses erste Aufblühen der Außenwelt die eigentliche Originalnatur erfahren lässt, hinter der alles, was später dazu kommt, so reich es auch entwickelt und differenziert sein mag, wie ein bloßes Abbild zurückbleibt, dem der eigentliche Sinn, die eigentliche Bedeutung des Ursprünglichen abhandengekommen ist. Wie müssen wir traurig sein, das Äußere so 132 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Subjektive und objektive Tatsachen

entseelt und so farblos zu sehen, wenn nicht … und so weiter. Das ist die besondere Auszeichnung, die das affektive Betroffensein beim ersten Aufblühen der Außenwelt, wie Goethe hier schreibt, auszeichnet, weil nämlich hier noch die Subjektivität der Tatsachen ungebrochen ist. Es ist eine originalere, echtere Wirklichkeit als die der bloß noch objektiven Tatsachen, die nur so etwas wie eine Skizze des Wirklichen enthalten, eine in vielen Hinsichten genaue Skizze, die aber jedenfalls der Eindringlichkeit und der Farbe entbehrt. Die subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins führen uns sozusagen ins wirkliche Leben, in dem wir tatsächlich von der Wirklichkeit gestellt werden, während es üblich ist, diese subjektiven Tatsachen in einen Sonderbereich der objektiven Tatsachen, etwa in die objektiven Tatsachen des Seelenlebens zurückzudrängen. Die subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins bringen aber nicht nur eine besondere Farbigkeit und Lebensnähe in die Lebenserfahrung, sondern sie haben auch ein besonderes ontologisches Gewicht dadurch, dass nur sie es sind, die in die Welt die Selbstheit oder absolute Identität bringen. Ich verstehe unter absoluter Identität die Eigenschaft, selbst etwas zu sein, das heißt von anderem, wenn es anderes gibt, verschieden zu sein. Noch ohne jede Rücksicht auf Identität mit irgend etwas. Die absolute Identität versteht sich keineswegs von selbst, sie ist nicht eine Zugabe, eine besondere Eigenschaft des Seienden neben anderen Eigenschaften, denn damit eine solche Eigenschaft einem Seienden zukommt, muss es ja schon selbst sein, muss es verschieden von anderem sein können. Insofern also ist es nicht eine zusätzliche Begabung des Seienden, dass es auch noch es selbst ist oder selbst ist und verschieden von anderem, verschiedenheitsfähig jedenfalls, sondern diese Eigenschaft ist ein Ereignis, das aufgepfropft werden muss einem Seienden, indem es noch an der absoluten Identität fehlt. Diese Eigenschaft fehlt noch an dem Seienden, das ich als 133 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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konfus bezeichnet habe, als das konfus chaotische Mannigfaltige. Das konfus chaotische Mannigfaltige lässt nicht mal Identität und Verschiedenheit unter sich zu, beispielsweise sind solche nicht einmal mit Identität und Verschiedenheit versorgten Mannigfaltigkeiten die der Zuwächse, die man bei schwankender Intensität finden kann. Sie können aber auch von vornherein schon da sein. Diese Zuwächse, die darauf einwirken, dass eine Intensität steigt, z. B. das Hellersein eines Lichtes, sind nicht einzeln und auch nicht absolut identisch. Es lohnt sich überhaupt nicht, da eine Verschiedenheit einzuführen und nach einer Verschiedenheit zwischen ihnen zu suchen. Das ist das konfus chaotische Mannigfaltige; die nächste Stufe ist das diffus chaotisch Mannigfaltige, wobei sehr viele Bestandteile schon vorhanden sind und es tatsächlich darauf ankommt, beim Umgang mit ihm die Verschiedenheit zwischen den Bestandteilen zu beachten. Selbst wenn es noch nichts Einzelnes ist, etwa beim gedankenlosen glatten Kauen fester Nahrung, wobei natürlich die Zunge geschont werden muss, weil sie bereits ausgegrenzt ist als etwas Identisches von dem Anderen, etwa den Zähnen und dem Nahrungsangebot, das ganz anders behandelt werden muss. Das geschieht ganz automatisch, ohne auf irgend etwas Einzelnes zu achten, beim gedankenlosen glatten Kauen fester Nahrung. Das ist ein gutes Beispiel für das absolut Identische, das aber noch nicht einzeln ist. Dieses absolut Identische wird ermöglicht durch den Einbruch dessen, was ich primitive Gegenwart genannt habe, bei der Ankunft des Neuen, die die gleichmäßige Weite als zeitliche Weite zerreißt und dadurch zur Dauer macht, indem die primitive Gegenwart die Weite zerlegt in eine vergehende Dauer, die zum Untergang verurteilt ist, und eine andauernde Dauer, die dann weiterführt, in die Zukunft hinein. In dieser Zerlegung klafft ein Riss, in diesem Riss zwischen der andauernden und der vergehenden Dauer nistet sich jetzt die primitive Gegenwart ein unter dem 134 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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Eindruck des andrängenden Neuen, das sie gewissermaßen hervorruft aus diesem Riss im Seienden. In diesem Riss im Seienden nistet sich die primitive Gegenwart ein mit ihren von mir eindringlich herausgearbeiteten fünf in unspaltbarem Verhältnis verschmolzenen Seiten, nämlich Hier, Jetzt, Dasein, Dieses, Ich. Hier ist der absolute Ort, wo etwas einschlägt, so dass man davon getroffen werden kann, aber noch ohne räumliche Orientierung. Jetzt, das ebenso absolute, zeitlich nicht orientierte Plötzliche, das der absolute Augenblick ist beim Eintritt der primitiven Gegenwart. Das Dasein als die Wirklichkeit, der man sich dann nicht entziehen kann, das Dieses als die absolute Identität und das Ich als das, was ergriffen wird im affektiven Betroffensein. Nun gilt es aber, dass dieses auszeichnende Hervortreten nur dann gelingen kann, wenn es nicht unter dem Schlag des eintretenden Neuen gleichmäßig zurückweicht mit allem andern, sondern wenn dieser Empfänger einen gewissen Widerstand leistet, sich der Herausforderung stellt, sie aufnimmt, ihr Platz gibt und sie auch in gewisser Weise durch die Art und Weise, wie er Stellung nimmt, beantwortet. Diese Bedingung erfüllt nur das affektive Betroffensein, das sich der Herausforderung durch den Eintritt der Zukunft in primitive Gegenwart stellt und diese Revolution gewissermaßen mitmacht. Deswegen ist das affektive Betroffensein notwendig, damit es etwas als Dieses gibt, das sich auszeichnet vor anderem durch seine Verschiedenheit von ihm. Damit ist aber auch der Subjektivität ein enormer Spielraum auf diesem recht primitiven Niveau eingeräumt, wo es noch keine Objektivität und Neutralität gibt. Dieses ganze Niveau bezeichne ich als Leben aus primitiver Gegenwart, und