Philosophie – Hermeneutik – Jurisprudenz: Die Bedeutung der philosophischen Hermeneutik Hans-Georg Gadamers für die Rechtswissenschaften [1 ed.] 9783428535361, 9783428135363

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Philosophie – Hermeneutik – Jurisprudenz: Die Bedeutung der philosophischen Hermeneutik Hans-Georg Gadamers für die Rechtswissenschaften [1 ed.]
 9783428535361, 9783428135363

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Schriften zur Rechtstheorie Band 271

Philosophie – Hermeneutik – Jurisprudenz Die Bedeutung der philosophischen Hermeneutik Hans-Georg Gadamers für die Rechtswissenschaften

Von Jens Kaspers

Duncker & Humblot · Berlin

JENS KASPERS

Philosophie – Hermeneutik – Jurisprudenz

Schriften zur Rechtstheorie Band 271

Philosophie – Hermeneutik – Jurisprudenz Die Bedeutung der philosophischen Hermeneutik Hans-Georg Gadamers für die Rechtswissenschaften

Von Jens Kaspers

Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin hat diese Arbeit im Jahre 2009 als Dissertation angenommen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-13536-3 (Print) ISBN 978-3-428-53536-1 (E-Book) ISBN 978-3-428-83536-2 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

„In zweifelhaften Fällen entscheide man sich für das Richtige.“

Karl Kraus

Vorwort Ich wollte verstehen, was passiert, wenn der Jurist seine Arbeit macht, und habe für meinen Teil eine befriedigende Antwort gefunden. Der allergrößte Dank dafür, dass ich mich überhaupt auf die Suche begeben konnte, gebührt zunächst meinen Eltern. Sie haben mir – nicht nur im Zusammenhang mit dieser Arbeit – alle Unterstützung zukommen lassen, die man sich überhaupt nur wünschen kann. Einen besonderen Dank richten möchte ich an Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Dieter Simon. Seine Mahnungen, die Erstellung des Lebenswerkes mindestens auf einen späteren Anlauf zu verschieben, seine Denkanstöße und Anregungen und die bemerkenswerte Offenheit, bereits verworfene Gedanken erneut zu diskutieren, haben das Gelingen dieses Unterfangens erst ermöglicht. Ich wünschte, dass ich mir alles, was es in den Seminaren, bei den Besprechungen des Fortgangs der Arbeit und während der viel zu seltenen gemeinsamen Abendessen zu lernen gab, auch hätte merken können. Viele Freunde haben mir durch Anregungen und Hinweise bei der Erstellung dieser Arbeit eine großartige Unterstützung zukommen lassen. Auch ihnen gegenüber sei an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön ausgesprochen. Das Manuskript der vorliegenden Arbeit wurde im Jahre 2009 von der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen. Berlin, im Januar 2013

Jens Kaspers

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 A. Das Problem der Geisteswissenschaften in der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 I.

Die hermeneutische Grundfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

II. Der Aufschwung der Hermeneutik in der Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 B. Der Verlust des Verstehens: Gadamers Schleiermacher-Interpretation . . . . . . . 20 I.

Der Verlust des Verstehens und die Entdeckung der Individualität . . . . . . . . . . 21

II. Subjektivität und Divination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 III. Einverständnis und Missverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 1. Verstehen und Skepsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2. Verständigung und Psychologisierung – Einverständnis und Einverstandensein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 C. Die Aporien des Historismus: Gadamers Dilthey-Interpretation . . . . . . . . . . . . 36 I.

Diltheys „Kritik der historischen Vernunft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37

II. Das Problem der historischen Vernunft – Die Überwindung Hegels und das Zurückgeworfensein auf Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 III. Diltheys Weg zur Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 1. Aufklärung des Zusammenhangs vom Phänomen des Verstehens . . . . . . . . 41 2. Hermeneutik im Leben und historische Weltsicht – Diltheys Nähe zu Hegel 42 a) Das Problem des historischen Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 b) Erkenntnis als Selbsterkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 c) Freiheit trotz Gebundenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 3. Widerspruch von Lebensphilosophie und Cartesianismus im Denken Diltheys . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 D. Hermeneutische Philosophie: Die Grundlegungen durch Heidegger . . . . . . . . . 56 I.

Die Hermeneutik der Faktizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

II. Die Hermeneutik des Daseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

8

Inhaltsverzeichnis

E. Verstehen und Zugehörigkeit: Gadamers philosophische Hermeneutik . . . . . . 65 I.

Der hermeneutische Zirkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 1. Sinnerwartung Vorurteil − Entwicklung und Neubewertung . . . . . . . . . . . . 72 2. Etymologie des Vorurteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 a) Die Diskreditierung der Vorurteile durch die Aufklärung . . . . . . . . . . . . 74 b) Die Rehabilitierung der Vorurteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 c) Das Beispiel der Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

II. Verstehen und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 III. Die Produktivität des Zeitenabstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 IV. Die erkenntnistheoretische Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 V. Die Relativität des Relativismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 VI. Applikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 VII. Die hermeneutische Aktualität des Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 1. Prâxis und Poíesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 2. Phrónesis und Téchne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 F. Die exemplarische Bedeutung der juristischen Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . 106 I.

Der Zirkel der Rechtsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 1. Die Reziprozität von Fall und Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 2. Angleichung durch Auslegung – Die Methoden der Gesetzesauslegung . . . 117

II. Die hermeneutische Aktualität des Aristoteles und das Problem der Rechts­ anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 1. Richterliche Klugheit (dikastiké phrónesis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 2. Neoaristotelismus und Rechtsrelativismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 3. Zur Vorhersehbarkeit juristischer Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 III. Individualität und Eingebundenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 IV. Das Ziel der Auslegung – Subjektive und objektive Theorie des Auslegungsziels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 G. Historisches Bewusstein und Jurisprudenz: Savignys juristische Hermeneutik 141 I.

Hermeneutik zwischen Schleiermacher und Savigny . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 1. Die Autorität im Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 2. Das Auslegungsziel der Autorintention bei Savigny . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 a) Die Entstehung des Gewohnheitsrechts nach Savigny . . . . . . . . . . . . . . . 148

Inhaltsverzeichnis

9

b) Die Lehre vom Volksgeist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 c) Rekonstruktion der Fundamente – Das unbestimmte Bestimmende in der Hermeneutik Savignys . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 II. Entstehen und Verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 III. Die Gemeinsamkeit im Gemeinsamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 IV. Bewusstsein der Wirkungsgeschichte und wirkungsgeschichtliches Bewusstsein 162 V. Der Volksgeist als politisches Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 VI. Subjektive Theorie und historische Bedingtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170

Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

Einleitung Im Jahre 1960 veröffentlichte Hans-Georg Gadamer ein Buch mit dem Titel „Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik“. Gegenstand der hier vorgelegten Untersuchung ist die Frage, was die Rechtswissenschaften von dieser Hermeneutik lernen können. Wenn von dieser Hermeneutik die Rede ist, so liegt die Vermutung nahe, dass es neben ihr noch weitere gibt und in der Tat hat die Hermeneutik in „Wahrheit und Methode“ weder ihre erste Differenzierung, noch ihre erste Bearbeitung erfahren. Das Wort „Hermeneutik“ ist griechischen Ursprungs, es stammt von ερµηνευειν (hermeneuein) ab, was soviel wie „interpretieren“ oder „übersetzen“ heißt. Seit dem 17. Jahrhundert, als das Wort erstmalig in der heute gebräuchlichen Form aufgetaucht ist, versteht man darunter die Kunst der Auslegung1 und lange bevor die Hermeneutik im Gewand des Philosophischen auftrat, gab es eine theologische und eine juristische Hermeneutik. Wenn es aber eine juristische Hermeneutik gibt, wieso die Mühen auf sich nehmen und den Blick über die Grenzen der Disziplin hinaus anstrengen? Sind die Rechtswissenschaften sich nicht selbst genug? Werden nicht mit ihrer Hermeneutik die spezifischen Fragen des Verstehens des Rechts ohnehin besser beantwortet als mit jeder anderen Hermeneutik, der das Thema fremd ist? Immerhin kann sich die juristische Hermeneutik auf eine Tradition berufen, die mit dem klangvollen Namen Savignys anhebt und die Forschung, die seitdem betrieben wurde, ist alles andere als ergebnislos geblieben. Die juristische Hermeneutik hat einen von ihr erarbeiteten Kanon von Regeln des Verstehens vorzuweisen, dessen Auftauchen in den einschlägigen Lehrbüchern der Methodenlehre so regelmäßig zu verzeichnen ist, dass schon dieser Umstand allein seine Maßgeblichkeit zu implizieren scheint. Kaum eine juristische Hermeneutik, die nicht in Gestalt einer Methodenlehre in Erscheinung tritt und die Vorgabe an den Interpreten richtet, er habe die Rechtstexte im Hinblick auf ihren Wortlaut, ihre Systematik, ihre geschichtliche Entwicklung und die mit der Normsetzung verbundenen Ziele zu untersuchen. Jeder Jurist hat diese Regeln gelernt und sie scheinen sich über die Jahre bewährt zu haben. Warum also nach neuen Wegen des Verstehens Ausschau halten? Und noch aus einem weiteren Grund kann man die Aussichten des hier angekündigten Unternehmens für fragwürdig halten. Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis von „Wahrheit und Methode“ verrät, dass Gadamer die juristische Hermeneutik für sein eigenes Anliegen für vorbild 1

Vgl. Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, S. 13.

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Einleitung Einleitung

lich hält. Erkenntnisgewinne sind damit prima facie hinsichtlich der hier angekündigten Blickrichtung eher in umgekehrter Form zu erwarten. Entgegen allem ersten Anschein lohnt der Aufwand dennoch, was mit einem Umstand zusammenhängt, den man durchaus für erstaunlich halten darf. Über die Jahrhunderte hinweg lesen sich die Errungenschaften der Hermeneutik stets wie Regeln und Anforderungen an den Interpreten, so wie dies gerade für die juristische Hermeneutik beschrieben wurde. Die Entwicklung mündet schließlich in Diltheys Versuch der Begründung einer allgemeinen Methodenlehre der Geisteswissenschaften. Mit ihrer Hilfe sollten die Geisteswissenschaften in die Lage versetzt werden, Resultate zutage zu fördern, deren Richtigkeit so unanzweifelbar feststehen würde wie das Ergebnis eines naturwissenschaftlichen Experiments. Die Hermeneutik verstand sich stets als Methodenlehre und damit als Hilfsdisziplin einer Wissenschaft, deren Zielen und Interessen sie untergeordnet war. Sie sollte den Interpreten eines Gesetzes wie den Interpreten der Heiligen Schrift unter den entsprechend wechselnden Vorzeichen das jeweils nötige Rüstzeug an die Hand geben, um den Text vernünftig, objektiv und fehlerfrei, das heißt richtig zu verstehen. Vergessen wurde über die Fragen nach dem was das Verstehen leisten soll – und das ist das Erstaunliche – was das Verstehen zu leisten imstande ist. Eigentlich, so müsste man meinen, geht diese Frage, die Frage danach, was gefordert werden kann, dem Fordern voraus. Deswegen lohnt sich der Blick auf die philosophische Hermeneutik, denn sie geht dieser Frage nach: Unter welchen Bedingungen steht das Verstehen und von welchen Voraussetzungen wird es begrenzt? Gadamers Hermeneutik versteht sich damit nicht mehr als Methodenlehre und schon gar nicht als Organon der Philosophie. Sie ist selbst Philosophie und führt den Begriff „Hermeneutik“ auf einen ursprünglicheren Sinn zurück. Ihr Gegenstand ist das Verstehen des Verstehens. Das, was Gadamer mit „Wahrheit und Methode“ bereitzustellen angetreten ist, ist nicht weniger als eine Hermeneutik der Hermeneutik. Eine solche nämlich, die jedem, der sich im Verstehen übt, die Grundlagen dieses Vorgangs vermittelt, ohne ihm Regeln vorzuschreiben. Sie beschreibt das Verstehen damit auf der ersten möglichen Ebene der Zugänglichmachung des Phänomens, als einen Vorgang, den man nicht wie eine Methode zur Anwendung bringen und dem man sich nicht entziehen kann. Es werden also die Voraussetzungen dargestellt, die jeder Form von Verstehen vorausgehen, sei es wissenschaftlich oder naiv, methodisch angeleitet oder intuitiv. Sie gelten auch für das Verstehen, dem die juristische Hermeneutik zu dienen bestimmt ist. Die Tatsache, dass über die Anforderungen an das Verstehen, seine Möglichkeiten und Grenzen über die Jahrhunderte vernachlässigt wurden, lässt es eher zweifelhaft erscheinen, ob die bis dato gestellten Anforderungen an das Verstehen seinen Möglichkeiten gerecht werden. Damit wird hier die Frage zu stellen sein, ob die Rechtswissenschaften mit dem Bild, das sie von sich haben, ihrer selbst gerecht werden und falls nicht, wo Korrekturen vorzunehmen sind. Die Rechtswis-

Einleitung Einleitung

13

senschaften, der Name sagt es schon, verstehen sich nach wie vor überwiegend methodisch-technisch. Aber verstehen sie sich nicht vielleicht falsch, wenn sie sich szientistisch, als naturwissenschaftsanaloge Disziplin verstehen, die über eine Methode verfügen muss, um den Prozess des Verstehens von Recht abzusichern und die Richtigkeit seiner Ergebnisse greifbar zu machen? Und ist es überhaupt vorstellbar, dass die juristische Hermeneutik objektive Ergebnisse bereitstellt? Das Vorgehen der vorliegenden Untersuchung wird der Fragestellung entsprechend von „Wahrheit und Methode“ bestimmt. Die darin enthaltenen Ergebnisse des Nachdenkens über das hermeneutische Problem, bedürfen der sorgfältigen Aufbereitung, wenn aus ihnen Schlüsse für die juristische Hermeneutik gezogen werden sollen. So wie „Wahrheit und Methode“ aufgebaut ist, hat es sich angeboten, die vorliegende Arbeit vornehmlich nach den Personen zu gliedern, die die Hauptrollen in der Entwicklung der philosophischen Hermeneutik spielen. Sie ist letztlich das Resultat eines Gesprächs, in das Gadamer mit seinen Vorrednern eingetreten ist. Die wichtigsten Dialogpartner waren Schleiermacher und Dilthey. Heidegger übernimmt so etwas wie die Stellung des „Zuflüsterers“. Ein Gutteil der Gadamerschen Hermeneutik ist Heideggers Gedanken entlehnt. Im Gegensatz dazu dient das Denken Diltheys sowie Schleiermachers dazu, Gadamers eigenen Ausführungen Profil zu verleihen – die philosophische Hermeneutik nimmt zunächst durch die Abgrenzung von Dilthey und Schleiermacher Form an. Ähnlich wie bei Heidegger nimmt Gadamer positive Anleihen im Denken des Aristoteles. Diese Anleihen werden aber nicht, wie es mit denen Schleiermachers, Diltheys und Heideggers geschieht, gesondert dargestellt, sondern erst im Zusammenhang mit der Darlegung der Schlüsse, die Gadamer aus den vorangegangenen Gesprächen insgesamt zieht. Die Anstöße Aristoteles’ waren von so unmittelbarem Einfluss auf die Entwicklung einer neuen, einer philosophischen Hermeneutik, dass eine gesonderte Darstellung die Untersuchung zerrissen hätte. „Wahrheit und Methode“ enthält eine umfangreiche Aufarbeitung der Entwicklung der Hermeneutik von ihren Ursprüngen bis heute. Aus den dabei aufgefunden Fehlschlüssen wollte Gadamer ein besseres Verständnis von Hermeneutik entwickeln. Die juristische Hermeneutik, ihre Geschichte und Entstehung mit Savignys Theorien als Ausgangspunkt, hat Gadamer dabei jedoch ausdrücklich ausgelassen. Das hat es nahegelegt, die Entwicklung der Hermeneutik bei Savigny einer Analyse zu unterziehen, um zu sehen, ob die von Gadamer festgestellten Fehlentwicklungen in der Hermeneutik im Allgemeinen auch in der Geschichte der juristischen Hermeneutik stattgefunden haben. Die Rechtswissenschaften bleiben in Gadamers Betrachtungen insgesamt ein wenig außen vor. Sein Interesse gilt in erster Linie der historischen Forschung, die ein besonderes Beispiel für alle anderen geisteswissenschaftlichen Unternehmungen darstellt. Die Rechtswissenschaften werden aber nicht unterschlagen, weil die Resultate für sie nicht gelten würden. Die juristische Hermeneutik dient vielmehr wie bereits erwähnt als Vorbild, weil die in ihr praktisch erbrachten Leistungen

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Einleitung Einleitung

des Urteilens-über-etwas, zur Darlegung der Möglichkeiten des Verstehens besonders geeignet sind. Genau damit hängt die in „Wahrheit und Methode“ als solche behauptete Vorbildlichkeit der juristischen Hermeneutik zusammen und ihre Feststellung ist selbst nicht ohne Voraussetzungen. Erst diese Voraussetzungen, die auch in einem Absehen von den tatsächlichen Schwächen bestehen, lassen es zu, der juristischen Hermeneutik die Rolle eines Vorbilds für den Vorgang des Verstehens an sich zuzuweisen. Wenn sich aber an der juristischen Hermeneutik zeigen lässt, wie das Verstehen immer geschieht, dann werden die dort gefundenen Ergebnisse auch geeignet sein, ein eventuell falsches Selbstbild der Rechtswissenschaften zu korrigieren. Einzelne Aspekte aus „Wahrheit und Methode“ haben bereits Einfluss auf die juristische Hermeneutik gewonnen. Mit der vorliegenden Arbeit erfolgt erstmalig eine umfassende Analyse der aus der philosophischen Hermeneutik für die Rechtswissenschaften zu ziehenden Schlüsse.

„Der moderne Wissenschaftsbegriff und der ihm zugeordnete Methodenbegriff können nicht ausreichen, um das Problem zu lösen, das die Geisteswissenschaften für die Philosophie bedeuten. Was die Geisteswissenschaften zu Wissenschaften macht, lässt sich eher aus der Tradition des Bildungsbegriffes verstehen als aus der Methodenidee der modernen Wissenschaft.“1

A. Das Problem der Geisteswissenschaften in der Philosophie Die tragende Rolle in Gadamers Hauptwerk „Wahrheit und Methode“ wird von den Geisteswissenschaften besetzt. Es galt für Gadamer herauszufinden, was es mit den Erfahrungen auf sich hat, die der Mensch macht, wenn er den Fragen der Geisteswissenschaften und dabei insbesondere seiner eigenen Geschichte nachgeht und unter welchen Voraussetzungen dieses Befasstsein mit menschlichen Phänomenen steht. Es ist nicht so sehr ein wissenschaftstheoretisches oder methodologisches Interesse aus dem heraus sich Gadamer den Geisteswissenschaften zuwendet. Vielmehr lässt sich an ihnen, ebenso wie an der Kunst, der Philosophie und der „Geschichte selbst“ beispielhaft demonstrieren, dass „Verstehen“ und mit ihm immer schon „Erfahrung von Wahrheit“ nicht auf den Bereich streng methodischer Wissenschaft beschränkt ist2. Das Verständnis der modernen Wissenschaften nur von der Idee der Methode her soll sich als ein Missverständnis herausstellen. Dementsprechend ist „Wahrheit und Methode“ nicht eine Auseinandersetzung mit einzelnen methodischen Vorgaben der Geisteswissenschaften. Vielmehr tritt Gadamer einen Schritt zurück und versucht aus dieser Perspektive zu erkunden, ob der Mensch die Voraussetzungen, die dem methodischen Denken zugrunde liegen, überhaupt zu erfüllen vermag. Nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit den fundamentalen Umwälzungen zu denen die Philosophie Immanuel Kants im Hinblick auf das Verständnis unseres Verhältnisses als Menschen zur Welt geführt hat, will Gadamer ein besseres Verständnis des Verhältnisses des Menschen zu seiner Geschichte und zur Wahrheit gewinnen. Genau dafür erscheinen ihm die Geisteswissenschaften exemplarisch. Es geht darum, die Geisteswissenschaften zu beschreiben und nicht darum ihnen vorzuschreiben, welche Voraussetzungen sie zu erfüllen haben, um vor dem „Richterstuhl der Vernunft“ bestehen zu können; sowenig wie es Kant darum

1

Gadamer, WM, S. 23. Vgl. Gadamer, WM, S. XIV.

2

16

A. Das Problem der Geisteswissenschaften in der Philosophie 

ging, den Naturwissenschaften derlei Vorschriften zu machen3: Die philosophische Hermeneutik, die Gadamer entwickelt hat, ist keine Methodenlehre der Geisteswissenschaften, „sondern der Versuch einer Verständigung über das, was die Geisteswissenschaften über ihr methodisches Selbstbewusstsein in Wahrheit sind und was sie mit dem Ganzen unserer Welterfahrung verbindet“. I. Die hermeneutische Grundfrage In Anlehnung an Kants erkenntnistheoretische Fragestellung stellt die philo­ sophische Hermeneutik eine philosophische Frage; eine solche, die auf den Ursprung gerichtet ist. Sie lautet: „Wie ist Verstehen möglich?“

Diese Frage liegt allem verstehenden Verhalten der Subjektivität schon voraus – auch dem methodischen der verstehenden Wissenschaften, ihren Normen und Regeln – und ihre Beantwortung bedingt die Wahrheit, derer man mit Hilfe der verstehenden Wissenschaften habhaft werden kann. Nicht zuletzt aus Heideggers temporaler Analytik des menschlichen Daseins, die gezeigt hat, dass das Verstehen nicht eine unter den Verhaltensweisen des Subjekts, sondern die Seinsweise des Daseins selber ist, wollte Gadamer ein neues Verständnis von Wahrheit gewinnen. Mithilfe der Arbeiten Heideggers und anhand seiner eigenen Auseinandersetzung mit der überkommenen Hermeneutik, will er dies an seinem eigenen Verständnis von Wissenschaften im Allgemeinen und Geisteswissenschaften im Besonderen darlegen4. Einen weiteren, wesentlichen Teil von „Wahrheit und Methode“ macht dabei Gadamers Auseinandersetzung mit den Lehren der romantischen Hermeneutik aus. Den zweiten Teil seines Hauptwerkes beginnt er mit einer „Geschichtlichen Vorbereitung“, wie er es nennt, in der er der „Fragwürdigkeit der romantischen Hermeneutik“ auf den Grund geht. Aus dieser Konfrontation mit dem überkommenen Verständnis von Hermeneutik als einer Kunstlehre des Verstehens und aus Heideggers Vorarbeiten entsteht die philosophische Hermeneutik. II. Der Aufschwung der Hermeneutik in der Romantik Wie also die philosophische Hermeneutik Gadamers nicht voraussetzungslos ist, so gilt das auch für die romantische Hermeneutik. Sie war ihrerseits die Reaktion auf die angesprochenen geistigen Umwälzungen, zu denen das Werk Kants 3

Vgl. Gadamer, Vorwort zur 2. Auflage von „Wahrheit und Methode“, in: GW 2, S. 437 (439). 4 Vgl. Gadamer, Vorwort zur 2. Auflage von „Wahrheit und Methode“, in: GW 2, S. 437 (440).

II. Der Aufschwung der Hermeneutik in der Romantik

17

geführt hat5. Die „Kopernikanische Wende“6; die Entdeckung der Subjektabhängigkeit der Erkenntnis und die damit verbundene Überwindung des Rationalismus sollte für die Hermeneutik immense Folgen nach sich ziehen. Die Einsicht, dass das „ich denke“ alle meine Vorstellungen begleiten können muss7, lässt die Frage nach dem Ding-an-Sich sinnlos werden und macht sie zur Frage nach dem Ding-für-Uns, dem Ding für das Subjekt. Aber die damit zum Ausdruck gebrachte „Subjektivität“ steht nie für sich. Spricht man von Subjektivität, wird das Vorhandensein von Objektivität immer schon vorausgesetzt und umgekehrt. Objektivität, vor allem verstanden im Sinne von „verlässlichen Resultaten“ und „richtigen Antworten“ wurde erst durch diese Teilung der Erkenntnis in zwei Qualitäten zu einem Problem und zwar in erster Linie zu einem Problem im Bereich der interpretativen Wissenschaften. Von der Entdeckung der Subjektivität führt dementsprechend eine direkte Verbindung zu dem Aufschwung, den die Hermeneutik im Zeitalter der Romantik erfahren hat, denn Subjektivität stellt für die Geisteswissenschaften eine ernsthafte Bedrohung dar. Ging man vor Kant noch davon aus, mit Hilfe der Vernunft bei der Auslegung von Texten oder gesprochenen Worten den einen (objektiven) Sinn ermitteln zu können, so war nach Kant dieses Herausarbeiten eines (objektiven) Sinns aus dem Wort oder dem Zeichen als Fiktion entlarvt8. Ganz anderes gilt für die Naturwissenschaften. Dort lässt sich das allgemeingültige, für jedermann evidente Ergebnis über die Methode, die Möglichkeit der vorführenden Wieder­ holung, herstellen. Die dort gemachten Beobachtungen können prinzipiell von jedermann jederzeit wiederholt und erfasst werden und sind damit nicht abhängig von dem einen beobachtenden Subjekt. Die Tatsache, dass das Wissen in den Geisteswissenschaften den strengeren Standards der exakten Wissenschaften nicht entspricht, hat, so Gadamer, in der Folge einer als Methodentraktat gelesenen Kritik der reinen Vernunft dazu geführt, es vom Status des Wissens auf den Modus rein subjektiver Geltung zu degradieren9. Vor der „kopernikanischen Wende“ verstanden sich die „humaniora“ noch aus den Grundanliegen des rhetorischen Humanismus heraus, denen es um die Bildung des Menschen, die Kultivierung des Geschmacks, der Urteilskraft und des sensus communis ging. Aus diesen Grundanliegen lässt sich ebensoviel Wissen schöpfen, wie aus den Naturwissenschaften. Sie widersetzen sich aber im Gegensatz zu diesen einer Methodisierung. Ihre Grundanliegen gingen zwar nicht verloren, aber ihr Anspruch auf Wahrheit, der vormalige Wahrheitsanspruch von „Geschmack“, „Urteilskraft“ oder „sensus communis“ wird in Folge der Erkennt-

5

Vgl. Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, S. 100. Vgl. Kant, KdrV, Vorwort zur zweiten Auflage, S. 25. 7 Vgl. Kant, KdrV, Bd. II, S. 136. 8 Vgl. Kurt, Hermeneutik – Eine sozialwissenschaftliche Einführung, S. 92. 9 Vgl. Grondin, Einführung zu Gadamer, S. 41. 6

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A. Das Problem der Geisteswissenschaften in der Philosophie 

nis ihrer Unvereinbarkeit mit Kriterien der exakten Wissenschaften verschüttet.10 Mit der Entdeckung des Subjektes erscheinen diese Erkenntnisweisen als unzuverlässig und werden damit als unwissenschaftlich disqualifiziert. Wenn durch die kantische Philosophie klar geworden ist, dass Erkenntnisse a priori nicht aus allgemeinen Vernunftwahrheiten erschlossen werden können, welchen Erkenntniswert kann dann die Auslegung eines Textes durch einen noch so kundigen Historiker, Theologen oder auch Juristen noch haben? Jeder Form von Geisteswissenschaft drohte damit der Verlust ihrer wissenschaftlichen Weihen und jeder ihrer Aussagen das Immer-auch-anders-sein-können. Beliebigkeit hält Einzug, welch fatale Konsequenz vor allem für normative Textwissenschaften wie Jurisprudenz und Theologie. Dementsprechend groß war der Drang in diesen Disziplinen, besagtem Problem Herr zu werden. Die Folgerungen liegen auf der Hand. Wer, wie zum Beispiel Schleiermacher, die kantischen Wendungen ernst nahm, der konnte nicht einfach die „Ordnung der Planeten“ wieder ändern, sondern musste der Subjektivität ihren Raum im Bereich des Verstehens lassen. Wer darüber hinaus, wie Schleiermacher eben auch, die Gefahr der Trivialisierung der Geisteswissenschaften durch den Einbruch der Willkür in das Feld der Textinterpretation ernst nahm, der musste Möglichkeiten finden, diese Willkür in feste Bahnen zu lenken11. Nur folgerichtig erscheint es, dass von da an die Hermeneutik als die Wissenschaft vom Verstehen aus dem Schattendasein einer Hilfsdisziplin, das sie zunächst geführt hat, ins Zentrum des Interesses rückt. Es galt, mit ihrer Hilfe doch so etwas wie Objektivität zu verbürgen und zwar im Zugang zum Text. „So standen die Geisteswissenschaften“ in der Folge Kants „vor der fatalen Alternative zwischen der ästhetischen Trivialisierung und der Anlehnung an die methodischen Wissenschaften“12. In der Tat unternahmen die Geisteswissenschaftlicher den Versuch, ihren Wissenschaften den Status einer solchen durch die Etablierung naturwissenschaftsanaloger Methoden zu sichern. Das traditionelle Selbstverständnis der Hermeneutik, nämlich das einer Kunstlehre, geht aus dieser Wegscheide hervor und findet sich insbesondere bei Schleiermacher und in Diltheys Programm einer Ausweitung der Hermeneutik zum Organon der Geisteswissenschaft13. Und nur folgerichtig findet es sich auch bei Savigny, auf dessen 10

Vgl. Grondin, Von Heidegger zu Gadamer, S. 41 f. Zu denen, die die kantischen Erkenntnisse nicht einfach übergehen wollten, sondern sich mit den daraus zu ziehenden Konsequenzen intensiv auseinandersetzten gehört zweifelsohne Schleiermacher, der einerseits die transzendentalphilosophische Fragestellung in die Hermeneutik übertrug, indem er systematisch und undogmatisch nach den Bedingungen für die Möglichkeit des Verstehens und Missverstehens fragte und andererseits die vertikale Erhebung vom Subjektiven zum Objektiven durch eine horizontale Bewegung, die Bewegung vom Subjektiven zum Subjektiven ersetzte. − Vgl. Kurt, Hermeneutik – Eine sozialwissenschaft­ liche Einführung, S. 92. 12 Grondin, Von Heidegger zu Gadamer, S. 42. 13 Vgl. Gadamer, WM, S. 270. 11

II. Der Aufschwung der Hermeneutik in der Romantik

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Werk das methodische Grundverständnis der Rechtswissenschaften heute noch gestützt wird. Dem Bestreben folgend, die Geisteswissenschaften vor dem Einbruch der Willkür zu schützen, sollte Schleiermacher zum Wegbereiter einer Entwicklung werden, die im Endeffekt, so Gadamer, das hermeneutische Problem verengt hat14. Das 18. Jahrhundert sollte eine Wendung der Hermeneutik über die Entwicklung der hermeneutischen Methode ins Historische bringen15.

14 Diese methodischen Bestrebungen sind in einer Hinsicht vielleicht mehr als sie sein wollten, nämlich die konkludente Anerkennung der Alternativlosigkeit. Gadamer wollte mit seiner Hermeneutik die Fehlerhaftigkeit dieser Alternative aufweisen und den Versuch unternehmen, eine Hermeneutik zu entwickeln, die den Geisteswissenschaften besser gerecht zu werden vermag. Vgl. Gadamer, WM, passim, insb. in der Einleitung. Das will er leisten, indem er in den „Grundzügen einer philosophischen Hermeneutik“ gegen das methodische Ideal der Selbstauslöschung des Interpreten die von Heidegger hervorgehobene positive Bedeutung der Geschichtlichkeit des Verstehens ins Spiel bringt. Sie will Gadamer keine Hürde des Verstehens sein, sondern ihre Bedingung. Nichts anderes kann sie sein, weil der menschlichen, geschichtlichen Vernunft ein „totaler Neuanfang“ nicht zusteht. − Vgl. Grondin, Von Heidegger zu Gadamer, S. 42. Wobei es Gadamer in dieser Auseinandersetzung mit Schleiermacher nicht darum ging, dessen Werk in „allen seinen Dimensionen zu würdigen“. Gadamer, Zwischen Phänomenologie und Dialektik. Versuch einer Selbstkritik, in: GW 2, S. 3 (15). 15 Vgl. Gadamer, WM, S. 177; Grondin, Einführung zu Gadamer, S. 88.

B. Der Verlust des Verstehens: Gadamers Schleiermacher-Interpretation Das Werk des Berliner Theologen Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher stellt einen Meilenstein in der Entwicklung der Hermeneutik dar und es lieferte die ersten Bausteine für „Wahrheit und Methode“. Der erste Schritt einer Annäherung an „Wahrheit und Methode“ hat also in der Betrachtung der darin geführten Auseinandersetzung mit Schleiermachers Hermeneutik zu liegen. Damit diese Betrachtung gelingen kann muss man sich klar machen, dass Gadamer in seiner Analyse der Hermeneutik Schleiermachers bewusst selektiv verfahren ist1. Trotz des Eingeständnisses der Vorzüglichkeit von Schleiermachers Ausführungen zu grammatischen Interpretationen spielen diese in „Wahrheit und Methode“ keine Rolle2. Es ging Gadamer nicht darum, Schleiermachers Werk in allen Aspekten umfassend zu würdigen, sondern darum, im Ausgang von bestimmten Vorstellungen ein besseres Verständnis von den Grundlagen des Verstehens zu gewinnen. Aus diesem Grund beschränkt sich seine Auseinandersetzung mit Schleiermacher auf dessen Ausführungen zur technischen bzw. psychologischen Interpretation. Für die Lesart Schleiermachers, die sich in „Wahrheit und Methode“ niedergeschlagen hat, und um die es im Folgenden geht, ist Gadamer häufig kritisiert worden3. Die Frage – und darauf bezieht sich die Diskussion um Gadamers Schleiermacher-Interpretation – ob die von Gadamer an Schleiermachers Hermeneutik 1

Vgl. Gadamer, WM, S. 190. Vgl. Gadamer, WM, S. 190. 3 Vgl. zur Kritik und zu Gadamers Erwiderung: Gadamer, Zwischen Phänomenologie und Dialektik. Versuch einer Selbstkritik, in: GW 2, S. 3 (14 ff.). Die Kritik rührt vor allem von Frank her. Siehe seine Einleitung zu Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik. Frank meint, Gadamers Schleiermacherbild weise „Züge der Fiktion“ auf. Frank, Einleitung in Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik S. 60, und Frank, in: Birus, Hermeneutische Positionen, Einleitung, S. 9. Vgl. Arndt, Gadamers Wahrheitsbegriffe, in: Wischke/Hofer, Gadamer verstehen/Understanding Gadamer, S. 157 ff. Ob Gadamers Darstellung der Schleiermacherschen Hermeneutik vollständig korrekt ist, hat an dieser Stelle keine weitere Relevanz, weil es Gadamer eigentlich nur auf die Darstellung der Wirkungsgeschichte dieser Hermeneutik ankommt. Es geht hier also nicht um die Schuldfrage. Insofern wäre es verfehlt, Gadamer eine falsche Schleiermacherrezeption vorzuwerfen, schließlich stellt „Wahrheit und Methode“ in den relevanten Teilen gar keine Rezeption Schleiermachers dar, sondern eine Rezeption der Rezeption. Wenn festgestellt wird, dass schon in der frühen Rezeption durch Dilthey Schleiermacher falsch verstanden worden ist, so ändert sich eben nichts an der Wirkungsgeschichte, die hier allein interessiert. In diesem Sinne stellt Arndt fest, dass Gadamer zweifellos Recht habe, wenn er sich für seine Sichtweise auf die Wirkungsgeschichte der Schleiermacherschen Hermeneutik berufe. Indessen beruhe diese Wirkungsgeschichte auf einer Voraussetzung, die Schleiermacher selbst nie angenommen hätte. 2

I. Der Verlust des Verstehens und die Entdeckung der Individualität 

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kritisierten Voraussetzungen nicht erst durch die Interpretation Diltheys eine verfälschende Gewichtung im Werk Schleiermachers erlangt haben, kann hier dahinstehen. Ob Gadamer Schleiermacher „richtig“ interpretiert hat oder nicht, ist nicht Gegenstand dieser Untersuchung. Hier soll es darauf ankommen, die aus der Auseinandersetzung gezogenen Schlüsse im Ergebnis zu überprüfen. Dabei kann man sagen, dass Gadamer Schleiermacher strikt beim Wort genommen hat. Ob er ihn damit nicht vielleicht überinterpretiert hat, darüber wird man streiten können. Festgehalten werden muss aber, dass die Aussagen, an denen Gadamer seine Kritik festgemacht hat, allesamt in den Schriften Schleiermachers nachweisbar sind.4 I. Der Verlust des Verstehens und die Entdeckung der Individualität Schleiermachers Thesen sind – anderenfalls hätten sie die ihnen gerade attestierte Bedeutung sicherlich nicht erlangt – ein Bruch mit der Tradition5. Dem Ursprung nach geht es dem, was wir vom heutigen Standpunkt aus als Hermeneutik zusammenfassen, um das Verstehen der Überlieferung anhand ihrer schriftlichen Zeugnisse. Für Schleiermacher hingegen hängt die Frage des Verstehens nicht davon ab, was „dasteht“ und darüber hinaus auch nicht mehr davon, ob es überhaupt „dasteht“. Die Einheit der Hermeneutik sucht Schleiermacher im Gegensatz zu seinen Vorgängern nicht mehr in der inhaltlichen Einheit der Überlieferung6, sondern unabhängig von inhaltlichen und vor allem von äußerlichen Besonderheiten in der Einheit eines Verfahrens7. Es soll nun nicht mehr darauf ankommen, ob uns der Verstehensgegenstand in mündlicher Rede oder schriftlich, gleich ob in eigener oder fremder Sprache, begegnet. Die Aufgabe der Hermeneutik erfährt damit eine erhebliche Ausweitung, denn von da an ist grundsätzlich jede menschliche Äußerung eine Herausforderung für das Verstehen und das noch in einer weiteren Hinsicht. Schleiermacher ist der Ansicht, dass wir in unseren Bemühungen, den Sachen Bedeutung abzugewinnen, zunächst stets dem Missverständnis ausgeliefert sind. Dieser Gedanke hat folgenden Hintergrund und erscheint davor zunächst nur folgerichtig: Wenn mit Kant die Besonderheit jedes Verstehens schon mit der Be 4 Für eine ausführliche Darstellung der Schleiermacherschen Hermeneutik vgl. Kurt, Hermeneutik – Eine sozialwissenschaftliche Einführung. 5 Für eine umfassendere Darstellung der Leistungen Schleiermachers für die Weiterentwicklung der Hermeneutik vgl. Scholz, Jenseits der Legende – Auf der Suche nach den genuinen Leistungen Schleiermachers für die allgemeine Hermeneutik, in: Schröder, Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie, S. 265 ff. 6 Insbesondere der Philologe Friedrich Ast ist an dieser Stelle zu nennen, der noch von einer überzeitlichen Verbundenheit in Ideen des Geistes ausging. Vgl. Gadamer, WM, S. 182. 7 Vgl. Gadamer, WM, S. 182.

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B. Der Verlust des Verstehens: Gadamers Schleiermacher-Interpretation 

sonderheit jedes Einzelnen „ich denke“ besteht, also vom Verstehenssubjekt zum Verstehensobjekt mitgebracht wird, dann wird die Besonderheit des Verstehens in der Tat universell. Es ist besonders in Bezug auf jeden Gegenstand und jeden Betrachter. Die Besonderheit liegt schon im „ich“, das „ich denke“ denkt. Daraus ergibt sich im Hinblick auf das Verstehen fremder Äußerungen ein Weiteres, und zwar, dass das „ich“ das Denken des Du mit-denken muss. Wenn das ich „ich denke“ mitdenken muss wenn es selbst denkt, dann muss es auch das „ich denke“, welches das Du denkt, mitdenken8. Schleiermacher sieht sich konfrontiert mit dem Problem des „dunklen Du“9. Das Verstehen ist von nun an eine einzige Verwirrung, die es zu ordnen gilt. Die Vernunft hat nach der kantischen Neuordnung der Planeten kein festes Fundament mehr. Sie ist in Bezug auf das Verstehen fremder Äußerungen in dem eben aufgezeigten Zirkel gefangen, in dem „das Nichtverstehen sich niemals gänzlich auflösen will“10. Damit wird der Erkenntnisanspruch der Vernunft zu einem perspektivischen, hypothetischen und begrenzten11. Es entsteht das oben geschilderte Problem der Geisteswissenschaften. Aus der Entdeckung der „Individualität des Du“12 schließt Schleiermacher nun eine unaufschließbare Erfahrung der Fremdheit, die uns dem Missverständnis näher sein lässt als dem Verstehen. Er unterscheidet demgemäß verschiedene Weisen der Auslegung, eine strenge und eine laxe, und erst „die strengere Praxis [der Auslegungskunst] geht davon aus, dass sich das Missverstehen von selbst ergibt und das Verstehen auf jedem Punkt muß gewollt und gesucht werden“13. Die „laxere“, in der Geschichte der Hermeneutik bis Schleiermacher – so seine eigene Diagnose – übliche Praxis hingegen geht davon aus, dass das Verstehen sich von selbst ergibt und nur das Missverständnis vermieden werden soll14. So lässt Schleiermacher seinen berühmten Akademievortrag, auf dem im Wesentlichen das Gadamersche Verständnis der Schleiermacherschen Hermeneutik beruht15, mit einer dreifachen Einteilung beginnen, die 8 Es muss von nun an das eigene Denken betreffen, trifft sich aber auch mit dem gerade je eigenen Denken der Fremdheit. In diesem Zusammenhang wurde aus dem „Ich denke“, das alle meine Vorstellungen begleiten muss, wohl nach und nach ein „Ich meine“, das man fremden Vorstellungen ohne weiteres attestieren kann, um ihnen so den Makel des Immer-auchanders-sein-Könnens anzuheften. 9 Gadamer, WM, S. 195. 10 Schleiermacher, Über den Begriff der Hermeneutik mit Bezug auf F. A. Wolfs Andeutungen und Asts Lehrbuch, KGA Erste Abteilung, Bd. 11, S. 621. 11 Vgl. Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, S. 107. 12 Gadamer, WM, S. 183. 13 Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 92. 14 Es geht dabei in erster Linie um das Problem der sinnvollen Interpretation von Bibelstellen, die wörtlich genommen offensichtlich absurd sind. So ist zum Beispiel im Schöpfungsbericht von Tagen die Rede, bevor Sonne und Nacht erschaffen wurden. Speziell zu diesem Aspekt der Hermeneutikgeschichte siehe Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, S. 48. 15 Vgl. Gadamer, WM, S. 190, Fn. 23, der an der Stelle selbst auf diesen Umstand hinweist.

I. Der Verlust des Verstehens und die Entdeckung der Individualität 

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„viele, ja vielleicht sogar die meisten Thätigkeiten, aus denen das menschliche Leben besteht, vertragen [… unter diesen auch das Auslegen im Sinne von Verstehen fremder Rede]: Eine fast geistlose und ganz mechanische, eine die auf einem Reichthum von Erfahrungen beruht, und endlich eine im eigentlichen Sinne des Wortes kunstmäßige.“16

Das „kunstmäßige“ Verfahren des Verstehens alleine, meint Schleiermacher, habe er vergeblich gesucht und so fände sich zwar im Felde des Auslegens, welches unter zweitens, im Sinne der genannten Dreiteilung fällt, ein „Schaz von lehrreichen Beobachtungen und Nachweisen, welche hinreichend beurkunden, wie viele von ihnen [den Philologen und Theologen] wahre Künstler sind im Auslegen, während freilich dicht neben ihnen auf demselben Gebiet theils die wildeste Willkühr“17 herrsche.

Schleiermacher weiter: „Aber neben allen diesen Schäzen verlangt doch den der das Geschäft selbst zu treiben hat und sich doch zu den entschiedenen Künstlern nicht zählen kann und noch mehr wenn er zugleich der wissbegierigen Jugend vorangehn soll im Auslegen und sie dazu anleiten nach einer solchen Anleitung die als eigentliche Kunstlehre zugleich nicht nur die erwünschteste Frucht sei von den Meisterarbeiten der Künstler dieses Fachs, sondern auch in würdiger wissenschaftlicher Gestalt den ganzen Umfang und die Gründe des Verfahrens auseinandersezte. Eine solche fand auch ich mich veranlasst zu suchen für mich selbst sowol als für meine Zuhörer, als ich mich zuerst in dem Falle befand auslegende Vorlesungen zu halten. Allein vergeblich.“18

Die Unterscheidung der verschiedenen, man kann fast sagen „Güteklassen des Verstehens“ ist also die Voraussetzung für das eigentlich Neue an Schleier­machers hermeneutischem Ansatz, nämlich die Suche nach der von ihm vermissten strengen Praxis des Verstehens. Bisher war Hermeneutik nur dann nötig, wenn man etwas nicht, oder nicht mehr versteht19. Diese Sicht wird von Schleiermacher mit seiner Universalisierung des Missverständnisses umgedreht. Er geht dazu über, statt naiv von einem sich zunächst einstellenden Verstehen auszugehen, das Miss­ verstehen als Grundtatbestand vorauszusetzen. Es gilt für den Hermeneuten, gleich von Anfang an auf der Hut vor möglichem Missverstand zu sein, denn das Verständnis wird nach Schleiermacher in der Regel erst unsicher, weil es zu einem früheren Zeitpunkt vernachlässigt worden ist20. Die Ausweitung des Missverständnisses – und dies ist der für Gadamers Schleier­macherinterpretation maßgebliche Punkt – hat dann nach Gadamers Sicht 16 Schleiermacher, Über den Begriff der Hermeneutik mit Bezug auf F. A. Wolfs Andeutungen und Asts Lehrbuch, KGA Erste Abteilung, Bd. 11, S. 601 f. 17 Schleiermacher, Über den Begriff der Hermeneutik mit Bezug auf F. A. Wolfs Andeutungen und Asts Lehrbuch, KGA Erste Abteilung, Bd. 11, S. 602. 18 Schleiermacher, Über den Begriff der Hermeneutik mit Bezug auf F. A. Wolfs Andeutungen und Asts Lehrbuch, KGA Erste Abteilung, Bd. 11, S. 602. 19 Vgl. Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, S. 106. 20 Vgl. Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, S. 106.

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B. Der Verlust des Verstehens: Gadamers Schleiermacher-Interpretation 

in letzter Konsequenz zu einer Verengung des hermeneutischen Problems geführt, denn der Ausweg aus der unaufschließbaren „Individualität des Du“ wird der Weg zum Du sein21. So besteht nach Schleiermacher „die Aufgabe der Hermeneutik darin […] den ganzen innern Verlauf der componirenden Thätigkeit des Schriftstellers auf das vollkommenste nachzubilden“22. Damit ist eine Voraussetzung gemacht, die für die Hermeneutik weit schwerer wiegt als man zunächst annehmen möchte. Wie verfährt Schleiermacher nun nach der Klassifizierung des Verstehens weiter? II. Subjektivität und Divination Schleiermacher vollzieht, soviel ist zunächst ganz generell festzuhalten, einen Wandel in der Betonung des Wortes von der „Kunstlehre des Verstehens“. Die Betonung wandert von der Kunst auf die Lehre23, „mehr Methode“ müssten die hermeneutischen Regeln sein24. Die Grenzen der Methodisierbarkeit waren Schleiermacher dabei wohl bekannt25. Die hier wichtige Seite der Hermeneutik, die psychologische Auslegungskunst, wird dementsprechend beschrieben als ein „divinatorisches Verhalten“26, bei dem es darauf ankommt, sich in die ganze Verfassung des Autors zu versetzen und so ein Bild vom inneren Hergang der Abfassung seines Werkes zu gewinnen27. Hier bleibt der Hermeneutik die Kunst erhalten, wenn es darum geht, in einem divinatorischen Akt die Individualität des Verfassers unmittelbar aufzufassen, „indem man sich selbst gleichsam in den anderen verwandelt“28. Der schöpferische Akt soll so nachgebildet werden; das Verstehen wird damit zu einer auf eine ursprüngliche Produktion bezogenen Reproduktion, bei der unter Betonung des Erlebnisses die Sprache als die „lebendige Tat des Einzelnen“29 aufgeschlossen werden soll30. Damit ist der erste Anknüpfungspunkt für Gadamers Kritik in Erscheinung getreten: Die romantische Hermeneutik wird mit der geschilderten Voraussetzung, etwas polemisch ausgedrückt, „unsachlich“. Sie gewinnt eine betont rekonstruk 21 Der Widerspruch ist aufzuklären: Stichwort Divination. Worin genau die „Verengung“ zu sehen ist wird später deutlich werden. 22 Schleiermacher, Über den Begriff der Hermeneutik, Erste Abhandlung, KGA Erste Abteilung, Bd. 11, S. 615. 23 Vgl. Gadamer, WM, S. 182. 24 Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 84. 25 Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, S. 108. 26 Vgl. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 169. Divinare = lat. erraten. 27 Vgl. Birus, Zwischen den Zeiten. Friedrich Schleiermacher als Klassiker der neuzeitlichen Hermeneutik, in: Birus, Hermeneutische Positionen, S. 15 (38). 28 Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 169. 29 Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 210. 30 Vgl. Gadamer, WM, S. 191.

II. Subjektivität und Divination

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tiv-subjektivistische Prägung31. Wenn auch nach Gadamer die Hermeneutik nie allein das Organon der Sachforschung gewesen sei, sondern immer schon darauf gerichtet war, das von anderen in Schrift und Gespräch Gemeinte verständlich zu machen, so sei es dennoch immer darauf angekommen, mit ihrer Hilfe eine Wahrheit zu verstehen, die in den Worten verborgen lag32. Sachforschung war also immer auch ein Teilelement der hermeneutischen Bemühungen. Bei Schleiermacher aber wird das Verstehen zu einer Nachkonstruktion, bei der es darauf ankommt, mittels Betrachtung des Sinns, wie er sich vom Standpunkt des Autors aus zeigt, Missverstand zu vermeiden33. Gadamer sieht darin mehr als eine Ausweitung, vielmehr eine „grundsätzliche Verschiebung“, wenn es beim Verstehen darauf ankommt, die Individualität des Sprechenden zu verstehen, denn vormals ging es darum, den objektiven Sinn des Gesprochenen zu verstehen: „Schleiermacher meint, nur im Rückgang auf die Entstehung von Gedanken lassen sich diese wirklich verstehen. Was für Spinoza ein Grenzfall der Verständlichkeit ist und daher den Umweg ins Historische erforderlich macht, das wird für ihn der Normalfall und bildet die Voraussetzung, von der aus er die Lehre vom Verstehen entwickelt.“34

Macht man der Hermeneutik also in diesem Sinne zur Aufgabe, zur Findung eines Bildes vom inneren Hergang der Abfassung eines Werkes beizutragen und so den schöpferischen Akt nachzubilden, so wird das sachliche Element aus der Hand gegeben. Sachlicher Inhalt wird übergangen, ästhetisiert, „zu künstlerischem Denken“35 gestuft. Verstehen heißt danach Rückversetzung und darin liegt die bereits angesprochene Wendung der Hermeneutik über die Entwicklung der hermeneutischen Methode ins Historische. Von dieser Grundlegung lässt sich verdeutlichen, was es für Schleiermacher mit der „Divination“ auf sich hat. Schon das Reden wird für ihn auf der Grundlage der Besinnung, von der es ausgeht, zu einer Kunst. Somit muss es das Verstehen erst recht sein: Hermeneutik ist so etwas wie der Spiegel der Rhetorik, das Verstehen ist die Umkehrung des Redens36. Das eben angesprochene Moment der freien Produktion wird von Schleiermacher überall, auch im Gespräch, aufgesucht. Dementsprechend gibt es auch hier eine Zweiteilung. Auf der einen Seite gibt es das Gespräch, bei dem es um die gemeinsame Herausarbeitung eines Sinns geht, auf der anderen Seite das dem künstlerischen Denken zuzurechnende „freie Gespräch“, welches „durch Mitteilung des einen die Gedankenerzeugung des anderen teils erregt, teils, wenn sie schon im Gange ist, umlenkt und anders bestimmt werden kann“37; ein Gespräch, das „nichts als die wechselseitige Anregung der Ge 31

Vgl. Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, S. 106. Vgl. Gadamer, WM, S. 189. 33 Vgl. Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, S. 107. 34 Gadamer, WM, S. 189. 35 Gadamer, WM, S. 191. 36 Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 76. 37 Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 414 f. 32

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B. Der Verlust des Verstehens: Gadamers Schleiermacher-Interpretation 

dankenerzeugung ist“38. Das Gespräch ist in diesem Moment nicht mehr ein Vorgang der Produktion, in dem Sinn erzeugt wird, sondern eine „Verhaltensweise des Subjekts“39. Nun gibt es im Bereich der verschiedenen Formen des Redens ebenso wie im Bereich des Verstehens die eben schon angesprochenen „Güteklassen“. Dem kunstlosen, mechanischen Verstehen gegenüber steht ein kunstloses, mechanisches Reden, dem kein Moment unbewusst-genialer Schöpfung innewohnt und das dementsprechend unmittelbar und bewusst nachvollzogen werden kann40. Im Gegensatz dazu das Reden, das von der Individualität geprägt ist und in dem sich die Genialität des Schöpfers niederschlägt. Hier kann es ein regelgeleitetes Nachvollziehen nach Schleiermacher nicht geben, weil es an dem Genie selbst liegt, neue Regeln zu schaffen und Muster zu bilden41. Dadurch, dass für Schleiermacher aber die Grenzen zwischen dem kunstvollen und kunstlosen Reden fließend sind und sich somit immer ein Stück Individualität in der Rede findet, bedarf es auf der Seite der Hermeneutik immer der besagten Divination, die ein unmittelbares Erraten und damit letztlich einen Akt der Kongenialität voraussetzt42. So erklärt sich auch die bereits erwähnte, von Schleiermacher vorausgesetzte „Verwandlung“ in den anderen. Schleiermacher stellt das Verstehen in ein Spannungsverhältnis zwischen Erraten und Vergleichen. Er macht zur Voraussetzung, dass jeder neben seiner Individualität ein Minimum des „Allebens“43 in sich trägt, dessen Manifestation die Individualität letztlich ist44. Somit stellt sich das Verstehen als ein Vorgang des Vergleichens auf der Basis des Gemeinsamen und des Erratens auf der Basis der Individualität dar. Letzteres wird durch das Minimum, welches jeder von jedem in sich trägt, „aufgeregt“45. Wichtig ist, dass für Schleiermacher dieses geteilte „Alleben“ kein Ersatz sein soll für die durch die Individualität nötig gewordene Divination. Es wird also nicht durch die Hintertür die vorher aufgegebene Verbundenheit in einer allumfassenden Vernunft wieder eingeführt, vielmehr bleibt das Moment der Divination im Verfahren des Verstehens unverzichtbar, weil es sich bei der Grundlage der Vergleichbarkeit eben nur um ein Minimum handelt46. Die Methode des Verstehens bleibt somit Kunst, weil sich ihr Vorgehen nicht durch Regeln mechanisieren lässt. Allerdings wird man wohl sagen können, dass durch die Voraussetzung des geteilten „Allebens“ die gerade entdeckte Individualität eine gewisse Abschwächung erfährt. Die bereits angesprochene Einsicht Schleiermachers in die Grenzen der 38

Gadamer, WM, S. 192. Gadamer, WM, S. 192; vgl. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 413. 40 Vgl. Gadamer, WM, S. 193. 41 Vgl. Gadamer, WM, S. 193. 42 Vgl. Gadamer, WM, S. 193. 43 Gadamer, WM, S. 193. 44 Vgl. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 170. 45 Vgl. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 170. 46 Vgl. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 170; Gadamer, WM, S. 193. 39

II. Subjektivität und Divination

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Methodisierbarkeit des Verstehens wird man letztlich auf genau diesen Umstand zurückführen können; dass sich das „Ich“ nie ganz zum „Du“ machen kann. Gadamer hat in „Wahrheit und Methode“ sehr deutlich gemacht, dass ihm dieses „Eingeständnis“ Schleiermachers an die Grenzen des Methodendenkens sehr wohl bekannt war47. Umso verwunderlicher ist es, dass man nicht selten liest, dass Schleiermacher gegenüber Gadamer mit dem Hinweis in Schutz genommen wird, er (Schleiermacher) selber habe ein „feines Gespür für die Grenzen der Methodisierbarkeit“ gehabt48. Gleiches geschieht in Bezug auf Savigny, auf dessen Hermeneutik noch zurückzukommen sein wird49. Was man daran deutlich machen kann ist, dass es Gadamer nicht so sehr um die Bedeutung der Methode für die Hermeneutik Schleiermachers ging, als vielmehr um die Bedeutung der Methode Schleiermachers für die Hermeneutik. Mit anderen Worten: Es ging Gadamer nicht um eine Diskreditierung des Methodendenkens50, vielmehr gibt es in dieser Auseinandersetzung durchaus noch eine inhaltliche Komponente51. Gadamer legt diese inhaltliche Komponente besonders deutlich dar im Zusammenhang mit dem berühmten Satz Schleiermachers, es gelte „einen Schriftsteller besser zu verstehen als er sich selber verstanden habe“52. Dieses Besserverstehen hängt zusammen mit der Annahme, dass das Sich-hineinversetzen keine dem Verstehen vorgängige Operation ist, die als von der eigentlichen Verständnisbemühung ablösbar angesehen werden könnte53. Die Formel vom Besserverstehen ist bei Schleiermacher in ihrer inhaltlichen Ausprägung der Ausdruck einer fundamentalen Neubesinnung auf die Grundlagen des Verstehens. Man findet die Formel schon bei Fichte54 und bei Kant55. Allerdings ist sie dort jeweils in einem anderen Sinne zu verstehen, nämlich als ein Anspruch der Philosophie und nicht als eine allgemeine Handwerksregel der Philologie56. Es geht dort darum, durch eine höhere begriffliche Klarheit über die Widersprüche hinwegzukommen, die sich im Werk eines Autors finden, und so zu einem Verständnis zu 47

Vgl. Gadamer, WM, S. 193. Vgl. Meder, Missverstehen und Verstehen, S. 15; vgl. auch S. 85 ff. 49 Vgl. Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 61. 50 Vgl. Ineichen, Handbuch der Philosophie. Philosophische Hermeneutik, S. 184. 51 Ohnehin löst der Hinweis auf das „feine Gespür“ nicht das Problem der Methode, sondern weist auf einen Widerspruch im Denken Schleiermachers hin, der immerhin dazu geführt hat, das Grondin zu dem Schluss kommt, jener habe sich vielleicht selbst falsch verstanden, als er „mehr Methode“ forderte. Vgl. Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, S. 108. 52 Schleiermacher zitiert nach Gadamer, WM, S. 195. Gadamer meint, dass in diesem Satz das eigentliche Problem der Hermeneutik beschlossen liegt. 53 Dabei kann mit dieser Gleichsetzung nicht bloß Identifikation gemeint sein, weil Reproduktion und Produktion in dem eben erläuterten Sinne sich spiegelbildlich gegenüber stehen und auf diese Weise verschieden bleiben. Vgl. Gadamer, WM, S. 195. 54 Fichte, Werke VI, S. 337. 55 Kant, KdrV, S. 370. 56 Vgl. Gadamer, WM, S. 198. 48

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B. Der Verlust des Verstehens: Gadamers Schleiermacher-Interpretation 

kommen, dass der ursprüngliche Autor teilen müsste, wenn er die Sache ebenso gut durchdacht hätte57. Es geht darum, dass die Sache besser durchdacht wird, als es dem ursprünglichen Autor gelungen ist. Damit wird aus dem Satz eine philosophische Selbstverständlichkeit, findet sich doch in ihm nur der Anspruch wieder, durch Sachkritik zu Wahrheiten zu gelangen, die vormals verborgen waren. Der Satz erscheint damit „so alt wie wissenschaftliche Kritik überhaupt“58. Ganz anders hingegen, so attestiert Gadamer, will die Formel vom Besserverstehen bei Schleiermacher verstanden werden. Sie wird zu einem Grundsatz der philologischen Auslegungskunst und damit wird die „vom Sachverständnis geführte Kritik aus dem Bereich der wissenschaftlichen Auslegung“59 herausgedrängt, denn Schleiermacher bezieht die Sache, die es zu verstehen gilt, nicht mehr ein, sondern betrachtet sie in dem oben dargelegten Sinne als eine freie Produktion60. Texte sollen danach unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt als reine Ausdrucksphänomene aufgefasst werden61. Letztlich wird erst ab diesem Zeitpunkt mit der Formel vom Besserverstehen eines Autors als er sich selbst verstanden hat ernst gemacht, denn es geht nicht mehr um den Verstehensgegenstand, sondern um seinen Verfasser: 62 „Die dogmatische Voraussetzung des maßgeblichen Textes, unter der das hermeneutische Geschäft, sowohl das des Theologen wie das des humanistischen Philologen (von dem des Juristen gar nicht zu reden), seine ursprüngliche Funktion der Vermittlung hatte, ist nun verschwunden.“63

In dieser Auseinandersetzung zeigt sich die eingangs dieses Kapitels behauptete Tendenz bei Gadamer, Schleiermacher sehr strikt wörtlich zu interpretieren. Die noch folgende Auseinandersetzung mit Savigny wird zumindest Indizien dafür liefern, dass hinter der Vorstellung von der Rekonstruktion der Autorintention keine bis ins Detail durchdachte theoretische Voraussetzung steckt. Wenn man aber aus dieser Voraussetzung positive Schlüsse ziehen will – und darum ging es Gadamer, wie bereits dargelegt wurde – ist es durchaus legitim, Schleiermacher derart beim Wort zu nehmen.

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Vgl. Gadamer, WM, S. 198. Gadamer, WM, S. 199. 59 Gadamer, WM, S. 200. 60 Vgl. Gadamer, WM, S. 199 f. 61 Vgl. Gadamer, WM, S. 200. 62 Somit ist es vom Standpunkt Gadamers keineswegs gleichgültig, ob man das schöpferische Element im Verstehen als Besser-Verstehen (des Autors!) oder als Anders-Verstehen einordnet. So aber Schroth, Hermeneutik, Norminterpretation und richterliche Normanwendung, in: Kaufmann/Hassemer/Neumann, Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 273. 63 Gadamer, Klassische und philosophische Hermeneutik, in: GW 2, S. 92 (98 f.). 58

III. Einverständnis und Missverständnis

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III. Einverständnis und Missverständnis Gadamers eigener hermeneutischer Ansatz tritt vor dem Hintergrund von Schleiermachers Universalisierung des Missverständnisses zunächst dadurch auf, dass er dem Verstehen ein anderes Fundament gibt. Dieses Fundament geht von dem Satz aus: „Verstehen heißt zunächst, sich miteinander verstehen“64. Dabei soll im Vordergrund der Gedanke stehen, dass sich eben nicht das Missverständnis von vorneherein einstellt, sondern Menschen einander zumeist unmittelbar verstehen oder sich zumindest bis zur endlichen Erzielung des Einverständnisses verständigen65. Diese Verständigung wird dabei immer über etwas erzielt, das Sich-ver­ stehen ist ein Sich-in-etwas-verstehen. Wesentlich ist, dass darin die Sache erhalten bleibt, über die sich Menschen verständigen. Dieses „Worüber und Worin“ des menschlichen Verstehens, ist nicht beliebig, sondern „Weg und Ziel des Sichverstehens selber“66. Die Annahme dazu, dass sich Verständigung (nicht Verständnis!) zwischen Menschen meist unmittelbar einstellt, lässt dann den Schluss zu, dass sie einander nicht nur in diesem und jenem verstehen, sondern in einer gemeinsamen menschlichen Sache67. Erst das Gefühl des Befremdens, weil eine Äußerung welcher Art auch immer, Missverstehen erzeugt, lässt die Sache als die Meinung des Anderen erscheinen, ohne dass jedoch gleich die Suche nach Verständigung aufgegeben würde. Wenn sich ganz am Ende eines Gesprächs oder einer Auseinandersetzung mit einem Text, trotz aller Fragen und Argumente, Verständigung noch immer nicht eingestellt hat, dann wird so etwas wie Verständnis für den anderen gefordert sein. Erst dann schlägt die Suche nach der Verständigung über die Sache um in das Fragen nach der Meinung des Anderen. Die Meinung des Anderen ist also bei G ­ adamer so etwas wie der letzte Ausweg, um einer Auseinandersetzung noch Sinn abzugewinnen während sie bei Schleiermacher zum eigentlichen Gegenstand des Verstehens wird. Man wird vereinfachend sagen können, dass Gadamer Schleiermacher vorwirft, die Sache zu früh aus der Hand gegeben zu haben, nämlich da, wo noch Verständigung darüber möglich ist. Er wendet sich also nicht so sehr gegen die Forderung Schleiermachers nach „mehr Methode“ im allgemeinen, sondern gegen bestimmte Vorgaben aufgrund ihrer spezifischen Folgen, die Schleiermacher aus dem Antrieb, das Verstehen von der Willkür zu reinigen, aufgestellt hat. Es geht eben nicht um die grammatische Interpretation, die das eigentliche Methodendenken zum Ausdruck bringt, sondern um das mit der Methode verfolgte Ziel des Verstehens.

