Hermeneutik: Die Geschichte der abendländischen Textauslegung von der Antike bis zur Gegenwart. Dichtung - Bibel - Recht - Geschichte - Philosophie 9783205789659, 9783205788492

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Hermeneutik: Die Geschichte der abendländischen Textauslegung von der Antike bis zur Gegenwart. Dichtung - Bibel - Recht - Geschichte - Philosophie
 9783205789659, 9783205788492

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Meinrad Böhl, Wolfgang Reinhard und Peter Walter (Hg.)

Hermeneutik Die Geschichte der abendländischen Textauslegung von der Antike bis zur Gegenwart

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

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Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung Düsseldorf

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Titelkupfer aus Jean Le Clerc: Joannis Clerici Critica/1 (D 8897 A RES:: 1) © Universitätsbibliothek Heidelberg © 2013 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, 1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Stefanie Constance Schuschnigg Umschlaggestaltung:Michael Haderer Satz: Bettina Waringer Druck und Bindung: UAB BALTO print Gedruckt auf chlor- und säurefrei gebleichtem Papier

ISBN 978-3-205-78849-2

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Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begrifflichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Griechische Antike: Dichtung zwischen Wahrheit und Wissenschaft . 3. Römische Antike: Dichterauslegung in Grammatik- und Rhetorikunterricht . . . . . . 4. Theorie der Dichtung: Poetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Auf dem Weg ins Mittelalter: Spätantike Grammatik und christliche Klassikerauslegung . . . . . . II. Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entwicklungslinien der mittelalterlichen Literatur. . . . . . . . . . 2. Mittelalterliches Dichtungsverständnis – Literaturtheorie . . . . . . 3. Grundlagen mittelalterlicher Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . 4. Mittelalterliches Dichtungsverständnis – Dichtungs- und Auslegungspraxis. . . . . . . . . . . . . . . . . III. Frühe Neuzeit (16.–18. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Literarischer Epochencharakter . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Das Verhältnis von Dichtung und Wahrheit in der Poetik der Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Dichtungsinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die Auslegungsmethodik und ihre hermeneutischen Grundlagen . 3. Barock. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die Subjektivierung der Produktion und Rezeption von Dichtung in der Barockpoetik . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die geistige Krise und die Entstehung einer allgemeinen Hermeneutik 4. Aufklärung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Sinn und Sinnlichkeit – Poetik und Ästhetik der Aufklärung . . . 4.2 Dichtungshermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Neuzeit und Gegenwart (19.–21. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . 1. Goethezeit (1770–1830) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Poetik/Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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. 25 . 26 . 26 . 26 . 36 . 40 . 49 . 52 . 52 . 53 . 60 . . . .

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Inhalt

1.2 Hermeneutische Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Hermeneutische Praxis – Methoden der Dichtungsinterpretation . . 1.3.1 Die philologische Methode in Klassischer und (Alt-)Deutscher Philologie . 1.3.2 Im engeren Sinne interpretatorische Verfahren . . . . . . . . . . . 1.3.3 Literaturgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.4 Literaturkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Im Zeichen des Positivismus: Literarische Hermeneutik im 19. Jahrhundert. . . . . . . . . . . . . 3. Verstehen statt erklären: Literarische Hermeneutik im 20. Jahrhundert . 3.1 Geistesgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Werkimmanente Interpretation und New Criticism . . . . . . . . 4. Zwischen Erklären, Verstehen und Sinnverweigerung: Die Entwicklung seit Mitte der 1960er-Jahre . . . . . . . . . . . . . 4.1 Die Verwissenschaftlichung der Literaturwissenschaft (scientific turn) 4.2 Literarische Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Anti-Hermeneutik/Poststrukturalismus . . . . . . . . . . . . . 4.4 Psychoanalytische Literaturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . 4.5 Die Situation in der Gegenwart: Methodenpluralismus, Kulturwissenschaft und literarische Hermeneutik

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Bibel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

I. Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Weg zur zweigeteilten christlichen Bibel . . . . . . . . 3. Der patristische Umgang mit der Heiligen Schrift . . . . . . 3.1 Die Aufnahme paganer Traditionen . . . . . . . . . . 3.2 Christologische Hermeneutik. . . . . . . . . . . . . 4. Augustins De doctrina christiana und die Vermittlung der antiken Bibelexegese an das lateinische Mittelalter . . . . . II. Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorbemerkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Trend zum Literalsinn . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Problem des tieferen Schriftsinns . . . . . . . . . . . 4. Jenseits der Universitätsauslegung. . . . . . . . . . . . . III. Frühe Neuzeit (16.–18. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Hermeneutische Prinzipien frühneuzeitlicher Bibelauslegung

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Inhalt

3. Philologie und Grammatik: Humanistische Bibelauslegung . . 4. Ein neuer Maßstab: Die reformatorische Bibelauslegung . . . . 5. Dogma vor Exegese: Konfessionelle Bibelauslegung . . . . . . 5.1 Die altprotestantische Orthodoxie . . . . . . . . . . . . 5.2 Die katholische Bibelauslegung . . . . . . . . . . . . . 6. Göttliche Inspiration vs. menschliche Vernunft: Übergänge zur historisch-kritischen Bibelauslegung der Moderne . . . . . . 6.1 Die Arbeit am Text: Historisch-philologische Exegese im 16. und 17. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Bibel und Wissenschaft: Modernes Weltbild und neues Wirklichkeitsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Die neue Rolle der menschlichen Vernunft: Sozinianer – Spinoza – Deismus. . . . . . . . . . . . . 6.4 Der Versuch eines Ausgleichs: Pietistische Bibelauslegung . IV. Neuzeit und Gegenwart (19.–21. Jahrhundert) . . . . . . . . . . 1. Hermeneutische Prinzipien moderner Bibelauslegung . . . . . 2. Die Ausbildung der historisch-kritischen Bibelwissenschaft . . 2.1 Grundlegung in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts . . . 2.1.1 Neologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Rationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Konsequent geschichtliche Bibelexegese: Literarkritik und Religionsgeschichte im 19. Jahrhundert . . 2.2.1 Textkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Literaturkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Religionsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Fortführung der historisch-kritischen Bibelexegese im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Form- und Überlieferungsgeschichte . . . . . . . . . . . 2.3.2 Redaktionsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Konservative Kritik an der historisch-kritischen Exegese . . 3. Hermeneutische Konzeptionen im 19. Jahrhundert . . . . . . 4. Theologische Neubesinnung im 20. Jahrhundert: dialektische Theologie und theologische Hermeneutik. . . . . 5. Katholische Bibelauslegung bis Mitte des 20. Jahrhunderts . . . 6. Die Entwicklung in der Postmoderne . . . . . . . . . . . . 6.1 Bibelhermeneutische Methoden und Zugänge . . . . . . 6.2 Bibelhermeneutische Konzepte . . . . . . . . . . . . . 6.3 Die Haltung der katholischen Amtskirche der Gegenwart .

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Inhalt

Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

I. Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Mos italicus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Glossatoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Kommentatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Frühe Neuzeit (16.–18. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Mos gallicus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Neuartige Literatur über juristische Auslegung . . . . . . . . . . . . 3. Rechtsvielfalt und Verschriftlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Naturrecht und Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Kodifikation und Verstaatlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Neuzeit und Gegenwart (19.–21. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . 1. Gesetzesauslegung und Rechtstheorie im 19. und frühen 20. Jahrhundert 1.1 Historische Rechtsschule: Friedrich Carl von Savigny . . . . . . . 1.2 Begriffsjurisprudenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Objektive Auslegungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Freirechtsschule. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Interessenjurisprudenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Reine Rechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7 Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtstheorie im Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtstheorie in der Gegenwart. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Wertungsjurisprudenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Topik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Argumentations- und Diskurstheorie . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Hermeneutik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347

I. Antike . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wahrheit. . . . . . . . . . . . 2. Christliche Geschichtsschreibung . II. Mittelalter . . . . . . . . . . . . . III. Frühe Neuzeit (16.–18. Jahrhundert) . 1. Humanismus . . . . . . . . . . 1.1 Theorie . . . . . . . . . . 1.2 „Wahrheit“ . . . . . . . . . 2. 17./18. Jahrhundert . . . . . . . 2.1 Vico . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

2.2 Chladenius . . . . . . . . . . . . 2.3 Aufklärungshistorie . . . . . . . . IV. Neuzeit und Gegenwart (19.–21. Jahrhundert) 1. 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . 1.1 Historismus . . . . . . . . . . . 1.1.1 Leopold von Ranke . . . . . . . . 1.1.2 Droysen . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Dilthey . . . . . . . . . . . . 1.2 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . 1.3 Kritiker des Historismus . . . . . . 1.4 Positivismus . . . . . . . . . . .

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Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441

I. Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Peri hermeneias – „Geburt“ der Semiotik, Semantik und der Auffassung des Verstehens als sympatheia . . . . . . . . . . . . . 2. Platon (Kratylos, Ion), Demokrit: Unmöglichkeit des guten hermeneus vs. sympatheia aus gemeinsamem Wissen der Bedeutung . 3. Sophistik und Skepsis: Klassische Infragestellungen des klassischen Paradigmas. . . . . . . 4. Epikureer und Stoiker: Das Problem der Geschichte und die Fixierung von Innen und Außen des Verstehens . . . . . . . . . 5. Die Geburt der Hermeneutik aus dem Geist der Rhetorik – Ein Nachtrag 6. Der abwesende Autor und der Andere als der Selbe: Grundlegende Implikationen des klassischen Paradigmas . . . . . .

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Inhalt

II. Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 1. Mittelalterliche Philosophie als rationalisierende Hermeneutik des Christentums und christianisierende Hermeneutik antiker Philosophie . 463 2. Die Wiederaufnahme und Transformierung des klassischen Paradigmas in der christlichen Philosophie des Mittelalters . . . . . . 466 3. Hermeneutische Reflexion innerhalb der in der Tradition der artes liberales entstehenden christlichen Philosophie des Mittelalters . . 473 3.1 Standardisierte Annäherung an den „abwesenden Autor“: Die accessus ad auctores . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 3.2 Ein philosophischer Beitrag zur Erweiterung hermeneutischer Möglichkeiten: Die Theorie des integumentum . . . . . . . . . . 480 3.3 Hermeneutik als Theorie idealer Lektüre: Das Didascalicon des Hugo von St. Viktor . . . . . . . . . . . . 482 3.4 Einheit der ratio und der veritas der auctoritates als Auslegungsprinzip: Abaelards Prolog zu Sic et non. . . . . . . . . 487 III. Frühe Neuzeit (16.–18. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492 1. Die Entstehung der philosophischen Hermeneutik zwischen humanistischprotestantischer Schriftkultur und rationalistischer Verstandeskultur . . 494 2. Die Forderung einer allgemeinen Hermeneutik im 17. Jahrhundert . . . 497 3. Logik und Hermeneutik im Rationalismus der Aufklärung . . . . . . . 501 4. Die Entdeckung des Perspektivenpluralismus der sachlichen Wahrheit . 508 5. Die semiotische Wende der philosophischen Hermeneutik . . . . . . . 511 6. Vergessen und Erinnern der vorromantischen philosophischen Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516 IV. Neuzeit und Gegenwart (19.–21. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . 517 1. Die romantische Hermeneutik der Individualität . . . . . . . . . . . 519 2. Diltheys handlungstheoretische Fundierung der Hermeneutik . . . . . 523 3. Zurück zum primären Verstehen: Heideggers Hermeneutik der Faktizität 528 4. Die hermeneutische Logik Georg Mischs . . . . . . . . . . . . . . 536 5. Gadamers Hermeneutik der geschichtlichen Überlieferung . . . . . . 539 6. Aktuelle Tendenzen der Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . 543 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549 Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603

Wolfgang Reinhard

Einleitung „Im Auslegen seid frisch und munter, legt ihr’s nicht aus, so legt was unter.“ So Johann Wolfgang von Goethes kundiger Rat an die Hermeneutiker in Zahme Xenien II. In der Tat: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, lautet der mit juristischer Ewigkeitsgarantie ausgestattete Artikel 1 Absatz 1 unseres Grundgesetzes. Ein Mensch, der Sätze kennt wie „Das Rauchen ist nicht gestattet“, glaubt selbstverständlich, das Grundgesetz verbiete damit seine Folterung und Demütigung. Doch der Mensch irrt, denn ein Vertreter des öffentlichen Rechts belehrt ihn, man müsse diesen Satz ganz anders verstehen, nämlich so, dass Folterung und Demütigung mit seiner weiterbestehenden Menschenwürde nichts zu tun hätten. War es in diesem Sinne, dass die Japaner der Einheit 731 im Zweiten Weltkrieg den verendeten Opfern ihrer Menschenversuche durch Verbeugung Respekt bezeugten? Offensichtlich ist das „richtige“ Verstehen von Sätzen, die auf den ersten Blick eindeutig wirken, keineswegs selbstverständlich, kann aber von lebenswichtiger Bedeutung sein. Was sagt mir der Vers des Dichters Robert Frost „But I have promises to keep and miles to go before I sleep“? Wie ist die erste Zeile des Johannesevangeliums zu verstehen: „Am Anfang war das Wort“? Was meinte der Historiker Treitschke mit dem Satz „Die Juden sind unser Unglück“? Was soll es heißen, wenn der Philosoph Heidegger schreibt: „Zeichen sind aber zunächst selbst Zeuge, deren spezifischer Zeugcharakter im Zeigen besteht“? Dichtung und Bibel, Recht und Geschichte bedürfen der Auslegung, auch wenn Martin Luther glaubte, der Bibeltext sei klar und jedem verständlich, auch wenn für das Allgemeine preußische Landrecht ein Auslegungsverbot galt, weil seine Bestimmungen unmissverständlich seien, auch wenn Historiker finden mögen, die Bedeutung eines bestimmten Quellentextes sei offenkundig. Auch die Texte der Philosophen sind auslegungsbedürftig. Aber darüber hinaus hat die Philosophie den offenkundigen Sachverhalt, dass Texte und die Welt Auslegung brauchen, ihrerseits zum Gegenstand

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Einleitung

philosophischer Untersuchung gemacht. Daneben haben aber die Literaturwissenschaft, die Theologie, die Rechts- und die Geschichtswissenschaft ihre eigenen Auslegungsregeln entwickelt. Texte müssen nicht nur in fremde Sprachen „übersetzt“ werden, sondern auch in unsere eigene, denn oft genug übersteigen sie unseren „Horizont“. Übersetzen heißt aber auf Griechisch hermeneuein, auf Lateinisch interpretari. Das „Abendland“ – das ist heute keine ideologische Kategorie mehr, sondern bezeichnet denjenigen Teil der Welt, der vom Erbe der lateinischen Kultur lebt –, dieses Abendland war mehr als ein Jahrtausend darauf angewiesen, sich die antiken, jüdischen und christlichen Quellen seiner Kultur durch Übersetzen im angesprochenen doppelten Wortsinn zu erschließen, d. h. ihre Bedeutung durch Hermeneutik bzw. Interpretation aus ihrem ursprünglichen in seinen eigenen Horizont zu übertragen. Daraus ergab sich bis heute eine hoch entwickelte und vielseitige Auslegungskunst. Aus diesem Grund kann von Hermeneutik als der „mentalen Lebensform des Abendlandes“ gesprochen werden. Zwar ist von Hermeneutik als eigenständiger Theorie explizit erst seit dem 17. Jahrhundert die Rede, aber was sich seither entfaltet hat, wäre ohne die vorhergehende und weit zurückreichende Praxis der Auslegung literarischer, theologischer, juristischer, historischer und philosophischer Texte nicht möglich gewesen.1 Im Judentum liegen die Dinge ähnlich. Wie es andere Schriftkulturen Eurasiens damit gehalten haben und halten, wäre erst noch genauer zu erforschen. Aus einem gescheiterten Anlauf in diese Richtung ist dieses Buch hervorgegangen.2 In fünf Überblickskapiteln, die den jeweiligen Stand der Forschung wiedergeben sollen, stellt es die Geschichte der abendländischen Hermeneutik im weiteren Sinn – d. h. sowohl als Theorie des Verstehens als auch als Methodenlehre der Textauslegung – auf ihren wichtigsten und in mancher Hinsicht durchaus verschiedenen Feldern dar. Zwar dient das Buch zunächst unserem eigenen Nutzen, denn eine derartige Zusammenfassung für die Entwicklungspfade der abendländischen Hermeneutik liegt bisher nicht vor. Aber darüber hinaus sollte und soll das Werk auch für gleich gerichtete Forschungen zu anderen Kulturen Vergleichsmaterial zur methodischen Orientierung und kritischen Auseinandersetzung bereitstellen. Erste Texte von Martin Corzillius, Harald Haury und Arne Moritz entstanden finanziert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1999–2000 im Projekt Hermeneutik interkulturell – intrakulturell – transkulturell. Muster des Übersetzens und Auslegens in sieben Kulturen und ihre historische Bedeutung des Freiburger Sonder1 2

Vgl. Frank/Meier-Oeser 2011. Vgl. dazu Reinhard 2009.

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forschungsbereichs 541 Identitäten und Alteritäten. Dank Förderung durch die Gerda Henkel Stiftung und Unterstützung durch das Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt konnten die Arbeiten an dem Buch Ende 2008 wieder aufgenommen und Anfang 2012 zu einem guten Ende gebracht werden. Meinrad Böhl, Matthias Jung und Magnus Schlette wurden als Autoren für die noch fehlenden Kapitel gewonnen. Meinrad Böhl war darüber hinaus maßgebend an der Überarbeitung bereits vorliegender Texte beteiligt und hat schließlich die Hauptlast der Gesamtredaktion des Bandes getragen. Zu einzelnen Kapiteln wurden wir kritisch beraten von Achim Aurnhammer, Horst Dreier, Fritz Peter Knapp, Wilhelm Kühlmann und Bernhard Zimmermann. Nichtsdestoweniger wurde inhaltlich so wenig wie möglich in die Texte der Autoren eingegriffen, so dass die Verantwortung für den Inhalt im Rahmen unserer 1997–1999 entwickelten Gesamtkonzeption doch letztlich bei ihnen verbleibt. Hermeneutik im hergebrachten Sinn setzt schriftliche Texte voraus (die Deutung von Bildern und Symbolen, die heute zunehmend an Bedeutung gewinnt, konnten wir im Rahmen unseres Projekts nicht behandeln, sie sei aber der Vollständigkeit halber wenigstens erwähnt)3. Sobald eine zeitliche oder auch sachliche Distanz zwischen der Lebenswelt des Textes und derjenigen des Lesers entsteht, ergibt sich Bedarf an hermeneutischer Auslegung. In der Antike bekamen die Griechen auf die Dauer Probleme mit der Sprache der homerischen Epen und der „Unmoral“ ihrer Helden. Daraufhin entwickelten sie erstens die sprachliche, vor allem grammatische Textanalyse, die unter anderem unklare Textstellen durch Vergleich mit anderen Stellen desselben Textes zu erklären versucht. Zweitens wurden schwer erträgliche Inhalte mit der neu erfundenen Methode der Allegorese entschärft. Die lüsterne Aphrodite verkörperte nun die Abstraktion Begierde und der pfiffige Hermes die Abstraktion Vernunft. Einen Begriff für Hermeneutik hatte die Antike dabei so wenig wie eine allgemeine Vorstellung von Literatur. Hingegen entwickelten Aristoteles und Horaz eine ziemlich rationale Theorie der Poesie in engerem Sinn, die bis ins 18. Jahrhundert gültig blieb. Der Dichter war hinfort nicht mehr ein göttlich begnadeter Seher, sondern ein begabter Techniker der Sprache. Rhetorik gehörte neben Grammatik zu den Grundlagen der Bildung. Die frühen Christen schufen allmählich eine neue Sammlung heiliger Texte. Da Jesus sich ausdrücklich auf die jüdische Bibel bezogen hatte, wurde diese als Altes Testament Bestandteil des neuen biblischen Kanons. Damit tauchten aber dieselben Schwierigkeiten auf wie bei den griechischen Dichtern: sprachliche Verständnisschwierigkeiten und Inhalte, die nicht zur eigenen Botschaft passen wollten. Neben 3

Vgl. dazu Gessmann 2011.

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einer Bibelphilologie, die freilich noch nicht systematisiert wurde, wurde deshalb vor allem das allegorische Verfahren eingesetzt. Das Alte Testament wurde auf Christus hin gelesen: die Propheten und die Psalmen, so die Auffassung, handelten in erster Linie von ihm. Dabei zeichnet sich die Vorstellung von einem mehrfachen Schriftsinn ab. Manche Texte wurden sogar als Geschichte der Begegnung der menschlichen Seele mit Gott gedeutet. Das antike Recht war zunächst mündlich und kam auch in der römischen Spätantike ähnlich wie noch heute im angelsächsischen Raum überwiegend durch Einzelentscheidungen von Richtern und Gutachten von Gelehrten zustande. Allerdings gewann daneben vor allem in der römischen Kaiserzeit das Gesetzesrecht an Bedeutung, bis es im Codex und den Novellae des Corpus iuris des Kaisers Justinian zusammengefasst wurde. Damit wurde auch hier das Problem der Auslegung aktuell. Römische Juristen entwickelten dabei Grundsätze und Möglichkeiten, die noch heute in der Rechtswissenschaft eine zentrale Rolle spielen: Gesetze können im engsten Wortsinn angewandt werden, man kann sich bei ihrer Auslegung aber stattdessen auch auf den Willen des Gesetzgebers berufen oder auf den davon möglicherweise unabhängigen objektiven Zweck des Gesetzes; Einzelbestimmungen sind im Kontext des gesamten Gesetzes oder aller einschlägigen Regelungen zu verstehen; Unklarheiten können durch Analogieschlüsse auf andere Sachverhalte beseitigt werden. Vor allem aber taucht neben der strikten Handhabung des formalen Rechts auch die Möglichkeit einer freien Auslegung nach dem Prinzip der Billigkeit (aequitas) auf, eine Art Selbstkorrektur des expandierenden Rechtswesens! Geschichtswissenschaft als methodische Auslegung von Quellentexten war der Antike unbekannt. Nichtsdestoweniger war die Antike eine große Zeit der Geschichtsschreibung. Herodot und Thukydides, Livius und Tacitus sind bis heute Meister dieses Genres geblieben. Aber sie befassten sich nicht eigentlich mit der Vergangenheit, sondern mit der Geschichte ihrer eigenen Zeit, die sie selbst erlebt hatten. Sie wollten nicht oder nicht nur erklären, sondern moralisch und politisch belehren. Wie die Dichtung kann daher auch die Geschichtsschreibung im Dienst der Rhetorik stehen. Doch während Dichtung von den Möglichkeiten des Menschen handelt, befasst sich die Geschichte mit dem Wirklichen und erhebt daher einen unbedingten Wahrheitsanspruch. Die Sicherung der historischen Wahrheit hat dabei zukunftsweisende Einsichten in Regeln der Geschichte wie der Historie hervorgebracht. Herodot zum Beispiel erscheint bisweilen als der erste Vertreter einer verhaltenstheoretisch orientierten historischen Anthropologie. Der aristotelische Text Peri hermeneias hat auf den ersten Blick außer im Titel nichts mit Hermeneutik im Sinne von Textauslegung zu tun. Vielmehr handelt es

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sich um einen Grundtext der Sprachphilosophie überhaupt, um die Begründung der Semiotik. Doch wenn laut diesem Text der Seele des Empfängers einer Botschaft kraft sympatheia dasselbe widerfährt wie der Seele des Senders, dann werden damit auch Möglichkeit und Wesen der Hermeneutik begründet. Allerdings war diese Vorstellung in der antiken Philosophie umstritten. Auf der anderen Seite war sie aber auch hervorragend zur Begründung der Rhetorik geeignet. Wieder einmal ging die Sache dem Begriff voran. Denn obwohl die Antike keinen expliziten Begriff von Hermeneutik kannte, hat sie implizit in vielerlei Hinsicht deren Grundlagen geschaffen. Der Weg von der Antike ins Mittelalter beinhaltete demgegenüber – wertfrei gesprochen – einen beträchtlichen Kulturwandel. Vor allem ging die Schriftlichkeit drastisch zurück, was die Entwicklung der Hermeneutik in manchen Bereichen deutlich verzögerte. Zwar entstand neben Dichtung in der lateinischen Bildungssprache, die sich an der Antike orientierte, früh auch volkssprachliche Literatur. Aber das Bildungsmonopol der Kirche im Frühmittelalter führte hier wie da zum Vorherrschen religiös-erbaulicher Stoffe. Weltliche Dichtung hatte mehr denn je mit dem bereits von Platon erhobenen Vorwurf der Lügenhaftigkeit zu kämpfen. Auch als mit der Laienkultur des Hochmittelalters höfische wie volkstümliche Dichtung in schriftlicher Form einen neuen Aufschwung nahmen, blieben ihre Herstellung und Interpretation zum Teil unter dem Einfluss der Theologie. Die Theologie war die Leitwissenschaft des Mittelalters, auch die Rezeption der Antike erfolgte lange unter ihrer Führung. Und die Bibel war das Grundbuch des Bildungskanons; Sprache und Bilderwelt der Intellektuellen blieben von ihr geprägt. Demgemäß war das Mittelalter die große Zeit der Bibelkommentare, zunächst auf der Grundlage der Kirchenväter, bis sich im Hochmittelalter im Rahmen der neuen Institution Universität systematisches theologisches Denken stärker verselbständigte. Dabei wurde zunächst der Wortsinn der Heiligen Schrift stark gemacht. Denn ursprünglich galten nur Argumente aus dem Bereich des Wortsinns als theologisch zulässig. Die Folge war eine Ausweitung des Wortsinns. Dazu kam die auf Augustinus zurückgehende Vorstellung, dass auch ein biblisches Wort zwar ein Ding aufrufe, diese Dinge aber ihrerseits Zeichen anderer Dinge seien, die widerspruchsfrei einen geistigen Sinn eröffnen. Der geistige Schriftsinn wurde seinerseits differenziert in Allegorie oder Typologie, wo das Alte Testament im Vorlauf das Neue abbildet, in Tropologie, die zum moralischen Handeln anleitet, und in Anagogie, die auf die zukünftige Herrlichkeit verweist. Diese Lehre vom vierfachen Schriftsinn stammte zwar aus der Antike, wurde aber erst im Hochmittelalter dominant. Die Jurisprudenz erlebte im Mittelalter einen grandiosen rechtsanthropologischen Entwicklungsschub. Man könnte sogar behaupten, sie entstand als Wissenschaft erst

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jetzt, und zwar an den Rechtsschulen der späteren Universität Bologna. Es gab zwar kirchliche und auch weltliche Gesetze und Rechtsbücher, aber zumindest die weltliche Justiz war wieder mündlich und archaisch geworden. Da wurde im 11. Jahrhundert das kirchliche Recht in der systematischen Sammlung des Decretum Gratiani zusammengefasst und vor allem die vollständige Sammlung des römischen Rechts im Corpus iuris civilis wiederentdeckt. Nach dem Vorbild der Bibelauslegung wurde nun von professionellen Rechtsgelehrten vor allem das römische Recht durch Glossen zu Einzelstellen und Kommentare zu größeren Fragen systematisch erschlossen. Das heißt aber: im Gegensatz zum Rest der Welt beruhte Recht im Abendland hinfort nicht mehr auf der Fortbildung von Entscheidung zu Entscheidung, allenfalls von Gesetz zu Gesetz, sondern auf der systematischen Auslegung eines kanonischen, geradezu „heiligen“ Textkorpus. Regelrechte Geschichtswissenschaft gab es im Mittelalter so wenig wie in der Antike, sondern nur Geschichtsschreibung nach antiken Vorbildern, allerdings vor allem wie in der Spätantike strikt heilsgeschichtlich-eschatologisch ausgerichtet. Das kommt bereits im beliebten Periodisierungsschema der Weltreiche nach dem Danielbuch zum Ausdruck, aber auch in der joachitischen Alternative der Zeitalter des Vaters, des Sohnes und des Geistes. Der Wahrheitsanspruch der Geschichtsschreiber als Zeitzeugen blieb ebenso hoch und naiv wie die Autoritätsgläubigkeit gegenüber älteren historischen Texten. So war Historiographie nicht Wissenschaft, sondern eher Literatur, aber ohne Anrecht auf Fiktion; nicht Philosophie, sondern eher Theologie, aber nur für ein nicht näher definiertes Feld zwischen Heilsgeschichte und alltäglicher moralischer Belehrung. Der verbreiteten Behauptung, es habe im Mittelalter keine philosophische Hermeneutik gegeben, steht hier die These gegenüber, das Wesen dieser Philosophie habe ausdrücklich in der hermeneutischen Aneignung der christlichen auctoritates mittels der antik inspirierten Vernunft bestanden. Dem entsprach aber auch die hermeneutische Christianisierung heidnischer Klassiker. Denn das mittelalterliche Denken war gegenüber christlichen wie klassischen Autoren ausgesprochen autoritätsgläubig. Die antike Sprachtheorie und Hermeneutik der sympatheia wurden aufgegriffen und weiterentwickelt. Dabei ergaben sich notwendigerweise Überschneidungen mit der Bibelexegese. Neuartige Vorgehensweisen hermeneutischen Charakters wie der accessus ad auctores und das integumentum, die ideale Lektüre und das scholastische sic et non wurden entwickelt. Die sogenannte frühe Neuzeit war in hermeneutischer Hinsicht anfangs so neu nicht. Es blieb nicht nur beim mittelalterlichen Glauben an autoritative Texte, sondern der Renaissance-Humanismus verstärkte nach der Parole ad fontes! die theologische Autorität der Kirchenväter einerseits, die literarische der antiken Klassiker anderer-

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seits sogar noch weiter, allerdings zum Teil auf Kosten mittelalterlicher Autoren. Die neue Aufwertung antiker Dichter ermöglichte die erfolgreiche Verteidigung der Poesie gegen den hergebrachten Lügenvorwurf. Dichtung war jetzt anerkannter Bestandteil der humanistischen Studien unter Führung der neu belebten moralisierenden Rhetorik. Dichter und ihre Leser konnten dabei mit mehrfachem Sinn der Texte analog zur Bibelexegese spielen. Von Italien aus kamen innovative Impulse hinzu, die sich im 17. Jahrhundert zu der Querelle des Anciens et des Modernes radikalisierten, als die bisher undenkbare Frage gestellt wurde, ob die neuere Literatur nicht besser sein könne als die klassische und man die selbstverständliche Bindung an ewig gültige, eben „klassische“ ästhetische Maßstäbe nicht aufgeben müsse. In der Aufklärung emanzipierte sich die Literatur von den klassischen Textmustern wie der Mensch überhaupt von den antiken und bald auch von den christlichen Autoritäten. Reine Vernunft und reines Gefühl setzten nun die Maßstäbe, die sich aber durchaus widersprechen konnten. Die Vorstellung vom Dichter als Seher, die nebenher immer lebendig geblieben war, trat jetzt säkularisiert als Glaube an das Genie in den Vordergrund. Hermeneutik konnte sich nun vom Nach-Denken eines Textes zum Nach-Fühlen der Emotionen seines Verfassers wandeln. Auch in der Bibelexegese liegt der wichtigste Einschnitt nicht in der Reformation, wie man früher glaubte, sondern ebenfalls in der Aufklärung. Zunächst galten die hergebrachten Regeln allgemein weiter: Bibelstellen erklären sich gegenseitig, weil die Schrift ein Ganzes ist, mit dem gemeinsamen Ziel (scopus) Christus; der Exeget braucht zur richtigen Auslegung den Geist, in dem die Bibel geschrieben ist, denn große Teile der Bibel haben neben dem wörtlichen einen übertragenen Sinn, der durch Allegorese zu gewinnen ist; aber eine Auslegung, die der Lehrtradition (regula fidei) widerspricht, kann nicht richtig sein. Allerdings haben die Humanisten sich philologisch um die Reinigung des Bibeltextes bemüht und darüber hinaus eine rhetorischmoralische Interpretation begünstigt. Die Reformation führte in den genannten Rahmen einen neuen theologischen Maßstab für die Interpretation ein: sola scriptura. Das heißt, die Schrift ist die einzige Autorität und legt sich als solche selbst aus. Das ist möglich, weil sie einheitlich, klar und vollständig ist. Dazu fügt Luther den hermeneutischen Schlüssel der Dialektik von Gesetz und Evangelium, das heißt, er liest die ganze Schrift im Lichte der analogia fidei von Röm. 3,21–22. Der geistliche Sinn wird dadurch mit dem Wortsinn identisch! Diese lutherische Exegese wurde von Matthias Flacius Illyricus erstmals in einem hermeneutischen Lehrbuch festgeschrieben. Denn nun wurde die Bibelexegese zur Waffe im dogmatischen Kampf der Konfessionen. Das führte zunächst zur vertieften Analyse hermeneutischer Verfahren. Doch dann wurde die dogmatische Bibelgläubigkeit von neuen naturwissenschaftlichen und his-

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torischen Erkenntnissen und vor allem vom kritischen Anspruch der aufgeklärten Vernunft infrage gestellt. Schließlich wurde im 18. Jahrhundert die Verbalinspiration der Schrift bezweifelt und die Bibel als ein Buch wie jedes andere betrachtet, zu dessen Auslegung der Exeget nur Vernunft und Wissen braucht. Sie ist nun ein uneinheitliches Literaturdenkmal aus widersprüchlichen Stücken, und Allegorese und regula fidei sind untaugliche, weil unwissenschaftliche hermeneutische Instrumente. Auf dieser Grundlage hat sich seither die moderne Bibelexegese entwickelt. Auch in der Rechtswissenschaft führte humanistische Inspiration zunächst zur Rückkehr von der Kommentarliteratur zu den Originaltexten des Corpus iuris und zu philologischen Bemühungen um deren Reinigung. Damit ging eine Historisierung des römischen Rechts einher, das nun nicht mehr als ewig gültiger Kanon, sondern als herausragende Leistung der Römer betrachtet wurde. Daher konnte es als Vorbild für die Verschriftlichung und Kodifizierung anderer Rechtstraditionen dienen. Jetzt erschienen auch die ersten Lehrbücher der Rechtshermeneutik. Antike, Mittelalter und frühe Neuzeit kannten das Naturrecht als Bestandteil der göttlichen Weltordnung. Es konnte mit der menschlichen Vernunft erschlossen werden. Im Zeichen der Aufklärung wurde das Naturrecht seit dem späten 17. Jahrhundert säkularisiert und ausschließlich der Vernunft unterworfen. Daraus ergab sich die verlockende Möglichkeit, Recht nicht mehr als gegeben hinzunehmen und nur zu interpretieren, sondern es nach den Regeln der Logik von Grund auf vernünftig und vollständig neu zu konstruieren. Aus dem Zusammentreffen dieser Entwicklung mit dem Aufstieg der Staatsgewalt ergaben sich die Kodifikationen vom späten 17. bis frühen 20. Jahrhundert, die anders als ihre Vorgänger nicht mehr geltendes Recht sammelten, sondern systematisch neues Recht schufen. Für das Allgemeine preußische Landrecht war zeitweise ein Auslegungsverbot in Aussicht genommen, weil seine vernünftige Weltordnung vollständig und jedem verständlich sein wollte. Die humanistische Geschichtsschreibung unterschied sich auf den ersten Blick allenfalls durch mehr Sprach- und Stilbewusstsein von der mittelalterlichen. Ihre Aufgabe bestand immer noch darin, im Rahmen der humanistischen Studien politische und moralische Exempel für die neu belebte Rhetorik zu liefern. Mehr denn je galt historia als magistra vitae. In diesem Rahmen gab es aber durchaus Innovationen. Die Geschichtsschreibung säkularisierte sich mehr und mehr. Dann und wann wurde sie sogar zweckfrei rein aus Wissbegierde betrieben. Vor allem aber wurde erstmals versucht, in besonderen Schriften das Wesen von Geschichte und Geschichtsschreibung theoretisch zu klären. Dabei ging es ganz im Sinne der Praxis um die Aufgaben der Geschichtsschreibung, daneben aber durchaus auch um den Umgang mit Quellen. Der Wahrheitsanspruch wurde zwar immer noch hochgehalten, seine Einlösbarkeit