damit sind die Tatsachen, um die es sich dann handelt in diesem Leben aus primitiver Gegenwart, sämtlich subjektiv. Das Leben aus primitiver Gegenwart mit leiblicher Dynamik und leiblicher Kommunikation, das Tiere und Kinder 135 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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in den ersten Lebensmonaten führen, ist ein Leben in Situationen. Eine Situation ist Mannigfaltiges, das ganzheitlich (das heißt nach außen irgendwie abgegrenzt und in sich zusammenhängend) durch eine Bedeutsamkeit aus Bedeutungen zusammengehalten wird, die Sachverhalte, Programme oder Probleme sind. Die Bedeutsamkeit ist binnendiffus, weil nicht alles in ihr im gleich zu erklärenden Sinne einzeln ist. Aus diesem Leben in Situationen führt mehr oder weniger heraus ein entscheidender Schritt zur Welt hin, nämlich die menschliche Sprache, die allein in der Lage ist, einzelne Bedeutungen, also Sachverhalte, Programme und Probleme und darunter ganz besonders einzelne Gattungen, die ihrerseits in einer von mir anderswo bestimmten Weise bestimmte Sachverhalte sind, aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit herauszulösen. Dazu ist nur die Sprache in der Lage, weil solche Bedeutungen wie Sachverhalte, Programme und Probleme nur mit ihrer Hilfe eindeutig identifiziert werden können. Was Einzelheit ist, habe ich mit Hilfe des Begriffs der Zahl 1 definiert: 1 nämlich ist die Anzahl jeder Menge, in der jedes Element mit jedem identisch ist. Einzeln ist gemäß drei unter sich logisch gleichwertigen Definitionen etwas, das Element einer endlichen Menge ist, insbesondere Element einer Menge mit der Anzahl 1. Und weiter: was eine Anzahl einer Menge um 1 vermehrt. Diese Definitionen müssten dann noch genauer ergänzt werden durch Definition, was eine Anzahl ist; das unterlasse ich hier, weil ich es anderswo genauer ausgeführt habe. Das Einzelne ist also auf jeden Fall an Gattungen gebunden. Gattungen haben Fälle, diese ihre Fälle treten ein in Mengen, das sind Umfänge von Gattungen, die alle ihre Fälle und nur diese umfassen und die dann eventuell Zahlen tragen. Diese Mengen und nur sie, sind fähig, Zahlen zu tragen. Mengen, gedankliche Zusammenfassungen all ihrer Fälle, sind also die Umfänge von Gattungen, sofern diese Umfänge eine Anzahl haben. Einzelnes ist demgemäß nur 136 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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mit Hilfe der Sprache möglich und der von dieser Sprache bestimmten Einzelnen aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen herausgeholten Bedeutungen, insbesondere der Gattungen. Der Übergang von dem chaotischen Mannigfaltigen, in dem es noch nicht zur Vereinzelung gekommen ist, zum Einzelnen hat nun zwei ganz enorme Erfolge für das lebende und sich verhaltende Subjekt, das damit selbst erst zum einzelnen Subjekt wird, während es vorher schon absolut identisch war. Diese Vorteile beziehen sich auf zwei neue Fähigkeiten: erstens, es wird dem Menschen, der über Einzelnes als Fall von Gattungen verfügt, möglich, aus den Situationen auszusteigen, sich über sie zu stellen, indem er das, was jetzt einzeln geworden ist und vorher bloß absolut identisch war, in neuer Form gruppiert, nämlich als Fall von Gattungen, nicht mehr als zusammengehalten durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit. Das ist der besondere Vorzug des Einzelnen, dass es transportfähig ist, aus der Situation heraus transportfähig. Der zweite Vorteil besteht darin, dass das Denken die starre Form des absolut unspaltbaren Verhältnisses verlässt und diskursfähig oder eben diskursiv wird. Und zwar ist das darauf begründet, dass die Zahl hinzukommt, als Zahl von Mengen, denen sich das Einzelne einordnet, so dass es numerisch oder mathematikfähig oder vielmehr zahlfähig wird. Diese Fähigkeit, zur Zahl zu kommen, ist unerlässlich dafür, dass die unspaltbaren Verhältnisse, ungerichteten Verhältnisse, in Beziehungen aufgespalten werden. Wir haben zum Beispiel ein unspaltbares Verhältnis, wenn zwei entgegengesetzte Kräfte an der Front ihres Aufeinanderwirkens zusammentreffen. Hier gibt es keine Richtung, sondern nur zwei Richtungen, die aber beide gleichberechtigt sind. Es ist also kein ordinales Verhältnis mit Erstem und Zweitem, sondern ein kardinales Verhältnis, während Richtungen den Typ der Reihenfolge von Hinrichtung und Gegenrichtung haben, wobei die Gegenrichtung an zweiter 137 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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Stelle steht. Das wäre ein ordinales Verhältnis, eine Richtung von dem Ersten zum Zweiten. Hier haben wir nun erstmals mit Hilfe der Zahl die Möglichkeit, ein System von Beziehungen auszubauen. Beziehungen nämlich bedürfen der Zahl, weil es immer notwendig ist, sie nach der Zahl ihrer Glieder und ihrer Stellen zu unterscheiden. Die Beziehung ist als solche an die Zahl gebunden, indem sie von etwas zu etwas hinführt und dadurch die bloßen starren Verhältnisse aufbricht, die gewissermaßen mit einem Blick intuitiv überschaut werden können. Das ist eine Fähigkeit, die dann beim diskursiven Denken durchbrochen wird. Aber dieses diskursive Denken hat trotz des Verlustes der Ganzheit der vorherigen intuitiven Denkform den großen Vorteil, dass es experimentieren kann, dass es ein Ganzes auseinandernehmen und nach neuen Formen wieder zusammensetzen kann. Die vereinigende Kraft der Gattungen wird noch gewaltig gesteigert durch das Hinzukommen der relativen Identität, die es gestattet, die Zusammenhänge verschiedener Gattungen untereinander nach Übereinstimmung und Abweichung voneinander zu bündeln, indem dasselbe Individuum, dasselbe absolut Identische als Fall sowohl einer Gattung als auch einer anderen Gattung aus einem anderen Gattungssystem aufgefasst wird. So entsteht durch das Häkeln verschiedener Gattungszusammenhänge ein unbegrenzt dimensionales System von Arten und Weisen, etwas als Fall unter sich zu haben. Diese enorme Ausbreitung des Bereichs der Gattungen bezieht sich schon bei der einzelnen Gattung auf einen eventuell unabsehbaren Bereich von vielem, was als Fall einer Gattung zugleich absolut identisch ist, und dies ist der Begriff des Einzelnen: etwas absolut Identisches, das zugleich Fall einer Gattung ist, und zwar insofern Fall einer Gattung, als es für sich allein schon als ein solcher Fall auftreten kann, nicht nur zusammen mit