64

Gadamer, WM, S. 183. Vgl. Gadamer, WM, S. 183. 66 Gadamer, WM, S. 184. 67 Vgl. Gadamer, WM, S. 184. 65

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B. Der Verlust des Verstehens: Gadamers Schleiermacher-Interpretation 

1. Verstehen und Skepsis Die Vorstellung Schleiermachers von einem basalen Missverständnis bleibt auch darüber hinaus nicht ohne Folgen und es ist durchaus nicht so, dass man den Ausgangspunkt des Verstehens beliebig als grundsätzliches Missverständnis oder als grundsätzlich vorausgesetzte Verständigung des Interpreten mit dem Interpretandum ansehen kann. Fasst man das Verstehen von der Basis des Missverständnisses aus als einen Prozess der Annäherung bis zu seiner Vollendung68 im Verstehen, dann wird zunächst einmal fraglich, woher die Gewissheit kommen kann, dass der Vorgang zu seiner Vollendung gelangt sein möge. Dabei geht es nicht um die Frage, ob Schleiermacher das Verstehen überhaupt als „abschließbar“ angesehen hat, sondern darum, wann in dem unabschließbaren Prozess des Verstehens sich erstmalig ein „treffender Ausdruck in der Charakterisierung eines bisher so nicht gesehenen Sinnzusammenhangs“69 findet. Die Frage ist, welcher Sinn dem Interpreten vermittelt, dass er einen „Haltepunkt im Prozess der Aneignung von Überlieferung“70 gefunden hat? Diese Entscheidung treffen zu können verlangt ein Wissen um das Verstehen der Sache und damit um die Sache selbst, das dem Interpreten durch die Einstufung des Missverständnisses als Ausgangspunkt der Verstehensbemühung gerade abgesprochen wurde71. Die Sache als das, was es zu verstehen gilt, ist schließlich bis zur Unkenntlichkeit verblasst, wenn man sie, im Missverständnis gefangen, zum ersten Mal betrachtet. Der Vorgang des Verstehens wird damit zur Suche nach einer Sache, die man nicht kennt. Ein Finden ist aber überhaupt nur möglich, wenn man den schließlich gefundenen Gegenstand immer schon als ein Zu-Findendes in seinem Bewusstsein getragen hat, denn was sollte das für eine Suche sein, wenn man überhaupt gar keine Vorstellung davon hat, welchen Eindruck ein erfolgreicher Verlauf machen würde? Ein Suchen, das sein „vorgängiges Geleit nicht aus dem Gesuchten her hat“72 ist nur ein Herumtappen im Dunkeln73. Schleiermacher selbst hätte diese Kritik wahrscheinlich gar nicht anerkannt, weil nach seiner „ästhetischen Metaphysik der Individualität“74 ein kongenialer Akt der Einfühlung das Verstehen herstellt. Verstehen wird damit zu einem Gefühl75. Aber darin steckt das gleiche Problem, denn was für ein Gefühl soll das 68

Sofern man in diesem Zusammenhang überhaupt von Vollendung sprechen darf. Rodi, Erkenntnis des Erkannten, S. 9. 70 Rodi, Erkenntnis des Erkannten, S. 9. 71 Das hat schon etwas zu tun mit dem Zirkel des Verstehens, auf den später noch ausführlich einzugehen sein wird. 72 Heidegger, Sein und Zeit, S. 5. 73 Es ist letztlich dieses Problem, auf das der von Heidegger und Gadamer mit dem hermeneutischen Zirkel des Verstehens eingeführte Satz, dass man nur verstehen kann, was man immer schon verstanden hat, eine Antwort geben will. 74 Gadamer, WM, S. 193. 75 Vgl. Gadamer, WM, S. 194. 69

III. Einverständnis und Missverständnis

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sein, das sich so unbewusst einstellt, dass dadurch die eben vorgebrachte Kritik beseitigt wäre? Damit soll Folgendes gesagt sein: Wenn es bei diesem „unmittel­ baren sympathetischen und kongenialen Verstehen“76 kein vorgängiges Verständnis um das „wie“ seines Anfühlens gäbe, woran ließe sich dann das Gefühl als dasjenige erkennen, auf das man wartet? Es lässt sich folglich nicht erklären, an welchem Punkt das Missverstehen in Verstehen umschlägt77. Bezüglich des Endes einer Verstehensbemühung hätte man es demnach immer mit einem willkürlichen Abbruch zu tun. Schleiermachers Standpunkt konsequent weitergedacht führt zu der Schlussfolgerung, dass sich das Verstehen einer Sache nicht als ein Prozess denken lässt, an dessen Anfang das Missverständnis steht und an dessen Ende das Verstehen, sondern im Sinne eines solchen, der sich nur in verschiedene Grade des Missverstehens unterteilen lässt. Tatsächlich findet sich bei Schleiermacher ein Hinweis auf eine solche Schlussfolgerung: „Das Nichtverstehen“, so heißt es, will „sich niemals gänzlich auflösen“78. Der Gegenstand des Verstehens löst sich auf und es bleibt nur noch ein Weg, den das Verstehen geht. Und selbst dieser Schluss bringt den Gedanken nicht zu Ende. Geht man davon aus, dass Ausgangspunkt des Verstehens das Missverständnis ist, hört es auf sinnvoll zu sein, von Verstehen überhaupt zu sprechen. Unter der Voraussetzung des grundsätzlichen Missverständnisses fehlt der Bezugspunkt, von dem aus das Missverständnis als ein ebensolches ausgezeichnet werden kann79. Schließlich hat sich gezeigt, dass sich „Verstehen“ nicht einstellt, wenn derjenige der verstehen soll von vorneherein missversteht. Es gibt also kein Verstehen, dort wo das Miss­verstehen den Ausgangspunkt darstellt. Es gibt aber auch kein Missverstehen, wenn es kein Verstehen gibt. Mangels eines feststellbaren, wenn vielleicht auch nur vorläufigen Verstehens, lässt sich das Missverständnis nicht mehr als solches ausweisen. Es gibt nun nichts mehr zu verstehen und vielleicht noch bedeutender: Es gibt gar kein falsches Verständnis, um dessen Vermeidung es Schleiermacher doch in all seinen hermeneutischen Bemühungen ging. Dabei lassen sich gute Gründe anführen, so weit nicht zu gehen und diese Schlüsse nicht zu ziehen, wie es gute Gründe gibt anzunehmen, dass Schleiermacher selbst diese Schlüsse niemals hat ziehen wollen80. Der einfachste lautet: Es ist möglich darüber zu sprechen. Das von Gadamer gegen das basale Missverstehen ins Feld geführte grundsätzliche Einverständnis ist letztlich das Resultat der gerade angestellten Überlegungen. Und seine Vorhandenheit beweist sich wie von 76

Gadamer, WM, S. 194. Vgl. Kurt, Hermeneutik, S. 108, sowie Tietz, Hans-Georg Gadamer. Zur Einführung, S. 151. 78 Schleiermacher, Über den Begriff der Hermeneutik mit Bezug auf F. A. Wolfs Andeutungen und Asts Lehrbuch, KGA Erste Abteilung, Bd. 11, S. 621. 79 Vgl. Tietz, Hans-Georg Gadamer. Zur Einführung, S. 151. 80 Gadamer meint, dass die These von der Unabschließbarkeit des Verstehens, bedingt durch das ewige Geheimnis der Individualität, nur eine relative sein will, nicht als unübersteigbare Schranke gedacht. Vgl. Gadamer, WM, S. 194. 77

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B. Der Verlust des Verstehens: Gadamers Schleiermacher-Interpretation 

selbst; mit jedem Satz der gesagt und verstanden wird und schon hier sei angemerkt, dass es dabei gleichgültig ist, ob man die mit ihm zum Ausdruck gebrachte Ansicht teilt oder nicht. In Bezug auf genau die hier dargelegte Frage nach der Grundlage der menschlichen Verständigung wäre man als Verstehensskeptiker konsequenterweise dazu verurteilt zu schweigen. Die skeptischen Betrachtung des Verstehen ist eine Position, die sich selbst widerlegt, sobald sie gegen Kontrapositionen verteidigt wird: Die verstehensskeptische Negation ist die Negation der Negation; denn man gerät in die Schwierigkeit, zunächst einmal überhaupt nur Recht behalten zu können, wenn man sich auf keine Diskussion über das Verstehen einlässt81. Schon dieses Einlassen auf eine Auseinandersetzung würde die Existenz des grundlegenden Einverständnisses beweisen, die Gadamer annahm, denn es erscheint nur vor der Voraussetzung sinnvoll, dass der Partner des Gesprächs verstehen kann, was man gegen seine Thesen vorzubringen hat. Hier wird also deutlich, wie das angesprochene Einverständnis zum Tragen kommt als ein Vermögen des Menschen, sich nicht nur in „diesem und jenem zu verstehen, sondern in allem Wesentlichen, das Menschen verbindet“82. Ohne diesen kleinen Funken von Verstehen als Verständigung von Anfang des Verstehensvorgangs an gäbe es gar kein Verstehen83. Wer also nicht zum Schweigen verurteilt sein möchte, wird wohl mit guten Gründen davon ausgehen können, dass sich zunächst einmal Verständigung einstellt, wenn es gilt, etwas zu verstehen, und dass das Missverständnis sich als ein Unterfall dessen darstellt84. 2. Verständigung und Psychologisierung – Einverständnis und Einverstandensein Eine in diesem Zusammenhang häufig an der Gadamerschen Verstehensanalyse geübte Kritik stellt sich als ein aus einer sehr oberflächlichen Lesart gewonnenes Missverständnis dar, wenn man um die Idee des Einverständnisses als Gegensatz zum Missverständnis als Basis des Verstehens weiß85. Das Wort Einverständnis für sich genommen ruft leicht den Eindruck hervor, man müsse mit der 81 Vgl. Gessmann, Nachwort, in: Jacques Derrida. Hans-Georg Gadamer. Der ununterbrochene Dialog, S. 97. 82 Gadamer, WM, S. 184. 83 Vgl. Sonderegger, Gadamers Wahrheitsbegriffe, in: Wischke/Hofer, Gadamer verstehen/ Understanding Gadamer, S. 249 (257). 84 Die Einsicht in die Vorverständnisbedingtheit des Verstehens ist letztlich nichts anderes als eine Antwort auf genau dieses Problem. Wenn es heißt, dass man nur verstehen kann, was man immer schon verstanden hat, dann soll damit betont werden, dass ein Verstehen als ein Suchen von Sinn unmöglich ist, wenn der zu suchende Sinn nicht wenigstens als ein Vorverständnis des Zu-verstehenden schon im Bewusstsein des Suchenden vorhanden ist. 85 Vgl. Grondin, Einführung zu Gadamer, S. 90.

III. Einverständnis und Missverständnis

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Sache inhaltlich übereinstimmen, um sie verstehen zu können86. Wäre das tatsächlich so gemeint, würde man in „Wahrheit und Methode“ einen unauflöslichen Widerspruch alleine darin sehen können, dass Einspruch gegen die romantische Hermeneutik erhoben wird. Der Gegenschluss zu der Annahme, man könne etwas nur verstehen, wenn man inhaltlich damit übereinstimmt, würde schließlich bedeuten, dass man etwas nicht verstanden haben kann, wenn man inhaltlich nicht damit übereinstimmt. Jeder Disput, jede Argumentation würde damit schlicht ein überflüssiges Aneinandervorbeireden und kein Miteinanderreden sein. Die Frage nach der Bedeutung des Einverständnisses in der philosophischen Hermeneutik Gadamers ist also nur vor dem Hintergrund der Probleme zu verstehen, auf die das Einverständnis eine Antwort geben will. Das ist der von Schleiermacher eingeführte Grundtatbestand des Missverständnisses. Selbstverständlich geht auch Gadamer davon aus, dass man Texte verstehen kann, ohne ihnen zuzustimmen. Es würde ohnehin gar keinen Sinn ergeben, dort noch von Verstehen zu sprechen, wo es gar keine Unterscheidung in Zustimmung und Ablehnung gäbe. Das Einverständnis ist bei Gadamer der Ersatz für das Schleiermachersche „­Alleben“. Es geht schließlich darum, dass nach Gadamer jedes Verstehen ein Verstehen „in einer gemeinsamen menschlichen Sache“87 ist. Wie bereits oben bemerkt wird durch die Voraussetzung des „Allebens“ die Individualität in gewisser Weise ein Stück zurückgenommen. Damit ist Folgendes gemeint: Setzt man vereinfachend voraus, dass der Mensch an einer allumfassenden Vernunft teilhat, dann ist das Verstehen nicht problematisch. Wir verstehen einander, weil die gleiche Vernunft in jedem von uns wohnt. Fasst man es umgekehrt radikal in dem Sinne, dass in jedem nur das eigene Selbst wohnt, dann ist das im Grunde das Ende des Verstehens. Jeder versteht dann nur für sich. Will er sich verständigen, dann werden seine Äußerungen wiederum nur für den verstanden, der sie verstehen soll. Solus ipse. Wenn man davon ausgeht, dass Verstehen tatsächlich stattfindet, muss also die Individualität immer ein Stück zurückgenommen werden hin zu einer Art Verbundenheit. Insofern war die Hermeneutik nach der Entdeckung der Individualität immer von dem Bestreben geleitet, die Wirkungen derselben durch das Auffinden eines verbindenden Elements abzumildern – ein Bestreben, das auch im Ursprung der juristischen Hermeneutik eine Rolle gespielt hat, die heute allerdings ein wenig verdeckt ist. Dementsprechend musste Schleiermacher, der noch davon ausging, dass sich aus den Texten ein Sinn ermitteln lässt, davon ausgehen, dass sich die Individualität in irgendeiner Weise abmildern lässt88. Denn wozu sollte der Umweg des Hineinversetzens gut sein, wenn dabei wirklich nur die eigene Individualität 86 Ein Missverständnis, das auch in die Rechtswissenschaften hineingetragen wurde. Vgl. Schroth, Hermeneutik, Norminterpretation und richterliche Rechtsfortbildung, in: Kaufmann/Hassemer/Neumann, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 275. 87 Gadamer, WM, S. 184. 88 Vgl. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 169 f.

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B. Der Verlust des Verstehens: Gadamers Schleiermacher-Interpretation 

mitgenommen werden kann? Und wenn man sich so „in den anderen verwandelt“, um das „Individuelle unmittelbar aufzufassen“89, dann ergibt das keinen Sinn, wenn es sich dabei nur um das eigene „Individuelle“ handelt. Die Annahme einer allumfassenden Vernunft wird der Tatsache nicht gerecht, dass, mit einander entsprechend guten Gründen, Entgegengesetztes gerechtfertigt werden kann, während die Annahme einer radikalen Individualität der Erfahrung der menschlichen Verständigung nicht genüge tut. Fassen wir zusammen: Gadamers Kritik an Schleiermachers Hermeneutik bezieht sich also zunächst auf den Verlust der Sache, darauf, dass das Verstehen als ein Verstehen von Ausdruck und nicht mehr in erster Linie auf ein Verstehen von Wahrheit ausgerichtet sein soll90. Es kommt beim Verstehen nach Schleier­macher auf die Meinung des Anderen an, nicht auf die Wahrheit des Gesagten und damit nicht auf den Sinn des Verstehensgegenstandes. In dieser Fokussierung auf den Autor – unterstellt, Schleiermacher habe mit dieser Voraussetzung tatsächlich eine theoretisch fundierte Aussage machen wollen – hat Gadamer zu Recht einen Verlust an Wahrheit und eine Verengung des hermeneutischen Problems gesehen. Zwei Punkte gilt es also festzuhalten: Das Verstehen soll nach Gadamer ent­ gegen der Auffassung Schleiermachers wieder auf die Sache ausgerichtet sein und es geschieht von der Grundlage eines grundsätzlichen Einverständnisses, ein zugegebenermaßen unglücklich gewählter, weil missverständlicher Ausdruck. Das ist bisher in den Rechtswissenschaften wenig beachtetet worden. Wahrscheinlich deshalb, weil auf den ersten Blick die Frage nach der Ergründung der Autorintention hier von vorneherein keine Rolle spielt. Doch der Schein trügt. Das Problem tritt mit den fachspezifischen Modifikationen immer wieder auch in der rechtswissenschaftlichen Methodendiskussion auf und es lässt sich ideengeschichtlich engführen: Es findet sich bei Schleiermacher und bei Savigny. Bei Savigny heißt es, die Interpreten müssen sich: „in Gedanken auf den Standpunkt des Gesetzgebers versetzen, und dessen Thätikgkeit in sich künstlich wiederholen, also das Gesetz in ihrem Denken von Neuem entstehen lassen. Das ist das Geschäft der Auslegung, die wir daher bestimmen können als die Reconstruction des dem Gesetze inwohnenden Gedankens.“91

Mit dieser Vorgabe, hat es seine ganz eigene Bewandtnis. Sie hat sich in den Rechtswissenschaften zwar nicht durchgesetzt, findet aber in jedem Lehrbuch zur Methodenlehre Erwähnung. Es ist nichts anderes als die subjektive Theorie des Auslegungsziels, nach der es dem Interpreten einer Norm darauf ankommen müsse, die Norm so auszulegen, dass sich in der Auslegung der Wille des histo­ rischen Gesetzgebers manifestiere und darin findet sich die Wendung auch der juristischen Hermeneutik ins Historische. 89

Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 169. Vgl. Grondin, Einführung zu Gadamer, S. 89. 91 Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. I, S. 212 f. 90

III. Einverständnis und Missverständnis

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Diese Vorgabe ist also keineswegs ein Spezialproblem der Hermeneutik Schleier­machers. Vielmehr wird man sie für ein Stück Zeitgeist zu halten haben, eine konsequenterweise auch in den Betrachtungen des Verstehensvorganges im Bereich des Rechtlichen vorkommende Reaktion auf die Umwälzungen der kan­tischen Subjektphilosophie. Der zweite Kritikpunkt Gadamers an Schleier­ macher – das basale Missverständnis – spielt in der Diskussion um die juristische Hermeneutik ebenfalls keine Rolle. Allerdings erscheint dies dadurch erklärbar, dass die Voraussetzung des universellen Missverständnisses, aus einem noch näher darzulegenden Umstand, schon bei Savigny nicht von Bedeutung war. Nun, da mit Schleiermacher die „dogmatische Voraussetzung des maßgeblichen Textes […] verschwunden“ ist „hat der Historismus freie Bahn“ 92. Das Loslösen vom eigenen Standpunkt, das sich in einfacher Form, d. h. ohne ausdrücklichen historischen Einschlag, schon bei Schleiermacher gezeigt hat, wird bei Ranke zur „Selbstauslöschung des Historikers“93 und so wird auch die historische Schule94 die „Vorgängigkeit des geschichtlichen Lebensbezuges“95 nicht in die theoretische Reflexion aufnehmen96. Ihren Höhepunkt soll die Spannung zwischen dem ästhetisch-hermeneutischen und dem geschichtsphilosophischen Motiv allerdings erst bei Dilthey erreichen97.

92

Gadamer, Klassische und philosophische Hermeneutik, in: GW 2, S. 92 (98 f). Vgl. Grondin, Einführung zu Gadamer, S. 99. 94 Das Wort „Historische Schule“ wird hier im Anschluss an seine Verwendung bei Gadamer gebraucht. Darunter ist eine Denkrichtung innerhalb der Philologie bzw. den Geisteswissenschaften zu verstehen, der insbesondere Ranke und Droysen angehörten. Man kann darunter auch die „Historische Rechtsschule“ verstehen, für die vor allem das Denken Savignys von Bedeutung ist. 95 Gadamer, WM, S. 201 f. 96 Ein Manko, das er selbst über den Begriff des „wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins“ korrigieren wird. Siehe dazu weiter unten, bei der Auseinandersetzung Gadamers mit den Gedanken Diltheys. 97 Vgl. Gadamer, WM, S. 222. 93

C. Die Aporien des Historismus: Gadamers Dilthey-Interpretation Für die Bedeutung der Auseinandersetzung Gadamers mit Dilthey gilt: Ohne Dilthey würde es „Wahrheit und Methode“ in der vorliegenden Form nicht geben1. Es sind seine Gedanken zur erkenntnistheoretischen Rechtfertigung der Geisteswissenschaften und ihrer objektiven Etablierung gegenüber den Naturwissenschaften, die eine Grundlage bilden, ohne die die philosophische Hermeneutik nicht entstanden wäre2. Dilthey ist so etwas wie der wichtigste Gesprächspartner, aber auch Gegner3 Gadamers auf dem Weg zu den Grundzügen einer philosophischen Hermeneutik. Verstehen, welche Antworten Gadamer mit „Wahrheit und Methode“ auf die Fragen des Verstehens geben wollte, kann man folglich nur aus dem Zusammenhang seiner Auseinandersetzung mit Dilthey. Die folgenden Ausführungen stellen damit einen gedanklichen Umweg dar, denn sie werden nicht selbst die für die Rechtswissenschaften relevanten Erkenntnisse von „Wahrheit und Methode“ offenbaren, führen aber auf sie zu. Es wird darum gehen, die Vorbereitungen darzustellen, aus denen Gadamers Hauptwerk hervorgegangen ist. Diltheys Schaffen war geprägt von dem Vorsatz, Kants „Kritik der reinen Vernunft“ eine „Kritik der historischen Vernunft“ zur Seite zu stellen und den Geisteswissenschaften so eine erkenntnistheoretische Rechtfertigung zu verschaffen, die ihre Wissenschaftlichkeit zu begründen vermöge4. Eine geschlossene Konzeption einer Hermeneutik hat Dilthey Zeit seines Lebens nicht vorgelegt. Die folgende Darstellung der Auseinandersetzung Gadamers mit Diltheys hermeneutischem Denken wird diese Unabgeschlossenheit offenbaren und sie wird einen Hinweis auf die Gründe für das Scheitern geben. In allen Versuchen und Ab­ brüchen Diltheys auf der Suche nach der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung 1 Vgl. Jung, Dilthey. Zur Einführung, S. 7. Es ging Gadamer immer darum, ausgehend von Dilthey, jedoch in Abgrenzung zu ihm, eine andere Hermeneutik zu entwickeln, wobei dieser ein von Gadamer eindeutig selbst gewählter Hintergrund ist. In dieser Wahl, so attestiert Gadamer es auch selbst, lag sicherlich etwas Einseitiges. Vgl. Gadamer, Zwischen Phänomenologie und Dialektik. Versuch einer Selbstkritik, in: GW 2, S. 3. 2 So auch Jung, Dilthey zur Einführung, S. 7. Das obwohl das Wort „Hermeneutik“ selbst im Werk Diltheys nur selten Verwendung findet. 3 Vgl. Grondin, Einführung zu Gadamer, S. 103. Gleichzeitig hat Gadamer bei Dilthey vieles vorgefunden, von dem aus er seinen eigenen Ansatz entwickelt hat. Vgl. Grondin, Einführung zu Gadamer, S. 87. 4 Vgl. Dilthey, Die dichterische und philosophische Bewegung in Deutschland, in: Gesammelte Schriften, V. Bd., S. 12 (27).

I. Diltheys „Kritik der historischen Vernunft“

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der Geisteswissenschaften wird zu Tage treten, dass er in die Aporien des Historismus5 verstrickt war. Diese Aporien6 haben ihren Ursprung letztlich in der Verbindung zweier Motive bei Dilthey: In der Anerkennung und Herausstellung der Bedingtheit des menschlichen Daseins im Hinblick auf unhintergehbare Überformungen wie „Leben“ und „Geschichte“ und andererseits in dem Bestreben diese Überformungen zu überwinden und damit doch zu hintergehen. I. Diltheys „Kritik der historischen Vernunft“ Im Werk Wilhelm Diltheys sind es also die Versuche um eine erkenntnistheoretisch-philosophische Grundlegung der Geisteswissenschaften, mit denen sich Gadamer kritisch auseinandersetzt. Diltheys Ziel war es, „zwischen historischer Erfahrung und idealistischem Erbe der historischen Schule eine neue erkenntnistheoretisch tragfähige Grundlage“7 für die Geisteswissenschaften zu finden. Aus diesem Blickwinkel erklärt sich Diltheys wissenschaftliches Leitmotiv, Kants „Kritik der reinen Vernunft“ eine „Kritik der historischen Vernunft“ ergänzend zur Seite zu stellen und es erklärt sich, wieso Gadamer auf seiner eigenen Suche nach einer Lösung das Problems, welches die Geisteswissenschaften in der Philosophie darstellen, in eine Auseinandersetzung mit den Gedanken Diltheys eingetreten ist. Das besondere Verdienst Diltheys sieht Gadamer darin, das erkenntnistheoretische Problem, welches die „historische Weltansicht gegenüber dem Idealismus impliziert“8, erkannt zu haben. Allein, es ist Dilthey nicht gelungen, das Problem aufzulösen, vielmehr findet es bei ihm eine „eigene Zuspitzung“9. Wie also stellt sich das Problem dar, das Dilthey dazu bewog, eine Kritik der historischen Vernunft als Gegenstück der Kantischen Kritik schaffen zu wollen?

5 Vgl. den Titel des Kapitels in dem sich Gadamer mit Dilthey auseinandersetzt: „Diltheys Verstrickung in die Aporien des Historismus“, WM, S. 222. 6 Vgl. Grondin, Einführung zu Gadamer, S. 103 ff. 7 Gadamer, WM, S. 223. 8 Gadamer, WM, S. 222. 9 Gadamer, WM, S. 223.

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C. Die Aporien des Historismus: Gadamers Dilthey-Interpretation 

II. Das Problem der historischen Vernunft – Die Überwindung Hegels und das Zurückgeworfensein auf Kant Durch die Kritik der historischen Schule gegenüber dem deutschen ­Idealismus haben für Dilthey sowohl die „ästhetisch-pantheistische Identitätsphilosophie Schleiermachers“10 als auch „Hegels geschichtsphilosophisch integrierte Meta­ physik“11 ihre Gültigkeit verloren. Die Abkehr von der Hegelschen Philosophie insbesondere im Hinblick auf dessen Bestreben, die Vernunft in der Geschichte aufzuweisen, ließ letztere vor allem in erkenntnistheoretischer Hinsicht zu einem Problem werden und zwar zu dem „Problem der Geschichtlichkeit [H. d. V.]“12. Mit der Diskreditierung des Hegelschen Systems wurde die bis dato selbstverständliche Vorstellung von der Übereinstimmung von Logos und Sein zerstört. Die Einsicht, dass auch geschichtliche Erkenntnis eine Sache der Erfahrung ist, verwies zurück auf die Kantische Kritik. Schließlich war von nun an die Geschichte ebenso wie die Natur nicht mehr als eine Erscheinungsweise des Geistes anzusehen. Somit war es fraglich geworden, wie der menschliche Geist im Feld der Geschichte zu Erkenntnis zu kommen vermag.13 Dieses Problem wurde, so die Kritik Diltheys, von der historischen Schule durch eine unkritische Verbindung der historischen Weltsicht mit dem deutschen Idealismus einfach übergangen14. Im Gegensatz zum Neukantianismus, so meint Gadamer, habe Dilthey richtig gesehen, dass sich die Konstruktion der Naturerkenntnis nicht einfach auf die Geisteswissenschaften übertragen lasse15, insbesondere weil sich im Bereich historischer Erfahrung nicht das Problem der Vermittlung von Außenwelt und Erkenntnissubjekt stellt. Die „geschichtliche Außenwelt“ und das Erkenntnissubjekt sind durch die Annahme, dass der Mensch selbst ein geschichtliches Wesen ist, immer schon vermittelt. Dilthey stellt in diesem Zusammenhang fest, dass derjenige, „welcher die Geschichte erforscht, derselbe ist, der die Geschichte macht“16. Mit dieser Annahme wird schon die Idee von einer „Außenwelt“ im Bereich der geschichtlichen Erfahrung überwunden. Das Problem der Vermittlung entfällt damit. Und Dilthey wird noch deutlicher, macht einen Schritt, mit dem er sehr viel von dem vorweggenommen hat, was für Gadamers Grundlegung der Geistes­wissenschaften eine entscheidende Rolle spielen wird, wenn er ausführt:

10

Gadamer, WM, S. 222. Gadamer, WM, S. 222. 12 Gadamer, Das Problem der Geschichte in der neueren deutschen Philosophie, in: GW 2, S. 27 (28). 13 Vgl. Gadamer, WM, S. 225. 14 Vgl. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 136, sowie Gadamer, Das Problem des historischen Bewusstseins, S. 17; Gadamer, WM, S. 223. 15 Vgl. Gadamer, WM, S. 225. 16 Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 347. 11

III. Diltheys Weg zur Hermeneutik

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„Ich erlebe meine Zustände selber, ich bin in die Wechselwirkungen der Gesellschaft verwebt als ein Kreuzungspunkt der verschiedenen Systeme derselben. Diese Systeme sind eben aus derselben Menschennatur hervorgegangen, die ich in mir erlebe, an anderen verstehe. Die Sprache, in der ich denke, ist in der Zeit entstanden, meine Begriffe sind in ihr herangewachsen. Ich bin so bis in nicht mehr erforschbare Tiefen meines Selbst ein historisches Wesen.“17

Man könnte meinen, das Problem des erkenntnistheoretischen Fundaments für die Geisteswissenschaften sei damit gelöst. Jedoch fehlt noch etwas ganz Entscheidendes: Der geschichtliche Zusammenhang18, ein Sinnzusammenhang, der über den Erlebnishorizont des Einzelnen hinausgeht19. Die Diltheysche Argumentation gilt nur für das Erleben und Nacherleben des Einzelnen. „In der Geschichte handelt es sich [aber] nicht mehr um Zusammenhänge, die vom einzelnen als solche erlebt oder als solche von anderen nacherlebt werden“20. Vom Begriff des „Erlebnisses“ aus, der aus dem Begriff der „inneren Er­ fahrung“ hervorgegangen ist21, soll dieses Problem einer Lösung zugeführt werden. Dilthey sieht darin das vollständige Innesein, so vollständig, dass es nicht einmal gerechtfertigt sei, davon zu sprechen, dass im Erlebnis etwas besessen werde. „Das Erlebnis steht nicht wie ein Objekt dem Auffassenden gegenüber“.22 Die aller Wissenschaft vorausliegende Lebendigkeit ist sich in der inneren Erfahrung ihrer selbst inne. In solchem Innesein ist Realität für uns da, denn das Erlebnis tritt nicht als ein Wahrgenommenes oder Vorgestelltes auf, sondern die Realität des Erlebnisses ist dem Erlebenden in irgendeinem Sinn unmittelbar zugehörig23. Es ist also nicht zu trennen in Akt und Inhalt, wie es analog für die Naturerkenntnis nach dem Idealismus eine Trennung zwischen Bewusstsein und Gegenstand gibt24. Das Erlebnis ist unmittelbar gewiss. Daraus soll sich der Zusammenhang erkennen lassen, der die Geschichte ausmacht und ihre Erkenntnis ermöglicht25. III. Diltheys Weg zur Hermeneutik Nun lässt sich deutlich machen, warum Gadamer den ersten Abschnitt des ­ apitels mit dem Titel „Diltheys Verstrickung in die Aporien des Historismus“ K mit der Überschrift „Vom erkenntnistheoretischen Problem der Geschichte zur 17

Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 347. Vgl. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 357. 19 Vgl. Gadamer, Hermeneutik und Historismus, in: GW 2, S. 387 (388). 20 Vgl. Gadamer, WM, S. 226. 21 Vgl. Anz, Hermeneutik der Individualität – Wilhelm Diltheys hermeneutische Position und ihre Aporien, in: Birus, Hermeneutische Positionen, S. 67. 22 Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 168. 23 Vgl. Anz, Hermeneutik der Individualität – Wilhelm Diltheys hermeneutische Position und ihre Aporien, in: Birus, Hermeneutische Positionen, S. 67. 24 Vgl. Gadamer, WM, S. 227. 25 Vgl. Gadamer, WM, S. 227. 18

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C. Die Aporien des Historismus: Gadamers Dilthey-Interpretation 

hermeneutischen Grundlage der Geisteswissenschaften“ versieht. Der geschicht­ liche Zusammenhang, den Dilthey aufzuweisen sucht, ist ein fremder Text, zu dessen Entzifferung die Hermeneutik beitragen muss26. Es geht hier also um den geschichtlichen Zusammenhang, den Dilthey mithilfe der Hermeneutik zu suchen scheint, denn an diesem Punkt kommen laut Gadamer bei Dilthey Einsichten zum Tragen, die aus der romantischen Hermeneutik herrühren. Es handelt sich dabei um den hermeneutischen Zirkel, nach dem das Einzelne aus dem Zusammenhang und der Zusammenhang aus dem Einzelnen zu verstehen seien. Der Begriff der Struktur, der bedeutend wird als „Strukturzusammenhang des Lebens“, lässt sich genau so bestimmen, wie es die romantische Hermeneutik für die Textinterpretation vorgemacht hat. „Jeder Teil dieses Strukturzusammenhangs des Lebens drückt etwas vom Ganzen des Lebens aus, hat also eine Bedeutung für das Ganze, wie seine eigene Bedeutung von diesem Ganzen her bestimmt ist. Für den Lebenszusammenhang gilt das hermeneutische Prinzip der Textinterpretation genau so, weil in ihm in gleicher Weise die Einheit einer Bedeutung vorausgesetzt wird, die in allen seinen Teilen zum Ausdruck kommt.“27

An dieser Stelle müsste es zu dem für Diltheys Forschungsziel der erkenntnistheoretischen Fundierung der Geisteswissenschaften entscheidenden Schritt kommen. Wie bereits angedeutet ist die entscheidende Frage, wie aus dem „Aufbau des Zusammenhangs in der Lebenserfahrung des einzelnen“ der „geschichtliche Zusammenhang“28 nachweisbar wird, der „nicht als solcher in einem Kopf hervorgebracht wird, der also weder direkt erlebt ist, noch auf das Erlebnis einer Person zurückgeführt werden kann“29. Dilthey gesteht sich hier, trotz aller Kritik an derselben, ein wenig Spekulation zu. An die Stelle von wirklichen Subjekten seien hier „logische Subjekte“30 zu setzen, was nicht unstatthaft sei, da sich eine Zusammengehörigkeit der Individuen in Generationen, Nationen o.ä. in Form einer seelischen Wirklichkeit darstelle, die man so anerkennen müsse. Über solche Subjekte lassen sich nach Dilthey Aussagen machen, der Historiker verfahre schließlich ständig derart, „wenn er von den Taten und Geschicken der Völker spricht“31. Liest man dies vor dem Hintergrund eines Wissens um die Fragen, die Dilthey sich selbst gestellt hat und zu beantworten trachtete, nämlich die nach der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung der Geisteswissenschaften, so kommen Zweifel auf, ob darin wirklich die angestrebte Lösung des Problems liegt. Denn die Beob­ achtung, dass der Historiker Aussagen über die „Geschicke der Völker“ macht, heißt noch nicht, dass es sich dabei um Erkenntnis handelt, sonst bedürfte es einer 26

Vgl. Gadamer, Hermeneutik und Historismus, in: GW 2, S. 387 (388). Gadamer, WM, S. 228. 28 Gadamer, WM, S. 228. 29 Dilthey, Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geistes­ wissenschaften, in Gesammelte Schriften, VII. Bd., S. 282. 30 Dilthey, Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geistes­ wissenschaften, in Gesammelte Schriften, VII. Bd., S. 282. 31 Gadamer, WM, S. 228. 27

III. Diltheys Weg zur Hermeneutik

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erkenntnistheoretischen Rechtfertigung erst gar nicht. Und genau so ist es auch. Die erkenntnistheoretische Rechtfertigung derartiger Aussagen unterbleibt nicht nur zunächst. Darüber, worin sie zu finden sei, ist Dilthey letztlich nie zu einer klaren Lösung gekommen32. 1. Aufklärung des Zusammenhangs vom Phänomen des Verstehens Es lohnt sich dennoch der Entwicklung von Diltheys Philosophie weiter nachzugehen, weil sie die Fragen aufwirft, auf die Gadamer Antworten geben wollte. Gadamer konstatiert, dass Dilthey das besagte Problem vom Phänomen des Verstehens aus aufzuklären gedachte33. Das Verstehen bestimmt er als eine Rückbewegung, von der im Ausdruck vorliegenden Lebensäußerung zurück zu ihrer Entstehung: „Den Vorgang, in dem wir aus Zeichen, die von außen gegeben sind, ein Inneres erkennen, nennen wir Verstehen“34. Dabei muss der Verstehende sich „hineinversetzen“ und so den umgekehrten Weg der Entstehung des Ausdrucks noch einmal gehen. Es handelt sich dabei um ein schon von Schleiermacher her bekanntes Motiv. Der Erfolg hängt dabei davon ab, wie umfangreich es gelingt, objektive und subjektive Umstände, unter denen die Äußerung gemacht wurde, zu rekonstruieren35. Hier wird für Dilthey der Begriff des Ausdrucks von Bedeutung, der es ihm erlauben soll, die schon aus den „Ideen“36 bekannte Trennung zwischen Natur­ erkenntnis und geisteswissenschaftlicher Erkenntnis aufrecht zu erhalten, die sich durch das Heraushalten von kausalen Erklärungsversuchen aus dem Bereich der Geisteswissenschaften ergeben soll37. Die „Struktur“ ist also von einem bloßen Kausalzusammenhang zu unterscheiden. Diese Unterscheidung festzuhalten war Dilthey stets ein Bedürfnis und es war ein Unterfangen, für das er Anleihen bei Husserl genommen hat38. Nach dem Grundsatz der Husserlschen Phänomenologie, der Lehre von der Intentionalität des Bewusstseins, ist „Bewusstsein Bewusstsein von etwas [H.d.V.]“39. Das Bewusstsein als ein auf etwas Bezogenes ist mit diesem Bezugspunkt untrennbar verbunden. Diese „Gerichtetheit des Ichs auf etwas“40, lässt deut 32

Vgl. Gadamer, WM, S. 228. Vgl. Gadamer, WM, S. 228. 34 Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 373 f. 35 Vgl. Kurt, Hermeneutik – Eine sozialwissenschaftliche Einführung, S. 138. 36 Dilthey, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, in Gesammelte Schriften, V. Bd., S. 139. 37 Vgl. zu der für Dilthey so wichtigen Unterscheidung auch Kurt, Hermeneutik – Eine sozialwissenschaftliche Einführung, S. 131 f. 38 Vgl. Gadamer, WM, S. 229. 39 Husserl, Phänomenologische Psychologie, in: Husserliana, Bd. IX, S. 47. 40 Kurt, Hermeneutik – Eine sozialwissenschaftliche Einführung, S. 142. 33

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C. Die Aporien des Historismus: Gadamers Dilthey-Interpretation 

lich werden, dass es „ohne Welt kein Ich und ohne Ich keine Welt“41 gibt. Erst mit dieser Auffassung gelang es Dilthey aufzuweisen, worin sich Struktur von Kausalzusammenhang unterscheidet42. Es handelt sich bei dem Begriff der Struktur eben nicht nur um ein Muster, welches das Nachher aus dem Vorher erläutern soll. Vielmehr kommt zu dem, was auf die „psychische Struktur“, wie zum Beispiel die Individuen wirkt, noch etwas hinzu, nämlich in diesem Beispiel das Individuum selbst. Wenn das Individuum seine „Anlage entfaltet“43, so stößt es dabei auf die, wie Gadamer es nennt, „bedingende Wirkung der Umstände“44 und bildet so noch seine Individualität aus. Begriffe wie Struktur oder Bedeutung erscheinen Dilthey durch Husserl legitimiert. Einerseits, weil durch die Lehre von der Intentionalität des Bewusstseins diese eine andere Ursprünglichkeit erfahren und somit die Notwendigkeit, sie aus anderen Elementen abzuleiten entfällt. Andererseits, weil die Ansicht als überwunden angesehen werden kann, man müsse das Bewusstsein atomistisch und damit eben kausal erklären.45 Allerdings analysiert Gadamer in Diltheys Denken eine Umformung der ursprünglichen Husserlschen Gedanken. Dessen „Idealität der Bedeutung“46 sei schließlich „das Ergebnis rein logischer Untersuchungen“47 gewesen, wohingegen Dilthey die Bedeutung als einen Ausdruck des Lebens auffassen wird. 2. Hermeneutik im Leben und historische Weltsicht – Diltheys Nähe zu Hegel Dilthey bleibt laut Gadamer aber mit seiner „Grundlegung der Hermeneutik im Leben“48 auf dem Boden der historischen Weltsicht stehen. Diese Grund­legung der Hermeneutik ergibt sich aus Diltheys Grundlegung der „Philosophie im Leben“49, und sie hat damit eine echte Funktion, wird also nicht bloß als überkommener Begriff mitgetragen. Sie stellt sich dar als eine Gegenkonzeption einer „Metaphysik der Individualität“50, weil Individualität eben nicht als eine ursprüngliche Idee gedacht wird, sondern sich erst durchsetzen muss und durch den Wirkungsverlauf ihre Grenzen erfährt51. Gadamer wirft nun die Frage auf, ob Dilthey mit der „Grundlegung der Hermeneutik im Leben“ wirklich der Absprung von den „im-

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Kurt, Hermeneutik – Eine sozialwissenschaftliche Einführung, S. 142. Vgl. Gadamer, WM, S. 229. 43 Gadamer, WM, S. 229. 44 Gadamer, WM, S. 229. 45 Vgl. Gadamer, WM, S. 229 f. 46 Gadamer, WM, S. 230. 47 Gadamer, WM, S. 230. 48 Gadamer, WM, S. 230. 49 Gadamer, WM, S. 230. 50 Gadamer, WM, S. 230. 51 Vgl. Gadamer, WM, S. 230. 42

III. Diltheys Weg zur Hermeneutik

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pliziten Konsequenzen der idealistischen Metaphysik gelingt“52. An diesem Punkt stellt sich die Frage, wie sich eine Verbindung zwischen Individuum und objektivem Geist53 denken lässt, bei welcher der Geist dem Individuum vorausgeht und es übersteigt. Darin meint Gadamer liege der Kern der Bestimmung möglicher Erkenntnis der Geschichte: „Denn der Mensch in der Geschichte ist gleichfalls durch das Verhältnis von Individualität und objektivem Geist von Grund auf bestimmt“54. Im Zusammenhang mit der Bestimmung dieses Verhältnisses kommt wieder der bereits angesprochene Vorzug der Geisteswissenschaften zum Tragen, den Vico ihr zusprach. An dieser Stelle findet sich in der Auseinandersetzung Gadamers mit Dilthey ein Punkt, der für Gadamers Gegenargumentation von entscheidender Bedeutung werden wird. In dem angesprochenen Verhältnis zwischen Individualität und objektivem Geist wirken einerseits die eigenen Kräfte des Individuums, aber andererseits auch die Widerstände, auf die es trifft. Das geschichtliche Wesen, das auf die formenden Umstände der Wirklichkeit trifft, ist in diesem Moment schon keine leere Hülle, sondern enthält etwas von der Geschichte, die die Formung mitbestimmt. Wenn sich das geschichtliche Wesen derart bestimmt, dass man den Gedanken des Fremden im Bereich der hier besprochenen Erkenntnisweise wegdenken und die Geschichte vielmehr als eine ursprüngliche Gegebenheit ansehen muss, dann wird das geschichtliche Wesen bei der Betrachtung der Geschichte nicht nur die Erfahrung von formenden Widerständen machen, sondern es wird dabei auch von geschichtlichen Wirklichkeiten getragen.55 Die geschichtlichen Wirklichkeiten stellen selbst die Grenzen der Formung. In ihnen drückt das Individuum immer auch sich selbst aus und findet sich selbst in dem Betrachteten wieder. Sie sind „Objektivationen des Lebens“56. Wenn also die Geschichte des geschichtlichen Wesens eigene Geschichte ist und sie sich ganz ursprünglich in ihm findet (weil nämlich der, der sie erkennt, der ist, der sie macht), ohne dass man in diesem Verständnis einen Funken von Dichotomie denken darf, dann trägt das geschichtliche Wesen sich in der Geschichte, anstatt dass es nur die Geschichte in sich trägt 57. Dieser Punkt ist für das methodische Verständnis der Geisteswissenschaften von großer Bedeutung, denn das Gegebene wird hier zu etwas ganz anderem als im Bereich

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Gadamer, WM, S. 230. Dilthey versteht unter objektivem Geist „die mannigfachen Formen, in denen die zwischen den Individuen bestehende Gemeinsamkeit sich in der Sinneswelt objektiviert hat“. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 256. 54 Gadamer, WM, S. 230 f. 55 Vgl. Gadamer, WM, S. 231. Hier findet sich eine erste Andeutung dafür wie Gadamer zeigen will, dass das Wissen von der Geschichte wegen der Geschichtlichkeit des Erkenntnissubjekts die begehrte Objektivität nicht erlangen kann. 56 Gadamer, WM, S. 231. 57 Damit ist die Frage aufgeworfen, wie dann die Geschichte in der man sich trägt abgestreift werden soll. 53

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C. Die Aporien des Historismus: Gadamers Dilthey-Interpretation 

der Naturwissenschaften. Darin begründet sich die Universalität, mit der sich nach Dilthey „das Verstehen der geschichtlichen Welt bemächtigt“58. Gadamer hält es jedoch für fraglich, ob auf diesem Fundament der Übergang von einem psychologischen zu einem hermeneutischen Verständnis der Geisteswissenschaften wirklich gelingen kann oder ob sich nicht vielmehr darüber die Differenz auflöst, die die historische Weltsicht gegenüber dem Idealismus reklamiert hat59. Gadamer meint in den hier angesprochenen Gedanken Diltheys nicht nur Fichte, sondern „bis in die Worte hinein“60 Hegel hören zu können. Wenn Dilthey von der „gedankenbildenden Arbeit des Lebens“61 spricht, so finde sich darin, wenn es in Bezug auf die Gedanken, die es bildet, verstanden wird, ein teleologisches Deutungsschema wieder und das „Leben“ wird aufgefasst als Geist. Wie, so fragt sich Gadamer, muss man nun die Diltheysche Kritik an Hegels Vernunftglauben, an seiner spekulativen Konstruktion der Weltgeschichte oder an seiner aprioristischen Ableitung aller Begriffe aus der dialektischen Selbstentfaltung des Absoluten verstehen, wenn Dilthey selbst doch dem objektiven Geist eine derart entscheidende Rolle zuspricht? 62 Dilthey wendet sich gegen die ideelle Konstruktion des objektiven Geistes bei Hegel und meint, „wir müssen heute von der Realität des Lebens ausgehen“63 und „wir suchen diese zu verstehen und in adäquaten Begriffen darzustellen“64. Dabei soll der objektive Geist aus der Vernunft die das Wesen des Weltgeistes ausspricht und in der er vormals begründet lag, herausgelöst werden, ebenso wie er seine ideelle Konstruktion verlieren soll. Der objektive Geist erfährt dadurch eine Ausdehnung: „In ihm sind, Sprache, Sitte, jede Art von Lebensform, von Stil des Lebens ebenso gut umfasst, wie Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat und Recht. Und nun fällt auch das, was Hegel als den absoluten Geist vom objektiven unterschied: Kunst und Religion und Philosophie unter diesen Begriff.“65

Darin findet sich endlich der Gegensatz zwischen Dilthey und Hegel, der als einziger übrig bleibt. Für Hegel bedeutete der philosophische Begriff die Vollendung der Heimkehr des Geistes. In Kunst, Religion und Philosophie ist der Geist ganz bei sich selbst zu Haus und in ihm nichts Fremdes mehr.66 Dilthey hin­gegen spricht dem philosophischen Begriff nicht Erkenntnis-, sondern Ausdrucksbedeutung zu. Er ist nicht unmittelbare Wahrheit sondern „Ausdrucksform des Lebens“67. 58

Gadamer, WM, S. 231. Vgl. dazu Gadamer, WM, S. 201–222. 60 Gadamer, WM, S. 231. 61 Gadamer, WM, S. 232. 62 Vgl. Gadamer, WM, S. 232. 63 Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 183. 64 Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 183. 65 Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 183. 66 Vgl. Gadamer, WM, S. 233. 67 Gadamer, WM, S. 233. 59

III. Diltheys Weg zur Hermeneutik

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Allerdings fragt Gadamer weiter, ob es damit sein Bewenden hat, oder ob nicht Dilthey doch noch so etwas wie den absoluten Geist denken muss, wo völlige Selbstdurchsichtigkeit vorherrscht, ohne so etwas wie „Fremdheit“68 oder „An­ derssein“69. Und in der Tat gibt es so etwas ganz selbstverständlich im Denken Diltheys, nur findet er es nicht mehr in der spekulativen Philosophie sondern im geschichtlichen Bewusstsein70. Das geschichtliche Bewusstsein fasst alle Erscheinungen der menschlich-geschichtlichen Welt nur als Gegenstände auf, die dazu dienen, dass der Geist sich an ihnen selbst tiefer erkennt71. Wenn diese Gegenstände erkannt werden als „Objektivationen des Geistes“, so findet eine Rückübersetzung statt in die geistige Lebendigkeit aus der sie hervorgegangen sind. Dadurch findet eine Ausbreitung des geschichtlichen Bewusstseins ins Universelle statt, weil alle Gegebenheiten der Geschichte verstanden werden als Äußerung des Lebens, dem sie entstammen: „Leben erfasst hier Leben“72. Das historische Bewusstsein vollzieht damit also den Schritt zu einer Selbstbegegnung des menschlichen Geistes in der Überlieferung, und selbst die Philosophie wird nur noch ein Ausdruck des Lebens, nicht mehr Erkenntnis durch Begriffe. Es bleibt ihr, philosophisch zu begründen, dass es im Leben Philosophie gibt. Sie wird so zu einer „Philosophie der Philosophie“ 73, und in ihr vollendet sich die „geschichtliche Überwindung der Metaphysik“74. Der Vorteil, den eine solche Auffassung mit sich bringt, ist der, dass sich in ihm der Wandel der Weltanschauungen aus der „Mehrseitigkeit des Lebens“75 erklären lässt76. Vielleicht liegt darin aber auch gleichzeitig ein gewichtiger Nachteil. Für Gadamer bleibt damit nämlich die entscheidende Frage offen: Vermag das geschichtliche Bewusstsein den Platz, den Dilthey ihm zuweist, wirklich auszufüllen? Stellt die erkenntnistheoretische Erleichterung, die die Geisteswissenschaften nach Dilthey in Anlehnung an Vico genießen, wirklich eine Erleichterung dar? Das Konzept von Geisteswissenschaften, die sich objektiv verstehen, könnte genau an diesem Punkt scheitern. a) Das Problem des historischen Bewusstseins Zunächst einmal stellt sich die Frage, ob die Formel Vicos überhaupt richtig ist. Das Problem ist schon mehrfach angedeutet. Unter anderem verweist Gadamer schon früh, wenn auch sehr subtil, in einer Fußnote auf die Frage, die sich seines 68

Gadamer, WM, S. 233. Gadamer, WM, S. 233. 70 Vgl. Gadamer, WM, S. 233. 71 Vgl. Gadamer, WM, S. 233. 72 Gadamer, WM, S. 233. 73 Gadamer, WM, S. 233 f. 74 Gadamer, WM, S. 233 f. Vgl. Dilthey, Das Wesen der Philosophie, in: Gesammelte Schriften, V. Bd., S. 339 (356). 75 Gadamer, WM, S. 234. 76 Vgl. Dilthey, Das Wesen der Philosophie, in: Gesammelte Schriften, V. Bd., S. 339 (364). 69

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C. Die Aporien des Historismus: Gadamers Dilthey-Interpretation 

Erachtens stellt, wenn man das Verhältnis des Menschen zu seiner Geschichte derart auffasst, indem er fragt; „Aber wer macht eigentlich die Geschichte?77„ Wenn der geschichtliche Mensch mit seiner Geschichte im Diltheyschen Sinne untrennbar verbunden ist, dann wird fraglich, ob der Vorteil der Erklärbarkeit von sich wandelnden Weltanschauungen nicht in eine Aporie umschlägt. Gadamer drückt das folgendermaßen aus: „Aber wenn das Leben die unerschöpflich-schöpferische Realität ist, als die es Dilthey denkt, muss dann nicht die beständige Wandlung des Bedeutungszusammenhanges der Geschichte ein Wissen, das Objektivität erreicht, ausschließen?“78

Darin liegt auch der Zweifel gegenüber dem Gedanken eines geschichtlichen Bewusstseins, das die Geschichte macht, begründet, denn man wird wohl in einem solchen fließenden Bedeutungszusammenhang, in dem man von der Geschichte getragen, das heißt eben auch von ihr gemacht wurde, von einem planvoll lenkenden „Machen“ nicht mehr sprechen können. Geht man in der Geschichte einen Schritt zurück, so führt der Weg der Entwicklung immer auf einen selbst zu und vollendet sich im eigenen Gewordensein. Mit dem Wort vom Getragensein, will ausgedrückt werden, dass die Geschichte nicht zu sich selber kommen kann, weil ihre Geschichtlichkeit in einem Explikations- und Entwicklungsgang aufgehoben ist79. Wie ist also mit der Einsicht umzugehen, dass der, der die Geschichte „macht“, auch der ist, den die Geschichte macht80? b) Erkenntnis als Selbsterkenntnis Verfolgt man das Ziel, die Objektivität in den Geisteswissenschaften aufzuweisen, dann kann man das gerade aufgezeigte Problem nur lösen, indem man darlegt, wie sich eine Loslösung von der eigenen Gewordenheit im Historischen vollziehen kann. Es muss also möglich sein, dass der Betrachter (s)einer Überlieferung, die Teil von ihm und deren Teil er ist, einen Schritt zur Seite tritt und seinen eigenen Standpunkt überwindet, standpunktfrei wird, während er das betrachtet, was sich ihm so als Verstehensobjekt darstellt. Konsequenterweise findet sich ein solcher Gedanke bei Dilthey. Der Anspruch des historischen Bewusstseins war, zu allem einen „wahrhaft historischen Stand-

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Gadamer, WM, Fn. 92, S. 226. Darüber hinaus zeigte sich das Problem im Zusammenhang mit dem „Getragensein durch die Geschichte“, findet in den folgenden Bemerkungen Gadamers aber seine deutlichste Darstellung. 78 Gadamer, WM, S. 235. 79 Vgl. Anz, Hermeneutik der Individualität – Wilhelm Diltheys hermeneutische Position und ihre Aporien, in: Birus, Hermeneutische Positionen, S. 64. Gadamer, WM, S. 223. 80 Genau auf diese Frage wird der hermeneutische Zirkel, wie Gadamer ihn in Anknüpfung an Heidegger versteht, eine Antwort geben.

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punkt zu haben“81. Mit einem ausgebildeten historischen Sinn erhebt es sich über die Vorurteile der eigenen Gegenwart. So erlaubt die Anwendung des hermeneu­ tischen Schemas, nach dem ein Strukturzusammenhang und eine Zeit aus sich selbst zu verstehen seien, die Erkenntnis immer weiterer geschichtlicher Zusammenhänge, bis zur universalgeschichtlichen Erkenntnis.82 Die Lehre von der Struktur sollte dazu dienen, die Relativität, die die eigene Gewordenheit an das Historische heranträgt, zur Objektivität zu überwinden83. Unter der Voraussetzung einer Auslöschung der eigenen geschichtlichen Situation seitens des Historikers kann die Lehre von der Struktur nun dazu dienen, jeden historischen Moment aus sich selbst zu verstehen, so wie es die historische Weltsicht fordert, und dieser kann – nach dem alten hermeneutischen Prinzip – aus seiner Mitte heraus verständlich werden84. Gadamer sieht darin einen Austausch der „epischen Selbstvergessenheit eines Ranke“85 gegen ein allseitiges und unendliches Verstehen des historischen Bewusstseins. Dabei bleibt fraglich, ob nicht die Einsicht in die Bedeutung der Endlichkeit des menschlichen Daseins ein Verstehen, das Unendlichkeit beansprucht von vorneherein ausschließt86? Jedoch, so stellt Gadamer fest, auch wenn Dilthey gegenüber Hegel auf das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit verwiesen hat, das es festzuhalten gelte, so hat er damit nicht den Umkehrschluss legitimieren wollen. Gadamer nennt es treffend, dass für Dilthey das „Bewusstsein der Endlichkeit keine Verendlichung des Bewusstseins“87 bedeutete. Gegenüber Hegel ging es für Dilthey darum, dass besagte Unendlichkeit ihre Aktualisierung nicht über die Spekulation, sondern durch die historische Vernunft erfährt. Das historische Verstehen überspannt danach alles Geschichtliche, weil es einen festen Halt in der „Totaliät und Unendlichkeit des Geistes“88 hat. Durch diese Ergänzung des Unendlichen zur „Enge und Subjektivität des Erlebens“89 werden die Grenzen möglicher Erkenntnis, die man in der Endlichkeit des menschlichen Wesens sehen könnte, zu bloß subjektiven Grenzen, weil „im Nacherleben der geschichtlichen Welt Unendlichkeit zugänglich ist“90. Dilthey hat also keine Beeinträchtigung seines Anspruchs, die Geisteswissenschaften auf eine objektive Grundlage zu stellen, darin gesehen, dass das Erkenntnissubjekt stand 81

Gadamer, WM, S. 235. Vgl. Gadamer, WM, S. 235. 83 Vgl. Gadamer, Das Problem des historischen Bewusstseins, S. 18 sowie Gadamer, WM, S. 235. 84 Vgl. Gadamer, Das Problem des historischen Bewusstseins, S. 18. 85 Gadamer, WM, S. 236. 86 Vgl. Gadamer, WM, S. 236. Diesen Zwiespalt zwischen der eigenen Endlichkeit und dem Anspruch auf Unendliches aufzulösen wird man als einen ganz wesentlichen Aspekt des Bestrebens Gadamers in „Wahrheit und Methode“ ansehen müssen. 87 Gadamer, WM, S. 236. 88 Gadamer, WM, S. 236. 89 Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 173. 90 Gadamer, WM, S. 236. 82

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C. Die Aporien des Historismus: Gadamers Dilthey-Interpretation 

ortgebunden ist. Das historische Bewusstsein sollte es ermöglichen, sich über seine eigene Bedingtheit hinwegzusetzen, und somit Objektivität verbürgen. Wie das möglich sein soll, beantwortet Dilthey nicht explizit, aber man kann es aus seinem Werk herauslesen91. c) Freiheit trotz Gebundenheit Das historische Bewusstsein, das solche Möglichkeiten gewähren soll, kann zunächst einmal nicht verstanden werden als ein absolutes Wissen im Hegelschen Sinne, das über allem geschichtlichen Bewusstsein thront. Einen solchen Anspruch eines philosophischen Bewusstseins, die ganze Wahrheit in sich zu enthalten, wollte die historische Weltsicht nicht mehr gelten lassen.92 Vielmehr liegt im geschichtlichen Bewusstsein, so wie Dilthey es versteht, eine Art Über­ windung. Durch das Bewusstsein von der eigenen Endlichkeit vermag das geschichtliche Bewusstsein sich selbst zu verstehen und tritt damit heraus aus der Bewusstseinsgenealogie. Es ist damit nicht mehr „der unmittelbare Ausdruck einer Lebenswirklichkeit“93, sondern überwindet die Überlieferung mittels Reflexion und legt deshalb an die Geschichte nicht mehr einfach das eigene Verständnis des Lebens als Maß an. Es weiß um sich selbst. In diesem Wissen löst sich das alte, unreflektierte Bewusstsein auf, das nur eine naive Fortführung der Tradition war, in der es stand. Wenn man es so versteht, dann ist das historische Bewusstsein „eine Weise der Selbsterkenntnis“94. Dadurch zeichnet es sich aus und so lässt es objektive Erkenntnis trotz der eigenen Verstricktheit in den geschichtlichen Wirkungszusammenhang zu. Vom Leben aus soll nun verständlich werden, wie aus der Selbsterkenntnis das wissenschaftliche Bewusstsein erwächst. Das Ganze beruht auf dem Gedanken, dass im Leben selbst Wissen gelegen ist. Dieser Gedanke wurde bereits im Zusammenhang mit dem Innesein des Erlebnisses angesprochen, das schon eine Art „Rückwendung des Lebens auf sich selbst enthält“95. Wenn in allem menschlichen Ausdruck immer schon Wissen wirksam ist, dann wird ein Erschließen von Wahrheit aus eben diesem Wissen ermöglicht, denn der Mensch drückt sich in Formen des objektiven Geistes aus96. In den „großen sittlichen Gemeinsamkeiten“ findet sich ein fester Halt, auf den der Einzelne sich „gegenüber der fließenden Zufälligkeit seiner subjektiven Regungen versteht“97. Dieses Aufgehen in den Gemein­ samkeiten befreit den Menschen aus einem allzu starren Einzeldasein. 91

Vgl. Gadamer, WM, S. 239. Vgl. Gadamer, WM, S. 238. 93 Gadamer, WM, S. 239. 94 Gadamer, WM, S. 239. 95 Gadamer, Das Problem des historischen Bewusstseins, S. 22; Gadamer, WM, S. 239. 96 Vgl. Gadamer, WM, S. 240. 97 Gadamer, WM, S. 240. 92

III. Diltheys Weg zur Hermeneutik

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Es gilt für die Geisteswissenschaften nach Dilthey also, die subjektive Zufälligkeit des eigenen Standortes methodisch zu überwinden, weil sie dem historischen Bewusstsein zugänglich ist, um auf diese Weise zur Objektivität historischer Erkenntnis zu gelangen. Darin sah Dilthey eine echte Gemeinsamkeit zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften und nicht bloß eine Annäherung letzterer an erstere.98 In beiden ist „Erhebung über die subjektive Zufälligkeit der Beobachtung“99 der Leitfaden der Erkenntnis. Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass dies der grundsätzliche Ausgangspunkt jeder Bestimmung von Objektivität sein muss. Nur das Ausschalten der Subjektivität kann Objektivität verbürgen, schließlich war der Gedanke von Objektivität aus der Entdeckung der Subjektivität als ihr Gegenteil entstanden. Nur was folgt daraus, wenn sich zeigt, dass die subjektive Zufälligkeit überhaupt erst die Mittel der Erkenntnis zur Verfügung stellt? Nun hat nach Gadamer Dilthey durch die Charakterisierung des Zusammenhangs von Wissen und Leben als einer ursprünglichen Gegebenheit seine Position gegen Angriffe, insbesondere der idealistischen Reflexionsphilosophie, abgeschirmt, ohne dessen jedoch vollständig gewahr zu werden. Eigentlich hat die Rückführung der Philosophie auf die Urtatsache des Lebens die Suche nach einem widerspruchsfreien System von Aussagen und Begriffen hinter sich gelassen100, aber Dilthey hat die Konsequenzen seiner eigenen Position gegenüber der idealistischen Reflexionsphilosophie letztlich nicht festzuhalten vermocht101. Das äußert sich darin, dass er sich immer wieder mit dem von Seiten der Philosophie erhobenen Einwand des „Relativismus“ auseinandergesetzt hat und der Frage nachgegangen ist, wie trotz allen Relativismus’ Objektivität möglich ist102. Diltheys philosophische Selbstbesinnung „versteht die Philosophie auch noch als eine Objektivation des Lebens“103 und denkt so das Leben selbst zu Ende. Die Philosophie wird zur Metaphilosophie, zur „Philosophie der Philosophie“104, aber ohne aus der Einheit eines spekulativen Prinzips die allein mögliche Philosophie begründen zu wollen, sondern indem der Weg der historischen Selbstbesinnung fortgeschritten wird105. Das lässt den Vorwurf des Relativismus an der Diltheyschen Konzeption abprallen. Im Grunde überwindet der Gedanke von der „Immanenz des Wissens im Leben“106 den „Intellektualismus“, auf dem der Relativismuseinwand und die Reflexionsphilosophie des Idealismus beruhen107. 98

Vgl. Gadamer, WM, S. 240. Gadamer, WM, S. 240. 100 Vgl. Gadamer, Das Problem des historischen Bewusstseins, S. 21. 101 Vgl. Gadamer, WM, S. 240 f., sowie Gadamer, Das Problem des historischen Bewusstseins, S. 21 f. 102 Vgl. Gadamer, Das Problem des historischen Bewusstseins, S. 21. 103 Gadamer, WM, S. 241. 104 Gadamer, WM, S. 241. 105 Vgl. Gadamer, WM, S. 241. 106 Gadamer, WM, S. 241. 107 Vgl. Gadamer, WM, S. 241. 99

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C. Die Aporien des Historismus: Gadamers Dilthey-Interpretation 

Allerdings findet man bei Dilthey keine endgültige Antwort auf den Einwand des Relativismus, weil dieser Einwand ihn eigentlich nicht betraf. Diltheys Gedanken lassen sich diesbezüglich zusammenfassen unter der Formel: „Von der Relativität zu Totalität“108, weil Dilthey „mit dem Bewusstsein, ein Bedingtes zu sein“ sich immer schon von Relativität zu Relativität auf dem Weg zum Absoluten sah: Ein Widerspruch zwischen der erkenntnistheoretischen Besinnung zur Grund­ legung der Geisteswissenschaften und dem gleichzeitigen lebensphilosophischen Ansatz Diltheys, als dessen Grundlage Gadamer einen unaufgelösten Cartesianismus ansieht109. 3. Widerspruch von Lebensphilosophie und Cartesianismus im Denken Diltheys Descartes hatte in der Situation der sich selbst suchenden Neuzeit das Verlangen der Zeit nach einem neuen Organon der sicheren Erkenntnis aufgegriffen110. Auf dem Weg zu diesem neuen Organon und einem sicheren Fundament für das Wissen, dem einen letzten unbestreitbaren Satz, dem unbestreitbare Wahrheit und unbedingte Gewissheit zu eigen sein würden, galt es für Descartes zunächst alles zu bezweifeln, um so herauszufinden, woran sich nicht mehr zweifeln lässt111. Eben das wäre das erstrebte „fundamentum inconcussum“112. Und in der Tat findet Gadamer in Diltheys späten Aufzeichnungen einen Beleg für diesen Cartesianismus, der dort im Zweifel, dem berühmten cartesianischen Werkzeug des Denkens, seinen Ausdruck findet. Gadamer bezieht sich dabei auf Formulierungen Diltheys, in denen er von einer philosophischen Grundlegung fordert, sie müsse sich auf jedes Gebiet erstrecken, in welchem „das Bewusstsein das Autoritative abgeschüttelt hat und durch den Standpunkt der Reflexion und des Zweifels [H.d.V.] zu gültigem Wissen zu gelangen strebt“113. Allerdings meint Gadamer in diesen Formulierungen über die cartesianischen Wendungen, die unüberhörbar seien, noch etwas anderes entdecken zu können, wenn Dilthey fortfährt: „Überall führt das Leben zu Reflexionen über das, was in ihm gesetzt ist, die Reflexionen zum Zweifel, und soll sich diesem gegenüber das Leben behaupten, so kann das Denken erst endigen in gültigem Wissen.“114

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Gadamer, WM, S. 241. Vgl. Gadamer, WM, S. 241. 110 Vgl. Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, S. 77. 111 Vgl. Prechtl, Descartes – Eine Einführung, S. 72. 112 Gadamer, WM, S. 243. 113 Dilthey, Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften. Der psychische Strukturzusammenhang, in: Gesammelte Schriften, VII. Bd., S. 3 (6). 114 Dilthey, Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften. Der psychische Strukturzusammenhang, in: Gesammelte Schriften, VII. Bd., S. 3 (6). 109

III. Diltheys Weg zur Hermeneutik

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Hierin findet nicht mehr der methodische Zweifel eines Descartes seine Ausprägung, der sich gegen die nur scheinbaren Erkenntnisse der Philosophie gewandt hatte. Vielmehr richtet sich dieser Zweifel gegen die „Wirklichkeiten des Lebens“115. Wirklichkeiten des Lebens, das sind die Tradition von Sitte, die Religion oder das positive Recht, die es ausmachen. Ebendiese sollen nun der Zersetzung durch Reflexion anheimfallen und zu einer neuen Ordnung geformt werden116. Darin ist in der Tat ein Widerspruch zwischen Lebensphilosophie und erkenntnistheoretischer Rechtfertigung der Geisteswissenschaften zu sehen, wenn man bedenkt, dass die Tradition von Sitte, die Religion und das positive Recht auf einem „Wissen des Lebens von sich selbst beruhen“117. Wenn es Dilthey darum geht, mit Hilfe des Zweifels zu einer Zersetzung überkommener Ordnungen wie Sitte, Recht und Religion zu kommen, dann verfehlt sein erkenntnistheoretischer Ansatz seine eigene Lebensphilosophie, weil er aus dem Auge verliert, dass sich ein solcher Vorgang nur in einem Getragensein vollziehen kann, das seinen Ursprung aus den zu zersetzenden Ordnungen selber nimmt. Dieser Zweifel, diese Reflexion, aus der sich das Leben behaupten soll, wird damit zu einer Wendung des Lebens gegen sich selbst118, weil er dem Leben ebenso entspringt wie sein Objekt. Der Einfluss des Denkens auf das Leben entspringt nach Dilthey, und insofern stimmt Gadamer ihm durchaus zu, „aus der inneren Notwendigkeit, in dem unsteten Wechsel der Sinneswahrnehmungen, Begierden und Gefühle ein Festes zu stabilisieren, das eine stete und einheitliche Lebens­ führung möglich macht.“119

Dieses Denken aber vollzieht sich im Leben und in den Objektivationen des Geistes, die als Sitte, Recht und Religion den Einzelnen tragen, „sofern er sich der Objektivität der Gesellschaft hingibt“120. Von dieser Aporie ausgehend gilt es für Gadamer, eine neue Betrachtung anzustellen, darüber, was Tradition heißt und was sie leistet. Es sind eben diese Schwierigkeiten, auf die er eine Antwort gesucht hat, worauf im Folgenden noch genauer eingegangen wird. Festzuhalten bleibt zunächst, dass sich die Tradition nicht als ein zu vergegenständlichendes Objekt der

115

Gadamer, WM, S. 242. Vgl. Gadamer, WM, S. 242. 117 Gadamer, WM, S. 242. 118 Vgl. Gadamer, WM, S. 242. An dieser Stelle tritt schon die Neubewertung der Tradition auf, wie Gadamer sie gegenüber der Aufklärung, aber eben auch gegenüber dem Diltheyschen Historismus vornehmen will. Es handelt sich bei dieser Neubewertung um einen der Schlüsselgedanken der philosophischen Hermeneutik und nicht zuletzt um einen der Punkte, die am meisten an ihr kritisiert wurden. Hier ist darauf zu achten, auf welche Frage die Neubewertung der Tradition eine Antwort geben will, um die Gadamerschen Gedanken vor dem Hintergrund des Gesprächs mit Dilthey, aus dem sie entstanden sind, angemessen bewerten zu können. 119 Gadamer, WM, S. 242. Vgl. Dilthey, Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften. Der psychische Strukturzusammenhang, in: Gesammelte Schriften, VII. Bd., S. 3 (6). 120 Gadamer, WM, S. 242. 116

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C. Die Aporien des Historismus: Gadamers Dilthey-Interpretation 

Kritik darstellt, dem man teilnahmslos gegenüber treten kann. Selbst noch das Gegenübertreten ist eine Form der Teilhabe121. Dagegen erwartet Dilthey die Überwindung des Bezweifelbaren mit Hilfe der Wissenschaft erreichen zu können122. Dabei vermischt er allerdings die ver­ schiedenen Formen des Zweifels, respektive die verschiedenen Formen der Gewissheit. Die Gewissheit, die zu ergründen eine Philosophie des Lebens berufen wäre, nämlich die unmittelbare Lebensgewissheit, ist eine andere als die Gewissheit, die eine Reinigung durch einen methodischen Zweifel erfahren hat, der nichts gelten lassen will, was nicht vollständig unbezweifelbar ist. Letztlich ist der naturwissenschaftlich-cartesianischen Gewissheit schon gar kein Befallenwerden mit Zweifel mehr möglich. Die kritische Methodik kommt einem Zweifel immer schon zuvor.123 Der Unsicherheit im Leben, die Dilthey durchaus deutlich gespürt hat, soll ein solcher vorauseilender Zweifel gegenüber gestellt werden, um etwas Festes zu finden gegenüber den „furchtbaren Realitäten des Lebens“124. Auch in den Bereichen von Tradition, Sitte, Religion und Recht muss „der Geist aus sich selbst ein gültiges Wissen hervorbringen“125. Nicht die Einformung in Gesellschaft und Über­lieferung vermag das zu leisten. Mit seinen Bestrebungen das Autoritative abzuschütteln offenbart Dilthey, dass er ein Kind der Aufklärung ist126: Die philosophische Aufklärung findet ihre Vollendung in der historischen Aufklärung; wenn die wissenschaftlich ausgebildete Fähigkeit des Verstehens das Leben in seiner gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit so weit entschlüsseln soll, dass das Wissen darum trotz der letztendlichen Unergründbarkeit des Lebens Sicherheit und Festigkeit zu gewähren vermag127. Damit begreift Dilthey die Wissenschaften vom Leben letztlich als Betrachtungen eines „ich-fremden“128 Geschehens, so wie das ganz selbstverständlich zum Selbstverständnis der modernen Natur­ wissenschaften gehört. Alles Überkommene stellt sich in diesem Zusammen­hang

121

Genau das Gleiche gilt für das Recht, wie Savigny zu Recht betont hat – wenn auch aus ganz anderen Motiven und in einem anderen Zusammenhang. Man bedenke, dass auch das Recht zu den das Leben tragenden Objektivationen des Geistes gehört. Damit ist nicht weniger gesagt, als dass das menschliche Dasein ganz ursprünglich daran teilhat. Man kann also das Recht als vorformende Eingebundenheit des menschlichen Sich-Verstehens nicht einfach beliebig der Verwerfung unterziehen. 122 Vgl. Gadamer, WM, S. 243. 123 Vgl. Gadamer, WM, S. 243. 124 Gadamer, WM, S. 243. 125 Dilthey, Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften. Der psychische Strukturzusammenhang, in: Gesammelte Schriften, VII. Bd., S. 3 (6). 126 Vgl. Dilthey, Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften. Der psychische Strukturzusammenhang, in: Gesammelte Schriften, VII. Bd., S. 3 (4 ff.); Gadamer, WM, S. 243. 127 Vgl. Gadamer, WM, S. 243. 128 Gadamer, WM, S. 244.