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jetzt aber skeptisch infrage gestellt, nicht nur aus Einsicht in die menschliche Befangenheit, sondern auch, weil den Autoren zugegebenermaßen der Nutzen oft wichtiger war als die Wahrheit. Im 17. Jahrhundert kulminierte diese Skepsis im sogenannten Pyrrhonismus, der die Geschichtsschreibung insgesamt infrage stellte, auch im Vergleich mit den Exaktheitsansprüchen der neuen cartesianischen Philosophie und der aufkommenden Naturwissenschaften. Doch zur gleichen Zeit wurden in der Quellenkritik und den sogenannten Hilfswissenschaften ganz neue Grundlagen einer exakten Geschichtswissenschaft gelegt, paradoxerweise infolge der konfessionellen Kämpfe des Zeitalters. Denn diese wurden mit historischen Waffen ausgefochten, wo es auf den Nachweis ankam, wer in Wahrheit die Erben Christi und der Apostel waren. Die hermeneutische Komplementärtheorie zu diesen philologisch-empirischen Errungenschaften lieferte Johann Martin Chladenius Mitte des 18. Jahrhunderts. Seine Theorie des „Sehepunktes“ machte die unausweichliche Befangenheit des Historikers ein für alle Mal transparent, und seine Untersuchungen der allgemeinen und der historischen Hermeneutik zeigten, wie Verstehen die Gedanken eines Autors reproduziert und wie wir aus dem, was wir wissen, gegebenenfalls zu entwickeln vermögen, was wir noch nicht wissen. So war die Hermeneutik auch als philosophische Disziplin mit systematischem und universalem Anspruch ein Kind des 17./18. Jahrhunderts. Grundlagen schuf die protestantische Bibelexegese nach Flacius – was den Katholiken die quellenmäßige Sicherung ihrer Tradition, das war den Protestanten die hermeneutische Sicherung ihrer Bibellesung. Mit ihrer Einfügung in die Logik und der allgemeinen Rationalitätsunterstellung wurde die Hermeneutik aber allmählich von den (Fach-)Autoritäten abgelöst und nur noch der aufgeklärten Vernunft unterworfen, um die Absicht des Autors zu ermitteln. Die Reihe der aufgeklärten Ausführungen zur Hermeneutik führt schließlich zum bereits erwähnten Perspektivenpluralismus des Chladenius und der semiotischen Wende bei Georg Friedrich Meier, die erst neuerdings im Zeichen der modernen sprachanalytischen Philosophie angemessen gewürdigt wurde. Neuzeit und Gegenwart (spätes 18.–21. Jahrhundert) sind das hermeneutische Zeitalter schlechthin, denn jetzt wird nicht nur auf allen Gebieten sehr bewusst hermeneutisch oder parahermeneutisch operiert und problematisiert, sondern obendrein das hermeneutische Denken radikalisiert bis zur negativen Hermeneutik des Nicht-Verstehen-Wollens einerseits, zur Ablösung der allgemeinen philosophischen Hermeneutik durch eine hermeneutische Philosophie des Daseins andererseits. Auf dem Feld der Dichtung ließ die Genieästhetik des ausgehenden 18. Jahrhunderts die Notwendigkeit hermeneutischer Reflexion deutlich werden, da literarische Texte aufgrund ihrer Originalität plötzlich nicht mehr in bestehende Sinnzusammenhänge einholbar waren. In

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der Praxis bemühten sich daher einzelne Auslegungen nun um einen rationalen Nachvollzug des Schaffensprozesses, der die Konstruktionsprinzipien des Werkes offenlegt. In der Theorie drang Friedrich Schleiermacher am weitesten vor, dessen Hermeneutik mit ihrer Verschränkung von Verstehen des Werks aus der Denkungsart seines Autors und Erklären aus seinen historischen und sprachlichen Kontexten auch die weitere Entwicklung vorzeichnete. Während sich nämlich die neu entstandene Deutsche Philologie im 19. Jahrhundert alsbald einseitig dem Erklären der Texte aus ihren historischen Bezügen, vor allem aus den Dichterbiografien, zuwandte, schlug das Pendel Anfang des 20. Jahrhunderts mit Wilhelm Dilthey und der Geistesgeschichte ebenso einseitig in die andere Richtung aus, insofern Literatur nun als Ausdruck des Geistes einer Epoche betrachtet wurde, den es durch einfühlendes Verstehen zu erkennen gilt. Auch die darauf folgende Werkimmanente Interpretation zielte auf Verstehen, nun aber weniger des Inhalts als des Stils von Dichtung. Das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts schließlich war bestimmt vom Nebeneinander diverser Verstehens- und Erklärungsansätze, zu denen jetzt auch antihermeneutische Ansätze wie die Dekonstruktion traten, nach denen Texte weder eine stabile noch eine einheitliche Bedeutung haben. So sieht sich die Literaturwissenschaft im 21. Jahrhundert mit einem Methodenpluralismus und dem gleichzeitigen Fehlen einer übergreifenden Theorie konfrontiert, worauf sie außer mit praktischem Eklektizismus oder der Wendung zur Kulturwissenschaft auch mit dem neuerlichen Versuch reagiert, durch eine literarische Hermeneutik Ordnung zu stiften. In der Bibelexegese begann mit der Aufklärung die Verdrängung der kirchlich-dogmatischen durch die literarisch-historische Auslegungsweise im sozialen Horizont der Universitätswissenschaft. Es fehlte freilich auch nicht an konservativen Richtungen; vor allem die kirchlich kontrollierten katholischen Exegeten taten sich bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts schwer mit den neuen Errungenschaften. Allerdings war es schon immer möglich, mit einigem hermeneutischen Geschick bei der Interpretation zu vorab feststehenden Ergebnissen zu gelangen. Die biblischen Bücher wurden nicht nur penibler philologischer Textkritik, sondern im Lauf der Zeit verschiedenen literaturgeschichtlichen Verfahren unterworfen, die in den Rahmen der archäologisch korrigierten Geschichte des Volkes Israel einerseits, in die ernüchternden Befunde der allgemeinen Religionsgeschichte andererseits eingeordnet wurden. Der damit verbundenen Auflösungstendenz begegnete Karl Barths „dialektische Theologie“ mit der in gewisser Hinsicht sehr traditionellen Auslegung, dass Gott und sein Wort ganz anders seien und deswegen der wissenschaftlichen Sicherung durch den Menschen letztlich unzugänglich blieben. Auf andere Weise führte auch Rudolf Bultmanns „hermeneutische Theologie“ zum Absehen vom historischen Kontext beim Vernehmen des exis-

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tenziellen Kerns der neutestamentlichen Botschaft. Während die verschiedenen exegetischen Richtungen bis dahin immer noch an der Einheit sowohl der Botschaft als auch des hermeneutischen Zugangs zu ihr festgehalten hatten, führte die Postmoderne zu einer Pluralität der Methoden und Textsinne sowie zum Verlust der Idee einer einzigen objektiven Wahrheit. Analog zur literarischen Rezeptionsästhetik wurde die Wahrheit in die Wahrnehmung des Lesers verlegt. So gibt es z. B. den Entwurf eines neuen, vierfachen Schriftsinns, nämlich des Autors, des Textes, des Lesers und der Sache mit je eigener Hermeneutik. Zu ähnlich komplexen Ergebnissen führte die Entwicklung der juristischen Hermeneutik, die wie die theologische zusätzlich mit dem Problem normativer Vorgaben belastet ist. Auch hier wurde die angestrebte zwingende, vernünftige Eindeutigkeit des aufgeklärten Rechts durch Friedrich Carl von Savigny historisch relativiert. Seine Historische Rechtstheorie mit ihren „Kanones“ der historischen und systematischen Auslegung machte es möglich, zur Rekonstruktion des gesetzgeberischen Willens über die bloße Wortbedeutung hinauszublicken. Die Begriffsjurisprudenz stärkte die Position der Rechtswissenschaft gegenüber dem Gesetzeswillen und ermöglichte dem Richter dadurch eine freiere Gesetzesauslegung. Die Interessenjurisprudenz räumte dem Juristen darüber hinaus das Recht zu einer korrigierenden Interpretation und sogar zur schöpferischen Gesetzesergänzung ein. Dass die Freirechtsschule bei der Gewährung von Auslegungsfreiräumen eine besondere Rolle spielte, scheint selbstverständlich, aber noch bedeutsamer wurde die objektive Auslegungstheorie, wo der Wille des Gesetzgebers eindeutig hinter den neu auf die Gegenwart bezogenen Willen des Gesetzes zurücktreten muss. Die seither immer noch geltenden vier „Kanones“ der grammatischen oder wörtlichen, der logischen, der historischen, d. h. auf den Willen des Gesetzgebers und die damaligen Zeitumstände bezogenen, und der systematischen Auslegung laufen auf einen zunehmenden Ermessensspielraum des Richters zur schöpferischen Rechtsgestaltung hinaus, die von manchen Theorien eher verschleiert, von anderen aber ausdrücklich legitimiert wird. Demgemäß suchen auch die jüngsten rechtshermeneutischen Theorien einen Mittelweg zwischen dem verlorenen Glauben an die Möglichkeit einer neutralen Auslegung und dem Verdacht, dass die vier klassischen „Kanones“ inzwischen beliebige Auslegung gestatten. Geschichtsschreibung hat schon immer die Welt interpretiert und dabei das Problem des Verhältnisses von Wahrheit und Auslegung gekannt. Geschichtswissenschaft als methodisch kontrollierte Auslegung von Quellentexten gibt es aber erst seit den erwähnten Errungenschaften des 17./18. Jahrhunderts. Im 19. Jahrhundert wurde sie zur professionellen Wissenschaft, die sich als solche nur mit gesicherter Methode behaupten konnte. Dabei ging es bei Leopold Ranke, Gustav Droysen und anderen

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Protagonisten nicht mehr nur um philologische Interpretation wie zuvor, sondern um eine Hermeneutik des Sich-Einfühlens in die Quellen, in die dahinterstehenden Individuen und ihre Welt, um Verstehen als Grundoperation der Historie als hermeneutischer Wissenschaft. Das aber wurde als objektive Operation zur Feststellung objektiver Tatsachen aufgefasst, auch wenn solche „Tatsachen“ psychologischer Natur waren oder in leitenden Ideen bestanden. Dieses „Verstehen“ als eigenständiger Weg zur Wahrheit wurde vom Historismus dem „Erklären“ der Naturwissenschaften gegenübergestellt, um die Eigenständigkeit, wenn nicht sogar Überlegenheit der (deutschen) Geschichtswissenschaft als Leitwissenschaft des bürgerlichen Zeitalters zu begründen. Demgemäß machte Wilhelm Dilthey eine allgemeine Theorie der hermeneutischen „Geisteswissenschaften“ daraus. In anderen Ländern spielte demgegenüber eine quasipositivistische Konzentration auf das Verständnis der Einzelquelle eine größere Rolle. Nach dem Zweiten Weltkrieg dominierte zunächst im Kontext des Aufschwungs der weltgestaltenden Sozialwissenschaften eine sozialhistorische Strömung, deren deutsche Variante sich allerdings an der „verstehenden“ Soziologie Max Webers orientierte. Als Reaktion darauf erklärte die extreme Postmoderne Geschichte zu einer Art von Dichtung und bestritt die Möglichkeit, überhaupt einen Zusammenhang zwischen der in der Welt der Sprache angesiedelten Historie und der realgeschichtlichen Welt herzustellen. Hermeneutik lief damit auf Beliebigkeit hinaus. Weniger radikale Richtungen der neueren Kulturgeschichte, wo die Bedeutung von Geschichte ebenfalls auf die Geschichte von Bedeutung reduziert wird, entgehen dieser Gefahr bisweilen auch nicht. Allerdings hat der einflussreichste Kritiker der hergebrachten Historie, der Philosoph Michel Foucault, in seiner Spätzeit zur traditionellen Hermeneutik zurückgefunden. Insgesamt bietet die Historie heute wie die Literaturwissenschaft, die Theologie und die Rechtswissenschaft ein buntes Bild verschiedener Möglichkeiten der Auslegung. Hinter dem Historismus stand philosophisch die äußerst einflussreiche romantische Hermeneutik der Individualität Friedrich Schleiermachers, die inzwischen erheblich radikalisiert wurde. Aus philosophischer Sicht erscheint es heute daher sinnvoll, primäres und sekundäres Verstehen zu unterscheiden. Ersteres gilt der Expressivität der Individuen; es vollzieht sich im praktischen Tun und im Übergang vom vorsprachlichen Eindruck zum symbolischen oder sprachlichen Ausdruck. Letzteres ist enger, es ist auf die mehr oder weniger autoritativen Texte einer Kultur gerichtet, auf das Erkennen von bereits Erkanntem. Unter dem Druck des Pluralisierungs- und Individualisierungsprozesses bewegt sich die heutige philosophische Hermeneutik zwischen diesen beiden Polen, wobei ihre Hauptrichtungen alle den Universalitätsanspruch gemeinsam haben, mit dem sie auf den Traditionsverlust reagieren: Hans-Georg Gadamer

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universalisierte das philologische Weltverhältnis und erhob damit das sekundäre Verstehen zum primären; Martin Heideggers Sein und Zeit machte das primäre Verstehen zum Fundament jeglicher, auch der natürlichen Weltbeziehung des Menschen; schließlich gibt es drittens die Möglichkeit der Naturalisierung des Verstehens. Sich auszudrücken wird hier als Eigenschaft aller Organismen betrachtet, die sich beim Menschen in der Rede äußert und in den Schöpfungen des „objektiven Geistes“ ihren Niederschlag findet, aber immer an den biologischen Lebensprozess rückgebunden bleibt. Diese Richtung begann mit Wilhelm Dilthey und führte über den Pragmatismus zur hermeneutischen Kognitionswissenschaft. Ungeachtet der gigantischen Expansion der Naturwissenschaften und der Technologie verharrt das Abendland offensichtlich erfolgreich in seiner hermeneutischen mentalen Lebensform! Allen Personen und Institutionen, die zu unserem Versuch beigetragen haben, diesen Sachverhalt zusammenfassend offenzulegen, sei herzlich Dank gesagt! Abschließend noch ein formaler Hinweis: Wo immer es vertretbar erschien, wurden ältere Zitate in den Beiträgen an die heutige Rechtschreibung angepasst, um den Lesefluss nicht zu unterbrechen. Entsprechend wurden auch lateinische Zitate behandelt, indem etwa „v“ statt „u“ gesetzt wurde. Ferner wurden in den Text eingestreute fremdsprachige Begriffe grundsätzlich kursiv gesetzt, auch in Zitaten, bei welchen der zitierte Text keine solche Hervorhebung vorsah. Alle übrigen Eingriffe in Zitate (Auslassungen, Ersetzungen, Ergänzungen) werden durch eckige Klammern angezeigt; Text in runden Klammern stammt stets von den zitierten Autoren selbst.



Meinrad Böhl 1

Dichtung Wie die Hermeneutik im Ganzen, so ist auch die literarische Hermeneutik als separates Feld wissenschaftlicher Betätigung ein neuzeitliches und damit relativ junges Phänomen. Gegenstand der Auslegung ist Dichtung jedoch von frühester Zeit an gewesen. Schon in der Antike musste sie sich nämlich des Vorwurfs erwehren, nutzlos oder gar moralisch schädlich zu sein. Zu ihrer Verteidigung wurde daher die grundlegende Operation der allegorischen Interpretation entwickelt, ferner die zur Bestandssicherung wichtige historisch-grammatische Interpretation. Unter christlichen Vorzeichen führten Mittelalter und frühe Neuzeit diese Traditionen in unterschiedlicher Gewichtung fort: Das Mittelalter konzentrierte sich auf die allegorische Auslegung, die frühe Neuzeit belebte daneben auch die historisch-grammatische Interpretation wieder neu. Seit der Antike wurde Dichtung als bloßer Sonderfall der Kommunikation betrachtet, der wie alle öffentliche Rede den Regeln der Rhetorik gehorcht. Das Verstehen von Dichtung schien daher keine Probleme zu bereiten, schließlich konnte der Sinn ja aus den Regeln von Rhetorik bzw. deren literarischem Zweig, der Poetik, abgeleitet werden. Einen Wandel brachte erst die Genieästhetik des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Für sie war Dichtung der originelle Ausdruck des subjektiven Erlebens des Dichtergenies und damit nicht in bestehende Sinnordnungen einholbar. Dichtung wurde nun verstärkt Gegenstand der Hermeneutik. Im 19. Jahrhundert geschah dies noch im Rahmen der Bemühungen um eine allgemeine Hermeneutik, die sich vor allem an der Auslegung der Bibel und der klassischen antiken Texte orientierte und Dichtung allenfalls am Rande, als Textart neben anderen, in den Blick nahm. Im 20. Jahrhun-

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Die Teilkapitel dieses Beitrags wurden durchgesehen von Bernhard Zimmermann (Antike), Fritz Peter Knapp (Mittelalter), Wilhelm Kühlmann (Frühe Neuzeit) und Achim Aurnhammer (Neuzeit und Gegenwart). Zur Reduzierung der Fußnotenzahl werden ihre Hinweise im Folgenden nicht einzeln angemerkt. Für alle verbliebenen Mängel des Textes zeichnet allein der Autor verantwortlich.

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dert wurden dann auch Versuche zu einer spezifisch literarischen Hermeneutik unternommen, die den besonderen Status von Dichtung als ästhetischem Phänomen ernst nimmt und in ihre Überlegungen mit einbezieht.

I. Antike2 1. Begrifflichkeit Der Begriff Literatur in seiner heutigen umfassenden Bedeutung als Gesamtheit der literarischen Texte – Prosa wie Lyrik – war der Antike unbekannt; ebenso fehlte eine Hermeneutik als explizite Theorie zur Praxis der Auslegung.3 Es ist daher vorab zu bestimmen, was mit literarischer Hermeneutik in der Antike gemeint sein soll. Sie wird hier gefasst als die Art und Weise des Verstehens poetischer Werke, wie sie sich aus der Trias von Verstehensbegriff, Dichtungsverständnis und Auslegungsregeln ergibt.4 Eine solche Darstellung ist auch ohne das Vorhandensein eines entsprechenden Literaturbegriffs und zugehöriger Hermeneutik möglich, da schon in der Antike im Rahmen von Poetik, Rhetorik, Philosophie und Grammatik über die Produktion und Rezeption von Dichtung nachgedacht wurde. Auch wenn dabei der Verstehensbegriff nicht immer eigens expliziert wurde, so lässt er sich doch erschließen.

2. Griechische Antike: Dichtung zwischen Wahrheit und Wissenschaft Die Griechen stehen in mehr als einer Hinsicht am Anfang der europäischen Literatur. Außer der im Werk Homers beginnenden Überführung der Dichtung aus der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit geht auch die Entwicklung theoretischer Kategorien und Kriterien zur Produktion und Beschreibung von Literatur auf sie zurück. Vor allem aber sind die beiden grundsätzlichen Arten der Auslegung, welche die Antike hervorgebracht hat, die allegorische und die historisch-grammatische Interpretation, in Griechenland entstanden. 2

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Dieses Teilkapitel wurde auf Grundlage des Entwurfs von Harald Haury über Grammatik und Rhetorik als universelle Propädeutik des Textumgangs erstellt, mit welchem nach einer früheren Konzeption einmal der gesamte Band eingeleitet werden sollte. Für die Erlaubnis zur Verwendung seiner Vorarbeiten, denen neben Literaturhinweisen auch mancher Denkanstoß entnommen ist, sei an dieser Stelle herzlich gedankt! Vgl. Most 1998, 423f.; Weimar 2000, 443–445; Laird 2006a, 3. Zu dieser Bestimmung vgl. Szondi 1975, 11, 13f., 25.

I. Antike

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Bei der allegorischen Interpretation wird angenommen, unter der Oberfläche des Wortlauts eines Textes (sensus litteralis) sei ein tieferer Sinn verborgen (sensus allegoricus), auf den der Text metaphorisch hindeute.5 Bis ins 1. Jahrhundert v. Chr. wurde dieser tiefere Sinn hyponoia (‚Unter-Sinn‘) genannt, ehe dann der Begriff allegoria aufkam.6 Beide bezeichneten sowohl die Produktion als auch die Interpretation allegorischer Texte. Ein Begriff für die Allegorese, die allegorische Interpretation eines gar nicht allegorisch gemeinten Textes, existierte hingegen noch nicht. In der Praxis war die Allegorese gleichwohl weit verbreitet; die meisten antiken Philosophenschulen pflegten sie. Ausgehend von der Homer-Interpretation, wo sie erstmals nachweisbar ist, fand sie zudem Eingang in die jüdische und christliche Bibelexegese7 und in die christliche Klassikerauslegung.8 Die historisch-grammatische Interpretation konzentriert sich demgegenüber ganz auf die Bestimmung des Wortsinns (sensus litteralis), indem sie unverständlich gewordene Wörter in die Gegenwartssprache übersetzt.9 Es ist dies der Ansatz der Philologie, die nach Zeit, Ort und Umständen der Entstehung und Überlieferung eines Textes fragt, wofür ihr schon in der Antike die Mittel der Textkritik, der Quellenforschung und Überlieferungsgeschichte, des historischen Kommentars und der Biographik zu Gebote standen.10 Unter den Prinzipien, auf welchen die antike Arbeitsweise gründete, war eines der wichtigsten die Forderung, Unklarheiten in einem Text zunächst durch Heranziehung anderer Texte desselben Autors zu erhellen – in der berühmten, Aristarch zugeschriebenen Formulierung: „Homer aus Homer erklären.“ Dies bedeutete die Berücksichtigung nicht nur des spezifischen Wortgebrauchs eines Autors, sondern auch der zeitbedingten Vorstellungen, vor deren Hintergrund er schrieb. Im Falle Aristarchs mag sich seine Maxime auch mit dem Postulat einer anti-allegorischen Interpretation verbunden haben, die den Text ästhetisch, d. h. unter dem Aspekt seiner inhaltlichen Konsistenz und formalen Einheit, betrachtet.11 Als weitere Prinzipien philologischen Textverstehens ergeben sich von hier aus: die Ermittlung sekundärer Ergänzungen in einem Text anhand des Kriteriums des (inhaltlich, stilistisch oder gattungsmäßig) „Unangemessenen“; die Anerkennung des Vorhandenseins singulärer Ausdrücke und der dichterischen Freiheit, um nicht gezwungen zu sein, jeden selte5 6 7 8 9 10 11

Vgl. die Definitionen bei Szondi 1975, 14f.; Cancik-Lindemaier/Sigel 1996, 518; Spree 2000, 170. Vgl. Cancik-Lindemaier/Sigel 1996, 518. S. Kap. I.3.1. des Beitrags „Bibel“ in diesem Band. Vgl. Irvine 1994, 148–155, 162–271; Kennedy 1997a, 331–340; Most 1998, 424; Zwierlein 2002, 94f. S. auch u. Kap. I.5. Vgl. Szondi 1975, 14f.; Spree 2000, 169f. Vgl. Schlaffer 2005, 159ff. Vgl. Pfeiffer 1978, 276–278; Porter 1992, 70–84; Wilson 1997, 90; Most 1998, 425.

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nen oder ungewöhnlichen Ausdruck zu verwerfen oder zu emendieren; das Prüfen der Dichtung sowie der Argumentationen in den Auslegungen auf Anachronismen.12 In hermeneutischer Hinsicht zielen beide Auslegungsweisen auf die Aufhebung des historischen Abstands zwischen Text und Leser. Zwar unterscheiden sie sich im Verfahren: die historisch-grammatische Interpretation ersetzt ein nicht mehr verständliches Wort durch ein neues, die allegorische unterlegt ihm eine neue Bedeutung. Bei beiden handelt es sich aber um „Strategien der übersetzenden Aneignung“13, um den Versuch, die historische Distanz zwischen dem kulturellen Code des Textes und dem des Lesers durch Übersetzung der Zeichen vom einen in den anderen Kontext zu überwinden. Der Interpret fungiert hier als Dolmetscher bzw., so Aleida Assmann, als Hodeget (griech. ‚Wegweiser‘), da er nicht wie der Dolmetscher sprachlich Getrenntes zusammenbringt, sondern zwischen Text und Leser tritt und so deren Abstand noch betont.14 Für beide Auslegungsarten stellt der Hellenismus (323–30 v. Chr.) eine entscheidende Phase dar. Die allegorische Interpretation empfing zu dieser Zeit wichtige Impulse von den Philosophen der Stoa. Und auch wenn es eine stoische Allegorese im eigentlichen Sinn wohl nicht gegeben hat, sondern die stoische Auslegungspraxis lediglich den Boden für eine neue Form der Allegorese bereitete, so sorgte der stoische Einfluss doch für die weite Verbreitung der allegorischen Interpretation. Im gleichen Zeitraum wurde die historisch-grammatische Interpretation von den Grammatikern des Museions in Alexandria systematisiert und zur philologischen Methode (techne) ausgebaut. Für viele Elemente konnten sie dabei auf Früheres zurückgreifen. Um jedoch eine philologische Wissenschaft zu formen, hatte es zuvor einer geänderten Einstellung gegenüber der Dichtung bedurft.15 Dieser Wandlungsprozess hatte in archaischer Zeit (ca. 800–500 v. Chr.) eingesetzt und war in der Klassik (500– 323 v. Chr.) zum Durchbruch gelangt. Seine wesentlichen Elemente sind die Verschriftlichung, Entsakralisierung und Fiktionalisierung der Dichtung bzw. ihres Verständnisses. Die schriftliche Fixierung des Wortlauts poetischer Texte ließ ihre Interpretation mit größer werdendem zeitlichem Abstand immer dringlicher werden. Zum einen wurden die Verstehenshilfen, welche die Dichter selbst im Text angebracht hatten,16 12 13 14 15 16

Vgl. Wilson 1997, 90f., 96f. Assmann 1996, 10. Vgl. ebd., 10f. Vgl. auch Szondi 1975, 15–19. Vgl. hierzu und zum Folgenden v. a. Schlaffer 2005, 11–101, 159–167, 213f. Homer etwa machte Zusätze, lautliche Anspielungen und gab etymologische Deutungen mehrdeutiger Ausdrücke und Eigennamen. So wird z. B. eingangs der Odyssee das für Odysseus gewählte Attribut polytropon in einem Relativsatz als ‚viel umhergeirrt‘ bestimmt, während die ebenfalls mögliche Bedeutung ‚von beweglichem Sinn‘ verworfen wird (vgl. Pfeiffer 1978, 18–20; zu Pfeiffers weiterer Annahme auch eines allegorischen Elements bei Homer [ebd., 20f.] vgl. Zwierlein 2002, 90, Anm. 38).

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ihrerseits erklärungsbedürftig. Zum anderen konnten die vortragenden Rhapsoden in dem Maße weniger Erklärungen durch Zusätze oder die Änderung alter und seltener Ausdrücke anbringen, je mehr sich die Textgestalt verfestigte.17 Eingesetzt hatte der Prozess der Verschriftlichung um 700 v. Chr. bei Homer, dessen Epen Ilias und Odyssee „auf der Schwelle zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit“ stehen, da sie von der Großstruktur ihrer Handlungsanlage bereits der Schriftlichkeitsphase angehören, während Sprache und Stil noch typisch mündlich sind.18 Allgemein gebräuchlich wurde Schriftlichkeit für die Komposition und Überlieferung literarischer Werke dann in den Jahrzehnten um 400 v. Chr.19 Mit ihrer Verschriftlichung war Dichtung auf einmal auch außerhalb religiöser Kontexte wie den Sängerwettstreiten bei den Panathenäen (Epen), des Kultus (Lyrik) oder der Dionysosfeste (Komödien und Tragödien) zugänglich. Durch die Erhöhung der Verfügbarkeit trug die Schriftform somit auch zur Ausgliederung der Dichtung aus den zuvor vielfach konstitutiven religiösen Lebenszusammenhängen und damit zu ihrer Entsakralisierung bei. Greifbar wird dies am Wandel des Dichterbegriffs.20 Hatte der Dichter in archaischer Zeit noch als poeta vates gegolten, als Künder wahren Wissens, welches ihm die Musen in einem Akt göttlicher Inspiration offenbaren, so verstanden sich die Dichter im hellenistischen Alexandria als poetae docti, als Gelehrte, die ihre Stoffe in Büchern finden und in harter Arbeit mittels geeigneter Techniken zu Gedichten formen. Dichtung war für sie eine rein menschliche Tätigkeit, lediglich die Angewiesenheit auf eine gewisse natürliche Befähigung räumten sie weiterhin ein. Bei den archaischen Dichtern von Homer bis Pindar hatte demgegenüber der göttliche Anteil noch gleichberechtigt neben dem menschlichen gestanden. Die Platon zugeschriebene Vorstellung von Inspiration als dichterischem Wahn (furor poeticus), in dem der Dichter seine Werke ganz unselbständig, nämlich im Zustand ekstatischer Besessenheit durch die Gottheit hervorbringt (s. u. Kap. I.4), dürfte hingegen erst im 5. Jahrhundert v. Chr. entstanden sein.21 Das Konzept des furor poeticus stellt auch eine Antwort auf die Kritik dar, die seit dem 6. Jahrhundert von Philosophen und Historikern am Wahrheitsanspruch der Dichtung geübt wurde. Diesen hatten bis dahin die Musen verbürgt, doch stand er nicht unter dem Schutz einer Theologie oder bestallter Priester. Den Anfang machte 17 18 19 20 21

Vgl. Pfeiffer 1978, 21–24. Vgl. Latacz 1991, 1, 6f., 29 (Zitat ebd., 1). Vgl. Pfeiffer 1978, 43–52. Vgl. Kroll 1924, 24–43; vom Hofe 1996, 363–367; Kleinschmidt 1997, 358f.; Schlaffer 2005, 16–18, 26–32, 69f. Vgl. Murray 2006.

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mit Xenophanes von Kolophon (ca. 570–ca. 467 v. Chr.) ein auch als Rhapsode tätiger Philosoph. Seine Kritik richtete sich gegen die Amoralität und den Anthropomorphismus des Götterbildes bei Homer und Hesiod, worin ihm andere Philosophen wie Heraklit (um 500 v. Chr.) und Platon (428/27–348/47 v. Chr.) folgten. Die Kritik der Historiker Herodot (ca. 485–424 v. Chr.) und Thukydides (ca. 460–um 400 v. Chr.) hingegen bezog sich auf Zweifel hinsichtlich der historischen Zuverlässigkeit des in den Epen Berichteten.22 Dichtung wurde dadurch mehr und mehr dem Bereich der Fiktion zugeordnet, wahres Wissen hingegen dem Bereich wissenschaftlicher Prosa. Der Herrschaftsanspruch der Philosophie über die Poesie artikulierte sich nicht zuletzt in der Entwicklung einer prosaischen Metasprache zu ihrer Beschreibung. Hervorgebracht wurde sie von den neuen Disziplinen der Rhetorik, Poetik und Grammatik, die seit dem 5. Jahrhundert entstanden. Ende des 4. Jahrhunderts war Dichtung auf diese Weise von der Trägerin zum Gegenstand des Wissens geworden.23 Dieser umfassende Wandlungsprozess bildet den Rahmen, innerhalb dessen sich allegorische und historisch-grammatische Dichtungsauslegung anfangs bewegten.24 So entstand die allegorische Interpretation sehr wahrscheinlich als Reaktion auf die philosophische Kritik zur Verteidigung des poetischen Wahrheitsanspruchs. In den Quellen, die allerdings deutlich späteren Datums sind, wird sie auf Theagenes von Rhegion, einen Rhapsoden des 6. Jahrhunderts v. Chr., zurückgeführt. Schon er habe zum einen den Götterkampf in der Ilias als allegorische Schilderung des ewigen Widerstreits der natürlichen Elemente gedeutet, „indem er das Feuer Apollon und Helios wie auch Hephaistos [nannte], das Wasser Poseidon und Skamandros, den Mond Artemis, die Luft Hera u. dgl.“25 (8 A 2); zum anderen habe er die Götter als Personifikationen menschlicher Eigenschaften interpretiert und etwa in Athene die Einsicht, in Ares den Unverstand, in Aphrodite die Begierde und in Hermes die Vernunft verkörpert gesehen (ebd.). Ist diese Darstellung richtig, dann hat schon Theagenes die beiden in der Folgezeit vorherrschenden Formen der Allegorese gekannt, die physikalische und die ethische. 22 23

24 25

Vgl. Pfeiffer 1978, 24f., 66; Richardson 1992, 30–32; Schlaffer 2005, 18, 45–48. Auch die poetische Gattungsgeschichte lässt sich als Reaktion auf den Fiktionsvorwurf der Philosophie lesen (vgl. ebd., 61–69): Demnach reagierte die Poesie auf die Bestreitung des Wahrheitsanspruchs des Epos erst mit einer Lyrik, die nur noch die persönliche Erfahrung thematisiert, später dann mit der attischen Tragödie, welche ihre mythische Handlung in den Dialogen und Chor-Kommentaren auf ihren allgemeinen Gehalt hin reflektiert und dadurch erstmals den äußeren Schein der Dichtung von ihrem inneren Sinn trennte. Zum Folgenden vgl. insbes. die nach wie vor maßgebliche Darstellung Pfeiffer 1978. Capelle 1940, 54. Die im Text angegebenen Signaturen beziehen sich auf das jeweilige griechische Fragment nach der Zählung von Diels/Kranz 1964.