anderen; dies ist nämlich ein Unterscheidungsmerkmal, das gegenüber dem absolut Identischen 138 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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in Situationen eingeführt werden muss, weil dieses absolut Identische ja auch schon Fall sein kann von Gattungen, aber eben nur mit anderen zusammen, während das Einzelne auch für sich allein Fall einer Gattung sein kann. Die Saugkraft der Gattungen fasst für jede einzelne Gattung und für Systeme von Gattungen vielerlei Einzelnes unter sich zusammen. Damit wird es möglich, von großen Massen die Subjektivität abzuschälen von all den Bedeutungen, die ihnen durch das affektive Betroffensein zukommen, und zu Bedeutungen in einer rein objektiven und neutralen Auffassung überzugehen, einer Auffassung, die zuvor vollkommen fern lag und erst durch eine ganz bestimmte Art des Absehens, der Abstraktion möglich wird. Die Sachverhalte, Programme und Probleme können nun zum Teil den Charakter der Subjektivität im Sinne des unmittelbar Dabeiseins eines davon betroffenen und in Anspruch genommenen Subjektes aufgeben und werden jetzt gleichmäßig in die Welt eingeordnet, eventuell auch ohne Rücksicht auf irgendwelche Subjekte. Damit ist die Möglichkeit der Objektivität garantiert, in dem Sinn wie man sagt, dass irgendetwas ganz und gar objektiv beurteilt werde, und zwar ohne Zorn und ohne Eifer dafür: sine ira et studio, wie Tacitus sich ausdrückte, in ganz gelassener Kaltblütigkeit, so wie etwa Spinoza die menschlichen Leidenschaften wie irgendwelche geometrischen Figuren betrachten wollte, ohne sich selbst daran irgendwie zu binden. Diese neue Abstandnahme ist eine ganz wesentliche Schwelle, die der Mensch überschreiten muss, um zur personalen Emanzipation, zur Reifung zu kommen. Andererseits ist diese Abschälung der Subjektivität auch ein gewaltiger Verlust an Intensität des Lebens. Man kann ihn sich etwa deutlich machen, wenn man aus der Befangenheit in einem Traum aufwacht – oft ist es ein schwerer und schwieriger, manchmal auch ein beglückender Traum – und dann wieder auf das Niveau des Alltags zurückkehrt. Damit 139 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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hat der Mensch viel von seiner Personalität und personalen Initiative zurückgewonnen, während er vorher ein Gefangener seines affektiven Betroffenseins ohne personale Distanz im Traume war. Hier ist es der Gewinn und der Verlust dieser Abschälung der Subjektivität von einer ganzen Menge von Bedeutungen, die unter einer führenden Leitbedeutung zustande kommt. Das ist ein entscheidendes Ereignis, das sich in jedem Menschenleben abspielt, es können ganze Bereiche wie die Familie, die Natur, Gott und was auch immer davon betroffen sein. Diese Ernüchterung bringt zugleich auch den Abfall der ursprünglichen Lebendigkeit, die vor der personalen Emanzipation unentbehrlich ist, um etwas als Dieses, als Selbst hervorscheinen zu lassen, wie ich vorhin schon ausgeführt habe. Die Kategorie des Dieses und des Selbst wird im Folgenden vollkommen selbstverständlich, sie wird nivelliert, es braucht hier nichts mehr von Subjektivität dabei zu sein. Das Subjekt selbst, der erlebende und betroffene und auch im affektiven Betroffensein reagierende Mensch wird durch die Neutralisierung der Bedeutungen vollkommen mit sich selbst entzweit, und zwar in ein Wesen, das gewissermaßen über allem steht und sich von außen betrachtet, und ein anderes Wesen, das dann innerhalb dessen, was es betrachtet, nämlich innerhalb der Welt, sich selbst wiederfindet. Wie die beiden Wesen zusammenpassen ist ganz rätselhaft. Der amerikanische Philosoph Thomas Nagel hat dafür den Ausdruck »the View from Nowhere« (Der Blick von Nirgendwo) gefunden, und wir finden dasselbe bei Wittgenstein und bei Kant. Bei Wittgenstein bleibt da ein metaphysisches Subjekt der Welt gegenüber, in der dann nur noch irgendwelche Andeutungen eines Subjektes, zum Beispiel welche Beine ich gebrauchen kann und dergleichen, vorkommen. Bei Kant ist es der Gegensatz zwischen dem transzendentalen und dem empirischen Subjekt, der auch bei ihm nicht recht deutlich wird, und das ist im Grunde genommen die Konsequenz die140 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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ser Abschälung der Subjektivität, die das Subjekt in ein geheimnisvolles Jenseits balanciert, das sich dann aber selbst in einem Diesseits in gänzlich anderer Form wiederfindet und mit Erstaunen betrachtet, mit wie viel Leidenschaft man durch die Welt gehen kann. Dieser merkwürdige Dualismus ist das Ergebnis des Rückzugs von den ursprünglichen Bedeutungen, in denen das Subjekt unmittelbar dabei ist, zu den bloß noch neutralen, die auch ohne Subjekt möglich sind. Das ist eine merkwürdige Verdrehung, denn gerade die reine Subjektivität haftet am affektiven Betroffensein, das hier ins Objektive umgesetzt wird. Ohne dieses affektive Betroffensein würde niemand irgendwie eine Idee haben, dass es ihn selber gibt, würde niemand je dazu kommen können, auf sich selber zu stoßen. Diese reine Subjektivität wird jetzt nach draußen geschafft aus dem Lebenszusammenhang in ein geheimnisvolles Nowhere, von dem her jemand auf den ganzen Weltinhalt und auf sich selbst als seine Objekte blickt. Aber dies ist ein verhältnismäßig leicht zu lösender Gegensatz, der Unterschied von zwei Arten der Sachverhalte, nämlich der übergeordneten und vollständigen, der subjektiven Sachverhalte und der verarmten, der objektiven Sachverhalte. Dieser Gegensatz der Sachverhalte wird jetzt auf das Subjekt übertragen als ein Blick von Nirgendwoher auf diese bloß noch verarmten objektivierten Sachverhalte und ein Blick, der noch die ganze Lebendigkeit enthält, aber in der verarmten Form einer durch bloße Objektivierung der Affektivität der subjektiven Tatsachen beraubten Neutralität. Es ist zwar noch in der objektivierenden Auffassung die Affektivität erhalten, die Psychologen wissen vieles über Affektivität zu sagen, aber eben nicht in der Lebendigkeit der subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins. Indem das affektive Betroffensein exportiert wird in die bloße Objektivität für einen Zuschauer, entsteht ein Gefälle zur Objektivität hin, das Intellektuelle wie Tacitus und Spinoza sowie Positivisten 141 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Subjektive und objektive Tatsachen