III. Diltheys Weg zur Hermeneutik

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als opponierbar dar und durch den Zweifel der Zersetzung zugänglich129, Dilthey vollzieht damit eine „gegen das Leben laufende Bewegung“130. Der eigentliche Anknüpfungspunkt an die romantische Hermeneutik war dann für Dilthey die von Schleiermacher entwickelte Lehre vom Textverstehen, durch die vergangener Geist vergegenwärtigt und Fremdheit überwunden wird. Dilthey knüpft daran an, indem er die geschichtliche Welt als einen zu entziffernden Text auffasst.131 Das sollte helfen, die Differenz zu verdecken, die sich zwischen den modernen Naturwissenschaften und der geschichtlichen Erfahrung aufgetan hat, um so zu Objektivität und damit zur Ebenbürtigkeit der Geisteswissenschaften mit den Naturwissenschaften zu kommen132. Damit hat Dilthey eine Konsequenz gezogen, zu der sich die historische Schule nie ganz durchzuringen vermochte. Die Hermeneutik, die bei Schleiermacher noch ein Werkzeug war, wird nun zum universalen Medium des geschichtlichen Bewusstseins, durch das der Ausdruck und im Ausdruck das Leben selbst verstanden wird: „Wie die Buchstaben und Worte haben Leben und Geschichte einen Sinn“.133 Dilthey denkt somit letztlich „die Erforschung der geschichtlichen Vergangenheit als Entzifferung und nicht als geschichtliche Erfahrung“134. Gadamer meint, dass mit diesem Denken die „wesenhafte“, das heißt die eigene Geschichtlichkeit der Geisteswissenschaften vernachlässigt wird, weil sie auch für die romantische Hermeneutik nicht zum Gegenstand der Betrachtung wurde135. In dem Widerspruch von lebensphilosophischer Grundlegung und erkenntnistheoretischem Cartesianismus ist Dilthey dem Zwang des modernen Methodendenkens erlegen und hat damit die eigentliche Objektivität der Geisteswissenschaften verpasst136. Gadamer wird von diesem Ausgangspunkt versuchen, die „in den Geisteswissenschaften erreichbare Objektivität“137 angemessener zu beschreiben.

129 Vgl. Dilthey, Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften. Der psychische Strukturzusammenhang, in: Gesammelte Schriften, VII. Bd., S. 3 (4 ff.). 130 Gadamer, WM, S. 242. 131 Vgl. Gadamer, WM, S. 245. 132 Vgl. Gadamer, WM, S. 244. 133 Dilthey, Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geistes­ wissenschaften, in: Gesammelte Schriften, VII. Bd., S. 191 (291). 134 Gadamer, WM, S. 245. 135 Vgl. Gadamer, WM, S. 244 f. Schließlich war die romantische Hermeneutik textbezogen und der Text ist Begegnung mit dem Geist. 136 Vgl. Gadamer, WM, S. 246. 137 Gadamer, WM, S. 246. An dieser Stelle der Auseinandersetzungen Gadamers mit Diltheys Bemühungen um die Objektivität in den Geisteswissenschaften wird schon deutlich, dass Gadamer trotz der inhaltlichen Kritik und des Unterstreichens der Geschichtlichkeit der Geisteswissenschaften die Objektivität keineswegs aufgeben will. Vielmehr kommt es ihm darauf an, ein Verständnis von Objektivität in den Geisteswissenschaften zu etablieren, das der Einsicht in ihre Geschichtlichkeit besser gerecht zu werden vermag.

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C. Die Aporien des Historismus: Gadamers Dilthey-Interpretation 

Fassen wir zusammen: Es lassen sich im Wesentlichen drei miteinander zusammenhängende Aporien unterscheiden die Gadamer im Denken Diltheys nachweist. Da wäre zunächst einmal die Auffassung nur durch einen methodischen, cartesianischen Zweifel gegenüber den Wirklichkeiten des Lebens wie Tradition der Sitte, Recht und Religion eine letzte Gewissheit finden zu können, die es gegenüber den „furchtbaren Realitäten des Lebens“138 zu entdecken gelte. Damit verfehlt Dilthey die spezifische Gewissheit, bzw. den spezifischen Zweifel, der sich gegenüber den Wirklichkeiten des Lebens anders darstellt als in den Naturwissenschaften139. Der Zweifel, der an den Wirklichkeiten des Lebens ansetzt, leugnet seine eigenen Voraussetzungen und ist damit eine „gegen das Leben laufende Bewegung“140. Die von Dilthey versprochene Explikation der Wissenschaft vom Leben her unterbleibt in diesem Zusammenhang. Vielmehr richtet sie sich nach cartesianischen Kategorien der Wissenschaften aus, die die Wirklichkeiten des Lebens gerade mit den Mitteln des Zweifels hinter sich lassen wollen141. Es ging Dilthey nicht bloß darum, philosophische Vorurteile hinter sich zu lassen, sondern das wirkliche Leben, wie es sich in den rechtlichen, sittlichen und religiösen Traditionen zeigt, einer neuen Rationalität zuzuführen. Ein Bestreben, das mit seiner Lebensphilosophie unvereinbar ist, weil es sich gerade um Objektivationen des Geistes handelt, die das einzelne des Seins mit der Objektivität der Gesellschaft verbinden, und das Denken, das etwas „Festes“ im unsteten Wechsel der Sinneswahrnehmungen im Leben sucht, erst ermöglichen.142 Eine zweite Aporie stellt der dargestellte Zwiespalt zwischen dem Cartesianismus und der allumfassenden Geschichtlichkeit dar. Gadamer hat die Frage aufgeworfen, ob die Geschichtlichkeit des Menschen wirklich eine Erkenntniserleichterung bezüglich des Erkennens in den Geistes- und insbesondere in den historischen Wissenschaften sein kann. Seine Antwort fällt negativ aus. Wird da nicht vielmehr den Geisteswissenschaften ein naturwissenschaftliches Modell, das des Cartesianismus aufgezwängt, wenn man meint, ihre Objektivität beweisen zu müssen? Wenn der Mensch durch die Geschichte, die er macht, bedingt ist, dann kann die Objektivität der Wissenschaften davon nur eine ganz andere sein als die Objektivität der Naturwissenschaften. Des Weiteren, und in engem Zusammenhang mit dem eben Erläuterten, weist Gadamer in der Abhebung, die das geschichtliche Bewusstsein von sich selbst vollzogen haben soll, eine Aporie nach. Dabei geht es darum, dass nach Dilthey das Wissen um die Geschichtlichkeit, als eine Weise der Selbsterkenntnis, eine Überwindung der Bedingtheit gestatten soll, in Folge derer das geschichtliche Bewusstsein über andere Epochen steht, in denen es noch kein Wissen um die ge 138

Gadamer, WM, S. 243. Vgl. Gadamer, Das Problem des historischen Bewusstseins, S. 23. 140 Gadamer, WM, S. 242. 141 Vgl. Grondin, Einführung zu Gadamer, S. 110. 142 Vgl. Gadamer, Das Problem des historischen Bewusstseins, S. 22. 139

III. Diltheys Weg zur Hermeneutik

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schichtliche Bedingtheit gab143. Es soll also gelingen, mit dem Wissen um die Gewordenheit, die Gewordenheit zu überwinden und aus der Überlieferung zu einem höheren Verständnis ihrer selbst herauszutreten. Hier wird der selbst heraufbeschworene Relativismus mit seinen Symptomen geheilt144. Dabei lag es eigentlich auf der Hand, die nachgewiesene Bedingtheit voll zu erfassen und eine Objektivität der Geisteswissenschaften zu entwickeln, die dieser Bedingtheit gerecht wird. Stattdessen hat Dilthey das Problem als Lösung aufgefasst und damit seinen eigenen Ansatz abgeschwächt, wenn nicht sogar verfehlt. Gadamer fragt schon in seinen Löwener Vorlesungen, ob „historischen Sinn zu haben wirklich [bedeutet], man könne sich dem Einfluss entziehen, den die Vorurteile der Epoche, in der man lebt, auf einen ausüben“145. Für ihn wird es mehr darum gehen, sich der Einflüsse bewusst zu werden, die die eigene Epoche auf das Dasein hat. Es gibt also kein zurück hinter die Entdeckung der geschichtlichen Bedingtheit der Erkenntnis. Das Bewusstsein von der Geschichte ist immer auch als ein von der Geschichte erwirktes, ein „wirkungsgeschichtliches Bewusstsein“ anzusehen. In der Selbsterkenntnis ist das gewordene Selbst immer schon da und es ist immer dabei. Es ganz hinter sich zu lassen ist so unmöglich wie unsinnig, weil Selbsterkenntnis ohne eigenes Dabeisein nichts anderes als Fremderkenntnis, als Erkenntnis eines anderen wäre. Erst nach der Veröffentlichung von „Wahrheit und Methode“ wird Gadamer das treffend formulieren: „Das wirkungsgeschichtliche Bewusstsein ist mehr Sein als Bewusstsein.“146

143

Vgl. Grondin, Einführung zu Gadamer, S. 107 ff. Dabei lässt Dilthey durchaus erkennen, dass er sich des „Getragenseins“ bewusst ist: „Das Kind wächst heran in einer Ordnung und Sitte der Familie, die es mit deren andern Mitgliedern teilt, und die Anordnung der Mutter wird von ihm im Zusammenhang hiermit aufgenommen. Ehe es sprechen lernt ist es schon ganz eingetaucht in das Medium von Gemeinsamkeiten. […].“ Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S.  255 f. 145 Gadamer, Das Problem des historischen Bewusstseins, S. 18. 146 Gadamer, Zwischen Phänomenologie und Dialektik. Versuch einer Selbstkritik, in: GW 2, S. 3 (11) und Gadamer, Frühromantik, Hermeneutik, Dekonstruktivismus, in: GW 10, S. 125 ff. (132). Die Bedeutung der in dem Zitat verwendeten Begriffe, die schon eine Antwort auf die Diltheyschen Aporien andeuten, wird aus der Auseinandersetzung mit Gadamers Schlussfolgerungen erhellen. 144

D. Hermeneutische Philosophie: Die Grundlegungen durch Heidegger Es hat sich gezeigt, dass die philosophische Hermeneutik, so wie sie in „Wahrheit und Methode“ entfaltet wird, nicht außerhalb des Kontextes der Entwicklung der Hermeneutik durch Dilthey und Schleiermacher gesehen werden darf. Es ergibt sich direkt aus dem Werk, dass „Wahrheit und Methode“ in den Zusammenhang der Entwicklung der methodologischen Bemühungen der Hermeneutik in der Romantik und ihrer Nachfolge eingebettet ist. Eine weitere Voraussetzung, die die Arbeit Gadamers möglich gemacht hat bleibt dagegen etwas verdeckter, wenn auch nicht ohne ausdrückliche Erwähnung. Es sind die Arbeiten Heideggers1. Es bietet sich an, die Philosophie Heideggers, was die hermeneutischen Aspekte angeht, in drei Phasen zu unterteilen: Die Hermeneutik der Faktizität, die Hermeneutik des Daseins, wie sie sich in „Sein und Zeit“ niederschlägt und die spätere Hermeneutik der Geschichte der Metaphysik2. Von letzterer hat sich Gadamer ausdrücklich distanziert, weshalb an dieser Stelle schon auf die Darstellung verzichtet wird3. Es bleibt also zu untersuchen, welcher Art die Verbindung der Gadamerschen Hermeneutik mit Heideggers Hermeneutik der Faktizität und der Hermeneutik des Daseins ist um die Darstellung der Grundlagen der philosophischen Hermeneutik abzuschließen. „Bedeutsamkeit ist nur verständlich aus der in ihr vorfind­ lichen Erschlossenheit, aus der das Begegnende im Begegnenden sich be-deutet und so ins Da drängt.“4

I. Die Hermeneutik der Faktizität Im Sommer 1923 hat Heidegger in Freiburg eine Vorlesung mit dem Titel „Onto­logie“, und dem mit Klammern versehenen Zusatz „Hermeneutik der Faktizität“ gehalten5. Gadamer hat nach seinem Wechsel nach Freiburg an dieser Vor 1

Vgl. Gadamer, WM, S. 269. Diese Unterscheidung trifft Grondin, Von Heidegger zu Gadamer, S. 82, hält sie aber selbst nicht für zwingend. Der besseren Übersichtlichkeit willen wird die Unterscheidung an dieser Stelle übernommen. 3 Vgl. Grondin, Von Heidegger zu Gadamer, S. 91 f. 4 Heidegger, HdF, S. 96. 5 Über den Sinn des Titels „Ontologie“ wird gestritten. Von manchen wird er für nur zufällig gehalten, weil Heidegger ihn wohl sehr spontan gewählt haben muss. Dazu kam es, weil 2

I. Die Hermeneutik der Faktizität

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lesung teilgenommen und muss nachhaltig davon beeindruckt gewesen sein6. Was also will die „Hermeneutik der Faktizität“ vermitteln? Die Bedeutung des Wortes „Faktizität“ bestimmt sich zunächst durch den Sprachgebrauch des Neukantianismus, demnach das Begriffspaar „Logizität und Faktizität“, den Gegensatz vom Logischen, auf das Allgemeine und Überzeitliche abzielende und dem Zeitlichen, Zufälligen, Individuellen, Konkreten, Einma­ligen und Unwiederholbaren bedeutet7. Bei Heidegger wird daraus die Bezeichnung einer bestimmten Art des Seins eines daraus sich bestimmenden Seienden. In noch deutlich existenzphilosophischen Wendungen definiert Heidegger die Faktizität als „Bezeichnung für den Seinscharakter „unseres“ „eigenen“ Daseins“8. Faktizität wird näher bestimmt als Jeweiligkeit. Es geht dabei mehr um das Jetzt, das wir sind, als um das Jetzt, in dem wir sind. Das Sein hat also kein „zunächst“ im Verhältnis zur Zeit. Es gibt kein Sein, das nicht ‚zur Zeit‘ ‚ist‘9. Einfach ausgedrückt gibt es kein ‚ich bin‘ und ‚ich bin jetzt‘, sondern nur ein ‚ich bin jetzt‘. Daraus folgt: Wer sein ‚Jetzt‘ verlassen will muss sein ‚Sein‘ aufgeben. Dabei handelt es sich nicht um eine Banalität, sondern um eine für die Auffassung der Zeit in der Hermeneutik ganz entscheidende Voraussetzung und nicht zuletzt um einen der wesentlichen Anstöße, die Gadamer von Heidegger erfahren hat. Es geht Heidegger um das Dasein, das seinsmäßig in seinem Seinscharakter „da“ ist und somit nicht als Gegenstand einer Bestimmung im Sinne einer abstandhaltenden Betrachtung angesehen werden darf: „Dasein ist ihm selbst da im Wie seines eigensten Seins“10, als die ganz konkrete Geschichte eines einzelnen Menschen11. Faktisch ist also das Leben, das und sofern es gelebt wird. Hier wird ein Element des konkreten Vollzugs in der Auffassung des Lebens sichtbar, das sich gegen Indifferenz stellt. Das Sein des Daseins ist nicht zu verstehen als bloßes Gegebensein, sondern als Lebensvollzug.12 Das Wort „Faktizität“ im Titel der Vor-

der ursprüngliche Titel der Vorlesung, nämlich „Logik“, bereits von einem Freiburger Kollegen für dessen Vorlesung eingetragen war. Heidegger soll darauf nur mit: „Na, dann „Ontologie“, reagiert haben. Er stellt allerdings ohnehin auf den ersten drei Seiten des veröffentlichten Vorlesungsmanuskripts dar, dass „Hermeneutik der Faktizität“ der angemessenere Titel ist, siehe dazu Bröker-Oltmanns, Nachwort zur HdF, S. 113. 6 Vgl. Figal, Gadamer im Kontext. Zur Gestalt und den Perspektiven philosophischer Hermeneutik, in: Wischke/Hofer, Gadamer Verstehen/Understanding Gadamer, S. 144 f. 7 Vgl. Grondin, Die Hermeneutik der Faktizität als ontologische Destruktion und Ideologiekritik, in: Papenfuss/Pöggeler, Zur philosophischen Aktualität Heideggers, Bd. 2: Im Gespräch der Zeit, S. 165. 8 Heidegger, HdF, S. 7. 9 Vgl. Figal, Martin Heidegger zur Einführung, S. 36. 10 Heidegger, HdF, S. 7. 11 Vgl. Grondin, Die Hermeneutik der Faktizität als ontologische Destruktion und Ideo­ logiekritik, in: Papenfuss/Pöggeler, Zur philosophischen Aktualität Heideggers, Bd. 2: Im Gespräch der Zeit, S. 165. 12 Vgl. Figal, Gadamer im Kontext. Zur Gestalt und den Perspektiven philosophischer Hermeneutik, in: Wischke/Hofer, Gadamer Verstehen/Understanding Gadamer, S. 146.

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D. Hermeneutische Philosophie: Die Grundlegungen durch Heidegger 

lesung von 1923 soll also auf die Besonderheit des je eigenen Lebens in zeitlicher Hinsicht und auf die Unhintergehbarkeit dieser Besonderheit hinweisen. Faktizität ist damit keine bloß feststellbare Tatsache, sondern ein Faktum in dem Sinne, dass die jeweilige Besonderheit nicht gewählt wurde und ebenso wenig hinter sich gelassen werden kann.13 Soviel zur Faktizität, wozu die Hermeneutik? Heidegger will damit sagen, dass es einer Anzeige des Auslegungsfähigen und -bedürftigen bedarf. Es geht eben um ein mögliches „Wachsein“. Die Faktizität bedarf der Auslegung, weil das ‚Wachsein‘ ein ‚zu rüttelndes‘ ist, weil es sich zumeist verdeckt oder verfehlt und nur durch hermeneutische Besinnung zu Bewusstsein erhoben werden kann.14 Für Heidegger ist Hermeneutik das Auslegen selbst und nicht wie es die seit Schleiermacher und Dilthey herrschende Ansicht ist, ihre Methodologie. Das von Gadamer mit vollzogene Aufgeben der Hermeneutik verstanden als Methodologie ist also schon hier angelegt. Daneben geht es Heidegger darum, dass Hermeneutik etwas mit Kundtun zu tun hat, damit etwas Verdecktes offen zu legen, also etwas anzuzeigen15. Daraus wird der Sinn der Hermeneutik der Faktizität greifbar, der darin liegt, gegen die Selbstverdeckung der Faktizität anzugehen16. Man kann sogar sagen, dass das deutsche Wort anzeigen durchaus seinen Sinn von „öffent­ licher Bekanntmachung eines Unrechts“17 behält. Heidegger sieht den Menschen folglich als sich chronisch missverstehend. Darum geht es bei der von ihm so genannten Verfallenheit an das „man“, das Verfallensein an die öffentliche Ausgelegtheit, anstatt eines in-die-Hand-nehmens der eigenen Existenz. Als Mittel gegen diese „Selbstentfremdung“ wird von Heidegger die Hermeneutik aufgeboten18, nicht aber als Auslegungskunst, sondern als Ausdruck des Lebens, das sich selbst als Vollzug des Lebens weiß.19 Nach dieser Analyse sieht man sich vor eine innere Schwierigkeit gestellt. Wenn die Selbstentfremdung des Daseins derart an ihm aufgewiesen werden kann, dann 13

Vgl. Figal, Martin Heidegger zur Einführung, S. 36. Vgl. Grondin, Die Hermeneutik der Faktizität als ontologische Destruktion und Ideo­ logiekritik, in: Papenfuss/Pöggeler, Zur philosophischen Aktualität Heideggers, Bd. 2: Im Gespräch der Zeit, S. 166. Heidegger beruft sich auf die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes als „auslegen“. Ebenda. 15 Vgl. Heidegger, HdF, S. 9 sowie Grondin, Die Hermeneutik der Faktizität als ontologische Destruktion und Ideologiekritik, in: Papenfuss/Pöggeler, Zur philosophischen Aktualität Heideggers, Bd. 2: Im Gespräch der Zeit, S. 166 f. 16 Vgl. Grondin, Die Hermeneutik der Faktizität als ontologische Destruktion und Ideologiekritik, in: Papenfuss/Pöggeler, Zur philosophischen Aktualität Heideggers, Bd. 2: Im Gespräch der Zeit, S. 167. 17 Grondin, Von Heidegger zu Gadamer, S. 87. 18 Vgl. Grondin, Die Hermeneutik der Faktizität als ontologische Destruktion und Ideo­ logiekritik, in: Papenfuss/Pöggeler, Zur philosophischen Aktualität Heideggers, Bd. 2: Im Gespräch der Zeit, S. 167. 19 Vgl. Figal, Gadamer im Kontext. Zur Gestalt und den Perspektiven philosophischer Hermeneutik, in: Wischke/Hofer, Gadamer Verstehen/Understanding Gadamer, S. 147. 14

I. Die Hermeneutik der Faktizität

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stellt sich die Frage, wieso sie einer Aufklärung bedarf anstatt einfach nur phänomenologisch als Grundverfasstheit des Daseins selbst aufgewiesen und im Folgenden so hingenommen zu werden. Man könnte diese Selbstentfremdung also einfach als dem Dasein ursprünglich zugehörig (existenzial) hinnehmen, womit es eben keine Selbstentfremdung wäre. Die Lösung dieses Problems durch Heidegger lässt sich am besten an seiner Terminologie erklären. Das Wort Dasein wird nicht umsonst schon auf den ersten Seiten des Vorlesungsmanuskriptes in seiner auseinanderdividierten Form als Da-sein aufgeführt20. Später wird Heidegger noch das Gegenteil dazu einführen, an dem die wahre Bedeutung letztlich deutlich wird, das Wort vom „Wegsein“. Dasein als echtes Da-sein ist also in der Verfallenheit, der Fremdauslegung seiner eigenen Jeweiligkeit entfallen und somit von sich selbst weg. Damit gehört das Sein, das der Mensch im Modus seiner Verfallenheit ist in gewissem Sinne schon nicht mehr zu dem was Heidegger Dasein nennt, weil es nicht mehr für sich selbst da ist, sondern im Gegenteil von sich selbst weg, Weg-sein ist21. Dasein ist also Verweilen, Nichtweglaufen, Dabeisein22. Das jeweilige Dasein ist im Seinscharakter der Faktizität da, wenn es seinsmäßig da ist, und das heißt nicht als Gegenstand der Anschauung und einer bloßen Kenntnisnahme23. Für Heidegger zeichnet sich also das Dasein durch Offenheit für sein eigenes Seinkönnen aus, das sich folglich zwar seiner Freiheit bewusst werden kann, aber in Verschlossenheit vor dem luziden Seinkönnen verweilt, welches es als Dasein ist, solange es sich unkritisch an die Fremdbestimmung, das Man, aushändigt. Es ist damit durchaus folgerichtig die Ausschaltung des Selbstgesprächs mit sich, eine Selbstentfremdung zu nennen, weil ebendieses Selbstgespräch das Dasein ausmacht24. Zu diesem Dasein, das als Möglichsein nicht Gegenstand, sondern ein Sein-zu (siehe oben Sein-zur-Zeit), Seinkönnen, Aufgabe für sich selbst ist, will Heidegger einen Weg finden. Die Hermeneutik der Faktizität soll dieses Möglichsein dem Dasein kundtun, es sich selbst als ein Seiendes offen legen, das als solches kein „Gegenstand für ein indifferentes theoretisches Meinen“25 ist26. Hier bezieht Heidegger Position gegen die theoretische Vergegenständlichung des Menschen. Durch die objektivierende, gleichgültige, standpunktfreie Betrach 20

Vgl. Heidegger, HdF, S. 7. Vgl. Grondin, Die Wiederentdeckung der Seinsfrage auf dem Weg einer phänomenologisch-hermeneutischen Destruktion, in: Rentsch: Klassiker Auslegen. Martin Heidegger. Sein und Zeit, S. 1 (10). Vgl. Figal, Martin Heidegger zur Einführung, S. 37 f. 22 Vgl. Heidegger, HdF, S. 7. 23 Vgl. Heidegger, HdF, S. 7. 24 Vgl. Grondin, Die Hermeneutik der Faktizität als ontologische Destruktion und Ideologiekritik, in: Papenfuss/Pöggeler, Zur philosophischen Aktualität Heideggers, Bd. 2: Im Gespräch der Zeit, S. 168. 25 Heidegger, HdF, S. 3. 26 Vgl. Grondin, Die Hermeneutik der Faktizität als ontologische Destruktion und Ideologiekritik, in: Papenfuss/Pöggeler, Zur philosophischen Aktualität Heideggers, Bd. 2: Im Gespräch der Zeit, S. 168. 21

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D. Hermeneutische Philosophie: Die Grundlegungen durch Heidegger 

tung des Theoretikers wird der Zugang zu dem in der Philosophie maßgeblichen Seienden, dem Dasein versperrt. Dabei ist Philosophie aus dem und für das Dasein. In dem Zusammenhang ist festzuhalten, dass das jeweilige Dasein gegenüber dem Dasein, wie es die Hermeneutik formal anzeigen will, gar nicht indifferent sein kann. Die Hermeneutik der Faktizität ist damit auch so etwas wie das Außerkraftsetzen des wissenschaftlichen Prinzips des standpunktfreien Betrachtens.27 Das heißt aber nicht, dass hiermit die Kritik zugunsten der Naivität über Bord geworfen werden soll. Ganz im Gegenteil meint Heidegger, dass mit dem Ideal der freischwebenden Objektivität die „Kritiklosigkeit zum Prinzip“28 erhoben wird: Mit der vom Forschenden vorgeschobenen Standpunktlosigkeit soll ein allgemeiner Dispens von kritischen Fragen erreicht werden, weil es Kritik nur geben kann sofern der Betrachtende oder der Forscher sich in Aneignung des eigenen Blickstandes in die Sache einbringt. Schließlich ist auch das unvoreingenommene Sehen ein Sehen und als solches ohne einen Standpunkt, von dem aus es erfolgen kann, nicht vorstellbar.29 Heidegger kennzeichnet den Gedanken gelungenerweise mit der Überschrift des hier zitierten Abschnitts: „Das Vorurteil der Standpunktfreiheit [H.d.V.]“. Ein Gedanke, den Gadamer ganz ausdrücklich verarbeiten wird. An dieser Stelle kann also schon konstatiert werden, dass die philosophische Hermeneutik Gadamers festhalten will, dass jede Betrachtung, sei es die der Geschichte oder die Betrachtung des Rechts, von einem festen Standpunkt aus erfolgt auf dem das Dasein in der Zeit steht. Das Paradoxe des Folgenden sehr wohl erkennend hat Heidegger für seine Hermeneutik der Faktizität das nicht als Gegenstand zu verstehende Dasein des Menschen zum Gegenstand und sie versteht sich als philosophische Kritik der Kritiklosigkeit der aus der Überlieferung stammenden Auffassung vom Menschen. Mit ihrer Hilfe soll die Auffassung „destruiert“ werden, der Mensch könne das Objekt einer indifferenten Theorie sein. Vielmehr muss an die Stelle der indifferenten Theorie das Sein des Menschen als ein Seinkönnen treten, das es zu über­ nehmen gilt.30 Das ist die Schnittstelle, von der aus eine direkte Verbindung zu den für die Geistes- und auch für die Rechtswissenschaften relevanten Ausführungen Ga­ damers in „Wahrheit und Methode“ führt31, nämlich zu denen über die Rehabilitie 27

Vgl. Grondin, Die Hermeneutik der Faktizität als ontologische Destruktion und Ideo­ logiekritik, in: Papenfuss/Pöggeler, Zur philosophischen Aktualität Heideggers, Bd. 2: Im Gespräch der Zeit, S. 168 f. 28 Heidegger, HdF, S. 82. 29 Vgl. Heidegger, HdF, S. 82 f. 30 Vgl. Grondin, Die Hermeneutik der Faktizität als ontologische Destruktion und Ideo­ logiekritik, in: Papenfuss/Pöggeler, Zur philosophischen Aktualität Heideggers, Bd. 2: Im Gespräch der Zeit, S. 169. 31 Siehe zu diesem Brückenschlag: Grondin, Die Hermeneutik der Faktizität als ontologische Destruktion und Ideologiekritik, in: Papenfuss/Pöggeler, Zur philosophischen Aktualität Heideggers, Bd. 2: Im Gespräch der Zeit, S. 169, Fn. 11.

II. Die Hermeneutik des Daseins

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rung der Vorurteile, ohne dass man dieses Anknüpfen jedoch als eine reine Kontinuität verstehen darf32. Es ist darin schon die Wende gegen Dilthey enthalten33. Aber, um in dem Bild zu bleiben: Gadamer nimmt in „Wahrheit und Methode“ durchaus den Faden auf, den er von Heidegger empfangen hat, webt aber in der Folge seine eigenen Gedanken in das Muster ein34. II. Die Hermeneutik des Daseins Schon aufgrund der wesentlich längeren Rezeptionsgeschichte − „Sein und Zeit“ erschien schon 1927, während der Text der Vorlesung „Hermeneutik der Faktizität“ erst 1988 veröffentlicht wurde − ist die Daseins-Hermeneutik in „Sein und Zeit“ die wesentlich bekanntere Hermeneutik Heideggers. Sie steht zwar durchaus in Kontinuität zur eben dargestellten früheren Hermeneutik der Faktizität, allerdings kann man recht deutlich Weiterentwicklungen des ursprünglichen Standpunktes erkennen. Zunächst einmal stellt sich die Hermeneutik des Daseins wesentlich weniger existenzphilosophisch dar als die Hermeneutik der Faktizität. In „Sein und Zeit“ geht es in mehr existenzialer Weise35 um das Sein des Daseins im Allgemeinen. Des Weiteren zielt die Hermeneutik des Daseins deutlich mehr auf die Seinsfrage, also den Sinn von Sein, als das in der Vorlesung von 1923 der Fall war36. Es wird hier die Hermeneutik von vorneherein in einen deutlich umfassenderen Zusammenhang gestellt. In Heideggers Hauptwerk geht es darum, aus einer Verlegenheit zu kommen; aus der Verlegenheit um eine Antwort auf die Frage, was wir eigentlich meinen, wenn wir den Ausdruck „seiend“ gebrauchen37. „Sein und Zeit“ hebt em­phatisch mit einem Zitat aus Platons „Sophistes“ an. Gleich zu Anfang steht hier die Aufgabe, die Frage nach dem Sinn von Sein zu lösen und sie wird im Grunde genommen unmittelbar mit dem Hinweis beantwortet, dass die Zeit der mögliche Horizont eines jeden Seinsverständnisses ist38. Welchen Beitrag soll also die Hermeneutik zu diesem vorweggenommenen Ergebnis leisten?

32 Vgl. Figal, Gadamer im Kontext. Zur Gestalt und den Perspektiven philosophischer Hermeneutik, in: Wischke/Hofer, Gadamer Verstehen/Understanding Gadamer, S. 145. Heidegger selbst nennt die hermeneutische Philosophie in einem Brief an Pöggeler „die Sache Gadamers“. Vgl. Pöggeler, Heidegger und die hermeneutische Philosophie, S. 395 f. 33 Vgl. Riedel, Heidegger und der hermeneutische Weg zur praktischen Philosphie, in: Für eine zweite Philosophie – Vorträge und Abhandlungen, S. 171 (175). 34 Vgl. Figal, Gadamer im Kontext. Zur Gestalt und den Perspektiven philosophischer Hermeneutik, in Wischke/Hofer, Gadamer Verstehen/Understanding Gadamer, S. 145. 35 Heidegger nennt die Seinscharaktere des Daseins im Gegensatz zu den Kategorien als Seinsbestimmungen des nicht daseinsmäßig Seienden, Existenzialien. 36 Vgl. Grondin, Von Heidegger zu Gadamer, S. 89. 37 Vgl. Heidegger, SuZ, S. 1. 38 Vgl. Heidegger, SuZ, S. 1, sowie Luckner, Martin Heidegger. Sein und Zeit, S. 12.

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D. Hermeneutische Philosophie: Die Grundlegungen durch Heidegger 

Ontologie, die Heidegger voranbringen will, ist, wie er feststellt, nur als Phänomenologie möglich39, wobei der methodische Sinn der phänomenologischen Deskription Auslegung ist. Der logos (λογος) der Phänomenologie des Daseins hat den Charakter des hermeneuein (ερµηνευειν). Durch sie wird dem Dasein zweierlei vermittelt: der Sinn von Sein und die Grundstrukturen des Daseins.40 Hermeneutik will hier verstanden werden in ihrem ursprünglichen Sinne als das Geschäft der Auslegung, womit Phänomenologie des Daseins Hermeneutik ist41. Heidegger nimmt aber noch weitere Bestimmungen dessen vor, was Hermeneutik in „Sein und Zeit“ leisten soll. In einer weiteren Hinsicht soll sie der Ausarbeitung der Bedingungen der Möglichkeit jeder ontologischen Untersuchung dienen, sofern durch die Aufdeckung des Sinns des Seins und der Grundstrukturen des Daseins der Horizont bereitgestellt wird, von dem aus das nicht daseinsmäßige (kategoriale siehe oben) Seiende ontologisch erforscht werden soll42. Des Weiteren hat Hermeneutik einen spezifischen dritten, philosophisch verstanden primären Sinn, als Auslegung des Seins des Daseins, nämlich den einer Analytik der Existen­zialität der Existenz43. Diese Analyse soll im Hinblick auf die später zu entfaltende Seinsfrage die Grundstrukturen der Existenz herausstellen44. Bei Heidegger wird das Verstehen der Sphäre des rein Erkenntnismäßigen entzogen, in der es vormals, im Rahmen der Methodenforschung im 19. Jahrhundert, verortet wurde. Dies geschieht zunächst einmal durch die Feststellung, dass Verstehen immer „gestimmtes“45 ist. Heidegger wendet sich also gegen die Auffassung, Verstehen könne in so etwas wie einer reinen Form vorliegen. Darüber hinaus hat das Verstehen für Heidegger die Bedeutung von „können“. So wie man sagt, dass man sich auf etwas verstehe, habe Verstehen immer etwas damit zu tun, einer Sache gewachsen zu sein. Das Dasein ist geworfener Entwurf, das heißt, dass es beim Verstehen zuerst um ein mögliches Seinkönnen des Daseins geht, dass sich verstehend auf seine Möglichkeiten hin entwirft. Diese Verstehenshorizonte bleiben dabei aber zumeist durch den faktischen Vollzug verdeckt.46 Heidegger nennt es Auslegung, wenn sich das auf Möglichkeiten entwerfende Verstehen selbst ausbildet47. Dieser selbstkritische Auslegungsbegriff führt ihn zur Problematik des von ihm so genannten hermeneutischen Zirkels, weil „alle Auslegung, die Verständnis beistellen soll, […] das Auszulegende schon verstanden haben [muss]“48 . Dabei soll es sich aber keineswegs um einen „circulus vitiosus“ handeln, weil „es die ursprüngliche Aufgabe allen ernsthaften Erkennens sei, sich 39

Vgl. Heidegger, SuZ, S. 35. Grondin, Von Heidegger zu Gadamer, S. 89. 41 Vgl. Heidegger, SuZ, S. 37. 42 Vgl. Heidegger, SuZ, S. 37. 43 Vgl. Heidegger, SuZ, S. 37 f. 44 Vgl. Grondin, Von Heidegger zu Gadamer, S. 90. 45 Heidegger, SuZ, S. 139. 46 Vgl. Grondin, Von Heidegger zu Gadamer, S. 40. 47 Vgl. Heidegger, SuZ, S. 148. 48 Heidegger, SuZ, S. 152. 40

II. Die Hermeneutik des Daseins

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über die eigenen Voraussetzungen („nach Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff“) 49 klar zu werden“50. Wie stehen diese Vorarbeiten Heideggers nun in Beziehung zu den Grund­zügen einer philosophischen Hermeneutik? Bezüglich der Daseinshermeneutik lässt sich keine so eindeutige Verbindungslinie ziehen, wie das bei der Hermeneutik der Faktizität oben schon vorauseilend geschehen ist. Sicherlich ist Gadamer auch von der Hermeneutik aus „Sein und Zeit“ nicht unbeeinflusst geblieben, schließlich entlehnt er mit dem Gedanken vom hermeneutischen Zirkel einen nicht unwesentlichen Bestandteil seiner Philosophie aus „Sein und Zeit“. Aber Gadamer verrechnet die Hermeneutik nicht auf die Ontologie, wie das bei der Daseinshermeneutik der Fall ist. Allerdings findet sich ein Hinweis in den Heideggerschen Bestimmungen der Aufgaben der Hermeneutik, der das Unternehmen Gadamers vorbereitet. Dort heißt es, dass die Hermeneutik im oben erläuterten dritten Sinne, als Analytik der Existenzialität der Existenz, sofern sie in ontologischer Weise die Geschichtlichkeit des Daseins ausarbeitet, als die ontische Bedingung der Möglichkeit der Historie die Wurzel für die Hermeneutik im Sinne der Methodologie der Geisteswissenschaften ist, die sich aus der ersteren nur ableitet51. Und nicht zuletzt geht es in „Wahrheit und Methode“ um die Herausarbeitung der Geschichtlichkeit des Daseins und die Konsequenzen, die daraus für die Methodologie der Geisteswissenschaften abgeleitet werden müssen. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass im Aufgreifen dieser Frage, eine nicht zu unterschätzende Distanznahme zum Gesamtprojekt „Sein und Zeit“ zu sehen ist, das sich um deren Beantwortung gerade nicht verdient machen will, sondern der Seinsfrage nachgeht, die Gadamer nicht recht aufgenommen hat 52. Nun ist oben bereits festgestellt, dass sich durchaus eine direkte Verbindung von Heideggers Hermeneutik der Faktizität zu „Wahrheit und Methode“ herstellen lässt, zumal Gadamer jene auch ausdrücklich zitiert 53. Es ist aber so, dass es sich bei allen Anknüpfungen nicht um Fortführungen, sondern um Ableitungen handelt. Wenn Gadamer von dem sich auf sein Seinkönnen entwerfenden Dasein spricht, das immer schon gewesen ist und dies auf das Existenzial der Geworfenheit zurückführt54, dann ist das „Sein und Zeit“ entlehnt, verfolgt aber von da aus völlig andere Ziele. Gadamers Hauptwerk lässt sich also nicht ohne jede Schwierigkeit in Heideggers Philosophie integrieren. Es lässt sich allerdings noch ein, für das Denken Gadamers ganz wesentlicher Umstand, auf Heideggers Analyse der Hermeneutik der Alltäglichkeit in „Sein und Zeit“ zurückführen: Das „In-der-Welt-sein“. Diese ursprüngliche Verbunden 49

Heidegger, SuZ, S. 151. Grondin, Von Heidegger zu Gadamer, S. 40. 51 Vgl. Heidegger, SuZ, S. 38. 52 Vgl. Grondin, Von Heidegger zu Gadamer, S. 92. 53 Vgl. Gadamer, WM, S. 268. 54 Vgl. Gadamer, WM, S. 268. 50

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D. Hermeneutische Philosophie: Die Grundlegungen durch Heidegger 

heit des Daseins mit der Welt, die zugleich ein existenziales Mitsein der Daseienden umfasst55, ist in der philosophischen Hermeneutik Gadamers in dem Gedanken wieder begegnet, dass die Menschen sich zumeist unmittelbar in einer gemeinsamen menschlichen Sache verstehen. Aus der immer schon bestehenden Grundverbundenheit des Einzelnen mit dem Anderen ergibt sich letztlich der für Gadamers hermeneutische Philosophie so wichtige Gedanke des applikativen Moments im Verstehen. Dass die Ziele, die Gadamer mit seiner hermeneutischen Philosophie verfolgt hat, andere sind als die Ziele der Fundamentalontologie Heideggers, und um welche es sich dabei handelt, soll im Folgenden verdeutlicht werden56, da nun die Ausgangspunkte der philosophischen Hermeneutik dargelegt sind.

55

Demmerling, Hermeneutik der Alltäglichkeit und In-der-Welt-sein, in: Rentsch, Klassiker Auslegen. Martin Heidegger. Sein und Zeit, S. 89 (93). 56 Es lässt sich ganz grob Folgendes vorausschicken: Bei Gadamer geht es um die Geschichtlichkeit und Sprachlichkeit unserer Welterfahrung, während es bei Heidegger um die das Selbstverständnis des faktischen Menschen geht. Vgl. Grondin, Von Heidegger zu Gadamer, S. 18.

„Es unterscheidet die hermeneutische Praxis und ihre Disziplinierung von der Erlernbarkeit einer bloßen Technik, ob dieselbe nun Sozialtechnik oder kritische Methode heißen mag, dass in ihr stets ein wirkungsgeschichtlicher Faktor das Bewusstsein des Verstehenden mitdeterminiert.“1

E. Verstehen und Zugehörigkeit: Gadamers philosophische Hermeneutik Bisher haben sich vor allem drei Dinge gezeigt. Zunächst ist aus der Aus­ einandersetzung Gadamers mit Schleiermacher deutlich geworden, dass das Verstehen seinen Ursprung im Verständnis hat. Dann haben die Aporien, an denen die Versuche Diltheys, den Geisteswissenschaften ein erkenntnistheoretisches Fundament zu geben gescheitert sind, offenbar werden lassen, dass sich der Verstehende aus dem Vorgang des Verstehens, vor allem im Hinblick auf das Verstehen der Geschichte, nicht herauslösen lässt. Wer verstehen will ist an seinen Standpunkt gebunden. Schließlich – und damit zusammenhängend – ist aus den hermeneutischen Schriften Heideggers deutlich geworden, dass „alles freie Sichverhalten zu seinem Sein hinter die Faktizität dieses Seins nicht zurück kann“, denn „unüberholbar liegt dem Dasein voraus, was all sein Entwerfen ermöglicht und begrenzt“2. Wie ist nun die Hermeneutik weiter zu denken? Die Antwort Gadamers lässt sich vorwegnehmend auf den Punkt bringen: Der philosophischen Hermeneutik wird es darum gehen müssen die Zugehörigkeit des Interpreten zu seinem Gegenstande in der Beschreibung des Verstehens angemessen zu berücksichtigen3. Es muss dieser Zugehörigkeit der Platz zugewiesen werden, der ihr zusteht, ohne dass sie dem Verstehen aufgepfropft wird. Es steht zur Aufgabe, ihr Vorhandensein am Verstehen selbst nachzuweisen und zugleich ihre Bedeutung zu ergründen. Noch hat sie keine Legitimation gefunden und ist bis zum Aufruf zur Selbstauslöschung des eigenen Seins des Interpreten verleugnet worden4. Der Geschichte wird dabei die Funktion der beispielhaften Aufbereitung zukommen, denn an ihr lässt sich, wie zu Beginn bereits angekündigt, am besten verdeutlichen was Zugehörigkeit meint. Es wird damit ganz wesentlich darum gehen, aus den Aporien der Diltheyschen Hermeneutik und aus den Schlüssen, die sich aus der Analyse der Hermeneutik Schleiermachers ergeben, positive Folgerungen zu ziehen. 1

Gadamer, Replik zu „Hermeneutik und Ideologiekritik“, in: GW 2, S. 251 (273). Gadamer, WM, S. 268 f. Gadamer sieht gerade darin „die Pointe der Hermeneutik der Faktizität“. 3 Vgl. Figal, Gadamer im Kontext. Zur Gestalt und den Perspektiven philosophischer Hermeneutik, in: Wischke/Hofer, Gadamer verstehen/Understanding Gadamer, S. 141 (141). Das findet sich in den Hinweisen Gadamers auf die Arbeiten des Grafen Yorck. Vgl. Gadamer, Das Problem des historischen Bewusstseins, S. 30 und in WM, S. 266. Vgl. auch Figal, Vollzugssinn und Faktizität, in: Der Sinn des Verstehens, S. 32. 4 Vgl. Gadamer, WM, S. 268. 2

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E. Verstehen und Zugehörigkeit: Gadamers philosophische Hermeneutik 

Die Zugehörigkeit des Verstehenden ist sein „wirkungsgeschichtliches Bewusstsein“. Wenn herausgearbeitet ist, was es mit dieser Zugehörigkeit zur Überlieferung auf sich hat, wird es möglich sein, die Erkenntnisse auf die hermeneutische Grundfrage nach den Möglichkeiten des Verstehens zu übertragen und von da aus auf die Voraussetzungen zu schließen, unter denen sowohl geistes- wie auch rechtswissenschaftliche Forschung stehen. Denn wenn das Dasein, wie Heidegger ausführt, geworfener Entwurf und seinem eigenen Seinsvollzug nach Verstehen ist, dann kann das für das Verständnis dessen, was die Geisteswissenschaften und auch die Rechtswissenschaften sind, nicht folgenlos bleiben5. Aus dem Existenzial der Geworfenheit folgt, dass das sich auf sein Sein-können entwerfende Dasein immer schon gewesen ist. Diese „Gewordenheit des je-eigenen Seins“ hat schon in der Auseinandersetzung mit dem Denken Diltheys eine tragende Rolle gespielt. Jetzt sollen daraus die entscheidenden Folgerungen für die Hermeneutik der Geisteswissenschaften gezogen, die Kritik also ins Positive gewendet werden. Im Verstehen, das in den Geisteswissenschaften geschieht, werden „konkrete Bindungen von Sitte und Überlieferung wirksam“, und „das allgemeine Verstehen erreicht im historischen Verstehen seine Konkretion, wenn jene mit den Möglichkeiten der eigenen Zukunft im Verstehen verbunden werden“6. „Diese existenziale Struktur des Daseins muss ihre Ausprägung auch im Verstehen der geschichtlichen Überlieferung finden, und so folgen wir zunächst Heidegger.“7

I. Der hermeneutische Zirkel Der Weg, den Heidegger der philosophischen Hermeneutik gewiesen hat, nimmt seinen Ausgang von der „Aufdeckung der Vorstruktur des Verstehens“, die als hermeneutischer Zirkel bekannt geworden ist8. Hier also kann die Schnittstelle zwischen Gadamer und seinem Lehrer von der anderen Seite aus angegangen werden. Gadamer nimmt die Heideggerschen Beschreibungen der Zirkelstruktur des Verstehens dabei auf, als ob sie sich selbstverständlich auf das von ihm gewählte Thema, die Wahrheit in den Geisteswissenschaften anwenden ließen. Wie sich aber gezeigt hat ging es Heidegger bei dieser Beschreibung des Verstehens um das Seinsverständnis des um sich selbst besorgten Daseins und damit um etwas ganz anderes als Gadamer9. Trotzdem leuchtet es ein, dass von der Beschreibung des Verstehens auch dann Rückschlüsse auf seinen alltäglichen Vollzug möglich sein müssen, wenn damit ursprünglich eine Seinsweise des Daseins beschrieben sein wollte. 5 Aus der transzendentalen Interpretation des Verstehens will Gadamer den Zuwachs einer neuen Dimension für die Hermeneutik erkennen. Vgl. Gadamer, WM, S. 268. 6 Vgl. Gadamer, WM, S. 268. 7 Gadamer, WM, S. 268 f. 8 Gadamer, WM, S. 269. 9 Vgl. Grondin, Von Heidegger zu Gadamer, S. 8.

I. Der hermeneutische Zirkel

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Was hat es nun auf sich mit der Vorstruktur des Verstehens und dem hermeneutischen Zirkel? Zunächst einmal ist darauf hinzuweisen, dass es sich dabei um einen Ausdruck handelt, den auch Heidegger nicht erfunden hat. Das Wort vom hermeneutischen Zirkel ist sogar noch älter als die Erwähnung im Zusammenhang mit der romantischen Hermeneutik den Eindruck erwecken kann. Ursprünglich geht es dabei um das Verstehen des Einzelnen aus dem Sinnzusammenhang heraus in den es eingerückt ist, und das Verstehen des Sinnzusammenhangs durch das Verstehen des Einzelnen. Schlicht ist es die Sache vom Teil, der nicht ohne das Ganze zu verstehen ist, und dem Ganzen, das doch nur aus den Teilen verstanden werden kann.10 In Anlehnung an Heidegger kommt dem Wort vom hermeneutischen Zirkel in Gadamers philosophischer Hermeneutik eine andere Bedeutung zu. In dem Kapitel von „Wahrheit und Methode“ mit dem Titel „Erhebung der Geschichtlichkeit des Verstehens zum hermeneutischen Prinzip“ – dessen Inhalt wohl für das meiste Aufsehen und auch den meisten Widerspruch gesorgt haben dürfte – geht es vor allem um das im hermeneutischen Zirkel verborgen liegende Problem der Vorurteile. Gadamer geht also von Heidegger aus, um die Konsequenzen zu gewinnen, die sich aus der Erkenntnis der Zirkelstruktur des Verstehens für die geisteswissenschaftliche Hermeneutik ergeben11. Ebenso wenig wie um das Voranbringen der Ontologie12 geht es dabei um die Darstellung einer Hermeneutik als Kunstlehre, wie es das traditionelle Selbstverständnis der Hermeneutik gebietet, und wie es noch die selbst gestellte Aufgabe von Schleiermacher und Dilthey war. Es geht vielmehr darum, ein falsches „Selbstverständnis des stets geübten Verstehens“ zu berichtigen und zu sehen, wie die „Hermeneutik, von den ontologischen Hemmungen des Objektivitätsbegriffs der Wissenschaft einmal befreit, der Geschichtlichkeit des Verstehens gerecht zu werden vermöchte“13 und damit um eine Beschreibung der „Vollzugsform des verstehenden Auslegens“14 selbst. Was also schreibt Heidegger? Gadamer zitiert wörtlich: „Der Zirkel darf nicht zu einem vitiosum, und sei es auch zu einem geduldeten, herab­ gezogen werden. In ihm verbirgt sich eine positive Möglichkeit ursprünglichsten Erkennens, die freilich in echter Weise nur dann ergriffen ist, wenn die Auslegung verstanden hat, dass ihre erste, ständige und letzte Aufgabe bleibt, sich jeweils Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff nicht durch Einfälle und Volksbegriffe vorgeben zu lassen, sondern in deren Ausarbeitung aus den Sachen selbst her das wissenschaftliche Thema zu sichern.“15

10

Vgl. Gadamer, Vom Zirkel des Verstehens, in: GW 2, S. 56 (57). Vgl. Gadamer, WM, S. 270. 12 Dass im dritten Teil von „Wahrheit und Methode“ eine „Ontologische Wendung der Herme­neutik am Leitfaden der Sprache“ erfolgen soll, kann für diese Bewertung außer Acht ­bleiben. 13 Gadamer, WM, S. 270. 14 Gadamer, WM, S. 271. 15 Gadamer, WM, S. 271. 11

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E. Verstehen und Zugehörigkeit: Gadamers philosophische Hermeneutik 

Der Zirkel macht also nicht einen Fehler der Auslegung aus, er ermöglicht Auslegung erst. Und mehr noch. Zirkularität charakterisiert jeden Vollzug des Verstehens. Es kommt demnach, so hat Heidegger einmal gesagt, nicht darauf an, aus dem Zirkel heraus, „sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen“16. Aber was ist das Zirkuläre? Das scheinbar harmlose Zitat birgt eine Ungeheuerlichkeit. Folgendes will damit gesagt sein: Um verstehen zu können, was ein Text sagen will, geht der Leser mit einer Sinnerwartung an den Text heran. Gadamer nennt das den „Vollzug eines Entwerfens“, sich „einen Sinn des Ganzen vorauszuwerfen, sobald sich ein erster Sinn im Text zeigt“17. Dieser erste Sinn, der sich zeigt, zeigt sich nur, weil man schon mit einer gewissen Sinnerwartung an den Text herangeht – weil man schon vor dem Urteil über den Text ein Urteil hat18. Es geht dabei auch darum, die Konsequenzen aus der Auseinandersetzung mit Schleiermacher zu ziehen; die Konsequenzen aus der Einsicht, dass es nicht sein kann, dass sich das Verstehen aus einem ursprünglichen Missverständnis ergibt. Es muss vielmehr von einem grundsätzlichen Einverständnis aus der Sinn einer Sache erarbeitet werden, denn wie jede andere Suche auch, ist die Suche nach Sinn nur möglich, wenn man weiß wonach man sucht. Man kann nur verstehen, was man immer schon verstanden hat19. Verstehen verlangt nun vom Leser aber nicht nur, sich einen Sinn voraus zu entwerfen, sondern auch, „sich gegen die Willkür von Einfällen und die Beschränktheit unmerklicher Denkgewohnheiten abschirmen“20 zu können. Verstehen was dasteht setzt das Vorentwerfen voraus, das ständig zu korrigieren und zu revi­ dieren ist21. Woher aber sollen die Korrekturen des vom Leser an den Text herangetragenen Vorentwurfs kommen? Die Antwort, die Gadamer mit Heidegger auf diese Frage gibt ist so banal, wie brisant: „Aus den Sachen selbst.“22

Das Revidieren des Vorentwurfs an dem, was sich als Sinn aus dem fortschreitenden Eindringen in den Text ergibt, „den Blick auf die Sache durch die ganze Beirrung hindurch festzuhalten, die den Ausleger unterwegs [H.d.V.] ständig von ihm selbst her anfällt“, das ist die Voraussetzung dafür, dass sich Verstehen einstellt23. Der Vorgang des Verstehens stellt sich dabei dar wie ein Wechselspiel aus Herantragen von Vormeinungen, der Erkenntnis der Beirrung durch eine Vormeinung, die sich an der Sache nicht bewährt, bis hin zur Ausarbeitung der rechten, sachangemessenen Entwürfe, die sich eben an den Sachen bestätigen sollen24. 16

Heidegger, SuZ, 153. Gadamer, WM, S. 271. 18 Vgl. Gadamer, WM, S. 271. 19 Vgl. Gadamer, WM, S. 272. 20 Gadamer, WM, S. 271. 21 Vgl. Gadamer, WM, S. 271. 22 Gadamer, WM, S. 271. 23 Vgl. Gadamer, WM, S. 271. 24 Vgl. Gadamer, WM, S. 272. 17

I. Der hermeneutische Zirkel

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Dieser Vorgang darf aber nicht als eine Aufforderung zur Willkür verstanden werden. Die Vormeinungen, die zu einem Verständnis des Textes beitragen, sind nicht beliebig vom Interpreten einsetzbar und sie sind nicht beliebiger Herkunft. Vielmehr bedürfen sie immer noch der Bewährung an der Sache. Dementsprechend attestiert Gadamer, dass es „seinen guten Sinn [hat], dass der Ausleger nicht geradezu, aus der in ihm bereiten Vormeinung lebend, auf den Text zugeht, vielmehr die in ihm lebenden Vormeinungen ausdrücklich auf ihre Legitimation, und das ist, auf Herkunft prüft.“25

Die Brisanz dieser Beschreibung liegt darin, dass hier kein Verfahren vorgeschlagen wird, dem sich der Auslegende verweigern könnte, dass vielmehr die Grundvollzugsform des Verstehens beschrieben wird, der sich niemand entziehen kann. Ein grundsätzlicher Aspekt, der sehr häufig übersehen wird. Dem Geisteswissenschaftler, der nach Objektivität – in dem heute üblichen Verständnis des Wortes – sucht, wird damit der Spiegel vorgehalten, der die alten Träume von der von fremden Einflüssen reinen Erkenntnis der Sache zerplatzen lässt. Denn es sind gerade die Vorurteile, die dem Forscher die Möglichkeit zu verstehen überhaupt erst zur Verfügung stellen26. Bei dieser Phänomenologie des Verstehens soll nicht nur darauf aufmerksam gemacht werden, was immer schon geschieht, wenn wir verstehen. Es folgt aus ihr die Aufgabe, nicht einfach seinen Sprachgebrauch oder seine inhaltliche Vormeinung in den zu verstehenden Text einzusetzen27. Wie nun soll dies erreicht werden können? Was macht es aus, dass wir trotz eines in der Regel unbewussten Sprachgebrauchs uns von dem andersartigen Sprachgebrauch eines Textes korrigieren lassen? Gadamer spricht in dem Zusammenhang davon, dass man Anstoß nimmt28. Texte in vertrauter Sprache ebenso wie Texte, die in fremder Sprache verfasst sind, werden zunächst in der Erwartung gelesen, dass der Sprachgebrauch derjenige sei, der einem vertraut ist. Aber man spitzt sozusagen die Ohren und achtet auf das „Anderssein des Sprachgebrauchs“29, wenn der Text sich in die Erwartung nicht einfügt, sondern aneckt, man also an ihm Anstoß nimmt. Schon schwieriger erscheint die Frage, wie sich die Korrektur inhaltlicher Vormeinungen am Text vollziehen soll. Gadamer nennt es fraglich, „wie man aus dem Bannkreis seiner eigenen Vormeinung herausfinden soll“30. Hier kommt eine Besonderheit ins Spiel, die das Verstehen von verschriftetem Gedankengut erschwert. Dem einmal niedergeschriebenen Text kann Gewalt angetan werden, ohne dass dieser sich dagegen zur Wehr zu setzen vermag. Es erfolgt keine „Gegen­rede“ eines anderen, so wie bei einem Gespräch. Wer seine Gedanken zu 25

Gadamer, WM, S. 272. Was es genau mit diesen Vorurteilen auf sich hat wird noch erläutert. 27 Vgl. Gadamer, WM, S. 272 f. 28 Vgl. Gadamer, WM, S. 272. 29 Gadamer, WM, S. 272. 30 Gadamer, WM, S. 273. 26

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E. Verstehen und Zugehörigkeit: Gadamers philosophische Hermeneutik 

Papier bringt, der gibt sie damit gleichsam aus der Hand und unterstellt sie gewissermaßen dem guten Willen des Lesers. Darüber hinaus stellt das Schriftliche etwas Fremdes dar, vergleichbar mit einer fremden Sprache.31 Darin sieht Gadamer in der Tat eine Erschwerung des Verstehens, weil Missverständnisse inhaltlicher Art sich geradezu einschleichen: Die eigenen Vormeinungen, so heißt es, „ver­ mögen ganz unbemerkt zu bleiben“32. Des Weiteren ist es beim inhaltlichen Verstehen ja gerade nicht Voraussetzung, dass sich die Meinung des Autors in die Meinung des Lesers ohne jeden Widerstand einfügen lässt. Ganz im Gegenteil wird doch hierbei vorausgesetzt, dass es um fremde Meinungen, nämlich die des Verfassers geht und nicht um die eigenen des Lesers33. Es erscheint also schon schwierig, wie das Missverständnis zur Wahrnehmung gelangen soll. Demnach erst recht, wie der Text vor Missverständnissen geschützt werden kann. Allerdings glaubt Gadamer, dass bei näherer Betrachtung deutlich werde, dass man letztlich genauso wenig an der eigenen Vormeinung festhalten könne wie am eigenen Sprachgebrauch, wenn man die Meinung eines anderen versteht. „Offenheit“, so Gadamer, werde verlangt, nicht dass man seine persönlichen Einstellungen ganz ausblende. Wenn man beständig an dem vorbeihört, was der andere sagt, ist es am Ende nicht möglich, das Missverstandene der eigenen Sinnerwartung einzuordnen34. So wie im Falle der fremden Wortwahl, die es an der gewohnten zu überprüfen und zu einer eigenen Bewährung zu bringen gilt, ein Missachten dieses Gebotes zu einer Störung des Verstehens führt, so stößt der Inhalt, an dem man vorbei liest, am Ende das erwartete Verstehen um. Der Text, die Sache selbst, macht sich also bemerkbar, vielleicht in so etwas wie einer Art Unbehagen, welches das Missverstehen erzeugt. Man spricht wohl nicht umsonst davon, dass eine Interpretation „stimmt“, denn es ist in der Tat wie in der Musik, wo ein falscher Ton unmittelbar zu Bewusstsein drängt und die ganze Harmonie zu stören vermag35. Das ist das Fundament, von dem aus Verstehen möglich wird. Beständiges Vorbeihören an der Meinung des anderen, sich der eigenen Vormeinung zu überlassen, führt am Ende dazu, dass der Sinn des Textes „das vermeintliche Verständnis umstößt“36. „Offenheit“, „Bereitschaft sich etwas sagen zu lassen“, „Empfänglichkeit für die Andersheit des Textes“37, das sind die Kriterien für ein mögliches Textverstehen.

31

Vgl. Gadamer, Hermeneutik und Historismus, in: GW 2, S. 387 (419). Gadamer, WM, S. 273. 33 Vgl. Gadamer, WM, S. 273. 34 Vgl. Gadamer, WM, S. 273. 35 Vgl. Grondin, Einführung zu Gadamer, S. 137. 36 Gadamer, WM, S. 273. 37 Gadamer, WM, S. 273. 32

I. Der hermeneutische Zirkel

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Verstehen zu können, was der Text einem sagen will, hat also ein jeder selbst in der Hand. Es ist zunächst eine Frage der eigenen Einstellung38. Das heißt auch, dass der Leser etwas zum Verständnis mitbringen muss, was man ihm nicht abnehmen kann: Seine eigenen Vormeinungen bei Offenheit für das Fremde, das der Text sagen will. Das soll im Zusammenhang mit dem Verstehen in den Rechtswissenschaften noch deutlicher ausgeführt werden, ist aber oben schon erläutert: Der Suchende muss das Gesuchte im Bewusstsein tragen39. Es kommt also gerade nicht darauf an, sich seiner eigenen Vormeinungen zu entledigen und sich in eine neutrale Position gegenüber dem Text zu stellen. Das Hineinversetzen in den Autor des Textes, bei völligem Außerachtlassen seiner selbst, das ist, was die romantische Hermeneutik vom Leser verlangt hat und das hier als Selbsttäuschung entlarvt werden soll. Die „Objektivität der Forschung“ hat „darin einen moralischen Aspekt“, so heißt es bei Gadamer, dass „man seine eigenen Evidenzen erst dann verteidigen darf, wenn einem alle Anstrengungen misslungen sind, an ihnen zu zweifeln“40. Der Forscher muss sich selbst offen halten. Damit ist aber gerade nicht die Ausblendung der Subjektivität gefordert. Objek­ tivität wird damit zu einer Tugend41 und schon hier ist der Rückgriff auf die aristotelische Ethik angelegt, der später noch erfolgen wird. Nun wird man zugeben müssen, dass „Offenheit“, „Bereitschaft“ oder „Empfänglichkeit“ äußerst weiche Kriterien für das Verhalten sind, das ein guter Leser einem Text gegenüber an den Tag zu legen habe. Wer einen Text verfasst, der wird das Interesse verfolgen, jeden denkbaren Leser so eng wie möglich an das zu binden, was wirklich ausgedrückt werden wollte. Umgekehrt wird aber nicht jeder Leser das Interesse haben, einen Text genauso zu lesen, wie der Verfasser ihn gedacht hat. Gerade Texte mit normativem Anspruch, Texte, die von sich aus mit einer gewissen Autorität behaftet sind, vermögen schließlich diese Autorität auf den zu übertragen, dem es gelingt, sich auf sie zu berufen. Das führt unweigerlich zu der Versuchung, den Text in dem je eigenen Interesse umzudeuten. Vielleicht nicht einmal nur zu der Versuchung. Es scheint doch vielmehr so zu sein, dass die Vormeinungen das Verstehen der Sache verfälschen, ohne dass dies überhaupt intendiert sein müsste. Müsste es da nicht das Ziel der Hermeneutik bleiben, diese und auch andere Texte vor dem möglichen Missbrauch zu schützen? Was macht man also, wenn 38 Schon hier tritt zutage, dass Gadamer die Hermeneutik am Ende mit der praktischen Philosophie in Verbindung bringen wird. 39 Dabei wird sich zeigen, dass die Vormeinungen tatsächlich nicht beliebig sind. Das Verstehen, das sie erzeugen ist selbst wieder Gegenstand eines Verstehens. Das Resultat des Verstehens ist nur dann dem Verstehenden beliebig unterstellt, wenn es keiner Rechtfertigung in einem fortgesetzten Kommunikationszusammenhang bedarf. Genau diese Voraussetzung wird sich im Zusammenhang der Rechtsfindung ausweisen lassen. 40 Gadamer, Frühromantik, Hermeneutik, Dekonstruktivismus, in: GW 10, S. 125 ff. (131). 41 Vgl. Gadamer, Frühromantik, Hermeneutik, Dekonstruktivismus, in: GW 10, S. 125 ff. (131).

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E. Verstehen und Zugehörigkeit: Gadamers philosophische Hermeneutik 

der Leser kein Heiliger ist und die soeben geforderte Offenheit von vorneherein, vielleicht aufgrund ideologischer Verblendung, nicht mitbringen wird? Ist es nicht eigentlich zu wenig, wenn man nicht versucht, die gerade geschilderten Probleme des Verstehens einer Lösung zuzuführen? Für den Bereich der Jurisprudenz, deren Texte dem Normativen angehören, spielt diese Frage natürlich eine besondere Rolle, weil es damit um implizierte Grundfragen des Charakters der Rechtswissenschaften innerhalb unserer Staats- und Gesellschaftsauffassung geht: Es geht um die Möglichkeit der Bindung der Interpretation an den Willen des historischen Gesetzgebers. Hierin liegt ein erster Hinweis darauf, dass die Gadamersche Kritik der Geisteswissenschaften eben nicht nur eine Kritik des Strebens nach einer falsch verstandenen Objektivität ist, sondern dass auch stets wirkende subjektive Elemente des Verstehens eine Neubewertung herausfordern. In Bezug auf die Rechtswissenschaften wird sich zeigen, dass die Subjektivitätskritik zu verdeut­ lichen vermag, was es mit der Vorstellung von der engen Bindung des Interpreten an den Willen des historischen Gesetzgebers auf sich hat. Es stellt sich in diesem Zusammenhang schließlich gerade die Frage, ob das Verstehen, so wie es hier beschrieben ist, überhaupt Gegenstand einer kritischen Auseinandersetzung sein kann? Wenn man darauf besteht und genau dies will Gadamer, dass sich nichts an dieser konkreten Vollzugsform des Verstehens ändern lässt, ist das nicht ein „bedrohlicher Relativismus“? In der Tat, aber diese Bedrohlichkeit ist selbst nicht ohne Voraussetzung42. Die Voraussetzung, die gemacht werden muss, um diese Diskussion überhaupt sinnvoll führen zu können, ist gerade die, der Möglichkeit der Auflösung der Bedingungen unter denen das Verstehen steht. Es wird darauf und auf die angesprochenen Implikationen für die Auffassung von dem, was Rechtswissenschaften zu leisten vermögen, noch zurückzukommen sein. 1. Sinnerwartung Vorurteil − Entwicklung und Neubewertung Zwei Faktoren spielen also im Verstehen eine Rolle. Die Sache die verstanden werden soll und die Vormeinung des Interpreten. Was aber ist eine solche Vormeinung, die sich an den Sachen selbst bewähren muss? Zunächst ist Gadamers Terminologie wenig eindeutig. Er spricht von „Vormeinung“, „Voreingenommenheit“, „Vorstruktur des Verstehens“. Schließlich setzt sich in den Erörterungen das Wort „Vorurteil“ durch. Es ist mit „Voreingenommenheit“ schon angedeutet, aber erst in dem Wort „Vorurteil“43 scheint sich die ganze Andersartigkeit dieser Verstehensphänomenologie zu offenbaren. Zur Erinnerung: Gadamer sprach dem Vorurteil in Anlehnung an Heidegger einen ontologisch positiven Sinn im Verstehens­ 42

„Das ist nur vom Maßstab eines absoluten Wissens her, das nicht unseres ist, ein bedrohlicher Relativismus.“ Vgl. Gadamer, Replik zu „Hermeneutik und Ideologiekritik“, in: GW 2, S. 251 (262). 43 Gadamer, WM, insbesondere ab S. 271.