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Erstere dehnte Ende des 5. Jahrhunderts Metrodor von Lampsakos von den Göttern auf die Heroen aus, indem er etwa in Achill die Sonne und in Hektor den Mond verkörpert sah; umgekehrt interpretierte er die Götter aber auch anthropologisch als Teile des menschlichen Körpers (61 A 3–4). Ethische Deutungen erfolgten vor allem in Form der moralischen Auslegung, bei der Dichtwerke nicht systematisch und Wort für Wort allegorisiert, sondern als ganze oder passagenweise auf ihren moralischen Lehrgehalt hin befragt werden. Diese Form der Auslegung entsprang der verbreiteten pädagogischen Dichtungsauffassung und wurde insbesondere im Schulunterricht als Mittel der ethischen Erziehung eingesetzt. Daneben diente sie aber auch Philosophen zur Untermauerung ihrer Lehren, so den Sophisten Anaxagoras (500–428 v. Chr.) oder Antisthenes (ca. 445–ca. 365 v. Chr.).26 Obwohl die moralischen Deutungen von systematischen Allegoresen zu unterscheiden sind, bei denen handelnde Figuren mit ethischen Tugenden oder Lastern identifiziert werden, wurden sie unter dem gleichen Oberbegriff der hyponoia subsumiert. Neben der fragmentarischen und unsicheren Quellenlage, die jede diesbezügliche Entscheidung erschwert, dürfte dies der hauptsächliche Grund dafür sein, dass viele antike Dichtungsinterpretationen hinsichtlich ihres allegorischen Charakters bis heute unterschiedlich eingeschätzt werden.27 Aller philosophischen und historischen Kritik zum Trotz erkannte auch die Stoa der Dichtung einen gewissen Wahrheitswert zu. Gemeinhin wird angenommen, die Stoiker hätten Dichtwerke mittels einer vor allem auf Namensetymologie fußenden Allegorese systematisch als absichtlich verhüllte Offenbarungen der auch in den stoischen Lehren enthaltenen Wahrheit ausgelegt. Hierzu seien sie durch ihre Vorstellung verleitet worden, der den gesamten Kosmos durchwirkende göttliche logos sei auch in die Struktur und die Wörter der Sprache eingelassen und Wissen über die göttlichen Dinge sei wegen der Inspiration der Dichter besonders durch poetische Texte zugänglich. Eine entsprechende Traditionslinie wird von den Gründervätern der Stoa – Zenon von Kition (ca. 334–262/61 v. Chr.), Kleanthes von Assos (331/30–230/29 v. Chr.) und Chrysipp von Soloi (um 290/80–ca. 206 v. Chr.) – über die Bibliothek von Pergamon, insbesondere Krates von Mallos (2. Jh. v. Chr.), bis nach Rom und zu Autoren wie Cornutus oder einem ansonsten unbekannten Heraklitus (beide 1. Jh. n. Chr.) gezogen.28

26 27

28

Vgl. Kroll 1924, 64–86; Richardson 1992, 32–34; Richardson 2006. Vgl. etwa die divergierenden Beurteilungen von Anaxagoras und Antisthenes bei Müller 1924, 17, und Cancik-Lindemaier/Sigel 1996, 520f., auf der einen Seite und Pfeiffer 1978, 55 (Anm. 99), 56–58 (mit Anm. 103), und Richardson 2006, 69, 80–86, auf der anderen Seite. Vgl. Kroll 1924, 76–83; Müller 1924, 18; Pfeiffer 1978, 289f.; Irvine 1994, 34–38; Spitz 1996, 4.

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Neuere Forschungen zeichnen jedoch ein anderes Bild.29 Auf der einen Seite seien Ausleger wie Krates und Heraklitus, die in der Tat Allegorese betrieben, keine orthodoxen Stoiker gewesen, sondern eigenständige Denker, die neben stoischem auch anderes Gedankengut aufnahmen und zu neuen Synthesen formten. Auf der anderen Seite hätten diejenigen, die wirklich als Stoiker zu bezeichnen sind, literarische Texte nicht systematisch allegorisiert, sondern eher wie historische Quellen gelesen. Ausgehend von einer Verfallstheorie der kulturellen Überlieferung hätten sie in den Götternamen und Mythen die auf Naturbeobachtung fußenden richtigen Einsichten der Alten ausgedrückt gesehen, welche die Dichter zwar aufgenommen, durch ihre eigenen Hinzuerfindungen aber verfälscht hätten. Es sei ihnen daher darum gegangen, die in den Erzählungen enthaltene Weltsicht der Alten durch etymologische Forschung erst zu ermitteln und dann mit ihrer eigenen Lehre abzugleichen. Dabei seien aber weder die Dichter noch die Alten als Kryptostoiker gedeutet worden, die philosophisches Wissen bewusst in Allegorien gekleidet hätten. Vielmehr habe der Mythos als die ursprüngliche Form archaischer Naturerkenntnis gegolten. Zu der Vorstellung, dass Homer bewusst Allegorien verfasst hätte, sei es zwar von hier aus nur noch ein kleiner Schritt gewesen, doch sei diese Ansicht unabhängig von den Stoikern entwickelt worden und erst spät zum Vorschein gekommen, bei Heraklitus etwa oder in dem anonymen, unter den Werken Plutarchs überlieferten Traktat De Homero. Welche Sicht auch immer die richtige sein mag, am Ende der Entwicklung stand eine stoisch inspirierte Allegorese, aus deren Verbindung mit platonischen Vorstellungen im Neuplatonismus zwischen dem 2. und 5. Jahrhundert n. Chr. eine konsequent allegorische Dichterauslegung hervorging. Bei dieser wurde Klassikern wie Homer unterstellt, dass sie qua Inspiration über eine Art Offenbarungswissen verfügt hätten, weshalb ihre Werke mit der platonischen Metaphysik als dem reinsten Ausdruck dieses Wissens vereinbar seien.30 Die platonische Ideenlehre diente als der umfassende Deutungsrahmen, innerhalb dessen ganze Werke, einzelne Szenen oder Ausdrücke systematisch mittels Allegorese verortet wurden. Ermöglicht wurde dieses Verfahren durch die Annahme, Wörter verwiesen nicht nur auf eine einzige Sache, sondern seien wie alle Dinge in der Welt vieldeutig. Vor diesem Hintergrund konnten Neuplatoniker wie Porphyrios (ca. 234–305/10) oder Proklos (412–485) als den wahren Gegenstand von Ilias und Odyssee das Schicksal der Seelen und die Struktur des Universums ausmachen. So zeige die Ilias den durch die mächtige Anziehungskraft der Schönheit des 29 30

Vgl. Lamberton 1992, xvi–xx; Porter 1992, 85–114; Long 2006. Vgl. Lamberton 1992, xixf.; Lamberton 1992a; Spitz 1996, 4f.; Kennedy 1997a, 331f.; Russel 1997, 298f., 322–328.

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Kosmos (Helena) ausgelösten Abstieg der Seelen in diese Welt, die eine Welt des Streits ist (Krieg um Troja), während die Odyssee von der schwierigen Rückkehr einer dieser Seelen (Odysseus) aus dem „Meer“ der Materie in einen wieder „trockenen“ Zustand (Ende der Irrfahrt) und der Befreiung der Seele von aller Erinnerung an das materielle Universum berichte.31 Schließlich wurde der Neuplatonismus, obschon eine ursprünglich griechische Bewegung, durch Macrobius’ (5. Jh.) Kommentar zu Ciceros (106–43 v. Chr.) Somnium Scipionis auch in die westliche Tradition eingebracht, wo er insbesondere für die christliche Exegese wichtig wurde. Während die allegorische Interpretation Inspiriertheit und Wahrheitsanspruch der Dichtung verteidigte, beförderte die historisch-grammatische Auslegung eher die gegenläufige Tendenz. Ihre frühesten Spuren führen ebenfalls ins 6. Jahrhundert v. Chr. zurück.32 Es steht zu vermuten, dass bereits damals Rhapsoden Listen mit Erklärungen alter und ungebräuchlicher Wörter, sogenannte Glossen (glossai), anfertigten und etymologische Erklärungen von Wörtern und Ausdrücken gaben. Ferner soll bereits Theagenes Biographisches zu Homer verfasst und auch über die griechische Sprache geschrieben haben (8 A 1, 1a, 2). Im 5. Jahrhundert verbreiteten dann die Sophisten gemäß ihrer rhetorischen und pädagogischen Grundausrichtung eine technische Sichtweise, bei der Dichtwerke in erster Linie als stilistische Übungsobjekte für den formal und inhaltlich korrekten Sprachgebrauch dienten. Auf diese Weise wurden sie zu ersten Ansätzen auf dem Gebiet der Grammatik geführt. Darüber hinaus begannen die Sophisten als Erste mit der Sammlung von Antiquitätenwissen (archaiologia, lat. antiquitates) rund um die in den Dichtungen verhandelten Gegenstände aus Mythologie, Geographie, Geschichte etc. Zur gleichen Zeit findet sich bei Herodot erstmals Überlieferungskritik. Er bezweifelte hinsichtlich der Kypria die Autorschaft Homers, weil die Schilderung des Weges, den Paris und Helena von Sparta nach Troja nehmen, von derjenigen der Ilias abweicht. Antimachos von Kolophon (5./4. Jh. v. Chr.) schließlich besorgte um 400 v. Chr. die erste sicher bezeugte Homer-Ausgabe und schrieb über dessen Leben. Wie darüber hinaus Platon in seinem Dialog Protagoras und Aristoteles (384–322 v. Chr.) in Kapitel 25 seiner Poetik zeigen, wurden auch schon vor ihrer systematischen Erfassung durch die Grammatiker und Rhetoriker Interpretationsstrategien angewendet, die auf eine kontextgebundene Ermittlung der Autorintention abzielten.33 So dringt Platons Sokrates – wenn auch letztlich nur zum Erweis der Vergeblichkeit einer all31 32 33

Vgl. Lamberton 1992, xx. Zum Folgenden vgl. Pfeiffer 1978, 28f., 33f., 52–80, 122f.; Richardson 1992, 31f. Vgl. hierzu vor allem Eden 1997, 21–26. Vgl. auch Pfeiffer 1978, 52–54, 94–97. Zur hellenistisch-römischen Auslegung nach den Regeln der Grammatik und Rhetorik s. u. Kap. I.3.

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gemeingültigen Deutung – bei der Interpretation eines Gedichts von Simonides (ca. 557/56–468/67 v. Chr.) auf die Berücksichtigung sowohl des historischen wie auch des sprachlichen Kontexts. Der Interpret müsse die Bedeutungsänderung einzelner Wörter, die Intention des Gedichts als Ganzen und die Bedeutung von Ausdrücken an anderen Stellen des Werks beachten, ferner die zeitgenössischen Gepflogenheiten, für die der Vergleich mit anderen Werken zu suchen ist. Auf diese Weise glaubt er die inneren Widersprüche, die sein Gesprächspartner Protagoras im Text gefunden hat, auflösen zu können. Ganz ähnlich geht Aristoteles vor, wenn er zur Behebung von Schwierigkeiten im Verständnis des homerischen Werkes auf alte Bräuche (historischer Kontext) und auf die Einordnung einer Aussage in den Erzählzusammenhang (sprachlicher Kontext) verweist. Alle diese Elemente wurden zwischen dem dritten und der Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. an der dem Museion angeschlossenen Bibliothek von Alexandria zu einer historisch-grammatisch orientierten Philologie verbunden.34 Maßgeblich beteiligt waren die dortigen Bibliothekare Zenodot (ca. 325–260 v. Chr.), Kallimachos (ca. 320/03–nach 246 v. Chr.), Eratosthenes (3. Jh. v. Chr.), Aristophanes von Byzanz (ca. 265/57–ca. 190/80 v. Chr.) und Aristarch (ca. 216–144 v. Chr.). Aufgabe und Zweck der Bibliothek war die Sammlung des gesamten Wissens der antiken Welt, so dass die schiere Menge der versammelten Bücher neue Fragen aufwarf und neue Methoden erforderlich machte. Die Frage etwa des Umgangs mit Textvarianten in verschiedenen Manuskripten beantworteten die sich nun als Philologen (philologoi bzw. grammatikoi) verstehenden Bibliothekare mit der Erarbeitung kritischer Ausgaben (diorthoseis) auf Grundlage umfassenden Manuskriptvergleichs, wozu sie ein umfangreiches Arsenal kritischer Zeichen anlegten und die Texte zur besseren Lesbarkeit gelegentlich schon mit Akzenten und Interpunktion versahen oder Gedichte kolometrisch (nach Sinneinheiten) gliederten. Als Verständnishilfen verfassten sie lexikalische Werke, Glossen, Antiquitäten-Handbücher, Dichterbiographien und Werke zur Grammatik. Kallimachos führte ferner Listen (pinakes) ein, in denen alle bedeutenden Autoren zu jedem Sachgebiet alphabetisch geordnet und mit Informationen zur Biographie und den Titeln ihrer Werke aufgeführt waren. Ergänzend zu diesen auf Vollständigkeit ausgelegten pinakes fertigte Aristophanes später Auswahllisten der gemäß kritischer Prüfung (krisis poiematon) für ästhetisch, ethisch oder politisch besonders wertvoll erachteten Dichter und Prosaschriftsteller an. Die Aufgenommenen hießen enkrithentes, ‚die Gebilligten‘, bei den Römern später in Analogie zur militärischen und politischen Begrifflichkeit classici im Sinne von 34

Zum ganzen Folgenden vgl. Pfeiffer 1978, 114–285; Wilson 1997, 89–94.

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‚der obersten Klasse angehörig‘. Die Griechen nannten sie bald auch prattomenoi, ‚die Behandelten‘, d. h. die von den Grammatikern kommentierten und in der Folge immer wieder abgeschriebenen Autoren, im Unterschied zu den ekkrithentes, den ‚nicht Aufgenommenen‘ und damit dem Vergessen Anheimgegebenen.35 Mit dieser Kanonbildung36 einher ging die umfassende Kommentierung der Klassiker, bei der sich insbesondere Aristarch hervortat, der angeblich über 800 Kommentare verfasste. Die Kommentare (hypomnemata) wurden auf separate Papyrusrollen geschrieben. Die Verbindung zum Text stellten dort angebrachte Randzeichen (semeia) her. Inhaltlich weisen die Kommentare eine große Bandbreite auf; sie reichen von einfachen Worterklärungen über linguistische, stilistische oder biographische Fragen bis hin zu ästhetischen oder moralischen Gesamturteilen und zur Allegorese.37 Daneben übte Aristarch auch Textkritik, vor allem bei Homer, aus dessen Epen er alles nicht echt Homerische auszusondern suchte, indem er es am Sprachgebrauch der epischen Epoche maß. Zu verwerfende Passagen tilgte er dabei allerdings nicht einfach, sondern markierte sie lediglich im Text (Athetese). Eine andere Form der Auseinandersetzung mit kritischen Fragen (wie der nach der Echtheit) war ihre separate Behandlung in Monographien (syngrammata). Den Sprachstudien kam bei den vorrangig mit der Dichtererklärung befassten Alexandrinern lediglich eine Hilfsfunktion zu. Stärkeres Gewicht besaßen sie bei den Stoikern, die ihnen einen festen Platz in ihrem philosophischen System zuwiesen und in Aufnahme und Weiterführung älterer Vorarbeiten seit den Sophisten die grammatischen Regeln und die Terminologie fixierten. Einen solchen stoischen Einfluss weist auch die Techne grammatike auf, die überaus einflussreiche Summe alexandrinischer Philologie des Aristarch-Schülers Dionysios Thrax (ca. 180/70–ca. 90 v. Chr.). So verfügt sie über einen grammatischen Teil, in dem die Buchstaben des Alphabets, ihre Einteilung in Vokale, Diphthonge und Konsonanten, die Silben und die acht Teile der Rede behandelt werden: Nomen, Verb, Partizip, Artikel (nebst Relativpronomen), Pronomen, Präposition, Adverb und Konjunktion. Der Hauptteil freilich ist auch hier der Interpretation gewidmet. Von Dionysios’ Traktat aus fanden die methodischen Grundlagen der hellenistischen Textinterpretation, modifiziert durch Kommentare und ergänzende Schriften wie vor allem die Grammatika des Asklepiades von Myrlea (2./1. Jh. v. Chr.), schließlich Eingang in die römische Grammatik. Über sie wurde das hellenistische Verfahren dann an die Spätantike wie auch das christliche Mittelalter weitergegeben.38 35 36 37 38

Zum Verhältnis von Kanonbildung und Vergessen s. Hose 1999, 281–284. Die Bezeichnung Kanon stammt aus dem 18. Jahrhundert (vgl. Pfeiffer 1978, 255). Vgl. Montarini 1998, 814. Vgl. Pfeiffer 1978, 297, 321–329; Irvine 1994, 43–87.

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3. Römische Antike: Dichterauslegung in Grammatik- und Rhetorikunterricht Auf dem Gebiet der Literatur waren die Römer stark von den Griechen abhängig. Nicht nur schufen sie ihre Nationalliteratur überwiegend als Kopie und Nachahmung griechischer Gattungsvorbilder, auch orientierten sie sich bei der Formung ihrer literarischen Sprache in Stil und Metrik an der griechischen. Darüber hinaus übernahmen sie die in Griechenland entwickelten kritischen Systeme der Poetik, Grammatik und Rhetorik zur Beurteilung von Literatur und wählten anhand der dort definierten Kriterien aus, welche Stücke imitiert werden sollten.39 Aber nicht nur auf literarischem Gebiet, ganz allgemein fand im Gegenzug zur militärischen Unterwerfung des griechischen Ostens durch Rom im 2. und 1. Jahrhundert v. Chr. eine massive kulturelle Hellenisierung Roms statt. Diese schlug sich nicht zuletzt in der Übernahme des dreistufigen griechischen Schulsystems nieder. In diesem folgte auf den Elementarunterricht in Lesen, Schreiben und Rechnen für die 7- bis 11-Jährigen ein ebenfalls rund vierjähriger Grammatikunterricht, der anhand zentraler Dichtwerke zu Sprachbeherrschung und Dichtungsverständnis (recte loquendi scientiam et poetarum enarrationem40) anleiten sollte, ehe im anschließenden Rhetorikunterricht die Techniken zum Verfassen eigener Reden eingeübt wurden; alternativ oder ergänzend zum Rhetorikunterricht konnte zudem ein Philosophiestudium absolviert werden.41 Erteilt wurde der Unterricht zumal in der Oberschicht vielfach von Privatlehrern, erst allmählich entstanden daneben auch öffentliche Schulen. Dichterauslegung fand vor allem im Grammatikunterricht statt, sie wurde aber auch von Philosophen und Rhetoriklehrern geübt. Die Übergänge waren dabei fließend, da zum einen Grammatik- und Rhetorikunterricht häufig von derselben Person erteilt wurde, zum anderen die Grammatiker nicht frei von philosophischer Beeinflussung waren.42 Das im Grammatikunterricht zum Einsatz kommende Standardverfahren, auf dessen Herkunft aus dem Hellenismus bereits hingewiesen wurde (s. o. Kap. I.2), umfasste vier aufeinander folgende Schritte: Lektüre (anagnosis; lectio), Texterklärung (exegesis; enarratio), Textkritik (diorthosis; emendatio) und Beurteilung (krisis poiematon; iudicium).43 39 Vgl. Kroll 1924, 1–23; Friedrich 1996; Conte 1997; Fantham 1997; Lefèvre 1997. 40 Quint. inst. I, 4, 2 (Rahn 1995, Bd. 1, 46). 41 Zum Schulsystem nach wie vor grundlegend Marrou 1997. S. ferner Bonner 1977; Christes/Klein/ Lüth 2006. 42 Vgl. Bonner 1977, 240f.; Marrou 1977, 307f., 491; Zwierlein 2002, 87. 43 So erstmals in der Glosse zu Dionysios Thrax, der selbst noch sechs Schritte unterschieden hatte

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Schon der erste Schritt, die Lektüre, stellte eine gewisse Interpretationsleistung dar, denn die Texte waren gewöhnlich ohne Worttrennung und Interpunktion (scriptio continua) geschrieben und mussten beim Lesen daher von Neuem als Sinngebilde rekonstruiert werden. Die anschließende Texterklärung gliederte sich in eine „buchstäbliche“ (grammatikon; verborum interpretatio) und eine „literarische“ Erklärung (historikon; historiarum cognitio). Erstere diente der Klärung des Wortlauts sowohl in formaler Hinsicht durch Hinweise zu Grammatik und Metrik als auch inhaltlich durch glossarische und etymologische Anmerkungen. Der grammatische Part umfasste die Untersuchung von Satzbau, Kasus, Formen, übertragenem Sprachgebrauch (Tropen) und figürlicher Rede. Insbesondere den Tropen und hier vor allem den Metaphern sowie den (vermeintlichen) Allegorien wurde große Aufmerksamkeit zuteil, bei den Figuren ferner den Gleichnissen bzw. dem Vergleich. Aufgrund ihrer inhaltlichen Nähe zum ersten Verfahrensschritt wurde die buchstäbliche Erklärung in der Praxis häufig nicht scharf von der Lektüre getrennt, sondern mit dieser zusammen vorgenommen. Die literarische Erklärung thematisierte die im Text vorkommenden Personen, Orte, Zeiten und Ereignisse. Sie wandte sich vor allem der vielfach als „Genealogie“ bezeichneten Mythologie zu, vermittelte daneben aber auch allerlei sonstige Sachkenntnisse zu Geschichte, Geographie usw. Der darauf folgende Schritt der Textkritik hatte im Grammatikunterricht nicht dieselbe Bedeutung wie noch bei den Alexandrinern mit ihrer stärker akademischen Textgelehrsamkeit. Er beschränkte sich für gewöhnlich auf den Abgleich der Lehrer und Schülern vorliegenden Textfassungen, wie überhaupt das Hauptgewicht auf der Interpretation, dem Textverstehen, nicht auf der Kritik lag. Entsprechend zielte die abschließende Beurteilung eines Dichtwerks weniger auf eine ästhetische Würdigung denn auf die Erhebung des ethisch-moralischen Gehalts. Die Grammatiker folgten damit dem Vorbild der Philosophen (s. o. Kap. I.2), auch wenn das in der Praxis vielfach auf „plattes Moralisieren“44 hinauslief. Teilweise griffen sie in ihren Auslegungen auch auf das Mittel der Allegorese zurück – ein wichtiges Beispiel hierfür ist Plutarchs (ca. 46–ca. 120) Schrift Quomodo adulescens poetas audire debeat –, und so fanden im grammatischen Schulverfahren beide Auslegungsweisen, die historisch-grammatische und die allegorische, in einem umfassenden Ansatz zusammen. Demgegenüber pflegte die Rhetorik eine stärker ästhetische Betrachtungsweise. Untersucht wurden insbesondere der Aufbau der Texte (oeconomia) und die Ange-

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(vgl. Marrou 1977, 316f.; Irvine 1994, 43–46). In dieser vierteiligen Gestalt übernahm es dann Varro (116–27 v. Chr.) in die römische Grammatiktradition und kodifizierte es Quintilian (ca. 35–ca. 96) in seiner Institutio oratoria (vgl. Irvine 1994, 50–55). Zur folgenden Darstellung des Verfahrens vgl. Bonner 1977, 212–249; Marrou 1977, 317–324. Baumgarten 2006, 96.

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messenheit (to prepon; decorum) von Sprache und Handlungsführung hinsichtlich der geschilderten Ereignisse und Figuren. Ferner ging es um Diktion, Prägnanz und lebenspraktische Relevanz der präsentierten Gedanken sowie um Ausführlichkeit oder Kürze des Ausdrucks, wobei vielfach auch hier die Angemessenheit (etwa des Sprachstils zur jeweiligen Gattung oder des Ausdrucks zu den Umständen) das wichtigste Kriterium darstellte.45 Die ästhetische Untersuchung von Dichtung diente in dem ansonsten eher mit Prosatexten befassten Rhetorikunterricht der stilistischen Schulung, doch sollte sie nach Rhetoriklehrern wie Quintilian auch schon im Grammatikunterricht geübt werden.46 Grammatik und Rhetorik waren innerhalb des Curriculums eng verbunden, denn die Grammatik galt als Vorbereitung der Rhetorik. Die Stilistik bildete die Schnittstelle zwischen beiden Bereichen. Mit ihr beschäftigten sich beide Disziplinen, wenn auch in unterschiedlicher Weise: die Rhetorik mehr unter dem Aspekt der Textherstellung, die Grammatik mehr unter dem der Interpretation. Allerdings galt dies nicht ausschließlich. So wurden einerseits die einführenden Stilübungen vielfach bereits im Grammatikunterricht durchgeführt, andererseits war auch die Rhetorik mit Textauslegung befasst, denn schließlich beruhte auch die rhetorische Argumentation, die vor allem eine forensische war, auf der Interpretation schriftlicher Quellen wie Gesetzen, Verträgen und Testamenten (interpretatio scripti). Bei dieser interpretatio scripti wandten die Rhetoriker die gleichen interpretativen Strategien an wie die Grammatiker bei der Dichtungsinterpretation (überhaupt konnten interpretatorische Prinzipien aufgrund der geschilderten Nähe beider Disziplinen leicht übertragen werden).47 Auf Grundlage der Beobachtung, dass einzelne Wörter in sich mehrdeutig sind, galt der Grundsatz, den Teil aus dem Ganzen zu verstehen, d. h. einzelne Textstellen aus ihrem weiteren textlichen und historischen Kontext heraus zu deuten und, hierbei das Sinnganze mit dem vom Autor intendierten Sinn in Beziehung setzend, den buchstäblichen Sinn des Textes gegebenenfalls durch die angenommene Autorintention zu „korrigieren“. Es sind dies letztlich auch die Prinzipien der historisch-grammatischen und der allegorischen Interpretation. Für die Anpassung des Textsinns einzelner Stellen an das größere Ganze – Autorintention, sprachlicher und historischer Kontext – griffen die Rhetoriker auf verschiedene Akkommodationsprinzipien zurück: bei der Autorintention auf das Prinzip der Billigkeit (epieikeia; aequitas), das im juristischen Kontext die Anpassung des allgemeinen Gesetzestextes an die jeweiligen Besonderheiten des Einzelfalls durch Berück45 46 47

Vgl. Bonner 1977, 244–248. Vgl. ebd., 244; Marrou 1977, 322. Zum Folgenden vgl. Marrou 1977, 328f., 520; Irvine 1994, 53–55; Eden 1997, 20. Vgl. hierzu insbes. ebd., 7–40.

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sichtigung der Absichten von Täter und Gesetzgeber forderte, beim sprachlichen Kontext auf das Prinzip der oeconomia und beim historischen Kontext auf das Prinzip des decorum. Sie alle hatten ihren Ort und damit ihre Legitimation in dem bis ins Letzte durchkomponierten Lehrgebäude der antiken Rhetorik.48 Deren umfassendstes Einteilungsschema bestand in den fünf Arbeitsschritten (officia oratoris), die zur Herstellung einer Rede benötigt werden: Themenfindung (heuresis; inventio), Gliederung (taxis; dispositio), sprachliche Ausarbeitung (lexis; elocutio), Auswendiglernen (mneme; memoria) und Vortrag (hypokrisis; pronunciatio). Jede Redegattung, die Gerichtsrede ebenso wie die politische und die Festrede, sah dieses Schema vor. Das Billigkeitsprinzip war in der zur inventio gehörenden stasis- bzw. status-Lehre verankert, mittels welcher juristische Einzelfälle durch Verallgemeinerung ihrer konkreten Umstände allgemeinen Problemen und typischen Streitpunkten (staseis; status) zugeordnet wurden. Die Streitpunkte wurden unterschieden, je nachdem sie den Sachverhalt selbst (genus rationale) oder die Interpretation der maßgeblichen Normtexte (genus legale) betrafen. Zum genus legale zählten vier Problemtypen49, darunter die Diskrepanz von Wortlaut und Sinn bzw. Aussageabsicht (scriptum vs. sententia bzw. voluntas). Für diesen Fall empfahlen die Rhetorikhandbücher zur Verteidigung der eigenen Position die Strategie der „Berichtigung“ des Wortlauts, d. h. der Erweiterung oder Engführung des Sinns einer Aussage, indem unter Berufung auf das Billigkeitsprinzip die vom Autor mit den Worten der betreffenden Stelle intendierte Aussage je nach Erfordernis als eine ganz unbestimmte oder als eine ganz konkrete behauptet wird.50 Das Prinzip der oeconomia war das Gestaltungsprinzip des zweiten Arbeitsschritts, der Gliederung (dispositio). Es bezeichnet die absichtsvolle, auf Harmonie und größtmögliche Wirkung beim Auditorium angelegte Anordnung des Stoffs gemäß dem jeweiligen Gegenstand. Bedeutet dies für die Erstellung einer Rede, dass bei der Komposition der einzelnen Redeteile stets das Ganze im Blick sein muss, so umgekehrt für die Interpretation, dass zum Verständnis einer Stelle stets der gesamte textliche Kontext zu berücksichtigen ist.51 Das Prinzip des decorum schließlich gehörte zum dritten Arbeitsschritt, der elocutio, i. e. der Stilistik. Diese umfasste neben der Unterscheidung der drei Stilarten (schlichter, mittlerer und erhabener Stil) die Lehre von den Stilqualitäten. Hierzu zähl48 49 50 51

Vgl. dazu Fuhrmann 1990, 75–152; Lausberg 1990; Ueding/Steinbrink 2005, 209–328. Zur Geschichte der Rhetorik s. Fuhrmann 1990, 15–73; Ueding/Steinbrink 2005, 13–47. S. hierzu auch Kap. I des Beitrags „Recht“ in diesem Band. Vgl. Eden 1997, 7–17. Vgl. ebd., 27–30.

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ten sprachliche Korrektheit (hellenismos; latinitas), Klarheit des Ausdrucks (sapheneia; perspicuitas), Schmuck der Sprache (kataskeue; ornatus) – etwa durch ungewöhnliche Ausdrücke, Tropen und Figuren – und eben auch die Angemessenheit der Rede (to prepon; aptum oder decorum) in Bezug auf Situation, Stoff, Redner und Publikum. Diese kompositorische Anpassung des Redestils an die jeweiligen Umstände hieß in interpretativer Wendung, dass bei der Auslegung die gleichen Fragen wie bei der Verfertigung der Rede zu stellen waren (quis, quid, ubi, quibus auxiliis, cur, quomodo, quando) und also der historische Kontext, die circumstantiae der späteren grammatischen Tradition, berücksichtigt werden muss.52

4. Theorie der Dichtung: Poetik Wie Dichtung in der Antike verstanden wurde, zeigt sich nicht nur in der interpretatorischen Praxis und den grammatischen und rhetorischen Lehrbüchern, sondern auch in der antiken Poetik. Poetik beschäftigt sich – in häufig nicht deutlich geschiedener Form – mit Theorie, Praxis und Kritik der Dichtung, also mit Wesen, Ursprung, Aufgabe, Bedeutung und Formen (Gattungen) von Dichtung, mit den Mitteln und Techniken zu ihrer Hervorbringung und der Ableitung von Kriterien für ihre Beurteilung.53 Anders als bei der Interpretation richtet sich der Blick der Poetik vor allem auf den Dichter und die Tätigkeit des Dichtens, was dazu führte, dass bis ins 18. Jahrhundert hinein der normative, die Setzung von Regeln zur Produktion guter Dichtung betreffende Aspekt überwog (Regelpoetik). Zentrale Felder der Poetik sind die ontologisch-anthropologische Grundlegung des Dichtens, die Bestimmung von Stil, Struktur und literarischen Verfahrensweisen poetischer Werke (Werkästhetik), die Klärung produktions- (Autor und Entstehung) und rezeptionsästhetischer Fragen (Verstehen und Wirkung von Dichtung) sowie die Bestimmung des Verhältnisses der Dichtung zur Wirklichkeit. Die wirkungsgeschichtlich bedeutsamsten Poetiken der Antike stammen von Platon, Aristoteles, Horaz (63–8 v. Chr.) und einem anonymen, gemeinhin als Pseudo-Longin bezeichneten Autor vermutlich des ersten nachchristlichen Jahrhunderts. Ihre Vorstellungen und Argumente bestimmten die poetologischen Debatten bis weit in die Neuzeit, wenn auch teils in Form des Missverständnisses. Platon äußerte sich zur Poetik nicht in einer systematischen Abhandlung, sondern in verschiedenen Zusammenhängen und verstreut über sein ganzes Werk, des52 53

Vgl. ebd., 26f. Vgl. Allkemper/Eke 2006, 62. – Zum Folgenden vgl. Müller-Richter 2002, 382; Fricke 2003, 100f.; Jung 2007, 9–11.

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sen überwiegende Dialogform das Ausmachen seiner eigenen Ansichten zusätzlich erschwert. Zu den wiederkehrenden Themen zählen insbesondere die dichterische Gottbegeistertheit (enthusiasmos) und der Nachahmungscharakter von Dichtung (mimesis). Beide galten lange als in sich und auch untereinander widersprüchlich und spannungsreich, Platon zudem bis ins 20. Jahrhundert hinein als mehr oder minder dezidierter Dichtungsgegner. Neuerdings zeichnet die Forschung demgegenüber ein konsistenteres und poesieaffineres Bild. Nach diesem stimmt zwar die traditionelle Annahme, Platon habe Dichtung in Ermangelung eines entsprechenden Fiktionalitätskonzepts nicht als autonomes Gebilde angesehen, sondern am gleichen Maßstab objektiver Wahrheit und Erkenntnis gemessen wie philosophische Texte. Hieraus wird nun aber keine grundsätzliche Ablehnung der Dichtung mehr abgeleitet, sondern nur noch ein Nein zu bestimmten Formen von Dichtung und Teilen der poetischen Tradition.54 Das Kennzeichen von Dichtung sieht Platon demnach im Unterschied zur ihm vorausgehenden Tradition nicht im Versmaß, sondern in ihrem abbildenden Charakter (mimesis).55 Allgemein gesprochen, erzeugt (gute) Dichtung durch die Sprache ganz oder teilweise erfundene56 Vorstellungsbilder, die als Abbilder idealer, sinnlich nicht wahrnehmbarer Vorbilder diese aufgrund der zwischen Vor- und Abbild geforderten Ähnlichkeit wahrnehmbar machen. Konkret gewendet, stellt sie Handlungen menschlicher und göttlicher Charaktere dar und lässt so die verschiedenen Seelenvermögen der Charaktere, ihre Tugenden und Untugenden, erkennen. Dieses Ziel wird erreicht, indem die einzelnen Handlungen so zu einer Geschichte (mythos) verbunden werden, dass die Gesamthandlung als notwendige Folge der Charaktere und ihrer Handlungen und Ziele erscheint, so dass umgekehrt aus den Handlungen auf die Eigenschaften der Charaktere geschlossen werden kann. Was gute von schlechter Dichtung unterscheidet, ist die „Erkenntnishaltung“ (Büttner) des Dichters, d. h. Gegenstand und Weise seiner Erkenntnis. Ontologisch unterscheidet Platon zwischen den ewigen Ideen der intelligiblen Welt und ihren unvollkommenen Abbildern in der Erscheinungswelt, psychologisch zwischen drei Seelenteilen mit je spezifischen Erkenntnisweisen. Die beiden unteren Seelenteile sind Begierde (epithymetikon) und Mutartiges (thymoeides); ihre Erkenntnisweisen, Wahr54

55 56

Hierzu und zum Folgenden vgl. Büttner 2000. Quellengrundlage ist Platon 2001. Den älteren Forschungsstand repräsentieren u. a. Wiegmann 1977, 3–5; Pfeiffer 1978, 82f.; Blume 1989, 1012; Puelma 1989, 83–85; Wiegmann 1996, 1505–1508; Ferrari 1997; Fuhrmann 2003, 70–92. Zum platonischen Mimesisbegriff vgl. auch Büttner 2004. Mimesis bezeichnet somit nicht das sklavische Kopieren der Realität (vgl. Büttner 2000, 139–142; Büttner 2004, 45–47).