aller Art dazu veranlasst, von oben auf die Menschen herabzusehen, die nicht mit dieser leidenschaftslosen Abstandnahme des bloßen Registrators ihrer Leidenschaft frönen. Es ist eine gewisse Umkehrung der Reihenfolge, die das Erleben ergibt, indem das affektive Betroffensein das Fundament ist, aus dem die eigentliche Originalnatur sich ergibt, während dann die gesamte leidenschaftslos erfasste und registrierte Natur zu einem bloßen Schattenbild des Ursprünglichen wird. Der Positivist fühlt sich in der überlegenen Position des kritischen und registrierenden Beobachters, der mit kühlem Blick der Beirrung durch die Leidenschaften des affektiven Betroffenseins entgeht. Bei dieser angemaßten Überlegenheit vergisst er aber den Verlust auf der Gegenseite, dass nämlich ihm jetzt die subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins entgehen, die unbedingt zur Wirklichkeit im Folgenden gehören, während ihm nur ein Rest übrigbleibt. Er verkennt, dass er es nur noch mit einer verdünnten, künstlich abgeschotteten Welt zu tun hat, in der er auch ohne affektives Betroffensein und daher auch ohne Subjekt auskommt. Das Subjekt hat sich zurückgezogen an den Rand der Welt, und innerhalb der Welt bleibt, wie Wittgenstein, Mach und Avenarius sagen, nur noch eine Reihe von Vorfindungen, von Vorkommnissen ohne findendes Subjekt und gefundenes Objekt. Diese Reduktion entgeht dem Positivisten, und damit erhebt sich zu Unrecht der überlegene erkenntnistheoretische Standpunkt, auf den er sich schwingt, um nun seinerseits den Menschen, der auch subjektive Tatsachen gelten lässt, abzukanzeln. Sein Vorgehen erkauft er mit Spaltung seiner eigenen Persönlichkeit in einen Beobachter von außen und einen mittendrin, aber nur unter objektiven Tatsachen und ohne Bezug auf subjektive Tatsachen der sich in der Welt befindenden Menschen, von denen er selbst auch einer zu sein glaubt. Diese Selbsterkennung erklärt im Grunde genommen auch einen großen Teil des sogenannten 142 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Subjektive und objektive Tatsachen