I. Der hermeneutische Zirkel

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prozess zu. Das muss zunächst äußerst befremdlich anmuten. Ausgerechnet ein Vorurteil gegenüber dem fremden Text zu haben soll die Voraussetzung dafür sein, sich den fremden Sinn des Textes anzueignen, den Text überhaupt verstehen zu können. Nach dem heute üblichen alltäglichen Sprachgebrauch würde kaum jemand zögern, vom Vorurteil, das jemand hat, darauf zu schließen, dass es ihm unmöglich sein könne den Text zu verstehen. Nach dem heute üblichen Verständnis heißt es, einen getrübten Blick auf eine Sache zu haben, wenn man sich eingesteht, dass man sie im Lichte bestimmter Erwartungen betrachtet hat. Vielleicht aber ist der Sprachgebrauch unsachgemäß. Gadamer glaubt, dass es einer „Anerkennung dessen bedarf, dass es legitime Vorurteile gibt, wenn man der endlich-geschichtlichen Seinsweise des Menschen gerecht werden will“44. Es wird sich zeigen, dass das angesprochene heutige Verständnis von „Vorurteil“ das Ergebnis einer Entwicklung ist und keineswegs so feststeht, wie man meint. Die Entwicklung des Gadamerschen Vorurteilsbegriffs wird also in zwei Schritten vollzogen; von einer Betrachtung der Entwicklung der alltagssprachlichen Bedeutung und einer Aufweisung der darin liegenden Einseitigkeiten hin zu einer inhaltlichen Explikation der Vorurteile unter der Berücksichtigung der Geschichtlichkeit des Menschen. Dieser Weg soll im Folgenden nachvollzogen werden. 2. Etymologie des Vorurteils Den Beginn der Entwicklung, an deren Ende das heutige Verständnis des Wortes Vorurteil steht, sieht Gadamer in der Epoche der Aufklärung. Fast schon ein wenig polemisch heißt es, es gebe „sehr wohl auch ein Vorurteil der Aufklärung, das ihr Wesen trägt und bestimmt: Dies grundlegende Vorurteil der Aufklärung ist das Vorurteil gegen die Vorurteile überhaupt und das hat nach Gadamer nicht weniger zur Folge als „die Entmachtung der Überlieferung“45. In der heutigen Verwendung ist das Wort „Vorurteil“ gleichzusetzen mit „falsches Urteil“. Früher – so Gadamer – habe Vorurteil (auch im Verfahren der Rechtsprechung) lediglich ein Urteil bedeutet, das vor der endgültigen Prüfung aller sachlich relevanten Umstände ergangen ist. Dies sei freilich eine Beeinträchtigung der Chancen desjenigen gewesen, zu dessen Nachteil das Vorurteil ergangen ist. Anhand dieses Umstands wird sich aber nicht erklären lassen, warum dem Wort die heute übliche rein negative Bedeutung zukommt46. Schließlich be 44 Gadamer, WM, S. 281. Hieran wird deutlich, dass die Neubewertung des Vollzugs menschlichen Verstehens in einem ganz wesentlichen Maße von der Einsicht in die mensch­ liche Geschichtlichkeit aus erfolgen soll, weil sie dem Verstehen nur dann gerecht wird, wenn sie die vorgängigen Umstände des Daseins weder aus Ideologie übersieht, noch sie der Ver­ gessenheit anheim fallen lässt. Es geht hier darum eine Lösung für die Aporien Diltheys zu finden. 45 Gadamer, WM, S. 275. 46 Vgl. Gadamer, WM, S. 275.

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deutet ein endgültiges Urteil auch immer die Beeinträchtigung der Chancen desjenigen, zu dessen Nachteil es ergeht, ohne dass dem Wort eine negative Bedeutung zukäme. Es gibt nach Gadamer durchaus negative, aber eben auch positive Vorurteile47. a) Die Diskreditierung der Vorurteile durch die Aufklärung Was also ist mit dem Wort „Vorurteil“ im Zuge der Aufklärung geschehen? Die Antwort ist einfach: Es ist durch die Aufklärung und ihre Religionskritik auf die Bedeutung von unbegründetes Urteil beschränkt worden48. Begründet werden kann ein Urteil nur mit den Mitteln der Methode. Nur diese Begründung, und nicht das mögliche Zutreffen in der Sache, unterscheidet eben zwischen einem begründeten und einem unbegründeten Urteil und darüber hinaus über dessen Gültigkeit49. Die Methode ist der Weg zur Wahrheit. Es hat damit eine für das heutige Verständnis ganz entscheidende Verschiebung der Wahrheitsfrage stattgefunden, weg von dem Zutreffen in der Sache hin zu einer Sicherheit des Verstehens, die über den rechten Weg zu erreichen sein soll. Darin wirkt noch das Prinzip des cartesianischen Zweifels, wonach nichts für gewiss anzunehmen ist, woran noch ein Funken Zweifel möglich ist50. Aber diese Betrachtung wird der Sache nicht gerecht, denn es kann sich das Urteil, das ohne vollständige Kenntnis aller für die Sache relevanten Umstände ergeht, letztlich doch an den nachgeholten Einsichten und vor allem in der Sache bestätigen. Hier wird das aufgeklärte Bewusstsein vor eine nicht ganz leicht nachzuvollziehende Betrachtung gestellt, weil in ihm reflexartig der Schluss von der Unvollständigkeit auf die Unrichtigkeit des Urteils gezogen wird. Gadamer betont aber zu Recht, dass das Vorurteil gegenüber einer Sache ihr genauso gerecht werden kann wie das gleich lautende Urteil; nicht aber dem aufgeklärten Anspruch an den Umgang mit ihr. Dieser Anspruch lautete, man dürfe nicht über eine Sache urteilen, von der man nicht alle relevanten Umstände kennt. Es ist hier mehr der richtige Weg, der das richtige Ergebnis ausmacht, weniger die Richtigkeit des Ergebnisses. Dabei wurde allerdings übersehen, dass der Weg zu einem derartigen Urteil über die Vorurteile zu suchen ist. Was, außer der Sache selbst, bestimmt nun unsere Vorurteile? Gadamer knüpft für eine positive Bestimmung der Vorurteile des endlichen Wesens Mensch an Gedankengut der Aufklärung an. Durch ebendiese erfährt der Begriff des Vorurteils die Unterscheidung in solche, die aufgrund von Autorität und solche, die durch Übereilung entstehen. Damit ist eine Form des Vorurteils benannt: Es ist das Vor 47

Vgl. Gadamer, WM, S. 275. Vgl. Gadamer, WM, S. 275. 49 Vgl. Gadamer, WM, S. 275. 50 Vgl. Gadamer, WM, S. 275. 48

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urteil durch Autorität. Gadamer zitiert hier den berühmten Satz Kants; „Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ aus dem deutlich wird, dass die Aufklärung die Autorität als Quelle von Vorurteilen ausgemacht hat51. Grundtendenz war es dabei, keine Autorität gelten zu lassen, sondern von ihr zu verlangen, sie habe sich vor der Vernunft zu bewähren. Wahre Vorurteile müssen am Ende also durch Vernunfterkenntnis gerechtfertigt werden52. Dem liegt die Voraussetzung zugrunde, nach der ein „methodisch disziplinierter Gebrauch der Vernunft vor jeglichem Irrtum zu bewahren vermag“53. Diese Einschätzung war die Voraussetzung für die unzulänglichen Versuche das Verstehen des Gewordenen von der eigenen Gewordenheit zu entkoppeln. Es liegt dem die Überzeugung der ausschließenden Gegensätzlichkeit von Autorität und Vernunft zugrunde. Die Konsequenz der Aufklärung ist, die Autorität der Vernunft zu unterwerfen54. Auch in diesem Punkt kann man die Nachwirkungen der Aufklärung in sich selbst deutlich spüren, denn der Begriff der Autorität ruft wohl zunächst negative Assoziationen hervor. Die Frage ist, ob das so sein muss oder ob sich nicht am Begriff der Autorität in concreto bestätigt, was sich über die erste Betrachtung des Wesens der Vorurteile in dem Umstand, dass sie sich als in der Sache zutreffend herausstellen können schon angedeutet hat: Gibt es nicht vielleicht auch eine Autorität, die dem richtigen Urteil dient, es überhaupt erst ermöglicht, anstatt es zu diskreditieren? b) Die Rehabilitierung der Vorurteile Nun muss zunächst festgehalten werden, dass es die Art der Autorität, die das Urteil verfälscht durchaus gibt. Gadamer erkennt dies, wie noch deutlich werden wird, durchaus an. Aber auch hier, wo das Vorurteil als das der Autorität konkret benannt ist, zeigt sich eine gewisse Einseitigkeit in den Wirkungen der Aufklärung. Wenn es nun entgegen unserem heute üblichen Sprachgebrauch neben den negativen Vorurteilen auch positive geben soll, so stellt sich die Frage, und Gadamer nennt sie die „erkenntnistheoretische Grundfrage einer geschichtlichen Hermeneutik“55, worin die Legitimation positiver Vorurteile liegen mag56. Damit kommen wir zum zweiten Schritt. Es wird nun der Frage nachzugehen sein, welcher Art die Vorurteile sind, die das Verstehen ermöglichen. 51

Vgl. Gadamer, WM, S. 276. Vgl. Gadamer, WM, S. 277. 53 So Descartes’ Idee der Methode. Gadamer, WM, S. 282. 54 Daraus geht die Art von Hermeneutik hervor, die lehren soll, die Vernunft zu gebrauchen anstatt sich der Autorität zu ergeben. Vgl. Gadamer, WM, S. 282 f. 55 Gadamer, WM, S. 281. 56 Dabei wird man sehen müssen, dass geschichtliche Hermeneutik hier keineswegs so etwas wie Hermeneutik der Geschichte meint. Es werden also durchaus nicht nur die Historiker angesprochen. Geschichtliche Hermeneutik meint eine Betrachtung des Verstehens, die die Bedingungen der Endlichkeit und Faktizität des Menschen in Anschlag bringt. 52

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Man wird sicherlich zugeben müssen, dass der Gedanke, Autorität könne Wahrheit vermitteln, auf das heutige aufgeklärte Bewusstsein verstörend wirken muss. Aber es ist eben ein aufgeklärtes Bewusstsein. Das ist es, was die Verstörung ausmacht. Keinesfalls verstanden werden darf dies aber als eine Aufforderung, hinter die Aufklärung zurückzufallen. Es geht vielmehr darum, zwischen den Ex­ tremen einen Mittelweg zu finden, der der Sache besser gerecht wird. Gadamer erkennt an, dass der von der Aufklärung in Ansatz gebrachte Gegensatz zwischen Autorität und Vernunft zu Recht besteht, wenn „die Geltung der Autorität an die Stelle des eigenen Urteils tritt“ und sich daraus die Vorurteile ergeben. In dieser konditionalen Verknüpfung liegt der Ansatz zur Neubewertung der Autorität, denn der Zusammenhang ist keineswegs zwingend. Wenn er besteht gilt es ihn zu kritisieren, das als Zugeständnis an die Errungenschaften der Aufklärung. Dass der Zusammenhang immer besteht, und dass somit zwischen Autorität und Wahrheit immer ein Gegensatz besteht, ist damit aber nicht gesagt.57 Hinter diese Diffamierung der Autorität durch die Aufklärung wollte Gadamer dann in der Tat zurück58. Es geht also nicht darum, jede Autorität blind zu rechtfertigen, sondern darauf aufmerksam zu machen, dass es neben dieser Autorität auch eine andere gibt. Und zwar die, die sich aus der Vernunft als ein Ausdruck der Erkenntnis ergibt; derjenigen, dass einem Anderen eine höhere Einsicht zukommt und man deshalb gut daran tut, sein Urteil dem eigenen vorgehen zu lassen59. Gadamer betont hier den Zusammenhang der zwischen Erkenntnis und Autorität besteht. Denn die Autorität, die einer hat, hat er erworben aus der Erkenntnis der anderen, dass die Person, der Autorität zuerkannt wird, es schlicht besser weiß als man selbst. Auf Erkenntnis und Zuerkenntnis kommt es also an: Autorität wird – bevor sie verliehen wird – erworben und ganz wichtig, sie muss erworben sein, wenn einer sie in Anspruch nehmen will60. Dieses Verleihen der Autorität ist als ein „Akt der Freiheit“ anzusehen61. Die Autorität, für die hier gefochten wird, soll also keine sein, die aus „einem Akt der Unterwerfung und der Abdiktion der Vernunft“ entsteht. Auch die gibt es, zum Beispiel wenn sie ererbt oder erzwungen ist, und ihre Existenz zu leugnen wäre fatal. Aber es gibt sie eben auch. „So ist die Anerkennung von Autorität immer mit dem Gedanken verbunden, dass das, was die Autorität sagt, nicht unvernünftige Willkür ist, sondern im Prinzip eingesehen wer 57

Vgl. Gadamer, WM, S. 283. Gadamer hält es wohl zu Recht für symptomatisch, dass der große Aufklärer und Methodendenker Descartes aller Radikalität seines Methodendenkens zum Trotz die Dinge der ­Moral von dem Anspruch einer vollkommenen Neukonstruktion aller Wahrheiten aus der Vernunft ausgenommen hat und in der Frage der Moral auch nichts Neues vorzubringen hatte. Vgl. Gadamer, WM, S. 283 f. 59 Vgl. Gadamer, WM, S. 284. 60 Nicht blinder „Kommandogehorsam“! Gadamer, WM, S. 284. 61 Vgl. Gadamer, WM, S. 284. 58

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den kann. Das Wesen der Autorität, die der Erzieher, der Vorgesetzte, der Fachmann in Anspruch nehmen, besteht darin. […] Insofern gehört das Wesen der Autorität in den Zu­ sammenhang einer Lehre von den Vorurteilen, die von dem Extremismus der Aufklärung befreit werden muss.“62

Es hört also auf sinnvoll zu sein im Zusammenhang mit den Fragen der Auto­ rität zwingend von der Abwesenheit der Vernunft auszugehen, wenn man einsieht, dass der Zustand fremder Autorität gegebenenfalls erst aus der vernünftigen Einsicht eines Menschen in die tatsächliche Überlegenheit eines anderen folgt. Diese Autorität ist aber zwingend zu verstehen als eine, in welcher nur der „schwache Zwang des besseren Arguments“63 herrscht und es zeigt sich darin ihr Potenzial, Wahrheit zu vermitteln. Um die Frage nach den Wirkungen der Autorität in den richtigen Zusammenhang einer Suche nach den bestimmenden Vorurteilen des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins zu stellen wird es allerdings nötig sein, noch eine Ebene tiefer zu gehen. c) Das Beispiel der Tradition Ein Beispiel, das Gadamer für eine Form der Autorität gibt, die zwar von der Romantik noch gegen die Aufklärung verteidigt wurde64, heute aber wiederum einer kritischen Grundhaltung ausgesetzt ist, ist das der Tradition65. An diesem Beispiel wird der Zusammenhang deutlich werden, der zwischen den Wirkungen der Vorurteile und der Geschichtlichkeit des Menschen besteht. Zunächst lohnt sich ein Blick auf die Verteidigung der Tradition durch die Romantik. Diese Verteidigung ist eine ganz eigene. In ihr wird die Tendenz der Aufklärung, alle Autorität als unvernünftig zu begreifen auf den Kopf gestellt; gleichzeitig bleibt die Romantik auf dem Boden der Aufklärung stehen, obwohl sie sich als Reaktion auf sie verstand. Denn die Verteidigung der Tradition durch die Romantik lag in ihrer Deutung als naturgleiche Gegebenheit und damit als Gegensatz zur vernünftigen Freiheit66. Nun galt das Alte, weil es das Alte ist67. Bei Schleiermacher findet sich schon nichts mehr von dem Gedanken, dass Vorurteile aus Autorität auch Wahrheit enthalten können68.

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Gadamer, WM, S. 285. Tietz, Hans-Georg Gadamer. Zur Einführung, S. 45. 64 Vgl. Gadamer, WM, S. 285. 65 Denn was ist Tradition heute noch, wenn nicht eine zu kritisierende Rückständigkeit? 66 Gadamer, WM, S. 285 f. 67 Vgl. Gadamer, WM, S. 278: „Der Glaube an die Perfektibilität der Vernunft springt um in den an die Perfektion des ‚mythischen‘ Bewusstseins und reflektiert sich in einen paradiesischen Urzustand vor dem Sündenfall des Denkens.“ 68 Vgl. Gadamer, WM, S. 283. Interessanter Weise steht er damit im Gegensatz zu Savigny, der eine ganz andere Bewertung der Autorität vornimmt. 63

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Aus diesen Umwertungen speist sich die Einstellung der historischen Wissenschaft des 19. Jahrhunderts, die die Überlegenheit der Vergangenheit anzuerkennen vermag und ihr einen eigenen Wert zumisst69. Das mit der Romantik heraufziehende historische Bewusstsein70 geht schließlich über die Forderung der Aufklärung, alle Überlieferung, die sich vor der Vernunft als nicht haltbar erweist, im Rückgang auf die Vorstellungen der Vergangenheit, d. h. historisch zu verstehen, noch hinaus, indem diese Anforderung radikalisiert und der Ausnahmefall zum Regelfall wird. Am Ende wird alles nur noch historisch verstanden71. Wenn der Tradition keine Vernunft anhaftet, dann muss sie eben als eine naturgleiche geschichtliche Erscheinung gesehen werden. Dieser kommt somit trotzdem Geltung zu und zwar grundlose, weil sie uns wie die Natur bestimmt, sie der menschlichen Verfügung entzogen ist72. Schon bei der Autorität hat Gadamer den Mangel an Reflexion der in ihr liegenden Freiheit beanstandet, dieselbe Kritik trägt er in Bezug auf die Tradition vor. Hier kommt es zunächst vor allem darauf an, deutlich zu machen, dass sowohl durch die Aufklärung als auch in der darauf folgenden Epoche der Romantik die Begriffe Autorität/Tradition und Vernunft als Gegensätzlichkeiten gegeneinander ausgespielt werden. Das Ergebnis ist, dass für die Aufklärung das Tradi­tionelle per se unvernünftig ist, während für die Romantik das Traditionelle zwar nicht das per se Vernünftige ist, es dafür der Sphäre der Vernunft gleich voll­ständig entzogen wird. Es erscheint tatsächlich fragwürdig, ob man dem Charakter der Tradition gerecht wird, indem man alle Vernunft ihr gegenüber „zum Schweigen bringt“73. Dies vor allem, weil der Wandel, der sich an der Tradition vollzieht, nicht erklärbar ist, wenn man sie der kritischen Unterwerfung unter die Vernunft schlicht entzieht. So führt Gadamer aus, dass auch die „echteste und gediegenste Tradition“ sich nicht „naturhaft vollzieht, dank der Beharrungskraft dessen was einmal da 69 Vgl. Gadamer, WM, S. 279 f: „Die historische Wissenschaft des 19. Jahrhunderts ist ihre [der Romantik] stolzeste Frucht und versteht sich geradezu als die Vollendung der Aufklärung, als den letzten Schritt in der Befreiung des Geistes von dogmatischer Befangenheit, den Schritt zur objektiven Erkenntnis der geschichtlichen Welt, die der Erkenntnis der Natur durch die moderne Wissenschaft ebenbürtig zur Seite tritt.“ 70 Gadamer nennt das historische Bewusstsein: „Eine Entfremdungserfahrung, jene langsam sich ausbildende großartige Kunst des Sich-selber-gegenüber-kritisch-Werdens in der Aufnahme der Zeugnisse vergangenen Lebens. Die bekannte Rankesche Formulierung von der Auslöschung der Individualität hat in eine populäre Formel gekleidet, was Ethos des historischen Denkens ist: dass das historische Bewusstsein sich die Aufgabe stellt, alle Zeugnisse einer Zeit aus dem Geiste dieser Zeit zu verstehen, sie wegzurücken von den uns einnehmenden Aktualitäten unseres gegenwärtigen Lebens und ohne moralische Besserwisserei die Vergangenheit zu erkennen, wie auch sie eine menschliche war.“ Gadamer, Die Universalität des hermeneutischen Problems, S. 219 (221). 71 Vgl. Gadamer, WM, S. 280. Wie sich gezeigt hat, kann dieser Gedanke mit der Einsicht in die eigene geschichtliche Bedingtheit nicht in Einklang gebracht werden. 72 Vgl. Gadamer, WM, S. 286. 73 Vgl. Gadamer, WM, S. 286.

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ist“, sondern dass sie der „Bejahung, der Ergreifung und der Pflege“74 bedarf. Somit ist die Tradition nicht der menschlichen Verfügung entzogen wie die Natur. Wie sich der Wandel vollzieht bleibt allein rätselhaft, weil er sich in Bewahrung vollzieht, einem Handeln, in dem Vernunft wirkt, das aber durch Unauffälligkeit gekennzeichnet ist75. Diese Unauffälligkeit, nicht Unbewusstheit, gibt dem Wandel und der Bewahrung der Tradition den Schein von Planlosigkeit und damit von Vernunftlosigkeit. Wohlgemerkt, den Schein, denn Bewahrung ist ein Ver­halten aus Freiheit genauso wie Umsturz und Neuerung76. Gadamer entzieht damit die Tradition dem Bereich der Zufälligkeit, der unkontrollierbar waltenden „Umgebung“ und stellt die Möglichkeit der kritischen Überprüfung durch den Menschen heraus77. Aber diese Freiheit im Umgang mit der Überlieferung ist gerade nicht als ein frei sein von der Überlieferung zu verstehen. Denn das, was Tradition eigentlich ist, ist eine nicht mehr greifbare, „namenlos“ gewordene Autorität und über das endliche Wesen herrscht auch etwas, das nicht durch gute Gründe Einsicht ver­ langen darf, sondern „geheiligt“ ist aus Überlieferung und Herkommen78. Die Überlieferung ist sozusagen nicht opponierbar. Sie ist etwas, worin der Mensch steht, und wer glaubt, als neutraler Betrachter aus ihr heraustreten zu können, irrt. Sie ist immer schon ein „eigenes“ und das Sich-entgegenstellen ist kein „vergegenständlichendes Verhalten“, weil beim Entgegenstellen immer noch etwas von ihr mitgenommen werden muss79. Sowohl die Sichtweise der Aufklärung, als auch die der Romantik bedeuten damit tatsächlich eine Abkoppelung des geschichtlichen Wesens von seiner Überlieferung. Wenn die Tradition als das an sich Unvernünftige der Kritik durch den Zeitgenossen bedarf, so wird damit eine Vergegenständlichung verlangt, nichts anderes also als ein Vorgang, in dessen Rahmen der Gegenwärtige seiner Geschichte gegenüber tritt, sich also von ihr befreit. Wenn andererseits die Tradition aus dem Feld der Vernunft von vorneherein ausgeschlossen ist, so steht der Mensch ihr, die man nun wie eine naturähnliche Gegebenheit denken muss, zwangsläufig nur gegenüber, ohne erfassen zu können, wie weit er selbst ein Teil dieser Tradition ist. Hier findet sich einer der tragenden Gedanken von „Wahrheit und Methode“. Wenig ist bis dato beachtet worden, inwieweit der Gegenstand der Hermeneutik nicht nur das Verstehen prägt, sondern den Verstehenden immer schon geprägt hat. Das Verbundensein mit dem „Gegenstand“, den man dementsprechend eigentlich 74

Gadamer, WM, S. 286. Vgl. Gadamer, WM, S. 286. 76 Vgl. Gadamer, WM, S. 286. 77 Ähnliches findet sich schon bei Dilthey, der kulturelle Systeme als die Verstetigung sozialer Strukturen auffasst, die aber nur relativ stabil sind, weil sie durch den Zufluss neuer Erfahrungen der Individuen einer andauernden Entwicklung unterliegen. Vgl. Jung, Einführung zu Dilthey, S. 63. 78 Vgl. Gadamer, WM, S. 285. 79 Vgl. Gadamer, WM, S. 286. 75

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E. Verstehen und Zugehörigkeit: Gadamers philosophische Hermeneutik 

gar nicht so nennen dürfte, ermöglicht dem Menschen das Verstehen erst. Nur so findet die menschliche Endlichkeit ihren notwendigen Raum im Verstehen80 denn das „Sein kann hinter die Faktizität dieses Seins nicht zurück“81. Dass man sich der Tradition nie vollständig entziehen kann, verdeutlicht Gadamer am Beispiel der Erziehung durch den Vormund: Wenn der Vormund seine Funktion verliert, weil der Zögling, sei es durch Alter oder Weihe, von da an seine Entscheidung selbst zu treffen vermag, so heißt das noch nicht, dass er damit von aller Autorität des an ihn Überlieferten frei würde82. Auch wer seine Erziehung betrachtet und kritisiert, tut das dennoch von ihrem Boden aus. Und genauso wenig, wie der Mensch aus seiner persönlichen Überlieferung heraus zu treten vermag, vermag er es in Bezug auf das, was wir Tradition nennen. „Die Wirklichkeit der Sitten z. B. ist und bleibt in weitem Umfange eine Geltung aus Herkommen und Überlieferung. Sie werden in Freiheit übernommen, aber keineswegs aus freier Einsicht geschaffen, oder in ihrer Geltung begründet. Eben das ist es vielmehr, was wir Tradition nennen: ohne Begründung zu gelten.“83

Damit will gesagt sein, dass die Tradition nicht der vergegenständlichenden Verwerfung zugänglich ist. Man kann sie nicht einfach neu schaffen. Eine der Diltheyschen Aporien lag darin, dass er einerseits zutreffend die Bedingtheit des Daseins festhalten wollte, aber unzutreffend von der Möglichkeit der Zersetzung der Bedingungen durch den Zweifel ausging. Dieser Zersetzung sollte wohl­ gemerkt als eine der tragenden Wirklichkeiten auch das Recht anheim fallen. Doch stellt sich auch hier die Frage, ob das überhaupt zu leisten ist. Deshalb gehört die Frage der Möglichkeit der Zersetzung von Ordnungen, die das je eigene Sein des geschichtlichen Daseins ausmachen, in den Zusammenhang einer Phänomenologie des Verstehens. Gadamers Antwort liest sich wie folgt: „Nicht uns gehört die Geschichte, sondern wir gehören ihr an. Lange bevor wir uns in der Rückbesinnung selber verstehen, verstehen wir uns auf selbstverständliche Weise in Familie, Gesellschaft und Staat, in denen wir leben. Der Fokus der Subjektivität ist ein Zerrspiegel. Die Selbstbesinnung des Individuums ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens. Darum sind die Vorurteile des einzelnen weit mehr als seine Urteile die geschichtliche Wirklichkeit des Seins.“84

Es kann dem Menschen aufgrund seiner Endlichkeit nicht möglich sein, seine Überlieferung, die Geschichte, objektiv zu verstehen. Vor allen Dingen nicht, indem der Einzelne versucht seine Subjektivität aufzugeben und sich in das „Historische“ zu versetzen, das er verstehen will. Diese Art von Objektivität steht nur jemandem zu, der immer schon außerhalb der Geschichte gestanden hat. Wer sich aus der Geschichte, dem Überlieferungszusammenhang, in dem er steht, ganz he 80

Vgl. Gadamer, WM, S. 280. Gadamer, WM, S. 268 f. 82 Vgl. Gadamer, WM, S. 285. 83 Gadamer, WM, S. 285. 84 Gadamer, WM, S. 281. 81

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rausnähme, der würde nicht zu sich zurückfinden – es gibt kein „Sein“, das nicht „zur Zeit“ ist. Um das Beispiel noch einmal aufzugreifen: Die Erziehung wird kritisiert durch den Erzogenen. Die menschliche Vernunft ist analog zum Menschen keine unendliche. Der Mensch ist kein „bedingungsloses Wesen“ und kann sich auch durch nichts dazu machen, denn die Vernunft ist und wird nicht ihrer selbst Herr, sondern bleibt auf Gegebenheiten angewiesen, an denen sie sich bestätigt85. Damit ist aber auch gesagt, dass man nicht in seiner Freiheit beschränkt ist, wenn man Vorurteilen unterliegt, weil man in einer Überlieferung steht. Es geht hier um so etwas wie die Objektivität des Subjekts. Kann das Verstehenssubjekt objektiv sein, indem es sich selbst zum Objekt macht? Inwieweit also bedeutet die Reflexion einen Ausweg aus der Subjektivität und damit der drohenden Beliebigkeit? Das ist aber nicht alles. Umgekehrt wird eben auch fraglich, was es mit der Objektivität des Objektes auf sich hat, und ob nicht auch das Verstehensobjekt eine immanent subjektive Komponente hat. Man kann also sagen, dass mit Gadamer das Subjekt subjektiver wird, weil das Objekt einen Teil seiner Objektivität verliert. Der Mensch ist immer schon in einer Welt, die er versteht und in der er sich versteht. Das Subjekt und das Objekt des Verstehens gehören ein und demselben geschichtlichen Horizont an, wodurch sowohl eine „reine, transzendentale Subjektivität“ als auch eine „subjektfreie Objektivität“ ausgeschlossen sind86. Es gibt diesbezüglich eine recht prominente Kritik an Gadamer. Ein Teil dieser Kritik, die in einen größeren Zusammenhang gehört, scheint sich dabei zu verselbständigen. Ursprünglich insbesondere von Habermas vorgetragen, wurde der Betonung der Beherrschung des Interpreten durch die Autorität der Tradition, die Kraft der Reflexion entgegengestellt87. In einer vereinfachenden Form heißt es heute nur noch: Es fehle Gadamers Hermeneutik ein kritisches Prinzip gegenüber der Tradition88. Die gesamte Diskussion wird an dieser Stelle nicht auszubreiten sein. Aber es dürfte aus dem vorangegangenen deutlich geworden sein, dass die Kritik in der Pauschalität der Sache nicht gerecht wird. Schließlich stellt Gadamer mit seiner Bewertung der Tradition ein allgemeines kritisches Prinzip gegenüber allen kritischen Prinzipien auf. Es geht darum aufzuzeigen, dass das verstehende Wesen Mensch nur deshalb verstehen kann, weil es seinen festen Stand in Ordnungen hat, die es nicht zersetzen kann und von denen es keine Loslösung gibt. Die Kritik an Traditionen ist damit durch die Tradition selbst begrenzt. Gleichzeitig hat sich gezeigt, dass Gadamer sehr deutlich auf die Freiheit in der Übernahme der Tradition hingewiesen hat. Damit enthält die Traditionskritik der philosophischen Hermeneutik durchaus ein kritisches Prinzip gegenüber der Tradition, aber ein 85

Vgl. Gadamer, WM, S. 280 f. Vgl. Bronk, Der hermeneutische Objektivismusbegriff, in: Papenfuss/Pöggeler, Zur philosophischen Aktualität Heideggers, Bd. 2: Im Gespräch der Zeit, S. 210 (214). 87 Habermas, Zu Hans-Georg Gadamers „Wahrheit und Methode“, in: Habermas/Henrich, Hermeneutik und Ideologiekritik, S. 45 ff. 88 Zuletzt Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 62 Fn. 47 und S. 81 Fn. 81 m. w. N. Vgl. Zum Ganzen differenziert Grondin, Hans-Georg Gadamer. Eine Biographie, S. 338 ff. 86

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E. Verstehen und Zugehörigkeit: Gadamers philosophische Hermeneutik 

solches, das von der Hybris des Menschen befreit ist, der im Nachklang der Aufklärung meint, sich von allen seinen Bedingungen befreien zu können. Bis hierhin ist Folgendes festzuhalten: Das menschliche Verstehen wird an Vorurteilen entlang geleitet. Die Schwierigkeiten, das zu akzeptieren, die das heutige Sprachverständnis im Zusammenspiel mit den überkommenen aufklärerischen Ansprüchen an den richtigen Gebrauch der Vernunft uns heute bereiten, erweisen sich, sind sie einmal auf diese Weise erklärt, als unbegründet. Auch ein Vorurteil kann einer Sache gerecht werden. Welcher Art sind nun diese Vorurteile, die uns bestimmen? Gadamer nennt sie beim Namen, es sind letztlich genau die, welche die Aufklärung mit ihrem Vernunftanspruch zu überwinden gedachte: jede Art von Autorität, insbesondere die Tradition. Es sind aber auch die weiteren vorgefundenen Ordnungen, die das Dasein zu dem machen was es ist und von denen sich das Dasein nicht einfach abschneiden kann, wie von den sprichwörtlichen alten Zöpfen. Die Versuche Diltheys, dem verstehenden Forscher einen freien Blickstand auf die Sache zu verleihen sind daran gescheitert, dass das Dasein ohne seine gewordene und geteilte Sicht auf die Welt, ohne die Anschauungen seiner Zeit und Umgebung, die sich in seiner Sprache manifestieren, die es nicht erfunden, sondern vorgefunden hat, um sein da, sein jetzt beraubt wird. Der Begriff der Tradition steht in diesem Zusammenhang für den Faktor Zeit in seiner Wirkung auf das menschliche Verstehen – mit den Möglichkeiten der Ergründung von Sinn, die in der Sprache liegen wären Vorurteile benannt, die eine Verbindung zwischen den Zeitgenossen zulassen. Für die Tradition ist am Beispiel der fortwährenden Wirkung der Erziehung deutlich geworden, dass der Anspruch der Aufklärung, den Menschen von den Vorurteilen zu befreien, nicht in dem Maße einlösbar ist, wie dies die selbst gestellte Aufgabe erfordern würde. Die Reflexion findet hier ihre Grenze. Wenn sich das Denken nicht selbst zur Verfügung stellt, dann steht es auch nicht zu seiner Verfügung89. Darüber hinaus ist aber auch deutlich geworden, dass schon der Anspruch, die Unfreiheit des Menschen durch die Traditionskritik zu beenden, als zu radikal erscheinen muss, weil in der Tradition selbst wie in jeder Form von Autorität eine bewusste Übernahme und eine bewusste Anerkennung liegen, die selbst als Verwirklichung von Freiheit angesehen werden müssen. Gadamer bestreitet das Ideal der Selbstdurchsichtigkeit der Subjektivität grundsätzlich und weist darauf hin, dass ein unbegrenztes Verstehen nicht nur den Sinn des Verstehens verkürzt, sondern es geradezu aufhebt, so wie eine alles umfassende Perspektive den Sinn von Perspektive aufheben würde. Wenn nun aber Autoritäten und Traditionen nicht bloß zu vermeidende Übel sind, von denen der Forscher zum Zwecke der Objektivierung seiner Erkenntnisse frei werden muss, dann stellt sich die Frage, ob nicht die Tradition einen ganz anderen Platz innerhalb der geisteswissenschaftlichen Forschung verdient als

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Vgl. Gadamer, Subjektivität und Intersubjektivität, Subjekt und Person, in: GW 10, S. 87 ff., 95.

II. Verstehen und Zeit

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die Hermeneutik das bisher anerkannt hat90. So kommt Gadamer zu dem Schluss, dass das „Verstehen selber nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu denken [ist], sondern als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln.“91

II. Verstehen und Zeit Wenn also der Begriff der Tradition für den Faktor Zeit im Vorgang des Verstehens steht, dann wird als nächster Schritt der Rückschluss vom Beispiel auf das Ganze zu ziehen sein. Es galt seit Schleiermacher, den Abgrund der Geschichte, der den Verstehenden vom Verfasser der Texte trennt, durch eine „Kommunion der Seelen“92 zu überwinden. Wenn dieses Überwinden bisher durch ein Absehen von der eigenen Gewordenheit geleistet werden sollte, durch ein Absehen von den tragenden Vorurteilen des Einzelnen, i. e. von der Tradition, dann bedeutete das nicht weniger, als die Geschichte in Fragmente aufzuspalten und das Herausgebrochene einzeln zu betrachten. Es hat sich aber gezeigt, dass der Betrachter der überkommenen Ordnungen von seinem Standpunkt innerhalb derselben nicht loskommt. Es hat sich gezeigt, dass es ein solches Absehen von der Zeit seit einem Ereignis in der Geschichte bis zu dem Versuch, es zu verstehen, nicht gibt und deshalb stellt sich die Frage, welche Rolle die „Zwischenzeit“ stattdessen spielen kann. Gadamer nennt das die „hermeneutische Bedeutung des Zeitenabstandes“. Hier wirkt noch einmal die Vorarbeit, die Heidegger durch die temporale Interpretation der Seinsweise des Daseins und durch die Ausweisung des Verstehens als Existenzial geleistet hat, in der Bewusstmachung der Wirkung der Zeit auf die Hermeneutik.93 Doch zunächst sei der Kontext, in den Gadamer die Ausführungen über die Zeitlichkeit des Verstehens stellt, noch einmal verdeutlicht. Es geht immer noch um eine Bestimmung des hermeneutischen Zirkels. Schleiermacher hatte den Zirkel sowohl nach der subjektiven als auch nach der objektiven Seite hin differenziert. Für Schleiermacher sollte im Verstehen, das sich in dem angesprochenen divinatorischen Akt vollendet, eine Auflösung des Zirkels stattfinden. Gadamer will mit Heidegger dagegen festhalten, dass der Zirkel im Verstehen nicht zu seiner Auflösung, sondern zur „eigentlichsten Vollziehung“94 gelangt. Der Zirkel ist damit bei Gadamer nichts anderes als eine Beschreibung des Vollzugs des Verstehens als eines Ineinanderspiels der Bewegung der Überlieferung und der 90

Vgl. Gadamer, WM, S. 286. Gadamer, WM, S. 295. 92 Gadamer, WM, S. 297. 93 Vgl. Gadamer, WM, S. 302. 94 Gadamer, WM, S. 298. 91

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E. Verstehen und Zugehörigkeit: Gadamers philosophische Hermeneutik 

Bewegung des Interpreten, die nicht formaler Natur ist. Wenn das Verstehen von Sinnerwartungen ausgeht und durch sie angeleitet ist, so sind diese Sinnerwartungen nicht als eine in Anschlag zu bringende Leistung des Interpreten, sondern vielmehr als sich aus der Gemeinsamkeit bestimmend anzusehen, die der Interpret mit der Überlieferung teilt. Gadamer will darin aber noch mehr sehen als nur eine Voraussetzung, unter der der Interpret steht. Die Voraussetzung wird vom Verstehenden selber weiter bestimmt.95 Im Verstehen bleibt die Geschichte nicht stehen, sondern wird darin fortgebildet. So wie die Tradition der pflegenden Übernahme bedarf und der Verwerfung durch den Zeitgenossen unterliegen kann. Daraus zieht Gadamer eine Konsequenz, die er den „Vorgriff der Vollkommenheit“ nennt. Ähnlich wie im Zusammenhang mit der Voraussetzung des tragenden Einverständnisses, das Gadamer gegen Schleiermachers Annahme des basalen Missverständnisses gesetzt hat, geht es dabei darum, dass der Interpret einer Sache immer zunächst mit der Erwartung an sie herangeht, dass sie eine „vollkommene Einheit von Sinn darstellt“, bevor irgendein wie auch immer gearteter Ausweg aus dem gestörten Verständnis gesucht wird. Es handelt sich auch hierbei um eine inhaltliche und nicht um eine bloß formale Voraussetzung, die das Verstehen bestimmt. Danach sagt der Text nicht nur eine Meinung vollkommen aus, es ist auch so, „dass das, was er sagt, die vollkommene Wahrheit ist“.96 Auch dieser Punkt hat schon einmal Erwähnung gefunden: Gadamer will gegenüber der romantischen Hermeneutik ein Festhalten der Verstehensbemühung an der Wahrheit erreichen. Darauf muss die Hermeneutik ausgerichtet sein und nicht auf ein Hineinversetzen in den Verfasser dessen, was verstanden werden soll. Am Anfang eines jeden Verstehensversuchs steht somit das Vorverständnis, welches aus „dem Zu-tun-haben mit der gleichen Sache entspringt“.97 Die Tradition erfüllt in der Hermeneutik ihren Sinn dadurch, dass sie die Zugehörigkeit bereitstellt, welche oben schon vorwegnehmend als das tragende Moment der Gadamerschen Hermeneutik angesprochen wurde, als die grundlegende Übereinstimmung der Vorurteile und damit zeigt sich, dass sich eine Antwort auf die Frage des „wozu“ der Zugehörigkeit geben lässt: Es ist die Geschichte selbst, es sind die tragenden Ordnungen der Überlieferung, die sich in Sitte, Moral, Tradition oder Sprache zeigen, von denen dem geschichtlichen Wesen – auch und gerade im Bemühen um ihre Ergründung – keine Loslösung gelingen kann.98 Dabei handelt es sich aber nicht um so etwas wie die schon zur Sprache gekommene Kommunion der Seelen. Gadamer verortet diese Zugehörigkeit und die grundlegende Übereinstimmung der Vorurteile vielmehr in einer Spannung zwischen Fremdheit und Vertrautheit. Das ist letztlich der Grund, von der Hermeneutik ein Abrücken von ihren methodologischen Bemühungen zu fordern. Statt­ 95

Vgl. Gadamer, WM, S. 298. Gadamer, WM, S. 299. 97 Gadamer, WM, S. 299. 98 Vgl. Gadamer, WM, S. 300. 96

III. Die Produktivität des Zeitenabstands 

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dessen soll sie die Bedingungen aufklären, unter denen das Verstehen steht, denn die Bedingungen sind ohnehin nicht frei verfügbar. Wenn also das Verstehen unter Vorurteilen steht, die man sich nie letztlich bewusst machen kann. Wenn nur dieser Umstand zu Bewusstsein kommen kann. Dann muss die Bedeutung von Methoden für die Geisteswissenschaften eine ganz andere sein als die eines Schlüssels, den man zur Erfüllung der Reinheit des Verstehens zur Anwendung bringen kann. Hier wird das methodische Selbstverständnis der Geisteswissenschaften und damit auch der Rechtswissenschaften fraglich99. III. Die Produktivität des Zeitenabstands Nach alledem muss die Wirkung der Zeit im Verstehen einer Neubewertung zugeführt werden; auch um der Erfahrung der Endlichkeit und Unabschließbarkeit allen Verstehens gerecht zu werden100. Es fragt sich, was es nun auf sich haben soll mit dem Zeitenabstand, wenn er nicht als ein zu überbrückendes Hindernis im Verstehen anzusehen ist. Aus dem Umstand, dass die Zeit als Ganzes nicht in ihrer Kontinuität gebrochen werden kann lässt sich der Schluss ziehen, dass die Zeit, die zwischen dem Ereignis und seiner Interpretation liegt, keinen „gähnenden Abgrund“ darstellt. Vielmehr ist sie ausgefüllt „durch die Kontinuität des Herkommens und der Tradition, in deren Lichte sich alle Überlieferung uns zeigt“, die aber auch überhaupt erst etwas wie Licht auf die Überlieferung wirft.101 Wenn der Zeitenabstand den hermeneutischen Bemühungen zuträglich ist, dann bedeutet das allein in letzter Konsequenz schon, dass die Hermeneutik niemals das Ende des Verstehens einer Sache bereitstellen kann, weil mit dem unaufhaltsam und stetig wachsenden Zeitenabstand immer neue Produktivität entsteht. Deshalb hören die Erklärungsversuche nie auf. Allerdings wird hier auch deutlich, warum man sagen kann, dass die Gadamersche Philosophie bei allem Relativismus ein bisschen Idealismus festhält102. Denn die Erklärungsversuche, denen droht, überholt zu werden, haben trotzdem in ihrer Zeit, sofern sie denn der Sache, die sich dabei in der Betrachtung auch fortbildet, gerecht werden, ihre Berechtigung. Man kann vielleicht sagen, dass das Verstehen nicht einmal nur trotz seiner Relativität dem Menschen Wahrheit vermitteln kann, sondern gerade wegen dieser, weil darin das Verstehen mit allem Menschlichen korrespondiert. Es gibt ein treffendes Beispiel, an dem man erfahren kann, wie der Zeitenabstand seine Wirkung entfaltet und wie anders die Voraussetzungen für das 99 Unter welchen Voraussetzungen die Anwendung des Rechts steht und was es dementsprechend mit den Methoden auf sich hat wird erläutert, wenn die Hermeneutik des Rechts in den Fokus der Betrachtung rückt. 100 Vgl. Gadamer, Replik zu „Hermeneutik und Ideologiekritik“, S. 251 (264). 101 Gadamer, WM, S. 302. 102 Vgl. Rorty, Sein, das verstanden werden kann ist Sprache, in: Bubner/Rorty/Teufel, „Sein, das verstanden werden kann ist Sprache“. Hommage an Hans-Georg Gadamer, S. 39.

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E. Verstehen und Zugehörigkeit: Gadamers philosophische Hermeneutik 

Verstehen sind, wenn der Abstand einmal fehlt. So spricht Gadamer von einer „eigentümlichen Ohnmacht unseres Urteils“103 immer dann, wenn es für das wissenschaftliche Bewusstsein um die Bewertung zeitgenössischer Kunst geht. Man wird wohl recht leicht nachvollziehen können, dass es vom Standpunkt der Gegenwart aus immer sehr viel schwerer fällt, das Zeitgenössische in seiner Bedeutung einzuordnen, als dies bei Dingen der Fall ist, bei denen jeder Gegenwartsbezug schon abgestorben ist. Zwar nicht allein, insofern hat Gadamer seine Ausführungen in der zweiten Auflage gegenüber dem ursprünglichen Text von „Wahrheit und Methode“ abgeschwächt, aber oft ist es der Zeitenabstand, der dazu verhilft, die wahren Vorurteile von den falschen und damit das Verstehen vom Missverstehen zu scheiden104. Damit wird auch der Satz, man müsse einen Autor besser verstehen als er sich selbst verstanden hat, einer Umdeutung unterzogen werden müssen. Nicht eine Überlegenheit in der Bewusstmachung irgendwelcher Umstände, unter denen die Produktion stand, führt zu so etwas wie einem Besserverstehen, sondern die Zwischenzeit führt zu einem Andersverstehen. Daraus, dass „der Sinn eines Textes seinen Autor immer übertrifft“, folgt, dass das Verstehen nicht, wie es Schleiermacher darstellte, ein reproduktives Verfahren, sondern stets auch ein produk­tives Verfahren ist. Und so kommt Gadamer zu dem Schluss, dass „man anders versteht, wenn man überhaupt versteht“.105 Diese Einsicht ist für die Rechtswissenschaften nicht so irrelevant, wie es auf den ersten Eindruck erscheint. Es wird dadurch der Zuwachs der Bedeutung von Normen erläutert, der daraus entsteht, dass mit dem Zuwachs an Zeit neue Anwendungsfelder erschlossen werden, „neue Quellen des Verständnisses, die ungeahnte Sinnbezüge offenbaren“106. Schließlich ist in jedem Urteil, das die Bedeutung einer Norm in Hinblick auf die konkrete Situation des Falles bestimmt, ein Zuwachs von Bedeutung zu sehen. Damit ist allerdings schon etwas vorausgesetzt, denn dies gilt nicht, wenn man meint, dass der Sinn der Norm kein Sinnbezug im Hinblick auf die situative Anwendung ist. Wenn man voraussetzt, dass ihre Bedeutung vielmehr schon immer in der Norm liegt. Deshalb wird es noch darauf ankommen, zu überprüfen, was es genau heißt, eine Norm zum Zwecke der Lösung eines Falles zu verstehen. Die Möglichkeit von Objektivität im Rechtsfindungsprozess, solange sie sich als die oben beschriebene szientistisch-methodisch ein für allemal her­zustellende Evidenz versteht, hängt von der Frage ab, ob die Norm schon immer Bedeutung hat, oder ihre Bedeutung aktualisiert werden muss.

103

Gadamer, WM, S. 302. Vgl. Gadamer, WM, S. 304, siehe dazu auch Fn. 228, ebd., und die Ausführungen von Grondin, Einführung zu Gadamer, S. 140 ff. 105 Gadamer, WM, S. 301 ff. und Dekonstruktion und Hermeneutik, in: GW 10, S. 138 (141). 106 Gadamer, WM, S. 303. 104

IV. Die erkenntnistheoretische Rechtfertigung

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IV. Die erkenntnistheoretische Rechtfertigung Was ergibt sich daraus für die zugegebenermaßen ein wenig verdeckt gebliebene Frage nach der Legitimation von Vorurteilen, die Gadamer als „erkenntnistheoretische Grundfrage einer geschichtlichen Hermeneutik“ bezeichnet hat? Hat Gadamer sie beantwortet? Gibt es so etwas wie einen „präjudiziellen Imperativ“, ein „vor-urteile immer so, dass …?“ Tatsächlich ist Gadamer keine erkenntnistheoretische Rechtfertigung der Vorurteile gelungen, wenn man die Aufgabe so versteht, wie sie sich für Dilthey gestellt hat und wie sie die Erkenntnistheorie vielleicht klassischer Weise verstehen würde. Denn wer Kriterien erwartet hat, mit denen sich legitime Vorurteile ausmachen lassen oder gar eine Formel mit der man produktive von hinderlichen scheiden kann, der muss enttäuscht sein. Worin die Rechtfertigung im Einzelnen liegt? Sie liegt in der Vermittlung von Wahrheit. Das muss dem aufgeklärten Bewusstsein wie ein Taschenspielertrick vorkommen: Vorurteile sind dann legitim, wenn sie zu richtigen Ergebnissen führen, also sind sie richtig, wenn sie richtig sind. Es kam aber zunächst einmal darauf an, allein auf die Möglichkeit der Legitimität von Vorurteilen hinzuweisen, die uns durch die Diskreditierung der Vorurteile schlechthin verloren gegangen ist. Gadamer legt weiterhin dar, dass es der Zeitenabstand ist, der es oft vermag, die Vorurteile, die für das Verstehen produktiv sind, von den hinderlichen zu trennen. Wann damit aber ein Verstehensversuch als geglückt anzusehen ist, sich also „richtiges“ Verstehen eingestellt hat, kann man mit diesem Wissen allein nicht sagen. Folglich hat es wohl seine Berechtigung, wenn man die erkenntnistheoretische Grundfrage für ungeklärt hält107. Insbesondere das Problem der richtigen Bewertung zeitgenössischer Kunst wird von Gadamer schließlich nur als solches dargelegt, aber keiner Lösung zugeführt. In juristisch-hermeneutischer Hinsicht muss dies besonders unbefriedigend erscheinen, denn es ist dem Rechtsanwender nicht möglich, neu erlassene Gesetze solange liegen zu lassen, bis der Zeiten­ abstand die hinderlichen von den produktiven Vorurteilen gesondert hat. Es scheint zunächst so, als habe Gadamer sich in diesem Punkt noch nicht so weit von den Fragestellungen seiner Vorgänger gelöst wie es seinem eigenen Anspruch angemessen gewesen wäre. Das Eingehen auf die Frage der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung der Hermeneutik vermittelt den Eindruck, als sei Gadamers Interesse in „Wahrheit und Methode“ noch immer von der Idee einer methodisch orientierten Hermeneutik bestimmt gewesen, wenn auch die Richtung der Bestimmung in dem Versuch einer Abkehr besteht. Es scheint so zu sein, als sei der Gegenentwurf, der „Wahrheit und Methode“ sein will, hier noch zu sehr von dem Gegen beherrscht.108

107

Vgl. Grondin, Einführung zu Gadamer, S. 140 ff. Vgl. Grondin, Einführung zu Gadamer, S. 143.

108

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E. Verstehen und Zugehörigkeit: Gadamers philosophische Hermeneutik 

Es ist nämlich durchaus fraglich, ob die Hermeneutik die Frage der Legitima­ tion von Vorurteilen im Sinne der Messbarkeit ihrer Richtigkeit überhaupt zu klären hat. Letztlich stellt Gadamer fest, dass es gar nicht an der Hermeneutik ist, ein Verfahren des Verstehens zu entwickeln109. Wie sich die Legitimation von Vorurteilen außerhalb eines Verfahrens darstellen lassen soll, ist zwar nur schwer vorstellbar, aber sie muss eine andere sein. Sie ist die, die sich im Verstehen vollzieht110. Der Abstand, den die Hermeneutik nach Gadamer von erkenntnistheoretischen Rechtfertigungen gewinnen will, muss hier dementsprechend ausdrücklich betont werden. Dazu bedarf es einer sprachlichen Richtigstellung: Es geht nicht um die Legitimierung von Vorurteilen, sondern um den Nachweis ihrer Legitimität. Die Hermeneutik ist nicht mehr das Maß des richtigen Verstehens, sondern die Aufklärung der Umstände, unter denen das Verstehen sich vollzieht. Dieses Verstehen vollzieht sich im Einzelnen. Darin liegt also die wahre Anerkennung der Subjektivität und der historischen Bedingtheit des Verstehens und nicht in dem Versuch, beide nach ihrer Entdeckung umgehend durch metho­disches Vorgehen zu überwinden. Genau genommen ist es demnach sogar verfehlt, von Gadamer eine Lösung des Problems der Bewertung zeitgenössischer Kunst zu verlangen. Es geht der philosophischen Hermeneutik gar nicht mehr um erkenntnistheore­tische Rechtfertigungen wie sie noch Dilthey zu finden versucht hat und es handelt sich dabei noch nicht einmal um ein Problem. Es ist in erster Linie eine Voraussetzung, unter der das Verstehen steht. Eine Formel zu nennen, in die das Vorurteil eingesetzt und durch die seine Richtigkeit bestimmt werden kann, wäre als Letztbegründung des Wahren ein Widerspruch zu einem Grundgedanken der Gadamerschen Philosophie. Aber das heißt nicht, dass die Hermeneutik damit alle Ansprüche an den Interpreten fallen lässt. Ganz im Gegenteil fordert Gadamer die „grundsätzliche Suspension aller Vorurteile“111. Man kann das leicht missverstehen. In der Tat bringt diese Formulierung die Gadamersche Neubewertung der Hermeneutik zunächst in eine eigentümliche Spannung zu der Kritik, die Gadamer Dilthey gegenüber erhoben hat. Einer der Hauptkritikpunkte Gadamers an Diltheys Theorie war, dass er das historische Bewusstsein als eine Weise der Selbsterkenntnis und damit als die Überwindung der geschichtlichen Bedingtheit mittels der Reflexion angesehen hat. Hier scheint es zunächst so, als sei Gadamer der gleichen Versuchung erlegen, zu meinen, die Lösung des Problems falle mit seiner Entdeckung ineins. Aber Suspension meint etwas ganz anderes als Entledigung. Es soll dem Interpreten nicht darum gehen, seine Vorurteile loszuwerden. Vielmehr wird verlangt, dass der Interpret seine Vorurteile aufs Spiel setzt und damit überhaupt erst die Wahrheit des Anderen erfahrbar werden lässt. Gadamer spricht in dem Zusammenhang davon, dass die geforderte Suspension der Vorurteile die „Struktur der Frage“112 hat. Vorurteile 109

Vgl. Gadamer, WM, S. 300. Vgl. Gadamer, WM, S. 301. 111 Gadamer, WM, S. 304. 112 Gadamer, WM, S. 304. 110

IV. Die erkenntnistheoretische Rechtfertigung

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können also fraglich werden und der Interpret muss für diese Möglichkeit offen sein. Wenn aber dies geschieht, dann ist es nicht seine Aufgabe, das Vorurteil von sich weg zu schieben, sondern es ist die Aufgabe des fraglich gewordenen Vor­urteils das, was verstanden werden will, in seiner Wahrheit überhaupt erst zu entdecken113. Wenn es nun überhaupt ein Kriterium für die Richtigkeit eines Vorurteils gibt, dann findet es sich schon in der Formulierung des hermeneutischen Zirkels. Die Sache selbst ist der Faktor zur Bestimmung der speziellen Richtigkeit eines Vorurteils: Die produktiven Vorurteile von den hinderlichen zu scheiden geschieht ohnehin erst im Verstehen114. Diese spezielle Richtigkeit lässt sich am besten mit dem Wort Angemessenheit beschreiben. Diese adaequatio eines Verstehensentwurfes ist ganz betont nicht mehr als Angemessenheit, aber darum trotzdem auch nicht weniger als ein der-Sache-gerecht-werden115. Die Worte Angemessenheit/ adaequatio vermögen dabei sehr schön zu verdeutlichen, dass es sich erstens um einen Vorgang handelt, ein sich an-das-Maß-der-Sache-annähern und das zweitens nur ein angemessenes Verstehen der Sache dabei herauskommen kann, so wie man sagt, eine Sache sei angemessen, um damit auszudrücken, dass sie weder ganz schlecht war, noch alle möglichen Erwartungen erfüllt hat116. Es geht dabei aber gerade nicht um eine Entsprechung des Verstehens mit der Sache. Diese Ent­sprechung als das volle Ausschöpfen einer Sache hinsichtlich ihrer Bedeutungsmöglichkeiten ist nicht die Sache des Menschen, wenn er sich um Verstehen bemüht. Das Problem der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung der Vorurteile ist damit nicht gelöst. Bei genauem Hinsehen zeigt sich aber, dass die letztgültige Lösung des Problems über die Sachbezogenheit des Vorurteils weist und damit in sich unmöglich ist. Die Richtigkeit der Vorurteile, die sich erst im vollziehenden Verstehen erweist, bleibt damit in der wechselseitigen Konkretisierung mit dem jeweiligen Gegenstand verhaftet, sie entzieht sich einer Bestimmung im Voraus. Dieses Abweisen der Letztbestimmung der Vorurteile mittels eines ihnen jen­ seitigen Maßstabes ist nichts anderes als die konsequente Verfolgung des Grundgedankens von der Standpunktgebundenheit des Betrachters. Die Richtigkeit des Standpunktes, man darf sich das durchaus räumlich vorstellen, von dem aus ein Gegenstand betrachtet wird, richtet sich nach letzterem und entzieht sich damit der allgemeingültigen Bestimmung. Das einzige verbindende Kriterium der produktiven Vorurteile bleibt damit ihre Produktivität und das ist ihre Richtigkeit in Bezug auf den Verstehensgegenstand. Die Suche nach einem außerhalb des vollziehenden Verstehens stehenden Kriteriums seiner Richtigkeit ist nichts anderes als das Übergehen des Prinzips der Geschichtlichkeit des Menschen. Wenn also 113

Vgl. Gadamer, WM, S. 304. Vgl. Gadamer, WM, S. 300 f. 115 Vgl. Grondin, Einführung zu Gadamer, S. 136. 116 Vgl. Grondin, Einführung zu Gadamer, S. 136. 114

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E. Verstehen und Zugehörigkeit: Gadamers philosophische Hermeneutik 

die philosophische Hermeneutik von Wahrheit spricht, dann meint sie damit nicht so etwas wie absolute Richtigkeit des Verstehens. Das Verstehen bleibt immer ein „Wagnis“117. Ein Kriterium seiner Richtigkeit müsste Allgemeingültigkeit beanspruchen und genau darin läge das gerade behauptete Übergehen des Prinzips der Geschichtlichkeit. Denn die Frage ist doch, ob wir festlegen können, was das Maß der Richtigkeit für alle kommenden Epochen sein soll118. Jede Epoche hat damit ihre Wahrheit, die Teilhabe am Sinn ist, deren Überprüfung aber keiner Autorität zusteht119. Darin liegt ein weiterer wichtiger Teil der Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit des Verstehens: Es ist inhaltlich begrenzt und kann niemals den Verstehensgegenstand in jeder Hinsicht und aus jeder Perspektive ergründen. V. Die Relativität des Relativismus Dieses Ergebnis wirft ein Problem auf. Stellt man sich die Betrachtung des Gegenstandes durch einen Standpunktgebundenen tatsächlich räumlich vor, dann zeigt sich in diesem Bild ein Problem, das für die philosophische Hermeneutik weit gravierender sein könnte als das im vorangegangenen erörterte. Es ist dies ein Problem, welches jeden holistischen Relativismus betrifft: Das Problem seiner Relativität. Wenn jedes Sehen einen Standpunkt voraussetzt, dann bedeutet das, dass der Gegenstand der Betrachtung, sich nie vollständig zeigt. Es bleibt dabei immer etwas im Dunkeln. Die Sachen „verschatten“ sich in jedem Versuch sie zu verstehen. Was nun, wenn – wie in „Wahrheit und Methode“ der Fall – der Gegenstand des Verstehens das Verstehen ist? Das Problem lautet folgendermaßen: Beansprucht eine Aussage allgemeine Gültigkeit, dann muss sie auch für sich selbst gelten. Wenn also hier behauptet wird, dass jede Wahrheit für das geschichtliche Wesen Mensch eine geschichtlich bedingte, relative Wahrheit ist, dann heißt das, dass die Wahrheit der Behauptung der geschichtlichen Bedingtheit selbst geschichtlich bedingt ist und ihr damit das Schicksal droht, geschichtlich überholt zu werden. Dieses Problem des Zurückschlagens trifft jeden relativistischen Standpunkt und ist kaum abweisbar. Aber es ist nicht mehr als ein Standardargument. Ebenso standardisiert fällt die Antwort aus. Es hat sich so etwas etabliert wie die „Ebenentheorie“ des Relativismus. Gadamer selbst setzt sich nicht sonderlich intensiv mit dem Einwand auseinander. Er bringt gegen den üblichen Einwand der Relativität des Relativismus das übliche Gegenargument, dass man sich fragen müsse, ob die Aussagen, „alle Er 117

Grondin, Hermeneutische Wahrheit? Zum Wahrheitsbegriff Hans-Georg Gadamers, S. 177. 118 Vgl. Grondin, Hermeneutische Wahrheit? Zum Wahrheitsbegriff Hans-Georg ­Gadamers, S. 177. 119 Vgl. Grondin, Hermeneutische Wahrheit? Zum Wahrheitsbegriff Hans-Georg ­Gadamers, S. 177.

V. Die Relativität des Relativismus

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kenntnis ist geschichtlich bedingt“ und „diese Erkenntnis gilt unbedingt“120 auf der gleichen Ebene liegen und erst dadurch einander widersprechen können121. Es geht schließlich darum, dass man den Satz, dass alle Erkenntnis geschichtlich bedingt sei, zwar irgendwann nicht mehr für wahr halten mag, aber doch nicht, weil sie einen logischen Widerspruch enthalte, sondern weil das „historische Denken“122 dann überholt ist123. Auf einen formalen Einwand folgt also ein formales Gegenargument. Beide sind unabweisbar, beide sind siegreich. Dementsprechend heißt es bei Gadamer wörtlich: „Alle diese siegreichen Argumentationen haben etwas vom Überrumpelungsversuch an sich. So überzeugend sie scheinen, so sehr verfehlen sie doch die eigentliche Sache. Man behält Recht, wenn man sich ihrer bedient, und doch sprechen sie keine überlegene Einsicht aus, die fruchtbar wäre. Dass die These der Skepsis oder des Relativismus selber wahr sein will und sich insofern selber aufhebt, ist ein unwiderlegliches Argument. Aber wird dadurch etwas geleistet?“124

Das wird man sich in der Tat fragen müssen. Was wird geleistet durch den Einwand, dass die These von der historischen Relativität des Verstehens nicht universell gelten kann, weil sie auf sich selbst angewendet nur relativ gelte? Es wird dadurch der Anschein erweckt, als könne man die Bedingtheit des menschlichen Verstehens durch den Nachweis eines logischen Widerspruchs dieser Einsicht hinter sich lassen125. Aber das ist nicht mehr als ein formaler Schein, der davon lebt, dass das formale Denken für sich selbst den Anspruch der universalen Richtigkeit erhebt. Gadamer nennt den Umstand nicht umsonst häufig das „Gespenst des Relativismus“126, vielleicht um zu zeigen, dass hier etwas Irreales aufgeboten wird. Will man also meinen, dass das Verstehen nicht geschichtlich bedingt sein könne, weil sich daraus ein logischer Widerspruch ergibt? Der ergibt sich, das ist un­bestreitbar, aber es scheint doch so, als stoße hier das formale Denken an seine Grenzen, nicht das historische. Schon Heidegger spricht in dem Zusammenhang von der „Harmlosigkeit der formal-dialektischen Überrumpelungsversuche gegenüber dem Skeptizismus“127. All diese formalen Einwände sind in der Tat harmlos, was sich schon an dem geringen Aufwand zeigt, den die Gegenargumentation unter Berufung auf die verschiedenen logischen Ebenen der widersprüchlichen Aussagen macht128. Damit 120

Vgl. Gadamer, Hermeneutik und Historismus, in: GW 2, S. 387 (416). Gadamer, Hermeneutik und Historismus, in: GW 2, S. 387 (416). 122 Gadamer, Hermeneutik und Historismus, in: GW 2, S. 387 (416). 123 Vgl. Gadamer, Hermeneutik und Historismus, in: GW 2, S. 387 (416). 124 Gadamer, WM, S. 350. 125 Vgl. Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, S. 23. 126 Gadamer, Bürger zweier Welten, in: GW 10, S. 225 ff., 233. 127 Heidegger, SuZ, S. 229. 128 Eine, wie hier beschrieben, siegreiche, aber wenig weiterführende Auseinander­setzung mit der Frage findet sich bei Zimmermann, Rechtsanwendung als Rechtsfortbildung, in: Koch, Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, S. 88. 121

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E. Verstehen und Zugehörigkeit: Gadamers philosophische Hermeneutik 

will behauptet sein, dass es eine Wahrheit jenseits von formaler Richtigkeit gibt. Der Philosoph, der weiß, dass er nichts weiß, lässt durch die Behauptung dieses Umstandes nicht die Mangelhaftigkeit seines Denkens offenbar werden, sondern vermittelt eine Einsicht, eine Wahrheit, weit jenseits formaler Richtigkeit. Wie anders müsste das Urteil über denjenigen ausfallen, der auf die formale Schwäche ebendieser Einsicht hinweist? So bedeutet die Aussage Gadamers, die „Seele der Hermeneutik“ bestehe darin, „dass der Andere Recht haben kann“129 nur formal, nur scheinbar also, die Absorption jeder kommenden Widerlegung. Tatsächlich vermittelt sie die notwendige Bescheidenheit, die dem Verstehenden hilft, seine Bedingtheit im Verstehensprozess positiv zu wenden. Fassen wir zusammen: Es steht jedes Verstehen unter Voraussetzungen, die der Verstehende nicht aufzulösen vermag. Jedes individuelle Verstehen ist damit „selber nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu denken, sondern als ein Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln“130. Es gibt damit kein übergeschichtliches Bewusstsein, welches die Richtigkeit des Verstehens überspannt: „Wahrheit ist nicht die Übereinstimmung zwischen dem Verstehen und einem festen Maßstab, sei es das Ansich oder die Meinung des Autors. Die Übereinstimmung hat sich als eine bewegliche erwiesen.“131 Darauf wollte Gadamer aufmerksam machen, weshalb es äußerst merkwürdig anmuten muss, dass immer wieder die Kritik geäußert wird, es fehle der philosophischen Hermeneutik an einem kritischen Prinzip gegenüber der Tradition132. Die philosophische Hermeneutik will gerade betonen, dass sich die Tradition, verstanden als ein Symbol für die Macht der Überlieferung über den Menschen, nicht durch kritische Prinzipien zur Auflösung bringen lässt. Das ist am einfachsten deutlich zu machen am Beispiel der Erziehung. Wer seine Erziehung kritisiert, bleibt dennoch erzogen. Wer die Erziehung durch den Vormund kritisiert, der steht dennoch mit beiden Beinen auf dem Boden der Erziehung und bleibt für die Kritik auf die Mittel angewiesen, die die Erziehung ihm zur Verfügung gestellt hat. Genauso bleibt derjenige, der seine Geschichte betrachtet als nur vorläufiger Endpunkt ein Teil derselben. Die Geschichte selbst hat ihm die Mittel zur Verfügung gestellt sie zu verstehen. Das Verstehen der Überlieferung geschieht unter und mit den Voraussetzungen des Überlieferten. Diese Erkenntnis lässt sich interessanter Weise gerade an den Motiven deutlich machen, aus denen die Versuche hervorgegangen sind, die Überwindung der Überlieferung zu erreichen. Dem Menschen des Mittelalters wären die Bemühungen um ein objektives Verstehen in den Geisteswissenschaften überhaupt nicht verständlich. 129

Vgl. Grondin, Einführung zu Gadamer, S. 18. Gadamer, WM, S. 295. 131 Grondin, Hermeneutische Wahrheit? Zum Wahrheitsbegriff Hans-Georg Gadamers, S. 177. 132 Vgl. die Nachweise oben unter „Das Beispiel der Tradition“ [E. I. 2. c)]. 130

V. Die Relativität des Relativismus

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Der hermeneutische Zirkel ist bei Gadamer also historisch aufgeladen. Die Erkenntnis Heideggers, dass man nur verstehen kann, was man immer schon verstanden hat, füllt Gadamer inhaltlich auf. Als Folie seiner Hermeneutik dienten dabei vor allen Dingen Schleiermacher und Dilthey. Die philosophische Hermeneutik will die Vorstellung korrigieren, man könne fremde Subjektivität durch Überwindung der eigenen Subjektivität aufschlüsseln. „Wahrheit und Methode“ ist demnach schon ein wenig missverstanden, wenn man es nur als Objektivitätskritik liest. Es geht in erster Linie um die Frage, ob man Objektivität durch Überwindung der je eigenen Subjektivität erreichen kann und die Antwort fällt eindeutig negativ aus. Dies ist aber mitnichten ein Problem allein der Geschichtswissenschaft. Viel ist in „Wahrheit und Methode“ von der Geschichte die Rede, aber es handelt sich dabei lediglich um ein Beispiel. Die historische Bedingtheit des Wesens Mensch wirkt auch im Verstehen von Gegenständen, die nicht unmittelbar als Geschichte verstanden werden, denn wir verstehen, bevor wir überhaupt irgendetwas verstehen uns selbst „in Familie, Gesellschaft und Staat“133. Das heißt, dass sich das Problem auch und gerade im Bereich des Rechtlichen stellt. Die Frage nach der Geschichtlichkeit des Daseins und des geschichtlichen, genauer des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins, ist eingebettet in einen größeren Zusammenhang, in dem auf die Einseitigkeit einer Vorstellung von der Dichotomie von Subjekt und Objekt hingewiesen wird, durch die die Bestrebungen der Überwindung der je-eigenen Zufälligkeit erst hervorgerufen wurden. Es ist der Zusammenhang der Objektivitätskritik Gadamers mit den Fragen der Subjektivität in der rechtswissenschaftlichen Methodenlehre bisher wenig beachtet worden. Man hat von Gadamer gelernt – sofern seine Erkenntnisse nicht geflissentlich ignoriert wurden – dass man Objektivität, wie man sie auch in den Rechtswissenschaften über die Etablierung naturwissenschaftsanaloger Methoden zu finden versucht hat nicht erreichen kann. Diese Verarbeitung des hermeneutischen Zirkels hat durchaus ihre Berechtigung. Gadamer ging es aber in erster Linie um etwas anderes, denn er hält den „Fokus der Subjektivität“ für einen Zerrspiegel. Das heißt, es geht in erster Linie darum zu zeigen, dass Schleiermacher über die oben genannten Probleme seiner Hermeneutik hinaus falsch lag, wenn er meinte, es sei möglich Objektivität über die Fokussierung auf die Subjektivität zu erlangen134. Hiermit ist sicherlich der wesentliche Hinderungsgrund einer umfassenden Gadamerrezeption in den Rechtswissenschaften genannt. Man muss verstehen, dass der Begriff der Geschichte nichts anderes ist als eine Überformung alles Gewordenen. Geworden sind aber auch Sitte, Moral und Recht. Auch sie sind Teil der Überlieferung, die sich in das geschichtliche Wesen Mensch überliefert hat. 133

Gadamer, WM, S. 281. Wie sich zeigen wird findet sich diese Vorstellung wörtlich auch bei Savigny und genau darauf basiert das negative Urteil Gadamers über dessen Hermeneutik. Allerdings findet sich bei Savigny auch eine ganz eigentümliche Einformung der Subjektivität. 134

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E. Verstehen und Zugehörigkeit: Gadamers philosophische Hermeneutik 

Damit will nicht gesagt sein, dass das Verstehen in den Rechtswissenschaften unter Vorurteilen des Rechtlichen steht, so wie das Verstehen der Geschichte unter geschichtlichen Vorurteilen. Hinter dem Wort von den geschichtlichen Vorurteilen verbirgt sich alles, durch das der Mensch geprägt ist, der versteht135. Nicht ohne Grund sollte „Wahrheit und Methode“ ursprünglich „Verstehen und Geschehen“ heißen, weil damit verdeutlicht werden sollte, dass etwas mit uns geschieht, wenn wir verstehen, über das wir nicht einfach verfügen. Die Geschichte ist also wie bereits angekündigt das Beispiel, an dem sich die Probleme mit der größten Deutlichkeit zeigen, die ein Streben nach Objektivität mit sich bringt, zu deren Erreichen eine Loslösung vom Gegenstand der Betrachtung für nötig gehalten wird. „Wenn wir aus der für unsere hermeneutische Situation im ganzen bestimmenden historischen Distanz eine historische Erscheinung zu verstehen suchen, unterliegen wir immer bereits den Wirkungen der Wirkungsgeschichte. Sie bestimmt im voraus, was sich uns als fragwürdig und als Gegenstand der Erforschung zeigt, und wir vergessen gleichsam die Hälfte dessen, was wirklich ist, ja mehr noch, wir vergessen die ganze Wahrheit dieser Erscheinung, wenn wir die unmittelbare Erscheinung selber als die ganze Wahrheit nehmen.“136

Die in der Anwendung historischer, wie sonstiger geisteswissenschaftlicher Methodik erreichte Objektivität, ist damit nur eine Vorgetäuschte und die Täuschung schlägt nicht minder auf den die Methoden in Anschlag bringenden Forscher zurück137. Von seinem Standpunkt kommt der Mensch nicht los. Was ist es also mit dem Standpunkt? Der Verstehende muss ihn anwenden. Damit ist ein Schlüsselbegriff der philosophischen Hermeneutik gefallen, dessen Erläuterung es erlauben wird, zu den Fragen zu wechseln, die sich für die juristische Hermeneutik aus dem Geschilderten ergeben und an seiner Darlegung wird sich letztlich zeigen, wie das vollziehende Verstehen tatsächlich vonstattengeht. VI. Applikation Es erscheint aus der erwähnten Einsicht nur natürlich: Wenn nur derjenige sehen kann, der das von einem festen Standpunkt aus tut, dann muss er das Gesehene auch auf den von ihm eingenommenen Standpunkt beziehen. Aber der eingeschlagene Weg der „Wiedergewinnung des hermeneutischen Grundproblems“138 hat noch einen anderen Ursprung. Es ist nützlich zu wissen, dass es sich dabei um 135 Es sind wiederum die nach Diltheys Vorstellung zu zersetzenden Ordnungen (Sitte, Moral, Recht, Gesellschaft, Staat etc.). 136 Gadamer, WM, S. 305. 137 Gadamer, WM, S. 305. 138 So die Überschrift des Abschnittes, der „Das hermeneutische Problem der Anwendung“, „Die hermeneutische Aktualität des Aristoteles“ und „Die exemplarische Bedeutung der juristischen Hermeneutik“ umfasst. Gadamer, WM, S. 312 ff.