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nehmen (aisthesis) und Meinen (doxa), sind der Erscheinungswelt zugeordnet. Der höchste Seelenteil ist die Vernunft (logistikon). Mit dem Denken als seiner Erkenntnisweise ist er auf die intelligible Welt gerichtet, wobei das Denken selbst unterteilt ist in den Intellekt (nous), der die Ideen als solche erfasst, und die Ratio (dianoia), die die Zusammenhänge unter den Ideen aufzeigt und argumentativ begründetes Wissen (episteme) über sie liefert. Dieser Hierarchisierung entsprechend, wählt gute, und das heißt für den Einzelnen wie für das Staatswesen pädagogisch wertvolle Dichtung denselben Gegenstand wie das Denken: die ewig wahren Ideen der intelligiblen Welt. Gute Dichtung schildert die Welt also nicht, wie sie ist, sondern in ihrer Idealität, d. h., gute Handlungen gehen stets auf gute Charaktere zurück und führen immer zu Glück und Erfolg, während schlechte Charaktere schlechte Taten begehen und Schaden davontragen. Die hinter dieser mimesis stehende Erkenntnishaltung ist die des Denkens, ihr Fundament im besten Fall bewusste episteme – der beste Dichter (und Kritiker) ist folglich der Philosoph. Die Prüfung der überlieferten Dichtung veranlasst Platon jedoch, den Dichtern die Erkenntnishaltung des Meinens zuzuschreiben. Ihre mimesis habe sich nicht auf die intelligible, sondern die empirische Welt gerichtet, zumal ohne von einem Wissen über das in den Ideen liegende Wesen der Dinge getragen zu sein, welches ihr Urteil und ihre Darstellung hätte orientieren können. Dennoch trifft er auch bei ihnen philosophisch einwandfreie Passagen an. Häufig schreibt er dies ihrem enthusiasmos zu. Unter diesem verstand Platon entgegen der traditionellen, von der Antike bis ins 20. Jahrhundert vorgetragenen Ansicht nun aber wohl nicht den furor poeticus im Sinne einer den Dichter rein passiv ereilenden Art irrationaler Besessenheit durch die Gottheit, sondern die auf natürlicher Begabung beruhende Fähigkeit, durch den Intellekt eine Art Wissen von bestimmten Ideen (und damit eine Verbindung zum Göttlichen) zu haben, das zwar, da die Ratio nicht beteiligt ist, vom Dichter nicht rational explizierbar und somit ein unbewusstes Wissen ist, das ihn aber bei der Betrachtung und Darstellung der Erscheinungswelt zu richtigen Einschätzungen und Meinungen gelangen lässt. Eben darum aber, weil sie das Wahre, Gute und Schöne nicht erklären, sondern nur in paradigmatischen Abbildern darstellen kann, ist selbst enthusiastische Dichtung der Philosophie als der höchsten Form des Enthusiasmus unterlegen, denn sie führt allenfalls bis an die Schwelle rationaler Erkenntnis. Die aus der Erkenntnishaltung des Meinens heraus dichtenden Dichter haben aber auch falsche Meinungen vertreten. Sie haben schlecht agierende Charaktere für gut und glücklich ausgeben oder, wie Homer und Hesiod, Götter und Heroen als unmoralisch oder weinerlich geschildert. Wo Charakter und Handlung nicht übereinstimmen, ist für Platon die erforderliche Ähnlichkeit zwischen Intelligiblem (Charakter)

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und Wahrnehmbarem (Handlung) nicht mehr gegeben. Daher bezeichnet er solche Dichtung auch als Lüge (Politeia 377d–e) – ein Vorwurf, auf den sich Dichtungsgegner bis in die Neuzeit beriefen, wenn auch in dem ganz anderen Sinn, Dichtung als Fiktion sei Verfälschung der Wirklichkeit.57 In diesen Fällen glich kein Enthusiasmus das fehlende philosophische Wissen der Dichter aus, sondern die Darstellung gibt die Charaktere und Handlungen in all ihrer real vorfindlichen Wechsel- und Fehlerhaftigkeit wieder und folgt die Bewertung den unreflektierten und falschen Meinungen der Masse. Diese – und nur diese – mimesis, die auf Basis der Erkenntnishaltung des falschen Meinens erfolgt und der kein Enthusiasmus aufhilft, lehnt Platon im zehnten Buch der Politeia (595a–608d) ab. Sie wird dort als von nur drittrangigem Wahrheitswert geschildert, weil sie nicht die Ideen, sondern die Scheingebilde dieser Welt und diese auch nur in verzerrter Perspektive abbilde. Für die Zukunft fordert Platon daher die Reinigung der überlieferten Literatur und die Anfertigung einer neuen, philosophischen Dichtung, einer „gereinigte[n], gesinnungsertüchtigende[n] Zweckpoesie“58. Wegen ihrer pädagogischen Wirkung soll sie vor allem gute Charaktere und die Nützlichkeit guten Handelns zeigen. Bevorzugte Gattung hierfür ist die erzählende Dichtung, in welcher der Dichter als er selbst und nicht nachahmend durch eine Figur spricht, insbesondere der Götter- und Herrscherlobpreis (Hymnen und Enkomien). Dichtwerke der beiden anderen Gattungen, der nachahmenden (Tragödie, Komödie) und der gemischten, teils nachahmenden, teils erzählenden Dichtung (Epos), sind nur bedingt geeignet: die Tragödie gar nicht, da sie ohne fehlerbehaftete Charaktere nicht auskommt, die Darstellung (ganz oder teilweise) schlechter Charaktere dem Publikum aber ein schlechtes Beispiel gibt und sich negativ auf den Seelenhaushalt sowohl der Darsteller als auch des Publikums auswirkt; die Komödie unter Umständen, da sie zwar schlechte Charaktere zeigt, diese jedoch als – noch dazu verlachte – Kontrastfolie für das zu Erstrebende Gute dienen können (Nomoi 816d–817a); das Epos dann, wenn es überwiegend gute Charaktere schildert. Grundsätzlich wird Dichtung aber nicht abgelehnt. Außer bei Platon hat die Forschung auch bei Aristoteles ihr Bild von seinen poetologischen Vorstellungen in den letzten Jahren grundlegend revidiert.59 Seit der 57

58 59

Allerdings verwendet auch Platon das Wort Lüge (pseudos) unter anderem als Bezeichnung für die Fiktionalität von Dichtung und damit in dem hier gemeinten Sinn – allerdings ohne die pejorative Wertung (vgl. Büttner 2004, 46 [mit Anm. 51]). Fuhrmann 2003, 92. Federführend hierbei war der Marburger Altphilologe Arbogast Schmitt mit seinem gemeinsam mit Schülern und Kollegen durchgeführten Projekt Neuzeitliches Selbstverständnis und Deutung der Antike. Zur folgenden Darstellung der aristotelischen Poetik vgl. insbes. Schmitts Einleitung und Kommentar in Aristoteles 2008, 45–137, 195–742. Zum aristotelischen Mimesisbegriff vgl. auch

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Renaissance (s. u. Kap. III.2.1) galt Aristoteles, dessen Poetik die erste systematische Abhandlung zu diesem Gegenstand ist, als Exponent der Auffassung, Dichtung bestehe in der idealisierenden Nachahmung der Wirklichkeit („der Natur“), um so die allgemeingültigen Muster menschlichen Handelns aufzuzeigen. Dichtung handele nicht wie die Geschichte vom Tatsächlichen, sondern von dem „nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche[n]“60 (1451a), sie sei also zwar (teilweise) Erfindung, aber keine, die sich über die der Wirklichkeit immanente Ordnung und ihre Gesetze erhebt und mit diesen nicht vereinbare Fantasiekonstrukte bietet. Heute wird das als neuzeitliche Fehlinterpretation angesehen. Der hier angelegte Begriff des Allgemeinen als aus verschiedenen Einzelphänomenen gewonnene Abstraktion treffe nicht das Gemeinte. Wie stets, denke Aristoteles auch hier umgekehrt, nämlich wirkungsbezogen. So betrachte er das Allgemeine nicht als abstrahiertes Schema, sondern als Inbegriff der Bedingungen, die jede zugehörige konkrete Erscheinung erfüllt (wie dass sich beim Dreieck drei Geraden so schneiden, dass ihre Innenwinkelsumme 180 Grad beträgt), d. h. als Voraussetzung jeder Konkretion. Von hier aus begreife er Dichtung als im Medium der Sprache erfolgende Nachahmung menschlichen Handelns (mimesis praxeos), genauer: des Handelns bestimmter Charaktere, in welchem sich deren Grundhaltungen widerspiegeln und sich so die je verschiedenen Ausprägungen zeigen, welche die allgemeinen, da allen Menschen zur Verfügung stehenden Vermögen (dynameis)61 in einem bestimmten Charakter annehmen können. Dichtung gibt also keine allgemeinen Charakterhaltungen oder idealtypischen Charaktere wie „den guten König“ o. Ä. wieder, sie beschreibt sie auch nicht in verallgemeinernden Aussagen wie die Wissenschaft. Stattdessen lässt sie in der Darstellung konkreter Handlungen deren jeweilige Ermöglichungsbedingungen, i.  e. den Charakter als je unterschiedliche Ausprägung der allgemein-menschlichen Vermögen mit je eigenen Vorlieben und Abneigungen, erkennen. Das poetische Erkenntnisinteresse ist somit ein philosophisches, da theoretisches, aber ein konkretes, kein abstraktes, denn es ist auf das Verstehen einzelner Handlungen bezogen, nicht auf die Handlungsgründe im Allgemeinen. Nicht in ihrem äußeren Bezug auf die Wirklichkeit müssen die dargestellten Handlungen daher wahrscheinlich oder notwendig sein (etwa dass ein ins Herz Getroffener stirbt), sondern in ihrem inneren Bezug zum hanSchmitt 2004. Die ältere Forschung repräsentieren neben anderen Puelma 1989, 92–96, Halliwell 1997 und Fuhrmann 2003, 1–110. 60 Aristoteles 1982, 29. Die Angaben im Text folgen der üblichen Zählweise nach Bekker. 61 Zu diesen zählen insbesondere die psychischen Vermögen des Wahrnehmens, Vorstellens, Meinens, Urteilens und Einsehens, aber auch die damit verbundenen Formen der Lust und Unlust sowie des Begehrens, Eiferns und Wollens (vgl. Schmitt 2004, 79).

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delnden Charakter (dass ein Tapferer tapfer ist). Ob sie historisch, fiktiv oder gar unrealistisch sind (wie in der Ilias die Verfolgung Hektors allein durch Achill, ohne dass einer der umstehenden Griechen eingreift), ist dabei unerheblich, weshalb Aristoteles ausdrücklich alle Möglichkeiten zulässt (1451b, 1460a–b). Entsprechend wird Aristoteles’ Aussage, Dichtung stelle eher etwas Allgemeines dar und sei daher philosophischer als die mit dem Einzelnen befasste Geschichtsschreibung (1451b), nicht mehr im genannten idealisierenden Sinn verstanden. Vielmehr sei gemeint, dass Dichtung nicht wie die Historiographie unterschiedslos alle Taten der Menschen darstellt, auch die, in die – wie meist in der Realität – äußere Einflüsse wie der Zufall hineinspielen, sondern nur die exemplarischen, in denen sich das Allgemeine eines Charakters – ein Charakterzug, ein Vermögen – besonders rein äußert. Eine aus solchen exemplarischen Einzelhandlungen zusammengefügte kohärente, einheitliche, auf ein bestimmtes Handlungsziel ausgerichtete Gesamthandlung nennt Aristoteles mythos. Dieser ist das zentrale Gestaltungsprinzip, welches Dichtung zur Dichtung macht (im Unterschied etwa zur vielfach disparaten Geschichte). Wie Aristoteles nach dieser Lesart den Mimesisbegriff seines Lehrers Platon übernahm, so wird seine Poetik generell nicht mehr primär als dichtungsapologetischer Gegenentwurf zu Platon gelesen. Vielmehr betont man nun die Gemeinsamkeiten. Zu diesen zählen insbesondere die Einteilung der literarischen Gattungen nach ihrem Erzählmodus (Bericht, direkte Rede, Mischung beider),62 die Bestimmung der dichterischen Mittel ([gebundene wie ungebundene] Sprache, Rhythmus, Melodie) sowie deren Nachordnung hinter die zentralen inhaltlichen Kriterien des mythos und der mimesis.63 Bei den sechs Qualitätskriterien, die Aristoteles für die Tragödie als der aus seiner Sicht vollkommensten Gattung nennt (1450a) – Handlung (mythos), Charaktere (ethe), (deren) Denk- (dianoia) und Sprechweise (lexis), Gestaltung der Gesangspartien (melopoiia) und Aufführung (opsis) –, entspricht die Reihenfolge ihrer Bedeutung. Anders als früher wird bei Aristoteles folglich nicht mehr das (gleichwohl vorhandene) rhetorisch-artifizielle Element (techne) mit seinen Regeln zur sprachlichen Gestaltung ins Zentrum gestellt und von Platons angeblicher Betonung des genialischen Hervorbringens von Dichtung aufgrund göttlicher Inspiration abgegrenzt, sondern unterstellt man beiden ein wesentlich gleiches Verständnis des dichterischen enthusiasmos und stuft die technische Komponente des Dichtens gegenüber dem inhaltlichen 62

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Das vorrangige Einteilungsschema der Gattungen ist anders als bei Platon aber nicht die Erzählform, sondern die Festigkeit der Charaktere: gefestigte Charaktere mit ernsten Anliegen behandeln Epos, Tragödie und Dithyrambos, weniger gefestigte Charaktere mit weniger ernsten Anliegen hingegen Komödie, Satire, Parodie etc. (vgl. Aristoteles 2008, 122f., 229f., 248–258, 270–273, 283–294). Vgl. auch Büttner 2000, 379.

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Aspekt als sekundär ein. Auch dass der emotionale Effekt der Dichtung aus der rhetorischen Gestaltung resultiere, wird als hellenistische Ansicht für Aristoteles zurückgewiesen. Bei ihm sei diese Wirkung als begleitender Aspekt der Erkenntnisleistung konzipiert, die im verstehenden Mitvollzug des Dargestellten besteht. Dieser bewirkt beim Zuschauer im Fall der Tragödie Mitleid (eleos) und Furcht (phobos) und hat eine diese Gefühle reinigende, kultivierende Wirkung, die Aristoteles im Begriff der katharsis fasst (1449b, 1452a–1453b).64 Gleichwohl bereitet auch die tragische Erkenntnis Vergnügen, insofern alles Erkennen für den Menschen mit Lust (hedone) verbunden ist, und diese bildet für Aristoteles zusammen mit der besonderen Fähigkeit des Menschen zur Nachahmung, durch welche er schon als Kind erste Erkenntnisse gewinne, den Ursprung von Dichtung überhaupt (1448b). Der Einfluss der Rhetorik, der sich bei Aristoteles in wiederholten Querverweisen auf seine Rhetorik zeigt,65 innerhalb seiner vor allem inhaltlich bestimmten Dichtungskonzeption jedoch nur von untergeordneter Bedeutung ist, trat in hellenistischrömischer Zeit in den Vordergrund. Dichtung galt nun (wie schon den Sophisten) als primär von der sprachlichen Form bestimmt, inhaltliche Vorgaben schwanden. Auch wurde der Inhalt nur mehr in der enthaltenen Lehre erblickt, das Dichtungsspezifische hingegen in der unprosaischen Form, welche auch das Erfreuen und die affektive Bewegung des Publikums bewirke. War die Lehre, da sie wahr sein musste, an die Wirklichkeit gebunden, gehörte zur Sprachgestalt nun ganz wesentlich der Erfindungscharakter (Fiktionalität) von Dichtung, wobei das Erfundene möglichst realistisch und dadurch glaubwürdig sein sollte. Dichtung war somit Wirklichkeitswiedergabe (docere) in ästhetisch ansprechender Form (delectare), weshalb der Dichter erfinderisches und gestalterisches Genie (ingenium) ebenso nötig habe wie Kunstfertigkeit (ars).66 Greifbar wird die Rhetorisierung der Poetik bei Horaz in dessen Ars poetica, die durch ihre Wiedergabe der hellenistischen Dichtungsauffassung – Hauptquelle ist die Poetik des Neoptolemos von Parion (3. Jh. v. Chr.) – nach Aristoteles’ Poetik zur „zweiten Grundschrift der abendländischen Poetik“67 wurde. In ihr erscheint Dichtung vorwiegend als das Produkt rhetorischer Kunstfertigkeit.68 Doch geht wahre Dichtkunst für Horaz nicht in bloßer Regelbefolgung auf, sondern bedarf auch der Neuerung und 64 65 66 67 68

Gleiches scheint Aristoteles für das Epos anzunehmen, Analoges – in Bezug auf das Gelächter – für die Komödie (vgl. Aristoteles 2008, 305–307, 340–342). S. Fuhrmann 2003, 7f. Vgl. Aristoteles 2008, 219–222, 410f. Fricke 2003, 102. – Hierzu und zum Folgenden vgl. Blume 1989, 1014f.; Fuhrmann 2003, 111–161; Jung 2007, 34–40. Vgl. Fuhrmann 2003, 141f.

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des Besonderen, und so bildet „die Dialektik von Tradition und Innovation, von regelgeleiteter Konvention und genialer Inspiration“69 das Grundmotiv der Ars poetica. Mit diesem Sowohl-als-auch wird angedeutet, wenn auch nie direkt ausgesprochen, worum es Horaz im Grunde ging: um eine sich als harmonisches Ganzes präsentierende Dichtung, um „die schlackenlos verwirklichte Ordnung des Gemäßen“70. Dieses Bemühen um Ausgleich prägt alle Betrachtungen in der Ars poetica. Größte Bedeutung wird der Einheit und Ganzheit des Dichtwerks beigemessen, dass es unum, totum, simplex (V.23.34) sei.71 Hierfür bedarf es vor allem seiner inneren Stimmigkeit, d. h. des harmonischen Verhältnisses von Wahrscheinlichem und frei Erfundenem (V.1–45). Ähnliches gilt für den Stoff: Handlung und Charaktere können aus der Überlieferung genommen oder frei erfunden werden, wichtig ist nur, dass sie, wenn erfunden, in sich stimmig sind und die Charaktere die typischen Merkmale ihres Alters tragen (V.119–178). Sprachlich bildet den Maßstab der zeitgenössische Sprachgebrauch, den die Dichter in Vokabular (Neologismen) und Ausdruck maßvoll und in Anlehnung an griechische Vorbilder erneuern sollen (V.46–72). Dabei hat der Sprachstil in jedem Fall der Gattung, der Figur und der jeweiligen Handlungssituation zu entsprechen (V.73–118), ja als Niederschlag der Rhetorisierung steht die Angemessenheit des Ausdrucks bei Horaz sogar an erster Stelle, nicht mehr wie bei Aristoteles die Handlung. Eine Umprägung erfährt der Mimesisbegriff, insofern mit imitatio in der Ars poetica zum einen die Nachahmung von Wirklichem, zum anderen wie in der Rhetorik die Nachahmung literarischer Vorbilder bezeichnet wird (V.134).72 Was den Dichter betrifft, so benötigt dieser beides, Begabung (ingenium) und Regelkenntnis (ars); am wichtigsten aber ist Kenntnis des Menschen und des Lebens (V.295–322.408–411). Beim Dichten zu beachten ist ferner das Prinzip der Formstrenge, welches das stete Feilen am Text nach Maßgabe der griechischen Vorbilder erforderlich macht (V.251– 294). Mit Blick auf die ästhetische Qualität des Dichtwerks spricht Horaz davon, Dichtung solle wie ein Gemälde sein (V.361: Ut pictura poesis). Was schließlich die Wirkung von Dichtung betrifft, so handelt es sich im Idealfall um eine doppelte: Belehrung und Unterhaltung (V.333: Aut prodesse volunt aut delectare poetae). Gerade diese beiden letzten Verse zur Anschaulichkeit und zur Wirkung von Dichtung sind im Laufe der Poetikgeschichte immer wieder angeführt und diskutiert worden.73 In Barock und Aufklärung fand eine weitere, bis dahin kaum rezipierte antike 69 70 71 72 73

Jung 2007, 37. Friedrich Klingner, Horazens Brief an die Pisonen (1937), 65, zitiert nach Jung 2007, 36. Versangaben und Zitate nach Horaz 1985. Vgl. Müller-Richter 2002, 383f.; Fuhrmann 2003, 153f. Vgl. Vogt 2008, 103.

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Schrift größere Beachtung: der klassizistische Traktat Vom Erhabenen (Peri hypsous) eines als Pseudo-Longin bezeichneten Anonymus.74 Das Erhabene (hypsos) wird darin als das charakteristische Merkmal großer Literatur vorgestellt, und der Text macht es sich zur Aufgabe, die zu seiner Erzeugung notwendigen Faktoren zu untersuchen. Beschrieben wird es als das Außerordentliche, Gewaltige, durch das große Literatur das Publikum fesselt (1,4). Durch Erstaunen und Erschüttern in Ekstase zu versetzen ist das Ziel, nicht die Überzeugung der Hörer, wie vom Glaubwürdigen und Gefälligen angestrebt. Auch ist das Erhabene nicht mit Fehlerfreiheit gleichzusetzen – diese tendiert eher zur Mittelmäßigkeit –, vielmehr gestattet wahre Größe auch kleinere Fehler (33–36). Fünf Quellen erhabener Dichtung werden genannt (8,1) und besprochen (9–43): 1. Die Fähigkeit zu großen Gedanken; 2. starkes Pathos; 3. die besondere Bildung rhetorischer Figuren; 4. eine vornehme Diktion; 5. eine würdevoll-gehobene Satzfügung. Der Dichter benötigt somit sowohl Naturanlage (physis) als auch rhetorische Schulung (techne), Erstere zum Erfinden großer Gedanken und zum Pathos, Letztere für Figuren, Diktion und Satzbau. In dem harmonischen Ganzen, das beide bilden sollen, kommt aber letztlich dem Talent die größere Bedeutung zu. Denn auch wenn die Kunstregeln ausdrücklich der Zügelung des Genies dienen sollen (2), so stellt doch die wesentlich auf Begabung beruhende Seelengröße (megalophrosyne) die wichtigste Voraussetzung erhabener Dichtung dar (9,1). Auch bildet das Pathos das Korrektiv zur tendenziell oberflächlich wirkenden rhetorischen Technik, die im besten Fall gar nicht als solche erkennbar ist, sondern als Ausfluss der natürlichen Anlage erscheint (22,1). Seinen Ausdruck findet das Pathos in Götter- und Heroenthemen, in der Häufung extremer Motive und in ihrer Steigerung, all dies hervorgebracht entweder durch freie Erfindung oder durch Nachahmung literarischer Vorbilder. Bei Letzterer wird jetzt in Anlehnung an Dionysios von Halikarnass (ca. 60–nach 8/7 v. Chr.) im Sinne des Klassizismus begrifflich weiter unterschieden zwischen mimesis (lat. imitatio) als der Nachahmung einzelner Wendungen und Gedanken und zelosis (lat. aemulatio) als der Nachahmung des Stils durch das Erfassen des Geistes des Vorbildautors (13,2–14). Die vorgestellten Anschauungen repräsentieren die wesentlichen Poetikkonzeptionen der Antike. Lediglich hingewiesen sei zum Abschluss noch auf die vor allem ästhetische Betrachtungsweise der Epikureer. Wie die beiden Alexandriner Eratosthenes und Aristarch den Zweck der Dichtung allein in der Unterhaltung, nicht aber der Belehrung des Publikums sahen, so lehnten auch sie den Einsatz von Dichtung zu 74

Vgl. hierzu und zum Folgenden Blume 1989, 1015; Russel 1997, 306–311; Fuhrmann 2003, 162–202; Jung 2007, 40–45. Die Zahlenangaben im Text beziehen sich auf die Kapitel- und Abschnittszählung der Ausgabe Longin 1983.

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Erziehungszwecken ab und wollten sie nur zur Unterhaltung zulassen. Allerdings etablierte sich auch bei ihnen mit der Zeit eine Haltung, die die philosophische Beschäftigung mit Poesie zumindest als private Freizeitbeschäftigung gestattete.75

5. Auf dem Weg ins Mittelalter: Spätantike Grammatik und christliche Klassikerauslegung Ein wesentliches Merkmal des Übergangs von der Antike zum Mittelalter ist die spätantike Ablösung der Vorherrschaft der heidnischen Kultur durch die christliche. Eine neuere Darstellung dieses Kulturwandels speziell für das Gebiet der Grammatik und damit auch der Dichtungsauslegung stammt von Martin Irvine, der das Thema der Sache nach und in seinen weiteren sozialen und politischen Bezügen behandelt. 76 Die Grammatik entschied mit der Vermittlung von Textkompetenz nämlich nicht nur über sozialen Aufstieg und den Zugang zu politischer und kirchlicher Macht, ihr Bildungsprogramm – ihr literarischer Kanon und dessen „korrekte“ Auslegung – diente umgekehrt auch dem Schutz und der Förderung der Interessen der herrschenden Schichten. In diesem weiteren Rahmen ist auch das Konkurrenzverhältnis von heidnischen und christlichen Auslegern zu sehen. An der Spitze des hier vor allem interessierenden Kanons der lateinischen Literatur stand Vergil (70–19 v. Chr.).77 Spätantiken Kommentatoren wie dem Grammatiker Servius (um 400) als dem wichtigsten unter ihnen galt Vergils Werk als Quelle umfassenden Wissens in allen Bereichen, als „eine pagane Bibel“78. Servius betrachtete Vergils Texte als Darstellungen fiktiver Bilder (figmenta), durch die tiefere Wahrheiten ausgedrückt werden. Entsprechend ist seine Interpretation vielfach allegorisch und unterlegt dem Wortlaut teils ethische, teils philosophische, teils historische Bedeutungen. Als Referenzrahmen diente ihm in philosophischer Hinsicht die damals übliche Mischung aus stoischem und neuplatonischem Gedankengut, in historischer Hinsicht eine das Kaisertum verherrlichende Version der römischen Geschichte. Sein Kommentar folgte methodisch dem traditionellen, in „grammatische“ und „historische“ Untersuchung unterteilten Schulverfahren (s. o. Kap. I.3). Vorgeschaltet war diesem nun aber eine accessus genannte Einleitung, in der das Leben des Dichters, Titel und Qualität des Werks, Autorintention sowie Anzahl und Anordnung der Bücher behan75 76 77 78

Vgl. Pfeiffer 1978, 207, 283; Asmis 2006. Vgl. Irvine 1994, bes. 1–22, 49–87, 118–243. Im griechischen Raum nahm diese Position seit jeher Homer ein (vgl. Marrou 1977, 311f.). Für die übrigen Hauptautoren im griechischen und römischen Kanon vgl. ebd., 313f., 511–513. Irvine 1994, 136. – Zum Folgenden vgl. ebd., 126–141.

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delt wurden. Diese Form der Einleitung erlangte im Mittelalter weite Verbreitung, wobei alternativ zu den von Servius behandelten Themen auch ein verkürztes Schema Anwendung fand, das nur mehr nach Ort, Zeit und Person des Autors sowie nach dem Grund für sein Schreiben fragte.79 Das von Servius repräsentierte heidnische Modell der Dichtungsauslegung sah sich seit dem 4. Jahrhundert verstärkt mit einer christlichen Variante konfrontiert. In deren Kanon nahm die Bibel den ersten Platz ein, während sich heidnische Autoren wie Vergil in untergeordneten Positionen wiederfanden, wo sie im Mittelalter überdies zunehmend mit jüngeren christlichen Dichtern wie Juvencus (um 330), Prudentius (348–nach 405), Sedulius (5. Jh.) und Arator (6. Jh.) konkurrierten.80 Diese Nachordnung hinter die Bibel verdankten die klassischen Autoren den heidnischen, christlicher Lehre widersprechenden Inhalten ihrer Dichtung; in formaler, sprachlich-stilistischer Hinsicht hingegen wurde ihnen ihre Autorität belassen. Auf dieses Ergebnis war die im frühen Christentum geführte Debatte hinausgelaufen, in der die Positionen zwischen vollständiger Ablehnung heidnischer Bildung und der Anerkennung ihres Nutzens auch für Christen schwankten.81 Heidnischer Literatur wurde jedoch nicht jede Wahrheitsfähigkeit abgesprochen. Vielmehr wurde angenommen, dass auch sie partiell Spuren der biblischen Wahrheit enthalte. Zu deren Aufweis bedienten sich die Ausleger der Allegorese, wobei als Referenzrahmen der Interpretation nun die christliche Heilslehre fungierte. Für die Dichtung Vergils ist Laktanz (um 300) das früheste Beispiel einer solchen interpretatio christiana. Er schrieb Vergil nicht nur eine rudimentäre Kenntnis christlicher Erlösungs-, Jenseits- und Auferstehungsvorstellungen zu, sondern deutete auch als Erster die Worte der cumäischen Sibylle in der vierten Ekloge als eschatologische Prophetie.82 Die späteren Vergil-Kommentare von Philargyrius (4./5. Jh.) und dem anonymen Kompilator der Berner Scholien (8. Jh.) enthalten ähnliche heilsgeschichtliche Deutungen. Die traditionellen, auf die römische Geschichte zielenden heidnischen Deutungen wurden dabei jedoch nicht einfach ersetzt, sondern in summarischer Form aufgenommen und um eine christliche Deutung ergänzt. Entgegen der immer wieder vorgebrachten These, die allegorische Interpretationsmethode sei von der Bibelauslegung auf die weltliche Dichtung übertragen worden, spricht dieses Vorgehen somit für die Übernahme der Allegorese aus der bestehenden heidnischen Kommentartradition.83 79 80 81 82 83

Vgl. ebd., 121. Zum accessus s. auch Kap. II.3.1 des Beitrags „Philosophie“ in diesem Band. Vgl. Irvine 1994, 160; Worstbrock 1999, 257f. Wichtige Namen und Positionen bei Kennedy 1997a, 336–340. Vgl. Worstbrock 1999, 254. Zu Laktanz’ Dichterauslegung im Allgemeinen s. Walter 2006, bes. 96–129. Vgl. Irvine 1994, 148–155.

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Die auch für die Folgezeit maßgebliche Hermeneutik, mittels derer sich einerseits alle geeigneten Stellen in der klassischen Literatur im christlichen Sinne allegorisch deuten ließen, andererseits aber auch alles neutralisiert werden konnte, was sich nicht mit der biblischen Meistererzählung in Einklang bringen ließ, schuf Augustinus (354– 430) in seinen Schriften De doctrina christiana und De civitate dei.84 Heidnische Texte, so Augustins Grundsatz, enthalten keine Wahrheit, die nicht aus der Schrift stammt oder die dort nicht zumindest ebenfalls enthalten ist. Was sie an nicht mit der Bibel Kompatiblem enthalten, entkleidet Augustinus seines Geltungsanspruchs, indem er es konsequent relativiert. So stellt er den heidnischen Kult als historisches Phänomen und die Göttermythen als poetische Fiktionen dar. Auch Sprache und Stil der klassischen Texte nimmt er ihren Nimbus, indem er sie als zeitgebunden und gesellschaftlich determiniert kennzeichnet. Bei seinen Bemühungen um eine spezifisch christliche Grammatik griff Augustinus nicht nur für die Bibelexegese, sondern auch für die Interpretation weltlicher Literatur auf die Methodik der traditionellen Grammatik zurück.85 Dieser wurde von christlicher Seite allgemein große Wertschätzung entgegengebracht, was sich insbesondere daran zeigt, dass die Christen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bis zum Ende der Antike keine eigenen Schulen gründeten, sondern ihre Kinder auch nach der Christianisierung des Reiches noch in die heidnischen Schulen schickten und auch selbst als Grammatik- und Rhetoriklehrer tätig waren.86 In Bezug auf den potenziell schädlichen Einfluss des in der Schule behandelten Stoffes auf die Vorstellungswelt der Kinder vertrauten sie ganz auf das „Gegengift“ (Marrou) der außerhalb der Schule durch Eltern und Klerus vermittelten christlichen Lehre. Eine durchgreifende Christianisierung der Schulbildung erfolgte erst, als im Zuge der Völkerwanderung nicht nur das Römische Reich, sondern auch das antike Schulwesen unterging und dessen Aufgaben seit dem 6. Jahrhundert zunehmend von kirchlichen Schulen wahrgenommen wurden.87 Dort kamen christianisierte Versionen bewährter Grammatiken zum Einsatz, in denen die dem Text beigefügten Beispiele aus der heidnischen Literatur durch Zitate aus der Bibel oder dem christlich-theologischen Schrifttum ersetzt waren.88 Als Standardlehrbuch fungierte während des gesamten Mittelalters die entsprechend bearbeitete zweiteilige Ars grammatica des römischen Grammatikers Aelius Donatus (um 350). Auch das Lesen wurde fortan anhand der Bibel erlernt, insbesondere anhand des Psalters. 84 85 86 87 88

Vgl. ebd., 178f. Vgl. ebd., 169–189, bes. 172. Vgl. Marrou 1977, 573–599; Klein 2006, 153f.; Krumeich 2006, 119–121. Vgl. Marrou 1977, 600–634. Vgl. Irvine 1994, 56–63.

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Cassiodor (um 485–um 580) christianisierte schließlich auch das Wissenschaftssystem, indem er in seiner Institutio divinarum et humanarum lectionum die Grammatik zusammen mit den anderen artes liberales der Theologie unterordnete.89 Darüber hinaus begegnet bei ihm die Vorstellung, die Wissenschaften und all ihr Wissen seien letztlich in der Bibel angelegt und von hier von den weltlichen Lehrern übernommen worden.90 Isidor von Sevilla (um 560–636) variierte diesen Gedanken mit der ähnlich schon von Origenes (ca. 185–254) vorgetragenen Behauptung, die klassischen literarischen Gattungen hätten ihren Ursprung in der Bibel – der Hexameter etwa gehe auf das Deuteronomium und damit auf Moses zurück – und seien von den weltlichen Autoren nur aus dieser abgeleitet.91 Im Hintergrund derartiger Aussagen stand das Bestreben, den umfassenden Autoritätsanspruch der Bibel gegenüber der übrigen Literatur abzusichern, ein Anspruch, der auch in Kanon und Hermeneutik der oben skizzierten christianisierten Grammatik und Dichtungsauslegung sichtbar wird. In dieser Gestalt wurde das antike Wissen über Dichtung und ihre Interpretation an das Mittelalter übergeben.