psychophysischen Problems, also des Versuches herauszufinden, wie die objektiven Tatsachen der Physik zu der Grundlage der lebendigen Wirklichkeit des Empfindens und Verhaltens stehen. Es ist weitgehend eine angemaßte Überlegenheit des Standpunktes eines Blicks von Nirgendwo gegenüber den befangenen Blicken der Menschen, die in der Welt sind. Aber wenn diese Illusion durchbrochen ist, dann erkennt man, dass die Subjektivität ihren Sitz darin hat, dass man zur unverkürzten Wirklichkeit einschließlich der subjektiven Tatsachen zurückgekehrt ist und sich nicht mehr in der Gespensterwelt der bloß noch objektiven Tatsachen abfinden lässt. Dazu kommen die von der Naturwissenschaft verschuldeten Verwirrungen zwischen ihrem Vorhersageanspruch und ihrem Erklärungsanspruch, wovon ich vorhin schon gesprochen habe. Diese Verwirrungen sind dann weiterhin verantwortlich für den überhöhten Erkenntnisanspruch des sogenannten naturwissenschaftlichen Weltbildes. Zum Schluss aber möchte ich noch auf ein Problem zurückkommen, das sehr leicht für Verwirrung sorgen kann. Ich habe die subjektiven Tatsachen als die ursprünglichen ausgegeben, und zwar aufgrund der Situation, die schon beim Leben aus primitiver Gegenwart vorhanden ist, unabhängig von der personalen Emanzipation; da müssen noch alle Tatsachen subjektiv sein. Daraus werden dann erst durch personale Emanzipation und Entsubjektivierung die objektiven Tatsachen herausgegriffen. Diese Feststellungen vertragen sich nicht damit, dass doch das Leben aus primitiver Gegenwart, wie etwa das der Tiere und der Säuglinge, viel später ist als die Welt selbst, in der es sich ereignet. Diese ist nach Ansicht der Naturwissenschaften schon Milliarden Jahre alt, was soll denn mit diesem ältesten Teil der Welt geschehen? Hier liegt lediglich die Kollision zweier verschiedener Ansichten vor, nämlich einerseits die ontologische Ansicht, die für die Herkunft der Objektivi143 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Subjektive und objektive Tatsachen

tät von Tatsachen aus der Subjektivität von Tatsachen zuständig ist, also aus der Abkunft der objektiven aus den subjektiven, die sich nicht viel früher als 30.000 v. Chr., also etwa mit der Entstehung des Cro-Magnon-Menschen datieren lässt. Andererseits soll die Welt schon viele Milliarden Jahre vorher bestanden haben, wie uns die Naturwissenschaft lehrt. Wir müssen also das Gesamte der Welt, die es so erst nach der menschlichen Sprache und aufgrund der Gattungsbildung möglichen Vereinzelung geben kann, unterscheiden von der Welt nicht im Sinne des naturwissenschaftlichen Weltbildes, sondern im Sinne der Welt, nachdem diese etabliert ist als Sammelplatz, als Hafenbecken aller einzelnen Tatsachen, einzelnen Bedeutungen und alles dessen, was sonst noch einzeln ist. Diese Welt hat ihre 12 Milliarden Jahre oder mehr nach dem Urteil der Naturwissenschaften hinter sich, sie ist überhaupt unbegrenzt ausgedehnt, sowohl nach hinten wie auch nach vorne in der modalen Lagezeit, und dieser unendliche Spielraum der Welt wird zum Teil ausgefüllt nach den heute autoritativen Vorgaben der Naturwissenschaft, die schwanken zwischen 12 oder 13 Milliarden oder noch viel längeren Zeiträumen, das wollen wir den Naturwissenschaften überlassen. Aber das ist jedenfalls nur eine ganz partielle Ausbildung dessen, was als Welt bereit steht, um das Einzelne aufzunehmen und entsprechend der Entfaltung der primitiven Gegenwart durchzugliedern. Von ganz anderer Art und Weise muss die Entstehung der Welt selbst in Augenschein genommen werden. Die Entstehung der Welt selbst kann nicht anders zustande gekommen sein als die Entstehung der Einzelheit, und das heißt einer im Grunde doch wohl nur menschlichen Sprache, die aus den vielen Situationen die einheitliche Welt herauszugreifen vermag. In diesem ontologischen Gesichtspunkt ist die Welt tatsächlich nicht älter als die entsprechende Sprache, die dem Menschen zu solchen Einzelheit konstituierenden Sprüchen auf dem Weg 144 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

Subjektive und objektive Tatsachen

über Gattungen befähigt. Wenn wir nicht von der schon fertigen Welt ausgehen, sondern vom Übergang von einem anderen Leben mit leiblicher Kommunikation und in Situationen zu einem Leben in der Welt mit lauter vernetzten Einzelheiten gemäß den Vorgaben der Entfaltung der Gegenwart, dann entfällt die Schwierigkeit, dass es die Welt überhaupt gibt, das ist erst seit vielleicht 30.000 Jahren möglich, wenn dann die menschliche Sprachbildung und daher die Basis des menschlichen Sprechens etabliert ist. Dagegen hat die Welt selbst, nachdem sie eingesetzt ist, einen sehr viel längeren Zeitraum für sich, einen praktisch unbegrenzten Zeitraum, der jetzt nach den Vorgaben der Naturwissenschaft besetzt wird, früher aber nach den Vorgaben der Bibel und sonstiger christlicher Belange, was eine ganz wesentlich kürzere Dauer ergibt statt der 12 oder 13 Milliarden, vielleicht eine Zeit von 15.000 Jahren. Stattdessen stelle ich dazwischen eine unwesentlich erweiterte Zeit, nämlich die Welt seit der Entstehung des Homo sapiens sapiens, der endlich in unserem Sinne sprechen konnte.