VI. Applikation 

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einen betont praktischen Ursprung handelt. Schon in seiner Dissertation hatte Gadamer sich mit der Ethik der Griechen befasst139. Nun galt es, die dort gefundenen Einsichten für die philosophische Hermeneutik fruchtbar zu machen. Dabei ist es unmittelbar einsichtig, wenn der Hermeneutik mit der „applicatio“, der Anwendung, eine praktische Dimension erwächst, dass bei jener Disziplin der Philosophie nachgefragt wird, die sich explizit mit den Fragen des Handelns befasst, der praktischen Philosophie, der Ethik. Das Verstehen wird damit schließlich ganz offenkundig zu einem moralischen Problem und es entsteht durch die „Wieder­ gewinnung des hermeneutischen Grundproblems“ eine Ethik des Verstehens140. Nun handelt es sich bei diesem Zuwachs in der Tat um eine Re-invention, die diesen Charakter auch dadurch nicht verliert, dass sie nur folgerichtig bezüglich neu gewonnener Einsichten ist. Das von Gadamer so genannte „hermeneutische Problem der Anwendung“ hat seinen Ursprung schon in der pietistischen Hermeneutik. Dort ging es darum, dass eine Interpretation nur dann erfolgreich sein kann, wenn sie die Hörer durch unmittelbare Anwendung überzeugen kann141. Die ältere Trennung der Hermeneutik in intelligere (Verstehen) und explicare (Erklären) war im Pietismus nicht mehr genug. Der Interpret sollte den Text, in dem Fall die Heilige Schrift, nicht nur verstehen und erklären können, vielmehr musste er auch auf die applicatio des Verstandenen abzielen142. In der älteren Tradition der Hermeneutik unterschied man also das Verstehen und das Auslegen als subtilitas intelligendi und subtilitas explicandi und fügte dem noch die sapienter adplicare, die Anwendung hinzu, die Gadamer subtilitas applicandi nennt143. Gadamer will nun zunächst einen Schritt hinter die Romantik zurück- und von da aus einen Schritt über sie hinausgehen. Durch die Feststellung der inneren Einheit von Verstehen und Auslegen war in der Romantik die Anwendung aus dem Blickfeld geraten und geradezu aus der Hermeneutik herausgedrängt worden.144 Das stellte für die Entwicklung der Hermeneutik und vielleicht sogar für die der Philosophie eine entscheidende Wendung dar, weil dadurch, dass das Verstehen immer zugleich als Auslegung verstanden wurde, die Sprache ins Zentrum des Interesses rückte145. Gadamer will die Applikation für das Verständnis des Verstehens zurückgewinnen. Soweit ist dies ein Rückschritt hinter die Romantik, aber es ist nicht mehr distinkt vom Verstehen, „sondern dessen wahrer Kern“146. Darin liegt der Schritt über die Romantik hinaus: Verstehen ist nicht mehr nur ein dem Anwenden vorrangiges Geschehen, vielmehr ist „jedes gelungene Verstehen von

139

Vgl. Grondin, Einführung zu Gadamer, S. 159. Vgl. Grondin, Einführung zu Gadamer, S. 158. 141 Vgl. Grondin, Von Heidegger zu Gadamer, S. 32 f. 142 Vgl. Grondin, Von Heidegger zu Gadamer, S. 32 f. 143 Vgl. Grondin, Einführung zu Gadamer, S. 16, insb. Fn. 87, sowie Gadamer, WM, S. 312. 144 Vgl. Gadamer, WM, S. 313. 145 Vgl. Gadamer, WM, S. 312 f. 146 Gadamer, Hermeneutik als theoretische und praktische Aufgabe, in: GW 2, S. 301 (312). 140

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E. Verstehen und Zugehörigkeit: Gadamers philosophische Hermeneutik 

Hause aus ein auf uns angewendetes“147. Heideggers Bestimmung des Verstehens als ein Sich-verstehen wirkt hier nach148. Man muss sich klar machen, dass die Anwendung im Zeitalter der Romantik nicht nur zufällig aus der Hermeneutik herausgefallen ist, um zu verstehen, welche Bedeutung der Schritt hat, den Gadamer hier vollzieht. Für eine vom Objek­ tivitätsideal geleitete Hermeneutik, die sich auf die wissenschaftliche Herausarbeitung eines abgeschlossenen Sinns fixiert, muss die Anwendung auf die jeweilige Situation des Interpreten von vorneherein außer Acht bleiben. Die Zufälligkeit der Situation hat kein Recht im Rahmen des objektiven Verstehens. Es macht aber gerade das Wesen der Situation aus, dass man nicht aus ihr heraus kann, dass man sie sich nicht gegenüberstellen kann149. Damit ist es wie mit dem in der Heideggerschen Fundamentalanalyse des Daseins herausgestellten „In-der-Welt-sein“ des Daseins150. Die Welt ist weder eine Art Behälter, in dem man „ist“, also keine Art von Beiwerk zum Sein des Daseins, noch kann man aus ihr heraus. Niemand steht morgens auf und macht einen Schritt in die Welt, die er abends durch eine, wie auch immer geartete Öffnung, verlassen hat. Hier ist ein kurzer Exkurs nötig, weil in den Ausführungen Heideggers zum „In-der-Welt-sein“ des Daseins die Möglichkeit angelegt ist auf der fundamental-ontologischen Ebene eine theore­ tische Rechtfertigung zu finden, für die von den Hermeneutikern wie Schleiermacher, Dilthey aber auch Gadamer empfundene Notwendigkeit, die Wirkungen der Subjektivität im Zusammenhang mit der Deutung der Welt zu begrenzen bzw. auf deren Begrenztheit hinzuweisen. Was hat es also mit dem „In-der-Welt-sein“ auf sich? Das „In-Sein“ des „In-der-Welt-seins“, so führt Heidegger zunächst aus, ist zuallererst nicht zu verstehen als „Sein-In“151. „Sein-In“ ist die Seinsart des kategorial, nicht des existenzial, d. h. daseinsmäßig Seienden. „Sein-In“ meint „die Seinsart eines Seienden […], das in einem anderen ist wie das Wasser im Glas“152. Das „In-Sein“ ist dagegen vielmehr ein „Sein bei der Welt“ im Sinne eines „vertrautseins mit“, aber gerade nicht verstanden als ein „Beisammen-vorhandensein“153. Das Dasein ist nicht in der Welt, so wie der Stuhl neben dem Tisch, als ein

147

Grondin, Von Heidegger zu Gadamer, S. 33. Vgl. Grondin, Von Heidegger zu Gadamer, S. 33. Vgl. Gadamer, WM, S. 312 ff. Wobei „Anwendung“ die Anwendung der Gewordenheit auf den Gewordenen meint (siehe oben) und Gadamer damit über die ursprüngliche Bedeutung des Begriffes für die theologische Hermeneutik hinausgeht. 149 Vgl. Gadamer, WM, S. 307. 150 Vgl. dazu Figal, Selbstverstehen in instabiler Freiheit. Die hermeneutische Position Martin Heideggers, in: Birus, Hermeneutische Positionen, S. 89 (94). Vgl. Pocai, Die Weltlichkeit der Welt und ihre abgedrängte Faktizität, in: Rentsch, Klassiker Auslegen. Martin Heidegger. Sein und Zeit, S. 51 (51 f.). 151 Vgl. Heidegger, SuZ, S. 54. 152 Heidegger, SuZ, S. 54. 153 Heidegger, SuZ, S. 54 f. 148

VI. Applikation 

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„Geistding“ in einem „Körperding“154, es ist in der Weise des in-der-Welt. Es hat mit dieser Welt also immer schon zu-tun. Dieses zu-tun-haben-mit ist aber nicht Gegenstand einer auswählenden Annahme. Man kann nicht nichts-zu-tun-haben mit der Welt155. Das heißt aber nichts anderes, als dass das Dasein im Modus des Erkennens nicht einen Schritt nach draußen macht und mit dem Erkannten in die Höhle des Geistes zurückkehrt: „Das Vernehmen des Erkannten ist nicht ein Zurückkehren des erfassenden Hinausgehens mit der gewonnenen Beute in das Gehäuse des Bewusstseins“156. „Erkennen ist eine Seinsart des In-der-Welt-seins“157. Heidegger wirft hier der auf die Unterscheidung von Erkenntnisobjekt und Erkenntnissubjekt fixierten Erkenntnistheorie vor, die Analyse des vorgängigen In-der-Welt-seins des Daseins verpasst zu haben, die einer Bestimmung des er­ kennenden Sichverhaltens aber zwingend vorausgehen muss. Die spezifisch damit zusammenhängenden Fragen der Vermittlung und der Erzeugung von Verbin­ dungen von Selbst und Welt, die durch das Außerachtlassen des verbindenden „In-der-Welt-seins“ einen Sprung des Subjektes in ein zu-erkennendes Draußen nötig machen, werden damit schlicht abgewiesen.158 Von dieser Analyse ergibt sich die Möglichkeit, „das Sich-Verstehen des Daseins in den übersubjektiven Horizont einer nicht immer schon entworfenen Welt einzugliedern“159. Genau darum geht es, wenn es bei Gadamer heißt, dass wir lange bevor wir etwas verstehen uns verstehen in „Familie, Gesellschaft und Staat“160. Es ist mit der Situation ähnlich wie mit dem „In-der-Welt-sein“. Man kann nicht aus ihr heraus; man ist nie frei von der Situation. Die Wirkung der Situation im Vorgang des Verstehens ist schon angeklungen bei der Standpunkt­ gebundenheit des Sehenden, aber erst hier wird deutlich, dass es sich dabei um ein grundsätz­liches Bestreiten einer der wesentlichen Voraussetzungen der romantischen Hermeneutik handelt. So schreibt Lücke, der Herausgeber der Hermeneutik Schleiermachers, dass die „sapienza applicare von den Neuern leider wieder hervorgehoben wird“161. Das Bedauern an dieser Stelle ist der Ausdruck der wahrgenommenen Bedrohung der Objektivität des Verstehens durch die Betonung der Anwendung. In dem Hinweis, es gebe gar keine Alternative zur Anwendung eines zu verstehenden Textes auf die Situation des Interpreten (in dem Sinne, dass es sich dabei nicht um ein nachrangiges kognitives Verfahren, sondern um den ursprünglichen Vollzug des Verstehens handelt), liegt damit erneut ein grundsätz­ liches Bestreiten der romantischen Ausgangslage und eine regelrechte Zumutung 154

Heidegger, SuZ, S. 56. Heidegger, SuZ, S. 57. 156 Heidegger, SuZ, S. 62. 157 Heidegger, SuZ, S. 61. 158 Vgl. Luckner, Martin Heidegger. Sein und Zeit, S. 35. 159 Pocai, Die Weltlichkeit der Welt und ihre abgedrängte Faktizität, in: Rentsch, Klassiker Auslegen. Martin Heidegger. Sein und Zeit, S. 51 (52 f.). 160 Gadamer, WM, S. 281. 161 Vgl. Grondin, Einführung zu Gadamer, Fn. 87, S. 160. 155

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E. Verstehen und Zugehörigkeit: Gadamers philosophische Hermeneutik 

an das methodische Bewusstsein. Der Interpret hat also gar keine Wahl. Er kann nicht zunächst einen Text verstehen und dann auslegen, sondern er legt schon aus, wenn er versteht. Darüber hinaus aber wendet er immer schon auf sich an, wenn er versteht. Er versteht immer nur in der Gegenwart und in ihrer Sprache, er muss den Text „zu sich“ und in seine Situation übersetzen, ihn in seiner Sprache zum Sprechen kommen lassen162. Darin liegen die Geschichtlichkeit des Verstehens und das wirkungsgeschichtliche Bewusstsein. Das menschliche Dasein ist, wie Heidegger gezeigt hat, ein Jetzt-sein. Dieses Jetzt ist nie ein freischwebendes. Es ist, wie schon Dilthey zutreffend festgestellt hat, tief in das Gewordene verwoben. So tief, dass sich die eigene Gewordenheit nie vollständig zur Anschauung bringen lässt. Diese je-eigene Vorgängigkeit ist wesensbestimmender Bestandteil des Daseins und muss damit ihr Recht haben in allen menschlichen Handlungen. Man kann die Aufweisung der Anwendung im Vollzug des Verstehens wahrscheinlich am besten anhand der logischen Betrachtung nachvollziehen, wie sie Gadamer schon in einem seiner Löwener Vorträge vornimmt. Dort geht es um die Frage, woher es kommt, dass wir ein und dieselbe übermittelte Botschaft jeweils anders verstehen163. Logisch betrachtet kann man darin die Situation der Anwendung von etwas Allgemeinem (der stets gleichen Botschaft) auf ein Besonderes sehen, nämlich die besondere Situation des Interpreten164. Das legt folgenden Verdacht nahe: Wenn es oben hieß, dass es seit der Ent­ deckung der Subjektabhängigkeit der Erkenntnis in der Hermeneutik stets darum ging, eine Verbindung zwischen den Verstehenssubjekten herzustellen, die bei Dilthey „geschichtliches Bewusstsein“, bei Schleiermacher „Alleben“ und bei Gadamer „Vorverständnis“ heißt, müsste es dann nicht auch eine solche „Verbindung“ in der juristischen Hermeneutik geben? Wenn sich das Dasein immer schon verstehend zu seiner Welt verhält, müsste es dann nicht auch über ein vorgängiges Verstehen dessen verfügen, was Recht ist? Das müsste es in der Tat, aber die Vorgängigkeit des Verstehens ist aus verschiedenen Gründen in der juristischen Hermeneutik bisher nicht zu ihrem Recht gekommen. Von hier aus erscheint es wiederum nur natürlich, dass sich Gadamer im Folgenden der Bedeutung der juristischen Hermeneutik für das Verständnis der philologisch-historischen Hermeneutik und der Hermeneutik insgesamt zuwendet. Schließlich dient die juristische Hermeneutik der Rechtsanwendung. Die direkte Erwähnung der juristischen Hermeneutik hat ihren Teil zur Aufnahme der philosophischen Hermeneutik in den Rechtswissenschaften beigetragen, diese vielleicht aber auch gerade dadurch erschwert, dass durch die Darstellung der juristischen Hermeneutik als „exemplarisch“, zu viel „Selbstverständlichkeit“ suggeriert wurde. 162

Vgl. Grondin, Einführung zu Gadamer, S. 161 f. Vgl. Gadamer, Das Problem des historischen Bewusstseins, S. 33. 164 Vgl. Gadamer, Das Problem des historischen Bewusstseins, S. 33. 163

VII. Die hermeneutische Aktualität des Aristoteles

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Der Abfolge der Gadamerschen Erörterungen folgend soll es hier aber zunächst um einen anderen Aspekt gehen. Wie bereits erwähnt, wird mit der Entdeckung des Anwendungscharakters des Verstehens die Frage nach einer Übertragbarkeit praktischer Philosophie auf die Hermeneutik virulent. Gadamer befragt dazu Aristoteles. VII. Die hermeneutische Aktualität des Aristoteles Wenn die aristotelische Philosophie als Zeuge für das geforderte Umdenken hin zur philosophischen Hermeneutik aufgeboten wird, so geschieht dies in vollem Bewusstsein der Tatsache, dass Aristoteles selbst keineswegs dem hermeneutischen Problem auf der Spur war165. Es geht also um die Verwandtschaft dieses Problems mit den Einsichten, die die aristotelische Ethik, insbesondere das sechste Buch der Nikomachischen Ethik166, gewinnt. Wie wichtig dieses sechste Buch der Nikomachischen Ethik für Gadamer war und stets geblieben ist, lässt sich vielleicht schon daran sehen, dass er es als eine seiner letzten Veröffentlichungen in neuer Übersetzung einzeln herausgegeben hat167. Wie sehen nun diese Ähnlichkeiten aus und was lässt sich aus der Herausarbeitung dieser Ähnlichkeiten wiederum an Einsichten gewinnen? 1. Prâxis und Poíesis Zu den wesentlichen Merkmalen der aristotelischen Ethik gehört die Unterscheidung von Handeln und Machen – prâxis und poíesis. Das Hauptunterscheidungsmerkmal zwischen diesen liegt in der Verortung des damit angestrebten Ziels, des télos. Das Machen hat ein Ziel außerhalb seiner selbst. Es ist ein Herstellen von etwas. Das Handeln ist selbst ein Zweck, während das Herstellen ein Mittel zu einem Zweck ist, um dessentwillen es vorgenommen wird.168 Worum es dabei in concreto geht lässt sich an der Konsequenz verdeutlichen, die daraus gezogen werden muss. Aus der Unterscheidung von Handeln und herstellendem Machen ergibt sich, dass auch die jeweils anleitenden dianoetischen Tugenden unterschieden werden müssen. Hier kommt ein für Gadamers Denken wichtiger Begriff ins Spiel. Es ist die phrónesis im Gegensatz zur téchne.

165

Vgl. Gadamer, WM, S. 317. Wenn im Folgenden von aristotelischer Ethik die Rede ist, so ist damit die Nikomachische Ethik (NE) gemeint. 167 Vgl. Grondin, Einführung zu Gadamer, S. 165. 168 Vgl. Schnädelbach, Was ist Neoaristotelismus, in: Zur Rehabilitierung des animal rationale – Vorträge und Abhandlungen 2, S. 205 (214 f.). Wolf, Aristoteles’ ‚Nikomachische Ethik‘, S. 146. 166

100

E. Verstehen und Zugehörigkeit: Gadamers philosophische Hermeneutik 

Das Handwerkswissen des Herstellenden, die téchne, ist echtes Wissen. Sie und die phrónesis gehören wie noch sophia, nous und episteme zu den fünf Wegen, auf denen die Seele Wahrheit erreichen kann169. Aber sie unterscheidet sich von dem Wissen um das jeweils richtige Handeln, dem praktischen Wissen, der Klugheit170 (phrónesis). Beide können damit nicht den gleichen Richtigkeitsanforderungen unterliegen, weil das Handeln, wenn es selbst Zweck sein soll, die Kriterien seiner Richtigkeit enthalten muss, während die Richtigkeit des Herstellens an externen Kriterien gemessen werden kann171. Damit ist Handeln selbst Leben und nicht nur ein Mittel dazu, weshalb es ontisch und werthaft höher steht als das Her­ stellen, welches nur ein Mittel zum Zweck ist172. Nach dem eben Gesagten ist aber die phrónesis nicht nur kein Können, sie ist auch kein Wissen (episteme), weil sie es nicht mit dem Allgemeinen, sondern mit dem Einzelnen zu tun hat173 und weil es wirkliches Wissen nur von Immer-Seiendem und Immer-so-Seiendem geben kann. Von dem was der Veränderung unterliegt kann es kein Wissen, wir würden heute wohl sagen „im wissenschaftlichen Sinne“, geben.174 Man muss zur Klarstellung hinzufügen, dass das epistemische Wissen für die Griechen dem Ideal der Beweisbarkeit im Sinne der Mathematik entsprach, um dem Eindruck entgegenzuwirken, episteme sei die einzige „Weise des Wissens“175. Da es nun aber die phrónesis mit dem, was getan werden kann und damit mit Veränderbarem zu tun hat, und niemand Überlegungen über das anstellt, was nicht anders sein kann, ergibt sich, dass die phrónesis „eine mit Überlegung verbundene wahre Disposition des Handelns ist, die sich auf das bezieht, was für den Menschen gut oder schlecht ist“176. Sie ist ein Mit-sich-zurategehen, über das, was hier und jetzt zu tun ist177. „Die Tugend des Charakters macht den Zielpunkt richtig, die Klugheit (phrónesis) aber das, was zum Ziel führt“178. Phrónesis ist aber nur die Art von Zielwahl, die zu einem richtigen Ziel führt. Sie ist nicht bloße Cleverness, die zur Verwirklichung jedes beliebigen Zieles dienen kann179.

169

Vgl. Rowe, „Phrónesis“ in Historisches Wörterbuch der Philosophie. Vgl. Gadamer, „Einführung“, S. 6 f., in: Aristoteles, Nikomachische Ethik VI. 171 Vgl. Schnädelbach, Was ist Neoaristotelismus, in: Zur Rehabilitierung des animal rationale – Vorträge und Abhandlungen 2, S. 205 (215). 172 Vgl. Schnädelbach, Was ist Neoaristotelismus, in: Zur Rehabilitierung des animal rationale – Vorträge und Abhandlungen 2, S. 205 (215). 173 Vgl. Rowe, „Phrónesis“ in Historisches Wörterbuch der Philosophie. 174 Vgl. Ebert, Phrónesis, in Aristoteles. Nikomachische Ethik, S. 166. Vgl. Gadamer, „Einführung“, S. 5 f., in Aristoteles, Nikomachische Ethik VI. 175 Vgl. Gadamer, „Einführung“, S. 5 f., in: Aristoteles, Nikomachische Ethik VI. 176 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1140 b 5–7. Vgl. auch Ebert, Phrónesis, in: Aristoteles. Nikomachische Ethik, S. 166; Rowe, „Phrónesis“ in Historisches Wörterbuch der Philosophie. 177 Vgl. Rowe, „Phrónesis“ in Historisches Wörterbuch der Philosophie. 178 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1144 a, 7–9. 179 Vgl. Rowe, „Phrónesis“ in Historisches Wörterbuch der Philosophie. 170

VII. Die hermeneutische Aktualität des Aristoteles

101

Phrónesis leitet, in diesem Punkt unterscheidet sie sich noch nicht von der t­échne, ein Tun durch ein Wissen180. Wenn richtiges Handeln angewandte Tugend ist, dann ist die phrónesis so etwas wie die Tugend des Anwendens, denn sie ist nicht bloße Mittelwahl, sondern selbst eine sittliche Hexis181. In diesem Sinne muss das sittliche Wissen, die phrónesis als praktische Klugheit, die Leistung vollbringen, der praktischen Situation anzusehen, was sie vom Handelnden verlangt182. Wissen kann damit aber auch kein sittliches Wissen sein, wenn es nicht auf konkrete Situationen angewendet werden kann. Es „droht sogar, die konkreten Forderungen, die von der Situation ausgehen zu verdunkeln“183 . Die Frage, welches Wissen wir im Hinblick auf die Wahl der richtigen Mittel haben können, hängt nun wesentlich von der Grenzziehung zwischen phrónesis und téchne ab. Kann der Mensch ein handwerkliches Wissen davon haben, wie er zu sein hat, sich also selbst herzustellen wissen? Das, was die phrónesis leistet, ist kein Werk, welches von dem Wissenden getrennt ist, sie leitet ihn selbst184. Kann man nun diese Anleitung als eine Anleitung zur Selbst-Herstellung verstehen? 2. Phrónesis und Téchne Es gilt also, sich noch intensiver mit der Frage auseinanderzusetzen, was die Eigen­art der phrónesis gegenüber der téchne ausmacht. Ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal, das zunächst einmal zur Abgrenzung gegenüber dem theoretischen Wissen dient, aber auch die téchne von der phrónesis trennt, ist im Grunde schon genannt. Der Mensch kann nicht Gegenstand einer Herstellung seiner selbst durch sich sein185. Dementsprechend verlangt ein anderer Gegenstand nach einem anderen Wissen des Werdens. Hier ist sogar die Grenze zum Gegenstand überschritten. Es verlangt ein Nicht-Gegenstand nach einem Wissen, das kein Herstellen ist. Aristoteles nennt dieses Wissen ein Sich-Wissen, d. h. ein Für-sich-Wissen186 . Das kann aber nicht genügen, um die Begriffe wirklich voneinander zu trennen. Es scheint doch zunächst so, als sei auch das technische Wissen ein Wissen um 180

Vgl. Gadamer, WM, S. 320. Vgl. Gadamer, WM, S. 326, Fn. 259. 182 Vgl. Stolzenberg, Hermeneutik der praktischen Vernunft, in: Figal/Gander, Dimensionen des Hermeneutischen. Heidegger und Gadamer, S. 133 (140), sowie Gadamer, WM, S. 318. 183 Gadamer, WM, S. 318. 184 Vgl. Gadamer, „Einführung“, S. 9, in: Aristoteles, Nikomachische Ethik VI. 185 Vgl. Gadamer, WM, S. 321. 186 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1141 b 33. Vgl. Gadamer, WM, S. 321, Fn. 248. Siehe auch Riedel, Für eine zweite Philosophie, S. 192: „Praktische Vernünftigkeit, so lässt sich Gadamers phrónesis-Analyse zusammenfassen, ist ein Für-sich-wissen, das sich in eigener Sache berät; und dies über kein letztes Gegebenes, sondern ein erstes Aufgegebenes, das als erstes zu tun ist.“ 181

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E. Verstehen und Zugehörigkeit: Gadamers philosophische Hermeneutik 

etwas Gutes, das man für sich weiß187. In diesem Zusammenhang bringt Gadamer zunächst wieder die Gemeinsamkeiten von téchne und phrónesis ins Spiel. Denn aus dieser Gemeinsamkeit lässt sich ein Unterscheidungsmerkmal gewinnen. Wer über ein technisches Vermögen verfügt, der hat etwas gelernt, und er weiß es in einer konkreten Situation anzuwenden. Ebenso verhält es sich mit dem sittlichen Wissen. Erziehung und Herkommen sind hier die Weisen des Lernens, die ein Wissen um das vermitteln, was recht ist.188 Letztlich ist es wieder das Merkmal der Anwendung, das téchne und phrónesis verbindet. Aber der Begriff des Lernens bietet die Möglichkeit eine erste echte Unterscheidung festzuhalten. Das technische Wissen kann man auf eine Art lernen, wie es im Bereich der praktischen Klugheit nicht möglich ist. Und viel eindeutiger ist der Unterschied, dass man das technische Wissen, ebenso wie man es gelernt hat, wieder verlernen kann. Man kann aber das sittliche Wissen nicht verlernen. Der Mensch ist immer schon ein Handelnder, d. h. er ist immer schon in der Situation, die eine Entscheidung von ihm verlangt.189 Dass man das sittliche Wissen nicht verlernen kann lässt sich auch an einem Umstand verdeutlichen, der den Begriff der Anwendung in diesem Zusammenhang problematisch werden lässt. Die „sittlichen Ansprüche“, Leitbilder, die man an sich stellt bzw. von sich hat, sind keine Pläne wie die Konstruktionspläne eines Handwerkers. Was zu ihrer Verwirklichung dienlich, also tunlich ist, ist ohne die Situation, die das Handeln erfordert, nicht bestimmbar. Dahingegen kann die Richtigkeit der téchne durch den Gebrauch dem das Herzustellende dienen soll, vorherbestimmt werden.190 Was die Situation verlangt, vermag man dagegen nicht ohne sie festzustellen. Die aristotelische Ethik stellt sich damit dar wie eine Blaupause des hermeneutischen Problems. Erst die Situation bestimmt die richtige Reaktion, so wie erst das zu-Verstehende das richtige Vorurteil zu bestimmen vermag191. Dadurch wird gleichzeitig der Begriff der Anwendung in eine gewisse Spannung gestellt, denn man kann eigentlich nur dort von Anwendung sprechen, wo man etwas schon vordem hat192. Das Verhältnis von Mittel und Zweck unterscheidet téchne und phrónesis noch in einer weiteren Hinsicht. Das Handeln muss seinen Zweck in sich enthalten. Darüber hinaus hat es keinen partikularen Zweck, sondern dient dem guten Leben als ganzem, wohingegen das technische Wissen partikularen Zwecken dient193. Und das praktische Wissen ist nicht nur ein Mit-sich-zu-rate-gehen, es verlangt ein

187

Vgl. Gadamer, WM, S. 322. Vgl. Gadamer, WM, S. 322. 189 Vgl. Gadamer, WM, S. 322. 190 Vgl. Gadamer, WM, S. 323. 191 Vgl. Figal, Philosophische Hermeneutik – hermeneutische Philosphie, in: Figal/Grondin/Schmidt, Hermeneutische Wege, S. 335 (339). 192 Vgl. Gadamer, WM, S. 322. 193 Vgl. Gadamer, WM, S. 326. 188

VII. Die hermeneutische Aktualität des Aristoteles

103

solches. Dagegen ist die téchne erlernbar, und wo es sie gibt muss man sie lernen, um die rechten Mittel zu kennen194. Es ist damit auch vorstellbar, die téchne „aus­ zulernen“; die rechten Mittel wirklich vollständig im Voraus verfügbar zu machen. Die rechten Mittel in Bezug auf das gute Leben im Voraus verfügbar zu machen, ist dagegen allein schon deshalb nicht möglich, weil der richtige Zweck in dem Zusammenhang selbst nicht Gegenstand eines Wissens sein kann. Es gibt kein lehrbares Wissen vom guten, vom rechten Leben. Genau daraus folgt, dass die phrónesis selbst eine sittliche Hexis ist, weil sie ihrerseits erst die sittliche Richtigkeit des Zwecks bestimmt195. Gadamer nennt das sittliche Wissen dementsprechend ein „Wissen vom Jeweiligen“196. Nun kann man ein Wissen vom Jeweiligen leicht im Sinne eines Situationswissens missverstehen, das so und anders sein kann, weil man eben nicht weiß, wie es vorgängig ist. Es geht wieder um den oben schon angesprochenen Relativismus. Das meint, dass der Eindruck entstehen kann, die aristotelische Ethik, und wenn sie als ihr Modell fungieren soll, mit ihr die philosophische Hermeneutik, rechtfertige ein Situationswissen, nach dem jeder nach seinen oder den Interessen seines sozialen Verbandes handeln kann (und dies darüber hinaus vielleicht sogar tun muss). Das erinnert an utilitaristisches Denken, an „das kalte Kalkül desjenigen, der aus der Situation profitieren möchte“197. Wird das Verstehen, wenn sein Gelingen nicht davon abhängt, dass der Verstehende vorgreifend über technische Fertigkeiten verfügt wie ein Handwerker, damit beliebig? Gadamer weist an dieser Stelle darauf hin, dass dieses Problem auf gewisse Weise auch für die Rechtswissenschaften relevant ist198, obwohl es doch zunächst so scheint, als habe man in der Rechtswissenschaft sehr wohl einen Plan zur Findung des richtigen Ergebnisses: Das was Recht ist, ist in den Gesetzen ko­ difiziert199. Trotzdem spricht Aristoteles nicht von der téchne des Richters, sondern von dikastiké phrónesis. Warum ist die Rechtsanwendung keine téchne? Letztlich aber umgeht Gadamer das Problem, das diese Analyse für die Rechtswissenschaften bedeutet, nämlich die Frage ob, und wenn, in welcher Form, eine Norm ihre Anwendung bestimmt, indem er auf einen anderen Unterschied der Rechtsanwendung zum technischen Wissen hinweist: Der Handwerker, der an die Herstellung seines Werkes geht, mag gezwungen sein, von dem ursprünglichen Plan abzurücken, weil die Umstände es gebieten. Darin liegt noch kein Unterschied zum Recht. Auch der Richter mag unter Umständen dazu gezwungen sein, vom Gesetz abzuweichen und auf die Billigkeit zurückzugreifen, weil das Gesetz

194

Vgl. Gadamer, WM, S. 326. Vgl. Gadamer, WM, S. 327. 196 Gadamer, WM, S. 327. 197 Grondin, Einführung zu Gadamer, S. 166. 198 Vgl. Gadamer, WM, S. 323. 199 Das ist sicherlich eine sehr ungenaue Bestimmung, aber darauf kommt es hier noch nicht an. Es wird auf die Bestimmtheit des Rechts noch eingegangen. 195

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E. Verstehen und Zugehörigkeit: Gadamers philosophische Hermeneutik 

zu streng ist. Allerdings ist das Abweichen des Handwerkers eine „schmerzliche Unvollkommenheit“200, während der Richter das bessere Recht findet, wenn er von der Durchsetzung des zu strengen Rechts absieht.201 Aristoteles zeigt, so Gadamer, dass alles Gesetz in einer notwendigen Spannung zur Konkretion des Handelns steht, weil es allgemein ist und deshalb die praktische Wirklichkeit in ihrer vollen Konkretion nicht in sich enthalten kann202. Das Wissen des Richters ist nicht das eines Handwerkers, das durch den Gebrauch des Herzustellenden im Voraus qualifiziert werden kann. Wie ein Handwerker sein Werk „gut“ macht, weiß er, wenn er seine téchne gelernt hat, auch ohne dass ihn jemand um seine Dienste bittet203. Es wird sich von diesem Anstoß aus zeigen lassen, dass „die Anwendung von Gesetzen eine eigentümliche juristische Fragwürdigkeit enthält“204 . Mithin ist die maßgebliche Frage gestellt, für das was Rechtswissenschaften sind und sein können. Wenn nämlich die aristotelische Ethik der Hermeneutik Vorbild sein soll, dann werden die hier gestellten Fragen zu den Kardinalfragen einer juristischen Hermeneutik, die Vorhersehbarkeit der Resultate der Rechts­ findung gewährleisten soll. Der Umstand, dass die Fähigkeit des Richters, der sein Werk gut machen soll, nicht die der téchne, sondern dikastiké phrónesis, also praktische Klugheit in Bezug auf die Anforderungen der Situation sein soll und nicht wissenschaftliches Wissen davon, lässt schon erste Zweifel aufkommen, ob die Rechtswissenschaften, die sich methodisch und damit „technisch“ verstehen, mit ihrem Selbstbild ihrer selbst gerecht werden. Genau das ist schließlich die Frage, die eine Hermeneutik der Hermeneutik zu klären hat: Wird das dem Verstehenden vorgeschriebene Verfahren seinen Möglichkeiten gerecht? Wenn dies nicht der Fall ist, wie ist der Vollzug des Verstehens tatsächlich? Tatsächlich gibt es in den Rechtswissenschaften die Vorstellung von einem methodischen Vorgehen des Verstehens von Gesetzen. Die Gesetze sind demnach im Hinblick auf ihren möglichen Wortsinn, ihre historische Entwicklung, ihre systematische Stellung und ihre Teleologie auszulegen. Aus dem bisher ausgeführten nährt sich schon der Verdacht, dass diese Regeln des Verstehens seinem tatsäch­ lichen Vollzug nicht gerecht werden. Es hat sich gezeigt, dass der besagte Vollzug des Verstehens, wenn man ihn zutreffend als in Jeweiligkeit verhaftet charakterisiert, eine gewisse Unbehaglichkeit mit sich bringt. Das Verstehen scheint beliebig zu werden. Ein Resultat, welches gerade im Hinblick auf die Rechtswissenschaften nur schwer zu akzeptieren ist, denn es greift bis an die Wurzeln unserer Vorstellung von Gewaltenteilung. Wenn es tatsächlich so ist, dass die Fähigkeit des Richters keine Technik und damit nicht vollständig im Voraus erlernbar ist, heißt das nicht, dass der Richter am Ende machen kann, was er will? Es wird sich zei 200

Gadamer, WM, S. 323. Vgl. Gadamer, WM, S. 323. 202 Vgl. Gadamer, WM, S. 323. 203 Vgl. Gadamer, WM, S. 322. 204 Gadamer, WM, S. 323. 201

VII. Die hermeneutische Aktualität des Aristoteles

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gen, dass diese Schlussfolgerung zu radikal wäre, wenngleich man die Fragen, die vorstehende Analyse in Bezug auf das tatsächliche Verfahren in den Rechtswissenschaften aufgeworfen hat, sehr ernst nehmen muss. Wie sich der tatsächliche Vollzug des anwendenden Verstehens in den Rechtswissenschaften darstellt, soll im Folgenden anhand der Frage geklärt werden, was genau die Vorbildlichkeit ausmacht, die Gadamer der juristischen Hermeneutik attestiert hat.

„Aber ebenso wird niemand diese reproduktive Auslegung leisten können, ohne in der Umsetzung des Textes in die sinn­ liche Erscheinung jenes andere normative Moment zu beachten, das die Forderung einer stilgerechten Wiedergabe durch den Stilwillen der eigenen Gegenwart begrenzt.“1

F. Die exemplarische Bedeutung der juristischen Hermeneutik Bisher hat sich das Folgende gezeigt: Der Standpunkt des Sehenden gehört mit zum Gesehenen. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass das hermeneutische Modell viel mehr gemeinsam hat mit der aristotelischen Ethik aus dem sechsten Buch der Nikomachischen Ethik, als mit dem Methodenideal der modernen Wissenschaften, das darauf ausgelegt ist, den Betrachter aus der Betrachtung auszuschalten. Diese Einsicht stellt nun die angebliche Vorbildlichkeit der juristischen Hermeneutik in ein seltsames Licht, denn die Rechtswissenschaften verstehen sich als Wissenschaften gerade in einem methodischen Sinn, wie er hier als den Wissenschaften vom immer-so-Seienden vorbehalten behauptet wurde. Sind nun die Rechtswissenschaften Wissenschaften von etwas, das nicht der Veränderung unterliegt und können sie demnach in einem methodisch vorgängigen Verfahren nachprüfbare Ergebnisse erzeugen? Dies lässt sich implizit beantworten, wenn man der „eigentümlichen juristischen Fragwürdigkeit“2 nachgeht, die die Anwendung von Gesetzen mit sich bringen soll und erläutert, welche Vorstellung von juristischer Hermeneutik ihrer Einstufung als vorbildlich zugrunde liegt. Wenn Gadamer der juristischen Hermeneutik exemplarische Bedeutung zuspricht, so kann man das leicht missverstehen. Es handelt sich dabei um eine externe Beurteilung, die nicht voraussetzungslos ist. Der Begriff „Hermeneutik“ steht in diesem Zusammenhang nicht für einzelne Auslegungslehren, die sich bestimmten Autoren zuordnen lassen. Vielmehr geht es um die juristische (Hilfs-) Disziplin als Ganze, die zur Aufgabe hat, der Anwendung des Rechts zu dienen. Um die Fragwürdigkeit zu ergründen, die die Anwendung von Gesetzen mit sich bringt wird die Betrachtung des Vorgangs der Rechtsanwendung selbst erforderlich. Es wird sich im Rahmen dieser Betrachtung zeigen, was genau es mit der Vorbildlichkeit der juristischen Hermeneutik auf sich hat.

1

Gadamer, WM S. 315. Vgl. Gadamer, WM, S. 323.

2

I. Der Zirkel der Rechtsfindung

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I. Der Zirkel der Rechtsfindung Das Ziel ist zunächst zu zeigen, dass sich der zirkuläre Vorgang des Verstehens, wie ihn Gadamer über die Applikation ins Positive gewendet hat, im Recht auf ganz besondere Weise zeigt. Vorbildlichkeit heißt hier nicht Entsprechung. Die juristische Hermeneutik dient in „Wahrheit und Methode“ der Verdeutlichung dessen, was Gadamer mit der Analyse des Anwendungscharakters der je-eigenen Gewordenheit im Verstehensprozess herausstellen wollte. Dabei ist im juristischen Zusammenhang der Anwendungsvorgang ein äußerer, während er im geschicht­ lichen Verstehen internalisiert ist. Im Vollzug des geschichtlichen Verstehens ist das geschichtliche Wesen selbst so etwas wie die Zufälligkeit der Situation, auf welche die historische Quelle als Allgemeines angewendet werden muss. Im juristischen Verstehen und damit in der täglichen Arbeit des Juristen liegt der Vollzug der Anwendung in der Überwindung der Kluft zwischen der Zufälligkeit des Falles und der Allgemeinheit der Norm. Das gerade angesprochene juristische Arbeiten ist also das Lösen von Fällen. Diese Fälle haben ihren Ursprung nicht, wie man gemessen an der Fülle der falllösungsorientierten Ausbildungsliteratur schließen könnte, in den Köpfen der Juristen, sondern in dem täglichen Umgang von Menschen miteinander und mit allem, was sie umgibt. Die Fälle entstammen also der Wirklichkeit; eine bei näherem Hinsehen gerade im Hinblick auf die hier dargelegte Philosophie gewagte These, die noch zu präzisieren sein wird. Fälle sind im Grunde nichts anderes als erzählte Geschichten3. In ihnen werden die beteiligten Personen, Handlungen, Vorgänge etc. beschrieben. Aber nicht aus allen Geschichten können Fälle werden. Wie nun aus solch einer Beschreibung ein Fall wird und wie über den Fall geurteilt wird, soll anhand der folgenden Geschichte erläutert werden, die dem Bundesgerichtshof (BGH) zur Entscheidung vorlag und die für diese Zwecke zunächst etwas auszuschmücken ist4: Eine Frau, sie braucht zunächst noch einen Namen und soll Frau Berger heißen, betreibt eine Gaststätte und ein Hotel. Sie hat sich ein kleines, rotes Auto zugelegt, mit dem sie die notwendigen Einkäufe erledigt. Für gewöhnlich fährt sie dazu in einen nahe gelegenen Großmarkt. Dort bekommt sie alles, was sie für ihren Betrieb braucht an einer Stelle, spart so Zeit, weil sie nicht herumfahren muss und dazu ist der Großmarkt auch noch der billigste Anbieter in der Gegend. Im Übrigen gefällt ihr die farbliche Gestaltung des Großmarktes. Insbesondere eine für die Großmarktkette typische und besonders auffällige Farbkombination bei der Außengestaltung sagt Frau Berger zu. Nicht wie sonst üblich bereits am Donnerstag, sondern erst an einem Freitag, den 22. Juni 1979, fährt Frau Berger mit ihrem kleinen, roten Auto in den Großmarkt um ihre Einkäufe zu erledigen. 3 Vgl. zu dem hier beschriebenen auch Seibert, Fall, Regel, Topos, in: Feldner/Forgó, Norm und Entscheidung. Prolegomena zu einer Theorie des Falls, S. 127 ff. 4 BGH NJW 1986, S. 2757 ff.

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F. Die exemplarische Bedeutung der juristischen Hermeneutik 

Am Donnerstag hatte sie es nicht geschafft einkaufen zu fahren, weil ein Kegelclub bis spät in die Nacht in ihrer Gaststätte sein zehnjähriges Bestehen gefeiert hatte. Gegen 19:30 betrat sie den Selbstbedienungs- Großmarkt. Dort stürzte sie beim Betrachten der Waren vor einem Regal. Sie behauptet, die Ursache des Sturzes sei eine schadhafte Stelle des Fuß­ bodenbelages gewesen; er habe sich an der Unfallstelle gelöst gehabt; die Füße seien ihr, da unter dem Belag befindliche Körnchen gleichsam einen „Rollschuh­ effekt“ ausgelöst hätten, geradezu weggerutscht. Bei diesem Sturz, den sie noch am Abend einem Angestellten der Beklagten an der Kundeneingangskontrolle gemeldet habe, habe sie sich eine schwere Hüftgelenksprellung zuge­zogen. Trotz der Beeinträchtigung ihrer Bewegungsfähigkeit und der damit verbundenen Schmerzen habe sie am 23. und 24. Juni 1979 noch gearbeitet. Am Montag, dem 25. Juni 1979, habe ihr Hausarzt ihr Bettruhe verordnet, woraufhin sie das Hotel vom 26. bis 28. Juni 1979 geschlossen, es jedoch (wegen eini­ger Zimmervorbestellungen) am 29. Juni 1979 wieder eröffnet habe. Als sie am 30. Juni 1979 die Kellertreppe im Restaurant ihres Hotels habe hinunter­gehen wollen, habe sie bereits an der obersten Stufe wegen eines plötzlich auftretenden Schmerzes in der Hüfte den Halt verloren, das Geländer nicht mehr erreichen können und sei die ganze Treppe hinuntergefallen. Dabei habe sie sich mehrere Brüche zugezogen. Nun handelt es sich bei dem zweiten Absatz um eine wörtliche Wiedergabe dessen, was der BGH in seinem Urteil „zum Sachverhalt“ zusammengefasst hat. Der erste Absatz ist zum größten Teil erfunden. In der Sachverhaltswiedergabe des BGH heißt es an entsprechender Stelle: Die Klägerin macht Schadensersatzansprüche gegen die M. SB Großhandelsmärkte GmbH wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht in einem Großmarkt geltend. Die damals 57 Jahre alte Klägerin besaß, da sie eine Gaststätte und ein Hotel betrieb, einen Kundenausweis der Beklagten. Nach den (von der Klägerin unterschriebenen) Lieferungs- und Zahlungsbedingungen der Beklagten betreten die Kunden die Großmärkte „auf eigene Gefahr“. Außerdem ist in Nr. 9 dieser Bedingungen u. a. folgendes bestimmt: „Gewährleistungs- und Schadensersatzansprüche sind gegenüber Kaufleuten ausgeschlossen; im übrigen beschränkt sich die Gewährleistung auf Nachbesserung oder Ersatzlieferung …; erst nach endgültigem Fehlschlagen können Wandlung und Minderung verlangt werden; Schadensersatzansprüche sind − vorbehaltlich § 11 Nr. 7 AGBG − aus­geschlossen.“

Als die Klägerin am 22. Juni 1979 gegen 19.30 Uhr in dem SelbstbedienungsGroßmarkt der Beklagten in M. einkaufte, stürzte sie beim Betrachten der Waren vor einem Regal. Hierin findet sich nichts darüber, wie die Hotelbetreiberin zu dem Großmarkt gelangte. Keine Angaben darüber, warum es gerade ein Freitag war, an dem sie eingekauft hat und sie büßt sogar ihren Namen ein. Im Urteil der Richter heißt sie

I. Der Zirkel der Rechtsfindung

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nur „die Klägerin“, aus den Betreibern des Großmarkts werden „die Beklagten“. Derartige Angaben sind für den Urteilsspruch der Richter anscheinend ohne Belang. Natürlich sind die Angaben tatsächlich nicht entscheidend für die Lösung des Falles und es geht nicht darum, sich dumm zu stellen, aber die Frage, die sich in dem Zusammenhang unmittelbar stellen muss ist: Warum sind diese Angaben überflüssig? Der erste Gedanke, der dem Juristen in diesem Zusammenhang kommt ist, dass derartige Details vom Gesetz aussortiert werden. Das Gesetz, so scheint es zunächst eindeutig zu sein, entscheidet darüber, welche Umstände für die Lösung des Falles relevant sind und welche nicht. So kann man in einem Lehrbuch zum Allgemeinen Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches lesen: „Der Richter prüft (zunächst), ob der vom Kläger vorgetragene Sachverhalt unter eine Gesetzesbestimmung subsumiert werden kann, aus der sich die vom Kläger begehrte Rechtsfolge ergibt.“5

Wenn man also das Bürgerliche Gesetzbuch durchsieht, so findet man in der Tat keine Norm, die etwas über verschobene Einkäufe, rote Autos oder Hotel­ betreiberinnen aussagt, die Berger heißen. Alle diese Angaben lassen sich also unter keine Norm subsumieren und sind damit für die Lösung des Falles unerheblich. Allerdings findet sich im BGB auch keine Norm, die etwas über die Folgen von „Rollschuheffekten“ aussagt. Womit von der Frage der Irrelevanz der Umstände, die sich ereignet haben, zu der Frage der Relevanz übergewechselt ist. Was macht diese Relevanz aus? Die Tatsache, dass das Wort „Rollschuheffekt“ in der Sachverhaltswiedergabe des BGH in Anführungszeichen gesetzt ist lässt darauf schließen, dass es sich dabei um ein Zitat handelt. Der BGH gibt hier eine Formulierung wieder, die nicht von ihm stammt, also den von der Klägerin vorgetragenen Sachverhalt. Wieso aber erfährt man nichts dergleichen, wie es eingangs in dem hinzuerfundenen Teil geschildert wurde, wo es doch äußerst unwahrscheinlich ist, dass die Klägerin nur Umstände vorgetragen hat, die für die Lösung des Falles relevant sind? Weil alle derartigen Angaben irrelevant sind. Der „Rollschuheffekt“ muss also von vorneherein als für die Lösung des Falles relevant erkannt worden sein und als eine der Angaben der „Klägerin“ zu dem Vorgang, der zu verhandeln stand, in die Sachverhaltswiedergabe des BGH eingegangen sein. Nur ist damit nichts gewonnen bezüglich der Frage nach dem Ursprung der Bedeutung dieses Umstands. Ist es nun das Gesetz, das die Relevanz der Umstände für die Falllösung herstellt oder nicht? In gewisser Weise trifft das wohl zu. Um zu zeigen, wie dieser Vorgang vonstattengeht, soll dargestellt werden, in welcher Form der hier herangezogene Fall in die Ausbildungsliteratur eingegangen ist6: 5

Brox, Allgemeiner Teil des BGB, Rn. 53. Vgl. Werner/Saenger, Fälle mit Lösungen für Fortgeschrittene im Bürgerlichen Recht, S.  23 ff. 6

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F. Die exemplarische Bedeutung der juristischen Hermeneutik 

Der Fall wird dabei durch Weglassen der Datumsangaben aktualisiert, damit er einer Lösung anhand der gegenwärtigen Gesetzeslage zugeführt werden kann. Ansonsten unterscheidet sich die Sachverhaltswiedergabe kaum von der des BGH. Aus der Frau „Klägerin“ ist ein Herr H geworden. Offensichtlich spielt auch das Geschlecht für den Ausgang des Prozesses keine Rolle. Von Relevanz ist hier aber die Lösung, der das Problem des „Rollschuheffekts“ zugeführt wird. Ohne Umschweife wird mit der Frage begonnen, ob der Herr H Ansprüche aus § 280 Absatz 1 BGB geltend machen kann. Hier wirken bereits erste Vorkenntnisse des Juristen. Schließlich ist es kaum vorstellbar, dass derjenige, der den Fall zur Nutzung in der juristischen Ausbildung aufgearbeitet hat, zuerst alle Paragraphen des BGB auf etwaige Einschlägigkeit überprüft hat. Vielmehr wird gezielt diese eine Norm herausgegriffen. Erneut stellt sich die Frage, wie diese Zuordnung gelingen kann, denn das Gesetz macht es dem Juristen nicht leicht. In dem herangezogenen § 280 BGB heißt es in Absatz 1: „Verletzt der Schuldner eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis, so kann der Gläubiger Ersatz des hierdurch entstehenden Schadens verlangen. Dies gilt nicht, wenn der Schuldner die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat.“

Von keiner Frau Berger, keinem Herrn H, keiner M oder M-SB Großhandelsmärkte GmbH ist hier die Rede und auch von keinem Rollschuheffekt, der Stürze auslöst. Lediglich von einem Gläubiger und einem Schuldner sowie einer Pflichtverletzung. Gesetze, so kann man wiederum aus dem Buch zum Allgemeinen Teil des BGB lernen, sind abstrakt7. Das heißt, sie sind vom Gegenstand abgelöst, nicht gegenständlich. Es sollte also nicht verwundern, dass von den im Sachverhalt vorkommenden Personen im Gesetz keine Rede ist. Dafür muss aber etwas anderes verwundern. Wie lässt sich die Subsumtionstheorie der Rechtsanwendung zu der Feststellung in Bezug setzen, dass Gesetze abstrakt sind? Geht man davon aus, dass der Vorgang der Falllösung sich in der Subsumtion eines Sachverhaltes unter eine Norm erschöpft, dann gerät man dadurch in einen gewissen Widerspruch. Schließlich ist die Norm abstrakt, sie ist also nicht gegenständlich oder vom Gegenstand abgelöst. Die Subsumtionstheorie setzt somit gleichsam voraus, dass man einen Gegenstand, hier der „Rollschuheffekt“ mit anschließendem Sturz, der zu einer Verletzung führt, unter einen Nicht-Gegenstand subsumiert. Und das heißt nichts anderes, als dass die Feststellung getroffen werden soll, ein Gegenstand sei in einem Nicht-Gegenstand enthalten. Mit der Darstellung des Falllösungsvorganges als einer Subsumtion der Vorgänge in der Wirklichkeit unter eine vorfindliche Norm wird demzufolge übergangen, dass vor der Zuordnung der Wirklichkeit zu einer Norm eine typische Angleichung vollzogen werden muss. Der Fall ist ein Stück aus der Wirklichkeit, nicht so die Norm. Dementsprechend meint Gadamer: 7

Vgl. Brox, Allgemeiner Teil des BGB, Rn. 50.

I. Der Zirkel der Rechtsfindung

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„Es ist anscheinend eine reine Laienvorstellung, wenn man sich die Anwendung eines Gesetzes auf einen konkreten Fall als den logischen Vorgang der Subsumtion des Einzelnen unter das Allgemeine denkt.“8

Die Vorstellung, die Gadamer hier dem Laien zuschreibt ist aber gerade unter den professionellen Rechtsanwendern die vorherrschende. Der Jurist als der vermeintliche Experte geht genau davon aus, dass der Vorgang der Anwendung eines Gesetzes nichts weiter als die Subsumtion des Einzelnen unter das Allgemeine ist. Auch in der wohl immer noch als Standardwerk zu bezeichnenden juristischen Methodenlehre von Larenz wird trotz einiger Modifikationen, zu denen wohl auch die hermeneutische Methodenkritik gezwungen haben wird, von einer Subsumtion des Falles unter die Norm ausgegangen9. Um verstehen zu können, warum die juristische Hermeneutik für die Hermeneutik exemplarische Bedeutung haben soll, muss man sich von der Vorstellung lösen, dass die Anwendung eines Gesetzes die Subsumtion des Einzelnen unter das Allgemeine ist. Dies sind die Voraussetzungen, die Gadamer stillschweigend macht, wenn er der juristischen Hermeneutik eine exemplarische Bedeutung zuspricht. Nun gilt es der negativen Darstellung eine positive gegenüber zu stellen, denn es geht hier nicht nur darum, was die Analyse der juristischen Hermeneutik für das Fortkommen von „Wahrheit und Methode“ leisten kann, sondern um die Frage, was aus der Analyse des Verstehens in „Wahrheit und Methode“ für die Hermeneutik des Rechts folgt. Wenn es sich bei dem Vorgang der Rechtsanwendung nicht um einen logischen Vorgang der Subsumtion handelt, wie stellt sich der Vorgang dann dar? Anhand der Subsumtionstheorie der Rechtsanwendung lässt sich durchaus erklären, wie die Aussonderung von irrelevanten Umständen aus der Er­ zählung eines Vorganges in der Wirklichkeit hin zu einem für den Juristen lös­ baren Fall abläuft. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass die Betreiberin des Hotels namenlos wird, weil das Gesetz als ein Abstraktum für derartig Individuelles blind ist. Es ist aber ebenso blind für die Individualität der entscheidungsrelevanten Umstände und bedarf insofern fremder Hilfe. Mit der Subsumtionstheorie wird also nicht erklärt, wie die entscheidungsrelevanten Umstände aus der Schilderung der Vorgänge in der Wirklichkeit gewonnen werden und damit letztlich wiederum auch nicht, wie die unerheblichen Umstände ausgeschieden werden. Die Norm alleine ist also bezüglich der Aufarbeitung des Vorganges durch Trennung der relevanten von den irrelevanten Umständen hin zu einem Fall hilflos. Der Jurist wird zum Geburtshelfer der Norm, er muss „etwas dazu thun“, wenn die Regel „ins Leben übergehen soll“10 wie man bemerkenswerter Weise schon von Savigny lernen kann. Damit ist ein entscheidender Aspekt bereits angedeutet. Hier wird sich in der Folge aus Gründen der Vereinfachung auf eine der Voraussetzungen beschränkt, 8

Gadamer, Hermeneutik und Historismus, in: GW 2, S. 387 (400). Vgl. Schapp, Die juristische Methode, Jura 2001, S. 217 (221). 10 Savigny, System I, S. 206. 9

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F. Die exemplarische Bedeutung der juristischen Hermeneutik 

die in dem in Rede stehenden Fall auf etwaiges Vorliegen überprüft werden. Die Frage stellte sich schon für den BGH und sie bleibt auch für die Lösung des Falles anhand aktuell geltenden Rechts relevant. Sie lautet: Liegt hier eine Pflichtverletzung seitens der Beklagten vor? Schaut man sich den Gang des Falles durch die Instanzen an, so wird deutlich, dass es in der Tat an der Kreativität des Juristen liegt, die Norm aus dem Schlaf des Abstrakten zu wecken und dabei der geschilderten Wirklichkeit die Elemente abzuringen, die Relevanz besitzen, denn das Berufungsgericht kommt im Rollschuheffektfall zu einer anderen Lösung als später der BGH. Auf der Suche nach einer Pflichtverletzung war man in der unteren Instanz nicht fündig geworden. Man hielt es zwar für erwiesen, dass die Beklagte „vor einem Regal – nach hinten fallend – gestürzt ist“ dort, wo „sich der Fußbodenbelag auf einer etwas 10 × 10 cm großen Fläche in mehreren Stücken gelöst hatte oder beim Betreten durch die Kl. löste“11 und erkannte die Beschädigung des Bodens auch als zumindest mit ursächlich für den Sturz der Klägerin an. Es sei aber nicht erwiesen, „dass die Schadhaftigkeit des Fußbodenbelages für ihr Personal [für das Personal der M-SB Großhandelsmärkte GmbH] (für das sie nach § 278 BGB einzustehen habe) erkennbar gewesen sei“12. Diesen Nachweis der Erkennbarkeit habe die Klägerin leisten müssen und sei dem nicht nachgekommen. Selbst wenn man hier von einer Umkehr der Beweislast ausginge, würde das zu keinem anderen Ergebnis führen, weil eine solche Beweislastumkehr nicht zur Anwendung kommen könne, da die Klägerin ihren Mitwirkungspflichten bei der Aufklärung des Unfalls nicht genügt habe. Das Berufungsgericht erkennt hier also höchstens Versäumnisse der Klägerin. Dieses Urteil hält, wie es heißt, „einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand“. Das bedeutet in diesem Fall nichts anderes, als dass die Richter des Bundesgerichts­ hofes, im Gegensatz zu den Richtern am Berufungsgericht, auf der Suche nach einer Pflichtverletzung durch die Betreiber des Großmarktes fündig geworden sind. Dieser Fund entstammt nicht der Norm, zumindest entstammt er ihr nicht direkt. Erstaunlicherweise entstammt er aber auch nicht der Schilderung des Vorgangs durch die Beteiligten, denn die vom BGH gefundene Pflichtverletzung wird bis dato nicht erwähnt. Der BGH meint nämlich, dass es auf die Frage, ob das Personal die Schadhaftigkeit des Bodens an der Unglücksstelle habe erkennen können, gar nicht ankomme. Schon die Wahl eines Bodenbelags, der durch eine körnchenartige Unterstruktur zur Gefahr für die Kunden werden könne, sobald sich irgendwann einmal ein Stück der Oberfläche löse, stelle die erforderliche objektive Sorgfaltspflichtverletzung seitens der Beklagten dar. Die Richter des Bundesgerichtshofs greifen hier also auf so etwas wie Alltagswissen zurück. Bisher ist noch von keinem Fall berichtet, in dem sich Bodenbeläge in Großmärkten oder sonst wo von selbst verlegt hätten. Wenn der Bodenbelag da ist, und dass er da ist,

11 12

BGH NJW 1986, S. 2757. BGH NJW 1986, S. 2757.

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ist evident, dann muss ihn irgendjemand dort hingelegt haben. Die Verantwortung für diesen Vorgang, so lernt man aus dem Urteil, liegt bei den Betreibern des Großmarktes. Genau genommen ist also Folgendes aus dem Urteil zu lernen: Wer in einem Großmarkt einen Bodenbelag verlegt, der wegen seiner körnchenartigen Unterstruktur nach Ablösung der Oberfläche Rollschuheffekte hervor­ rufen kann, der begeht gegenüber seinen Kunden, wie immer die auch heißen mögen, eine Pflichtverletzung. Nun könnte man meinen, und das scheint der Tenor zeitgenössischer Methodenlehre zu sein, dass es sich dabei um eine aus der ursprünglich abstrakten Norm geformte „Entscheidungsnorm“ handelt, die endlich die Lösung des Falles ermög­licht, nachdem man ebenso aus dem ursprünglichen „Rohsachverhalt“ den Sachverhalt herausgearbeitet hat, der der Entscheidung zugänglich ist13. Damit wird übergangen, wie der umfassende Vorgang in der Wirklichkeit und die Norm gegenseitig bestimmend wirken. 1. Die Reziprozität von Fall und Norm Zunächst einmal ist an dieser Stelle festzustellen, dass die Norm die Argumentation des BGH durchaus zulässt. Unabhängig davon, ob man den Fall so löst wie der BGH, nämlich nach der Rechtsfigur der culpa in contrahendo, die allgemein anerkannt war und deren Voraussetzungen nicht mehr und nicht minder feststanden als die einer geschriebenen Norm oder ob mit dem Fall nach aktuell geltendem Recht verfahren wird und man ihn einer Lösung nach §§ 280 Absatz 1, 311 Absatz 2 Nr. 2, 241 Absatz 2 BGB zuführt: Man kann sagen, dass die Betreiber des Großmarktes mit der Wahl des Bodenbelags ihre Pflichten zur Rücksicht auf die Rechtsgüter kommender Vertragspartner verletzt haben. Man könnte aber auch so argumentieren, dass die Betreiber eines Großmarkts, deren Laden an einem Freitagabend um 19:30 noch geöffnet ist, ganz besonders strengen Maßstäben unterliegen, was die Sicherung ihrer Geschäftsräume angeht. Schließlich werden durch die lange Öffnungszeit Kunden angelockt, die wegen ihrer vorauszusetzenden Gewerbetätigkeit am Ende eines Arbeitstages stehen und deshalb weniger aufmerksam sind; weshalb eine Pflichtverletzung schon dann vorliegt, wenn die Gänge des Marktes nicht mindestens täglich auf mög­liche Gefahrenherde kontrolliert werden, was vorliegend nicht geschehen war. Und könnte man nicht sogar darauf verweisen, hier seien die oben vorgenommenen Ausschmückungen des Sachverhalts in Erinnerung gerufen, dass derjenige, der seine Geschäftsgebäude in populären Farbkombinationen streicht und dadurch Kunden in seine Räume lockt, eine Pflichtverletzung begeht, weil die Kunden wegen der

13

Vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 278 ff.

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außergewöhnlich ansprechenden farblichen Gestaltung in ihrer Aufmerksamkeit herabgesetzt sind? Nun wird die letzte Pflichtverletzung wohl als allzu konstruiert anzusehen sein. Diese Argumentation ist wenig überzeugend. Könnte aber auch etwas gegen die zuerst angeführte Ersatzargumentation einzuwenden sein? Zumindest nicht die Norm. Weder § 280 Absatz 1 BGB noch die dadurch normierte Rechtsfigur der culpa in contrahendo sagen mehr, als dass der Jurist sich auf die Suche nach einer Pflichtverletzung zu begeben habe, nicht wie diese aussieht. Dabei muss man anmerken, dass auch gegen die „allzu konstruierten“ Argumentationen der Wortlaut der Norm nicht eingewendet werden kann. Wohl auch deshalb spricht man von der Lösung von Fällen. Wenn uns der Lebenssachverhalt in der Form begegnet, „der Schuldner hat gegenüber dem Gläubiger eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis verletzt“, dann bedarf der Fall keiner Lösung mehr. Damit wird auch klar, warum es sich bei der Feststellung: „Wer in einem Großmarkt einen Bodenbelag verlegt, der wegen seiner körnchenartigen Unterstruktur zu Rollschuheffekten führen kann, begeht eine Pflichtverletzung gegenüber seinen Kunden“, nicht um eine, aus der Ursprungsnorm gebildete Entscheidungsnorm handelt unter die schließlich der Sachverhalt subsumiert werden kann, um den Fall zu lösen. Genau genommen ist der Fall mit der Entdeckung der sogenannten Entscheidungsnorm schon gelöst. Es ist aber noch auf etwas anderes hinzuweisen. Im Grunde liegt schon in dem Zugeständnis, dass man der Lösung des Rollschuheffektfalles durchaus zustimmen kann ein entscheidender Aspekt verborgen. Dass man der Lösung zustimmen kann, heißt nämlich ganz ausdrücklich, dass man ihr nicht zustimmen muss. Die Argumentation des BGH hat keineswegs die Evidenz einer natur­ wissenschaftlichen Beweisführung. Ihre Überzeugungswirkung würde, wenn der BGH nicht über die Autorität verfügte, die einem letztinstanzlichen Gericht faktisch zukommt, auf nichts anderem als dem „schwachen Zwang des besseren Arguments“14 beruhen. Man könnte sich schließlich den Gang des Falles durch die Instanzen ebenso gut umgekehrt vorstellen. Es wäre durchaus denkbar, dass ein Instanzgericht zu der Einschätzung kommt, es sei eine objektive Pflicht­verletzung, einen Bodenbelag mit körnchenartiger Unterstruktur auszusuchen, dessen Oberfläche sich lösen kann und der damit zu Stürzen führen würde und der BGH feststellt, dass dieses Urteil „einer rechtlichen Überprüfung nicht standhält“. Dass man dieses Aussuchen des Bodenbelags für eine Pflichtverletzung im Sinne des § 280 Absatz 1 BGB ansieht ist also keineswegs zwingend. Es ist nicht so, dass das Instanzgericht, hätte man dort stärkere geistige Anstrengungen unternommen, zu demselben Ergebnis hätte kommen müssen. Letztlich liegt wohl genau in diesem Umstand der Grund dafür, dass jemand, wie in dem hier beispielhaft herangezogenen Fall die Hotelbetreiberin, das Wagnis des Gangs nach Karlsruhe eingeht, denn das Ergebnis ist in beide Richtungen offen. Niemand würde sich wohl auf eine Verhandlung seines Falles in einer weiteren Instanz einlassen, wenn die Be 14

Tietz, Hans-Georg Gadamer. Zur Einführung, S. 45.