II. Mittelalter 1. Entwicklungslinien der mittelalterlichen Literatur Der Gegenstand der literarischen Hermeneutik wandelte sich im Mittelalter nicht unerheblich. Soweit die fragmentarische Quellenlage zur Geschichte der mittelalterlichen Literatur ein Urteil erlaubt – zu dem Verlust vieler schriftlicher Quellen und unserer fast vollständigen Unkenntnis des großen Bereichs der mündlichen Tradition kommt die Unmöglichkeit, das Verhältnis von Erhaltenem und Verlorenem auch nur näherungsweise zu bestimmen –, hat die Forschung einige größere Entwicklungslinien herausgearbeitet.92 Nicht im Sinn eines strengen Nacheinanders, sondern als Verschiebung der Akzente innerhalb eines grundsätzlichen Nebeneinanders zeigen sich als Entwicklungstendenzen: 1. das vermehrte Hinzutreten volkssprachlicher Literatur zu den überwiegend lateinischen Texten, die aus der Antike übernommen oder im Mittelalter neu angefertigt wurden; 2. die zunehmende 89 90 91 92

Vgl. ebd., 195–209; Kaster 1997, 15. Vgl. Irvine 1994, 198f. Vgl. ebd., 167f., 235–237. Vgl. Wehrli 1984, 29–67, 182–203, 285–298; Wapnewski 1990; Haug 1992; Bumke 1996; Brandt 1999, 87f., 139, 266–273; Bein 2005, 31, 37–49, 114–192; Jung 2007, 46; Beutin 2008, 1–56. (Allgemein wurde für dieses Teilkapitel überwiegend germanistische Forschungsliteratur herangezogen.)

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Cassiodor (um 485–um 580) christianisierte schließlich auch das Wissenschaftssystem, indem er in seiner Institutio divinarum et humanarum lectionum die Grammatik zusammen mit den anderen artes liberales der Theologie unterordnete.89 Darüber hinaus begegnet bei ihm die Vorstellung, die Wissenschaften und all ihr Wissen seien letztlich in der Bibel angelegt und von hier von den weltlichen Lehrern übernommen worden.90 Isidor von Sevilla (um 560–636) variierte diesen Gedanken mit der ähnlich schon von Origenes (ca. 185–254) vorgetragenen Behauptung, die klassischen literarischen Gattungen hätten ihren Ursprung in der Bibel – der Hexameter etwa gehe auf das Deuteronomium und damit auf Moses zurück – und seien von den weltlichen Autoren nur aus dieser abgeleitet.91 Im Hintergrund derartiger Aussagen stand das Bestreben, den umfassenden Autoritätsanspruch der Bibel gegenüber der übrigen Literatur abzusichern, ein Anspruch, der auch in Kanon und Hermeneutik der oben skizzierten christianisierten Grammatik und Dichtungsauslegung sichtbar wird. In dieser Gestalt wurde das antike Wissen über Dichtung und ihre Interpretation an das Mittelalter übergeben.

II. Mittelalter 1. Entwicklungslinien der mittelalterlichen Literatur Der Gegenstand der literarischen Hermeneutik wandelte sich im Mittelalter nicht unerheblich. Soweit die fragmentarische Quellenlage zur Geschichte der mittelalterlichen Literatur ein Urteil erlaubt – zu dem Verlust vieler schriftlicher Quellen und unserer fast vollständigen Unkenntnis des großen Bereichs der mündlichen Tradition kommt die Unmöglichkeit, das Verhältnis von Erhaltenem und Verlorenem auch nur näherungsweise zu bestimmen –, hat die Forschung einige größere Entwicklungslinien herausgearbeitet.92 Nicht im Sinn eines strengen Nacheinanders, sondern als Verschiebung der Akzente innerhalb eines grundsätzlichen Nebeneinanders zeigen sich als Entwicklungstendenzen: 1. das vermehrte Hinzutreten volkssprachlicher Literatur zu den überwiegend lateinischen Texten, die aus der Antike übernommen oder im Mittelalter neu angefertigt wurden; 2. die zunehmende 89 90 91 92

Vgl. ebd., 195–209; Kaster 1997, 15. Vgl. Irvine 1994, 198f. Vgl. ebd., 167f., 235–237. Vgl. Wehrli 1984, 29–67, 182–203, 285–298; Wapnewski 1990; Haug 1992; Bumke 1996; Brandt 1999, 87f., 139, 266–273; Bein 2005, 31, 37–49, 114–192; Jung 2007, 46; Beutin 2008, 1–56. (Allgemein wurde für dieses Teilkapitel überwiegend germanistische Forschungsliteratur herangezogen.)

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Behandlung weltlicher Themen abseits der dominierenden religiösen Fragen; 3. der verstärkte Gebrauch der Prosaform in der volkssprachlichen Literatur des Spätmittelalters gegenüber der lange vorherrschenden Versform. Begleitet wurden diese Entwicklungen 4. vom Anwachsen der Bedeutung weltlicher Zentren (Höfe, Städte) gegenüber geistlichen Einrichtungen (Klöster, Stifte) als Orte literarischer Produktion sowie 5. von einer steigenden Zahl nicht-klerikaler Autoren. Hinter der Zunahme der Prosaliteratur im Spätmittelalter verbergen sich 6. auch veränderte Produktionsund Rezeptionsbedingungen. Als einfacher zu schreibende wie auch zu lesende Literaturform kann die Verwendung der Prosaform nämlich auch als Reaktion auf die nach 1300 massiv gestiegene Nachfrage nach Texten angesehen werden, nachdem Schulen und Universitäten zumindest in den größeren Städten eine Ausweitung der literarischen Bildung über den kleinen Kreis von Klerus und einen Teil des Adels hinaus bewirkt hatten. Eine weitere Folge hiervon war die „extreme inhaltliche und gattungsmäßige Diversifizierung und Differenzierung“93 der volkssprachlichen Literatur. Schließlich veränderten sich 7. auch Material und äußere Gestalt der Texte. So hatte als Medium für Schrifttexte lange Zeit der Pergament-Codex fungiert, der in der Spätantike die bis dahin gebräuchlichen Papyrusrollen abgelöst hatte. Durch ihn war nicht nur das Nachschlagen erleichtert worden, sondern auch die Kommentierung und damit die Lenkung des Verständnisses, indem der Text zwischen den Zeilen und am Rand Raum für Glossen ließ.94 Seit dem 14. Jahrhundert kam bei der Herstellung vermehrt Papier statt Pergament zum Einsatz, außerdem wurden die Bücher kleiner und handlicher.

2. Mittelalterliches Dichtungsverständnis – Literaturtheorie Eine vollständige und zusammenhängende Literaturtheorie wurde im Mittelalter nicht entwickelt, sie existiert nur als nachträgliche Konstruktion aus verstreuten Aussagen. Dabei stellt das 12. Jahrhundert wie für die Entwicklung der Literatur im Mittelalter insgesamt in mancherlei Hinsicht „eine Art Wasserscheide“95 dar. Einen ersten Hinweis darauf geben die Aussagen über den Ursprung der Dichtung.96 Während nämlich als Voraussetzung des Dichtens gegenüber der individuellen Begabung stets die Beherrschung der poetischen Kunstregeln betont worden war, fand seit dem 12. Jahr93 94 95 96

Brandt 1999, 272 (dort teilw. hervorgehoben). Vgl. Irvine 1994, 371–393. Busse 2008, 504. Vgl. hierzu Wehrli 1984, 108–113; Brandt 1999, 106f. (mit Anm. 17); Jung 2007, 46f.; Weddige 2008, 118, 142.

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hundert der Aspekt des Unverfügbaren wieder stärkere Beachtung. So wurden in profaner Dichtung, wenn auch nur in der Weise des spielerischen Zitats, antike Muster wie der Musenanruf, die Vorstellung des furor poeticus oder der Begriff des göttlichen Sängers neu aufgenommen. Etwas anders verhält es sich im Bereich der geistlichen Dichtung. Hier war nicht erst seit dem 12. Jahrhundert, sondern während des gesamten Mittelalters eine „christliche Fassung des Gedankens der Inspiration und poetischen Genialität“97 bekannt. Ihren Ausdruck fand sie in der grundsätzlich wohl durchaus ernst gemeinten Bitte um Gabe des Heiligen Geistes, damit das Werk gelinge. Obwohl Dichtung weithin als lehr- und lernbare Kunst angesehen wurde, hatte die Beschäftigung mit ihr zumeist keinen eigenen Ort im mittelalterlichen System der Wissenschaften. Stattdessen war sie innerhalb der septem artes liberales auf die mit der Sprache befassten Künste Grammatik, Rhetorik und Dialektik, das sogenannte Trivium, verteilt. Im 12. Jahrhundert begann sich jedoch die Grammatik zu einer nur mehr die allgemeinen semantischen Strukturen (modi significandi) untersuchenden spekulativen Sprachwissenschaft (modistische Grammatik) zu entwickeln und schied Dichtungsinterpretation und Poetik als literarische Gegenstände aus. 98 Wie zum Ausgleich entstand nun als Zweig der Rhetorik eine neue Poetik, die häufig unter der neuen Selbstbezeichnung poetria auftrat.99 Anders als den um die gleiche Zeit entstehenden Lehren des Briefschreibens (ars dictaminis) und der Predigt (ars praedicandi) ging es ihr weniger um Prosa als vielmehr – wenn auch nicht ausschließlich – um Versdichtung. Zu deren Herstellung vermittelte sie praktische Regeln, weshalb sie auch als ars metrica oder ars versificandi firmierte. Ihre Regeln bezog sie überwiegend aus der antiken Rhetorik – die Hauptautoritäten waren Cicero, Quintilian und Horaz –, und auch im Aufbau folgten die Lehrbücher dem klassischen Schema von inventio, dispositio und elocutio. Im Mittelpunkt stand die amplificatio, die erweiternde Ausgestaltung des Stoffs nach dem für die jeweilige Gattung Angemessenen (decorum). Indem die Lehrbücher hier die ganze Fülle der rhetorischen Mittel und Strategien aufzeigten, beförderten sie eine am Kriterium der Mittelauswahl orientierte Literaturbewertung, wie generell die Befolgung der rhetorischen Regeln als Maßstab galt.100 Eine Neuerung erfuhr dabei die Stillehre. Hier entstand der in der Forschung als „Ständeklausel“ bezeichnete Usus, einzelnen Gattungen festes Personal und den sozialen Ständen in 97 98 99

Wehrli 1984, 109. Vgl. Irvine/Thomson 2005, bes. 20, 24–26. Zur mittelalterlichen Poetik vgl. Wehrli 1984, 114–129; Murphy 2005; Jung 2007, 46, 49–52. Zur gegenüber der Antike veränderten Begrifflichkeit (poetria statt ars poetica) s. Wiegmann 1989, 1017f.; Fricke 2003, 101. 100 Vgl. Bumke 1996, 1267; Brandt 1999, 107; Müller-Richter 2002, 385f.; Murphy 2005, 63–66.

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allen Gattungen eine der drei Stilhöhen zuzuweisen.101 Tragödien wurden auf Herrscher als Personal festgelegt, Komödien hingegen auf Privatleute, und während Ritter und Herrscher einen erhabenen Stil zu pflegen hatten, so Bauern einen mittleren und Hirten und Müßiggänger einen schlichten. Kann die bewusste Orientierung an diesen Kunstregeln für die lateinische Dichtung generell angenommen werden, so ist der Grad, in dem dies auch für volkssprachliche Dichtung gilt, unsicher, wird aufgrund der in der Regel auch bei volkssprachlichen Autoren vorhandenen lateinischen Schulbildung und dem weitgehenden Fehlen volkssprachlicher Poetiken jedoch meistens recht hoch angesetzt.102 In diesem Sinne hat man auch die Übereinstimmung der Formeln und Gemeinplätze (Topoi) zur Formulierung poetologischer Aussagen gewertet, wie sie in lateinischen Schriften und in den Prologen, Epilogen und Exkursen volkssprachlicher Werke enthalten sind. 103 Die neuere Forschung hat dies allerdings relativiert und gezeigt, dass durch die originelle Kombination der topischen Elemente neue Aussagen erzielt werden konnten, bis hin zur Andeutung eines auf Fiktionalität beruhenden Romankonzepts.104 Das Verhältnis mittelalterlicher Dichtung zum Begriff der Schönheit war gespalten. Generell war Schönheit an Regelhaftigkeit gebunden, an Form und Proportion, weshalb Vers und Reim vielfach als wichtige Kriterien guter Dichtung galten.105 Äußere Schönheit konnte nun aber einerseits vor dem Hintergrund einer platonisch ausgerichteten Ästhetik, die in der weltlichen Erscheinung ein Abbild des Göttlichen erblickte, als Zeichen innerer Schönheit gelten; insbesondere anspruchsvolle weltliche Dichtung verwendete diese Ansicht zu ihrer Legitimation mit der Behauptung, sie diene durch die sprachlich schöne Darstellung schöner Dinge zur Entwicklung einer Idee des Schönen und damit der Hinaufführung vom Sinnlichen zum Übersinnlichen. Andererseits konnte äußere Schönheit aber auch als nur oberflächliche und vergängliche Hülle eines möglicherweise hässlichen Inneren angesehen werden; häufig war dies in geistlicher Literatur der Fall, besonders im Memento mori spätmittelalterlicher Predigten, Satiren, Lehrdichtungen, Erzählungen und Dramen.106 Als wichtigste Aufgaben und Zwecke der Dichtung wurden von kirchlicher Seite Lob Gottes, Erbauung der Gläubigen und Vermittlung der Heilslehre betrachtet. Allerdings 101 Vgl. Brandt 1986, 5–7; Weddige 2008, 131f. – Allgemein: Rösch 2003. 102 Vgl. Wehrli 1984, 130–142; Knapp 1997, 11, 26, 175; Brandt 1999, 112f.; Murphy 2005, 66f. – Kritisch: Brandt 1986, 2, 5, 7. – Ablehnend: Vollmann in Knapp/Niesner 2002, 141f. 103 Curtius 1948. 104 Haug 1992. 105 Vgl. Weddige 2008, 142. 106 Vgl. Wehrli 1984, 143–162, 182–203; Brandt 1986, 44f.; Brandt 1999, 87 (mit Anm. 2).

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war dieser Anspruch nur so lange durchsetzbar, wie Dichtung fest in der Hand des Klerus war, d. h. nur bis zum Aufkommen der höfischen Dichtung im 12. Jahrhundert. Von da an konnte die Aufgabe der Dichtung auch in der ethisch-moralischen Vervollkommnung des Menschen in seinen gesellschaftlich-weltlichen Bezügen oder eben in der Hinführung des Menschen zur Schönheit gesehen werden. In jedem Fall aber war Dichtung Funktionsdichtung, nicht autonom. Das galt auch für die von den genannten Zwecken anspruchsvoller Literatur nicht erfasste Unterhaltungsdichtung, für Geschichten, Sagen und Schauspiele. Ihnen wurde in der Regel die ganz profane Funktion des Ergötzens und Nutzens (Horaz) zugeschrieben, wobei man beides oft als zusammengehörend auffasste. Das Erfreuende des Nutzens, den man vor allem in der mitgelieferten Moral sah, lag demnach in seiner Wahrheit, wie umgekehrt das Ergötzen als nutzbringend dargestellt werden konnte mit den Argumenten, es erleichtere und befördere die Auf- und Annahme der enthaltenen Lehre, es verfeinere das Stilempfinden, es wirke therapeutisch auf Geist und Körper oder es sei ein legitimes Mittel der Rekreation.107 Die affektive Wirkung von Dichtung und deren ethische Auswirkungen waren die zentralen Gegenstände der gelehrten psychologischen und poetologischen Diskussion des 13. Jahrhunderts, welche durch die rezeptionsästhetische Neuinterpretation von Horaz’ Ars poetica eine „ethische Poetik“ hervorbrachte.108 Gestützt wurde dies durch die besonders an der Pariser Universität vorangetriebene Wiederentdeckung der Poetik des Aristoteles, zumal diese dem Mittelalter nicht im Original bekannt wurde, sondern vor allem in der von Hermannus Alemannus (†1272) besorgten lateinischen Übersetzung des arabischen Kommentars des Averroës (1126–1198), welche den moralisch-lehrhaften Aspekt von Dichtung stark hervorkehrte. Ausgehend hiervon (aber auch von den Werken anderer arabischer Autoren wie al-Fārābī [um 870–950] und Avicenna [973/80–1037]) konnte Horaz’ Aussage, dass Dichtung sowohl nützen als auch erfreuen soll, nun dahin gehend gedeutet werden, eine Erzählung erfreue wie alle Nachahmung (mimesis, lat. imaginatio bzw. assimilatio) den Menschen von Natur aus, während er zugleich vom imaginierten Erzählten moralisch angezogen oder abgestoßen und so zum Nachdenken über Wohl- und Fehlverhalten angeregt werde. Er nehme das Erzählte als Beispiel (exemplum) und vergleiche es mit seiner eigenen Erfahrung aus dem richtigen Leben, weswegen Dichtung auch realistisch sein und Unglaubhaftes vermeiden müsse. Statt wie die Rhetorik auf den Verstand zielt Dichtung nach dieser Konzeption mittels Nachahmung auf die Vorstellungskraft (imaginatio109). Vom Rezi107 Vgl. Wehrli 1984, 68, 144f., 163–165; Olson 2005; Jung 2007, 46f., 53–55; Busse 2008, 504–506. 108 Vgl. hierzu und zum Folgenden Gillespie 2005, 160–178. 109 S. hierzu Minnis 2005.

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pienten ist daher eine aktive Haltung gefordert, denn er muss seine eigenen moralischen Vorstellungen einbringen, um die Dichtung zu verstehen. Poesie ist demnach zwar zur Verhandlung ethischer Fragen, nicht aber zur ethischen Belehrung geeignet, da grundlegende Prinzipien im Publikum vorausgesetzt werden müssen. Im Zentrum der literaturtheoretischen Überlegungen des Mittelalters und damit im Hintergrund auch der bis hierher geschilderten Vorstellungen steht das Verhältnis von Dichtung und Wahrheit.110 Einer strengen Richtung im Klerus galt alle Dichtung als sünd- und lügenhaft, die nicht der Darstellung christlicher Wahrheit, d. h. christlicher Glaubenslehre und Heilsgeschichte, dient. Ließ sich vor diesem Hintergrund geistliche Dichtung, welche die biblische Wahrheit nur in sprachlich kunstvollere Form bringt, noch rechtfertigen, da in ihr poetische und göttliche Wahrheit in eins fallen, stieß weltliche Dichtung auf Skepsis. Legitimiert werden konnte sie nur über die erwiesene Teilhabe an der christlichen Wahrheit. So wurden offenkundig fiktionale Texte beispielsweise als Illustration moralischer Wahrheiten ausgegeben. Besser allerdings war es, wenn sich Dichtung als historische Wahrheit und damit als Teil der Heilsgeschichte behaupten ließ. In der Ordnung der Wirklichkeit und damit im Wahrheitsbezug nahm die Geschichte nämlich einen höheren Rang ein als das Menschenwort, da sie nach mittelalterlicher Vorstellung als Heilsgeschichte (res gestae) in Gott und damit in der höchsten, unsichtbaren Wirklichkeit gründete. Wie die von Gott geschaffene Natur (res naturae) verwies demnach auch sie durch sich selbst auf Gott als ihren Ursprung. Die menschliche Sprache (voces) hingegen sah man nur auf die sichtbare Wirklichkeit (res) verweisen; sie erzeuge aus sich selbst kein Seiendes (und also auch keine Wahrheit) und sei täuschungsanfällig.111 Darüber hinaus war in Form des historischen Exempels mit historischer Wahrheit ohnehin auch stets moralische Belehrung verbunden, noch dazu eine, die als überzeugender als die einer erfundenen Geschichte galt. Zum Historischen wurde alles verlässlich Berichtete gezählt, auch aus heutiger Sicht Legendäres. Dem Aufweis der Historizität diente insbesondere die verbreitete Berufung auf Quellen, die manchmal eigens zu diesem Zweck erfunden wurden. Es zeigt sich hierin die Autorität, die im Mittelalter der Tradition, vor allem der schriftlichen, zugemessen wurde. Diese Haltung schlug sich auch im Dichterbegriff nieder.112 Der Dichter 110 Hierzu und zum Folgenden vgl. Brandt 1986, 39f.; Knapp 1997, 9–64; Jung 2007, 56f.; Busse 2008, 505, 506. 111 Zu Dichtungstheorie und Dichtungsverständnis im Mittelalter insbesondere unter dem Aspekt des Bezugs der Sprache zu Wirklichkeit/Sein und Wahrheit vgl. Knapp 2005, bes. 9f., 13f., 225–256. – S. auch u. Kap. II.2. 112 Vgl. hierzu Wehrli 1984, 68–104; Brandt 1986, 8f.; Brandt 1999, 101–107; Bein 2005, 21–23, 81–84; Jung 2007, 57.

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galt als Finder, nicht Erfinder seines Stoffs. Nicht die Neuheit des Stoffs war also entscheidend, sondern seine stilistisch originelle Gestaltung. Das freilich ging mit nicht unerheblichen (Um-)Deutungen der Quellen einher. Dichtung im Mittelalter ist „weitgehend Rezeptionslit[eratur]“113, und so trat der Dichter gemeinhin hinter Tradition, Werk und Auftraggeber zurück. Dichtung diente weltlichen wie geistlichen Granden zu Repräsentationszwecken, auch wenn sich seit dem 12. Jahrhundert Ansätze eines individualisierten Dichter- und Werkverständnisses zeigen und die Nennung des Autornamens auch in profaner Literatur zunimmt. In geistlicher Dichtung war dies im Rahmen der Bitte ans Publikum um Fürbitte für den Autor bzw. Mäzen seit jeher verbreitet. Der historischen Wahrheit stand das Erfundene (fictio) als Lüge gegenüber.114 Für Isidor von Sevilla wie für die meisten mittelalterlichen Theoretiker nach ihm verfertigte daher derjenige Dichter die beste Dichtung, der wahres Geschehen (historia) lediglich in figürliche, bildhafte und mit rhetorischem Schmuck versehene Sprache überführt, also möglichst nah an der historischen Wahrheit bleibt und möglichst wenig hinzuerfindet. Lukan (39–65) galt als mustergültig, aus der volkssprachlichen Dichtung am ehesten noch die Helden- und Geschichtsepik, wenngleich die Historizität gerade der Ersteren mit der Zeit immer mehr bezweifelt wurde. Für die Mischung von Wahrem und Erfundenem galt das Prinzip der Wahrscheinlichkeit (Horaz). Zur Ausbildung eines Fiktionalitätskonzepts, das eine vollständig erfundene, aber realistisch gestaltete Dichtung legitimiert hätte, gelangte das Mittelalter jedoch nicht. Auch wenn es die aus der klassischen Rhetorik stammende Theorie des argumentum verisimile, der erfundenen, dabei aber wahrscheinlichen und glaubwürdigen (verisimile) Darstellung, durchgängig rezipierte, war das (nur) Wahrscheinliche letztlich doch zu sehr der Fiktion und damit der Lüge verdächtig. Umso mehr bedurfte alle auf freier Erfindung basierende fantastische Dichtung (fabula) der Rechtfertigung. Bei ihr, die nach Isidor mit dem Ungeschehenen, Unmöglichen und Naturwidrigen befasst ist, wurde unterschieden, ob sie allein auf Unterhaltung zielt oder auch auf Belehrung. In letzterem Fall hatte sie nämlich wenn schon nicht über die fantastischen Dinge, von denen sie berichtet, so doch zumindest über die Worte einen Bezug zur Wahrheit (verax significatio). Denkbar war hier ein moralischer Wahrheitsbezug wie in den Fabeln Äsops (fabula ad morum finem relata) oder ein naturphilosophischer wie in mythologischer Dichtung (fabula ad naturam rerum ficta). Als rein unterhaltende fabulae galten dagegen volkstümliche Schwänke 113 Busse 2008, 506. 114 Vgl. hierzu Knapp 1997, passim; Knapp 2005, passim. S. auch die grundsätzlich gleichlautende Kategorisierung der mittellateinischen Literatur bei Vollmann 2009, 173–175.

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oder Komödien. Diesem Bereich wurde häufig auch der höfische Roman zugewiesen, obwohl die meisten Romanautoren beteuerten, keine Erfindungen, sondern historia zu bieten. In Werken wie der Aeneis Vergils wiederum glaubte man historia und fabula vermischt vorzufinden, da sie neben der Erfindung, die zur poetischen Darstellung der historia gehört, auch frei erfundene fabulae zur Einkleidung philosophischer Wahrheiten enthielten. Zur Bezeichnung des zur lehrhaften Fiktion gehörenden Interpretationsverfahrens wurde im 12. Jahrhundert der Versuch unternommen, den schon älteren Begriff des integumentum zum Terminus technicus weiterzubilden.115 Unter Rückgriff auf Macrobius’ spätantike Definition, nach der integumentum das Hüllen einer philosophischen Wahrheit in eine narratio fabulosa (bei Isidor: fabula ad naturam rerum ficta) bezeichnet, nahm Bernardus Silvestris (um 1100–um 1160) unter dem Oberbegriff involucrum die terminologische Scheidung von integumentum und allegoria vor. Ihm zufolge verbirgt sich die Wahrheit beim integumentum unter einer Fiktion, bei der allegoria aber unter wirklichem Geschehen, weshalb Ersteres die Wahrheit profaner Literatur und Letztere die Wahrheit der Bibel bezeichnet. Diese strenge terminologische Unterscheidung setzte sich in der Folge zwar nicht durch, doch blieb die Annahme bestehen, auch poetische Texte könnten eine Wahrheit bergen, sei dies nun eine philosophische oder eine religiöse. Aufs Ganze gesehen blieb aber auch weiterhin jene auf Isidor zurückgehende Linie vorherrschend, die in Dichtung primär historische Wahrheit und damit verbundene moralische Belehrung suchte.116 Zur Legitimation des auf Fiktionalität beruhenden Romankonzepts, welches Chrétien de Troyes (ca. 1140–1190) mit seinen Artusromanen aufrichtete, genügte die integumentum-Lehre freilich ebenso wenig wie die Konzepte der fabula oder des argumentum verisimile, da seine Romane nicht die äußere Wirklichkeit abbilden, sondern eine Wirklichkeit fingieren und zugleich ihre Irrealität aufzeigen wollten. Da eine passende poetologische Terminologie hierfür fehlte, die herrschende Gattungslehre jedoch für Legitimationsdruck sorgte, gingen die Romandichter entweder durch schlichtes Übergehen bzw. durch die erwähnte (s. o. Kap. II.2) originelle Kombination gängiger Topoi (Haug) auf Distanz zu den geläufigen Theoriekonzepten oder aber sie näherten ihre Praxis diesen an.117

115 Zur integumentum-Lehre vgl. Brinkmann 1980, 169–172; Spitz 1996, 19–21; Huber 2000. S. auch Kap. II.3.2 des Beitrags „Philosophie“ in diesem Band. 116 Vgl. Knapp 1997, 56. 117 Vgl. ebd., bes. 9–74, 121–151, 165f.; Knapp 2005, 14, 251–256.

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3. Grundlagen mittelalterlicher Hermeneutik Produktion wie Rezeption von Literatur erfolgt stets im Kontext des zeitgenössischen Weltbildes. Für das Mittelalter war alles relevante – und das heißt: heilsrelevante – Wissen in zwei Büchern gespeichert: dem Buch der Bücher, der Bibel, und dem Buch der Natur.118 Enthält die Bibel das Wort Gottes in der wandelbaren Form menschlicher Sprache, so die Schöpfung in der unveränderlichen Form der „zweiten Sprache“ (Brinkmann), der „Sprache Gottes“ (Ohly). Als Werk Gottes hat die Natur demnach neben ihrem Eigenwert auch Zeichencharakter, sie weist über sich hinaus, ist sichtbares Zeichen der unsichtbaren Welt Gottes. Wie die Bibel zeigt – Weish. 11,20 bzw.119 21: „Doch du hast alles nach Maß und Zahl und Gewicht geordnet.“ –, herrschen in der Natur Planmäßigkeit, Form und Proportion vor, sie ist mess- und kalkulierbar. Der Mensch steht in einem analogen Verhältnis zur Natur, in ihm als Mikrokosmos spiegelt sich die Struktur des Makrokosmos. Weil er mit Vernunft begabt ist, kommt ihm überdies eine Sonderstellung in der Schöpfung zu, ein Platz zwischen Gott und der übrigen Schöpfung. Um seine beiden wichtigsten Bücher, Bibel und Welt, richtig verstehen zu können, hat das Mittelalter verschiedene Techniken und Hilfsmittel entwickelt. Den Ausgangspunkt bildete dabei die Bibelexegese, denn auch für das Verständnis der Natur stellte die Bibel die hauptsächliche Quelle dar. Die maßgebliche Zeichentheorie der Bibelauslegung geht auf Augustinus zurück und wurde im 12. Jahrhundert von Hugo (†1141) und Richard von St. Viktor (†1173) weiter präzisiert.120 Sie unterscheidet zwischen den Worten der menschlichen Sprache (voces) und den durch sie bezeichneten Dingen (res). Letztere haben in der Bibel im Unterschied zur profanen Literatur neben ihrer natürlichen noch eine übernatürliche, geistige Bedeutung. Bibelauslegung umfasst somit die doppelte Aufgabe, sowohl die Worte als auch die durch sie bezeichneten Dinge zu verstehen, d. h. neben dem buchstäblichen auch den geistigen Sinn der Schrift zu erschließen. Für die erste Aufgabe stellt das Trivium mit seinen philologischen und grammatischen Methoden der Texterklärung die Mittel bereit (Textkritik, Beachtung von historischem und sprachlichem Kontext, Gattungsanalyse etc.). Für die zweite Aufgabe liefern die verbleibenden vier freien Künste – Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie, das sogenannte Quadrivium – sowie die Physik die erforder118 Vgl. Brandt 1999, 153. – Die folgende Darstellung basiert im Wesentlichen auf den grundlegenden Arbeiten Ohly 1977 und Brinkmann 1980. Vgl. ferner die Überblicke bei Spitz 1996, 5–19; Brandt 1999, 149–174; Bein 2005, 84–89; Weddige 2008, 58–116. 119 Nach Zählung der Lutherbibel. 120 Vgl. hierzu auch Kapp. I.4 u. II des Beitrags „Bibel“ in diesem Band.

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lichen Kenntnisse: das Quadrivium hinsichtlich der äußeren Erscheinungsform der res, die Physik hinsichtlich ihrer inneren Eigenschaften. In diesem Bestreben, den geistigen Sinn der Dinge zu ergründen, liegt denn auch der letzte Zweck all der naturkundlichen Wörterbücher und Enzyklopädien des Mittelalters, wie das berühmteste Wörterbuch jener Zeit zeigt, der Physiologus, der neben der Beschreibung von Tieren, (Edel-)Steinen und Pflanzen auch jeweils deren allegorische Bedeutungen nennt. Zu den res zählten ferner aber auch Personen, Zahlen, Orte, Jahres- und Tageszeiten sowie Geschichtsereignisse.121 Während der Theorie nach zwischen Wort und bezeichneter Sache eine – wenigstens im Prinzip – einfache Beziehung herrscht, galten die res als grundsätzlich mehrdeutig; sie haben der Theorie nach so viele Bedeutungen wie als relevant angesehene äußere und/oder innere Eigenschaften (proprietates). Nun können wie die Eigenschaften auch die Bedeutungen gut oder schlecht sein. „Das gleiche mit einem Wort bezeichnete Ding kann Gott und den Teufel bedeuten sowie den ganzen dazwischen liegenden Bereich der Werte mit seinen verschiedenen Bedeutungen durchmessen.“122 Im Einzelfall muss daher der Kontext, in dem eine res begegnet, darüber entscheiden, welche Bedeutung zu wählen ist. Diese Methode zur Auffindung der Dingbedeutungen ist die der allegorischen Interpretation. Ding und Bedeutung werden über strukturelle Ähnlichkeiten verknüpft, das Verfahren ist also ein analoges, kein kausales.123 Der Begriff der Ähnlichkeit konnte im Mittelalter allerdings unterschiedlich verstanden werden: entweder im neuplatonischen Sinn – dann wurde ein wesensmäßiger Zusammenhang zwischen Ding und Bedeutung angenommen –, oder im Sinne der negativen Theologie – dann stand der grundsätzliche Abstand zwischen beiden im Vordergrund.124 Bewegt sich das analogische Verfahren gewöhnlich auf synchron-horizontaler Ebene, so bei der Betrachtung von Geschichtsereignissen in diachron-vertikaler Richtung. Ursprünglich zur Verhältnisbestimmung von Altem und Neuem Testament entwickelt, dient das letztere, in der Moderne als Typologie bezeichnete Verfahren dem Aufweis von Ähnlichkeiten oder auch korrespondierenden Gegensätzen125 zwischen historischen Personen, Handlungen oder Ereignissen, denen ein Verhältnis von Ver121 Die neuere Forschung hat als zusätzliche Sinnträgerkategorie noch die Qualitäten der res aufgezeigt (vgl. Ohly 1977a, XVI). 122 Ohly 1977d, 9. 123 „Der Analogie kam damals dieselbe Evidenz zu wie in der Moderne dem Kausalprinzip.“ (Brinkmann 1980, 125.) 124 Vgl. Weddige 2008, 77. In diesen Zusammenhang gehören auch obige (Kap. II.2) Bemerkungen zu Schönheit und christlicher Ästhetik. 125 Vgl. Hoefer 1971, 100–104, 113.

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heißung (Typus) und Erfüllung (Antitypus) unterstellt wird. Das Moment der Steigerung zwischen Präfiguration und Erfüllung ist hierbei wesentlich. Geschichte wird als teleologischer Prozess aufgefasst, in dem die Inkarnation die „epochale Zeitenwende“ (Spitz) darstellt. Die Universalgeschichte teilt sich dadurch in eine Zeit vor und eine Zeit nach Christus, und je nach Epochenzugehörigkeit „kann analogen Ereignissen ein abgestufter Rang an Offenbarungsfülle zuerkannt werden“126.