145 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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Kapitel 9 Wozu philosophieren?

Der Mensch, ausgetreten aus dem Gefängnis und der Sicherheit der Situationen, in denen das Tier gefangen ist in der Weise, dass der Nomos dieser Situationen den vitalen Antrieb des Tieres automatisch leitet, muss sich stattdessen in der Welt selbst zurechtfinden. Dazu gehört hauptsächlich die Orientierung in die Zukunft, die dem Tier durch die Programme und Protentionen in der Bedeutsamkeit der Situationen abgenommen wird. Der Mensch muss sich den Vorblick in die Zukunft selbst erarbeiten, und das tut er, indem er die Erfahrungen, die er in der Vergangenheit gesammelt hat, zusammenstellt und aus ihnen Regeln abstrahiert und in die Zukunft projiziert, in der Erwartung, es werde ungefähr wie bisher so weitergehen. Dieses Verfahren wird immer weiter entwickelt und endet als systematisch ausgeübte Kunst des Menschen in der Gestalt der heutigen Naturwissenschaft als der Wissenschaft der schematischen Vorhersage. Diese Vorhersage ist deswegen schematisch, weil sie aus all den vielsagenden Eindrücken, die den Menschen treffen, nur diejenigen Merkmale herausfiltert, die sich bequem intersubjektiv und intermomentan identifizieren, messen und im Experiment selektiv variieren lassen. Aus diesem Rest und durch Zusatz von Modellen und Kalkülen entwickelt die Naturwissenschaft eine enorme Vorhersagekunst, und sie beweist die Richtigkeit ihrer Vorhersagen dadurch, dass sie eben eintreffen. Diese Einstellung des Menschen, die heute in der Naturwissenschaft ihre unübertreffliche Form gefunden hat, ist aggressiv und defensiv auf einen 147 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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Kampf mit der Umgebung ausgerichtet, ganz besonders mit der sogenannten Natur als einer Grundlage dieser Umgebung. Die Naturwissenschaft versucht, mit Hilfe ihrer Vorhersagen auf die Gefahren und Chancen aufmerksam zu machen, mit denen der Mensch sich in seinem Hineinleben in die Zukunft auseinanderzusetzen hat. Mit dieser Einstellung führt sie zunächst dazu, dass der Mensch der Natur einigermaßen gewachsen ist. Nachdem er damit so große Erfolge hat, wird die Naturwissenschaft dann so kühn, und zwar in der Neuzeit, sich dem Ziel zuzuwenden, die gesamte Natur dem menschlichen Belieben und den vom Menschen gesetzten Zwecken zu unterwerfen. In diesem Sinne tastet sich im Licht der Naturwissenschaft und ihrer Vorhersagekunst die moderne Technik voran. Dies ist die eine Seite der menschlichen Auseinandersetzung mit der Welt. Diese Seite ist extravertiert und auf Bemächtigung, auf Kampf eingestellt, zunächst zum eigenen Schutz, um der Natur und der Umgebung gewachsen zu sein. Von ganz anderer Art ist eine andere Tendenz, die sich aus dem Sichfinden des Menschen in seiner Umgebung ergibt. Es ist die Tendenz, sich der Umgebung nicht zu bemächtigen, sondern sich in ein möglichst harmonisches und ausgewogenes Verhältnis zu ihr zu setzen. In ein Verhältnis, das den Ansprüchen der eigenen Person ebenso wie der Umgebung hinlänglich gerecht wird. Zu diesem Zweck muss der Mensch sich auf sich selbst besinnen, und zwar auf sein Sichfinden in dieser Umgebung, damit er sich in ihr einen angemessenen Platz geben, beanspruchen und ausfüllen kann. Diese Aufgabe, sich zu besinnen auf das eigene Sichfinden in der Umgebung, das ist die Philosophie im weitesten Sinne. Es handelt sich hier noch nicht unbedingt um wissenschaftliche Philosophie, sondern um eine Philosophie, die sich im Leben entwickelt und die sich in Sprüchen und Maximen aller Art niederschlägt, in denen die nachdenkliche Lebenserfahrung zum Ausdruck kommt. Dieses Erfah148 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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rungsgut wird dann hochstilisiert, umstilisiert und verwaltet von den verschiedenen dogmatischen Systemen, die vor allen Dingen von öffentlichen Organisationen wie den Religionen oder des Staates vertreten und proklamiert werden und die dann mehr oder weniger zum Gemeingut werden oder auch zum kämpferischen Eigenblut von Parteien. Diese Philosophie kann zur Wissenschaft erhoben werden, und dazu kommt es dann, wenn bei dem Versuch, irgendwelche Ansprüche und Behauptungen anzumelden, seien sie theoretischer Art als Ansprüche an den Glauben oder praktischer Art als Ansprüche an das Tun und Lassen des Menschen, Bedenken auftauchen. Diese Ansprüche werden vorgebracht, und sie treffen im Gespräch auf eine Kritik, in dem gefragt wird »Woher weißt du das?« und »Wie meinst du das?«. Die erste Frage »Woher weißt du das?« ist der Anfang des Beweises, die zweite Frage »Wie meinst du das?« ist der Anfang der Definition. Aus präzisierenden Definitionen und möglichst stichhaltigen Nachweisen entsteht die wissenschaftliche Philosophie. Aber die Philosophie ist ihrerseits keineswegs daran gebunden, Wissenschaft zu sein, sondern sie ergibt sich auf viele Weisen als die Reflexion des Menschen auf sich selbst und auf seine Stellung in der Umgebung und sein Sichfinden in seiner Umgebung, in die er sich dann aufgrund der Erkenntnis, die er von sich erworben hat, möglichst harmonisch einordnen will. Dies ist eine ganz andere Aufgabe der Philosophie, die aber den Kampf mit der Umgebung, insbesondere der Natur, zwar voraussetzt, aber daran nicht direkt interessiert ist, sondern an der Angemessenheit eines ausgewogenen Verhältnisses. Naturwissenschaft und Philosophie haben also einen gemeinsamen Ausgangspunkt in der Situation des Menschen, der in der Welt alleingelassen ist, weil er nicht mehr automatisch geführt wird von dem Nomos der Situationen, von deren Gehalt an Programmen, sei es irgendwelcher Normen oder auch eigener Wünsche. 149 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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Der Mensch wird nicht mehr automatisch geführt, sondern er muss sein Verhältnis zur Umgebung selbst bestimmen, einerseits indem er als Bestimmender und Fordernder auftritt, der sich behaupten will, und dann, wenn die Behauptung hinlänglich funktioniert, auch noch das Begegnende sich unterwerfen will. Anders ist die sehr introvertierte Beschäftigung, dass er sich auf sich selbst und sein Sichfinden in seiner Umgebung besinnt, um sich selbst in dieser Umgebung und ihr gegenüber möglichst gerecht zu werden, so dass ein ausgewogenes Verhältnis entsteht. Beide Richtungen des menschlichen Sichfindens in der Umgebung haben also denselben Ausgangspunkt, dasselbe Sich-selbst-überlassen-Sein des Menschen, aber sie streben nach ganz verschiedenen Richtungen. Sie ergänzen sich, aber sie treffen sich nicht mehr in ihren Zielen, sondern sie haben je eigene Provinzen der Bewährung. Die Naturwissenschaft ist immer da überlegen, wo es darauf ankommt, aus zwar bewährten, aber dennoch keineswegs gewissen Voraussetzungen vernünftige Erwartungen abzuleiten. Erwartungen immer in Ungewissheit, Erwartungen für das Risiko, das der Mensch jeweils eingeht im Verhältnis zu seiner Umgebung. Diese Risikoabschätzung ist die eigentliche Aufgabe der Naturwissenschaft sowohl in der Abwehr als auch im Angriff. Die Philosophie dagegen hat es zu tun mit dem, was man gelten lassen muss. Die Grundfrage der Philosophie, differenziert in viele Einzelfragen, lautet so »Was muss ich gelten lassen an Ansprüchen an den Glauben und an das Tun, die sowohl aus mir kommen als auch mir entgegengebracht werden?« Und diese Frage »Was muss ich gelten lassen?« hat eine kritische Seite, insofern diese Ansprüche geprüft werden, aber auch eine inventorische Seite, indem in den Zwischenräumen zwischen den eingefahrenen Bahnen der bereits formulierten naheliegenden Ansprüche nachgesucht wird, was außerdem noch an Unentdecktem vorhanden ist, das man gelten lassen muss. Diese 150 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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inventorische Aufgabe ist der eigentliche Erfolg der Philosophie. Der Ertrag dieser Aufgabe besteht darin, dass sie teils durch die Methode, teils durch irgendwelche ideologische Vorurteile bereits geprägten Voreinstellungen einen neuen Blick abgewinnt auf das, was dabei durch die Vereinseitigung dieser Einstellungen übersehen wird. Ein Beispiel dafür ist mein Nachweis der eigentümlichen Räumlichkeit und Dynamik des spürbaren Leibes einschließlich der leiblichen Kommunikation im Gegensatz zum bereits anerkannten sichtbaren und tastbaren Körper, den dann die Naturwissenschaft mit ihren Messmethoden weiter thematisiert, und andererseits der Seele, die eigentlich den ganzen Rest der Welt aufnimmt, der von der Naturwissenschaft übersehen wird, weil er nicht genug an präzisen Daten enthält. Dieser Rest der Welt löst bei genauerem Besehen sich auf in sehr vieles Verschiedenes, wozu das Leibliche gehört, wozu die Atmosphäre des Gefühls gehört, die Situationen, die vielsagenden Eindrücke als Situationen besonderer Art und die Sachverhalte, Programme und Probleme, die in diesen Situationen gespeichert sind. Alles das sind große Bezirke, die