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gründung des Urteils über mehr als den „schwachen Zwang des besseren Arguments“ verfügen würde. Der Umstand, dass von dem Urteil des BGH an, jeder Jurist der den Rollschuheffektfall kennt, davon ausgeht, dass die Auswahl eines bestimmten Bodenbelags zu einer bestimmten Verwendung eine Pflichtverletzung im Sinne des § 280 Absatz 1 BGB darstellt, liegt darin begründet, dass davon auszugehen ist, dass von da an jedes Gericht in einem gleich gelagerten Fall ein gleich lautendes Urteil fällen würde. Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass man dort den Fall des BGH und seine Entscheidung dazu kennt oder darauf aufmerksam gemacht wird. Es hat also erst das Urteil die Bedeutung der Norm konstituiert und es ist keineswegs so, dass mit dem Urteil für alle Zeiten feststeht, was eine Pflicht­verletzung darstellt und was nicht, so wie feststeht, dass alle Körper gleich schnell fallen, wenn man einmal zwei Körper mit verschiedenem Gewicht in einem Vakuum hat fallen lassen. Das Urteil hat also eine Bedeutung des Wortes „Pflichtverletzung“ gefunden, die es vorher noch nicht gab und die es irgendwann nicht mehr geben wird. Es gibt sie nur, weil der Fall dem Juristen dabei geholfen hat, der Norm ihre Bedeutung abzugewinnen. Dass eine „Pflichtverletzung“ darin zu sehen sein kann, dass jemand einen Bodenbelag ausgesucht hat, ist nicht aus der Norm ausgelegt, sondern durch den Fall in sie hineingelegt. Hier hat keine Wortlautaus­ legung stattgefunden, die auf einen vorher feststehenden „Sprachgebrauch“ be­ zogen ist und nur unter Hinsichtnahme auf einen in dem Wort „Pflichtverletzung“ vorfindlichen „Begriffskern“ geschieht15. Wer würde denn behaupten wollen, dass durch den Sprachgebrauch vorher, d. h. vor dem Urteil des BGH – und hier kommt es entscheidend auf die zeitliche Abfolge an – festgestanden hätte, dass es eine Pflichtverletzung darstellt, in einem Großmarkt einen Bodenbelag mit körnchenartiger Unterstruktur zu verlegen? Es gab diesen Sprachgebrauch vor dem Urteil nicht und es gibt ihn auch nach dem Urteil nur für diejenigen, denen das Urteil bekannt ist. Wenn es aber keine vorherige Bedeutung des Wortes „Pflichtverletzung“ gibt, aus der sich die Bedeutung für den Fall entnehmen lässt, wie soll dann die für den Fall entscheidende Bedeutung durch Auslegung aus der Norm entnommen werden? Das Verstehen von Gesetzen bleibt damit ein Wagnis, so wie jedes andere Verstehen auch. Es soll aber noch einmal angemerkt werden, dass die Legitimität dieses Vorgangs hier nicht bestritten wird. Man kann der Argumentation des BGH durchaus zustimmen und wie sich zeigen wird liegt genau darin die Richtigkeit des Urteils begründet und nicht in einem nur vermeintlichen methodisch-nachvollzieh­baren Vorgehen. Auch dies gilt es noch einmal zu betonen: Es geht der philosophischen Hermeneutik nicht mehr darum, dem Verstehen ein Verfahren vorzuschreiben, sondern zu überprüfen, wie der Vorgang des Verstehens tatsächlich ist. Damit ist nicht weniger gesagt, als dass sich kein Interpret einer Norm der hier durchgeführ-

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Vgl. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 437.

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ten Analyse entziehen kann. Das Verstehen ist so wie es geschieht kein Gegenstand einer auswählenden Annahme. Der Vorgang der Falllösung geht also folgendermaßen vonstatten: Die Norm sagt nur, dass man nach einer Pflichtverletzung suchen soll, aber sie sagt nicht, wie diese aussieht. Der Jurist begibt sich also auf die Suche nach etwas, von dem er nicht mehr hat als ein Vorverständnis16. Das Feld der Untersuchung ist dabei der geschilderte Lebenssachverhalt. Aus ihm wird, direkt oder indirekt, wie in der Lösung des BGH, der die Pflichtverletzung hinzugedacht hat, etwas gewonnen, das so aussieht, wie man es sich vorgestellt hat. Hier, im Rollschuheffektfall, wird eine Pflichtverletzung in der Auswahl des Bodenbelags erkannt. Das heißt, dass nicht von der Norm gelernt wird, was eine Pflichtverletzung ist, sondern dass der Sachverhalt die Norm in dieser Beziehung mitbestimmt, wobei immer die produktive Kraft dessen im Bewusstsein gehalten werden muss, der die Suche durch­ geführt hat. Die produktive Kraft des Suchenden, also des Juristen, und der geschilderte Lebenssachverhalt bestimmen erst die Norm. Der geschilderte Vorgang in der Wirklichkeit gibt dem Juristen die Möglichkeit, die Norm inhaltlich zu bestimmen. Es erscheint damit mehr als fraglich, ob man wirklich von einer Subsumtion eines Sachverhalts unter die Norm sprechen kann17. Die Norm, so hat sich gezeigt, hat keine Bedeutung für sich. Ihre Bedeutung offenbart sich erst in der Situation, die der Fall ist genauso wie sich die Bedeutung der Überlieferung nur für die Situation zeigt, die das Dasein selbst ist. In der Vergegenwärtigung dieses Um­ standes liegt die Funktion der Betrachtung der juristischen Hermeneutik in „Wahrheit und Methode“. Bei dieser Betrachtung fällt jedoch naturgemäß auch etwas ab für das richtige Selbstverständnis der juristischen Hermeneutik. Zunächst ist zuzugestehen, dass das Verstehen einer Norm mal ein größeres Wagnis darstellt und in einem anderen Fall der Interpret sich der Akzeptabilität seines konkreten Verständnisses der Norm im Hinblick auf den Fall sicherer sein kann. Für diese Sicherheit, für das Vertrauen, das der Interpret in die Adäquatheit seines Interpretationsvorschlags hat, ist aber nicht allein die Einfachheit des Normmerkmals verantwortlich, sondern erst ihre Kombination mit der Einfachheit des Falles. Die Interpretation eines jeden Tatbestandsmerkmals kann, wenn der Fall es fraglich werden lässt, eine Schwierigkeit darstellen, wenngleich es noch in einem anderen Fall unmittelbar verstanden wurde, ohne dass der Interpret sich Gedanken über seine Form der Anwendung gemacht hat. 16

Vgl. Esser, Möglichkeiten und Grenzen des dogmatischen Denkens im modernen Zivilrecht, AcP 1972, S. 97 (110). 17 Gadamer selbst meint, das Verstehen, für das die juristische Anwendung ja beispielhaft sein soll, sei ein Sonderfall der Anwendung von etwas Allgemeinem auf eine konkrete und besondere Situation. Das Modell für diesen Sonderfall war wiederum die aristotelische Ethik. Vgl. Stolzenberg, Hermeneutik der praktischen Vernunft, in: Figal/Gander, Dimensionen des Hermeneutischen. Heidegger und Gadamer, S. 133 (149). Dies weist schon hin auf die Be­ ziehung, die sich zwischen der Ethik Aristoteles’ und der juristischen Hermeneutik herstellen lässt.

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Die Norm aber spielt für die Lösung des Falles ebenfalls eine entscheidende Rolle. Sie gibt vor, wonach zu suchen ist, wenn auch nur durch die Bereitstellung erster vorverständnisartiger Ausgangspunkte. Der § 280 Absatz 1 BGB sagt dem Juristen, er solle nach einer „Pflichtverletzung“ suchen und bestimmt damit gleichzeitig, dass etliche Elemente der Schilderung eines zu beurteilenden Vorfalls ausgeschieden werden. Es mag der Verdacht aufgekommen sein, dass hier einem „anything goes“ das Wort geredet werden soll, denn es erscheint doch so, als könne der Richter nach dem eben Dargelegten machen was er will. Mit der Voraussetzung, dass die Norm für die Entscheidung nicht unbedeutend ist, sondern für das was den Fall zum Fall macht konstitutiv ist – wie umgekehrt der Fall die Norm bestimmt – zeigt sich schon, das hier im Wortsinne nicht von der „Bedeutungslosigkeit“ von Normen ausgegangen wird: Die Feststellung dessen, was eine Pflichtverletzung ist, wird damit nicht beliebig. Die Elemente also, die den Fall zum Fall machen, lassen sich ohne die Norm nicht bestimmen, wie umgekehrt die Norm ihre Bedeutung erst mit dem Auf­ finden dieser Elemente offenbart18. Fall und Norm stehen in einem Verhältnis reziproker Bestimmung, ohne dass sich ein zeitliches Vorgehen aufweisen ließe. Daraus lässt sich endlich schließen, wieso die Verortung des Ursprungs eines Falles in der Wirklichkeit etwas voreilig war und der Korrektur bedarf. Der Wirklichkeit entspringt vielmehr eine Schilderung, die durch die Kreativität des Juristen und die normativen Hinweise zu einem Fall geordnet wird. Fälle haben damit ihren Ursprung tatsächlich in den Köpfen der Juristen. 2. Angleichung durch Auslegung – Die Methoden der Gesetzesauslegung Es gilt jedoch zu fragen, inwieweit die Falllösung durch die Gerichte nicht vielleicht doch einem logisch nachvollziehbaren Schluss gefolgt ist, nur auf einem anderen Wege als dem bisher ausgeschlossenen. Bisher hat sich nur gezeigt, dass die Entscheidung, die Verlegung eines Bodenbelags mit körnchenartiger Unterstruktur könne eine Pflichtverletzung sein, sich nicht aus dem Wortlaut der Norm ergibt, ob sie nun positiviert ist oder als Rechtsinstitut mit feststehenden Voraussetzungen allgemein anerkannt wird. Damit ist hier aber nichts anderes geschehen, als dass die Norm hinsichtlich ihres Wortlauts ausgelegt wurde, woraus zu schließen war, dass die Entscheidung über das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen nicht allein dem Wortlaut der Norm zu entnehmen ist. Schon daraus wird deutlich, dass die Untersuchung der Urteilsfindung bisher unvollständig geblieben ist, denn der Wortlaut muss mitnichten der einzige Anknüpfungspunkt für die Beantwortung der Frage sein, ob die Betreiberin des Hotels von den Betreibern des 18 Vgl. Kaufmann, Über den Zirkel der Rechtsfindung, in: Beiträge zur juristischen Hermeneutik, S. 65 (74).

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Großmarktes Schadensersatz verlangen kann. Damit ist noch einmal zu der Frage der Subsumierbarkeit zurückzukehren und zu untersuchen, wie das Selbstbild der vorherrschenden juristischen Hermeneutik ist und ob dieses nicht einer Korrektur bedarf. Die Aussage Gadamers, dass es sich bei der Subsumtionstheorie der Rechts­ anwendung um eine reine Laienvorstellung handelt, ist in dieser Pauschalität wohl weder ganz falsch noch ganz richtig. Um eine derart generelle Aussage über den Umgang mit dem Rechtsanwendungsproblem unter den professionellen Rechtsanwendern treffen zu können, ist das Meinungsbild allzu diffus. So reichen die Darstellungen des Rechtsanwendungsvorgangs von Ignorieren des hier erörterten Problems, über Ideologisieren bis hin zur Auffassung in einem Sinne, der der hier vertretenen Ansicht zumindest als ähnlich angesehen werden kann. So kann man zum Beispiel lesen, dass „die Gesetzesanwendung ein gegenläufiger Prozess“ sei, „in dessen Verlauf aus dem „Rohsachverhalt“ im Hinblick auf die möglicherweise anwendbaren Rechtssätze der endgültige Sachverhalt als Aussage gebildet und der Inhalt der anzuwendenden Normen so weit präzisiert wird, als das wiederum im Hinblick auf den Sachverhalt notwendig ist“19. An anderer Stelle heißt es, dass es „zum Eintritt einer Rechtsfolge einer Rechtsnorm und der Tatsachen“ bedarf, „die die Voraussetzungen der Norm erfüllen“. Dabei seien „die Tatsachen dem Lebenssachverhalt entnommen, um dessen Behandlung es in einem Rechtsfall geht“.20 Zu den hier bisher gefundenen Ergebnissen deutlich konträr – und wie sich gezeigt hat falsch – ist dann der Hinweis, „vor der Subsumtion sind die Rechtsnorm und der Lebenssachverhalt zu trennen“21. Nur so sei zu erreichen, dass „die in der Anwendung der Rechtsnorm liegende Bewertung auf objektive Tatsachen gestützt und nicht vorzeitig, unbewusst oder beabsichtigt, in eine bestimmte Richtung gelenkt wird“22. Eine Beschreibung, die zwar unmittelbar dahingehend eingeschränkt wird, dass Tatfragen und Rechtsfragen auch vor der Subsumtion mit­einander „verschränkt“ seien, die aber insgesamt das hier erörterte Problem unbeachtet lässt, schließlich hat sich gezeigt, dass sich die Rechtsfrage nach der Bedeutung von „Pflichtverletzung“ ohne den tatsächlichen Vorgang nicht bestimmen lässt. Von daher wird man es für durchaus zweifelhaft halten müssen, dass „in der Regel einem Juristen bei der Lektüre eines Gesetzestextes die Palette verschiedener Auslegungsmöglichkeiten sofort ins Auge springen“23 werde. Damit wäre nichts anderes behauptet, als dass dem Juristen, der den § 280 Absatz 1 BGB liest, sofort ins Auge springen würde, dass das Verlegen von Bodenbelägen mit körnchenartiger Unterstruktur eine Pflichtverletzung darstellen kann. Sicherlich kann das besagte Verhalten eine Pflichtverletzung darstellen und die Interpreta 19

Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 312. Schmalz, Methodenlehre für das juristische Studium, S. 62. 21 Schmalz, Methodenlehre für das juristische Studium, S. 62. 22 Schmalz, Methodenlehre für das juristische Studium, S. 62. 23 Bleckmann, Spielraum der Gesetzesauslegung und Verfassungsrecht, JZ 1995, S. 685 (686). 20

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tion des BGH ist überzeugend, aber sie ist in der Plötzlichkeit ihrer Entstehung ebenso erstaunlich und die Vorstellung, die Interpretation würde dem Juristen sofort ins Auge springen eine reine Fiktion. Dem Juristen, der auf der Fallseite blind ist würde ganz im Gegenteil diese Auslegung niemals in den Sinn kommen. Wie auch immer man mit dem Problem – sofern es als solches erkannt wird – verfährt, ob es so aufgefasst wird, wie hier dargelegt oder nicht, die Lösung ist in den meisten Fällen die gleiche. Die oben zitierte „Präzisierung der Norm“ erfolge im Wege der Auslegung, wobei der Wortlaut eben nicht der einzige Anhaltspunkt sein soll, sondern auch der Kontext, die Entstehungsgeschichte und der Zweck des Gesetzes in die Bestimmung seiner Bedeutung einzubeziehen seien24 und so die Auslegung nicht dem Gutdünken des Auslegers überlassen bleiben, sondern „in einer gesicherten und nachprüfbaren Weise vor sich gehen“25 soll. Über die Auslegung des Gesetzes nach dem Wortlaut, es handelt sich nach wie vor um die Frage nach der Bedeutung von „Pflichtverletzung“ im Sinne des § 280 Absatz 1 BGB, sind wir hinaus, mit dem Ergebnis, dass eine derartige Auslegung das Urteil des BGH in diesem Fall in einem gewissen Sinne genauso wenig stützt wie widerlegt. Man kann sagen, dass das Verlegen von Bodenbelägen eine Pflichtverletzung darstellt, man muss es aber nicht. Vielleicht hilft aber die Kontextauslegung, dass heißt die Auslegung nach systematischen Gesichtspunkten weiter. Hintergrund dieser Methode der Rechtsanwendung ist ein Gedanke, der in der Geschichte der Hermeneutik seit langem eine wichtige Rolle spielt26. Nämlich der, dass man das Einzelne nicht ohne das Ganze verstehen kann, in das es eingebettet ist, und wiederum das Ganze nur aus seinen Teilen heraus verständlich ist27. An dieser Stelle bedarf es erneut einer Klarstellung. Es soll hier die Nützlichkeit der Methoden nicht gänzlich in Abrede gestellt werden, sondern auf die Umstände hingewiesen werden, unter denen ihre Verwendung steht. Natürlich gibt es Normen, für deren richtige Anwendung weitere Normen hinzugezogen werden müssen. Das zu bestreiten wäre töricht. Allerdings stellt sich die Frage, ob die Entscheidung des Einzelfalles durch ein solches Hinzuziehen des Kontextes determiniert werden kann, oder ob die Entscheidung in der Verantwortung des Entscheiders verortet werden muss. Damit soll es erneut um den Beispielsfall gehen und die Frage, ob die Entscheidung, dass es eine Pflichtverletzung darstellt einen Bodenbelag auszuwählen, der wegen seiner körnchenartigen Unterstruktur zu Rollschuheffekten führen kann, eventuell Normen zu entnehmen sein könnte, die in einem systematischen Zusammenhang zu § 280 Absatz 1 BGB stehen. Die gleiche Frage stellt sich bezüglich der 24 Statt vieler: Schwacke, Juristische Methodik mit Technik der Fallbearbeitung, S. 72. Der Frage nach der Richtigkeit oder Vollständigkeit dieses Kanons der Auslegung kann an dieser Stelle nicht nachgegangen werden. Die hier gestellte Frage siedelt auf einer anderen Ebene. 25 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 319. 26 Schon in der antiken Rhetorik – vgl. Gadamer, WM, S. 296. 27 Vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 325.

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Entstehungsgeschichte der Norm und bezüglich des Normzwecks. Stellt man die Frage derart, dann kann man dem Leser ein Durchforsten der Gesetzesmaterialien bezüglich Entstehungsgeschichte und Normzweck sowie ein Ausbreiten der in systematischem Zusammenhang stehenden Normen ersparen, zu offensichtlich ist doch das Ergebnis. Es findet sich selbstverständlich keine Norm im BGB, die eine Haftung für das Aussuchen von Bodenbelägen vorsieht, die wegen ihrer körnchenartigen Unterstruktur zu Stürzen führen können. Geradezu unsinnig wäre es, derartiges in den Gesetzesmaterialien zu suchen. Daran zeigt sich insbesondere, dass das Problem der Subsumtionstheorie an dem Problem des Wortlautes kondensiert. Würden die Methoden der Rechtsfindung wirklich dazu dienen sollen, den Sachverhalt unter die Norm subsumierbar zu machen, dann müssten sie geeignet sein eine Wortlautübereinstimmung herzustellen. Das heißt nichts anderes, als dass das bisher gefundene Ergebnis Bestand hat und auch nicht durch ein Hinzuziehen der weiteren Auslegungsmethoden revidiert werden muss. Dies vermag auch nicht zu verwundern, sondern kann durchaus als grund­ sätzliche Voraussetzung des Funktionierens juristischer Streitentscheidung angesehen werden. Die Vorstellung von einer „vollkommenen Rechtsdogmatik, durch die jedes Urteil ein bloßer Subsumtionsakt würde“, ist in der Tat „unhaltbar“28. Man muss sich fragen, ob es überhaupt eines Richters bedürfte, wenn Normen tatsächlich so ausgestaltet wären, dass sich die Entscheidung eindeutig aus ihnen ergäbe. Dieser Befund vermittelt allerdings auch etwas Positives. So zeigt sich, dass die Rechtsnorm zwischen den Verfassungsgeboten von Bestimmtheit und Un­ bestimmtheit (kein Einzelfallgesetz) schwebt und daraus überhaupt erst die Möglichkeit ihrer Wirklichkeitserfassung erwächst. „Das Gesetz ist immer mangelhaft, nicht, weil es selber mangelhaft ist, sondern weil gegenüber der Ordnung, die die Gesetze meinen, die menschliche Wirklichkeit notwendig mangelhaft bleibt und daher keine einfache Anwendung derselben erlaubt.“29

Die Anwendung der Gesetze ist, wie es das vorangestellte Zitat ausdrückt keine „einfache“ und es hat sich erwiesen, dass sie tatsächlich nicht ohne Schwierigkeiten ist. Die Praxis der Rechtsfindung unterscheidet sich damit, wie schon Esser in „Vorverständnis und Methodenwahl“ festgestellt hat, ganz signifikant von dem, was die juristische Ausbildung vermittelt30. Fassen wir zusammen: Gadamers Anliegen war es, über eine Betrachtung der juristischen Hermeneutik ein Beispiel für die Geisteswissenschaften zu finden, an dem sich verdeutlichen lässt, dass die Situation die Bedeutung der Texte mitbestimmt. Damit soll klargestellt sein, welches Verständnis von juristischer Hermeneutik man der Einstufung als vorbildlich zugrunde legen muss und es zeigen sich in dieser Klarstellung wichtige Hinweise für eine Neubewertung des rechts 28

Gadamer, WM, S. 335. Gadamer, WM, S. 324. 30 Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung. 29

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wissenschaftlichen Selbstbildes. Die juristische Hermeneutik als gesamte Disziplin verfolgt das Ziel der Rechtsanwendung, ob man sich dabei die hier beschriebenen Vorgänge bewusst macht oder nicht. Es ist dies das verbindende Glied der Disziplin. Dabei zeigt sich, dass das Verstehen juristischer Texte mit ihrer Anwen­ dung ausgetauscht werden kann. Juristische Texte, d. h. Normen haben Bedeutung überhaupt nur durch Anwendung auf eine konkrete Situation31. Was eine Pflichtverletzung gemäß § 280 Absatz 1 BGB ist, lässt sich unabhängig von der Situation, die eine Pflichtverletzung darstellt, eben nicht sagen. Genau darin, in dem Mit­ einbeziehen der Situation, liegt ja der Sinn von Falllösungssammlungen zu Aus­ bildungszwecken. In der Darstellung zeigte sich aber auch, dass die juristische Hermeneutik, der Vorstellung von ihr, die ihre Vorbildlichkeit begründet, nicht immer gerecht wird. Festzuhalten ist also, dass die Bedeutung von Normen nicht die Entscheidung des Einzelfalles determinieren kann32, weil der Einzelfall die Bedeutung der Norm beeinflusst wie umgekehrt. Dabei wird behauptet, dass das hier gefundene Ergebnis der wechselseitigen Bestimmung von Sachverhalt und Norm universeller ist als es die Darlegung an einem einzelnen Fall nahe zu legen vermag. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass das Problem hier auf ein einzelnes Tatbestandsmerkmal reduziert worden ist und tatsächlich potenziert auftreten kann33. Wenn aber „Erkenntnis des Sinns eines Rechtstextes und Anwendung des­selben auf den konkreten Rechtsfall nicht zwei getrennte Akte sind, sondern ein einheitlicher Vorgang“34, wieso wird dies in der juristischen Hermeneutik bisher nicht anerkannt und wieso erfährt die Bedeutung des Falles für die Konstitution der Bedeutung der Norm keine ausreichende Würdigung? Wieso wird der faktische Vorgang des Verstehens, der einem vorgeschriebenen Verhalten immer vorausgehen muss35, nicht erkannt? Sieht man sich die Lehrbücher der juristischen Methodenlehre an, dann findet man fast überall eine Darstellung, nach der die Bedeutung 31

Vgl. Gadamer, WM, S. 315. Vgl. Launhardt, Methodenlehre aus rechtsrhetorischer Perspektive, Rechtstheorie 2001, S. 141 (151). 33 Gegen den Einwand, es handle sich bei dem Merkmal der „Pflichtverletzung“ um ein besonderes, da es ein zu wertendes, „wertausfüllungsbedürftiges“ Tatbestandsmerkmal darstelle, sei vorab bemerkt, dass die hier beschriebenen Schwierigkeiten bei genauer Betrachtung auch dort auftreten, wo man sich zunächst durch einen allgemeinen Sprachgebrauch vor der Pflicht der Festlegung des Wortes in seiner Verwendung im Rechtsanwendungsfall sicher fühlt. Mit anderen Worten: Es gibt gar kein nicht-wertausfüllungsbedürftiges Tat­ bestandsmerkmal. Man bedenke nur, welche Schwierigkeiten es im Bereich des Schutzes der Menschenwürde bereitet, das Merkmal „Mensch“ zu bestimmen. Vgl. dazu auch Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 48 f. Dort wird am Beispiel des Begriffes „Tier“ deutlich gemacht, wie schnell Fragen der Rechtsanwendung gemessen am „allgemeinen Sprachgebrauch“ zu Zweifeln führen. 34 Gadamer, WM, S. 315. 35 Vg. Gizbert-Studnicki, Der Vorverständnisbegriff in der juristischen Hermeneutik, in: ARSP 1987, S. 476 (492). 32

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der Norm aus ihrem Wortlaut erschlossen werden soll und sogar die bereits zitierte Vorstellung, dass „vor der Subsumtion […] die Rechtsnorm und der Lebenssachverhalt zu trennen“36 seien. Der Grund dafür, dass die Bedeutung des Falles für das Verstehen der Norm keine Beachtung findet liegt in genau dem gleichen Streben nach einer vermeintlichen Wissenschaftlichkeit, dessen Ausdruck das Bedauern Lückes, des Herausgebers der Hermeneutik Schleiermachers ist, dass die „sapienza applicare von den Neuern leider wieder hervorgehoben wird“37. Wenn die Zufälligkeit des Inter­ preten im historischen Verstehen eine Anwendung der allgemeinen Quellen der Geschichte auf die besondere, faktische und zufällige Situation des Interpreten verlangt und die Anwendung von Gesetzen für ein Verständnis dieses faktischen Vollzugs des Verstehens vorbildlich sein kann, weil sich in ihr zeigt, dass erst die Zufälligkeit der Situation eine Bedeutung der Norm erschließbar macht, dann folgt daraus, dass ein Verfahren, das geeignet sein soll Wissenschaftlichkeit in einem methodisch-szientistischen Sinne herzustellen, für das Verstehen des Rechts wie für das Verstehen der Geschichte, von vorneherein ausgeschlossen ist. Wissenschaftlichkeit nach dem heutigen Verständnis des Wortes, kann es nur in einem Zusammenhang geben, der immer ist und immer „so“ ist. Die einzige, zumindest scheinbare Konstante im Rechtsanwendungsvorgang ist aber die Norm. Damit ist klar, warum sich eine Rechtswissenschaft, die ihre Wissenschaftlichkeit zu begründen und zu bewahren versucht auf eine Betrachtung des Falles nicht einlässt. Die Zufälligkeit der Situation hat im wissenschaftlichen Verstehen kein Recht. So wie der Anwendungscharakter des Verstehens durch das Streben nach Wissenschaftlichkeit aus der allgemeinen philologisch-historischen Hermeneutik herausgedrängt wurde, indem der Betrachter sich von der Betrachtung abzukoppeln versuchte, so wird der Umstand, dass die Bestimmung der Bedeutung von Normen durch ihre Anwendung auf die Besonderheit des Falles geschieht, bis heute aus der juristischen Hermeneutik herausgehalten. Das ist der Grund für die Fiktion, es würde dem „Juristen bei der Lektüre eines Gesetzestextes die Palette verschiedener Auslegungsmöglichkeiten sofort ins Auge springen“38 und es ist der Grund dafür, dass die Betrachtung des tatsächlichen Vorgangs der Falllösung in einer Arbeit, die den Anspruch hat wissenschaftlich zu sein, merkwürdig unbeholfen und deplatziert wirkt. Dennoch und gerade deshalb war es nötig sie anzustellen und sich an der Wirklichkeit die Hände schmutzig zu machen. Denn nur so konnte gezeigt werden, dass die Rechtswissenschaften, wenn sie versuchen ihre Wissenschaftlichkeit über die Herausdrängung der Zufälligkeit der Situation aus dem Verstehensvorgang herzustellen, sich fundamental falsch verstehen.

36

Schmalz, Methodenlehre für das juristische Studium, S. 62. Vgl. Grondin, Einführung zu Gadamer, Fn. 87, S. 160. 38 Bleckmann, Spielraum der Gesetzesauslegung und Verfassungsrecht, JZ 1995, S. 685 (686). 37

II. Die hermeneutische Aktualität des Aristoteles

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II. Die hermeneutische Aktualität des Aristoteles und das Problem der Rechtsanwendung Damit wird es möglich auf den Kern der Ausführungen zur aristotelischen Ethik zurückzukommen und ihre Bedeutung für die juristische Hermeneutik auszuweisen, die in der juristischen Auseinandersetzung mit „Wahrheit und Methode“ bisher noch nicht die ihr gebührende Rolle spielt. Die Ausführungen zur Rechtsfindung im konkreten Fall ermöglichen es nun darzustellen, was es mit der Unterscheidung von téchne und phrónesis in ihrer Bedeutung für die Jurisprudenz auf sich hat. Der Rollschuheffektfall hat Eingang in die Ausbildungsliteratur gefunden. Das muss nicht unbedingt erstaunen, hat sich doch gerade gezeigt, dass es der Darstellung von Fällen bedarf, um hinter die Bedeutung von Normen kommen zu können. Bei genauerem Hinsehen wird aber recht schnell klar, dass die getroffene Auswahl zufälliger kaum hätte sein können. Denn was soll nun eigentlich aus der Falllösung zu lernen sein? Es ist oben schon zur Sprache gekommen, aber es muss an dieser Stelle wiederholt werden, damit daraus die entscheidenden Schlüsse gezogen werden können. Aus der Falllösung ist zu lernen: Wer in einem Großmarkt einen Bodenbelag verlegt, der wegen seiner körnchenartigen Unterstruktur nach Ablösung der Oberfläche Rollschuheffekte hervor­ rufen kann, der begeht gegenüber seinen Kunden eine Pflichtverletzung im Sinne des § 280 Absatz 1 BGB. Mit diesem Wissen ist der Fall gelöst. Das Gelernte hat die Norm in ihrer Bedeutung bestimmt, aber nur in ihrer Bedeutung für diesen einen Fall. Denn die Lösung eines anderen Falles, zum Beispiel dessen, in dem ein Kind mit seiner Mutter in einen Selbstbedienungsladen geht und auf einem Gemüseblatt ausrutscht (sog. Gemüseblatt-Fall)39 ergibt sich nicht aus der Lösung des Rollschuheffekt­falles, und das, obwohl die beiden Fälle so ähnlich sind. Man wird schließlich nicht behaupten wollen, dass die Betreiber eines Selbstbedienungsladens ihre Sorgfaltspflicht bei der Auswahl des Bodenbelags verletzt haben, wenn jemand auf einem herumliegenden Gemüseblatt ausrutscht. Aber das Herumliegenlassen von Gemüseblättern wird ebenso wie das unbedachte Aussuchen von Bodenbelägen als Sorgfaltspflichtverletzung und damit als Pflichtverletzung im Sinne des § 280 Absatz 1 BGB qualifiziert40. Hier ergibt sich die Möglichkeit, die negative Betrachtung des Rechtsfindungsvorgangs positiv zu fassen und deutlich zu machen, wieso das Urteilen des Richters, das Lösen von Fällen und damit die tägliche Arbeit des Juristen, viel mehr von der aristotelischen Ethik lernen kann, als von den Methoden der Wissenschaften. Dazu muss man sich zunächst noch einmal vor Augen führen, was die Lösung des Rollschuheffektfalles denn nun eigentlich über die konkrete Falllösung hinaus vermittelt. 39

BGHZ 66, 51. Vgl. auch Michalski, Übungen im Bürgerlichen Recht für Anfänger, S. 95 ff. Vgl. Michalski, Übungen im Bürgerlichen Recht für Anfänger, S. 95 ff.

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F. Die exemplarische Bedeutung der juristischen Hermeneutik 

Es ist schlicht Kenntnis, die vermittelt wird, Kenntnis der Gesetze: Entbindung des Juristen von der uneinlösbaren Pflicht, vor einer Entscheidung ein ganzes Gesetzbuch auf seine etwaige Einschlägigkeit hin zu überprüfen. Wer die Lösung des Rollschuheffektfalles kennt, der wird beim nächsten Fall, in dem jemand von jemand anderem den Ersatz eines Schadens verlangt, um § 280 Absatz 1 BGB als einen möglichen Anknüpfungspunkt wissen. Aber – und das ist der entscheidende Punkt – er wird nicht wissen, ob der zukünftige Fall eine Pflichtverletzung enthält oder nicht. Und er wird damit nicht befreit sein von der Gefahr, dass er einen Teil des Geschehens „fälschlicherweise“ nicht als Pflichtverletzung erkennt, wie es dem Berufungsgericht im Rollschuheffektfall unterlaufen ist41. Wenn man den Lebenssachverhalt, die Situation, aus der heraus geurteilt werden muss, in ihrer Relevanz für die Bedeutung der Norm erkannt hat, dann vermag das nicht zu verwundern. Der Fall ist zufällig, faktisch, individuell und stellt damit als je einzelner immer erneut die Herausforderungen an den Juristen ihn einer richtigen Lösung zuzuführen. Die Kenntnis des Rollschuheffektfalles hilft dem Juristen nicht dabei in anders gelagerten Schilderungen eine Pflichtverletzung zu erkennen. Nun will die philosophische Hermeneutik darauf hinweisen, dass „das ­labile Gleichgewicht im Zusammenspiel von Sein und Werden“ dadurch zustande kommt, „dass beide Momente gleichberechtigt sind“; darauf, dass diese beiden Momente „einander brauchen und einander in Frage stellen“, dass sie „sich inein­ ander nicht auflösen lassen“ und „doch so aufeinander bezogen sind, dass jedes von ihnen sich auf Kosten des anderen zu Geltung bringen will“42. Genau dies, so konnte hier gezeigt werden ist das Verhältnis von Fall und Norm. So wie das geschichtliche Verstehen, wenn man es richtig auffasst, eine Gleichberechtigung von Sein und Werden enthalten muss, so muss das korrekte Verständnis des Verstehens des Rechts die Gleichberechtigung von Fall und Norm enthalten. 1. Richterliche Klugheit (dikastiké phrónesis) Das Lösen von Fällen, das hat sich damit gezeigt, lässt sich nicht lernen, so wie sich ein Handwerk lernen lässt, denn die Regel, das Gesetz bedarf der Hilfe des Juristen, um den Fall erfassen zu können. Die Regeln der Erfassung, die Methoden der Rechtswissenschaft, sind selbst keine Regeln, die von sich aus zu Ergebnissen führen43. Die Situation als eine Variable in ihrer Bedeutung für die Bedeutung der Norm schließt Vorherbestimmbarkeit in einem strengen Sinne aus. Wer das 41 Das Ganze gilt selbstverständlich mit einer Ausnahme: Sollte der exakt gleiche Fall zur Lösung anstehen, dann ist die Lösung in der Tat vorher gelernt. Eine Voraussetzung, die fast zu abwegig ist, um überhaupt Erwähnung zu finden. 42 Figal, Die ästhetisch begrenzte Vernunft, in: Der Sinn des Verstehens, S. 64 (72). 43 Es soll an dieser Stelle nicht geleugnet werden, dass dieser Umstand den Methoden­ theoretikern zumindest ursprünglich bekannt war (an Schleiermacher und an Savigny ist hier zu denken).

II. Die hermeneutische Aktualität des Aristoteles

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Rechtsprechen gelernt hat, wer gelernt hat, dass das Verlegen von Bodenbelägen eine Pflichtverletzung sein kann, der weiß damit noch nicht, welchen Merkmalen zukünftiger Situationen die Pflichtverletzung im Sinne der Norm abzuringen ist. Gerade darin, in der Frage der Erlernbarkeit und der Vorherbestimmbarkeit ihrer korrekten Gebrauchmachung lag eines der Hauptmerkmale, in denen sich téchne und phrónesis als die anleitenden Tugenden von Prâxis und Poíesis unterschieden haben. Und gerade darin liegt der Grund dafür, dass die juristische Hermeneutik „ihren Ort zumindest auch im Bereich der praktischen Philosophie hat“44. Das führt zurück zu der „eigentümlichen juristischen Fragwürdigkeit“, die das Anwenden von Gesetzen mit sich bringt. Das Lösen von Fällen ist Prâxis nicht Poíesis. Es kann nicht gelernt werden, weshalb im Umkehrschluss die Richtigkeit nicht an externen Kriterien gemessen werden kann. Es gibt kein Wissen im wissenschaftlichen Sinne davon, weil es diese Art von Wissen nur von dem geben kann, das nicht der Veränderung unterliegt und es hat sich gezeigt, wie sehr das Rechtsprechen der Veränderung unterliegt, schlicht deshalb, weil es sich erst aus der sich ständig verändernden Welt bestimmt45. Damit ist die juristische Hermeneutik nicht nur vorbildlich, weil sich in dem Vorgang der Rechtsanwendung, dem zu dienen sie eigentlich bestimmt wäre, das Verhältnis von Verstehen und An­wenden am deutlichsten zeigt, sie ist gleichzeitig das beste Beispiel für das Zutreffen der Feststellung, die Eingangs dieser Untersuchung zitiert wurde, dass „der moderne Wissenschaftsbegriff und der ihm zugeordnete Methodenbegriff […] nicht ausreichen [können], um das Problem zu lösen, das die Geisteswissenschaften für die Philosophie bedeuten.“46 Hier nun wird ganz deutlich, was oben nur behauptet wurde, nämlich dass das Wissen des Richters praktische, richterliche Klugheit (dikastiké phrónesis) ist und es keine téchne der Rechtsprechung gibt, auch wenn es mit der kodifizierten Norm auf den ersten Blick einen Plan gibt, nach dem der Richter ein Werk herstellt, einen scheinbaren Plan zur Findung des richtigen Ergebnisses. Es ist aber nur scheinbar so, denn so wie die Situation, die das Handeln herausfordert, gleichzeitig mitbestimmen muss, welches Handeln das richtige ist, so muss der Fall, der die Entscheidung herausfordert, zur Bestimmung des richtigen Urteils helfen. Die praktische, richterliche Klugheit des Einzelnen muss die Leistung vollbringen, der Situation anzusehen, was sie vom Handelnden, vom Urteilenden verlangt. Damit ist deutlich geworden, dass die Anlehnung an die methodengeleiteten Wissenschaften eine entscheidende Eigenart der Rechtswissenschaften zu verdecken droht. Die phrónesis hat es mit Veränderbarem zu tun, das heißt, sie verlangt ein Mit-sich-zu-Rate-gehen. Wer glaubt, über eine téchne zur Herstellung zu verfügen, 44 Neumann, Zum Verhältnis von philosophischer und juristischer Hermeneutik; in: Hassemer, Dimensionen der Hermeneutik. Arthur Kaufmann zum 60. Geburtstag, S. 55. 45 Die Einsicht findet sich schon bei Savigny auf den sich nicht wenige berufen, die an dem Methodendenken festhalten wollen. Vgl. Savigny, Beruf, S. 226 (S. 22 f. in der Original­ paginierung). 46 Gadamer, WM, S. 23.

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für den verdeckt sich der Anspruch der Situation, sich auf dieses innere Gespräch einzulassen. Die Methoden der Rechtsfindung bergen damit die Gefahr in sich, die immer eingebrachte Eigenverantwortung für das Handeln zu verschleiern, obgleich sie als Bewusstmachung dessen, was man tut, für jemanden hilfreich sein können, der um diesen Umstand weiß. „Jurisprudenz“ ist folglich im Vergleich zu „Rechtswissenschaft“ der bessere Ausdruck zur Beschreibung dessen, was die Beschäftigung mit dem Recht ausmacht. 2. Neoaristotelismus und Rechtsrelativismus Wenn damit ein Teil der Last der Verantwortung von den Schultern des Ge­ setzes genommen und durch die Einsicht in die produktive Teilnahme des Juristen auf denselben übertragen worden ist, dann stellt sich damit unmittelbar eine Frage, die für die Jurisprudenz als von entscheidender Bedeutung angesehen werden muss, solange sie unter dem Anspruch der Rechtsstaatlichkeit steht, sofern man meint, dass diese sich über eine strenge Gewaltenteilung konstituiert. Wenn die „Bindung des Richters an das Gesetz […] unverzichtbar zur Legitimationsstruktur des demokratischen Rechtsstaates“ gehört und diese Bindung „rational nur durch Methodik hergestellt werden“47 kann, dann folgt aus dem Vorangegangenen ein gewichtiges Problem. Man kann nach den hier gefundenen Ergebnissen nicht mehr davon ausgehen, dass der Gesetzgeber das Gesetz macht und der Jurist es „einfach“ anwendet. Kann man unter diesen Umständen noch behaupten, der Richter sei an das Gesetz gebunden?48 Schließlich hat sich gezeigt, dass der Richter das Gesetz nicht einfach in seiner Bedeutung vorfindet. Es gilt die Kardinalfrage der Rechtswissenschaft zu stellen, wenn sie sich als Wissenschaft verstehen können soll: Bricht damit endgültig die zu Recht so gefürchtete Willkür in die Jurisprudenz ein? 3. Zur Vorhersehbarkeit juristischer Entscheidungen Die Frage lässt sich anders stellen, und in folgender Gestalt erlaubt sie es, auf die Ausführungen Gadamers über die Jurisprudenz zurückzukommen. Sie lautet dann: Sind juristische Entscheidungen vorhersehbar? Nach den bisherigen Ausführungen zum Vorgang der Rechtsfindung würde man wohl erwarten, dass die

47 Strauch, Theorie-Praxis-Bruch – aber wo liegt das Problem?, Rechtstheorie 2001, S. 197 (200). 48 Es lässt sich zeigen, dass die Rechtswissenschaften, die an sich den Anspruch stellen, der Richter sei „nur der Mund, der die Worte des Gesetzes ausspricht“, nicht nur wie hier dar­ gestellt sich selbst von Grund auf falsch verstehen, sondern schon dem von Montesquieu stammenden, aus dem Zusammenhang gerissenen Zitat, eine Bedeutung zusprechen, von der Montesquieu wohl nicht ausgegangen wäre. Vgl. Ogorek, De l’Esprit des légendes, RJ 2, S. 277 ff.

II. Die hermeneutische Aktualität des Aristoteles

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Frage ohne langes Zögern mit „Nein“ beantwortet würde. Umso mehr muss der Umstand erstaunen, dass Gadamer die Frage selbst aufgeworfen hat, aber zu einem weit weniger ernüchternden Ergebnis für das Vorhandensein der den Rechtsstaat mit konstituierenden Rechtssicherheit kommt. So hat nach Gadamer „jeder Anwalt und Berater die prinzipielle Möglichkeit, richtig zu beraten, d. h. die richterliche Entscheidung aufgrund der bestehenden Gesetze richtig vorauszusagen“49. Das bedarf der Erläuterung. Mit der hier als Beispiel herangezogenen Entscheidung des BGH scheint schließlich das genaue Gegenteil bewiesen zu sein, und es war immerhin behauptet worden, dass man die Einstufung der juristischen Her­ meneutik als vorbildlich falsch zu verstehen droht, wenn man nicht weiß, dass damit eine Hermeneutik gemeint ist, die den Akt der Rechtsfindung nicht als Subsumtion eines Besonderen unter ein Allgemeines ansieht. Der Zusammenhang ist folgender: Wenn „die Idee einer vollkommenen Rechtsdogmatik, durch die jedes Urteil ein bloßer Subsumtionsakt würde, unhaltbar“50 ist, dann bedeutet das, dass die Entscheidung der Gerichte durch die Gesetze nicht vorherbestimmt ist. Das hat das Beispiel der Hotelbetreiberin und ihres Falles hinreichend deutlich gemacht, zumal die verschiedenen Instanzen unterschiedlich geurteilt haben. Wie gehen also Unsicherheit und Vorhersehbarkeit zusammen, die von Gadamer immerhin auf ein und derselben Seite von „Wahrheit und Methode“51 behauptet werden? „Vorhersehbarkeit“ von Gerichtsentscheidungen ist nicht vergleichbar mit der Vorhersehbarkeit der Resultate naturwissenschaftlicher Experimente. Eine solche Vorhersehbarkeit ist damit auch nicht gemeint. Die Laborsituation bedeutet schließlich nichts anderes als den Ausschluss der Wirklichkeit, deren Einfangen gerade als Hauptleistung des Urteils herausgestellt wurde. Dementsprechend geschieht juristisches Entscheiden nie in der sterilen Situation des Labors, die alles Rauschen zu unterdrücken vermag. Letztlich bleibt, selbst wenn man alle weiteren Unwägbarkeiten beseitigt, der Richter als Entscheider der blinde Fleck in der Vorausschau des Urteils. So lässt sich zeigen, dass Fälle, die vollständig gleich sind, in der Verarbeitung durch verschiedene Richter variieren52, womit deutlich wird, worauf die bisherigen Erörterungen teilweise schon hingewiesen haben: Das Problem der Individualität stellt sich der Jurisprudenz in gleicher Weise wie den Geisteswissenschaften ansonsten auch und nicht nur im Zusammenhang mit der Individualität des Falles. Umgekehrt heißt das wiederum, dass der Ausgang eines Gerichtsverfahrens schon deswegen nicht in einem die Naturwissenschaften befriedigenden Sinne vorhersehbar ist, weil im Gegensatz zu letzteren die Rechtswissenschaften niemals gleiche Situationen erzeugen können. Vorhersagen juris 49

Gadamer, WM, S. 335. Gadamer, WM, S. 335. 51 Gadamer, WM, S. 335. 52 Vgl. Rafi, Kriterien für ein gutes Urteil, S. 55. Mit Verweisungen auf Schmid/Drosdeck/ Koch, Der Rechtsfall – Ein richterliches Konstrukt, S. 80 ff. Letztlich bedarf es wohl gar keines Nachweises dieses Umstandes, der über den Hinweis hinausgeht, dass die Richter der verschiedenen Instanzen regelmäßig sich widersprechende Urteil fällen. 50

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tischer Entscheidungen können folglich nicht mit Hinsicht auf Gleichheit, sondern nur im Sinne von Vergleichbarkeit erfolgen. An dieser Stelle gilt es, die Möglichkeiten herauszustellen, die gemäß dieser Analyse, zur Darstellung der Vergleichbarkeit von Urteilen zur Verfügung stehen. Mit der Behauptung, die Vergleichbarkeit von Urteilen in concreto belegen zu können, ergäbe sich ein Widerspruch zu den bisher gewonnenen Ergebnissen. Man kann durchaus sagen, dass nach den besagten Ergebnissen, ein Urteil so etwas wie die Feststellung der Vergleichbarkeit von Norm und Lebenssachverhalt ist, eine „Angleichung zugleich“53. Der Gadamersche Zusammenhang legt es nahe, das Wort „Verschmelzung“ als treffend zur Beschreibung dieses Vorgangs zu erachten. Die Möglichkeit einer Verschmelzung von Sachverhalt und Norm festzustellen liegt nach dem Erörterten in der Verantwortung des Einzelnen und lässt sich, zumindest durch die Methoden der Rechtsfindung, nicht zügeln. Dementsprechend kann auch die Feststellung der Vergleichbarkeit von Urteil und Urteil, beziehungsweise von Urteil und Erwartung, in der Vorausschau methodisch nicht eingefangen werden. Die Vergleichbarkeit muss jeweilig festgestellt werden. Und sie muss festgestellt werden. Die Vergleichbarkeit der Gemüseblattentscheidung und der Entscheidung im Rollschuheffektfall ergibt sich nicht unmittelbar aus ihnen, sondern erst aus dem Vergleich. Damit kann erneut an den Beispielsfall angeknüpft werden, um zu verdeut­ lichen, was es mit der Vorhersehbarkeit von Gerichtsentscheidungen auf sich hat. Das Beispiel hat gezeigt, dass es nicht vorhersehbar war, dass die Richter des BGH in der Auswahl des Bodenbelags eine Pflichtverletzung erkennen würden. Aber es war vorhersehbar, dass sie danach suchen würden, denn dem Juristen ist über seine Ausbildung die Norm bekannt, nach der der Fall einer positiven oder negativen Lösung zuzuführen ist. Der Jurist weiß, dass die Frage des Vorliegens einer Pflichtverletzung, die für die Falllösung entscheidende Frage ist. Findet der Richter eine Pflichtverletzung, dann urteilt er zugunsten der Kläger; findet er keine, dann wird er die Klage abweisen. Das ist damit gemeint, wenn Gadamer sagt, es sei jedem „Anwalt und Berater prinzipiell möglich, richtig zu beraten, d. h. die richterliche Entscheidung aufgrund der bestehenden Gesetze richtig vorauszusagen“54. Genau diesem Zweck dient die Aufarbeitung des Falles für die juristische Ausbildungs­ literatur, nämlich einen Überblick über das Ganze zu gewinnen, der es ermöglicht Vorhersagen zu treffen. Von da aus zeigt sich auch, wieso die unterschiedlichen Urteile der verschiedenen Instanzen kein Problem für die Rechtsordnung dar­ stellen. In dem hier vorgeschlagenen Sinne sind das Urteil des BGH und das des Berufungsgerichtes im Rollschuheffektfall durchaus vergleich- und damit vorhersehbar gewesen. Demnach haben sich die Gerichte in beiden Instanzen an das Gesetz gehalten, obwohl sie zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen gekommen sind. 53 Vgl. Kaufmann, Die Geschichtlichkeit des Rechts im Lichte der Hermeneutik, in: Beiträge zur juristischen Hermeneutik, S. 50. 54 Gadamer, WM, S. 335.

III. Individualität und Eingebundenheit

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Zugegebenermaßen handelt es sich bei dieser Art von Vorhersehbarkeit nur um eine äußerst unbefriedigende. Das Wissen darum, welche Norm der Richter zur Urteilsbegründung in den Ring werfen wird, ist doch nur eine bescheidene Möglichkeit des Juristen, die richterliche Entscheidung vorauszusagen. Hat Gadamer also vielleicht noch eine andere Form von Voraussagbarkeit des Urteils gemeint? Das hat er in der Tat. Die Feststellung, dass die Norm Bedeutung hat im Hinblick auf die Bestimmung der relevanten Umstände der Sachverhaltsschilderung heißt nichts anderes, als dass man nicht alles in die Norm hineinlegen kann, was man will. Obwohl man es versuchen kann. Nur läuft man damit Gefahr, den „Narren auf eigene Faust“ zu spielen.55 III. Individualität und Eingebundenheit Hier stellt sich nun die Frage, wie die Zuordnung, das heißt die Vergleichbarkeitsfeststellung, mit der Singularität der Entscheidung zusammengehen. Wenn der zu ziehende Schluss lautet, dass sich die Gerichte im Rollschuheffektfall jeweils an die Norm gehalten haben, in diesem Fall die ungeschriebene, aber hinreichend feststehende Rechtsfigur der culpa in contrahendo, weil sie beide den zu einem Fall zu formenden Vorgang in der Wirklichkeit auf das Vorliegen einer Pflichtverletzung hin untersucht haben, dann kann zu Recht der Einwand erhoben werden, dass damit die Möglichkeit willkürlicher Entscheidung keineswegs ausgeräumt sei. Es hat sich schließlich gezeigt, dass sich anhand des Gesetzes nicht determinieren lässt, welcher Vorgang nun als einer Pflichtverletzung vergleichbar angesehen wird und welcher nicht. Liegt die Bindung des Richters an das Gesetz wirklich nur darin, dass es ihm die Begriffe der zu suchenden Vergleichbarkeit vorgibt, dann kann er schließlich doch urteilen, ohne irgendwelchen Bindungen zu unterliegen. Dieses Ergebnis ist in der Tat problematisch. Aber es ist vor allem problematisch im Hinblick auf überkommene Vorstellungen davon, was Rechtswissenschaften sind und was sie leisten können. Die Frage, die sich einer phänomenologischen Hermeneutik stellen muss ist schließlich nicht die, was die Rechtswissenschaften leisten sollen, sondern, ob sie das was sie leisten sollen, auch leisten können. Die Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaften ist – das gilt es zu bedenken – nicht Selbstzweck, sondern soll der Herstellung von Rechtsstaatlichkeit dienen, weil nach unserer Vorstellung nur ein solcher Vorgang der Rechtsfindung rechtsstaatlich ist, in der es auf die Vorstellungen des Richters, auf seine Vorurteile nicht ankommt. Kommt es doch auf sie an, so liegt der Vorwurf der Willkür nahe. Es hat sich gezeigt, dass es tatsächlich auf die Vorurteile ankommt, denn die Entscheidung darüber, dass das Aussuchen eines Bodenbelags eine Pflichtverletzung sein kann, ist keinem „Ideenhimmel“ zu entnehmen. Vielmehr entstammt es dem 55

Gadamer, WM, S. 2.

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Vorurteil der Richter, dass in dem vorliegenden Fall ein Urteil nur dann richtig ist, wenn es der Klägerin Schadensersatz zuspricht. Heißt das nun, dass der Richter machen kann, was er will? Es scheint doch damit so, als sei der Richter in seiner Entscheidung an nichts gebunden. Dies ist jedoch nicht so, wenn die Bindungen außerhalb der bisher herange­ zogenen Größen liegen. Weder das Urteil des Berufungsgerichtes noch das Urteil des BGH im Rollschuheffektfall vermögen zu verwundern. Das heißt, beide Urteile entsprechen bzw. entsprachen den Erwartungen in dem Sinne, dass sie den Erwartungshorizont nicht überreizen. Verwundert hätte es zum Beispiel, wenn eines der Gerichte den Betreibern des Großmarkts Schadensersatz zugesprochen hätte, weil die Kundin ihre Pflichten bei der Aufklärung des Unfalls verletzt hat, oder wenn der BGH die Beklagten in dem Zivilverfahren zu einer Freiheitsstrafe verurteilt hätte und nicht zuletzt, wenn die Öffnungszeiten des Großmarktes oder der äußere Anstrich in dem oben beschriebenen Sinne eine Rolle gespielt hätten, was die Beantwortung der Frage angeht, ob in dem konkreten Fall eine Pflichtverletzung vorlag. Hier kommt etwas ins Spiel, das zwar auch im großen Rahmen der Geistes­ wissenschaften nicht unbedeutend ist, für die Rechtswissenschaften allerdings eine weitaus größere Bedeutung hat. Es geht um die Rechtfertigung der gefundenen Ergebnisse. Für das Funktionieren der Konfliktlösung durch die Gerichte ist es von entscheidender Bedeutung, mit den gefundenen Resultaten bei den Beteiligten auf Akzeptanz zu stoßen. Das heißt, dass die Rechtfertigung gelingen muss. Auf Dauer ist das in Gang einer Gesellschaft die ihre Konflikte überhaupt vor Gerichten austrägt, nicht denkbar, wenn es nicht gelingt für die Resultate Akzeptanz zu gewinnen. Der Begriff der Rechtfertigung zwingt nun regelrecht dazu, eine neue Größe in die Frage nach der Freiheit der Entscheidung einfließen zu lassen, denn Rechtfer­ tigung bedarf eines Adressaten. Damit ist, nachdem der Text als mögliche Determinante der juristischen Entscheidung ausgeschieden ist, eine Möglichkeit gefunden, die scheinbar vollständige Freiheit der Gerichte in ihrer Entscheidung zurückzunehmen. Zu Text und Interpret gesellt sich die Gemeinschaft der Ver­ stehenden56. Dieser Gedanke findet sich ausdrücklich auch bei Gadamer, wenn auch nur in einem zustimmenden Hinweis auf Apel. Dort heißt es: „Apel hat die Diskussion über die hermeneutische Problemlage sehr bereichert, indem er den Praxisbezug in allem Sinnverstehen herausarbeitet, und er hat völlig recht, wenn er dabei die Idee einer unbegrenzten Interpretationsgemeinschaft in Anspruch nimmt.“57

Allerdings findet sich der Hinweis nicht in dem Abschnitt über die Vorbild­ lichkeit der juristischen Hermeneutik. Dort führt Gadamer einen Gedanken in die Betrachtung ein, der zunächst erneut widersprüchlich erscheint. Es heißt, die Mög 56 57

Vgl. Apel, Transformation, S. 44. Gadamer, Replik zu „Hermeneutik und Ideologiekritik“, in: GW 2, S. 251 (262).

III. Individualität und Eingebundenheit

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lichkeit der richtigen Beratung und damit die Möglichkeit der Voraussage eines Urteils hänge allein davon ab, dass „die Rechtsordnung für jedermann als gültig anerkannt ist, dass es also keinen aus ihr Ausgenommenen gibt“58. Wie soll man sich die Maßgeblichkeit einer Rechtsordnung, das heißt schließlich einer Gesamtheit von Gesetzen denken, deren Bedeutung man selbst festlegt? Sie liegt in der bewussten Annahme der je eigenen Verantwortung. Denn es gibt für Gadamer ganz selbstverständlich so etwas wie die Bindung an die Bedeutung eines Textes. Nur unter dieser Voraussetzung ist es schließlich möglich davon zu sprechen, dass es wesentliche Voraussetzung einer juristischen Hermeneutik sei, dass das Gesetz alle Glieder der Rechtsgemeinschaft in gleicher Weise bindet59 und nur unter genau dieser Voraussetzung ist davon zu sprechen, dass das, was wir Verstehen nennen, überhaupt geschieht. Im Absolutismus dagegen, unter der totalen Herrschaft des Monarchen, der seinen Willen durchsetzen kann, ohne die „Anstrengung der Auslegung“60 unternehmen zu müssen, so meint Gadamer, wird die Aufgabe des Verstehens gar nicht wahrgenommen61. Dabei werde das Gesetz zwar nicht aufgehoben, aber so uminterpretiert, dass es dem Willen des Herrschers „ohne Regeln der Erklärung zu beachten, entspricht“62. Aber was sollen das für Regeln sein, und wieso behandelt Gadamer dieses für die Jurisprudenz so entscheidende Problem nicht ausdrücklich? Das Problem wird keineswegs nur am Rande erwähnt, weil es nicht wichtig wäre, sondern, weil Gadamer es in seinen Augen längst geklärt hat: Weil die Möglichkeiten des Verstehens, die in „Wahrheit und Methode“ aufgezeigt werden, gleichzeitig die Bindungen der Vermittlung sind. Gadamers Hermeneutik ist eine Hermeneutik des Gesprächs63. Auch der denkende Zugang zum Text ist ein sprachliches Geschehen64. Wer die Geschichte verstehen will, der muss in ein Gespräch mit ihren Zeugnissen eintreten. Dabei bringt er Vorurteile in Anschlag – und darin liegt die Schnittstelle zwischen Verstehen und Vermitteln – die nicht zu seiner Verfügung stehen. Vielmehr sind diese Vorurteile durch Überlieferung transportiert, in der man nie alleine steht. Hier wird die Individualität wieder eingefangen und in ihrer Wirkmächtigkeit begrenzt. Damit zeigt sich, dass die produktiven, positiven Vorurteile gerade solche sind, die ein Potential der Vermittlung zwischen Partnern des Gesprächs haben und dass damit die Idee einer Kommunikationsgemeinschaft, die den Umgang mit dem 58

Gadamer, WM, S. 335. Vgl. Gadamer, WM, S. 334. 60 Gadamer, WM, S. 335. 61 Vgl. Gadamer, WM, S. 334 f. 62 Gadamer, WM, S. 334, Fn. 272. 63 Vgl. Fehér, Verstehen bei Heidegger und Gadamer, in: Figal/Gander, Dimensionen des Hermeneutischen. Heidegger und Gadamer, S. 88 (114); Turk, Wahrheit oder Methode? HansGeorg Gadamers „Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, in: Birus, Hermeneutische Positionen. Schleiermacher – Dilthey – Heidegger – Gadamer, S. 120 (124). 64 Vgl. Gadamer, Sprache und Verstehen, in: GW 2, S. 184 (184). 59

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Text begrenzt, schon vorweggenommen ist. Das verweist noch ein letztes Mal zurück auf die Frage nach der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung einer Hermeneutik, die die Vorurteilsbedingtheit des Verstehens in den Mittelpunkt stellt. Es zeigt sich nun, dass die produktiven von den negativen Vorurteilen tatsächlich erst im Verstehen geschieden werden, ohne dass dieses zu der Ratlosigkeit des Inter­ preten bezüglich der Richtigkeit seiner Verstehensbemühungen führt, die man daraus schließen könnte. Die Verbindung, die der Interpret zum Text herstellt, basiert auf Mitteln der Kommunikation, d. h. sie setzt die von Gadamer heraus­ gestellte Zwischenmenschlichkeit der Auslegung voraus. Man wird vielleicht sagen können, dass die Vorurteile gesellschaftlich geformt werden. Vorurteile von Tradition, von Geschichte, von Sprache sind die Möglichkeit des Verstehens und damit selbst­verständlich auch die Möglichkeiten der Vermittlung, auf deren anderer Seite wiederum ein Verstehen stattfindet, das durch Eingebundenheit der Individualität überhaupt erst ermöglicht wird. Übersetzt auf den Vorgang der Rechtsfindung, den Vorgang des Urteilens in einem juristischen Prozess heißt das Folgendes: Die Möglichkeiten des Urteilens sind durch den „Stilwillen“ der eigenen Gegenwart begrenzt. Die Tatsache, dass es Urteile gibt, die diesen Stilwillen überreizen, also eine Herausforderung für die Verstehensvoraussetzungen des Adressaten darstellen, die das Urteil nur als skandalös erscheinen lassen, ist nur eine Bestätigung der hier gefundenen Ergebnisse. Die Feststellung einer skandalösen Umsetzung eines Textes der Rechtswissenschaften in die Gegenwart, ebenso wie das bei einem darzustellenden Kunstwerk der Fall ist, setzt die Maßgeblichkeit seines Sinns ja gerade voraus. Wie Neumann treffend formuliert ist „der Schluss von der zutreffenden Kritik einer „regel­ platonistischen“ Position auf einen radikalen Regelskeptizismus unzulässig. Daraus, dass Regeln nicht alles regeln, folgt nicht, „dass sie nichts regeln“65. Wenn man wirklich sagen wollte, dass jedes Urteil willkürlich mit dem Text des Gesetzes umgeht, dann wäre das so viel, wie zu behaupten, dass man sich die Sprache im Moment der Kommunikation erst ausdenkt. Die Möglichkeit etwas zu sagen, hängt davon ab, dass man selbst und dass der andere verstehen kann, was man sagt. Verstehen kann er es nur, wenn er die Vorurteile teilt, die es dem, der etwas sagt, überhaupt möglich gemacht haben, seine Gedanken in Worte zu fassen. Wenn der Adressat des Urteils das Urteil versteht, dann kann es nicht sein, dass der Richter tatsächlich vollständig unabhängig das gemacht hat, was er will. Vielmehr hat er sich genau der Mittel bedient, die jedem zur Verfügung stehen, der die Maßgeblichkeit des Textes anerkannt hat, schon in dem Moment in dem er seinen Mund öffnet und das erste Wort herauskommt, das in seiner Funktion zwingend dadurch charakterisiert ist, dass es ihm nie ganz allein gehört. Man kann es auch so sehen: Wenn wir den Löwen nicht verstehen können, dann kann er nicht sprechen66. 65 Neumann, Juristische Methodenlehre und Theorie der Juristischen Argumentation, Rechtstheorie 2001, S. 239 (245). 66 Vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, S. 568.

III. Individualität und Eingebundenheit

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Es gibt, so schreibt Kaufmann, „keine Objektivität der Rechtserkenntnis, die nicht durch das Sieb der Subjektivität gefiltert ist“67. Aber das Sieb der Subjektivität formt seine Durchlässigkeit nicht selbst, sondern es muss nach gemeinsamen Maßgeblichkeiten konstruiert sein, wenn Kommunikation überhaupt möglich sein soll. Darin liegt seine Objektivität. Menschen sind Inseln der Subjektivität, aber sie sind über den Ozean der „Selbigkeit der gemeinsamen Sache“68 mit­einander verbunden. Dieses Vokabular verweist zurück auf den von Gadamer in die hermeneu­tische Diskussion eingeführten Begriff des „Vorgriffs der Vollkommenheit“69. Das Wunder des Verstehens klärt sich nicht auf durch eine „geheimnisvolle Kommunion der Seelen“, es findet vielmehr seine Bestimmung in der „Teilhabe am gemein­ samen Sinn“70. Das heißt – um noch einmal auf den beispielhaft herangezogenen Fall des BGH zurückzukommen – dass es auf die Frage, was eine Pflichtverletzung sein kann, und was nicht, keine abschließende Antwort gibt. Es heißt aber auch, dass daraus nicht der Schluss gezogen werden darf, dass es auf die Frage gar keine Antwort gibt. Die Erkenntnis, dass jedes Verstehen unter den Vorurteilen der Zeit, der Gesellschaft, des Staates, der Sprache steht und somit stets in einer gewissen Vagheit verhaftet bleibt, heißt gerade nicht, dass es nicht gelingt. Man kann nicht für alle Zeiten sagen, dass die Auswahl von Bodenbelägen mit körnchenartiger Unterstruktur eine Pflichtverletzung ist, genauso wenig wie man ausschließen kann, dass die farbliche Gestaltung eines Großmarktes in irgend­ einem Zusammenhang als Pflichtverletzung angesehen werden kann. Kann man nun deswegen alles sagen? Ist damit das, was das Wort Pflichtverletzung sagt vollständig beliebig? Das ist es keineswegs, ganz im Gegenteil. Vollständige Beliebigkeit der Wörter als Mittel der Kommunikation, die sie sind, ist von vorneherein ausgeschlossen, auch wenn sie vage bleiben. Wenn man wirklich davon ausgehen wollte, dass jedes Verstehen eines Gesetzes, ergo jede Anwendung des­selben auf eine konkrete Situation, ohne jede Bindung und damit vollständig beliebig wäre, dann wäre man damit den gleichen Problemen ausgesetzt, die sich oben schon im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Hermeneutik Schleiermachers bezüglich des universalen Missverständnisses gezeigt haben. Der Interpret, der ohne jede Erwartung an das Verstehen des Textes heranginge, würde dem Text niemals irgendeinen Sinn abringen können. Hätte nun der Adressat der richterlichen Entscheidung keinerlei vorverständnisartige Erwartungen an das Urteil, wie der Richter keine vorverständnisartigen Erwartungen an das Gesetz hätte, weil tatsächlich der Umgang der Richter mit dem Text vollständig frei von irgendwelchen Bindungen, und damit jedes aktualisierende Verstehen die Herstellung einer ganz 67 Kaufmann, Die Geschichtlichkeit des Rechts im Licht der Hermeneutik, in: Beiträge zur juristischen Hermeneutik, S. 25 (52). 68 Gadamer, WM, S. 314. 69 Gadamer, WM, S. 296 ff. 70 Gadamer, WM, S. 297.

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neuen Erfahrung – totale Unerwartetheit – wäre, dann gäbe es in dem oben erläuterten Sinne so etwas wie Verstehen gar nicht. Verstehen ist wie sich gezeigt hat, nichts anderes als die Einordnung von Erfahrungen in Erwartungen. Es wird sich zeigen, dass sich schon bei Savigny derartige Einsichten finden lassen, an denen das hier gefundene Ergebnis noch einmal erläutert wird. Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass der Beliebigkeit des Verstehens weder Gadamer, noch diejenigen, die sich in der juristischen Diskussion auf ihn berufen haben, dass Wort haben reden wollen71. In dem Zusammenhang ist klarzustellen, dass damit die oben getroffene Feststellung, dass das Urteil im Rollschuheffektfall sich keineswegs aus irgendeinem vorher feststehenden Sprachgebrauch ergeben hat, nicht relativiert ist. Die hier herausgestellte Anforderung an ein gutes Urteil, dass der Interpret einer Norm sich an ihren Sinn gebunden fühlt heißt nicht, dass er in dem Wort etwas findet, was schon immer darin gelegen hätte. Man muss die Voraussetzung, dass die Be­deutung von „Pflichtverletzung“ schon vor jedem Urteil „mehr oder weniger“72 feststeht machen, um die vermeintliche Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaften zu bewahren, die nach einem falschen Verständnis darin liegt, dass man die Individualität des Falles aus der damit zumindest scheinbar wissenschaftlichen Entscheidung ausschließt. Man muss diese Voraussetzung machen, wenn man meint, dass die Auslegung nicht dem Gutdünken des Auslegers überlassen bleiben soll, sondern „in einer gesicherten und nachprüfbaren Weise vor sich [zu] gehen“73 hat. Aber es ist eine falsche Voraussetzung. Dass die Bedeutung von „Pflichtverletzung“ als das unbedachte Aussuchen und Verlegen von Bodenbelägen aktualisiert werden kann steht erst fest, wenn diese Festlegung in einem Urteil vollzogen ist und der Richter als der Interpret des Normtextes mit dem Wagnis, das sein Verstehen darstellt, auf Zustimmung gestoßen ist. Ob er diese Zustimmung erwarten kann, vermittelt ihm nicht die schon immer feststehende Bedeutung der Rechtstexte, sondern sein vermittelnder praktischer Sinn für das Tunliche. Nur in dieser Zustimmung, die durch die „gemeinsame Teilhabe am Sinn“ und den „Stilwillen der Gegenwart“ ermöglicht ist, liegt die mögliche demokratische Legitimation, die sich damit ganz ausdrücklich nach dem Ergebnis des Rechtsfindungsprozesses richtet und nicht nach der Methode seiner Erlangung. Man kann nicht reden, wenn man meint, dass man nichts meinen kann. Man kann nur reden, wenn man meint, dass der andere verstehen kann, was man sagt. Diese ursprüngliche Solidarität, die jeder teilen muss, der an der Kommunikation teilnehmen will, ist die Voraussetzung dafür, dass Kommunikation überhaupt gelingen kann. Vielleicht liegt das Anknüpfen an die aristotelische Ethik auch deshalb nahe, weil sich die philosophische Hermeneutik damit in die Mitte zwischen 71

Vgl. Lübbe-Wolff, Rechtsfolgen und Realfolgen, S. 118, sowie Lüderssen, Gadamers Wahrheit für Juristen, Rechtsgeschichte 1 (2002), S. 208 (214). 72 Vgl. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 437. 73 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 319.