4. Mittelalterliches Dichtungsverständnis – Dichtungs- und Auslegungspraxis Inwieweit haben nun aber die dargestellten allegorischen und typologischen Denkmuster und die zugehörigen christlich-theologischen Inhalte mittelalterlicher Weltdeutung auch außerhalb des im engeren Sinne theologischen Schrifttums Produktion und Rezeption von Literatur beeinflusst? In dieser Frage hat die Forschung kein übereinstimmendes Ergebnis erzielt. Für den Bereich der geistlichen Dichtung, der lateinischen wie der volkssprachlichen, wird allgemein von der Gültigkeit des theologischen Bedeutungssystems ausgegangen.127 In allen Gattungen geistlicher Dichtung, von der Bibel- über die Marien- und Visionsdichtung bis hin zu Heiligenlegenden und didaktischen Texten wie Predigt oder Mahnrede,128 sind christliche Welt- und Geschichtsdeutung in ihren allegorischen und typologischen Sinnbezügen zugrunde gelegt oder eigens expliziert. Ein markantes Beispiel stellt die Evangelienharmonie Otfrids von Weißenburg (ca. 800–nach 870) dar.129 An jeden Abschnitt aus dem Leben Jesu schließt sich hier eine Darlegung des geistlichen Schriftsinns an, der die allegorischen und typologischen Sinndimensionen des Berichteten aufzeigt. Selbst die sprachliche Form scheint in Analogie zur Bibelhermeneutik und ihrem System des mehrfachen Schriftsinns gestaltet, insofern Otfrid statt des bislang im Althochdeutschen gebräuchlichen Stabreims den Endreim einführt und so die Sinnstruktur des Textes durch eine Lautstruktur überlagert, die durch den Reim Beziehungen zwischen Wörtern herstellen und so einen über ihren primären Sinn hinausgehenden Zweitsinn eröffnen kann. Darüber hinaus soll die Schönheit des Wortklangs die Schönheit des aufgeschlossenen geistlichen Sinns unterstreichen. Die Anlage des Werks auf fünf Bücher erklärt Otfrid mit den fünf Sinnen des Menschen, die in ihrer Unvollkommenheit in der heiligen Vier126 127 128 129

Spitz 1996, 16. Vgl. Ohly 1977d, 15; Bein 2005, 87. So die Einteilung der geistlichen Dichtungsgattungen bei Bein 2005, 132f. Zum Folgenden vgl. Ohly 1977d, 27f.; Wehrli 1984, 195–197; Weddige 2008, 100–104.

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zahl der Evangelien aufgehoben werden sollen.130 Dass solche Zahlensymbolik der Konstruktion geistlicher Werke zugrunde liege, war lange Annahme der Forschung, doch auch wenn das bei Otfrid und anderen geistlichen Autoren aus vorscholastischer Zeit durchaus wahrscheinlich ist, muss doch auch hier so viel unsicher bleiben, dass zumindest ein systematisches Vorgehen fraglich ist.131 Unübersichtlicher stellt sich der Einfluss theologischer Muster im Bereich weltlicher Dichtung dar. Der stärkste Einfluss zeigt sich bei der Rezeption der antiken Klassiker. Obgleich es sich hierbei um ein prinzipiell eigenständiges Unterfangen handelte, liegen Bezugspunkte zur Bibelhermeneutik im Aufgreifen der Methode der Allegorese, der Annahme zweier Sinnebenen, der Ausbildung eines viergliedrigen Bedeutungssystems und der inhaltlichen Orientierung an der christlichen Heils- und Morallehre.132 Hauptprobleme waren die bisweilen offene Immoralität der klassischen Dichtung sowie die darin enthaltene Mythologie. Aufbauend auf spätantiken Mustern, begegnete man diesen Schwierigkeiten außer mit Ablehnung mit moralisierender Umdeutung bzw. mit ihrer Betrachtung als allegorische Darstellung tieferer Wahrheiten religiöser, philosophischer oder moralischer Art. Diese Unterscheidung von fiktiver Oberflächenerzählung und verborgener Wahrheit brachte das 12. Jahrhundert auf den Begriff des integumentum (s. o. Kap. II.2). Die Auslegung wurde dadurch zu einer Art „archetypischer Kritik“ (Wetherbee), einem Suchen nach analogen Strukturen auf mythischer Erzähl- und philosophischer Bedeutungsebene zum Zweck gegenseitiger Zuordnung.133 Die Erklärung bestand aus zwei Schritten: Klärung des Wortsinns und Erhebung der philosophischen Wahrheit. Letzteres geschah bei den Göttermythen in Form einer „mythischen“, d. h. euhemeristischen Deutung (hier wird der Mythos auf eine nachträgliche Vergöttlichung historischer Personen zurückgeführt), und einer „physischen“, d. h. auf natürliche Vorgänge abstellenden Interpretation, wobei sich die physische Erklärung sowohl auf den Makrokosmos (Natur) als auch auf den Mikrokosmos (menschliche Ethik und Moral) beziehen konnte.134 Analog zur Bibel sah man somit auch in der klassischen Literatur vier Sinnebenen angelegt: eine wörtliche, eine his130 „Hos […] in quinque, quamuis euangeliorum libri quatuor sint, ideo distinxi, quia eorum quadrata aequalitas sancta nostrorum quinque sensuum inaequalitatem ornat et superflua in nobis quaeque non solum actuum, uerum etiam cogitationum uertunt in eleuationem caelestium.“ (Piper 1878, 8,46–50.) Vgl. dazu Haug 1992, 32. 131 Vgl. Wehrli 1984, 222–235; Spitz 1996, 25. 132 Vgl. hierzu ebd., 19–21; Gillespie 2005; Wetherbee 2005. 133 Vgl. ebd., 132–137. 134 Vgl. Brinkmann 1980, 185–187.

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torische (euhemeristische), eine natürliche (physikalische) und eine moralische. Das Bedeutungssystem war jedoch ein anderes – wenngleich dem biblischen verwandtes –, und so kam es auch im Spätmittelalter nur sporadisch zur Anwendung eines oder mehrerer geistlicher Sinne aus der Bibelauslegung auf weltliche Dichtung.135 Was man auf diese Weise in der klassischen Dichtung fand, waren vor allem philosophische Wahrheiten, insbesondere die neuplatonische Kosmologie, ferner Moralisches und Religiöses. Während des ganzen Mittelalters galten die Klassiker als in der Hauptsache mit Ethik und Moral befasst, doch wurde dieser Zug im 13. und 14. Jahrhundert verstärkt betont. So erfuhren zu dieser Zeit etwa Ovids Metamorphosen in Schriften wie dem Ovide moralisé und dem Ovidius moralizatus explizit christlichmoralische Deutungen, nachdem die durchgängige platonische Deutung im Sinne des steten geistigen Aufstiegs des Menschen zuvor zugunsten unzusammenhängender Einzeldeutungen natürlicher, geistlicher, magischer und euhemeristischer Art gescheitert war.136 Das integumental-allegorische Muster aus der Klassikerauslegung findet sich auch in der seit dem 12. Jahrhundert entstehenden allegorischen Dichtung.137 Als Hauptwerke in lateinischer Sprache gelten hier De planctu naturae und der Anticlaudianus von Alanus ab Insulis (um 1125/30–1203), ferner die Cosmographia Bernardus Silvestris’. Im volkssprachlichen Bereich ist insbesondere der altfranzösische Rosenroman (13. Jh.) zu nennen. Allgemein ist die volkssprachliche Dichtung des Spätmittelalters, gerade die deutsche, in weitem Umfang allegorisch geprägt. Mit der allegorischen Methode übernahm die profane Literatur auch weite Teile des theologischen Bedeutungsvorrats.138 Darauf weisen etwa die häufig anzutreffenden Zitate aus dem Physiologus hin. Dessen Allegoresen wurden in einem solchen Umfang als bekannt vorausgesetzt, dass an die Stelle einer dort gegebenen religiösen Bedeutung auch eine neue, ins Weltliche gewendete Deutung treten und beispielsweise in der Minnedichtung das Motiv der Jungfrau mit dem Einhorn statt auf Christus und Maria nun auf den werbenden Mann und die umworbene Dame bezogen werden konnte.139 Zahlensymbolik mag verschiedentlich eine Rolle bei der Disposition gespielt haben, doch ist die Forschung auch hier, insbesondere hinsichtlich des höfischen Romans, von der Annahme einer bewussten Konstruktion abgerückt.140 135 136 137 138 139 140

Vgl. Gillespie 2005, 203; Minnis/Johnson 2005a, 6. Vgl. Gillespie 2005, 200–206; Wetherbee 2005, 138–140. Vgl. Spitz 1996, 19–28. Vgl. Brandt 1986, 51. Vgl. Weddige 2008, 71–76. Vgl. Wehrli 1984, 222–227; Brandt 1986, 53f.

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Allgemein hat die Forschungsdiskussion über die Frage, ob für weltliche Dichtung im Mittelalter insgesamt ein geistlich-theologischer Interpretationsrahmen anzusetzen ist, im höfischen Roman einen Hauptgegenstand gefunden. Umstritten ist dabei nicht, dass er auch allegorische Elemente wie etwa die Schilderung der Minnegrotte in Gottfrieds von Straßburg Tristan und Isolde (um 1210) enthalten kann, wohl aber, ob in ihm grundsätzlich mit zwei Sinnebenen im Sinne des integumentum-Konzepts zu rechnen ist und ob sich auch Typologisches in ihm findet. In der ersten Frage tendiert die Forschung nach zwischenzeitlicher Ablehnung mittlerweile zu einer eingeschränkt bejahenden Position, die eine durchgängige zweischichtige Interpretation zwar ablehnt, aber bewusst integumental gestaltete Stellen erkennen zu können glaubt.141 Ebenfalls anerkannt ist allerdings auch die These, entsprechende Unterscheidungen zwischen Stoff und Sinn (wie bei Chrétien de Troyes zwischen conte und conjointure im Prolog zu seinem Erec) bedienten sich zwar integumentaler Begrifflichkeit, dies jedoch nur in Ermangelung einer treffenderen poetologischen Terminologie und auch nur in negativer Weise, um das neue, auf Fiktionalität gründende Konzept des höfischen Romans anzudeuten, bei dem die Wahrheit gerade nicht wie beim integumentum unter der Erzähloberfläche verborgen liegt, sondern in der Erzählstruktur selbst aufgehoben ist und nur im rezipierenden Nachvollzug „enthüllt“ werden kann.142 Ähnlich wird die Frage nach dem Anteil typologischer Denkmuster beantwortet. Erforderlich war hier zunächst eine terminologische Klärung durch die Unterscheidung der biblischen von der halb- und außerbiblischen Typologie, bei welcher ein bzw. beide Pole der typologischen Beziehung aus der außerbiblischen Geschichte stammen (Ohly). Zudem wurde für die außerbiblische Typologie in Dichtwerken das Vorhandensein einer eindeutigen sprachlichen Kennzeichnung eingefordert, um den Typologiebegriff nicht zu stark zu formalisieren und auszuhöhlen (Hoefer). Auf dieser Grundlage gelangte die Forschung dann aber mehrheitlich zu der Auffassung, dass typologisch gestaltete Beziehungen nicht nur im höfischen Roman (Tristan, Parzival) vorliegen, sondern auch in anderen Gattungen wie Geschichtswerken (Kaiserchronik), in geistlicher (Marienleben) und Heldenepik (Willehalm) sowie in Heiligenlegenden (Gregorius).143 Beispiele – wenn auch umstrittene – für solche Beziehungen sind im Bereich des höfischen Romans die manchmal vorgeschalteten Elterngeschichten, die als Präfigurationen der Haupthandlung gelesen werden können, oder das als „doppel141 Vgl. Huber 2000, 159. – Ablehnend: Haug 1992, 231. 142 Vgl. Haug 1992, 100–105; Spitz 1996, 26. 143 Vgl. Ohly 1977c, 331–333; Wehrli 1984, 263–265, 267–269; Spitz 1996, 25f.; Weddige 2008, 83f. Zur Begrifflichkeit s. Hoefer 1971; Ohly 1977b.

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ter Cursus“ bezeichnete Bauprinzip des Artus-Romans, nach dem der Held in einer ersten, triadisch aufgebauten Abenteuerfahrt Frau und scheinbares Glück findet, welches dann brüchig wird und in einer zweiten, ebenfalls dreistufigen Fahrt mit kontrastiv auf die erste Fahrt bezogenen Episoden bewährt werden muss.144 An Formen der Sinnerschließung poetischer Texte kennt das Mittelalter neben den schon in der Antike gebräuchlichen Glossen, Kommentaren und accessus ad auctores auch Florilegien, Kompilationen und Eigenkommentare. Glossen wurden teils zwischen den Zeilen, teils am Rand angebracht, wobei die Interlinearglossen mit lexikalischen, syntaktischen und metrischen Informationen die Lektüre (lectio) unterstützen sollten, während die Marginalglossen bzw. marginal angebrachten fortlaufenden Kommentare vor allem inhaltliche Fragen behandelten, also der Erklärung (enarratio) dienten.145 Hilfsmittel der Allegorese war nicht zuletzt die Etymologie in ihrer spekulativen mittelalterlichen Form.146 Die accessus lieferten gegenüber den Einzeldeutungen in Glossen und Kommentaren den weiteren literarischen, philosophischen, ethischen Interpretationsrahmen.147 Auch die Florilegien und Kompilationen übten eine interpretatorische Funktion aus, indem sie einzelne Textabschnitte aus ihrem ursprünglichen Kontext lösten und mit anderen Texten unter thematischen Überschriften versammelten, was nicht nur selbst eine interpretatorische Leistung war, sondern die Texte auch freier interpretierbar machte.148 Im Spätmittelalter kam schließlich bei volkssprachlichen Dichtern der Eigenkommentar auf, der – wie die entsprechenden Fremdkommentare auch – volkssprachliche Dichtung in ihrem Ansehen der Autorität der klassischen Literatur, die üblicherweise Gegenstand der Kommentierung war, annähern wollte.149

144 Vgl. Wehrli 1984, 268. – Ablehnend etwa Haug 1992, 224–227. 145 Vgl. Irvine 1994, 384. Zur Unterscheidung von Auslegung (expositio, explanatio) und Kommentar (commentarius) s. Brinkmann 1980, 156–162. 146 Vgl. Brinkmann 1980, 39–43, 156; Huber 2000, 158. 147 Vgl. Gillespie 2005, 151; Wetherbee 2005, 119f., 124f. S. auch Kap. II.3.1 des Beitrags „Philosophie“ in diesem Band. 148 Vgl. Gillespie 2005, 178–186, bes. 181f. 149 Vgl. Hanna/Hunt/Keightley/Minnis/Palmer 2005, 414–421.

III. Frühe Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

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III. Frühe Neuzeit (16.–18. Jahrhundert) 1. Literarischer Epochencharakter Die frühe Neuzeit als Epoche der literarischen Hermeneutik umfasst einen Zeitraum von rund 500 Jahren und gliedert sich – bei unscharfen zeitlichen Grenzen – in Renaissance (14.–16. Jh.), Barock (17. Jh.) und Aufklärung (18. Jh.).150 Wie Antike und Mittelalter brachte auch sie keine umfassende Literaturtheorie hervor, doch entstand im Bereich der Philosophie151 seit dem 17. Jahrhundert eine allgemeine Hermeneutik, an der sich auch das Literaturverstehen ausrichtete. Die literarische Verstehenslehre verfestigte sich allerdings nicht zu einer expliziten literarischen Hermeneutik, sondern existiert nur eingeschrieben in die zeitgenössische Poetik. Diese wiederum war von einer grundlegenden Verschiebung im Dichtungsverständnis gekennzeichnet. Seit der Antike konnte Dichtung entweder stärker als Kunsthandwerk („Aristoteles“, Horaz) oder mehr als göttliche bzw. natürliche Gabe („Platon“, Pseudo-Longin) angesehen und Poetik entsprechend entweder mehr als auf literarische Bildung, Rhetorik und Nachahmung stilistischer Vorbilder setzende Regelpoetik oder mehr als auf Inspiration und freie Gestaltung bauende Genieästhetik konzipiert werden.152 In den poetologischen Entwürfen der frühen Neuzeit sind durchgängig Elemente beider Konzepte zu finden. Während aber bis zur Aufklärung das regelgeleitete rhetorische Poetikkonzept dominierte, das schon im Mittelalter favorisiert worden war (s. o. Kap. II.2), gewann im 18. Jahrhundert zunehmend der antirhetorische Ansatz an Gewicht, der schließlich in der Goethezeit als der literarischen Formierungsphase der Moderne zentral werden sollte (s. u. Kap. IV.1.1).153 Abseits dieser Avantgarde waren die Dichtwerke aber auch im 18. Jahrhundert noch weniger als Mittel des autonomen subjektiven Ausdrucks konzipiert denn als Beiträge zur öffentlichen Debatte (vor allem über religiöse und politische Fragen). Aus diesem Grund macht auch die heutige Literaturgeschichte gerade in dem rhetorischen und dialogischen Charakter das Epochenspezifische der frühneuzeitlichen Literatur aus.154 150 Diese zeitliche Einteilung geht zwar über den in der Überschrift genannten Zeitraum hinaus, doch bildet das 16. Jahrhundert auch innerhalb der literarischen Renaissance einen Schwerpunkt, so dass das gemeinsame Einteilungsschema aller Beiträge dieses Bandes beibehalten werden kann. 151 S. Kap. III des Beitrags „Philosophie“ in diesem Band. 152 Für diese doppelte Alternative berief man sich in der Neuzeit zwar vielfach auf Platon und Aristoteles, doch geht dies, wie oben (Kap. I.4) gezeigt, an deren tatsächlichen Konzeptionen vorbei, weshalb ihre Namen hier in Anführungszeichen gesetzt werden. 153 Vgl. Rauscher 1998, 1315–1322. 154 Vgl. Baasner 2006, 12; Keller 2008, 17f. et passim.

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2. Renaissance 2.1 Das Verhältnis von Dichtung und Wahrheit in der Poetik der Renaissance Das Verständnis der Renaissance von der Produktion wie auch der Rezeption poetischer Texte äußert sich prominent in den poetologischen Reflexionen der Zeit.155 Denn auch wenn mit der Mehrheit der Forschung davon auszugehen ist, dass die Renaissance-Poetiken vornehmlich normativ-präskriptiven Charakter hinsichtlich der Produktion von Dichtung haben, dienten sie doch zugleich auch der Bereitstellung von Kriterien zu deren Interpretation und Beurteilung.156 In der Hervorbringung poetologischer Texte geht Italien dem Rest Europas zeitlich wie inhaltlich voran. Zunächst, im Tre- und Quattrocento, entstanden hier Dichtungsapologien, dann, seit Ende des Quattrocento, systematische Regelpoetiken. Herausragende Apologeten waren Albertino Mussato (1261–1329), Francesco Petrarca (1304–1374), Giovanni Boccaccio (1313–1375) und Coluccio Salutati (1331–1406), die bedeutendste157 Regelpoetik, die Poetices libri septem (1561), stammt von Julius Caesar Scaliger (1485–1555). Außerhalb Italiens taten sich insbesondere Joachim du Bellay (ca. 1522–1560) in Frankreich und Philip Sidney (1554–1586) in England hervor. An dem Aufkommen von Regelpoetiken um 1500 kann der nachlassende Druck zur Verteidigung von Dichtung und der Erfolg entsprechender Aufwertungsbemühungen abgelesen werden. Hatte Thomas von Aquin (1225–1274) und mit ihm die Hochscholastik der Dichtkunst noch den untersten Rang unter den Wissenschaften zugewiesen,158 war die Poetik nun als eigene Disziplin in die studia humanitatis aufgenommen und mit eigenen Lehrstühlen an den Universitäten ausgestattet. Als Bewegung zur Restitution der Antike griff die Renaissance auch in der Poetik auf antike Texte zurück. Allerdings reproduzierte sie nicht einfach deren Gedanken, sondern formulierte mittels Auswahl (Eklektizismus) und Synthese (Synkretismus) eigene Positionen.159 Die Poetologen verstanden sich dabei immer deutlicher als Interpreten der Antike, deren Literatur und Poetik sie einerseits als Zeitprodukte historisierten und dadurch relativierten, andererseits aber auch zur Grundlage ihres Bestrebens machten, im Ausgang von der historischen Entwicklung der Dichtungspraxis zu 155 156 157 158

Zur deren folgender Darstellung vgl. insbes. Buck 1972 und Buck 1994. Für ein solches interpretatives Verständnis der Poetiken vgl. Stillers 1988, 277–279 et passim. Vgl. Wiegmann 1977, 35; Jung 2007, 61. S. th. I, q. 1, a. 9: „Procedere autem per similitudines varias et repraesentationes est proprium poeticae, quae est infima inter omnes doctrinas“ (Leonina 1888, 23). Vgl. Stillers 1988, 280 (mit Anm. 9). 159 Vgl. Plett 1994a, 14f. – Zum Folgenden vgl. Stillers 1988, bes. 277–394.

III. Frühe Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

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einer universal gültigen sowie wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Literaturtheorie zu gelangen. In ihrer elaboriertesten Form boten sie einen systematischen Überblick über die dem Dichter zur Verfügung stehenden Gestaltungselemente und -modelle, welche sie durch Abstraktion aus der klassischen und neuzeitlichen Dichtung induktiv gewonnen hatten. Umgekehrt konnten die Poetiken anschließend zur Beurteilung poetischer Werke dienen, die von hier aus als je individuelle Auswahl aus dem Arsenal der Gestaltungsmöglichkeiten erschienen. Die wichtigsten Quellen der Renaissance-Poetik waren Horaz’ Ars poetica, die neu, nämlich seit 1508 wieder im griechischen Original zugängliche Poetik des Aristoteles, der von der Akademie in Florenz im 15. Jahrhundert wiederbelebte Neuplatonismus, die klassische Rhetorik (Cicero, Quintilian) und die bibelexegetische Tradition; andere Texte wie Pseudo-Longins Traktat Vom Erhabenen spielten nur eine untergeordnete Rolle.160 Wichtig war insbesondere die Neurezeption der aristotelischen Poetik seit Mitte des 16. Jahrhunderts, deren auf die innere Form dichterischer Werke achtender Ansatz half, die Poetik über die rhetorische Perspektive der Publikumswirkung hinaus zu erweitern.161 Allerdings war dies nur ein Nebeneffekt; im Mittelpunkt stand der Versuch, Aristoteles mit Horaz zu harmonisieren.162 Orientierungspunkt des Verständnisses war hierbei die hellenistisch-römische Antike, die für die Renaissance den Inbegriff der Antike bildete, und so wurde Aristoteles’ Poetik nachgerade als Kommentar zu Horaz gelesen.163 Beider Texte lieferten so die Basis der Poetiken, in die dann ergänzend Elemente aus klassischer Rhetorik und Neuplatonismus eingeflochten wurden. Die größere Bedeutung erlangte dabei die Rhetorik. Sie gab weithin den übergeordneten Rahmen ab, greifbar etwa in der häufigen Übernahme ihres Schemas von inventio – dispositio – elocutio zur Strukturierung der Poetiken. Neuplatonische Vorstellungen, die generell nur schwer in den rhetorisch-normativen Gesamtrahmen zu integrieren waren, traten weniger hervor. Sie standen mal wie bei Cristoforo Landino (1424–1492) weitgehend unverbunden neben dem rhetorischen Ansatz, mal waren sie wie bei Scaliger Teil eines Syntheseversuchs.164 Den beherrschenden Einfluss der Rhetorik auf die Renaissance-Poetik beweist bereits deren Nachahmungsbegriff, der zunächst und vor allem die Nachahmung anti160 Vgl. Plett 1994a, 9–14. Zwar setzte die Longin-Rezeption bereits Mitte des 16. Jahrhunderts ein, größere Bekanntheit erlangte er aber erst im 17., wirkungsgeschichtliche Bedeutung erst im 18. Jahrhundert (vgl. Ley 1994; Rauscher 1998, 1316; Cronk 1999, 203). 161 Vgl. Habib 2008, 266f. 162 Vgl. Plett 1994a, 9f.; Javitch 1999, 53, 56; Moss 1999, 72. 163 Vgl. Aristoteles 2008, XII, 53f. 164 Vgl. Wiegmann 1977, 31, 35f.; Plett 1994a, 11f.; Rauscher 1998, 1316, 1318.

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ker Musterautoren umfasste. Ziel war, „Altes in neuer Gestalt“165 wiederzugeben, wie schon Petrarca mit seiner Definition von imitatio als variatio und aemulatio, als Veränderung und Verbesserung des Nachgeahmten, verdeutlicht hatte. Durch dieses Nachahmungsprinzip wurde auch die Entwicklung der Nationalliteraturen beflügelt, da sich die Humanisten darauf berufen konnten, wenn sie die Volkssprachen anhand der klassischen lateinischen Stilgesetze und unter Rückgriff auf zu Klassikern deklarierte volkssprachliche Dichter in Grammatiken normierten und so als Dichtungssprachen rechtfertigten.166 Neben den rhetorischen Nachahmungsbegriff trat im Zuge der Aristoteles-Rezeption durch Umdeutung von dessen mimesis-Konzept die Vorstellung von Dichtung als Naturnachahmung.167 Zur Umgehung des dabei schon im Mittelalter auftretenden Problems, dass nur Faktizität als veritas galt, Fiktion hingegen als falsum, wurden die von Aristoteles geforderten Kriterien der Wahrscheinlichkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit nicht mehr wie bei diesem auf das innerliterarische Verhältnis von Charakter und Handlung bezogen, sondern auf das Verhältnis von Dichtung und äußerer Wirklichkeit. Auf diese Weise wurde insbesondere Glaubwürdigkeit im Sinne der Übereinstimmung mit der Alltagserfahrung zum Kriterium guter Dichtung. In Übernahme des nominalistischen Begriffs des Allgemeinen als das aus vielen Einzeldingen abstrahierte Gemeinsame wurde das von Literatur sichtbar zu machende Allgemeine jetzt im Typischen erblickt: Charaktere und Handlung sollten wie im Mittelalter bestimmten Personenklassen und Verhaltensmustern entsprechen. Aufgrund der gemeinhin unterstellten moralischen Zielsetzung von Dichtung sollten die Charaktere dabei allerdings nicht als durchschnittliche, sondern als vorbildlich-ideale konzipiert werden. Die dadurch sich auftuende Diskrepanz zwischen den Forderungen nach Idealität einerseits und Glaubwürdigkeit andererseits wurde dadurch zu lösen versucht, dass man das Ideal als in jedem Ding der Natur angelegt, wenn auch nicht voll verwirklicht betrachtete. Der hinter dieser Konzeption von „Dichtung als Fiktion, die wahrscheinlich ist und das im Einzelnen verborgene Ideal zur Anschauung bringt“168, stehende Glaube an eine erkenn- und nachbildbare Ordnung der Wirklichkeit ist hellenistisch, genauer: stoisch, nicht aber aristotelisch.169 Die hellenistische Prägung des Aristoteles-Ver165 Jung 2007, 58 (Überschrift). 166 Vgl. Buck 1972, 34f.; Rauscher 1998, 1296–1301. 167 Zur Aristoteles-Rezeption im 16. Jahrhundert vgl. insbes. Kappl 2006, bezogen auf den Mimesisbegriff auch Kappl 2004. 168 Ebd., 177. 169 Vgl. Aristoteles 2008, XI, 64–71.

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ständnisses zeigt sich überdies in der häufig vollzogenen Unterordnung der mimesis unter die Horaz’schen Dichtungszwecke des Ergötzens und Nutzens, indem sie als Mittel zur Sicherung der Glaubwürdigkeit und des dadurch zu erzielenden Vergnügens behandelt wurde.170 Gemeinhin wurde der Akzent bei Horaz’ Doppelformel allerdings auf das Belehren gelegt – Dichtung soll die Tugenden feiern und die Laster geißeln (Salutati) –, während das Ergötzen auf die angenehme Weise bezogen wurde, in der Dichtung belehre.171 Seltener sah man wie Lodovico Castelvetro (1505–1571) den Zweck allein im Vergnügen, das allenfalls beiläufig belehre. Darüber hinaus wurden die Dichtungszwecke des delectare und prodesse unter dem Einfluss der klassischen Rhetorik um das movere, die Bewegung des Publikums, ergänzt, womit ein letztlich der Regelpoetik entgegengesetztes, da auch das Außergewöhnliche in seine Mittel einbeziehendes Prinzip Einzug in die Poetik hielt.172 Die Darstellung des die Realität übersteigenden Wunderbaren konnte dabei noch als Idealisierung der Natur akzeptiert werden, die des Unmöglichen und Unglaublichen hingegen nicht, außer es ließ sich – wie die Existenz von Göttern – innerhalb des Erwartungshorizonts des Publikums glaubhaft machen.173 Der Dichterbegriff der Zeit gab dem rhetorisch-normativen ebenso wie dem antirhetorisch-genialischen Konzept Raum, indem er Dichtung sowohl als erlernbare Kunst als auch auf Begabung fußend ansah.174 Der Dichter galt nicht nur – wenn auch vor allem – als umfassend Gelehrter (poeta eruditus), sondern auch als göttlich Inspirierter (poeta vates), der in die „Geheimnisse einer höheren Wahrheit“175 eingeweiht ist. Aus diesen außerordentlichen Qualifikationen wurde schon früh ein Anspruch auf gesellschaftliche Anerkennung abgeleitet, der seinen Ausdruck in der Wiedereinführung der Dichterkrönung fand (erster poeta laureatus war 1315 Mussato). Zudem entstand ein elitäres Bewusstsein, wonach der Dichter über die Masse erhoben sei und sich nur mehr an ein gleichermaßen elitäres Publikum zu wenden habe. Dichtung wurde daher in Dichterkreisen wie der französischen Pléiade im 16. Jahrhundert bewusst dunkel gehalten, um sie von der ungebildeten Masse fernzuhalten. Vor dem Hintergrund dieses Dichterbegriffs erfolgte auch die Abwehr des in der Renaissance weiterhin vorgebrachten „platonischen“ Lügenvorwurfs gegenüber der Dichtung. Hierfür wurde außer auf die allegorisch-integumentale Dichtungsinterpre170 171 172 173 174 175

Vgl. Buck 1994, 31. Vgl. Wiegmann 1977, 30; Jung 2007, 59; Habib 2008, 240. Vgl. Rauscher 1998, 1316. Vgl. Kappl 2006, 69f., 166, 315. Vgl. Buck 1972, 36–40; Kleinschmidt 1997, 359. Buck 1972, 37.

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tation des Mittelalters auf die theologische Poetik der Patristik zurückgegriffen. Nach dieser stellt Dichtung eine andere Form der Theologie dar, die durch die Bibel gerechtfertigt sei, da diese ihre Wahrheit vielfach ebenfalls in poetischer, i. e. figürlicher Sprache darbiete. Die Renaissance definierte Dichtung daher als in Fiktion gehüllte Wahrheit, die auf andere Weise dasselbe ausdrücke wie Theologie und Philosophie, weshalb der Dichter ein poeta theologus und seine Kunst eine ars divina sei (Mussato). Nach dieser zuerst von den italienischen Dichtungsapologeten vertretenen und später oft wiederholten Ansicht ist Dichtung nur äußerlich von der Philosophie unterschieden, nämlich durch das Hüllen der Wahrheit in Erfundenes (Fiktion), durch größere Anschaulichkeit, Vers und figürliche Sprache.176 Im Zuge der Aristoteles-Rezeption konnte Dichtung auf Grundlage von dessen Aussage, sie sei wegen ihrer größeren Allgemeinheit philosophischer als die Geschichtsschreibung, sogar als höchste Weisheit noch über Philosophie und Geschichte aufgefasst werden (Sidney).177 Weil der aristotelische mimesis-Begriff dabei im Sinne idealisierender Naturnachahmung interpretiert wurde – der Dichter soll die Welt nicht abbilden, wie sie ist, sondern wie sie sein soll –, erschien der Dichter im Lichte „platonischen“ Inspirationsdenkens als Schöpfer einer eigenen Welt, als alter deus (Scaliger), weshalb man das vom griechischen poiein abgeleitete poeta mit factor (Scaliger) bzw. im Englischen mit maker (George Puttenham [†1590]) übersetzte. Vor diesem Hintergrund konnte dem Lügenvorwurf dann auch mit dem Hinweis begegnet werden, dass Dichtung ja gar keinen Anspruch auf Wahrheit im Sinn realistischer Wirklichkeitsabbildung erhebe (Sidney). Trotz dieser offenkundigen „Vertiefung des ästhetischen Bewusstseins“ 178 drang auch die an Aristoteles orientierte Poetik nicht zur Vorstellung einer autonomen Kunstwahrheit vor, sondern setzte die durch Dichtung ausgedrückte Wahrheit mit der philosophischen in eins. Ansätze zu einer Autonomisierung ergaben sich eher dort, wo auf die angeblich platonische Lehre vom furor poeticus rekurriert wurde. Ausgehend hiervon zielte für Francesco Patrizi (1529–1597) Dichtung nicht auf Naturnachahmung, sondern auf Artikulation des Eindrucks, den die Inspiration durch eine übernatürliche Macht in der Dichterseele hinterlassen hat, weshalb sie nicht an Regeln gebunden sei und auch keiner Bildung bedürfe, sondern nur der Begabung.179 In ähnlicher Weise protestierten Pietro Aretino (1492–1556) und Giordano Bruno (1548– 1600) gegen jede Regelbindung des allein aus sich selbst heraus schaffenden Dichters. Anders Girolamo Fracastoro (ca. 1478–1553), der das nach Aristoteles in der Dichtung 176 177 178 179

Vgl. Kappl 2006, 68, 163; Habib 2008, 219. Vgl. Jung 2007, 63f.; Habib 2008, 263–265. Buck 1972, 29. Kritisch hierzu Stillers 1988, 366–394, bes. 368–370, 390–393.

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darzustellende Allgemeine mit der platonischen Idee der Schönheit identifizierte und auch die dichterische Sprache allein der Schönheit verpflichtet sah.

2.2 Dichtungsinterpretation Dichtung, klassische wie neuzeitliche, wurde in der Renaissance vielfach allegorisch interpretiert.180 Auf diese Weise ließ sich nicht nur der in der Theorie behauptete integumentale Wahrheitsbezug absichern, die allegorische Interpretation stützte auch die Theorie der Dichtungszwecke, denn der Literalsinn konnte dem delectare und der allegorische Sinn dem prodesse zugewiesen werden. So blieb die Dichtungsallegorese allgemein in Gebrauch, wobei es aber als epochentypisch angesehen werden kann, dass sie wegen fehlender Approbation durch Aristoteles problematisiert und ihre exzessive Anwendung kritisiert wurde. Neben antiken kamen dabei auch mittelalterlich-christliche Deutungsmuster zum Einsatz. Die antiken Klassiker, bei denen neben die lateinischen nun zunehmend wieder die griechischen traten, wurden wie im Mittelalter als in dichterische Fiktion gehüllter Ausdruck tieferer – philosophischer, moralischer, theologischer – Wahrheit gelesen.181 Die theoretische Absicherung dieser Praxis lieferte der Neuplatonismus mit seiner Annahme einer parallelen Offenbarung Gottes auch außerhalb der Bibel in ausgewählter heidnischer Philosophie und Dichtung.182 Wie das Beispiel der Homer-Auslegung zeigt, wurden hierbei sämtliche Formen der überlieferten allegorischen Mytheninterpretation aufgegriffen, die historische, natürliche, psychologische, ethische und die mystische Deutung. Auch kamen beide traditionellen Ansätze zum Tragen, der enzyklopädisch-punktuelle, bei dem aus einzelnen Stellen miteinander nicht zusammenhängende Einzellehren gezogen werden, wie auch der durchgängige, bei dem ganze Werke in eine konsistente philosophische Lehre übersetzt werden.183 Dieser formalen Kontinuität der Deutungspraxis zum Trotz lässt sich im 16. Jahrhundert zugleich eine Veränderung des Blicks auf die antike Mythologie erkennen. Zum einen wurde diese nun als antikenspezifische Vorstellung gekennzeichnet und konsequent historisiert, zum anderen wurde sie ästhetisiert. Der Fokus verschob sich von der in den Mythen verborgenen Wahrheit hin zu deren ästhetischer Form, ihrer überzeugenden Gestal180 Vgl. Hempfer 1983. 181 Vgl. Grafton 1985, 627f.; Jeanneret 1999, 37f. Zur Sammlungs-, Übersetzungs- und Editionstätigkeit auf dem Gebiet griechischer Texte s. Pfeiffer 1982, 44–47, 52, 57f., 63–71, 131–142, 145, 147; Vogt 1997, 118–120. 182 Jeanneret 1999, 37f. Zur Herkunft dieser Vorstellung aus der Antike s. o. Kapp. I.2 u. I.5. 183 Vgl. Clarke 1981, 60–105. Die gleichen Verfahren begegnen bei der Auslegung neuzeitlicher Dichtung (vgl. Hempfer 1983, 58f., 63f.).