in die Seele gesteckt worden sind, aber sich selbständiger oder eigener Untersuchung darbieten. Ganz besonders einleuchtend ist das auf dem Gebiet des spürbaren Leibes im Gegensatz zum sichtbaren und tastbaren Körper. Die Atmosphären, die dann zu Gefühlen werden, sind ebenfalls von mir schon untersucht und sind inzwischen schon in der übrigen positiven Wissenschaft weiter entdeckt und weiter untersucht worden, zum Beispiel in der Soziologie. Das ist diese inventorische Aufgabe der Philosophie neben ihrer kritischen Aufgabe. In manchen Beziehungen kann man auch praktisch wichtige Fragen ohne diese philosophische Selbstbestimmung gar nicht entscheiden. Eine wichtige Frage dieser Art ist das Freiheitsproblem bezüglich auf die sittliche Verantwortung. Wie viel Freiheit ist nötig, um sittlich verantwortlich zu sein, und 151 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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welche Freiheit ist dafür erforderlich? Um diese Frage mit Gründen zu beantworten, kann man nicht etwa die Naturwissenschaft befragen und die Frage der kausalen Regelmäßigkeit des Naturlaufes thematisieren, wie sie von der Naturwissenschaft mehr oder weniger behauptet wird, sondern es handelt sich hier um ein Problem, das nur im Bereich der subjektiven Tatsachen lösbar ist, wie ich gezeigt habe. Diese subjektiven Tatsachen, die höchstens einer im eigenen Namen aussagen kann, sind für die Naturwissenschaft und überhaupt für die sogenannten positiven Wissenschaften – außerphilosophischen Wissenschaften – gar nicht erreichbar, weil die sich nur mit objektiven Tatsachen beschäftigen, die jeder aussagen kann, der genug weiß und gut genug sprechen kann. Es gibt also große Bereiche, in denen man auch zu praktischen Entscheidungen die Philosophie braucht oder wo sie wenigstens nützen kann, um diese Bereiche zu sehen und zu thematisieren. Andererseits aber hat die Philosophie genauso viele Gefahren wie die andere extravertierte, kämpferische Richtung des Verhältnisses des Menschen in der Umgebung, die durch die Vorhersagekunst der Naturwissenschaft geleitet wird. Beide Richtungen streben auseinander und haben ihre eigenen Gefährdungen. Die Naturwissenschaft ist dadurch gefährdet, dass sie sich illegitim, wie ich in diesem Buch gezeigt habe in der Kritik des naturwissenschaftlichen Weltbildes, zur allgemeinen Erklärung des Geschehens ermächtigt fühlt und damit ein naturwissenschaftliches Weltbild baut, ohne zu berücksichtigen, dass diese Erklärungskompetenz gebunden ist an die Vorhersagekompetenz, die allein die nachweisbare Grundlage auch aller naturwissenschaftlichen Erklärungen bietet. Eine andere Gelegenheit zu beweisen, dass das stimmt, was die Naturwissenschaft behauptet, gibt es nicht, außer dem Eintreffen ihrer Vorhersagen. Dieses Eintreffen der Vorhersagen ist ziemlich gebrechlich, weil niemand in die Zukunft sehen kann – ja, 152 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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wie ich behaupte und festgestellt zu haben glaube –, die Zukunft in sich tatsächlich offen ist, bis die Entscheidung darüber eintritt, was wirklich geschieht in der Gegenwart. Es ist also eine sehr gebrechliche Grundlage für allgemeine Erklärungen, die sich auf allgemeingültige und damit notwendige Naturgesetze beruft. Aber durch den Anschein eines solchen naturwissenschaftlichen Weltbildes wird die Perspektive der Menschen ganz erheblich verkürzt, indem sie das ausschließen, was nicht hineinpasst in eine Weltanschauung, die aufgebaut ist auf selektiv herausgesuchten einzelnen Merkmalen mit besonderer Güte und Brauchbarkeit für Experiment und Induktion. Was nicht zu diesen Merkmalen gehört, das wird vernachlässigt und passt gar nicht mehr in den Horizont der Naturwissenschaften. Es gibt aber ganz entscheidende und wesentliche Eindrücke für den Menschen, die sein Leben formen, die aber den Naturwissenschaften kaum zugänglich sind, da sie immer nur mit einzelnen Daten rechnen, von denen sie ausgehen. Insofern ist die Naturwissenschaft eine große Verführung dazu, den Hintergrund der Situationen, aus denen man Neues schöpfen kann an Andeutungen, an Ahnungen, zu vernachlässigen. Stattdessen versetzt sie den Menschen mit Hilfe der Technik in ein großes Schienennetz, unter dem die Situationen verschwinden, während er, statt Neues zu schöpfen, nur noch Gelegenheit hat, von Weiche zu Weiche in dem Schienennetz seinen Lebensweg zu steuern. Damit wird der Mensch verarmt, insofern er selbst sonst lebendig bleibt, indem er für Eindrücke aller Art offen ist. Aber dafür müssen sie ihm erst einmal gezeigt werden, er hat sie nicht von sich aus. Manchmal hat er sie von sich aus, aber darüber kann er sich nicht rechtfertigen. Die Lebenskunst des Menschen, die nicht in das Prokrustesbett der Naturwissenschaft passt, wird ihm gar zu leicht weggeredet mit Scheinargumenten. Um nun diesen Scheinargumenten entgegentreten zu können und die Fülle 153 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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der möglichen Lebenserfahrungen in übersichtlicher Form der Besinnung zurückzugewinnen, dazu ist Philosophie auf phänomenologischer Grundlage nötig. Um die vorwitzige Abfertigung der Ansprüche auf die Entfaltung von Lebensmöglichkeiten durch Scheinargumente aus dem naturwissenschaftlichen Weltbild zu entkräften, ist ein begründetes und durchdachtes Sprechen über die tatsächliche Fülle der Lebenserfahrung notwendig, ein Sprechen, wie es eine phänomenologische Philosophie entwickelt, die sich der Breite der Lebenserfahrung zuwendet. Insofern ist die Philosophie dafür notwendig, dass die Menschen nicht zu Puppen in einem Maschinenpark werden, die nach den Gesetzen der Naturwissenschaft und wie die Naturwissenschaft sie sieht, leben. Die Themen, die dabei zur Sprache kommen, sind, soweit ich sie behandelt habe, etwa die Subjektivität der subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins, die nicht numerische Mannigfaltigkeit, insbesondere als binnendiffuse Bedeutsamkeit der Situationen, aus denen einzelne Sachverhalte, Programme und Probleme geschöpft werden können, die in den Situationen selbst noch nicht einzeln sind. Ferner die Atmosphären des Gefühls, die auf dem Weg über den Leib die menschliche Person ergreifen und zur Stellungnahme herausfordern, und vieles mehr, was den Raum und die Zeit und die Halbdinge angeht. Ich will all diese Themen nicht aufzählen, die in der naturwissenschaftlich gesiebten und zugelassenen Erfahrung ausfallen. Das ist eine wichtige Aufgabe der Philosophie, aber ebenso wie die Naturwissenschaft hat auch die Philosophie ihre großen Gefahren. Eine große Gefahr der Philosophie ist, wenn sie zur Metaphysik entartet, also zu dem Versuch, das ganze Bündel der Lebenserfahrung zusammenzuschnüren zu einem Knoten in einem Strick, der dann ein einfaches Prinzip ergibt, der das Wesen der Dinge formulieren und dann auch als metaphysische Parteiparole dienen soll. Eine solche Vereinfachung 154 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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dient zwar der Weltanschauung, und insofern hat Dilthey mit Recht die Metaphysiken nach Typen der Weltanschauung gegliedert. Andererseits handelt es sich um eine in Aggressivität verpackte Feigheit, die zurückschreckt vor den Komplikationen der Lebenserfahrung, die zu sichten und in einen begrifflich einheitlichen Überblick zu bringen wären, mit einer gewissen philosophischen Systematik. Es wäre ganz besonders gefährlich, wenn die Philosophie als Metaphysik sich mit der Naturwissenschaft verbände und auf diese Weise eine naturwissenschaftliche Metaphysik als Krönung der Erträge beider Denkwege zustande käme. Diese Art der Vereinigung von Philosophie und Naturwissenschaft ist wirklich nicht erwünschenswert. Es bleibt dabei, dass zwar der Ausgangspunkt, die Problemlage, auf die geantwortet wird, dieselbe ist für Philosophie und Naturwissenschaft. Aber sie führen diese Problemlage nach ganz verschiedenen Richtungen aus, einerseits, um der Bedrohung des Menschen in seiner Umgebung entgegenzutreten, insofern er sich gegen diese Bedrohung selbständig wappnen muss und nicht wie die Tiere dabei geführt wird von dem Nomos der Situationen. Die andere Richtung ist die, sich auf sein eigenes Sichfinden in der Umgebung zu besinnen, um sich dann in einer angemessen gerechten Weise in diese Umgebung so einfügen zu können, dass ein Ausgleich gelingt. Beide Einstellungen gehören zusammen als Konsequenzen derselben Problemlage des in der Umgebung alleingelassenen Menschen. Sie sind aber im Ergebnis nicht kompatibel insofern, als zwar die Philosophie viele Einsichten vorbereiten kann, die dann den Naturwissenschaften zugutekommen, zum Beispiel in Bezug auf den spürbaren Leib, jedoch umgekehrt die Naturwissenschaft nicht in der Lage ist, der Philosophie den Weg zu weisen. Und das ist etwas anderes als die Besinnung auf die Evidenzgrundlage, von der man auszugehen hat, insofern man nicht willkürliche Erfindungen macht, sondern 155 https://doi.org/10.5771/9783495817636 .