III. Individualität und Eingebundenheit

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zwei Extreme stellt. Auf der einen Seite wird die Offenheit des Textes herausgestellt und damit die Individualität durchaus ernst genommen. Auf der anderen Seite wird das aber nicht zum Anlass genommen, die Verpflichtung des Inter­ preten auf den Sinn und den Stil der Gegenwart aufzugeben. Die Möglichkeit des Verstehens als Vorgang eines Redens über etwas wird genau in der Spannung zwischen diesen beiden Polen verortet. Man wird also deutlich festhalten müssen, dass die durch die philosophische Hermeneutik erkannte Ungebundenheit des Interpreten gegenüber dem Text nicht im Sinne einer absoluten Freiheit verstanden werden darf, die die durchaus in einem doppelten Sinne zu verstehende Feststellung, dass Verstehen etwas mit Geschehen zu tun hat, um eine ihrer möglichen Bedeutungen reduzieren würde, weil eine absolute Freiheit ein Verstehen, das sich am Bild des Gesprächs orientiert, ad absurdum führen würde. Verstehen geschieht, weil dabei etwas mit uns geschieht. Es geht darum, an der Sinneinheit der Texte festzuhalten. Gadamer sah sich in diesem Zusammenhang dem Vorwurf ausgesetzt, „das Festhalten an der Sinn­identität des Textes“ [sei] „ein Rückfall in den überwundenen Platonismus einer klassizistischen Ästhetik“ oder „Befangenheit in der Metaphysik“74. Es ist in Wahrheit keines von beidem und vor allen Dingen ist das Herausstellen der Sinneinheit der Texte kein Rückfall in irgendeinen Platonismus. Es ist vielmehr eine notwendige Voraussetzung jeder Kommunikation. Mit Wörtern, die alles bedeuten können, kann man nichts sagen. Das heißt für das Verständnis der Rechtswissenschaften, welches die philo­ sophische Hermeneutik bereitstellt, dass die Verantwortung des Entscheiders für die Entscheidung nicht durch die Anlehnung an das methodengeleitete Verfahren der Naturwissenschaften verdeckt werden darf. Nur in der tatsächlichen Annahme der Verantwortung dafür, im Rahmen des Erwartungshorizontes des Adressaten zu bleiben, liegt die Bindung des Richters. Die Möglichkeiten des Verstehens sind dabei die Möglichkeiten der Vermittlung, denn die praktische Klugheit, die die Situationsangemessenheit der Entscheidung erschließt, ist trotz aller Individualität in Vermittlung überholt. Insofern erscheint es zweifelhaft, ob man tatsächlich sagen kann, dass die Frage nach einem richtigen oder falschen Textverstehen von einer „philosophischen Hermeneutik als unzulässig zurückgewiesen werden kann“75. Schließlich ist deutlich geworden, dass es eine Überbemessung des vorverständnisgeleiteten Verstehens darstellt, wenn man über die Freiheit, die darin liegt, die Ansprüche, die die Eingebundenheit der Kommunikation stellt, vergisst. Willkür liegt damit nicht vor, wenn die Subjektivität des Richters an der Entscheidungsfindung mitwirkt, sondern wenn die subjektive Entscheidung des Richters eine Herausforderung an die praktische Klugheit der Adressaten stellt, die es 74

Gadamer, Zwischen Phänomenologie und Dialektik. Versuch einer Selbstkritik, in: GW 2, S. 3 (7 und 15 ff). Gadamer spielt an dieser Stelle auf Jauss und Derrida an. 75 So Neumann, Zum Verhältnis von philosophischer und juristischer Hermeneutik, in: Hassemer, Dimensionen der Hermeneutik. Arthur Kaufmann zum 60. Geburtstag, S. 56.

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als von vorneherein ausgeschlossen erscheinen lässt, dass die Entscheidung mit der eigenen hypothetischen Entscheidung des Adressaten in Einklang gebracht werden könnte. Willkür liegt vor, wenn der Richter nicht die „Anstrengung der Auslegung“76 unternimmt. Damit bleibt es trotz aller Vagheit möglich, die Bindung des Richters an das Gesetz festzuhalten und es ist keineswegs so, dass die philosophische Hermeneutik der Willkür oder der Irrationalität Tür und Tor öffnet77. Die Gefahr der Willkür liegt viel eher darin, dass der Entscheider über die Voraussetzungen seines Entscheidens im Unklaren bleibt. Es hat sich damit gezeigt, dass die Individualität, Singularität, Zufälligkeit des Falles durch die juristischen Methoden der Auslegung nicht eingefangen werden kann. Der Grund dafür, dass der Fall in der juristischen Methodendiskussion wenig Beachtung findet, die Entscheidung über die Bedeutung von Normen verkürzender Weise alleine über eine Betrachtung ihres Wortlauts, ihrer systema­tischen Stellung, ihrer Entstehungsgeschichte und ihrer Teleologie gesucht wird, ist darin zu sehen, dass die Rechtswissenschaften in einem falschen Verständnis von Wissenschaftlichkeit die szientistisch-methodische Vorgreiflichkeit der Entscheidungsfindung zu sichern versuchen. Dabei handelt es sich um eine Bestrebung, die in der Geschichte der Hermeneutik bekannt ist, in den Rechtswissenschaften allerdings im Gegensatz zur philologisch-historischen Hermeneutik nicht nur einem Minderwertigkeitsgefühl gegenüber den methodisch begründeten Naturwissenschaften geschuldet ist, sondern darüber hinaus dem Zweck dient, politische Vorgaben der Gewaltenteilung zu erfüllen, die mit der Vorstellung von der Bindung des Richters an das Gesetz zusammenhängen. Die Begründung der Bindung des Richters an das Gesetz fällt schließlich deutlich leichter, wenn man die falsche Voraussetzung macht, dass sich die Entscheidung über die Entsprechung des individuellen Falles mit der generellen Norm schon feststehend aus letzterer ergibt. Wenn nun der Einfluss des Individuums auf das Verstehen in der philologischhistorischen Hermeneutik durch eine Verdrängung des Anwendungscharakters des Verstehens herzustellen versucht wurde, weil das Individuelle in einer Hermeneutik, der es um die Herstellung wissenschaftlicher Ergebnisse geht, keinen Platz haben kann und sich über die Zirkularität des Verstehens gezeigt hat, dass sich das Individuum nicht aus dem Verstehen verdrängen lässt, ist dann die Zirkularität des juristischen Anwendungsvorgangs nicht so etwas wie eine zweifache? Das Problem der Individualität stellt sich der Jurisprudenz in gleicher Weise wie den Geisteswissenschaften ansonsten auch und nicht nur im Zusammenhang mit der Individualität des Falles. Bedeutet der Umstand, dass der Anwendungsvorgang des Verstehens in der juristischen Lösung von Fällen ein externalisierter ist, weil die Besonderheit die das Verstehen ermöglicht im Fall und damit außerhalb des 76

Gadamer, WM, S. 335. Vgl. den Hinweis bei Neumann, Zum Verhältnis von philosophischer und juristischer Hermeneutik, in: Hassemer, Dimensionen der Hermeneutik. Arthur Kaufmann zum 60. Geburtstag, S. 56. 77

IV. Das Ziel der Auslegung

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Verstehenden liegt, dass seine, des Verstehenden eigene Zufälligkeit, keine Rolle spielt? Ist damit eine juristische Hermeneutik, der es um die Herstellung von Wissenschaftlichkeit, d. h. um die Verdrängung des Zufälligen geht, nicht unvollständig, solange sie über die Fixierung auf die Bedeutung vermeintlich feststehender Texte nur die Individualität des Falles aus der Betrachtung ausschließt? Müsste es nicht ihr Ziel sein, darüber hinaus im juristisch-anwendenden Verstehen auch die Individualität des Interpreten zu verdrängen? Es ist diesbezüglich zuzugestehen, dass mit der Vorstellung der alleinigen Maßgeblichkeit der Texte unabhängig von der Verdrängung der sinnkonstituierenden Wirkung der Anwendung auf die Situation schon etwas von der Individualität des Verstehenden ausgeblendet ist. Aber damit war es der juristischen Hermeneutik nicht genug. Wie es scheint, hat sie in ihrem Ursprung die Faktizität des Daseins durchaus erkannt und über die schon aus der philologisch-historischen Hermeneutik von Schleiermacher und Dilthey bekannte Vorstellung von der Nachkonstruktion der ursprünglichen Konstruktion des Verstehensgegenstandes versucht, die Wirkung dieser Zufälligkeit auf die Rechtsfindung auszuschließen. Der besagte Ursprung der juristischen Hermeneutik ist bei Savigny zu suchen und die Nennung seines Namens wird es ermöglichen einem weiteren Hinweis auf die Zusammenhänge von Hermeneutik und Jurisprudenz nachzugehen, den Gadamer in „Wahrheit und Methode“ gibt, der mit Savigny und der Frage nach dem Ziel der Auslegung zusammenhängt. IV. Das Ziel der Auslegung – Subjektive und objektive Theorie des Auslegungsziels Hält man an der Sinneinheit der Texte fest, dann wird man ohne weiteres der Feststellung zustimmen können, Ziel der Auslegung im juristischen Zusammenhang sei es, die Bedeutung des Gesetzes zu erkennen78. Diese Feststellung dürfte man wohl als weithin geteilte Ansicht bezeichnen können. Allerdings ist es mit der Einigkeit sehr schnell vorbei, wenn man sich den Fragen zuwendet, die dadurch aufgeworfen werden. Denn was ist die Bedeutung des Gesetzes und wie kann man ihrer habhaft werden? Für eine juristische Hermeneutik, die die sinnkonstituierende Wirkung der jeweils in Anschlag zu bringenden Situation der Anwendung nicht beachtet, kann die Frage danach, was die Bedeutung des Gesetzes ist, nur außerhalb des Anwendungsvorganges liegen. Eine der Möglichkeiten dieser Bestimmung ist bereits genannt, es ist allein das geschriebene Wort. Die andere Möglichkeit ist ebenfalls schon genannt, wenn auch nicht im Rahmen der spezifisch juristischen Ausführungen, sondern in der Darstellung von Gadamers Analyse der Geschichte der Hermeneutik: Es steckt dahinter die Vorstellung, dass sich der Sinn des Geschriebenen über denjenigen ergründen lässt, der es geschrieben hat. 78

Vgl. Wank, Die Auslegung von Gesetzen, S. 41.

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F. Die exemplarische Bedeutung der juristischen Hermeneutik 

Es findet sich dementsprechend in der juristischen Methodenliteratur die Unterscheidung von Auslegungsziel und Auslegungskriterien79. Welche Probleme sich im Rahmen der Kriterien der Auslegung ergeben ist vorstehend erläutert worden. Die Frage nach dem Ziel der Auslegung scheint aber tatsächlich eine weitere Fruchtbarmachung von „Wahrheit und Methode“ für die Rechtswissenschaften zu ermöglichen, unterscheiden sich dabei schließlich im Wesentlichen zwei Positionen, die subjektive und die objektive Theorie80. Die Vertreter der objektiven Theorie wollen den Interpreten darauf verpflichten, die Bedeutung des Gesetzes in einem engeren Sinne, nämlich tatsächlich bezogen auf das im Text ausgesagte, zu ergründen. Subjektive Theorien werden Standpunkte genannt, nach denen der Interpret die Pflicht haben soll, der Frage auf den Grund zu gehen, was der historische Gesetzgeber, also der Gesetzgeber zum Zeitpunkt des Normerlasses mit der erlassenen Norm habe ausdrücken wollen. Bei allen vorgenommenen Differenzierungen lässt sich verallgemeinernd festhalten, dass nach der objektiven Theorie der Weg zur Bedeutung des Gesetzes in der Frage danach liegt, was im Gesagten gesagt ist, während die subjektive Theorie den Interpreten auf das Ausfindigmachen dessen verpflichten will, was im Gesagten gemeint ist. Die Unterscheidung zwischen Gemeintem und Gesagtem als Gegenstand hermeneutischer Bemühungen verweist unmittelbar zurück auf die Auseinandersetzung Gadamers mit Schleiermacher und hier wird letztlich deutlich, dass in der juristischen Methodendiskussion eine Differenzierung gelungen ist, die, wenn Gadamer sie ebenso getroffen hätte, wesentlich zur Verdeutlichung der Kritik an Schleiermacher hätte beitragen können, deren missverständliche Wirkung oben beschrieben wurde. In der Auseinandersetzung mit Schleiermacher geht es Gadamer weder um die Frage nach der Nützlichkeit der Methoden an sich noch um eine konkrete Methode, sondern um die Frage, welches Ziel die Methode verfolgt. Die Frage danach, ob es um die Erforschung der Subjektivität dessen gehen soll, der etwas zu verstehen aufgegeben hat scheint dabei im Vergleich zu der Frage der Methode, um an dieses Ziel zu gelangen, für Gadamer von weit größerer Bedeutung gewesen zu sein. Dass die Geisteswissenschaften sich falsch verstehen, wenn sie sich methodisch verstehen, ist als Ergebnis aus der Auseinandersetzung mit der psychologischen Methode Schleiermachers gewonnen worden, die genau genommen eine Frage des Auslegungsziels behandelt. Wenn also die Hermeneutik entscheidend verengt wird, wenn sie den Fokus auf die Meinung des Anderen legt, anstatt zu verdeutlichen, dass es Grundbedingung des Verstehens ist, sich in einer gemeinsamen Sache zu verstehen, weil sie damit auch nicht mehr an der Wahr-

79

Vgl. Wank, Die Auslegung von Gesetzen, S. 41, sowie Bydlinski, Juristische Methode und Rechtsbegriff, S. 428 ff. 80 Für weitere Differenzierungen vgl. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechts­ begriff, S. 428 ff.

IV. Das Ziel der Auslegung

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heit ihrer Ergebnisse orientiert ist81, dann muss das auch für die juristische Hermeneutik gelten. In der Hermeneutik des Rechts spielt diese Frage eine besondere Rolle, denn derjenige, um dessen Meinung es im Gesagten gehen könnte, tritt mit einer besonderen Autorität auf. Es ist nicht bloß ein Autor, es ist der Gesetzgeber. Damit scheint es so, als würde jede objektive Theorie nicht weniger behaupten wollen, als dass es auf den Willen des Gesetzgebers nicht mehr ankomme. Vielmehr sei der verobjektivierte Wille des Gesetzes, der sich im Moment der Gesetzgebung vom Gesetzgeber losgelöst habe, in den Fokus der Aufmerksamkeit zu nehmen82. Dabei kommt es wohl nicht in erster Linie auf den theoretischen Hintergrund der Staatsverfasstheit an, klingt doch in der Nichtbeachtung des Willens des gesetz­gebenden Monarchen die gleiche Ungebührlichkeit mit, wie in der Nichtbeachtung des Willens eines Repräsentativorgans des Volkes. Dieser Ungebührlichkeit entsprechend verbissen wird die Diskussion geführt. Die dabei ausgetauschten Argumente sind im Wesentlichen die folgenden: Das erste, welches für die subjektive Theorie sprechen soll, ist bereits genannt. Wie kann es sein, dass der Wille des Gesetzgebers in die Auslegung des Gesetzes nicht einfließen soll, schließlich habe er die Norm erlassen und damit den Norminhalt bestimmt83? Schon die Existenz der Norm hängt damit unmittelbar mit seinem Willen zusammen – man wird wohl zugestehen müssen, dass der Gesetzgeber sich darin nicht von jedem gewöhnlichen Autor unterscheidet – die Unterscheidung liegt aber darin, dass theoretisch jeder Text von jedem hätte verfasst werden dürfen; nicht so jedoch ein Gesetz. Gesetze zu erlassen ist alleiniges Recht des Gesetzgebers. Das gerade macht seine Autorität aus. Dabei ist dieses Erlassen unmittelbar verbunden mit der Festlegung des Inhalts der Gesetze. Nimmt man nun im Prozess der jeweiligen Bestimmung dieses Inhalts den Gesetzgeber heraus, dann kann man darin eine Relativierung dieser Autorität sehen. So sieht Rüthers in der Ermittlung des historischen Normzwecks den „ersten, unverzichtbaren Schritt jeder verfassungstreuen Gesetzesanwendung“84. Ein Gegenargument praktischer Art lautet, dass es dem Rechtsanwender schlicht nicht möglich sei, in jedem Fall, in dem er ein Gesetz auszulegen habe, auf die Materialien zurückzugreifen, die seine Entstehung dokumentieren. Darüber hinaus sei es unter parlamentarischen Verhältnissen nicht möglich den ­Willen des Gesetzgebers zu ermitteln, handle es sich dabei doch um eine Vielzahl von Personen, deren verschiedene Motive in die Formulierung eingeflossen sind85. Hier von besonderer Bedeutung ist schließlich das Argument, wonach es nicht auf den Willen des historischen Gesetzgebers ankommen könne, weil sich dieser zu Problemen, 81

Vgl. Gadamer, WM, S. 299. Vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 33. 83 Vgl. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 430. 84 Rüthers, Methodenrealismus in Jurisprudenz und Justiz, JZ 2006, S. 53 (58). 85 Vgl. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 431. 82

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F. Die exemplarische Bedeutung der juristischen Hermeneutik 

die Jahrzehnte nach Inkrafttreten des Gesetzes aufgekommen sind, ursprünglich gar keinen Willen gebildet haben kann86. Bedenkt man nur, dass zum Beispiel das Bürgerliche Gesetzbuch seit mehr als hundert Jahren in Kraft ist und welche Umwandlungen die Gesellschaft, die das Recht betrifft, in nur wenigen Jahren erfahren kann, dann scheint das in der Tat ein sehr gewichtiges Argument zu sein. Dieses Argument erlaubt es deutlich zu machen, inwiefern die philosophische Hermeneutik zu dieser Diskussion etwas beizutragen haben kann, weil es auf die Fragen verweist, die der Umgang mit der Zeit an den Interpreten stellt. Aber zunächst soll die Zeit als Motivation einer Fragestellung ganz anderer Art genutzt werden. Es soll hier ein Blick auf die Geschichte der juristischen Hermeneutik erfolgen. Denn die Frage nach dem Auslegungsziel des Willens des Normgebers findet sich schon dort, wo die juristische Hermeneutik entsteht. Auch Savigny hat Formulierungen verwendet, die den Anschein erwecken, er sei ein Anhänger einer subjektiven Auslegungstheorie. Es wird sich anhand der Auseinandersetzung mit seiner juristischen Hermeneutik verdeutlichen lassen, unter welchen Bedingungen das Verstehen der Subjektivität des anderen steht und unter welchen Voraussetzungen die Vorstellung von der Bindung an den Willen des Normgebers entstanden ist.

86

Vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 317.

G. Historisches Bewusstein und Jurisprudenz: Savignys juristische Hermeneutik Durch eine Betrachtung der juristischen Hermeneutik in ihrer zeitlichen Entwicklung wird sich zeigen, dass es Verbindungen gibt, die es gestatten ein Bild vom Ursprung der juristischen Hermeneutik in der Epoche Schleiermachers zu zeichnen, welches auf die gerade abgebrochene Frage zurückführt. Dieser Ursprung ist zugleich der Ursprung des geschichtlichen Denkens in der Jurisprudenz und der Beginn ihrer Verwissenschaftlichung, die sich als Illusion herausgestellt hat. I. Hermeneutik zwischen Schleiermacher und Savigny Der Ursprung der juristischen Hermeneutik und der Beginn der Verwissenschaft­ lichung finden sich bei Friedrich Carl von Savigny, einem Zeitgenossen Schleiermachers. So vermag es auf den ersten Blick nicht zu verwundern, dass sich in ­Savignys Werk deutliche Parallelen zu Schleiermachers Denken finden, die das Urteil Gadamers über Savigny dementsprechend negativ ausfallen lassen. Nach Gadamer ist „die psychologische Interpretation für die Theorienbildung des 19. Jahrhunderts – für Savigny, Boeckh, Steinthal und vor allem Dilthey – die eigentlich bestimmende geworden“1. Und so stellt Gadamer Savigny ausdrücklich in eine Linie mit Schleiermacher: „So hat noch Savigny im Jahre 1840 im ‚System des römischen Rechts‘ die Aufgabe der juristischen Hermeneutik rein als eine historische betrachtet. Wie Schleiermacher kein Problem darin sah, dass der Interpret sich mit dem ursprünglichen Leser gleichsetzen muss, so ignoriert auch Savigny die Spannung zwischen dem ursprünglichen und dem gegen­ wärtigen Sinn.“2

Es handelt sich dabei, vor allem gemessen an der tiefgehenden Auseinander­ setzung mit Schleiermacher, nur um eine sehr oberflächliche Betrachtung Gadamers. Dieser Eindruck wird nicht zuletzt durch die Tatsache vermittelt, dass ­Gadamer in einer Fußnote, wohl eher rhetorisch, danach fragt, ob es denn Zufall sei, dass Schleiermachers Hermeneutik-Vorlesung gerade zwei Jahre vor Savignys „Buch“ in der Nachlassausgabe erstmals erschienen war und es als Aufgabe für

1

Gadamer, WM, S. 190. Gadamer, WM, S. 332. Gemeint ist das von Savigny verfasste „System des heutigen Römischen Rechts“. 2

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G. Historisches Bewusstein und Jurisprudenz

die Zukunft dahingestellt sein lässt, „die Entwicklung der hermeneutischen Theorie bei Savigny eigens [zu] prüfen“3. Dass Savigny die Aufgabe der juristischen Hermeneutik rein als eine historische betrachtet habe bedeutet, dass es Aufgabe des Interpreten sei, alles im Rückgang auf die Vorstellungen der Vergangenheit zu verstehen. Es geht also um die Vorstellung, dass ein richtiges Verständnis der Texte nur dadurch zu erreichen sei, dass der Interpret sein Hauptaugenmerk auf die Umstände der Entstehung des Verstehensgegenstands legt und durch einen Schritt zurück in der Geschichte den historischen Standpunkt des Verfassers übernimmt. Der Grund für das Urteil Gadamers – ­Savigny sei in eine Reihe mit Schleiermacher zu stellen – liegt in einer Aussage Savignys, die sich im Hinblick auf den Vorwurf wie ein Geständnis liest. Denn tatsächlich liest man im ersten Band vom „System des heutigen römischen Rechts“: „Jedes Gesetz ist dazu bestimmt, die Natur eines Rechtsverhältnisses festzustellen, also irgend einen Gedanken (sey er einfach oder zusammengesetzt) auszusprechen, wodurch das Daseyn jenes Rechtsverhältnisses gegen Irrthum und Willkühr gesichert werde. Soll dieser Zweck erreicht werden, so müssen Die welche mit dem Rechtsverhältniß in Berührung kommen, jenen Gedanken rein und vollständig auffassen. Dieses geschieht, indem sie sich in Gedanken auf den Standpunkt des Gesetzgebers versetzen, und dessen Thätikgkeit in sich künstlich wiederholen, also das Gesetz in ihrem Denken von Neuem entstehen lassen. Das ist das Geschäft der Auslegung, die wir daher bestimmen können als die Reconstruction des dem Gesetze inwohnenden Gedankens. Nur auf diese Weise ist es möglich, eine sichere und vollständige Einsicht in den Inhalt des Gesetzes zu erlangen, und nur so ist daher der Zweck des Gesetzes zu erreichen. Soweit ist die Auslegung der Gesetze von der Auslegung jedes anderen ausgedrückten Gedankens (wie sie z. B. in der Philologie geübt wird) nicht verschieden.“4

Selbst wenn Savigny nicht auf die Allgemeinheit dieser Vorstellung vom richtigen Vorgang der Interpretation hingewiesen hätte, ist die Parallele überdeutlich, denn es finden sich sehr ähnliche Formulierungen bei Schleiermacher. Bei diesem heißt es, es sei die Aufgabe der Hermeneutik, den „ganzen inneren Verlauf der komponierenden Tätigkeit des Schriftstellers auf das vollkommenste nachzubilden“5. Es liegt darin die Verpflichtung der Hermeneutik auf das Erforschen der Autorintention, bei Schleiermacher wie bei Savigny. So also, wie es in der Auseinandersetzung Gadamers mit Schleiermacher nicht um die konkreten Methoden der Auslegung ging, also die grammatische Seite, so geht es hier nicht um die canones der Auslegung, wenn von einer Auseinandersetzung mit der Hermeneutik Savignys die Rede ist, auch wenn Savigny heute in erster Linie als deren Schöpfer bekannt ist6. Damit wird auch deutlich, worin der weitere Beitrag der philosophischen Hermeneutik für die juristische Methodendiskussion liegen kann, 3

Gadamer, WM, S. 332, Fn. 268. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. I, S. 212 f. 5 Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 321. 6 Ob zu Recht oder nicht und ob er dabei stets richtig verstanden wurde kann hier dahinstehen. 4

I. Hermeneutik zwischen Schleiermacher und Savigny

143

denn es hat sich gezeigt, dass über die unüberwindbare historische Zufälligkeit des Interpreten hinaus, die in jeder Interpretation ihr Recht fordert, im Spezialfall der juristischen Interpretation die Zufälligkeit der Situation erst die Bedeutung der Norm bestimmbar macht und damit ein Anknüpfen an den Willen des historischen Gesetzgebers in den meisten Fällen nicht nur praktisch unmöglich, sondern auch sinnwidrig sein wird. Das Argument, dass der Gesetzgeber sich zu einzelnen Fragen der Anwendung der Gesetze regelmäßig keine Gedanken gemacht haben wird verfängt also schon deshalb, weil der Gesetzgeber tatsächlich die Situation, die die Anwendung mitbestimmt, nicht voraussehen kann. Man könnte meinen, dass die Betrachtung der Methodenzielbestimmung nach Savigny damit beendet werden kann und dem Urteil Gadamers zuzustimmen ist, dass Savigny ebenso wie Schleiermacher der Hermeneutik mit der Fokussierung auf die Subjektivität (hier des Normgebers) eine falsche Richtung gewiesen hat. Mit dem Wissen um die historische Faktizität und der damit verbundenen Vorverständnisbedingtheit des Verstehens kann man diese Vorstellung korrigieren und eine weitere Beschäftigung mit Savignys Theorien würde damit wohl nichts neues mehr zutage bringen. Aber mit der Rekonstruktion allein hat es nun bei ­Savigny noch nicht sein Bewenden. Er ergänzt die Forderung an den Interpreten, die „Reconstruktion des dem Gesetze inwohnenden Gedankens“ vorzunehmen noch um einen Aspekt, der ebenfalls von Gadamer kritisiert wurde, allerdings erst im Zusammenhang mit dessen Neubestimmung der Vorurteile. Es handelt sich dabei um Gadamers Auseinandersetzung mit den Wirkungen der Autorität im Verstehensprozess. Gadamer ging es in dem Zusammenhang darum zu betonen, dass es eine falsche Vorstellung ist, dass der Mensch von allen ihn beherrschenden Autoritäten loskommen könne und er hat die mögliche Legitimität der Vorurteile daran ausgewiesen, dass ein aus Autorität gewonnenes Urteil – das damit nicht vollständig der eigenen Vernunft unterworfen war – trotzdem in der Sache zutreffend, also sachgerecht sein kann. Die für das Verstehen wichtigste Form der Autorität hat Gadamer dabei in der Überlieferung selbst ausgemacht. Welcher Art ist also die Forderung Savignys im Umgang mit der Autorität an den Interpreten? 1. Die Autorität im Recht Zunächst soll es hier also in einem kurzen Exkurs darum gehen, was es mit ­ avignys Bewertung der Wirkungen der Autorität im Rechtsfindungsprozess auf S sich hat. Die Frage nach den Möglichkeiten des Menschen, von den ihn erfassenden Autoritäten frei zu werden ist wie oben gezeigt wurde für die Fragen der Möglichkeiten des Verstehens von erheblicher Bedeutung. In der Einleitung zum „System“ heißt es dazu, dass unbeschadet der aus ihr gewonnenen Wahrheit, den Begriffen, Regeln und Kunstausdrücken, in denen sich die Überlieferung uns zeigt, ein „starker Zusatz von Irrthum beygemischt“7 sein wird, von dem die Ge 7

Savigny, System I, XI.

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G. Historisches Bewusstein und Jurisprudenz

fahr ausgeht, die Herrschaft über den Interpreten zu gewinnen. Es wird also immer wieder geboten sein, als Interpret alles Überlieferte der Überprüfung am Maßstab der eigenen Vernunft zu unterziehen und dabei alles in Zweifel zu ziehen und auf seine Herkunft zu befragen8. Geistige Freiheit soll der Zustand sein, in den man sich zu versetzen hat, will man den Täuschungen der Überlieferung entgehen. In deutlich nach-kantischen Wendungen heißt Savignys Forderung an das gerade aufgeklärte Bewusstsein, die angemessene Stimmung der Befragung der Überlieferung sei die der „Unabhängigkeit von aller Autorität“9. Es geht also tatsächlich um eine Befreiung von den Verwirrungen der Überlieferung hin zu einem vorurteilsfreien Verstehen. Es werden aber dem Menschen überhaupt nur durch die Über­ lieferung die Mittel des Verstehens zur Verfügung gestellt. Wer den Gegenstand des Verstehens nicht von einem festen Standpunkt in der Geschichte aus betrachtet, der wird keine Möglichkeit haben, überhaupt zu verstehen. Auch wenn dies direkt dahingehend eingeschränkt wird, dass „das heilsame Gefühl der Demuth“10 zu der geistigen Freiheit hinzutreten müsse, um ein Ausarten in Übermut zu verhindern, wird man also sagen müssen, dass Savigny hier das wahre Wesen der Autorität in ihrer Positivität nicht erkannt hat. Das vermag zunächst nur wenig zu verwundern, drückt sich doch in dem Anspruch der Freiheit von aller Autorität ein Stück Zeitgeist aus. Es liegt wohl eine gewisse Ironie darin, dass damit die Autoritätskritik der Aufklärung eine eigene Autorität geschaffen hatte, von der sich auch Savigny wie zur Bestätigung der Gadamerschen Kritik, nicht befreien konnte. Allerdings zeigt sich bei näherem Hinsehen, dass die Forderung nach geistiger Freiheit für Savigny rein programmatisch ist und keiner Überprüfung am tatsächlichen Vorgang der Rechtsfindung zugeführt wird. Eigentlich hatte Savigny da, wo es nicht darum ging in programmatischen Grundformeln die Basis für den Vorgang der Interpretation theoretisch zu bestimmen, sondern im Detail die Fort­ bildung des Rechts zu beschreiben, einen wesentlich differenzierteren Blick auf das Wesen der Autorität. Denkt man die Freiheit des Geistes in der Form der Unabhängigkeit von aller Autorität zu Ende, dann vermittelt sich nicht nur im Hinblick auf die Einsichten, die Gadamer in Bezug auf das Wirken der Autorität gewonnen hat, das Bild der Abgeschiedenheit. Die maximale Form der Freiheit ist die Abgeschiedenheit von jeder externen Einwirkung. Ganz unabhängig davon, dass, wie Gadamer gezeigt hat, dabei die in uns geformten und uns formenden Autoritäten, in Formen der verstehensleitenden Vorurteile mitgenommen werden, unabhängig also von theoretischen Fragen, stellen sich dem Juristen, der eingebunden ist in den Kontext gesellschaftlicher Konfliktlösungsvorgänge, Probleme praktischer Natur, was die Verwirklichung dieser Freiheit angeht und zwar folgende: 8

Vgl. Savigny, System I, S. XI. Savigny, System I, XI. 10 Savigny, System I, XI. 9

I. Hermeneutik zwischen Schleiermacher und Savigny

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Es gibt Fälle, deren Beurteilung das eigene Urteil überfordert. Es gibt Urteile über solche Fälle, die durch die eigene Einsicht in ihre sachliche Überlegenheit über die eigenen Bewertungen Autorität gewinnen. Autorität gewinnen heißt also gerade, dass sich jemand ihrer Überlegenheit bewusst wird und sich ihnen eben deshalb aus Erwägungen der Vernunft unterwirft, denn es gibt für den, dem es aufgegeben ist über jeden Fall, der ihm vorgetragen wird, ein Urteil zu fällen, nicht die Möglichkeit, jeden dieser Fälle, dem Urteil der eigenen Vernunft zu unterwerfen. In manchen Fällen ist es gerade die Verwirklichung der eigenen Vernunft, die Einsicht zu gewinnen, dass man das Urteil dessen, der es einfach besser weiß, seinem eigenen vorgehen lassen soll. Nichts anderes ist hier beschrieben als die Situation des Richters, der sich ständig auf das Urteil der Experten verlassen muss, nicht nur in Fragen fremder Disziplinen, sondern auch in seiner eigenen, in der es ihm gar nicht möglich ist, über alle nur erdenklichen Einsichten zu verfügen, die das Urteil, das er zu fällen hat, in die richtige Richtung zu lenken vermögen. Vor jedem Urteil gilt es sich kundig zu machen, über bereits gewonnene Einsichten in dem Umfeld der Fragen, die der zu lösende Fall einem stellt. Nicht nur, aber auch aus Gründen der Rechtssicherheit und der Einheit der Rechtsordnung gilt es in dieser Situation gerade nicht die Isolation der Vernunft in absoluter Freiheit zu ­suchen, sondern sie in Verbindung zu setzen mit fremden Autoritäten, die Einsichten zu vermitteln sich eignen, welche der Lösung des Falles zuträglich sind. Genau das hat Savigny sehr wohl gesehen. Das „System“ enthält Ausführungen über wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Recht, in denen es in erster Linie darum geht, wie diese Forschungen auf das anzuwendende Recht einwirken und wie ihr Verhältnis zu den Rechtsquellen ist. Savigny zählt sie nicht zu den Rechtsquellen, aber er hält sie weder für bedeutungs- noch für wirkungslos. Ganz im Gegenteil. So wird die hier gerade beschriebene Situation des Richters, dessen eigene Vernunft durch den Fall überfordert sein mag, genau erfasst. Es heißt: „Denn obgleich für Jeden, der eine solche Arbeit selbstständig prüfen will, die Freyheit des Urtheils nicht beschränkt ist, mögen auch noch so viele Schriftsteller in einer neu aufgestellten Meynung übereinstimmen, so giebt es doch stets eine eben so zahlreiche als ehrenwerthe Klasse von Rechtsbeamten, die auch bey gründlicher Vorbildung nicht mehr in der Lage sind, eine eigene unabhängige Kritik auf die neue Meynung zu verwenden, und dadurch zu einer selbstständigen Überzeugung zu gelangen.“11

Man wird es im Hinblick auf die Forderung nach der Freiheit des Geistes schon für erstaunlich halten müssen, dass Savigny die Klasse von Rechtsbeamten, die nicht mehr in der Lage sind neue Meinungen unabhängig zu kritisieren, für ehrenwert hält und darüber hinaus meint, es würde „für diese […] nicht nur natürlich, sondern selbst löblich und wünschenswerth seyn, daß sie jene Autorität unbedingt befolgen“12. Obgleich, es scheint bei Betrachtung der Situation, in der der Richter 11 12

Savigny, System I, S. 88. Savigny, System I, S. 88.

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G. Historisches Bewusstein und Jurisprudenz

sich befindet, wenn er zu urteilen hat, nur natürlich zu sein, zu der Einsicht zu gelangen, dass es nicht der Bequemlichkeit geschuldet ist, sondern die Rechtssicherheit fördert, wenn der Richter fremde Meinungen in sein Urteil einfließen lässt, weil die Sicherheit des Rechts „unmöglich dabey gewinnen kann, wenn ein Richter, ohne die Möglichkeit eines umfassenden Studiums, ein eigenes Urtheil über jede einzelne Rechtsfrage zu bilden versucht, welches durch die Einseitigkeit seiner Entstehung von sehr zufälligem und zweifelhaftem Erfolg sein wird.“13

Man wird darin wohl einen Widerspruch zu sehen haben. Dabei scheint die Forderung nach geistiger Freiheit weit weniger durchdacht zu sein als die Betrachtung der Wirkungen fremder Meinungen als leitender Autoritäten im Rechtsfindungsprozess. Der Zeitgeist hatte Savigny hier voll erfasst, aber seine eigene Disziplin, die er selbst geprägt hat wie kaum ein anderer, hat sich gegen die geistigen Strömungen seiner Epoche zur Wehr gesetzt, anscheinend ohne dass er es gemerkt hätte. Bei näherem Hinsehen also scheinen, zumindest in Bezug auf die Rolle der Autorität, die Gräben zwischen Gadamer und Savigny zu verschwinden. Dabei geht die Auseinandersetzung Savignys mit dem Wesen der Autorität noch einen Schritt weiter, der ihn erneut näher an Gadamer heran kommen lässt, als das letzterem bewusst gewesen wäre. So meint Savigny, es gäbe keine formelle Regel anhand derer man „nun das Daseyn einer solchen wahren und guten Autorität“ erkennen könne. Vielmehr stellt er in dem Zusammenhang auf eine Art disziplininternen Diskurs ab, der wiederum die Autorität der „Rechtslehrer, die im Ruf besonnener und gründlicher Forschung stehen“14 in den Mittelpunkt stellt. Das klingt doch sehr bekannt: Die gute Autorität, die eine schlechte voraussetzt. Die Schwierigkeiten, die das Erkennen und Unterscheiden beider dem bereiten, der zu entscheiden hat, die Schwierigkeiten, die in der theoretischen Besinnung darüber liegen, und die Wirkungen der Gemeinschaft im Prozess der Scheidung des Richtigen vom Falschen. Es zeigen sich hier also erste Risse im Fundament des Gadamerschen Urteils über Savigny. 2. Das Auslegungsziel der Autorintention bei Savigny Es ging bei dem nun wieder aufzunehmenden Faden um eine Nähe zwischen Schleiermacher und Savigny in Fragen der Zielrichtung der Interpretation auf die Intentionen des Autors. Die diesbezüglichen Ausführungen Schleiermachers haben bei Gadamer deutliche Kritik erfahren. Die Frage, die sich unmittelbar stellen muss, ist also die, ob die gleiche Kritik auch Savigny trifft. Es sei kurz noch einmal ins Gedächtnis gerufen, welcher Art die besagte Kritik Gadamers war. Sie zielt in erster Linie auf die Verschiebung des Gegen­standes 13

Savigny, System I, S. 88. Savigny, System I, S. 88.

14

I. Hermeneutik zwischen Schleiermacher und Savigny

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hermeneutischer Bemühungen von der Erfassung der Wahrheit einer Sache hin zu der Frage nach den psychologischen Hintergründen ihres Entstehens. Die Feststellung, dass es Aufgabe der Hermeneutik sei, über das Äußere ins Innere zu gelangen, wird von Gadamer nicht geteilt. Vielmehr müsse es der Hermeneutik, wie das bis zu Schleiermacher auch der Fall gewesen sei, immer auch um die Erforschung der sachlichen Wahrheit eines Auslegungsgegenstandes gehen. Diese Forderung sah Gadamer in der Wendung in das Psychologische, die die Hermeneutik mit Schleiermacher genommen hat, bedroht. Darüber habe dann auch der Anspruch der Auslegung, einen Autor besser zu verstehen, als er sich selbst verstanden hat, seine ganz eigene Bedeutung gewonnen. Von der sachlichen Kritik, die wie selbstverständlich zu dem Ergebnis führen kann, dass der Interpret eine Sache besser versteht als der, der sie ursprünglich gedacht hat, weil sie nun besser durchdacht ist und man zu besseren Einsichten gekommen ist, wird tatsächlich die Erforschung dessen, was den ursprünglichen Denker der Gedanken ausmacht. Es wird am Ende der Autor besser verstanden, als er sich selbst verstanden hat, weil man sich die psychologischen Hintergründe der Komposition verdeutlicht, wie das dem Komponierenden nicht möglich ist15. Und wie zum Beweise des negativen Urteils über Savigny lässt sich zeigen, dass nicht nur in den Gedanken vom Hineinversetzen in den Autor eine Parallele zwischen Savigny und Schleiermacher besteht. Savigny weist der juristischen Hermeneutik den Weg in die gleiche Richtung wie Schleiermacher, wenn er schreibt: „Man kann ohne Übertreibung von unsern neuen Gesetzbüchern sagen, dass nur der sie recht kennt, der sie besser kennt als ihr Verfasser.“16

Wird man also doch die Kritik Gadamers an Schleiermacher einfach auf ­ avigny übertragen können und zu dem Ergebnis gelangen, dass letzterer über S den Gedanken des Seelen-Transfers, das Gesetz aus dem Mittelpunkt der Inter­ pretation rückt, es am Ende also nicht mehr darauf ankommt selbiges zu verstehen, sondern seinen Verfasser und es nur zufällig im Bereich der Bestimmung der Wirkungen der Autorität eine Nähe zwischen Gadamer und Savigny gibt? Nun wird man diesbezüglich zunächst einmal eine Differenzierung vorzunehmen haben. Gesetze sind insofern eigener Art, als der Interpret sie bezüglich einer geforderten Befolgung nach ihrer Bedeutung zu befragen hat. In der Frage, was das Gesetz heißen soll, liegt eine doppelte Bedeutung, bei Gesetzen fragt man nach dem Geheiß, dem Gesollten. Überträgt man demnach die überzeichnende For­mulierung Gadamers auf die Rechtswissenschaften, dann wird man fragen müssen, ob es Savigny darauf ankam den Willen des Gesetzes oder den des Gesetzgebers durch Aus­legung zu erlangen. Die Frage erscheint damit schon in deutlich milderer Form

15

Vgl. Gadamer, WM, S. 195 ff. Vgl. Rückert, Savignys Hermeneutik – Kernstück einer Jurisprudenz ohne Pathologie, in: Schröder, Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie, S. 287 ff. (316). 16

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G. Historisches Bewusstein und Jurisprudenz

und es deutet daraufhin, dass damit der gedankliche Ursprung der juristischen Debatte um subjektives oder objektives Auslegungsziel markiert ist. Allein, die oben zitierte Formulierung Savignys lässt noch beide möglichen Varianten zu. Wörtlich genommen geht es dabei immer noch um die uralte Forderung jeder Wissenschaft, das Gedachte zu überdenken. Sie lässt sogar die hier gewonnenen Einsichten bezüglich des tatsächlichen Vorgangs der Norminterpretation zu, denn tatsächlich kennt derjenige, der der Norm im Hinblick auf den Fall Bedeutung abringt, sie besser als ihr Verfasser. In Kombination mit der Forderung der Nachkonstruktion könnte sie aber den Weg ins Subjektive weisen. Wie stellt sich also das Subjektive bei Savigny dar? Bedeutet das Hineinversetzen in den Autor bei Savigny das gleiche wie bei Schleiermacher? Denkt auch ­Savigny die Kommunion der Seelen zur Sicherung der Wissenschaftlichkeit der Auslegungsergebnisse und dient sie dazu die Spannungen zu überwinden, in denen der Interpret in zeitlicher Dimension zu seinem Gegenstand steht? Zur Beant­ wortung dieser Fragen ist es erhellend, die Ausführungen Savignys über die Entstehung des Gewohnheitsrechts zu Rate zu ziehen, wie man sie im ersten Band vom „System des heutigen römischen Rechts“ finden kann. Denn um zu wissen wie etwas zu rekonstruieren ist, scheint doch das Wissen um den vorausgehenden Vorgang des Konstruierens nicht unwesentlich zu sein. a) Die Entstehung des Gewohnheitsrechts nach Savigny Es finden sich im „System“ mehrere Stellen, an denen Savigny auf das Gewohnheitsrecht und seine Entstehung eingeht17. Hier soll zunächst von seinen Ausführungen über die „Aussprüche der Römer über das Gewohnheitsrecht“18 ausgegangen werden. Nach diesen, so stellt Savigny dar, sei ein „Rechtssatz als begründet anzusehen, wenn er in langer, vieljähriger consuetudo erscheint, und der Grund seiner Gültigkeit ist der stillschweigende consensus des populus, also derer, die jenen Rechtssatz üben“19. Savigny hält nun diese Ausführungen für im Ganzen befriedigend, nicht jedoch die Folgerungen, die zum Teil daraus gezogen wurden. So übt er Kritik an dem Schluss, die Gewohnheit sei der Entstehungsgrund des Gewohnheitsrechts, im Wesentlichen, weil er es für falsch hält zu glauben, die Bildung des Gewohnheitsrechts sei der Willkür der Einzelnen unterstellt. Vielmehr sei die Übung, die consuetudo, nicht mehr als die sinnliche Erscheinung, das Mittel das Recht zu er­ kennen, nicht der Grund seiner Entstehung20. Dahinter steckt folgende Überlegung: Wenn sich etwas zeigt, dann zeigt sich damit noch nicht sein Grund. Die 17

Savigny, System I, S. 76 ff./144 ff. Savigny, System I, S. 144 ff. 19 Savigny, System I, S. 146. 20 Vgl. Savigny, System I, S. 146. 18

I. Hermeneutik zwischen Schleiermacher und Savigny

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Feststellung dessen, was geschieht, lässt die Frage nach seinem Ursprung gerade offen und fordert sie unmittelbar heraus. Nicht ohne Grund, so meint Savigny und fühlt sich in seiner Überzeugung bestätigt, dass die Übung nicht der Entstehungsgrund des Gewohnheitsrechts sei, werde „in mehreren Stellen die ratio, d. h. die gemeinsame unmittelbare Überzeugung von dem Daseyn und der Gültigkeit einer Rechtsregel als eigentlicher Entstehungsgrund, noch neben der Gewohnheit selbst genannt“21. Das Problem ist vergleichbar mit der Frage nach dem Entstehen des Allgemeinen aus dem Einzelnen und in dem Vergleich zeigt sich eine Besonderheit im Bereich des Rechtlichen. Wie kann es sein, dass aus der Erfahrung des Einzelnen die Motive der Vergleichbarkeit so heraustreten, dass es gelingt, das Einzelne unter dem Allgemeinen zusammenzufassen? Gadamer hat sich, wenn auch in einem anderen Zusammenhang mit der Frage auseinandergesetzt und ein Bild des Aristoteles herangezogen, an dem er offenbar großen Gefallen hatte, denn es kommt in seinen Schriften mehr als einmal vor. Es behandelt die Frage, ob das Allgemeine tatsächlich zustande kommt, indem das Einzelne eines nach dem anderen vorbeizieht und plötzlich an einem dieser „Einzelnen“ die Allgemeinheit festgemacht wird. Das Bild des Aristoteles ist das eines fliehenden Heeres. Irgendwann kommt es zum Stehen. Aber ab wann kann man davon sprechen? Nicht wenn der erste Soldat stehen bleibt. Auch nicht beim zweiten und nicht beim dritten. Wird man aber nun sagen wollen, dass das Heer erst steht, wenn der letzte Soldat zu fliehen aufgehört hat und wieder in die Ordnung zurückgekehrt ist? Wohl ebenso wenig. Trotzdem gelingt es das Allgemeine zu benennen, zu sagen, dass das Heer aufgehört hat zu fliehen, auch wenn noch nicht alle Soldaten in die Ordnung zurückgekehrt sind. Dass es irgendwann der Fall ist wird man sagen, aber eine bestimmte Zahl, eine Größe, wird niemand benennen können.22 Was heißt das für das Recht, wenn das Heer noch nicht steht, in dem Moment in dem der erste Soldat in die später erst entstehende Allgemeinheit getreten ist? Es heißt, dass der erste Soldat, der stehen bleibt, ein Teil eines fliehenden Heeres ist und das hieße nichts anderes, als dass zumindest die erste Entscheidung, die auf der Grundlage dessen ergeht, was man später in seiner Allgemeinheit als Gewohnheitsrecht erkennt, eben noch nicht auf der Grundlage des Rechts ergangen ist. Es gibt also in dem Moment noch keine Erscheinung der Allgemeinheit an der Vielheit des Einzelnen in der Erfahrung. Wenn man die Entstehung des Gewohnheitsrechts in der steten Übung, der Gewohnheit sieht, dann gründet es immer auf einem Fundament, das außerhalb des Rechts steht. Es gründet auf einer Entscheidung, die beliebig zu sein scheint. Die Überzeugungskraft, die das Ansehen des Richtigen hervorruft, kommt schließlich nicht aus der Art der Entscheidung, sondern aus ihrer Wiederholung, die letztlich nur durch die Einfachheit bedingt sein würde, die darin liegt, dass man etwas so entscheidet, wie das vor einem schon ein anderer getan hat. Dabei handelt es sich um ein Problem, das für die Rechts­ 21

Savigny, System I, S. 146 f. Gadamer, Mensch und Sprache, GW 2, S. 146 (150), sowie: Gadamer, Die Universalität des hermeneutischen Problems, GW 2, S. 219 (229). 22

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G. Historisches Bewusstein und Jurisprudenz

wissenschaften von einigem Gewicht ist. In der Lösung, die Savigny vorschlägt, findet sich ein Gedanke, der wichtig ist, um zu einer angemessenen Bewertung seiner Hermeneutik zu kommen. Die Frage der Entstehung des Gewohnheitsrechts stellt sich nämlich ganz anders dar, wenn man die Allgemeinheit des Einzelnen nicht in der äußeren Erscheinung, sondern in einer inneren Überzeugung sucht, welche die Erscheinung bedingt. In einem Konsens, der vor jeder ersten Entscheidung schon da ist, dessen Bildung nicht durch ebendiese erst angestoßen wird und in dem alle Glieder der Gemeinschaft geeint sind. Darin findet sich eine Allgemeinheit ganz eigener Art, die schon die erste Entscheidung auf der Grundlage dessen, was man später Gewohnheitsrecht nennen wird, im Bereich des Rechtlichen verortet. Genau solch einen Grundkonsens setzt Savigny voraus. Von großer Bedeutung ist dabei für Savigny, dass dieser Konsens nichts anderes bedeutet, als den Ausschluss der Willkür aus dem Prozess der Gewohnheitsrechtsentstehung. Das Gewohnheitsrecht kommt nicht hervor, so wie die Ontologie zur Hermeneutik der Faktizität gekommen ist23, aus einer Verlegenheit, die eine, wie auch immer geartete Entscheidung verlangt. Die Entscheidung als einzelne ist nicht Anstoß zur Konsensbildung, vielmehr ist der Konsens, „die aus innerer Nothwendigkeit übereinstimmende Gesinnung“24, der Ursprung der Entscheidung im Einzelnen und damit ihrer vorgängig. Das Geheiß, das zu-tun, dessen was getan wird, kommt nicht aus dem Tun. Savigny hat ganz Recht, wenn er diese Vorgängigkeit des Konsenses betont, denn wie sich zeigen wird, bringt seine Erklärung der Entstehung des Gewohnheitsrechts nicht nur den Vorteil der Fundierung im Recht mit sich. Nur sie vermag darüber hinaus zu erklären, wieso das Gewohnheitsrecht überhaupt Gegenstand des Verstehens und damit der Akzeptanz durch andere Normanwender sein kann. Für die an dieser Stelle behandelten Fragen insbesondere interessant ist die Ausweitung des consensus, die Savigny in zeitlicher Richtung vornimmt. Demnach ist „der populus, dem dieser consensus zugeschrieben wird, nicht sowohl die Gesammtheit der in Tribus und Centurien in irgend einem Zeitpunct eingeschriebenen Bürger, als vielmehr die ideale, durch alle Generationen fortdauernde, Römische Nation, die in den verschiedensten Verfassungen stets als dieselbe gedacht werden kann.“25

Es gibt also bei Savigny eine auf zwei Achsen verlaufende Verbundenheit z­ wischen all denen, die das Recht betrifft. In historischer Hinsicht verbindet das, was er die Nation nennt, die, denen das Recht in Überlieferung als Aufgabe des Verstehens und Anwendens aufgegeben wurde. In gesellschaftlicher Hinsicht verbindet den Bürger dieser (römischen) Nation eine übereinstimmende Gesinnung, aus der heraus das Gewohnheitsrecht erst entstehen konnte, eine „gemeinsame 23

Dazu oben unter „Die Hermeneutik der Faktizität“ [D. I.]. Savigny, System I, S. 147. 25 Savigny, System I, S. 147. 24

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Volksüberzeugung“, die den „hohen Grad an Gewissheit“26 ausmacht, der das Urteil über Gewohnheitsrecht auszeichnen soll. Diese Ausführungen Savignys über die Verbundenheit in einer gemeinsamen Volksüberzeugung sind nicht zufälliger Natur. Sie erscheinen im „System“ an mehreren Stellen. So heißt es an anderer Stelle, dass man den „festen Kern […] eines jeden positiven Rechts“ in dem „gemeinsamen Bewußtsein des Volkes“27 zu suchen hat und die äußerliche Erscheinung, die in der regelmäßigen Übung liegt, lediglich der Schwäche abzuhelfen bestimmt ist, dass dieses Volksbewusstsein für uns unsichtbar bleibt28. Es handelt sich dabei um eine Grundüberzeugung Savignys, die nicht nur im „System“ an verschiedenen Stellen erscheint, sondern darüber hinaus schon im „Beruf“29 erkennbar ist, die Lehre vom Volksgeist. b) Die Lehre vom Volksgeist Die Lehre vom Volksgeist erscheint im „System“ auch im Zusammenhang mit der Frage nach der Entstehung der Gesetze im Allgemeinen, weist also über den speziellen Fragenkreis der Gewohnheitsrechtsentstehung hinaus30. Allein diese Tatsache wirft ein Licht auf die Bedeutung dieser Lehre für das Denken Savignys und auf ihre mögliche Bedeutung für die Rechtswissenschaften. Die Frage nach der Entstehung der Gesetze beginnt im „System“ zunächst mit einer negativen Abgrenzung. So hält es Savigny für falsch, zu glauben, der Entstehungsgrund des Rechts liege in so etwas wie menschlicher Willkür, Überlegung oder Weisheit31. Auch bei der Betrachtung des Rechts im Allgemeinen will Savigny also innere Notwendigkeiten am Werke sehen und er meint dementsprechend, es sei „eine unzweifelhafte Thatsache, daß überall, wo ein Rechtsverhältniß zur Frage und zum Bewußtseyn kommt, eine Regel für dasselbe längst vorhanden, also jetzt erst zu erfinden weder nöthig noch möglich“32 sei. Das Subjekt nun, worin dieses Recht sich finden lässt, ist das Volk. Der Ursprung seiner Entstehung ist das ihm eigene Bewusstsein, der alle umfassende Volksgeist33. Dabei ist das Volk keine Zufallsgemeinschaft. Nach Savignys Darstellung hätte eine solche gar nicht die Möglichkeit Recht zu erzeugen, denn würde man sich den Erzeuger des Rechts als eine Mehrzahl von Menschen denken, die das Recht nur aus dem Grund der Sicherung der äußeren Freiheit jedes Einzelnen erschaffen, ja gleichsam erfinden solle, dann bliebe unerklärlich, woher zu 26

Savigny, System I, S. 147. Savigny, System I, S. 35. 28 Vgl. Savigny, System I, S. 35. 29 Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. 30 Vgl. Savigny, System I, § 7 „Allgemeine Entstehung des Rechts“, S. 13. 31 Vgl. Savigny, System I, S. 13 f. 32 Savigny, System I, S. 14. 33 Vgl. Savigny, System I, S. 14. 27

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dem Bedürfnis der Sicherheit durch das Recht die Möglichkeit seiner Erzeugung komme34. Es geht hier um das Problem, dem sich Vertreter von kontraktualistischen Gesellschaftstheorien ausgesetzt sehen, dass die Übereinkunft ihre Möglichkeit schon voraussetzt und sich damit immer schon überholt haben muss35. Die Möglichkeit durch Setzung von Recht Freiheit des Einzelnen zu erzeugen muss also in einem Grundkonsens schon angelegt sein, der nicht als ein äußerlicher gedacht werden darf, sondern jedem Einzelnen, der zu umfassenden Gesellschaft schon innewohnen muss. Ein Vertragsschluss setzt die Möglichkeit sich zu einigen voraus, dass heißt die Einigkeit über die Möglichkeit sich zu einigen. Es muss also nach Savigny so etwas geben, wie eine „geistige Gemeinschaft […], die sich durch den Gebrauch derselben Sprache sowohl kund giebt, als befestigt und ausbildet“36 und damit zu dem Bedürfnis nach der Erschaffung von Recht die Kraft dazu hinzutreten lässt37. Die Annahme, dass es nicht die einzelnen Glieder des Volkes sind, die das Recht erzeugen, soll noch durch die Überlegung gestützt werden, dass es in einem solchen Falle doch sehr unwahrscheinlich sei zu einem Recht zu kommen, welches dasselbe Recht für alle ist, und nicht „ein sehr mannichfaltiges“38. Hier stößt man auf den oben angesprochenen Umstand, dass die Erklärung die Savigny für die Entstehung des Gewohnheitsrechts liefert vorzugswürdig erscheint, weil es damit aus dem Recht entsteht und nicht aus der Willkür, und darüber hinaus die wahrgenommene Akzeptabilität des neugeschöpften Rechts nur so erklärbar ist. Es handelt sich dabei also keineswegs bloß um eine rechtswissenschaftliche Wunschvorstellung. Im Gegenteil ist es so, dass tatsächlich die Rechtsschöpfung, wenn man sie als voraussetzungslosen Vorgang versteht, ihre Nachvollziehbarkeit verliert. Ähnlich wie die Entwicklung der Sprache weder dem Zufall noch der freien Wahl des Einzelnen entspringt, sondern „aus der Thätigkeit des in allen Einzelnen gemeinsam wirkenden Volksgeistes“ entsteht, soll das Recht erzeugt werden aus einer basalen Verbundenheit. Savigny will darin eine echte Analogie erblicken, die sich noch über weitere „Eigenthümlichkeiten der Völker“39 erstreckt40 und er hat ganz Recht damit, dass ebenso wenig wie eine Sprache verstanden werden kann, die sich der Sprechende frei geschaffen hat, das Recht nicht auf Verständnis stoßen kann, wenn der Richter nicht Mittel verwendet, die ihn mit dem Adressaten seines Urteils verbinden. Damit stellt sich ­Savigny ganz ausdrücklich gegen die These, das Recht könne wörtlich genommen „erzeugt“ werden. Seiner Meinung nach war es immer schon da, bevor es in Gesetze und Urteile gegossen wurde. Deutlicher noch als im „System“ wird das im „Beruf“. 34

Vgl. Savigny, System I, S. 18 f. Savigny äußert dies und seine damit zusammenhängende Ablehnung der Theorie von der Staatengründung durch Vertrag ausdrücklich. Vgl. Savigny, System I, S. 29. 36 Savigny, System I, S. 19. 37 Vgl. Savigny, System I, S. 19. 38 Savigny, System I, S. 14. 39 Savigny, System I, S. 15. 40 Savigny, System I, S. 15. 35

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Dort heißt es, es sei von jeher die Überzeugung des Großteils der Juristen gewesen, alles Recht entstünde aus Gesetzen. Der Gegenstand der Rechtswissenschaft seien damit nur die „ausdrücklichen Vorschriften der Staatsgewalt“41, die beliebig wechselnden Inhalts sein könnten. Savigny teilt diese Ansicht nicht. Er glaubt, dass Erscheinungen wie Sprache, Sitte und Verfassung, ebenso wie das bürgerliche Recht „kein abgesondertes Daseyn haben“, sondern „einzelne Kräfte und Thätigkeiten“42 des einen Volkes seien. Dabei sind sie in der Natur untrennbar verbunden und nur in unserer Anschauung erscheinen sie als besondere Eigenschaften43. Weiter heißt es, dass das, was diese Kräfte zu einem Ganzen verbinde, „die gemeinsame Ueberzeugung des Volkes sei, das gleiche Gefühl innerer Nothwendigkeit, welches allen Gedanken an zufällige und willkührliche Entstehung ausschließt“44. Man darf sich das nun nicht so vorstellen, als trage jedes einzelne Mitglied eines Volkes eine Sammlung von Regeln in sich. Vielmehr lebt das Recht im Volk in der „lebendigen Anschauung der Rechtsinstitute in ihrem organischen Zusammenhang“45. Erst da, wo das Rechtsinstitut aus dem organischen Zusammenhang heraustreten muss, wo es gilt, „sich der Regel in ihrer logischen Form bewußt zu werden“, werde diese durch einen „künstlichen Prozess aus jener Totalanschauung gebildet“46. Die Parallelen zu den Ausführungen zur Entstehung des Gewohnheitsrechts sind überdeutlich und in der Tat ist für Savigny dem tieferen Sinn seiner Lehre entsprechend die Entstehung der Gesetze nur ein Sonderfall zur Entstehung des Gewohnheitsrechts47. So verläuft die Verbundenheit des Rechtserzeugungssubjektes Volk in Beziehung auf die Entstehung des Rechts im Allgemeinen ebenso in zwei Richtungen. Zur gleichzeitigen Verbundenheit kommt eine historische Dimension hinzu. Wieder dient Savigny eine Analogie zur Sprache zur Verdeutlichung der geistigen Einheit des Volkes in dem Teil seiner Verbundenheit, der das Recht ausmacht. Denn das Recht ist in zeitlicher Richtung in steter Entwicklung und Fort­ bildung, ebenso wie die Sprache. Der Volksgeist muss also als ein sich ständig wandelnder gedacht werden, 41 Vgl. Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, in: Politik und Neuere Legislationen. Materialien zum „Geist der Gesetzgebung“, S. 218. 42 Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, in: Politik und Neuere Legislationen. Materialien zum „Geist der Gesetzgebung“, S. 219. 43 Vgl. Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, in: Politik und Neuere Legislationen. Materialien zum „Geist der Gesetzgebung“, S. 219. 44 Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, in: Politik und Neuere Legislationen. Materialien zum „Geist der Gesetzgebung“, S. 218. 45 Savigny, System I, S. 16. Zum Begriff des Rechtsinstituts und dem des „organischen Zusammenhangs“ bei Savigny sowie zu den damit zusammenhängenden Problemen vgl. Wilhelm, Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert, S. 17 ff. 46 Savigny, System I, S. 16. 47 Dies in dem Sinne, dass das Gesetz eine Ableitung aus Sitte und Volksglauben ist, von wo auch das Gewohnheitsrecht seinen Ursprung nimmt. Vgl. Savigny, Beruf, S. 222 (13 f. in der Originalpaginierung).

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„denn wie in dem Leben des einzelnen Menschen kein Augenblick eines vollkommenen Stillstandes wahrgenommen wird, sondern stete organische Entwicklung, so verhält es sich auch in dem Leben der Völker, und in jedem einzelnen Element, woraus dieses Gesammtleben besteht.“48

Man könnte nun meinen, dass damit das Recht, wenn es einmal aus dem Volksgeist in die Erkenntnis geraten ist, gleichsam mit den Anschauungen der Gegenwart erstarrt, sobald diese für eine neue Zeit Vergangenheit geworden ist. Aber dem ist nicht so. Nach Savigny gibt es eine zeitliche Verbindung in der Nation, die es ermöglicht das Recht zu erhalten: „Wenn wir aber das Volk als eine natürliche Einheit, und insofern als den Träger des positiven Rechts betrachten, so dürfen wir dabei nicht blos an die darin gleichzeitig enthaltenen Einzelnen denken, vielmehr geht jene Einheit durch die einander ablösenden Geschlechter hindurch, verbindet also die Gegenwart mit der Vergangenheit und der Zukunft. Diese stete Erhaltung des Rechts wird bewirkt durch Tradition, und diese ist bedingt und begründet durch den nicht plötzlichen, sondern allmähligen Wechsel der Generationen.“49

Die Erkenntnis des Rechts ist also bei Savigny in erster Linie eine Erkenntnis von innen. Dort, wo seine äußere Erscheinung zu seiner Erkenntnis herangezogen wird, wird damit nur einer Schwäche desjenigen abgeholfen, der nicht „selbst zu den Gliedern der Genossenschaft“ gehört, „in welcher das Volksrecht entstanden ist und sein fortdauerndes Leben führt“50. Für jeden, der dieser Genossenschaft angehört, bedarf es keiner äußeren Erscheinung zur Erkenntnis des Rechts. Es lebt in jedem einzelnen Glied dieser Genossenschaft51. Dementsprechend nimmt auch die Gesetzgebung nur eine Art notarieller Funktion wahr und dient dazu dem Recht „ein äußerlich erkennbares Daseyn zu geben“, was nötig werden kann, um „Irrthum und bösen Willen“52 zu bannen und so die Willkür aus der Erkenntnis des Rechts zu entfernen. Dabei ist aber folgerichtig das Gesetz nichts anderes als das in Schrift und Wort Substanz gewordene Volksrecht. Gleichgültig, welcher Art die Staatsverfassung ist, die oberste Staatsgewalt, deren Recht es ist Gesetze zu erlassen, steht nicht außerhalb des Volkes, sondern mitten in ihm53. Dementsprechend lebt der Volksgeist in jeder denkbaren Form eines Gesetzgebers, mag dieser eine einzelne Person sein oder eine Personenmehrheit.

48

Savigny, System I, S. 17. Savigny, System I, S. 20. 50 Savigny, System I, S. 38. 51 Savigny, System I, S. 38. 52 Savigny, System I, S. 38 f. 53 Vgl. Savigny, System I, S. 39 f. 49

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c) Rekonstruktion der Fundamente – Das unbestimmte Bestimmende in der Hermeneutik Savignys Mit den Ausführungen zur Auffassung Savignys davon, wie Recht entsteht, sollte etwas Licht darauf geworfen werden, was es heißt, wenn Savigny feststellt, die Auslegung von Gesetzen sei „die Reconstruction des dem Gesetze inwohnenden Gedankens“ und es gelte dazu, „sich in Gedanken auf den Standpunkt des Gesetzgebers zu stellen“. Dabei handelt es sich um Auffassungen, die sich nicht nur im „System“ niedergeschlagen haben, sondern von Savigny seit 1802 bis zur Abfassung des „Systems“ und seiner Veröffentlichung im Jahre 1840 immer wieder geäußert wurden54. Um sich die Rekonstruktion eines Gesetz gewordenen Gedankens vorzustellen ist es hilfreich, sich die Umstände seiner ursprünglichen Konstruktion zu verdeutlichen. Nach der Auffassung Savignys entstehen Gesetze nicht, indem Konflikte, also regelungsbedürftige Verhaltensweisen, innerhalb einer Gesellschaft einer Lösung zugeführt werden, die immer auch anders hätte ausfallen können. Vielmehr war das Recht eines Volkes immer schon da und in ihm lebendig wie seine Sprache. Mithin zeigt sich eine erste gedankliche Schwierigkeit, denn wie kann man sich die Re-konstruktion von etwas vorstellen, das nicht konstruiert wurde, sondern immer schon da war? Ist Rekonstruktion damit die Wiederherstellung der Entstehung oder die erneute Herstellung? Damit wird ein neues Licht geworfen auf die Einschätzung Gadamers im Hinblick auf Savignys Hermeneutik. Gadamer hatte Schleiermacher zum Vorwurf gemacht, mit der Fokussierung auf das Erforschen der Umstände der ursprünglichen Herstellung des hermeneutischen Gegenstandes, die sachliche Wahrheit zu vernachlässigen und damit die Hermeneutik in eine Sackgasse zu führen. Nun wird deutlich, dass sich diese Kritik nicht auf Savigny übertragen lässt und dieser die juristische Hermeneutik nicht auf Abwege, sondern nur auf Umwege geführt hat, denn das, was Savigny gefordert hat, kann man bei Kenntnis seiner Rechtsentstehungslehre nicht als Forderung nach der Erforschung der Umstände der Entstehung der Gesetze verstehen, sondern nur als erneutes Entstehenlassen. Nur folgerichtig und kaum zufällig, heißt es in der oben zitierten Formel vom Hineinversetzen, es gelte das Gesetz gedanklich „von Neuem“ entstehen zu lassen. Man wird schließlich aus Savignys Rechtsentstehungslehre, der Lehre vom Volksgeist, schließen können, dass sich Savigny den Problemen, die für Schleiermacher bestimmend gewesen sind, überhaupt nicht ausgesetzt sah, denn es gibt kein „dunkles Du“, wenn ein allumfassender Geist Eingebundenheit der Individuen in ein gemeinschaftliches Urverständnis erzeugt. Damit dient das Hineinversetzen bei

54 Nachweise bei Rückert, Savignys Hermeneutik – Kernstück einer Jurisprudenz ohne Pathologie, in: Schröder, Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie, S. 287 (314).