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tung und inneren Wahrscheinlichkeit, von der nun auch ihre allegorische Interpretierbarkeit anhängig gemacht wurde. Scaliger etwa hielt Homers mythologische Fiktionen für so unglaubwürdig, dass sie auch über die Allegorese nicht zu retten seien.184 Aber nicht nur die Klassiker, auch anspruchsvolle volkssprachliche Dichtung wurde allegorisch verstanden. Ein einschlägiges Beispiel hierfür ist Ludovico Ariostos (1474–1533) romanhaftes Versepos Orlando furioso (1516–1532), in dem die Ausleger des 16. Jahrhunderts die Sinnschichten des klassischen wie auch des biblischen Auslegungsschemas entdeckten und ihn nicht nur euhemeristisch, physikalisch und moralisch – weltlich-ethisch wie christlich-tropologisch – deuteten, sondern teilweise auch explizit typologisch und anagogisch; hinzu kam bei einigen eine politische oder gesellschaftskritische Dimension, die Anspielungen auf zeitgenössische Zustände erkennen lässt.185 Ein weiteres Beispiel ist Torquato Tasso (1544–1595), der seinem Gedicht Gerusalemme liberata (1581) eine allegorische Erklärung beigab – wenn auch nur aus apologetischen Gründen.186 Lange vor ihm hatte schon Dante Alighieri (1265–1321) seine volkssprachliche Dichtung als nach den gleichen Regeln interpretierbar angesehen wie die lateinische und für seine Commedia ein am vierfachen Schriftsinn der Bibel orientiertes allegorisches Verständnis gefordert.187 Für eine Gleichstellung klassischer und volkssprachlicher Dichtung sprach sich im 16. Jahrhundert auch Giambattista Giraldi Cinzio (1504–1573) aus. Allerdings mahnte er Vorsicht bei der Anwendung der allegorischen Interpretation an, damit den Texten nicht ein von ihnen gar nicht intendierter Sinn unterlegt werde; nur vom Autor allegorisch gemeinte Dichtung dürfe auch so interpretiert werden.188 Es hatte sich ein Bewusstsein von der Problematik der allegorischen Interpretation profaner Literatur gebildet, weil hier nicht wie bei der Bibelauslegung durch Unterstellung eines einheitlichen logos für Kohärenz gesorgt werden konnte, sondern die Deutungen unkontrolliert auseinanderliefen.189 Gleichwohl hielt die Renaissance an der Vorstellung eines objektiven Sinns fest, auch wenn für seine Auffindung eine lange Folge individueller Deutungsbemühungen erforderlich sein mochte; ein schwieriger Text galt als absichtlich dunkel, da hierdurch sowohl der Reiz der Wahrheitsfindung als auch deren Wert erhöht werde.190 184 185 186 187 188 189 190

Vgl. Stillers 1994. Vgl. Hempfer 1983, 68–73. Vgl. ebd., 55, 60f. Vgl. Baranski 2005, 564; Habib 2008, 210–213. Vgl. Hempfer 1983, 53; Stillers 1988, 298–300; Habib 2008, 241f. Vgl. Jeanneret 1999, 40f. S. auch Hempfer 1983, 74. Vgl. Stillers 1988, 27–33.

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2.3 Die Auslegungsmethodik und ihre hermeneutischen Grundlagen Methodisch weist die Interpretation klassischer Texte in der Renaissance eine charakteristische Zweigleisigkeit auf: Auf der einen Seite wurde ein pädagogischer Ansatz verfolgt, der auf die Aktualisierung der Texte für die Gegenwart zielt, da sie in stilistischer wie inhaltlicher Hinsicht als zeitloses Ideal galten, das wiederbelebt werden sollte; auf der anderen Seite rückte sie ein historischer Ansatz in die Distanz einer vergangenen Zeit, deren Produkt und Zeugnis sie sind und aus der heraus sie verstanden werden sollen. Die Methoden des pädagogischen Ansatzes sind die der stilistischen Imitation und der allegorischen Auslegung, die des historischen Ansatzes die der philologischen Interpretation. Dem Pädagogen gelten die Texte als problemlos zugänglich, der Philologe hingegen problematisiert gerade den Zugang zu ihnen, insofern er verderbten Text durch Handschriftenvergleich zu bereinigen sucht und dem Bedeutungswandel der verwendeten Wörter nachspürt; zuverlässige Textausgaben und das Verstehen des historischen Textsinns sind sein Ziel.191 Beide Ansätze und ihre Methoden sind nicht neu, sondern existierten bereits in der Antike (s. o. Kap. I.2). Allerdings vertieften und verfeinerten die Humanisten die philologische Methodik. Zum einen sorgten sie auf dem Gebiet der historischen Textinterpretation für eine durchgängige Wort- und Sachkommentierung, durch die der historische Textsinn zuverlässiger bestimmt werden konnte. Zum anderen gaben sie der Textkritik zusätzliche Kriterien des Handschriftenvergleichs an die Hand. So sollten nach Angelo Poliziano (1454–1494) zur Erstellung eines bereinigten Textes nicht nur möglichst alte, sondern auch nur die nicht von anderen Handschriften abhängigen Textzeugen herangezogen werden. Die Handschriften waren daher zu klassifizieren und ihre Abhängigkeitsverhältnisse zu bestimmen.192 Ein relativ neues Moment stellte die Entwicklung eines historischen Bewusstseins dar, das jeden Einzeltext als Teil einer organischen Kultur und eines historischen Ganzen – „der (hellenistischen) Antike“ – auffasste, eine Vorstellung, die es erlaubte, nach Form, Sprache und Inhalt nicht als klassisch angesehene Texte auszuscheiden und die klassischen in eine geschichtliche Reihenfolge zu bringen.193 Da aber letztlich die Aktualisierung der Antike interessierte, nicht ihre Historisierung, kam es in der Renaissance trotz Vorhandenseins einer historisch-kritischen Methode noch nicht zur Ausbildung einer historisch-kritischen Altertumswissenschaft.194 191 192 193 194

Vgl. Grafton 1985, 618–629; Jeanneret 1999, 36–39. Vgl. Muhlack 1988a, 157f.; Grafton/Most 1997, 40. Vgl. Grafton 1985, 624–627. Vgl. Muhlack 1988a, 165–168.

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In der Kommentarpraxis wurden historischer und pädagogischer Ansatz gewöhnlich parallel verfolgt.195 Ihr Verhältnis stellt sich dabei als ein sequenzielles dar: Die Philologie legte die Basis, auf der dann die Aktualisierung erfolgte.196 In diesem Sinn fassten Polizian oder Joseph Justus Scaliger (1540–1609) die philologische Kritik bereits explizit als autonome und grundlegende Tätigkeit jenseits und vor allen fachwissenschaftlich-inhaltlichen Fragen.197 Zumeist blieb dies jedoch unausgesprochen, und nur die exegetische Praxis erwies, dass die philologische Behandlung der Texte gegenüber ihrer Aktualisierung in stilistischer oder inhaltlicher Hinsicht nur vorbereitenden Charakter hatte.198 Eine einseitige Bevorzugung der historischen Lesart, wie sie den Humanisten gerne unterstellt wird, ist jedenfalls nicht nachweisbar.199 Formal behielten die Kommentare ihre mittelalterliche Zweiteilung in nach dem accessus-Schema gestaltetes Proömium und fortlaufenden Kommentar bei.200 Die wesentliche Veränderung betraf das Bild des Auslegers, dem nun eine zentrale Rolle im Verstehensprozess zugemessen wurde, da er das in den Texten enthaltene Wissen nicht nur mit philologischen Mitteln barg, sondern auch in seinen übergeordneten kulturellen Zusammenhang – die Kultur der Antike – einordnete und so deren Aktualisierung in der Gegenwart ermöglichte. In Analogie zum Dichterbild war hierfür ein ebenso gebildeter wie inspirierter Interpret vonnöten, um die Texte sowohl in ihrem Literal- als auch in ihrem tieferen Sinn ganz zu verstehen. In der hermeneutischen Reflexion erfolgte die Zusammenführung von historischem und pädagogischem Ansatz vor allem im Kontext der Bibelauslegung und hier im Rückgriff auf die in der interpretatio scripti wurzelnde akkommodative Leseweise der rhetorisch-grammatischen Tradition (s. o. Kap. I.3).201 Den philologischen Ansatz berücksichtigt diese mit der Forderung nach Beachtung des sprachlichen und historischen Kontextes einer Aussage, den pädagogisch-imitativ-allegorischen mit der Forderung, das Verständnis einer Stelle nicht von ihrem Wortlaut, sondern von dem vom Autor intendierten Gesamtsinn abhängig zu machen und Stellen mit hiervon abweichendem buchstäblichen Sinn daher entsprechend zu „korrigieren“. Interpretation wie auch Imitation klassischer Texte hieß somit, zuerst den historischen, vom Autor inten195 196 197 198 199 200 201

Vgl. Grafton 1985, 631–642. Vgl. Stillers 1988, 55–58. Vgl. Pfeiffer 1982, 80f., 146f. Zur Einordnung vgl. Jaumann 1997, 125–129; Danneberg 2005, 312–321. Vgl. Muhlack 1988a, 165f. Vgl. Grafton 1985, 629–631. Vgl. Stillers 1988, 38–40, 58–83. – Zum Folgenden vgl. ebd., 41–55, 93–99, 117–133. Vgl. Eden 1997, 64–100.

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dierten Sinn zu erheben und ihn anschließend angepasst an die Sprachgewohnheiten der Gegenwart in eigenen Worten wiederzugeben.202 Im Hintergrund dieser doppelten Methodik der Textinterpretation standen ebenso unterschiedliche Ansätze im Bereich der Sprachtheorie und der Grammatik.203 So steht die Sprache (verba) nach dem traditionellen Referenzmodell in einer festen Verbindung mit der Wirklichkeit (res) und kommen wahre Aussagen zustande, wenn in der Sprache die vorgegebene ontologische Struktur der Wirklichkeit korrekt abgebildet wird (Korrespondenzmodell). Auf grammatischem Gebiet entspricht dem das universalistische Modell, nach dem die Wirklichkeit ihre natürliche Struktur auch der Sprache einprägt (so insbesondere die modistische Grammatik des Mittelalters). Diesem traditionellen Ansatz stellte nun aber Lorenzo Valla (1405/07–1457) ein historisches Modell gegenüber, welches Sprache als soziale Praxis mit einer eigenen Geschichte begreift. Anhand des Sprachgebrauchs (usus loquendi) Ciceros und Quintilians definierte er einen Begriff klassischer Latinität (latinitas) und erklärte daraufhin die „Konstantinische Schenkung“ zur Fälschung, weil ihre Sprache nicht ins vierte, sondern frühestens ins 8. oder 9. Jahrhundert passe.204 Vallas Sprachmodell korrespondiert ein relativistisches Grammatikmodell, in dem der Sinn der Wörter (verba) nicht von der außersprachlichen Wirklichkeit (res) konstituiert wird, sondern aus ihrem sprachlichen Kontext resultiert, aus ihrer Beziehung zu anderen Wörtern und dem historischen usus loquendi. Sprache bildet hier nicht Wirklichkeit ab, sondern ist Mittel ihrer Erschließung. Während nun die allegorische Interpretation mit einem überzeitlich festen Sinn rechnet und daher dem ersten, statischen Ansatz zuzuordnen ist, steht die philologische Interpretation dem dynamischen zweiten Ansatz näher, insofern auch sie von der Veränderlichkeit der Sprache ausgeht, was eine endgültige Fixierung des Sinns ausschließt und die immer neue Glossierung und Interpretation der Texte erforderlich macht. Auch hier fand in der Praxis jedoch überwiegend eine Vermischung der Modelle statt, indem von Valla nur seine auf historischen und sprachlichen Kontext achtende Interpretationspraxis übernommen wurde, ansonsten aber zur Sicherung des Sinns das referenzielle Sprachmodell vertreten wurde.205

202 In der Debatte der Renaissance um den Ciceronianismus, nach dem Cicero das in allen Äußerungen allein nachzuahmende Stilideal darstellt, schlugen sich folglich die Vertreter einer solchen Hermeneutik – z. B. Erasmus – auf die Seite der Gegner, da bei einer sklavischen Orientierung an Stil und Sprache Ciceros die geforderte Übersetzungsleistung eben nicht erbracht wird (vgl. ebd., 67–70). 203 Vgl. Rauscher 1998, 1293f.; Waswo 1999, bes. 27–31. 204 Vgl. Pfeiffer 1982, 54f., 58f.; Waswo 1999, 27. 205 Vgl. ebd., 30f.

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3. Barock 3.1 Die Subjektivierung der Produktion und Rezeption von Dichtung in der Barockpoetik Das 17. Jahrhundert ist poetologisch von zwei Grundtendenzen geprägt: zum einen von einer konservativen Haltung, die sich an der Antike bzw. ihrer Rezeption durch die Renaissance orientiert; zum anderen von einem Streben nach Innovation, nach Neuem und Ausgefallenem in Form und Inhalt sowie nach künstlerischer Virtuosität. Diese Tendenzen verbinden sich im Wesentlichen mit den als Klassizismus und Manierismus bezeichneten Zeitströmungen und repräsentieren die gegensätzlichen Konzepte einer Regel- und einer Geniepoetik.206 Dabei fand auch das Innovationsstreben grundsätzlich auf dem Boden der klassizistischen Normen statt. Gerade die enge Bindung der Poetik an die Rhetorik blieb erhalten, wodurch Dichtung als bloßer Sonderfall der Kommunikation erscheint, dessen Ziel wie das jeder rhetorischen Äußerung in Belehrung, Ergötzung und Überzeugung des Gegenübers besteht.207 Die dem Dichter zugestandene Freiheit gegenüber dem Vorbild der Antike überstieg jedoch das für klassizistische Poetologen tolerierbare Maß. Dieser Konflikt schwelte während des gesamten Jahrhunderts und kam in seinen letzten Jahrzehnten schließlich in der Querelle des Anciens et des Modernes zum Austrag.208 Während in Deutschland, Frankreich und England die klassizistische Haltung überwog,209 nahm das Innovationsstreben seinen Ausgang von Italien.210 Giambattista Marino (1569–1625) hatte das künstlerische Vermögen (ingegno) zur Grundlage aller Dichtung erklärt und gefordert, durch dieses solle der Dichter Neues und Ungewöhnliches in Bild- und Wortwahl hervorbringen, um sein Publikum in Staunen zu versetzen. Nicht Regelbindung, sondern Befriedigung des Zeitgeschmacks müsse sein Ziel sein.211 In seinen Texten widmete sich Marino vor allem der sprachlichen Seite, indem er auf stilistische Virtuosität achtete und so den „Marinismus als Form des 206 Zu den Begriffen Klassizismus und Manierismus vgl. Garber 1996, 202–211; Thomé 2000. Zum Begriff Barock als Epochenbezeichnung vgl. Garber 1996, 190–195; Borsò 2008, 50f. 207 Nach Knape 2006 ist der „Persuasionsansatz“ (70) die zentrale Gemeinsamkeit von Rhetorik und Poetik (vgl. ebd., 53f., 69f., 84). 208 Dazu vgl. Cave 1999. 209 Vgl. Wiegmann 1977, 44–55. 210 Vgl. hierzu und zum Folgenden Buck 1972, 51–54; Wiegmann 1977, 36f.; Wiegmann 2003, 256–258. 211 „Die wahre Regel besteht darin, zur rechten Zeit und am rechten Ort die Regel zu brechen und sich der geläufigen Sitte wie dem Geschmack des Jahrhunderts anzupassen.“ (G. Marino, Epistolario seguito da lettere di altri scrittori del seicento II [1912], 55, zitiert nach Buck 1972, 52.)

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Manierismus“212 begründete. Demgegenüber betonte der Konzeptismus (abgeleitet von ital. concetto, ‚scharfsinniger Einfall‘) mit seiner Forderung nach einer geistreichen und überraschenden Verbindung der Dinge in treffenden Pointen die inhaltliche Seite. Am weitesten trieb diese Richtung Emanuele Tesauro (1592–1675), indem er für die freie Metapher, die höchste Form konzeptistischer Dichtung, die Bindung der Wörter an die durch sie bezeichneten Dinge freigab und es dem Dichter anheimstellte, die Wörter spielerisch oder auch zur Täuschung einzusetzen. Die Identität von res und verbum war damit aufgehoben, die freie Metapher diente nur mehr dem Ergötzen und musste keinen Bezug zur Wahrheit mehr haben. Hier zeigt sich der Unterschied, der auf epistemologischer Ebene zum Klassizismus bestand und der einherging mit der Berufung der Poetologen entweder mehr auf die Poetik oder die Rhetorik des Aristoteles: Wo man sich auf die Poetik berief, wurde eine neuplatonische Erkenntnistheorie vertreten, nach welcher Dichtung Nachahmung der Struktur der Wirklichkeit ist und daher eine entsprechende Ähnlichkeit aufzuweisen hat (Klassizismus); wo man sich dagegen mehr auf die Rhetorik stützte, wurde Dichtung als rhetorische Technik betrachtet, durch die der Dichter neue metaphorische Verbindungen in der Sprache herstellt, um ästhetisch zu erfreuen, ohne dabei die Wirklichkeit nachahmen zu müssen (Manierismus).213 Anders als Tesauro banden viele andere Theoretiker die künstlerische Erfindung (inventio) an das Urteil der Vernunft (iudicium) zurück und gaben sie nicht völlig frei.214 Allgemein wurde dabei das künstlerische Erfindungsvermögen (ingegno bzw. ingenio, wit, esprit etc.) nun in der Fantasie als dem bildhaften Vorstellungsvermögen im Unterschied zum abstrakt-begrifflichen Denken gesehen. Auch bezeichnete der Geniebegriff jetzt nicht mehr eine von außen kommende Inspiration, sondern die individuelle Begabung. Analog zu dieser Verlagerung der Konstituanten der Dichtungsproduktion ins Subjekt wurde auch die Rezeption subjektiviert: Nicht mehr (allein) das Urteil über die Vollkommenheit der Befolgung der Kunstregeln sollte über die Qualität von Dichtung entscheiden, sondern (auch) das intuitive Erfassen des gewissen Etwas, des Irrationalen, des je ne sais quoi, wie Dominique Bouhours (1628–1702) es nannte. Das Wahrnehmungsorgan hierfür bildete der Geschmack (senso, gusto, bon goût), wobei dieser in der Regel als nicht ganz von der Vernunft gelöst, sondern mehr als ihr intuitives Vermögen gedacht wurde. Umgekehrt konnte er aber auch wie bei Charles de Saint-Evremont (1610–1702) als historisch wandel212 Wiegmann 2003, 257. 213 Vgl. Borsò 2008, 51f. 214 Vgl. hierzu und zum Folgenden Buck 1972, 55–58.

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bar und somit die Überzeitlichkeit der klassizistischen Regeln widerlegend aufgefasst werden.

3.2 Die geistige Krise und die Entstehung einer allgemeinen Hermeneutik Die Kämpfe rund um Glaubensspaltung und Entstehung des frühmodernen Staates ließen viele die Zeit zwischen Reformation und Westfälischem Frieden (1648) als eine Zeit der Krise erleben. Auf geistigem Gebiet entsprach dem eine tiefe Sinn- und Verstehenskrise, welche die modernen Naturwissenschaften durch ihre Infragestellung der tradierten Denk- und Deutungsmuster und der überlieferten Wissensbestände hervorgerufen hatten.215 Nicht zufällig kam es daher im 17. Jahrhundert zum vermehrten Anfügen von Selbstinterpretationen und Verstehenshilfen an Dichtwerke, so etwa beim barocken Trauerspiel oder beim Roman. Überhaupt kann der entstehende moderne Roman als Antwort auf die Krise gesehen werden, insofern er die Sinnsuche des Individuums in einer nicht mehr durch ein fest gefügtes Weltbild geordneten Welt thematisiert.216 Die Krisenerfahrung beförderte die Sehnsucht nach festem, zuverlässigem Sinn. Zu diesem Zweck wurde von Neuem die Gültigkeit des traditionellen Referenzmodells der Sprache (s. o. Kap. III.2.3) proklamiert. In die hierfür notwendigen Rechtfertigungsbemühungen konnte auch die Methodik der modernen Naturwissenschaften einbezogen werden, indem man angab, anhand ihrer empirisch gewonnenen Ergebnisse die Wort-Ding-Beziehung überprüfen und gegebenenfalls korrigieren zu wollen, um so eine Reinigung der grundsätzlich schon immer der Wirklichkeit entsprechenden Sprache zu bewirken.217 Daneben sorgten die allegorischen Darstellungen der gegenreformatorischen Konzepte für eine Überdeckung der epistemologischen Krise. Sie halfen, den Analogismus der Renaissance zu erhalten, wonach Sprache (und damit auch Dichtung) die der Wirklichkeit zugrunde liegende Struktur nach dem „absoluten Gesetz der Ähnlichkeit“ abbildet.218 Dem Ziel, diese Ordnung sichtbar zu machen, diente nicht zuletzt der höfische bzw. heroisch-galante Roman – eine Zielsetzung, die seine Gegner freilich als Hybris geißelten.219

215 S. hierzu auch Kap. III.6.2 des Beitrags „Bibel“ in diesem Band. 216 Vgl. Garber 1996, 196–199; Bauer 2005, 23; Bode 2005, 40f., 46f.; Bremer 2008, 156–158. Zur Entstehungsgeschichte des neuzeitlichen Romans und der zugehörigen Theorie s. überblicksartig Hillebrand 1993 und Bauer 2005. 217 Vgl. Waswo 1999, 33f. 218 Vgl. Borsò 2008, 51 (Zitat ebd.). 219 Vgl. Hillebrand 1993, 44–47; Bauer 2005, 24.

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Darüber hinaus sah das 17. Jahrhundert auf dem Gebiet der Philosophie die Entstehung einer allgemeinen Hermeneutik (hermeneutica generalis).220 Ursache hierfür dürfte nicht zuletzt die durch Buchdruck und zunehmende Individuallektüre veränderte Kommunikationssituation zwischen Autor und Publikum gewesen sein, da die Sinnkonstitution eines Textes nun nicht mehr im sozialen Raum erfolgte, sondern individuell zu bewerkstelligen war, so dass ein einheitliches und „richtiges“ Verständnis nur noch über für alle geltende Regeln sichergestellt werden konnte.221 An die Stelle der älteren, objekttheoretisch (semiotisch) fundierten Hermeneutik trat nun eine methodologisch fundierte, deren Fokus sich von der Bedeutung der Wörter und Dinge hin zur Betrachtung des Rezeptionsvorgangs verschob. Textverstehen wurde dabei als Umkehrung der Textproduktion aufgefasst, d. h. als Rückgang von den Wörtern (verba) zu den Begriffen (notiones), die der Autor beim Schreiben im Sinn hatte.222 Die Begriffe selbst stellte man sich vor als entstanden durch Reflexion auf die Eindrücke, welche die Dinge (res) im Zuge der sinnlichen Wahrnehmung im menschlichen Geist hinterlassen. Die vollständige Kette der Textentstehung lautete daher res – notiones – verba, die des Verstehens umgekehrt verba – notiones – res. Insofern die Wörter hier als reine Zeichen fungieren, die auf die Wirklichkeit (res) verweisen (significare), kann von einer „Signifikationshermeneutik“ gesprochen werden. In dieser Konzeption hatte Dichtung stets einen problematischen Status, da sich ihre Wörter nicht auf wirkliche, sondern erfundene res beziehen, mithin also nicht bloße Zeichen sind, sondern selbst etwas bedeuten wollen. Eine Lösung bot die traditionelle Formel des delectare aut prodesse, nach der Dichtung auf der Ebene des Wortsinns dem Vergnügen dienen darf, also als besondere Form von Sprache einen gewissen Eigenwert erhält, solange sie darüber hinaus noch einen tieferen Sinn bzw. Nutzen birgt. Eine solche Auffassung ließ sich signifikationshermeneutisch dadurch ausdrücken, dass man die durch die poetische Rede bezeichneten Dinge (res) ihrerseits als Zeichen für einen tieferen (moralischen) Sinn auffasste (hier stand das theologische Schema des mehrfachen Schriftsinns Pate). Fortdauernd kritisch mussten für dieses Dichtungsverständnis allerdings poetologische Vorstellungen sein, welche wie der Manierismus ganz die Sprache und das Vergnügen in den Vordergrund stellten und allenfalls noch sehr indirekt nützlich sein wollten.

220 S. hierzu Kapp. III.2 u. III.3 des Beitrags „Philosophie“ in diesem Band. 221 Vgl. Brenner 1998, 8–16. 222 Vgl. Weimar 2000, 27. – Zum Folgenden vgl. Weimar 1975, 14–19.

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4. Aufklärung 4.1 Sinn und Sinnlichkeit – Poetik und Ästhetik der Aufklärung Solche hermeneutischen Probleme bereitete die Aufklärungspoetik nicht. Für sie war Dichtung grundsätzlich heteronom (von außen) bestimmt und stellte in erster Linie ein pädagogisches Mittel zur Volksaufklärung dar, das der Verbreitung von Vernunft und Moral und dem Aufbau eines bürgerlichen Gemeinwesens dient. Dichtung galt überdies als Debattenbeitrag innerhalb des übergeordneten Strebens nach Erkenntnis und Wahrheit, als Teil des wissenschaftlichen Diskurses, von dessen Redeweise sie nur in Stil und Vermittlungsstrategie unterschieden ist. Entsprechend wurden vor allem das Belehrende und der Nutzen von Dichtung betont. Gleichwohl etablierte sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein konkurrierendes Poetikmodell, das statt des rationalen Gehalts vor allem die sinnliche Qualität (Anschaulichkeit) und die affektive Wirkung von Dichtung hervorhob und folglich dem Aspekt der Ergötzung mehr Beachtung schenkte.223 Die erstgenannte Haltung und damit die Auffassung des literarischen Mainstreams der Zeit repräsentiert der Versuch einer Critischen Dichtkunst (1730 u. ö.) von Johann Christoph Gottsched (1700–1766).224 Inhaltlich am französischen Klassizismus orientiert, nimmt diese Regelpoetik die rhetorische Tradition des 17. Jahrhunderts zwar auf, sucht ihre poetologischen Regeln aber nicht mehr (allein) aus der Tradition zu begründen, sondern im Geist der Zeit (auch) durch Ableitung aus der Vernunft. Die deduktiv-mathematische Methode hatte Gottsched der rationalistischen Philosophie Christian Wolffs (1679–1754) entlehnt. Gleiches gilt für seinen Naturbegriff. Die Natur ist demnach logisch strukturiert und ihr Aufbau wird erkannt, indem aus den sinnlich wahrnehmbaren Wirkungen (der Erscheinungswelt) mittels der Vernunft auf die zugrunde liegenden Ursachen (die logische Struktur) geschlossen wird. Als höchste Form der weiterhin als Naturnachahmung verstandenen Dichtung betrachtet Gottsched daher nicht die oberflächliche Beschreibung der Erscheinungswelt – im Gegenteil ist ihm dies die einfachste und minderwertigste Form von Dichtung –, sondern die „Fabel“ (CD IV, §§ 7–30). Definiert wird die Fabel als „Erzählung einer unter gewissen Umständen möglichen, aber nicht wirklich vorgefallenen Begebenheit, darunter eine nützliche mora223 Vgl. Allkemper/Eke 2006, 70; Baasner 2006, 8f., 12, 71f.; Jung 2007, 73f., 82f., 92. 224 Vgl. hierzu insbes. Alt 2007, 68–79; ferner: Allkemper/Eke 2006, 70–73; Jung 2007, 75–77. Die im hier verfolgten Zusammenhang wichtigsten Passagen der Critischen Dichtkunst (= CD) sind abgedruckt bei Rötzer 1982, 174–217.

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lische Wahrheit verborgen liegt“225. Mit Fabel ist also nicht die Gattung gemeint, sondern eine erfundene Handlung, die einen moralischen Lehrsatz veranschaulicht. Handlung wird dabei als allgemeine Handlungsstruktur verstanden, entspricht also dem, was Aristoteles mythos nannte und heute als Plot bezeichnet wird. Welcher Gattung die Dichtung zugehören wird, legt erst die anschließende konkrete Ausgestaltung der von der Fabel bestimmten Struktur fest, insbesondere – und hierin zeigt sich die fortdauernde Geltung der Ständeklausel – durch das eingesetzte Personal: tierische Akteure lassen eine äsopische Fabel entstehen, bürgerliche oder niederadlige eine Komödie, höheradlige eine Tragödie, Könige, Helden und Staatslenker ein Epos (CD IV, §§ 22–26). Zur höchsten Form von Dichtung avanciert die Fabel, weil sie – als fertiges Dichtwerk – nicht nur Sinnliches wiedergibt, sondern mit dem enthaltenen moralischen Lehrsatz auch die tiefer liegende Naturordnung sichtbar macht. Naturnachahmung bezieht sich somit weniger auf die sichtbare Natur als auf ihren logischen Zusammenhang.226 Gleichwohl muss die dichterische Fiktion das Gebot der Wahrscheinlichkeit erfüllen. Dies ist nach Gottsched vor allem gegeben bei Ähnlichkeit mit dem empirisch Möglichen, bei Erzählungen also, die den Kategorien menschlicher Erfahrung entsprechen; Gottsched bezeichnet sie als „glaubliche“227 Fabeln. Es genügt aber auch die Übereinstimmung mit dem nur logisch Möglichen, das zwar der empirischen Logik ganz oder teilweise widerspricht, bei Annahme gewisser Bedingungen aber denkmöglich und in sich stimmig ist; solche Erzählungen werden „unglaubliche“ und „vermischte“ Fabeln genannt.228 Mit Leibniz und Wolff spricht Gottsched in diesem Zusammenhang von „mögliche[n] Welten“229, welche Dichtung dann nachahme. Hier hat für ihn auch das Fantastisch-Wunderbare seine Berechtigung. Auch dieses darf aber nicht ins Irrationale gesteigert werden, sondern muss im Rahmen des Wahrscheinlichen, d. h. Widerspruchsfreien, bleiben (CD V–VI). Dichten zielt demnach nicht nur auf den Verstand, es ist auch eine durch und durch vernünftige Tätigkeit. Gleichwohl braucht der Dichter neben Regelkenntnis auch Talent (ingenium). Dieses wird gedacht als zusammengesetzt aus Witz (das Vermögen, Ähnlichkeiten zwischen den Dingen zu erkennen), Scharfsinn (das Vermögen präziser Naturbeobachtung) und Einbildungskraft (das Vermögen, sich vergangene Erfahrun225 CD IV, § 9 (a.a.O., 181 [dort hervorgehoben]). 226 Aus diesem Grund wurde Gottscheds Konzept der Naturnachahmung auch als „Strukturisomorphie“ (Rauscher 1998, 1320) und „Begriffsrealismus“ (Baasner 2006, 74) bezeichnet. 227 CD IV, § 10 (Rötzer 1982, 182 [dort hervorgehoben]). 228 Ebd. (dort hervorgehoben). 229 CD IV, § 11 (ebd., 183).

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gen ins Gedächtnis zu rufen und literarisch wiederzugeben). Das harmonische Zusammenspiel von Regeln und Talent garantiert der Geschmack. Diesen versteht Gottsched als auf sinnlicher Empfindung basierende Urteilsinstanz (iudicium), deren intuitives Urteil im Fall eines „guten“ Geschmacks mit dem der Vernunft übereinstimmt, also gleichsam deren Verlängerung in den Bereich der Sinnlichkeit ist. Erste Schritte weg von Gottscheds rationalistischer Konzeption hin zu einer stärkeren Gewichtung sowohl der dichterischen Kreativität als auch der sinnlichen Qualität von Dichtung gehen Johann Jacob Bodmer (1698–1783) und Johann Jacob Breitinger (1701– 1767), Gottscheds Schweizer Gegner im sogenannten Leipzig-Zürcher Literaturstreit.230 Sie lockerten die Bindung der Einbildungskraft an das Gegebene und die empirische Vernunft und werteten sie von einem reproduktiven zu einem – nun „Phantasie“231 genannten – kreativen Vermögen auf, das selbständig neue Erfindungen produziert. Folgerichtig bezeichnete Breitinger Dichtung als „eine Art der Schöpfung“232. Das höchste Ziel von Dichtung noch vor aller verstandesmäßigen Ergötzung und Belehrung wird von ihnen in der emotionalen Rührung des Publikums und der Stimulierung seiner Vorstellungskraft gesehen. Hervorragende Mittel hierzu sind das Neue, das Schöne und – in Aufnahme des pseudo-longinischen „Erhabenen“ – das Wunderbare und Große. Zwar wird die Wahrscheinlichkeitsforderung ebenso wiederholt wie die Theorie der möglichen Welten, als wichtigstes Kriterium der Wahrscheinlichkeit gilt neben innerer Stimmigkeit nun aber die Anschaulichkeit der Darstellung. Entscheidend ist demnach das „Wahre der Einbildung“, die sinnliche Evidenz, nicht das „Wahre des Verstandes“, die Konformität mit der empirischen Logik der Philosophie.233 Gegenüber Gottsched findet so eine Verschiebung in der Gewichtung der poetischen Wahrheitskriterien statt: geteilt wird die Forderung nach innerer Stimmigkeit (Kohärenz), während aber für Gottsched daneben die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit (Korrespondenz) im Sinne der enthaltenen Lehraussage entscheidend ist, heben Bodmer und Breitinger auf die sinnliche Wirkungskraft (Evidenz) ab, wenngleich zumindest Breitinger auch an impliziter Belehrung weiterhin festhält.234 Beide von Bodmer und Breitinger angesprochenen Aspekte, das Originell-Genie230 Entgegen der älteren Forschungsmeinung, die den Gegensatz der Schweizer zu Gottsched stark betont, ist mit der neueren Forschung von einem in vieler Hinsicht weniger prinzipiellen denn graduellen Unterschied der Positionen auszugehen (vgl. Horch/Schulz 1988 und Alt 2007, 115–125). Zur folgenden Darstellung vgl. insbes. Alt 2007, 80–92; ferner: Baasner 2006, 77–83. Für Textauszüge s. Rötzer 1982, 218–263. 231 Breitinger, Critische Dichtkunst (= Br.CD) I, 6 (a.a.O., 225 et passim). 232 Br.CD I, 6 (ebd., 222). 233 Br.CD I, 6 (ebd., 223). 234 Zu den Wahrheitskriterien vgl. Damerau 2003, 69–120.