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sich auf etwas stützen kann. Die Evidenzgrundlage der Philosophie ist sehr viel reicher als das, was von der Naturwissenschaft zu ihren Zwecken zugelassen wird. Sie sind Verbündete, Naturwissenschaft und Philosophie, in der Bewältigung der grundlegenden Aufgabe des Menschen, sich in der Welt zurechtzufinden, aber sie sind nicht Verbündete, insofern sie auf demselben Wege zum Ziel marschieren.

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Personenregister

Abaelard, Peter 120 Aristoteles 44, 65, 117, 119, 122 Avenarius, Richard 23, 64 Bacon, Francis 124 Bälz, Erwin 51 Böhme, Gernot 125 Boethius, Anicius Manlius Severinus 120 f. Bolzano, Bernard 44 Carnap, Rudolf 23, 75 Descartes, René 82 Dilthey, Wilhelm 155 Dürrenmatt, Friedrich 14, 50 Euklid 116 Euripides 77 Feyerabend, Paul 80 Fichte, Johann Gottlieb 21–23, 75, 77–79, 84 Frege, Gottlob 113, 117 Goethe, Johann Wolfgang von 18, 55, 79, 91, 133 Guyon du Chesnoy, Jeanne Marie 84 Heidegger, Martin 22 Heraklit 60 Hume, David 49, 64, 113, 117 Husserl, Edmund 94 Jacobi, Friedrich Heinrich 79 Jaspers, Karl 79 Kant, Immanuel 19–21, 94, 100, 105

Kepler, Johannes 118 Kierkegaard, Sören 22, 78, 80 Leibniz, Gottfried Wilhelm 59 Lichtenberg, Georg Christoph 23, 75 Lukrez 19, 82 Mach, Ernst 23, 75 Nagel, Thomas 14, 19, 50 Nietzsche, Friedrich 60, 77, 79 Novalis 78 Pascal, Blaise 60 Platon 117 f., 123 Plotin 120 Rosa, Hartmut 125 Rousseau, Jean-Jacques 87 Sartre, Jean-Paul 22 Schlegel, Friedrich 22, 79 f. Sokrates 30 Spinoza, Baruch de 48 f. Stegmüller, Wolfgang 103 Stirner, Max 79 Tacitus 47 Themistokles 119 Thomas von Aquino 120 Thukydides 119 Weyl, Hermann 59 Wilhelm von Ockham 120–22 Wittgenstein, Ludwig 19, 23 49, 64, 75, 93 Wundt, Wilhelm 47

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Sachregister

Angst 22, 51, 79 Anzahl 26–27, 39 Atmosphäre 151 Antrieb, vitaler 11, 25 Augenblick, absoluter 35, 61 Bälz-Effekt 129 Bedeutsamkeit, binnendiffuse 26, 119 Bedeutung 26 Bedeutung, ontologische 17 Beobachter 20 Beschleunigungszirkel 125 Bestimmtheit 32 Bestimmtheit, vollständige 105 Betrachtungsweise 21 Betroffensein, affektives 13, 15– 17, 35, 48, 52–55, 62–63, 70, 86 Beziehung, gerichtete 38, 96 Coolness 23 Dandy 79 Dauer 34, 39, 87 Dauer, fortwährende 87 Dauer, vergehende 87 Dauer, zerrissene 85 Denken, pythagoreisches 119 Dialog 43 Ding an sich 20 Dynamik, leibliche 135 Eigenwelt, persönliche 37, 40 Einbildungskraft, Schweben der 22 Eindeutigkeit 35 Eindrücke, vielsagende 89

Einstellung, distanzierende 92 Einzelne, das / Einzelheit 26, 31, 33–34, 39, 94–96, 100, 113 Element 27–28 Emanzipation, personale 37 Emotionslähmung 51 Entsubjektivierung 58 Erklärung 103, 152 Erscheinungswelt 19 Existenzphilosophie 22 Fremdwelt, persönliche 37, 40 Gattung 27–28, 30, 65 Gegensatz, modaler 67 Gegenwart 61 Gegenwart, primitive 34, 36, 61– 62, 84, 135 Gegenwart, zeitliche 84, 87–88 Gehirn 111 Geschehen, wirkliches 19 Halbdinge 40, 89 Höhenschwindel 22 Hyle 118 Identität 33 Identität, absolute 31–32, 34–35, 37, 66, 86, 96, 113 Identität, relative 32, 37, 96, 113 Ironie 23 Ironie, romantische 22, 79 Kommunikation, leibliche 135 Komplex 29 Kontinuum 32 Kontinuum, expansives 95 Kontinuum, intensives 32, 95

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Sachregister

Körper, tastbarer 151 Lagezeit, modale 36, 39, 108 Lebensgeschichte 12 Leib, spürbarer 151 Mannigfaltige, das 28, 34, 94, 113 Mannigfaltiges, amorphes 100 Mannigfaltiges, chaotisches 116 Mannigfaltiges, konfus chaotisches 134 Mannigfaltiges, numerisches 113, 116 Mannigfaltiges, zwiespältiges 116 Materialismus 93 Menge 27–28 Modalzeit 36, 108 Natur, abgeblasste 19 Naturwissenschaft 41 Nihilismus, Überwindung des 84 Nominalismus 31, 120, 122 Nomos 25, 42, 107, 155 Objektivität 21 Ort, absoluter 35, 61 Ort, relativer 36 Ortsraum 36 Passivierung, falsche 92 Person 37–38, 57 Philosophie 43 Philosophie, wissenschaftliche 43–44 Problem 26 Problem, psychophysisches 143 Programm 26 Protention 11, 41 Quantum, intensives 67 Rede 27 Registrierung, objektive 21 Regung, leibliche 48 Reifung 57 Relation 122 Romantiker 22 Rumpftatsache 70

Sache, absolute 121 Sache, relative 121 Sachmerkmal 55 Sachverhalt 26, 30–31 Säugling 25–26 Schattenbild 21 Scholastik 119 Schwimmer 95 Seiendes 91, 99 Seiendes-von-sich-Selbst 121 Selbstbewusstsein 74, 77 Selbstheit 31, 62 Sinnesqualität, primäre 107 Situation 11, 25, 119, 136 Situation, affektiv neutrale 14 Situation, binnendiffuse 26 Situation, vorpersonale 25 Sprache 26–27, 97–98 Sprache, neutrale 12 Sprache, objektive 12 Subjekt, leidenschaftliches 20 Subjekt, metaphysisches 19–20 Subjekt, transzendentales 19–20 Subjektivität 21 Subjektivität, entfremdete 22 Subjektivität, Milieu der 56–57 Subjektivität, Verlust von 56 Subjekt-Objekt-Spaltung 93 System von Gattungen 31 Tatsache 78 Tatsache, neutrale 16, 55, 92, 127 Tatsache, objektive 12–13, 21, 23, 55, 78 Tatsache, subjektive 17, 55, 71, 78 Tatsächlichkeit, Schichten der 20 Tatsächlichkeit, Sprung in der 18 Technik 42 Tier 57 Untergattungen 31 Vereinzelung 58, 98–99

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Sachregister

Verhältnis, komplexes ungerichtetes 96 Verhältnis, kardinales 137 Verhältnis, ordinales 137 Verhältnis, spaltbares 38 Verhältnis, unspaltbares 38–39 Verschiedenheit 33 View from Nowhere 19 Vorhersagbarkeit, naturwissenschaftliche 106 Vorhersage 103, 152

Welt 34, 36, 38, 94, 100 Weltanschauung 155 Weltbild, naturwissenschaftliches 104 Werte, oberste 77 Wirklichkeit 20 Zahl 28, 96, 113 Zahlfähige, das 28–29, 39 Zeitalter, ironistisches 80 Zirkel, transzendentaler 22 Zukunft, offene 108

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