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Savigny mitnichten der Überwindung der Grenzen der Subjektivität, denn die Subjektivität ist selbst über die Teilhabe der Individuen an einem allumfassenden Geist begrenzt. Zeichnet man den Weg nach, den der Interpret geht, wenn er sich in den Gesetzgeber versetzt, dann ergibt sich folgendes Bild: Das zu interpretierende Gesetz ist nichts anderes als die seitens des Gesetzgebers in Worte gefasste immer schon da gewesene rechtliche Grundverbundenheit des Volkes, an der jedes einzelne Glied desselben Teil hat. Zu diesen Gliedern gehört nicht weniger der Teil des Volkes, der dazu berufen ist, professionell den Inhalt der Gesetze zu bestimmen55. Im Zusammenhang mit den Fragen der Entstehung des Gewohnheitsrechts hieß es, dass seine Entstehung nicht der Willkür des Einzelnen untersteht, sondern Ausdruck einer inneren Notwendigkeit ist. Nichts anderes kann für die Interpretation von Gesetzen gelten. So wie das im Volk lebende Recht aus seiner organischen Form heraustreten muss, wenn es gilt, „sich der Regel in ihrer logischen Form bewußt zu werden“, diese also zur Anwendung kommen zu lassen, und sie durch einen „künstlichen Prozess aus jener Totalanschauung gebildet“56 wird, so wie der Gesetzgeber innerhalb der Nation steht und nur das schon vorhandene Volksrecht zum Inhalt des Gesetzes machen kann, so obliegt dem Interpreten einer Norm nichts anderes, als den in ihm lebenden Geist des Volkes in Anschlag zu bringen, wenn er ein Gesetz verstehen will. Der Weg den Savigny der Interpretation gewiesen hat ist deshalb nichts anderes als ein Umweg, weil er den Interpreten über den eigenen Geist im Fremden auf sich selbst zurückweist. Das Recht wird damit zu so etwas wie einem Existenzial im Heideggerschen Sinne, es erscheint wie eine Grundbestimmung des Daseins. Das Dasein ist weltlich, es ist geschichtlich, es ist sprachlich und es ist rechtlich. Wenn man die Formel vom Hineinversetzen also mit Savignys Rechtsentstehungslehre verbindet, dann gilt es für den Interpreten im Gesetz den Geist des Volkes zu suchen, den er selbst in sich trägt. Was wäre das Befragen des Geistes, den der Interpret in sicht trägt über das Hineinversetzen in den Anderen nun anderes, um ein Wort Heideggers zu benutzen, als das Gehen im Kreise? Das Verstehen dessen, was da steht, müsste also schon bei Savigny vielmehr als das Gespräch der Seele mit sich selbst verstanden werden, als welches Platon das Denken bezeichnet hat, denn als das Aufschlüsseln der Fremdheit in der Subjektivität des Anderen. Eine der für Savigny bedeutendsten Feststellungen war bei alldem, dass das Recht weder willkürlich, noch zufällig entsteht. Wie sinnvoll mag es wohl sein, den Willen dessen zu erforschen, der gar nicht willkürlich gehandelt hat? Wenn das Recht auf derart festen Fundamten ruht, so können sich diese nicht rekonstruieren lassen, da jede Annäherung an das Recht das gleiche feste Fundament als Standpunkt voraussetzen muss. Wenn also „die psychologische Interpretation für 55

Vgl. Savigny, System I, S. 39. Savigny, System I, S. 16.

56

II. Entstehen und Verstehen

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die Theorienbildung des 19. Jahrhunderts – für Savigny, Boeckh, Steinthal und vor allem Dilthey – die eigentlich bestimmende“57 gewesen ist, dann ist sie für Savigny als eigentlich bestimmende unbestimmt geblieben. II. Entstehen und Verstehen Es hat sich also gezeigt, dass die Art, wie die Gesetze laut Savigny ent­stehen, mit der Art, wie sie verstanden werden, nur schwer zusammengedacht werden kann. Aber vielleicht war es etwas vorschnell, die beiden Lehren miteinander zu verbinden. Schließlich wird die Volksgeistlehre, so durchdrungen das „System“ davon sein mag, von Savigny nicht auf seine Interpretationslehre übertragen. Warum, so fragt Meder, bleibt die Volksgeistlehre in der Interpretationslehre ausgeklammert58? Seine Antwort lautet, Savigny habe aus „typologischen Gründen“59 den Volksgeist der Rechtsentstehung vorbehalten. Nun wird man nicht gerade behaupten können, dass die Savignyschen Theorien an Plausibilität gewönnen, wenn man annimmt, der Volksgeist wirke nur im Bereich der Rechtsentstehung. Was sollte das für ein Volksgeist sein, der einem Rückschlagventil gleichend, Erkenntnis nur in eine Richtung fließen lässt? Fasst man den Prozess des Entstehens der Gesetze von ihrem Verstehen getrennt, dann ergibt sich folgendes Bild: Der Gesetzgeber bildet eine Regel aus einem in ihm lebenden Sinn für das, „was Recht ist“. Kennzeichnend dafür ist, dass dieser Sinn in allen Teilen der Volksgemeinschaft genau so lebt wie in dem, der aus ihm heraus die Regel extrahiert hat. Und nun soll der Sinn für das Recht, wie er gerade auch in dem lebt, der das Recht anzuwenden hat, keine Rolle spielen? Wie, so muss man sich vor allem fragen, sollte das vonstattengehen, wenn das Entstehen des Rechts mit seinem Verstehen zusammenfällt? Genau das ist doch das Merkmal, welches die Regeln des Gewohnheitsrechts gegenüber denen des geschriebenen Rechts zuerst auszu­zeichnen scheint. Man kann sich, wenn man darum weiß, wie musterhaft das Entstehen des Gewohnheitsrechts für die gesamte Rechtsentstehungslehre ist, nur sehr schwer vorstellen, dass Savigny diesen Schnittpunkt zwischen Entstehen und Verstehen übersehen haben soll. Und in der Tat er hat ihn sehr deutlich gesehen. Genau da, wo es um das tatsächliche Entstehen des Gewohnheitsrechts geht, macht Savigny selbst deutlich, dass man das Verstehen nicht davon trennen kann. Es heißt an der besagten Stelle: „Wenn wir von dem Beweise eines Gewohnheitsrechts in praktischer Beziehung reden, so denken wir dabey an einen Rechtsstreit, worin eine Partey jenes Recht für sich geltend macht; wir fragen, wie der Richter zur Überzeugung von demselben gelange. Eine befriedi 57

Gadamer, WM, S. 190. Vgl. Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 135 ff. 59 Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 137. 58

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G. Historisches Bewusstein und Jurisprudenz

gende Antwort auf diese Frage ist aber nur möglich, wenn wir zuvor die allgemeinere Frage untersuchen, wie überhaupt (ohne Rücksicht auf einen Richter) die Erkenntniß von dem Daseyn und Inhalt eines Gewohnheitsrechts entstehe. Denken wir zunächst an die Mitglieder derjenigen Genossenschaft, in welcher das Gewohnheitsrecht entstanden ist, und fortdauernd wirkt (§ 7. 8.) [60] , so beantwortet sich die Frage von selbst; ihre Erkenntniß ist eine unmittelbare, da das Wesen des Rechts eben auf dem gemeinsamen Rechtsbewußtseyn dieser Mitglieder beruht.“61

Natürlich wird man einwenden können, Savigny habe sich hier explizit nur zur Erkenntnis des Gewohnheitsrechts geäußert, aber wiederum muss man daraufhin fragen, ob das die Theorie eher stützen oder schwächen würde, denn es ist hin­ reichend deutlich geworden, wie parallel die Entstehung von Gesetz und Gewohnheitsrecht nach Savignys Theorie verläuft. Zuzugeben ist aber sicherlich, dass die Verbindung, die Savigny hier herstellt, in ihrer äußeren Form nicht ihre Bedeutung widerspiegelt. Gibt es nun einen Grund, warum Savigny Entstehen und Verstehen nicht konsequent miteinander verbunden hat? Einen solchen Grund gibt es und er ist recht leicht zu formulieren: Savigny hat seine Rechtsentstehungslehre nicht mit seiner Hermeneutik62 verbunden – in­sofern hat Meder recht – weil sie sich schlicht nicht miteinander verbinden lassen. Mit der Lehre vom Volksgeist ist Savigny einen großen Schritt zurück geschritten, in eine Zeit lange vor dem Sündenfall des Zweifels. Sie ist geprägt von Begriffen wie „Gewissheit“63 und „Unmittelbarkeit“64. Die Frage nach dem Entstehen des Rechts ist gerade keine Frage mehr danach, was in uns geschieht, sondern verweist uns an einen allumfassenden Geist, der, wenn man ihn ernst nimmt, über aller Erkenntnis des Rechts steht. Darin scheint nicht weniger zu liegen als eine Verschiebung der Planetenordnung. Die kopernikanische Wende erfährt eine Kehre. Das Rechtan-sich tritt aus dem Nebel der Erkenntnis in das Licht des Volksgeistes und damit zurück in die Sphäre der reinen Vernunft. Und dieser Schritt zurück zur Sicherheit der Erkenntnis macht die Hermeneutik überflüssig. Nicht ohne Grund hat sie ihren großen Aufschwung nach Kant erfahren. Wozu bedarf es Regeln des Verstehens, wenn die Anschauung des Verstehensgegenstandes so unmittelbar ist und von einer solchen Sicherheit geprägt, wie Savigny sie in Bezug auf die Erkenntnis

60 Die Überschriften zu den Paragraphen, auf die Savigny hier verweist, lauten: „Allgemeine Entstehung des Recht“ (§ 7) und „Volk“ (§ 8) und behandeln die Entstehung des Rechts aus dem Volksgeist in dem oben dargelegten Sinne. 61 Savigny, System I, S. 181 f. 62 Gemeint ist hier wiederum in erster Linie die normative Hermeneutik des Hineinver­ setzens. 63 Savigny, System I, S. 147, wo es heißt: „Die Richtigkeit dieser Erklärung (der Erklärung der Geltung des Gewohnheitsrechts aus dem Volksgeist und nicht aus der Übung) zeigt sich zuvörderst in dem hohen Grad an Gewißheit, der als Grundcharacter des Gewohnheitsrechts angegeben wird.“ Zwar zitiert Savigny hier die Aussprüche der Römer über das Gewohnheitsrecht, aber es ist doch eindeutig, dass er mit dieser Einschätzung übereinstimmt. 64 Savigny, System I, S. 38.

III. Die Gemeinsamkeit im Gemeinsamen

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dessen, was Recht ist, darstellt? Es ist diese „Typologie“, die eine Verbindung von Entstehen und Verstehen, also von Hermeneutik und Rechtsentstehungslehre, bei Savigny verhindert hat. „Denn die geistige Realität der Sprache ist die des Pneuma, des Geistes, der Ich und Du eint. Die Wirklichkeit des Sprechens besteht, wie man seit langem beachtet hat, im Gespräch. In jedem Gespräch aber waltet ein Geist, ein böser und ein guter, ein Geist der Verstockung und des Stockens oder ein Geist der Mitteilung und des strömenden Austausches zwischen Ich und Du.“65

III. Die Gemeinsamkeit im Gemeinsamen Dabei hat die Lehre vom Volksgeist etwas Wahres an sich, allerdings auch etwas Einseitiges. Aber sie betont etwas, das ausgerechnet für die Auseinander­ setzung Gadamers mit Schleiermacher von entscheidender Bedeutung ist. Es gibt also tatsächlich eine Gemeinsamkeit zwischen Gadamer und Savigny. Diese Gemeinsamkeit ist nichts anderes als die Betonung des Gemeinsamen, das alles Verstehen erst ermöglicht. Es war eine der Pointen der philosophischen Hermeneutik Gadamers, dass die Möglichkeit der Mitteilung darin liegt, dass man als Teil nur an etwas teilhat, das einem nie ganz allein gehört. Wenn wir verstehen, dann geschieht etwas mit uns. Das ist damit gemeint, wenn es heißt, dass die „geistige Realität der Sprache“ die des Pneuma ist, die Ich und Du eint66. Das Wesen des Verstehens liegt darin, dass man nur verstehen kann, was man immer schon verstanden hat. Jedem Verstehen liegt etwas voraus, das es ermöglicht und begrenzt: etwas, das zwischen denen liegt, die etwas verstehen und denen, die etwas zu verstehen aufgegeben haben67. Das, worum es hier geht, ist insbesondere im Zusammenhang mit der Frage nach den Vorurteilen im Verstehen und der Vorhersehbarkeit von Gerichtsentscheidungen dargelegt worden. Die Erfahrung des Verstehens ist nicht nur die der Fremdheit, sondern auch die der Vertrautheit. Der Vorgang des Verstehens ist nicht nur der einer Begegnung mit dem Neuen, Unerwarteten. Es ist ein Vorgang

65

Gadamer, Mensch und Sprache, in: GW 2, S. 146 (151). Man bedenke, dass man das griechische Wort πνευµα mit „Geist“ übersetzen kann. 67 Dieses Zwischenmenschliche des Verstehens findet seine theoretische Rechtfertigung in der ursprünglich-existenzialen Verbundenheit des Daseins mit dem mit-seiend Daseienden. Ganz vereinfacht ausgedrückt kann man sagen, dass das Dasein, so wie es sich nie ohne Welt begegnet, in der es „ist“, auch immer schon im Modus des Mit-seins ist. Vgl. Demmerling, Hermeneutik der Alltäglichkeit und In-der-Welt-sein, in: Rentsch, Klassiker Auslegen. Martin Heidegger. Sein und Zeit, S. 89 (93). 66

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G. Historisches Bewusstein und Jurisprudenz

der Korrektur der Erwartung an dem Neuen. Es ist die Korrektur des verstehensleitenden Vorurteils an der Sache selbst. Und etwas davon ist der Volksgeistlehre zugrunde gelegt. Es heißt im „System“: „Die Willkühr der Einzelnen könnte vielleicht zufällig dasselbe Recht, vielleicht aber, und wahrscheinlicher, ein sehr mannichfaltiges erwählen“68. Von dem gleichen Gedanken geht Savignys Ablehnung des Kontraktualismus aus. Es gilt sich zu erinnern, dass Savigny betonen wollte, dass zu der Notwendigkeit einer Einigung ihre Möglichkeit vorausgedacht werden muss. Das Befremden und das Gefühl des Absurden, welche durch Kafkas „Prozess“ hervorgerufen werden, können vielleicht verdeutlichen, was damit gemeint ist. Dieses Befremden ist ja nichts anderes als die Enttäuschung einer Erwartung, die über das erträgliche Maß hinausgeht. Und dieses Befremden ist genau das, was die eigentliche Faszination und das Besondere dieses Prozesses ausmacht. Wäre tatsächlich jeder Prozess eine solche Erfahrung der Fremdheit, wie sollte der Prozess Kafkas das Gefühl der Befremdung hervorrufen? Die Möglichkeit des Absurden hängt damit überhaupt von den Voraussetzungen des Verstehens ab, so wie die Möglichkeit der Erfahrung von Willkür. Und genau in diesem Sinne hängt die Erfahrung des Missverstehens davon ab, dass wir zunächst verstehen. Von dem Schleiermacherschen grundsätz­ lichen Missverstehen aus betrachtet wird das Missverstehen mangels Bezugsgröße unscharf69. Es ist also tatsächlich so, dass das Recht, wenn es die Möglichkeit haben soll Akzeptanz zu finden, in den Raum dessen gestellt werden muss, was der Erwartung nicht vollständig zuwiderläuft. Hier wirkt in der Tat ein verbindendes Glied. Das Volk bei Savigny ist eine Gemeinschaft in Kultur und Geist durch eine gemeinsame Bildung. Volk ist ein „idealer Kulturbegriff“70, eine Grundverbundenheit und wie die exemplarische Herausstellung der Sprache für die Formung dieser Eingebundenheit des Einzelnen zeigt, in ersten Ansätzen auch schon so etwas wie eine innere Kommunikationsgemeinschaft. Der Volksgeist ist das verbindende Glied der Individuen, er ist intersubjektiv und transtemporal. Damit ist im Volksgeistgedanken bei Savigny das spezifisch juristische Moment der Verbundenheit der Individuen gefunden, das jede Hermeneutik voraussetzen muss, die die Annahme des Verstehens nicht grundsätzlich aufgeben will. Die Gemeinsamkeit zwischen Gadamer und Savigny liegt also in der Feststellung dieser Eingebundenheit, denn dem Hinweis, dass das Recht, ohne die Voraussetzung des Volksgeistes, wohl eher ein mannigfaltiges wäre, liegt genau dieser Gedanke zugrunde: Dass das Verstehen voraussetzt, dass bei der Schöpfung seines Gegenstandes Mittel verwendet werden, die eine Verbindung zum Verstehenden herzustellen geeignet sind. Es ist gerade nicht das überwältigende uneingeschränkte Gefühl der Fremdheit, das uns überkommt, wenn wir uns den Rechtstexten zuwenden, die, wie es die Situation 68

Savigny, System I, S. 14. Vgl. Tietz, Hans-Georg Gadamer. Zur Einführung, S. 151. 70 Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 393.

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III. Die Gemeinsamkeit im Gemeinsamen

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für Savigny war, teilweise durch Jahrhunderte der Überlieferung gefärbt wurden. Der Savignysche Volksgeist ist das spezifische juristische Vorverständnis, das alles Verstehen des Rechts überhaupt erst ermöglicht. Dementsprechend kommt in Savignys Schriften die Voraussetzung des Missver­ ständnisses als Ursprung des Verstehens einer strengen Praxis, wie es für Schleier­ machers Hermeneutik entscheidend ist, nicht vor71. Das ist nur konsequent, denn mit der Voraussetzung des vorgängigen Volksgeistes, ist es nicht möglich den Verstehensvorgang vom Missverständnis aus zu erklären. Betont damit Savigny nicht zurecht einen Umstand, der tatsächlich erstaunen lassen muss, nämlich dass die Texte der „alten Juristen“ durch die Angemessenheit an ihren Gegenstand einen Grad an Überzeugungskraft erreichen, der es in der Tat als berechtigt erscheinen lässt von dem, zwar schwachen, aber immerhin doch von dem Zwang des besseren Argumentes, zu sprechen? Die Texte sind uns also nicht ganz fremd und nur so können wir sie überhaupt verstehen. Allerdings war eingangs auch davon die Rede, die Volksgeistlehre habe etwas Einseitiges an sich. Denn tatsächlich sind uns die Texte nicht nur nicht ganz fremd, sie sind uns auch nicht ganz vertraut. Nur so können wir überhaupt von Verstehen sprechen. In dem eben dargelegten Sinne ist genau diese Erkenntnis der Grund gewesen für die Bedeutung, welche die Hermeneutik in der Folge der kantischen Vernunftkritik gewonnen hat. Das heißt, es ist wirklich so, dass ein Geist zwischen Ich und Du steht, der das Verstehen vermittelt, aber es ist „ein böser und ein guter, ein Geist der Verstockung und des Stockens oder ein Geist der Mitteilung und des strömenden Austausches zwischen Ich und Du“72. Das Verstehen dessen was richtig ist, ist durch Ungewissheit ausgezeichnet und genau dies hat es ermöglicht, Gedanken der aristotelischen Ethik auf das Verstehen des Rechts zu übertragen. Vielleicht war Savigny sich des Widerspruchs, den die Volksgeistlehre in ihrem Verhältnis zur hermeneutischen Anweisung des Hineinversetzens bedeutet nicht bewusst, aber er hat durchaus gesehen, dass die Volksgeistlehre in der von ihm vertretenen einseitigen Form einige Schwierigkeiten birgt, wenn auch an anderer Stelle. Denn ebenso wenig, wie es Regeln des Verstehens bedarf, wenn es ein reines Urverständnis gibt, das im Verstehenden lebt, bedarf es nach dieser Vor­ stellung überhaupt einer Quelle des Rechts in Textform. Dementsprechend muss die Gesetzgebung in ihrer Notwendigkeit eigens begründet werden, ebenso wie überhaupt jeder Rekurs auf die Quellen. Savigny hat eine solche Begründung versucht. Es ist jedoch fraglich, ob man diese Begründung für folgerichtig im Verhältnis zum Rest seiner Theorien halten darf. Es zeigt sich darin, dass Savigny gesehen hat, dass es den besagten Geist des Stockens geben muss, der sich ebenso in 71 Auch bei Rückert, der die Gemeinsamkeiten zwischen Savigny und Schleiermacher aufgezeigt hat, taucht das Missverständnis als Ausgangspunkt des Verstehens nicht auf. Siehe Rückert, Savignys Hermeneutik – Kernstück einer Jurisprudenz ohne Pathologie, in: Schröder, Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie, S. 287. 72 Gadamer, Mensch und Sprache, in: GW 2, S. 146 (151).

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G. Historisches Bewusstein und Jurisprudenz

jeder Situation des Sprechens und damit des Verstehens zeigt, wie der gute Geist des Austauschs. So schreibt er: „Selbst wenn das positive Recht die höchste Sicherheit und Bestimmtheit hätte, so könnte dennoch Irrthum oder böser Wille seiner Herrschaft sich zu entziehen versuchen. Dadurch kann es nöthig werden, ihm ein äußerlich erkennbares Daseyn zu geben, durch dessen Macht jede individuelle Meynung beseitigt und die wirksame Bekämpfung des ­unrechtlichen Willens erleichtert wird.“73

Dabei wäre mit dem Gedanken des möglichen Irrtums im Rahmen der Er­ kenntnis des Volksrechts eigentlich der Schritt zur Vagheit dieses Vorganges vollzogen. Savigny vollzieht ihn nicht. Im Übrigen war sich Savigny sogar der Schwierigkeiten bewusst, die das Verstehen der Überlieferung uns bereitet, so heißt es im „System“: „Von der Art, wie die Römischen Juristen auf die Fortbildung des Rechts einwirkten (nicht auf die bloße Erkenntnis desselben), wird es uns schwer eine richtige Vorstellung zu er­ langen, weil es so natürlich ist, die Anschauung unsrer Zustände unvermerkt in jene durchaus verschiedene Zeit zu tragen.“74

Man könnte hier darauf verweisen, dass Savigny eine Auffassung von der Vergangenheit erst dann für richtig zu halten scheint, wenn sie von den Vorstellungen der eigenen Gegenwart gereinigt ist. Die Reinheit der geschichtlichen Erkenntnis aber ist nicht der Punkt, um den es Savigny hier geht. Insgesamt erscheint der Umstand bemerkenswerter, dass ihm damit insgesamt die „Spannung zwischen dem ursprünglichen und dem gegenwärtigen Sinn“ zumindest nicht vollständig un­bewusst geblieben ist. Sicherlich wird man sagen müssen, dass dieses Problem nicht das für ihn bestimmende gewesen ist, aber es wirft doch ein anderes Licht auf Savigny, eines, welches Gadamers Urteil erneut als nur zum Teil berechtigt erscheinen lässt. Dabei ist der wichtigste Punkt noch nicht genannt. IV. Bewusstsein der Wirkungsgeschichte und wirkungsgeschichtliches Bewusstsein Bisher ist offen geblieben, was es nun genau auf sich hat, mit dem historischen Bewusstsein in der Jurisprudenz. Ein wesentliches Anliegen des Unternehmens „Wahrheit und Methode“ war es für Gadamer zu zeigen, dass es für den verstehen­ den Menschen keinen Ausweg aus seiner geschichtlichen Situation gibt. Das genau war die Antwort Gadamers auf die Probleme Diltheys. Hier wird sich nun zeigen, was genau die Verbindung zwischen diesen Problemen – bei denen es ja ausdrücklich um das historische Verstehen ging – und dem Verstehen in den Rechts­ wissenschaften ist.

73

Savigny, System I, S. 39. Savigny, System I, S. 84.

74

IV. Bewusstsein der Wirkungsgeschichte

163

Alle Versuche die eigene Bedingtheit – die eine Bindung an die uneinhol­baren Vorgaben der Gewordenheit ist – zu überwinden, sind zum Scheitern verurteilt. Es ist eine der zentralen Feststellungen von Gadamers Hauptwerk, dass „der Fokus der Subjektivität ein Zerrspiegel“ ist. „Die Selbstbesinnung des Individuums“, so heißt es an gleicher Stelle, „ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens“75. Dabei muss der Zusammenhang betont werden, in den die „Selbstbesinnung des Individuums im geschlossenen Stromkreis“ mit dem „Fokus der Subjektivität“ gestellt wird, denn die Selbstbesinnung und die Be­ sinnung auf die Aufschlüsselung der Individualität des anderen versteht sich in der Entwicklung der Hermeneutik gerade als Antwort auf die Herausforderungen des historischen Verstehens. Das war schließlich die Antwort Diltheys. Das historische Bewusstsein war bei Dilthey eine „Weise der Selbsterkenntnis“76. Wer um die historische Bedingtheit weiß, wer das Bewusstsein ein bedingtes zu sein in sich trägt, dem stehen damit die Mittel der Überwindung zur Verfügung. Es gilt, sich von dem eigenen Standpunkt zu lösen, will man die Geschichte objektiv verstehen. Das heißt nichts anderes, als dass der Interpret der Geschichte die Situation, die ihn ausmacht verlassen soll und auch bei Dilthey fand sich eine Verpflichtung des Interpreten auf die Individualität des zu-Verstehenden. Nun hat sich gezeigt, dass genau dieser „Fokus der Subjektivität“ im Werk ­ avignys in gewissem Sinne einen Fremdkörper darstellt77. Zwar will Savigny den S Interpreten einerseits auf genau jene Aufschlüsselung der Subjektivität des Ver­ fassers eines Gesetzes verpflichten, aber er macht an anderer Stelle Voraussetzungen, die sich mit dieser Hermeneutik nicht in Einklang bringen lassen. Es geht nicht allein darum, einen Widerspruch in Savignys Werk entdeckt zu haben. Es ist schlicht eine falsche Vorstellung zu glauben, man könne das eigene Sein, das sich als Gewordenes auszeichnet, aus der Betrachtung herausreflek­ tieren. „Die Geschichte gehört nicht uns, sondern wir gehören ihr“78. Die Hermeneutik wird entscheidend verengt, wenn in ihr der Fokus auf die Meinung des Anderen gelegt wird, anstatt zu verdeutlichen, dass es Grundbedingung des Verstehens ist, sich in einer gemeinsamen Sache zu verstehen und dass sie an der Wahrheit ihrer Ergebnis orientiert sein muss, nicht an nur vermeintlich objektivierender Vorgehensweise79. Damit wird das Vorverständnis, welches aus den tragenden Gemeinsamkeiten der Individuen entspringt, zur ersten hermeneutischen Bedingung allen Verstehens und zu einem Ersatz für die Vorstellung von der Kommunion der Seelen80. Nicht sie, sondern die Anerkennung der Tradition, die 75

Gadamer, WM, S. 281. Vgl. Dilthey, Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, in: Gesammelte Schriften, VII. Bd., S. 191 (290 f.). 77 Nach dieser Darstellung wird man wohl tatsächlich schon die Frage, ob Savigny ein Anhänger der subjektiven Auslegung war, für wenig zielführend halten müssen. 78 Gadamer, WM, S. 281. 79 Vgl. Gadamer, WM, S. 299. 80 Vgl. Gadamer, WM, S. 299. 76

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G. Historisches Bewusstein und Jurisprudenz

Anerkennung dessen, was in uns hinein gesagt wurde und uns damit die Möglichkeit gibt, mit unserer Umwelt ins Gespräch zu kommen, vermag als Erklärung der Möglichkeit der Vermittlung der immer schon vorgefundenen Verbundenheit – in der Form der Mitteilung – mit der Andersheit und Fremdheit – mithin der Individualität des Anderen – zu dienen81. Die Individualität wird dabei nicht durch Vertrautheit und Zugehörigkeit aufgehoben, ebenso wenig, wie sie durch Einfühlung aufgeschlüsselt werden kann. Es bleibt Raum zwischen diesen beiden Polen: „In diesem Zwischen ist der wahre Ort der Hermeneutik“.82 Dies ist nicht allein eine Frage der Geschichte. Das damit von Gadamer betonte wirkungsgeschichtliche Bewusstsein, das er so treffend charakterisiert als „mehr Sein als Bewusstsein“, steht im Zusammenhang mit anderen Eingebundenheiten, wie „Familie, Gesellschaft und Staat“. Die Betonung des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins soll damit schließlich nicht weniger etablieren als das kritische Prinzip gegenüber allen kritischen Prinzipien. Damit muss dem Menschen klar sein, „in welchem Verhältnis die Vergangenheit zur Gegenwart steht und das Werden zum Sein“. So „giebt es kein vollkommenes einzelnes und abgesondertes menschliches Daseyn: v­ ielmehr, was als einzeln angesehen werden kann, ist, von einer anderen Seite betrachtet, Glied eines höheren Ganzen. So ist jeder einzelne Mensch nothwendig zugleich zu denken als Glied einer Familie, eines Volkes, eines Staates: jedes Zeitalter eines Volkes als die Fortsetzung und Entwicklung aller vergangenen Zeiten; und eine andere als diese Ansicht ist eben deshalb einseitig, und, wenn sie sich allein geltend machen will, falsch und verderblich. Ist aber dieses, so bringt nicht jedes Zeitalter für sich und willkührlich seine Welt hervor, sondern es thut dieses in unauflöslicher Gemeinschaft mit der ganzen Vergangenheit. Dann also muß jedes Zeitalter etwas Gegebenes anerkennen, welches jedoch nothwendig und frey zugleich ist; nothwendig, in so fern es nicht von der besondern Willkühr der Gegenwart abhängig ist; frey weil es eben so wenig von irgend einer fremden besonderen Willkühr (wie der Befehl des Herrn an seinen Sclaven) ausgegangen ist, sondern vielmehr hervorgebracht von der höheren Natur des Volkes als eines stets werdenden, sich ent­ wickelnden Ganzen. […] Die Geschichte ist dann nicht mehr blos Beyspielsammlung, sondern der einzige Weg zur wahren Erkenntniß unseres eigenen Zustandes. Wer auf diesem geschichtlichen Standpunkte steht, urtheilt ferner über das entgegengesetzte Verfahren also [83] . Es ist nicht etwa die Rede von einer Wahl zwischen Gutem und Schlechtem, so daß das Anerkennen eines Gegebenen gut, das Verwerfen desselben schlecht, aber gleichwohl möglich wäre. Vielmehr ist dieses Verwerfen des Gegebenen der Strenge nach ganz unmöglich, es beherrscht uns unvermeidlich, und wir können uns nur darüber täuschen, nicht es ändern.“84

81

Vgl. Gadamer, WM, S. 300. Gadamer, WM, S. 300. 83 Es ist hier das „ungeschichtliche Denken“ gemeint. Die Vorstellung der möglichen Absonderung des Seins vom Werden und der theoretische Grundgedanke der abgeschlossenen Epochen der Geschichte. 84 Savigny, Ueber den Zweck dieser Zeitschrift, in Zeitschrift für geschichtliche Rechts­ wissenschaft, Erster Band (1815) S. 1 ff. 82

IV. Bewusstsein der Wirkungsgeschichte

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Damit ist jeder Gedanke von einem zeitüberwindenden Hineinversetzen zu Zwecken des Verstehens von vorneherein abgewiesen. Die Geschichte als einziger Weg zur wahren Erkenntnis unseres Zustandes ist nichts anderes als Wirkungsgeschichte85: Das Gegebene beherrscht uns ganz unvermeidlich, wer das nicht anerkennt, der täuscht sich. Man kann dabei kaum behaupten, dass es noch eines besonderen Schrittes bedürfe, um von diesem Bewusstsein um die Wirkungs­ geschichte zur Anerkennung des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins zu gelangen. Umso erstaunlicher ist, dass der gesamte Absatz nicht von Gadamer stammt – die Orthographie lies es schon vermuten – sondern von Savigny86. Bis in feinste Details finden sich hier die von Heidegger geerbten Argumente Gadamers gegen die Versuche der klassischen Hermeneutik, den Interpreten auf das Einnehmen eines, seinem Gegenstand jenseitigen Maßstabes, zu verpflichten. Heidegger hat den Zusammenhang von Sein und Zeit schon in der „Hermeneutik der Faktizität“ in dem Sinne herausgestellt hat, dass das Sein ein zur-Zeit-Sein ist. Wenn auch Savigny diese Einsichten vielleicht in einem anderen Zusammenhang gewinnt, die Folge ist die gleiche wie die, die Gadamer betont. Es gibt kein Aufgeben des eigenen Standpunktes. Nur macht Savigny ein Vierteljahrhundert später mit seiner Einfühlungshermeneutik genau die Voraussetzungen, denen er mit der gerade zitierten Programmschrift der historischen Rechtsschule den Boden entzogen hatte. Das heißt, dass schon Savigny über einen Großteil des begrifflichen Instrumentariums verfügte, von dem aus Gadamer der Hermeneutik in „Wahrheit und Methode“ den Platz zugewiesen hat, der ihr gebührt, aber er hat es nicht zu diesem Zweck genutzt. Der geschichtliche Lebensbezug, wie ihn die historische Schule nicht ausreichend zu würdigen vermochte, ist bei Savigny, und zwar interessanter Weise in seiner Grundlegung des Programms der historischen RechtsSchule, voll erfasst. Die Geschichte ist hier für Savigny genau im Gadamerschen Sinne das „für die Gegenwart im Dunkel abbrechende Fragment“87 und sie ist eine „fortrollende Kette“88, ohne dass sich auf ihr die Epochen wie einzelne Perlen ausmachen ließen. Sie ist keine bloße Sammlung von Beispielen. Hier zeigt sich, dass das hermeneutische Problem tatsächlich in einem Sinne universell ist, der das Problem der Rechtswissenschaften einschließt. Savigny hatte zu Recht betont, dass das Recht, zumindest da wo es nicht bloß mit der Macht zu identifizieren ist, nicht einfach gemacht wird, genauso wenig wie die Geschichte. Das Recht ist immer schon da, lange bevor wir es verstehen, verstehen wir uns in ihm89, denn das Recht ist nichts anderes als einer der Fäden in dem Band, das als Geschichte in uns sein vorläufiges Ende gefunden hat. So wie der Mensch nicht Objekt seiner eigenen Herstellung sein kann, nicht von sich gemacht wird, sondern gewor 85

Vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 381 ff. Savigny, Ueber den Zweck dieser Zeitschrift, in Zeitschrift für geschichtliche Rechts­ wissenschaft, Erster Band (1815) S. 1 ff. 87 Gadamer, WM, S. 203. 88 Gadamer, WM, S. 203. 89 Vgl. Gadamer, WM, S. 281. 86

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G. Historisches Bewusstein und Jurisprudenz

den ist, so ist auch das Recht geworden, nicht gemacht90. Aber zurück zu Savigny. Woher kommt dieser Sinneswandel oder soll man überhaupt einen solchen annehmen? Man wird die gerade dargelegten Äußerungen Savignys zum Verhältnis von Sein und Werden nicht für bloße Zufallsprodukte halten können. Aber wie kann es sein, dass ­Savigny diese Widersprüche zu seiner Hermeneutik nicht gesehen und ausgeräumt hat? V. Der Volksgeist als politisches Argument Die Verbindung von Entstehen und Verstehen unterbleibt, weil Savigny mit der erkenntnistheoretischen Voraussetzung, die er durch die Einführung des Volksgeistes gemacht hat – und gemacht hat er sie – ursprünglich keine erkenntnistheoretische Voraussetzung machen wollte. Insofern war die Behauptung des erkenntnistheoretischen Rückschritts hinter Kant etwas vorlaut und bedarf der Korrektur. Es gilt daran zu erinnern, dass die Lehre vom Volksgeist zunächst und in erster Linie der politischen Argumentation gegen Legislationsbestrebungen dienen sollte. In der „Juristischen Methodenlehre“ spielt der Volksgeist noch keine Rolle91. Er wird erst da eingeführt, wo es darauf ankommt, deutlich zu machen, dass Savigny seine Zeit nicht für berufen hält, ein Gesetzbuch zu machen. Er meint, es fehle an einer technischen – als der juristisch-wissenschaftlichen Aus­ einandersetzung mit dem Recht – welche die Grundbegriffe des Rechts in Form einer juristischen Geometrie derart herausgearbeitet hat, dass es gelingen könne ein Gesetzbuch zu erarbeiten, welches die Anwendung auf den Einzelfall ermöglicht92. Denn Savigny war sich sicher, dass die Realität als Erzeugerin der Rechtsfälle, über ein so großes Maß an Phantasie verfügt, welches die Vorstellungskraft seiner Zeitgenossen nicht zu ermessen in der Lage gewesen wäre93. Für dementsprechend fatal musste er es halten, ein Gesetzbuch zusammenzuschreiben, ohne vorher im Rückgang auf die Gewordenheit der Rechtsregeln die Grundprinzipien des Rechts herauszuarbeiten, mit deren Handhabe allein die Formulierung allgemeiner Regeln des Zivilrechts möglich wäre. Die Schärfe, durch die sich ­Savignys Argumentation im „Beruf“ auszeichnet, hängt dabei wesentlich davon ab, dass der 90

Vgl. Wesenberg, Vorwort, in: Friedrich Carl von Savigny. Juristische Methodenlehre S. 7. 91 Vgl. das Vorwort von Wesenberg zu der von ihm herausgegebenen Ausgabe der „Juristischen Methodenlehre“. Wesenberg ist der Meinung, die Volksgeistlehre sei in diesem Frühwerk noch nicht voll entwickelt. Richtig ist, dass sie noch gar nicht vorkommt. 92 Vgl. Savigny, Beruf, S. 226/230. Die Seitenzahlen beziehen sich auf die Paginierung der Ausgabe von Akamatsu/Rückert. Nach der dort angegebenen Originalpaginierung wären dies die Seiten 22 f./29 ff. 93 Vgl. Savigny, Beruf, S. 226 [Originalpaginierung: 22 f.]. Nur am Rande sei erwähnt, dass man damit erneut eine Betrachtung des Rechts bei Savigny findet, die auch von Gadamer geäußert wird: Nämlich dass das Recht gegenüber der Wirklichkeit immer unvollkommen bleiben muss und es dementsprechend keine einfache Anwendung desselben geben kann.

V. Der Volksgeist als politisches Argument

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Volksgeist kein relativer ist. Das Argument, so wie Savigny es im „Beruf“ führt, wäre in der Form, in der es der Sache gerecht wird, die es bezeichnet, kaum noch ein taugliches Argument gewesen. Ursprünglich überwiegt im Gedanken vom Volksgeist also schlicht die Politik über die Hermeneutik. Die Geister, die Savigny rief, ist er dann nicht mehr losgeworden und es ist ihm nicht gelungen, die Volksgeistlehre aus der Einseitigkeit, die ihre Qualität in der Argumentation gegen Thibaut auszeichnet, zu befreien und so blieb sie isoliert neben seiner Hermeneutik stehen. Bei genauerem Hinsehen also zeigt sich, dass Gadamers Einschätzung hinsichtlich Savignys Hermeneutik einer Korrektur bedarf. Gadamer hat den Verlust der methodischen Eigenarten der Rechtswissenschaften beklagt, die er in ihrem Anwendungscharakter in einem aristotelischen Sinne sieht. Ebenso die damit ein­ hergehende Umbenennung von Rechtsgelehrsamkeit in Rechtswissenschaft94. Den Ursprung dieser Umbenennung, die mehr die Eigenart einer Umbestimmung hat, hat er in der Epoche und der Person Savignys verortet. Dazu wird man nun sagen müssen, dass dieser Übergang im Werk Savignys ein fließender war. Nimmt man Savigny beim Wort, dann finden sich in seinen Schriften einige Punkte, mit denen man vom Standpunkt Gadamers aus durchaus einverstanden sein kann. In ­Savigny herrschten neben dem Ideal der Wissenschaftlichkeit noch ganz andere Autoritäten, wie seine immer wieder geäußerte Bewunderung für den „practischen Sinn“ der römischen Juristen beweist. Dieser „practische Sinn“ erinnert doch, am Rechtsfindungsmodell der Römer orientiert und eingedenk der Savignyschen Rechtsentstehungslehre, sehr an den von Aristoteles in seiner überragenden Bedeutung herausgestellten Sinn des Einzelnen für das Tunliche. Aber das nur am Rande. Wichtiger erscheint es darauf hinzuweisen, dass in Savigny überhaupt Ideale herrschten, dass heißt, das er keineswegs allein ein Mann der Wissenschaft war, sondern auch ein Mann der Politik. Wenn Savigny im Bereich der Politik, in seiner Auseinandersetzung mit Thibaut um die Frage der Legislation, erkenntnistheoretische Argumente, also Fragen der Bedingungen, unter denen das Verstehen steht, ins Feld geführt hat, hat er dann nicht vielleicht auch im Bereich der Fragen, die die Bedingungen des Verstehens stellen, Politik machen wollen? Wenn also im Bereich der politischen Diskussion erkenntnistheoretische Voraussetzungen gemacht werden, werden dann nicht vielleicht auch im Bereich der Erkenntnistheorie politische Ziele verfolgt? Es sprechen gute Gründe dafür, dies anzunehmen. Im Bereich der Rechts­ wissenschaften ist die Frage der Ergründung der Autorintention keine Frage allein des Verstehens, sondern darüber hinaus eine Frage des Politischen. Die Rückbindung des Interpreten an den Willen des Autors ist in Fragen der Auslegung von Normen für eine Gesellschaft von ganz anderer Bedeutung als die Frage, 94 Vgl. Gadamer, Hermeneutik als theoretische und praktische Aufgabe, in: GW 2, S. 301 (310 f.).

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G. Historisches Bewusstein und Jurisprudenz

wie sehr der Interpret der Überlieferung dem gerecht wird, was im Gesagten aus­ gedrückt werden wollte. Wenn also Savigny über die Bindung des Gesetzesinterpreten an den Willen des Gesetzgebers schreibt, in dem Sinne, dass der Interpret sich in den Gesetzgeber zu versetzen habe, um die Norm von neuem entstehen zu lassen, dann ist das eine Frage der Erkenntnistheorie, bei der es nicht um Erkenntnistheorie geht. Vielmehr geht es darum, der Willkür der Auslegung Einhalt zu gebieten, also die Macht des Richters in Fragen der Steuerung der Gesellschaft zu begrenzen. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Wer die Bindung des Gesetzes­interpreten an den Willen des historischen Gesetzgebers betont und eine Unterwerfung unter ebendiesen Willen fordert, der unterschlägt die erkenntnistheoretischen Möglichkeiten des Verstehens der Vergangenheit und den tatsächlichen Vorgang der Normkonkretisierung – als umgekehrter Abstraktion im Wege der Auslegung anhand des aktuellen Falles – zugunsten des politischen Ziels der Gesetzesbindung zum Zwecke der Gewaltenteilung95. Wenn man bedenkt, wie deutlich Savigny die Probleme gesehen hat, die das Hineinversetzen in etwas fremdes mit sich bringen, dann erscheint es klar, dass er nicht nur den Volksgeist aus politischen Er­wägungen in die Diskussion eingeführt hat, sondern auch in seiner Hermeneutik, da wo es um das Aufstellen von Regeln des Verstehens geht, politische Ziele verfolgt hat, denen die tatsächlichen Bedingungen des menschlichen Verstehens, nämlich „dass man die Anschauung unsrer Zustände unvermerkt in jene durchaus verschiedene Zeit“96 trägt, zum Opfer gefallen sind. Savigny sah sich tatsächlich mit ganz anderen Problemen konfrontiert als Schleiermacher. Zwar heißt es auch in der Methodenlehre, „der Interpret müsse sich auf den Standpunkt des Gesetzgebers setzen“97, aber damit wird keineswegs die Maßgeblichkeit des Textes ge­opfert. Denn es heißt in dem Zusammenhang weiter: „Das Gesetz soll aber objektiv sein, d. h. sich selbst unmittelbar aussprechen, alle Prämissen der Interpretation müssen also im Gesetz selbst oder in allgemeinen Kenntnissen, z. B. historischen Sprachkenntnissen, liegen. Die Interpretation geht nun vor sich, wenn sich der Interpret auf den Standpunkt des Gesetzes [H.d.V.] stellt, allein nur, insofern dieser Standpunkt aus dem Gesetz selbst erkennbar ist. – Gewöhnlich sagt man, es komme bei der Interpretation alles auf die Absicht des Gesetzgebers an, allein dies ist nur halb wahr, es kommt nur auf die Absicht des Gesetzes an, insofern diese daraus erhellt.“98

Savigny hat also schlicht die theoretischen Konstruktionen von Autorrekonstruk­ tion und Volksgeist benutzt, und zwar dort wo sie – und in einer Art und Weise, wie sie – bestimmten verfolgten Zielen dienlich schienen. Eine theoretisch fundierte Rolle spielt die Vorstellung von der Autorrekonstruktion in der Hermeneutik Savignys nicht, aber auch die Volksgeistlehre wird von Savigny nicht zu ihrer 95 Siehe z. B. Bleckmann, Spielraum der Gesetzesauslegung und Verfassungsrecht, JZ 1995, S. 685 ff. der meint, ein breiter Spielraum vertretbarer Interpretationen stehe „zunächst in einem gewissen Gegensatz zum Gesetzesvorbehalt“ (S. 686). 96 Savigny, System I, S. 84. 97 Savigny, Methodenlehre, S. 19. 98 Savigny, Methodenlehre, S. 19.

V. Der Volksgeist als politisches Argument

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möglichen Bedeutung als Grundbedingung juristischen Verstehens entfaltet, weil sie ihren Zweck erfüllt hatte, in dem Moment, in dem sie als Argument gegen seiner Ansicht nach wenig durchdachte Bestrebungen der Legislation ins Feld geführt waren.99 Es zeigt sich bei alldem ein deutlicher, nämlich ein praktisch-politischer Unterschied zwischen der Situation des protestantischen Theologen Schleiermacher und des Juristen Savigny. Beide waren Forscher in normativen Wissenschaften, in denen es um das Verstehen von Texten geht100. Beide haben versucht die Willkür in der Auslegung zu zügeln und dem Interpreten Regeln an die Hand zu geben, die dem Verstehen das Maß der Richtigkeit bedeuten sollten – wobei man die Verpflichtung des Interpreten auf die Erforschung der Autorintention zumindest bei Savigny nicht ernst nehmen darf. Aber bei Schleiermacher dient die Richtigkeit der Interpretation gleichsam der Würde des Textes, denn sie ist selbst Zweck. Man bedenke, dass über die Reformation Luthers die Religion ihre gesellschaft­ liche Dimension insofern verloren hatte, als die Beziehung zu Gott nicht mehr über die Gemeinschaft der Gläubigen hergestellt, sondern dem Individuum überantwortet wurde. Allein die darin liegende gedankliche Möglichkeit, das Verstehen der Texte als die Sache des Einzelnen zu verstehen, stellt eine deutliche Differenz zwischen der Jurisprudenz und der reformierten Theologie dar, denn die Auslegung der Gesetze hat immer einen unvermittelten gesellschaftlichen Bezug. Interpretation von Gesetzen, wenn sie sich richtig versteht, geschieht nie in der Zurückgezogenheit des Individuums und sie wirkt, insofern das Gesetz alle gleich anspricht eben ohne die Vermittlung über den vielleicht nur zufälligen Gleichgang der Interpretation der Einzelnen, immer direkt auf die Gesellschaft. Im Ergebnis heißt das nichts anderes, als das Gadamers Urteil über Savigny schlicht vorschnell und falsch ist. Die Gedanken die Gadamer hinter der von ihm zitierten Stelle aus dem „System“ vermutet hat, haben für Savigny keine Rolle gespielt. Aus der nachlässigen Verwendung der Formel vom Hineinversetzen bei Savigny lässt sich schließen, dass es ihm tatsächlich nur um die Bekämpfung willkürlichen Umganges mit den Gesetzen ging, in dem Sinne in dem Willkür hier beschrieben wurde. Ob dies über eine Rückbindung an den Willen des historischen Gesetzgebers oder über eine proklamierte enge Bindung an die Texte zu verwirklichen sein würde war nicht die Frage Savignys.

99 In dem Zusammenhang sei beiläufig bemerkt: Soll man denn wirklich glauben, Savigny habe gemeint, das Abstraktionsprinzip aus dem Volksgeist herausgeholt zu haben, wo die Juristen seit mehr als einem Jahrhundert – mit nur sehr mäßigem Erfolg – versuchen es in den Volksgeist hinein zu bekommen? 100 Schleiermacher ging es, wie oben dargelegt, darüber hinaus um das Verstehen auch des gesprochenen Wortes.

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G. Historisches Bewusstein und Jurisprudenz

VI. Subjektive Theorie und historische Bedingtheit Zwei der Voraussetzungen, die Savigny gemacht hat, standen hier zur Unter­ suchung. Es ging einerseits um die Rechtsentstehungslehre, die Lehre vom Volksgeist, in der Savigny eine erkenntnistheoretische Voraussetzung macht, die man schlicht machen muss, wenn man die Voraussetzung der Möglichkeit des Verstehens nicht gänzlich aufgeben will: Die Begrenzung der Individualität, des Subjektiven, durch ein Element der Verbundenheit. Insofern ist Savigny durchaus zuzustimmen. In der Volksgeistlehre Savignys ist damit schon angelegt, was Gadamer und Heidegger über die Eingebundenheit der Individuen in Welt und Zeit als Voraussetzungen des Verstehens im Begriff des Vorverständnisses fixiert haben. Die andere Voraussetzung, und von ihr aus hat die Untersuchung ihren Ausgang genommen, war die des Hineinversetzens des Interpreten in den Gesetz­geber zum Zwecke der Nachkonstruktion des Entstehungsvorganges der zu interpretierenden Norm. Es schien zunächst so, als solle die Interpretation nach Savigny so und nur so vonstattengehen, wenn sie den neu aufgekommenen Ansprüchen der Wissenschaftlichkeit genügen wollte. Wie sich gezeigt hat, ist die Anweisung der Nachkonstruktion bei Savigny kein theoretisch fundiertes Element der Hermeneutik. Damit erscheint das weit verbreitete Urteil, Savigny habe seine Hermeneutik von Schleiermacher übernommen, im Hinblick auf die psychologische Interpretation genauso falsch wie berechtigt. Dass die Formulierungen von „Nachkonstruktion“ und „Hineinversetzen“ als Vorschriften des Verstehens genuin von Savigny stammen erscheint im Kontext seiner Lehren äußerst unwahrscheinlich. Im Umkehrschluss wird man davon ausgehen können, dass er sie übernommen hat. Wenn aber mit dem Urteil, Savigny habe seine Hermeneutik Schleiermachers Arbeiten zu verdanken, auch ein inhaltliches Übereinstimmen beider festgestellt sein will, so hat sich diese Bewertung der Hermeneutik Savignys zumindest in Bezug auf die psychologische Interpretation als falsch erwiesen. Das Reden von „hineinversetzen“ und „nachkonstruieren“ wird man bei Savigny also für eine Reminiszenz an den Zeitgeist halten müssen. Verstehen nimmt seinen Ausgang nicht von einem Geist, der von allen Voraussetzungen, von allen Erwartungen, schließlich, von allen Vorurteilen bereinigt ist. Das Licht, das ins Nichts fällt, vermag nichts zu erhellen. Nur wer etwas er­wartet kann etwas verstehen, nur wer Vorurteile in Bezug auf den Verstehensgegenstand in sich trägt kann demselben etwas abgewinnen. Letztlich ließ sich dieser Gedanke in der Volksgeistlehre Savignys ausweisen. Die Vorurteile sind also positiv, insofern sie das Verstehen ermöglichen. Gleichzeitig aber begrenzt diese Erkenntnis den Anspruch der Reinheit des Verstehens, denn die Vorurteile, um die es hier geht, sind gerade nicht solche, die man sich selbst vollständig durchsichtig machen könnte. Dieses Durchleuchten der Vorurteile ist selbst ein Vorgang des Verstehens. Es unterliegt genau den Bedingungen, zu deren Beseitigung es durchgeführt werden soll. Das heißt, es ist möglich, aber begrenzt. Wer verstehen will, so hat sich damit gezeigt, kann sich nie ganz hinter sich lassen.

VI. Subjektive Theorie und historische Bedingtheit

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Damit kollidieren hier zwei Möglichkeiten, das Verstehen zu betrachten. Die Möglichkeit, die Gadamer gewählt hat, war gemäß der philosophischen Nachfolge in der er stand, die der Deskription. Es ging ihm darum, am Verstehen selbst aufzuweisen, was es heißt. Nicht was es soll stand zur Frage, sondern was es ist. Da­ gegen hat Savigny – zumindest mit manchen seiner Aussagen – den anderen Weg gewählt, den der Präskription. Die Hermeneutik Savignys ist, kulminierend im Satz vom Hineinversetzen, normativ. Das Setzen von Regeln wirft nun zwei Fragen auf. Zunächst wird man wohl fragen dürfen, warum denn der Vorschrift zu folgen sei. Das heißt aber immer schon, dass mit dem Setzen von Vorschriften Ziele verfolgt werden. In Bezug auf die hermeneutische Voraussetzung des Hineinversetzens ist das Ziel bereits benannt. Es geht um die Begrenzung des Einflusses des Interpreten auf das Interpretationsergebnis. Die zweite Frage, die sich nun unmittelbar daran anschließen muss, ist die, ob mit der Vorschrift denn der verfolgte Zweck überhaupt zu erreichen sein wird und genau dies ist bezüglich der Voraussetzung der Begrenzbarkeit der Interpretationswillkür durch die Verpflichtung auf die Erforschung der Autor­intention nicht der Fall. Das führt zurück zu der oben abgebrochenen Diskussion um objektive und subjektive Theorie im Recht. Es ist selten geworden, dass jemand die subjektive Theorie vertritt, vielleicht gerade weil sich die Rechtswissenschaften dem Wesen nach, das ihnen hier nachgewiesen wurde, gegen eine solche Theorie sperren101. Sieht man sich an, in welcher Form die Diskussion geführt wird, dann wird sehr schnell eine Vermutung bestätigt, die sich aus dem gerade erörterten speist. In der Dis­kussion werden die Voraussetzungen unter denen das Verstehen nach dem hier Dargelegten steht, außer Acht gelassen zugunsten von politischen Voraussetzungen. Es ist das Gebot der Gewaltenteilung, das in dem Kontext als Argument ins Feld geführt wird. Vereinfachend gesagt heißt es: Die Gesetze mache der Gesetzgeber, ihre Interpretation habe sich an seinen Willen zu halten. Aber diese enge Bindung des Interpreten an den Willen des Gesetzgebers übersteigt die mensch­ lichen Möglichkeiten. Es ist ein Staat für die Götter, in dem der Richter ohne Einsatz seiner eigenen Vorverständnisse, ohne Veranschlagung der Vorurteile seiner Zeit, seiner Welt, nur das tut, was der Gesetzgeber schon vor ihm gewollt hat. Jede Interpretation einer Norm, jede Anwendung derselben bedeutet nichts anderes, als sie in Entsprechung zu der Situation zu bringen, die ihre Bedeutung hat fraglich werden lassen. Wer das übersieht, der übersieht tatsächlich die zeitliche Spannung, in der Interpret und Verfasser, Interpretation und Text zueinander stehen. Das Erforschen der Intentionen des Gesetzgebers vermag die Vagheit der Inter­ pretation nicht zu begrenzen, sie verschiebt sie nur auf ein anderes Feld, denn auch die Wertungen, die Voraussetzungen und die Ziele der Gesetzgebung verlangen 101 Man findet in den einschlägigen Lehrbüchern nicht selten die Behauptung, die subjektive Methode werde heute nicht mehr vertreten, nun zumindest wird sie wieder vertreten. Siehe Rüthers, Methodenrealismus in Jurisprudenz und Justiz, JZ 2006, S. 53 ff.

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G. Historisches Bewusstein und Jurisprudenz

nach einer Interpretation. Mit Regeln des Verstehens ist die Subjektivität der Interpretation, ihre Eingeschränktheit in ihrer Vielfältigkeit nicht einzuholen, weil auch die Regeln des Verstehens nur so gut sind wie ihr Anwender. Ein bedroh­ licher Relativismus?102 Mitnichten, denn es geht hier nicht um die Relativierung des Absoluten, sondern um das Aufweisen der Relativität einer sich selbst absolut verstehenden Voraussetzung. Die Möglichkeiten der Gewaltenteilung folgen aus den hier erörterten Voraussetzungen des Anwendens von Normen, nicht umgekehrt. Die Welt richtet sich nicht nach unseren Gesetzen, wir haben uns nach ihren zu richten. Eine zugegebenermaßen naive Feststellung. Umso erstaunlicher, dass man sie ausdrücklich treffen muss, findet man doch tatsächlich den Hinweis, die Jurisprudenz sollte „die Versuche aufgeben, sich einfach an eines der aktuellen erkenntnistheoretischen Systeme anzuschließen, die ohne oder jedenfalls ohne zureichende Beachtung ihrer Bedürfnisse (sic!) entwickelt wurden“103. Der Versuch, die Bedingtheit der Normanwendung über die Rückbindung an den Willen des Gesetzgebers zu überwinden scheint dabei etwas vorauszusetzen, das hier ganz ausdrücklich bestritten worden ist, nämlich die mangelnde Bindung der Entscheidung durch die Rechtstexte. Nur wer diese Voraussetzung macht und sich dadurch, dass er sich dazu der Mittel der Kommunikation in Schrift und Wort bedient, schon selbst widerlegt hat, der wird überhaupt eine Notwendigkeit sehen, die Texte auf einem anderen Wege gegen Willkür abzusichern. Dabei hat sich gezeigt, dass die Richtigkeit der Methode und die Richtigkeit ihrer Anwendung nur von dem richtigen Ergebnis aus denkbar ist, das ebendiese Richtigkeit an der Bedeutung der Texte selbst und an der Angemessenheit ihrer Bestimmung an die Bedingungen der Situation erweisen muss. Dies ist vielleicht die Kernaussage von „Wahrheit und Methode“: Die Richtigkeit der Entscheidung in der Situation des Zweifels bestimmt sich nicht aus dem Weg zu ihr, sondern aus ihrer Richtigkeit.

102

Vgl. Gadamer, Replik zu „Hermeneutik und Ideologiekritik“, in: GW 2, S. 251 (262). Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 61.

103

Schlussbemerkungen Die Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaften gründet nicht auf einem methodischen Vorgehen, durch das für Alle – und für alle Zeiten – feststehende Ergebnisse geschaffen werden. So wie Gadamer für die Geisteswissenschaften nachgewiesen hat, dass sie ihren Platz viel eher in der praktischen Philosophie haben, als in den modernen, methodischen Wissenschaften, so gilt dies auch für die Rechtswissenschaften. Das Verständnis der modernen Wissenschaften nur von der Idee der Methode her hat sich als ein Missverständnis herausgestellt. Dabei handelt es sich um eine Erkenntnis, die der juristischen Hermeneutik mittlerweile seit gut einem halben Jahrhundert zur Verfügung steht, sich gleichwohl noch nicht durchgesetzt hat. Der Grund dafür, dass sich die Rechtswissenschaften so beharrlich dagegen sträuben den Platz einzunehmen, der ihnen gebührt, liegt zunächst sicherlich in der aus dem Wissenschaftsbegriff entlehnten Ehrwürdigkeit des Umgangs mit dem Recht unter dem Anspruch einer „strengen Praxis“. Es gibt, wie hier gezeigt wurde, aber noch einen anderen Grund für das Beharren auf methodischem Vorgehen: Es ist die Vorstellung von einer idealen Gewaltenteilung zwischen Gesetzgeber und Rechtsanwender, die den Rechtsanwender vom Vollzug eines eigenen Urteils über richtiges oder falsches Ergebnis in der Rechtsfindung entbindet. Gibt man die Vorstellung von der methodisch-szientistischen Vorgehensweise in den Rechtswissenschaften auf, so scheint damit jede Möglichkeit der Bindung des Richters an das Gesetz verloren. Wenn die Entscheidung über den Einzelfall, nicht in einem methodisch-nachvollziehbaren Verfahren aus der Norm gewonnen wurde, sondern aus der praktisch-juristischen Klugheit des Richters stammt, kann man dann noch behaupten, der Gesetzgeber schaffe eine Norm, die der Richter nur anwendet? Das kann man in der Tat nicht. Der Richter wendet nicht „nur“ an. Er ist als Teil des Verstehensvorgangs von Normen immer in den Prozess der Urteilsfindung involviert. Wenn das Gesetz bestimmt, dass für die Gefahren gehaftet werden muss, die mit dem Betrieb von Eisenbahnen zusammenhängen, dann hat es immer noch der Richter in der Hand über eine Bestimmung dessen, was eine Eisenbahn ist, die Haftung im Einzelfall zu begründen oder auszuschließen. Wenn der Gesetzgeber festschreibt, dass für einen Diebstahl mit Waffen eine höhere Strafe auszuurteilen ist als für einen „einfachen“ Diebstahl, dann liegt es über die Möglichkeit und Notwendigkeit der Bestimmung im Einzelfall, was denn eine Waffe ist, immer noch in der Hand des Richters, auf die höhere Strafe zu erkennen oder den Qualifikationstatbestand für nicht erfüllt zu erachten. Keine Methode, sei sie an einem objektiven oder subjektiven Methodenziel orientiert, kann dem Richter die Verantwortung über diese Entscheidung im Einzelfall abnehmen.

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Schlussbemerkungen Schlussbemerkungen

Die juristische Hermeneutik, die sich bis heute dazu verpflichtet fühlt Regeln des Verstehens auszuarbeiten, hat folglich bei Savigny den falschen Anknüpfungspunkt gewählt. Die von ihm aufgestellten Regeln der Norminterpretation weisen der juristischen Hermeneutik den Weg in die falsche Richtung, denn das Bedürfnis der Begrenzung von Willkür im Normanwendungsprozess vermögen sie letztlich nur scheinbar zu befriedigen. Weder leistet der Kanon der Interpretations­regeln eine Vorhersehbarkeit des Urteils, noch lässt sich durch eine Rückbindung des Interpreten an den Willen des Normgebers das Ergebnis der Anwendung in einem Sinne vorherbestimmen, der eine Teilhabe, ein „dazu-tun“ des Rechtsanwenders in der Anwendung ausschließen würde. Dabei hätte es bei Savigny einen Ausgangspunkt für ein richtiges Verständnis der Möglichkeiten einer juristischen Hermeneutik gegeben, aber auch er selbst hat es nicht als solches erkannt. Savigny hat die Möglichkeiten des menschlichen Verstehens zugunsten der Bedürfnisse einer sich wissenschaftlich-unwillkürlich verstehenden Rechtswissenschaft vernachlässigt, wie dies die juristische Methodenlehre – man mag sie auch juristische Hermeneutik nennen – noch immer praktiziert. Einer juristischen Hermeneutik, die sich richtig versteht, müsste es nicht mehr darum gehen Regeln des Verstehens aufzustellen, sondern auszuweisen, wie sich das Verstehen vollzieht, so wie das nach der philosophischen Hermeneutik Gadamers für die Hermeneutik im Ganzen gilt. Es muss der Hermeneutik vorgängig um die Frage gehen, was das menschliche Verstehen leisten kann, unter welchen Voraussetzungen es mithin steht. Erst mit einem Wissen um diese Voraussetzungen lässt sich die Frage danach, was das Verstehen leisten soll überhaupt sinnvoll stellen. Die Möglichkeit einer zutreffenden Beschreibung des Verstehensvollzugs in den Rechtswissenschaften, im Hinblick auf seine Möglichkeiten und Grenzen, ist schon bei Savigny angelegt, in seiner Lehre vom Volksgeist. Volksgeist ist, als verbindendes Glied zwischen den Individuen, als Begrenzung der Individualität schlechthin, nicht viel anderes als das Gadamersche Vorverständnis im Verstehen: Es ist ein Moment der Zugehörigkeit. Savigny hat mit dieser Lehre einen ersten Hinweis darauf gegeben, dass Verstehen überhaupt nur dann möglich ist, wenn man das, was es zu verstehen gilt, immer schon verstanden hat. Er hat ganz Recht, wenn er betont, dass es im Falle einer „unbedingten“ Genese des Rechts sehr unwahrscheinlich sei zu einem Recht zu kommen, welches dasselbe Recht für alle ist, und nicht „ein sehr mannichfaltiges“1. Damit gilt für das Recht dasselbe, was nach Gadamer für jeden anderen Verstehensgegenstand auch gilt. Verstehen von etwas, als ein freischwebendes Verhalten dazu, gehört nicht zu den Fähigkeiten des begrenzten Wesens Mensch. Dieser positive Anknüpfungspunkt wird wohl aus mehreren Gründen in der juristischen Hermeneutik bisher nicht hinreichend wahrgenommen. Zum einen hat 1

Savigny, System I, S. 14.

Schlussbemerkungen Schlussbemerkungen

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Savigny ihn sehr versteckt gegeben, an einer Stelle, deren Zusammenhang zu den Fragen der Hermeneutik auch er selbst nicht verdeutlicht hat und zweitens wird man einer juristischen Hermeneutik, der es darum geht in einem falschen Verständnis ihrer Wissenschaftlichkeit zur politisch-staatlichen Vorgabe der Gewaltenteilung beizutragen, für derartige Bestimmungen der Voraussetzungen des menschlichen Verstehens erst die Ohren öffnen müssen. Dabei liegt der Lehre vom Volksgeist eine Erkenntnis zugrunde, die sich eignet einen Ersatz zu liefern für die Vorstellung, eine Teilung der Gewalten sei nur über ein methodisch-nachvollziehbares Vorgehen des Richters im Prozess der Rechtsfindung zu erlangen. Die Teilung der Gewalten vollzieht sich vielmehr über die Zugehörigkeit der Normanwender wie der Normadressaten zu einer Gemeinschaft in Sprache und Herkommen und über eine Ordnung, die darüber wacht, dass der Richter die „Anstrengung der Auslegung“ wirklich unternimmt. Denn auch wenn es ihm obliegt, im Urteil über den Einzelfall, die Begriffe zu bestimmen, die das Gesetz ihm zur Bestimmung überantwortet hat, so ist er, solange er gegenüber der besagten Gemeinschaft Rechenschaft schuldig ist, in seinem Urteil nicht vollständig frei. Jedes Urteil, das die „Anstrengung der Auslegung“ unternimmt, zielt schließlich darauf ab, eine Erklärung für das gefundene Ergebnis zu finden, die es vertretbar erscheinen lässt und bindet damit die Möglichkeiten der Begriffsbestimmung an die Überzeugungen der Gemeinschaft. Das Gebot der Gewaltenteilung verwirklicht sich folglich nicht über eine methodische Rück­bindung des Richters an das Gesetz, sondern über eine Teilnahme der Öffentlichkeit an den Prozessen der Gesetzesbestimmung. So wie im Rahmen des individuellen Ver­ stehens nur die „Offenheit“, des Interpreten das Ergebnis der Auslegung vor Willkür zu schützen vermag, nicht dass er seine persönlichen Einstellungen ganz ausblende, so wird sich der Schutz vor einer willkürlichen Anwendung des Rechts nur über die Öffentlichkeit der Rechtsfindung herstellen lassen2. Öffentlichkeit wird damit zum obersten Gebot der Gewaltenteilung, die folglich keineswegs aufge­ geben werden muss, wenn einmal festgestellt ist, dass sie über eine Bindung des Interpreten an das Gesetz durch ein nur scheinbar methodisches Vorgehen nicht zu erreichen ist. Was man in diesem Zusammenhang schon von Savigny lernen kann, ist der Umstand, dass es nicht sein kann, dass der Richter ganz unabhängig und frei mit der Bestimmung der Texte umgegangen ist, wenn sich herausstellt, dass er mit seiner Bestimmung verstanden wird. Ein Ergebnis, das über die Frage nach Möglichkeiten und Grenzen der Gesetzgebung gefunden wurde, aber auch im Rahmen der Rechtsfindung am festgeschriebenen Gesetz seine Geltung hat. Ebenso wenig wie der Mensch sich die Sprache, die er spricht und in der er denkt einfach ausgedacht hat, kann er mit ihr freischöpfend verfahren. Sie gehört nie ihm ganz allein, sondern ist als Mittel der Kommunikation, dass heißt als etwas Geteiltes, immer auch im Besitz der Anderen. In dem Wort „mitteilen“ steckt bezeichnen 2

Vgl. Gadamer, WM, S. 273.

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Schlussbemerkungen Schlussbemerkungen

derweise das Wort „teilen“. Wäre die Sprache nicht etwas Geteiltes, sie könnte ihren Zweck nicht erfüllen. Für die Schöpfung von Recht gilt dementsprechend, dass es sich im Rahmen dessen bewegen muss, was verstanden werden kann, in seiner Konstruktion ebenso wie in der aktualisierenden Konkretisierung an dem zu entscheidenden Fall. Genau darin liegt die Gadamersche Feststellung begründet, dass das Verstehen überhaupt nur deshalb möglich ist, weil es begrenzt ist und genau diesem Umstand ist die zutreffende Feststellung Savignys geschuldet, dass es im Falle der voraussetzungslosen Schöpfung von Recht doch sehr unwahrscheinlich sei zu einem Recht zu kommen, welches dasselbe Recht für alle ist, und nicht „ein sehr mannichfaltiges“3. Ein grenzenloses Verstehen würde in der Tat den Sinn von Verstehen aufheben. Wer verstehen will muss sich der Mittel bedienen, die die Überlieferung ihm zur Verfügung gestellt hat und er wird somit im Verstehen von der Überlieferung – man mag sie Sprache, Sitte, Moral, Stil oder eben auch Volksgeist nennen – nie ganz frei.

3

Savigny, System I, S. 14.

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