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hafte dichterischer Erfindung wie auch die sinnliche Komponente von Literatur, wurden in je verschiedener Akzentuierung und Ausgestaltung und unter grundsätzlicher Wahrung des Vernunftaspekts auch in der Folgezeit gegenüber der vorherrschenden rationalistischen Position in Anschlag gebracht. Zu nennen sind hier etwa Christian Fürchtegott Gellert (1713–1769), die Zentralfigur der Epoche der Empfindsamkeit, die Brüder Johann Elias (1719–1749) und Johann Adolf Schlegel (1721–1793) oder auch Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781).235 Lessing fand ferner zu einer Theorie der ästhetischen Illusion („Täuschung“), die an die aristotelische Konzeption (s. o. Kap. I.4) erinnert.236 Sie baut auf seiner Zeichentheorie auf, nach welcher Zeichen so zusammenzusetzen sind, dass sie ein „bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten“237 ermöglichen. Da Dichtung sprachliche Zeichen verwendet, die als akustische zeitlich aufeinander folgen, erweisen sich menschliche Handlungen als der ihr angemessene Gegenstand, denn auch sie sind zeitlich strukturiert. Demgegenüber sind die Dinge der Erscheinungswelt der angemessene Gegenstand der Malerei, da diese figürliche und farbliche Zeichen verwendet, die wie die Körper im Raum nebeneinander angeordnet sind.238 Zielt dichterische Darstellung somit nicht auf realistische Naturbeschreibung, so geht sie gleichwohl nicht in der bloßen Kopie realer Handlungen auf, sondern bedient sich der Mittel der Typisierung und Auswahl, um in einer ästhetischen Illusion die Ordnung und Einheit in der Vielfalt der Erscheinungswelt sichtbar werden zu lassen. Ihre größte Wirkung erzielt sie dabei, wenn Handlungen zeitlich zugespitzt werden, die Motivationen der Handelnden vergrößert und Zufälle ausgeschlossen sind, wenn also eine dynamische und in sich folgerichtige und schlüssige Handlung geboten wird. Als hierfür besonders geeignet scheint Lessing (wie Aristoteles) das Drama zu sein, genauer: das von ihm eingeführte Bürgerliche Trauerspiel, das sich mit bürgerlichen Charakteren und aktuellen Problemstellungen befasst und dadurch dem Publikum die Identifikation und das Mitfühlen erleichtert. Letzteres ist essenziell, denn für Lessing besteht die kathartische Wirkung sowohl aus Mitleid als auch aus der Furcht, das dargestellte Schicksal könne einem auch selbst widerfahren. Letztlich soll über die emotionale Rührung des Publikums eine moralische Wirkung erzielt und das Verhalten der Menschen gebessert werden.239 235 236 237 238

Vgl. Jung 2007, 79–84, 89–92. Zu Lessing vgl. Alt 2007, 102–115, bes. 107–113. G. E. Lessing, Werke VI (1974), 102, zitiert nach Alt 2007, 108. Das Verhältnis von Dichtung zu Malerei stellt sich somit dar als „Konsekutivität versus Simultaneität, Zeitkunst versus Raumkunst“ (Schneider 1996, 38). 239 Vgl. Jung 2007, 90–92.

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Den sinnlichen Aspekt der Dichtung rückte insbesondere die Mitte des 18. Jahrhunderts neu entstehende philosophische Ästhetik ins Zentrum, zumal sie durch ihre ersten Vertreter, Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762) und Georg Friedrich Meier (1718–1777), eine konsequent sensualistische Ausrichtung erhielt.240 Nach ihrer Auffassung wirkt Dichtung als Teil des „Schönen“ weniger durch eine Lehre auf den Verstand als über ihre sinnliche Qualität auf die Affekte. Hauptsächliches Rezeptionsorgan ist also nicht die Vernunft bzw., wie Baumgarten im Anschluss an Wolff formuliert, das „obere Erkenntnisvermögen“, sondern das aus Gedächtnis, Scharfsinn, Einbildungskraft und Geschmack bestehende „untere Erkenntnisvermögen“, das anders als die Vernunft nur undeutliche Erkenntnis liefern kann. Zwischen beiden wird jedoch kein Gegensatz angenommen, sondern Komplementarität: von verschiedenen Seiten her kommend – von der sinnlich-intuitiven das untere, von der rationaldeduktiven das obere – konvergieren sie im Idealfall.241 In seiner Tätigkeit funktioniert das untere Erkenntnisvermögen dabei analog dem oberen. Mit ästhetischer und logischer Wahrheit liefern beide zwar unterschiedliche und autonome, aber gleichwertige und sich ergänzende Wahrheiten. Die ästhetische Wahrheit besteht in der Wahrscheinlichkeit des sinnlich Wahrgenommenen, seiner sinnlichen Evidenz, Stimmigkeit, Triftigkeit, Harmonie. Es ist eine anschauliche Wahrheit, weshalb Dichtung sich am besten mit konkreten, nicht (wie Gottsched fordert) mit abstrakten Wahrheiten befassen soll. Die höchste metaphysische Wahrheit erreicht sie so zwar nicht, doch spiegelt sie diese durch die künstlerische Vollkommenheit des Werkes wider und nähert sich ihr dadurch an. Und auch wenn das Ziel von Dichtung nicht die Vermittlung von Vernunfterkenntnis, sondern die ästhetische Erziehung des Menschen ist, weshalb sie schöne, große und lebendige Gegenstände wählen soll, gilt sie weiterhin als Propädeutik der philosophischen Erkenntnis und bleibt somit in das „umfassende System der ‚Weltweisheit‘“242 eingebunden. Allerdings vollzog die Ästhetik – wenn auch dezidiert erst nach Baumgarten – einen für die weitere Entwicklung wichtigen poetologischen Perspektivwechsel.243 Hatte Gottsched Dichtung noch ganz im Rahmen der rhetorischen Tradition aus der Schreiberperspektive betrachtet und poetische Texte folglich vor allem als Muster der Nachahmung angesehen, so wurden sie von der Ästhetik aus der Perspektive des Lesers in 240 Vgl. hierzu Alt 2007, 92–102. 241 Zum unaristotelischen (wie auch unplatonischen) Charakter dieser für die Neuzeit gleichwohl typischen Gegenüberstellung von subjektiv-unbewusst-sinnlich-konkreter und objektiv-bewusst-rational-abstrakter Erkenntnis vgl. Aristoteles 2008, 71–91, 416–426. 242 Baasner 2006, 86. 243 Vgl. hierzu Weimar 2003, 55–106.

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den Blick genommen, d. h. als fertiges und grundsätzlich fremdes Produkt, dessen Sinn der Leser erst ergründen muss. Langfristig sollte dieser subjektive Ansatz den objektund vernunftorientierten Ansatz verdrängen und die Ästhetik an die Stelle der traditionellen (Regel-)Poetik mitsamt ihrem Nachahmungsbegriff treten (s. u. Kap. IV.1.1): „In den Begriffen Geschmack und Genie und ihrem materiellen Substrat, der bürgerlichen Subjektivität […], triumphiert das Einzelne, die Kategorie Besonderheit, über das Allgemeine. An die Stelle der Nachahmung der Natur, des Abbilds, das – regelgeleitet – Reproduktionen eines äußerlich Gegebenen liefert, treten Produkte der Erfindung und Einbildung, der Fantasie und des Witzes als den Vermögen schöpferischer Einbildungskraft. Das innerlich Geschaute, die subjektive Perspektive, der besondere Eindruck und die individuelle Handschrift tragen den Sieg über den Regelkanon davon. Ein Paradigma ersetzt ein anderes, zugespitzt formuliert: Das Gefühl dominiert über den bloßen Verstand.“244

4.2 Dichtungshermeneutik Vorerst hatte die hier sich abzeichnende Änderung des Blickwinkels allerdings noch keine Konsequenzen für die Hermeneutik. Die Aufklärung blieb im Rahmen der traditionellen Signifikationshermeneutik. Mit Gottscheds Critischer Dichtkunst brachte sie sogar erstmals eine Poetik hervor, die diese Konzeption genau abbildete.245 So entspricht bei Gottsched der doppelten significatio in der Dichtungshermeneutik erstmals explizit eine doppelte repraesentatio in der Dichtungsproduktion. Die doppelte significatio besteht darin, dass Dichtung zusätzlich zu ihrem vergnüglichen Oberflächensinn (= erste significatio: die verba verweisen auf gewisse res) auch einen darunter liegenden nützlichen Sinn besitzt (= zweite significatio: die res der ersten significatio verweisen ihrerseits auf einen tieferen moralischen Sinn). Dem korrespondiert Gottscheds Poetik, indem nach ihr die Fabel als allgemeine Handlungsstruktur repraesentatio des am Anfang stehenden moralischen Leitsatzes (= erste repraesentatio) und die konkret ausgestaltete Erzählung repraesentatio der Fabel ist (= zweite repraesentatio). Hermeneutik und Poetik sind hier exakt spiegelbildlich konzipiert, wodurch die moralische Auslegung zum ersten Mal eine theoretische Grundlegung in der Poetik erhielt. Der Ausleger musste nun nur, wie Gottsched am Beispiel der Odyssee selbst demonstrierte, den Rückgang von den verba auf die res (= erste significatio) umdeuten in die Rückfüh244 Jung 1995, 62f. 245 Vgl. hierzu Weimar 1975, 4–23.

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rung des Wortlauts auf die allgemeine Handlung der Fabel, um von der so gefundenen Fabel auf den verborgenen moralischen Sinn zu schließen (= zweite significatio). Allerdings barg Gottscheds Vorgehen eine spezifische Problematik dadurch, dass er einen von der Tradition abweichenden Nachahmungsbegriff verwendete. Statt des transitiven Begriffs im Sinne von „die Natur nachahmen“, „eine treffende Nachahmung der Wirklichkeit geben“, gebrauchte Gottsched den Begriff in seiner intransitiven Bedeutung als „der Natur nachahmen“, „die wirkende, schöpferische Natur des Menschen als Vorgang nachahmen“: Wie die menschliche Natur dadurch wirkt, dass sie als gut Erkanntes durch den Willen in Handlung überführt, so soll der Dichter aus einem moralischen Lehrsatz durch Erfindung einer Begebenheit eine Fabel hervorbringen. Insofern nun aber dieser poetologische Nachahmungsbegriff in seiner Verlaufsstruktur vorwärts gerichtet und nicht umkehrbar ist, passt er eigentlich nicht zur Signifikationshermeneutik, die sich ja als Umkehrung der Textproduktion versteht. Auch wenn Gottsched dieser implizite Widerspruch wegen der Dominanz der Hermeneutik in seinem Denken gegenüber der Poetik nicht aufgefallen sein dürfte, zeigt die Signifikationshermeneutik hier doch „ihre strukturelle Dichtungsfeindlichkeit, oder besser: ihren strukturbedingten unerbittlichen Willen, Dichtung nur dann gelten zu lassen, wenn sie sich widerstandslos moralisch auslegen lässt“246. Bodmer und Breitinger standen demgegenüber dem traditionellen (transitiven) Nachahmungsbegriff näher.247 Allerdings sprechen sie nur noch hinsichtlich des fertigen Produkts von Nachahmung: Es soll mit der Wirklichkeit bzw. den Vorstellungen der Menschen eine gewisse Ähnlichkeit aufweisen, da es diese Ähnlichkeit ist, die dem Leser Vergnügen bereitet; zudem soll Dichtung moralisch förderlich sein, da sonst das Vergnügen nicht gerechtfertigt wäre. Den Vorgang der Dichtungsproduktion hingegen fassen sie nicht mehr unmittelbar als Nachahmung eines realen Gegenstandes oder einer Kraft auf, sondern als „mehr oder weniger autonome, zusammensetzende und schöpferische Bewegung der Einbildungskraft“248. Er ist damit ganz ins Subjekt verlagert und steht als der Fantasie des Dichters und nicht der Wirklichkeit entspringender Prozess gleichsam quer zum Verweissystem verbum – res. Das fertigte Produkt jedoch muss sich in dieses Verweissystem einordnen lassen können. Aus dieser letzten Perspektive fügt sich Dichtung somit auch nach der Poetik der beiden Schweizer in das Konzept der Signifikationshermeneutik ein. Die poetischen Sprachbilder stellen dann Zeichen dar, die auf die Wirklichkeit verweisen, auch wenn 246 Ebd., 21. 247 Vgl. ebd., 23–25. 248 Ebd., 23f.

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sie vom Dichter gar nicht nach deren Vorbild entworfen wurden; sie sind hier „Zeichen ohne Umkehrung der Entstehung beim Verstehen“249. Dichtung kann aber auch als reines Sprachkunstwerk betrachtet werden. Dann erscheinen ihre Bilder als Ausdruck des Dichters, als Produkte seiner Fantasie. Eine solche Interpretation ist dann zwar wieder „Umkehr der Entstehung“250, dies aber um den Preis, dass der Zeichencharakter der Wörter verloren geht; Auslegung ist hier „Umkehrung ohne Zeichen“251. Die erste Betrachtungsweise („Zeichen ohne Umkehrung“) ist die der Kritik, die zweite („Umkehrung ohne Zeichen“) die der Charakteristik – eine Zweiteilung, die im 18. Jahrhundert Schule machte.252 Im Rahmen dieser Poetik konnte sich die spätere Genieästhetik (s. u. Kap. IV.1.1) so lange ohne hermeneutische Einwände entwickeln, wie sie nicht zu einer Dichtung führte, die sich jeder Beziehung auf die Wirklichkeit widersetzt.253 Auch interpretatorisch ließen sich Versuche wie die des jungen Goethe und seines Kreises, unter Absehung des Wirklichkeitsbezugs der Werke sich divinatorisch in ihre Autoren hineinzuversetzen, als einseitige Bevorzugung der Charakteristik lesen, was mittels Kritik ergänzt und korrigiert werden konnte. Und umgekehrt konnte genial-schöpferische Dichtung im Sinne der natura naturans durch eine traditionelle doppelte Interpretation – sowohl dem Wortlaut wie dem tieferen Sinn nach – hermeneutisch beherrscht werden. Erst Goethes Symboltheorie schuf mit dem autonomen Kunstwerk einen Dichtungsbegriff, der sich mangels eines über das Kunstwerk hinausreichenden Verweischarakters nicht mehr in die traditionelle Signifikationshermeneutik einfügen ließ. Für die Aufklärung war ein Bezug zur Wirklichkeit jedoch konstitutiv. Allem Verstehen lag dabei ein optimistischer Wahrheitsbegriff zugrunde, der an der Einheit und Erkennbarkeit der Wahrheit grundsätzlich festhielt und diesen seinen Erkenntnisoptimismus auf die Annahme gründete, Gott habe die Welt vernünftig eingerichtet und dem Menschen Anteil an seiner göttlichen Vernunft verliehen.254 Die Wahrheitsfähigkeit von Literatur wiederum war über die Kategorie der Wahrscheinlichkeit und die zugehörigen Begriffe des Möglichen und der möglichen Welten abgesichert.255 Ja, mehr noch: Wie gesehen, war Dichtung sogar teilweise explizit konzipiert als Veranschaulichung der göttlichen Ordnung der Natur. 249 250 251 252 253 254 255

Ebd., 25. Ebd. Ebd. Zu beiden s. u. Kap. IV.1.3. Vgl. hierzu und zum Folgenden Weimar 1975, 26. Vgl. Allkemper/Eke 2006, 73; Baasner 2006, 13f. Vgl. Jacob 2008, 36.

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Ihr Zutrauen in die Leistungsfähigkeit der menschlichen Vernunft machte die deutsche Aufklärung allerdings blind für hermeneutische Probleme. Textverstehen galt als grundsätzlich unproblematisch, wenigstens wenn sich die Autoren klar auszudrücken vermochten.256 Die (allgemeine) Hermeneutik ging von der Unveränderlichkeit der menschlichen Vernunft sowie vom Primat des Denkens gegenüber der Sprache aus. Verstehen reduzierte sich dadurch „auf die Aufgabe, den Weg von der sprachlichen Artikulation zum ursprünglichen Gedanken zu finden, der als Ausdruck der invarianten Vernunft grundsätzlich erschließbar und nachvollziehbar sein muss“257. „Sprache galt als Repräsentation von etwas zuvor jeweils schon Gedachtem, woraus folgt, dass die Rezipienten die vom Autor gemeinte Bedeutung des Textes ohne Problem nachvollziehen können. Da Sprache als in ihrem Zeichencharakter und ihrer grammatischen Strukturierung eindeutig aufgefasst wurde, gab es keinen Spielraum der Interpretation im Verstehensakt. Wer Semantik und Grammatik beherrschte, konnte die gemeinten Dinge eindeutig rekonstruieren.“258 Aus der sprachlichen Besonderheit poetischer Texte resultierende Probleme des Verstehens thematisierten die Hermeneutiken der Aufklärungszeit allenfalls am Rande,259 und so galt dieser Verstehensoptimismus grundsätzlich auch für sie, wie etwa das Beispiel Lessings zeigt, der davon ausging, dass auch Dichtung bei geeigneter Gegenstandswahl das Bezeichnete „bequem“ erkennen lasse.260

IV. Neuzeit und Gegenwart (19.–21. Jahrhundert) 1. Goethezeit (1770–1830) Mit Sturm und Drang (1770–1780), Klassik (1789–1815) und Romantik (1789–1830) traten in der Goethezeit literarische Bewegungen auf, die sich gegen die aufklärerische Funktionalisierung der Literatur im Dienst von Vernunft und Moral wendeten und das Eigenrecht der Literatur betonten. Durch Subjektivierung und Autonomisierung der Literatur wiesen sie dieser den Weg in die Moderne, weshalb sie von der Forschung vielfach in die Nähe von Reinhard Kosellecks Konzept der „Sattelzeit“ gerückt werden, das in der Geschichtswissenschaft zur Bezeichnung der Phase des endgültigen 256 257 258 259 260

Vgl. Brenner 1998, 28, 31–35. Ebd., 37. Baasner 2006a, 160. S. Szondi 1975, 27–134. S. o. Kap. III.4.1. Vor diesem Hintergrund ist auch die verbreitete poetologische Forderung nach „Natürlichkeit“ der Sprache im Sinne ihrer Ungekünsteltheit zu sehen (vgl. Jacob 2008, 36).

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Ihr Zutrauen in die Leistungsfähigkeit der menschlichen Vernunft machte die deutsche Aufklärung allerdings blind für hermeneutische Probleme. Textverstehen galt als grundsätzlich unproblematisch, wenigstens wenn sich die Autoren klar auszudrücken vermochten.256 Die (allgemeine) Hermeneutik ging von der Unveränderlichkeit der menschlichen Vernunft sowie vom Primat des Denkens gegenüber der Sprache aus. Verstehen reduzierte sich dadurch „auf die Aufgabe, den Weg von der sprachlichen Artikulation zum ursprünglichen Gedanken zu finden, der als Ausdruck der invarianten Vernunft grundsätzlich erschließbar und nachvollziehbar sein muss“257. „Sprache galt als Repräsentation von etwas zuvor jeweils schon Gedachtem, woraus folgt, dass die Rezipienten die vom Autor gemeinte Bedeutung des Textes ohne Problem nachvollziehen können. Da Sprache als in ihrem Zeichencharakter und ihrer grammatischen Strukturierung eindeutig aufgefasst wurde, gab es keinen Spielraum der Interpretation im Verstehensakt. Wer Semantik und Grammatik beherrschte, konnte die gemeinten Dinge eindeutig rekonstruieren.“258 Aus der sprachlichen Besonderheit poetischer Texte resultierende Probleme des Verstehens thematisierten die Hermeneutiken der Aufklärungszeit allenfalls am Rande,259 und so galt dieser Verstehensoptimismus grundsätzlich auch für sie, wie etwa das Beispiel Lessings zeigt, der davon ausging, dass auch Dichtung bei geeigneter Gegenstandswahl das Bezeichnete „bequem“ erkennen lasse.260

IV. Neuzeit und Gegenwart (19.–21. Jahrhundert) 1. Goethezeit (1770–1830) Mit Sturm und Drang (1770–1780), Klassik (1789–1815) und Romantik (1789–1830) traten in der Goethezeit literarische Bewegungen auf, die sich gegen die aufklärerische Funktionalisierung der Literatur im Dienst von Vernunft und Moral wendeten und das Eigenrecht der Literatur betonten. Durch Subjektivierung und Autonomisierung der Literatur wiesen sie dieser den Weg in die Moderne, weshalb sie von der Forschung vielfach in die Nähe von Reinhard Kosellecks Konzept der „Sattelzeit“ gerückt werden, das in der Geschichtswissenschaft zur Bezeichnung der Phase des endgültigen 256 257 258 259 260

Vgl. Brenner 1998, 28, 31–35. Ebd., 37. Baasner 2006a, 160. S. Szondi 1975, 27–134. S. o. Kap. III.4.1. Vor diesem Hintergrund ist auch die verbreitete poetologische Forderung nach „Natürlichkeit“ der Sprache im Sinne ihrer Ungekünsteltheit zu sehen (vgl. Jacob 2008, 36).

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Umbruchs von der frühneuzeitlichen zur modernen bürgerlichen Gesellschaft in der Zeit zwischen 1770 und 1830 verwendet wird.261

1.1 Poetik/Ästhetik Mit Subjektivierung und Autonomisierung sind die zentralen Veränderungen im Dichtungsverständnis benannt. So setzte der Sturm und Drang der traditionellen Regelpoetik eine Genieästhetik entgegen, nach der Dichtung spontaner und naturhafter Ausdruck der subjektiven Empfindungen des Dichters ist. Auch wenn viele der alten rhetorischen Regeln gewohnheitsmäßig weiterbefolgt wurden, galt Dichtung nun als frei von aller Regelbindung, als „Naturpoesie“ im Sinne der schöpferischen Kraft der natura naturans, nicht wie zuvor allein als Nachahmung der natura naturata.262 Während die Klassik auf Distanz zu dieser Genieästhetik ging, stand ihr die Romantik mit ihrem Konzept dichterischer Imagination nahe. Die Klassik betrachtete Dichtung zum einen nicht als Ausdruck, sondern als Auslegung der Natur, als deren Idealisierung (Schiller) bzw. Symbol ihres Wesens (Goethe), zum anderen forderte sie statt freier Entfaltung des Genies dessen Mitwirkung am Projekt der ästhetischen Erziehung des Menschen zur Humanität.263 Demgegenüber sahen die Romantiker Dichtung als freie und auf subjektiver Weltwahrnehmung beruhende Schöpfung einer imaginären Welt an, die zwar durchaus auch auf die Außenwelt bezogen ist, vorrangig aber ein selbstreferenzielles Zeichensystem darstellt.264 Der derart in der Subjektivität des Genies verankerten Kunst wurde allgemein Autonomie zugesprochen,265 denn gerade in der Zweckfreiheit lag das Kennzeichen des Schönen: „Wir können also das Schöne im Allgemeinen auf keine andre Weise erkennen, als insofern wir es dem Nützlichen entgegenstellen, und es davon so scharf wie möglich unterscheiden. Eine Sache wird nämlich dadurch noch nicht schön, dass sie nicht nützlich ist, sondern dadurch, dass sie nicht nützlich zu sein braucht.“266

261 Vgl. Karthaus 2007, 26–28; Kremer 2007, 1–7; Greif 2008, 11. Die zeitlichen Abgrenzungen haben auch hier nur ungefähr orientierenden Charakter. 262 Vgl. Kaiser 2007, 106f.; Kremer 2007, 102; Vogt 2008, 106f. – Grundlegend zur Genieästhetik: Schmidt 2004. 263 Vgl. Jung 2007, 105–118. 264 Vgl. Kremer 2007, 102f.; Schmitz-Emans 2007, 44f. 265 Vgl. Jung 2007, 102; Kremer 2007, 89; Greif 2008, 82f. 266 Karl Philipp Moritz, Über die bildende Nachahmung des Schönen (1788), o. S., zitiert nach Greif 2008, 82 (Hervorhebung ebd.).

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Insbesondere Goethes Symboltheorie stellte Dichtung außerhalb aller äußeren Zusammenhänge, indem sie das klassische Dichtwerk als „harmonisch gerundete Totalität“ vorstellte, als organisches Ganzes, in dem Besonderes geschildert wird, das das Allgemeine zwar enthält und zu erkennen gibt, jedoch anders als in der Allegorie nicht einzig um dieses Verweises willen erzählt wird.267 Als autonome stand die Geniepoesie jedem Versuch entgegen, sie heteronom zu bestimmen und in einen bestehenden Sinnhorizont einzuordnen. Dichtung aber, die sich nicht als Illustration fremder – philosophischer, theologischer etc. – Wahrheiten versteht, sondern als Ausdruck der Subjektivität des Dichters, ist „inkommensurabel“ (Goethe). Zu ihrer Beurteilung konnten daher nicht mehr äußere Maßstäbe wie die traditionellen poetologischen Regeln dienen, sondern nur noch das Kunstwerk selbst sowie sein Schöpfer. Die (Auslegungs-)Regeln mussten also dem Kunstwerk folgen, nicht umgekehrt, und große Kunst setzte eine große Persönlichkeit voraus.268 Entsprechend verlagerte sich die Wahrheit „inkommensurabler“ Dichtung vom Werk in den Dichter. Unter der Vielzahl literarischer Wahrheitskonzepte im ausgehenden 18. Jahrhundert gewann nicht zuletzt das der Wahrhaftigkeit, i. e. der Übereinstimmung von Text und gemeintem Gefühl, an Bedeutung, während das der expliziten oder impliziten Korrektheit einer Aussage an Gewicht verlor. Andere Konzepte setzten auf Ähnlichkeit mit der empirischen Realität, Evidenz bzw. Suggestivität, innere Stimmigkeit bzw. Kohärenz, treffende Darstellung eines normativen Ideals (wie der „wahren Liebe“) oder auf die Darstellung charakteristischer menschlicher Eigenschaften. Zwar bildete die Romantik durch Verknüpfung der drei zuletzt genannten Konzepte das neue und auch heute noch vorherrschende Konzept literarischer Wahrheit als ästhetisches Zutreffen aus. Danach ist Dichtung wahr, wenn sie in Inhalt oder Form mindestens eine Eigenschaft ausdrückt, die nach gängiger Auffassung als charakteristisch für die gesamte Wirklichkeit oder zumindest einen Teil von ihr gilt. Doch blieb der subjektive Charakter literarischer Wahrheit auch hier erhalten, insofern die im Werk vermittelte Weltsicht als eine von der gewöhnlichen abweichende und vom Dichter in seiner Genialität subjektiv gestaltete aufgefasst wurde.269 Nun waren für diese neue Literatur aufgrund ihrer Autonomie und der Subjektivität ihrer Wahrheit neue Rezeptionskonzepte nötig. Von diesen brachte die Goethezeit zwei hervor, das der kongenialen Einfühlung und das des kreativen Lesens. Ersteres wurde im Sturm und Drang entwickelt. Im Gefolge Johann Gottfried Herders (1744– 267 Vgl. Jung 2007, 110f. (Zitat ebd., 110). 268 Vgl. Karthaus 2007, 220f. 269 Vgl. Damerau 2003, 121–198.

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1803), auf den es im Wesentlichen zurückgeht, vertrat es nicht zuletzt der junge Goethe (1749–1832), die Zentralfigur der Epoche. Es besagt, dass das Gefühl die primäre Ebene der Kunstwahrnehmung ist und sich der Interpret genialer Dichtung in deren Schöpfer hineinversetzen muss, um das Werk so gleichsam von innen her zu verstehen, nachdem es von außen nicht mehr zugänglich ist.270 Dass mit der Subjektivität der Kunst somit auch das Urteil über sie zu einem subjektiven wird, da es auf sinnlicher Empfindung („Geschmack“) beruht, hat Immanuel Kant (1724–1804) in seiner Kritik der Urteilskraft (1790) eingehend begründet. Nach dieser resultiert das ästhetische Urteil aus dem subjektiven Gefühl der Lust bzw. Unlust, welches Schönes bzw. Hässliches im Betrachter bewirkt, weshalb Schönheit keine dem Objekt zukommende Eigenschaft ist, sondern auf der eigenen Lusterfahrung beruhende Zuschreibung des betrachtenden Subjekts.271 Das Konzept des kreativen Lesens stammt aus der Romantik. In Entsprechung zu ihrem Verständnis von Dichtung als autonomem Produkt freier Fantasietätigkeit und ihrem gleichzeitigen Hang zu Hermetik und Verrätselung hielt die Romantik für das Verstehen von Dichtung auch auf Rezipientenseite eine gewisse Fähigkeit der Imagination für notwendig. Sie begriff den Leser hierin aber als ebenso autonom wie den Dichter. Der „wahre Leser“, so Novalis, ist „erweiterter Autor“, sein Lesen eine „freye Operation“, so dass er „eigentlich aus einem Buche [macht], was er will“.272 Das Lesen ist eine ebenso schöpferische und kreative Tätigkeit wie das Dichten: „Die chiffrierte Transformation einer inneren Vision des schreibenden Autor-Ichs in die festgefügte Ordnung der Schrift bedarf der ständigen Rückübersetzung durch ein Leser-Ich.“273

1.2 Hermeneutische Theorie Für das Verstehen autonomer Geniekunst bedurfte es eigentlich einer neuen hermeneutischen Theorie.274 Denn zwischen dem originellen Sinnhorizont des aus der einzigartigen Subjektivität des Künstlergenies hervorgegangenen Werkes und dem kon-

270 271 272 273

Vgl. Karthaus 2007, 44–70. Vgl. Jung 1995, 65–71; Schneider 1996, 42–56. Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe II (1978), 399, zitiert nach Kremer 2007, 103. Ebd. – Nach demselben Schema ist auch Novalis’ Zeichentheorie konzipiert: Sie unterscheidet zwischen einem Zeichengeber („erster Bezeichnender“), dem Zeichen („hypothetische Anschauung“), dem Bezeichneten und einem „zweiten Bezeichnenden“, der die vom Zeichengeber intendierte Bedeutung des Zeichens in einem eigenen Akt der Bezeichnung jeweils erst wieder aktualisieren muss (vgl. Müller-Vollmer 2000, 174f.). 274 Das Folgende basiert vor allem auf den beiden grundlegenden Studien von Klaus Weimar: Weimar 1975 und Weimar 2003.

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ventionellen Sinnhorizont des gewöhnlichen Lesers tat sich nun eine tiefe Kluft auf, die jeder Umkehrungshermeneutik die Grundlage entzog, da der Versuch des Rückgangs vom Text auf das vom Autor Gemeinte eine Autor und Rezipienten gemeinsame Denk- und Sprechweise voraussetzt. Da überdies im Zuge der Aufklärung traditionelle Sinnordnungen in Form eines verbindlichen Weltbilds abhandengekommen waren, erschien der literarische Text als nicht nur fremd, sondern als auch in seinem Sinn äußerst ungewiss, da er nicht mehr ohne Weiteres an existierende Sinndepots – Philosophie, Alltagserfahrung, Glaube, ästhetische Theorie – anschließbar war. Jenseits gängiger Sinnmodelle und prinzipiell auch jenseits der vom Autor intendierten Aussageabsicht stehend, war er auf Sinngebung durch den Rezipienten angewiesen.275 Erforderlich war somit eine Verstehenstheorie, die bei dem auszulegenden Text zwischen dem Zeichen für den Autor („Text als Schreiberprodukt“ [Weimar]) und dem Zeichen für den Leser („Text als Leserobjekt“ [Weimar]) unterscheidet und den Sinn ausgehend vom Text für den Leser rekonstruiert. Diese Differenzierung galt nun erstmals auch für die bis dahin gemeinhin als unproblematisch angesehene Gegenwartsliteratur in der Volkssprache. Zentrale Elemente einer solchen Theorie hätten sein müssen: 1. Ausgang vom Text; 2. Erklärung nicht durch (rückwärtslaufende) Umkehrung, sondern durch (vorwärtslaufenden) Nachvollzug des Schreibprozesses, durch Rekonstruktion der Textentstehung; 3. Aufweis des Zusammenhangs der Textteile und damit des Sinns des Textes allein oder wenigstens zuerst aus dem Text selbst, d. h. Ableitung des Textes aus seinen leitenden Konstruktionsprinzipien, erst danach Ableitung aus psychischen Prozessen oder historischen Situationen im Leben des Dichters. Eine praktische Verwirklichung fand diese neue Hermeneutik in der „rationale[n] Rekonstruktion“276 des Johann Christian August Grohmann (1769–1847). Seine Auslegung des Messias (1748–1798) von Friedrich Gottlob Klopstock (1724–1803) versteht sich als begreifende Wiederholung des Schreibprozesses. Sie folgt dem Text in seinem Verlauf, bietet dabei aber keine bloße Paraphrase, sondern versucht – dies der kreative, sinnstiftende Anteil – die Übergänge zwischen den einzelnen Textteilen durch rationale Begründungen plausibel zu machen. Wie die immer wieder gebrauchte Formel „der Dichter musste“, das „Schibboleth“277 dieser neuen Interpretationspraxis, zeigt, handelt es sich dabei dem Anspruch nach um objektives Fremdverstehen, nicht um eine willkürlich-kreative Deutung oder um ein Sichtbarmachen der Gedanken des Dichters beim Schreiben. Dem entspricht, dass der Ausgangspunkt der Argumentation im 275 Vgl. ebd., 349–357. 276 Ebd., 356 (Überschrift) et passim. Zu Grohmann vgl. ebd., 357–360. 277 Ebd., 358.

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Text selbst gesucht wird, in der vorab ermittelten Leitidee des Textes: die durch den Messias bewirkte allseitige Versöhnung. Das Kriterium für die Wahrheit der Deutung ist damit ihre innere Konsistenz, es liegt also innerhalb, nicht außerhalb der Interpretation (etwa in der Intention des Autors). Das aber „ist eine praktizierte Absage an die theoretische Usurpation jenes archimedischen Punktes, auf dem allein man die Selbigkeit und Einerleiheit der Gedanken bei Autor und Leser neutral vergleichend feststellen könnte, eine Absage also an die alte Hermeneutik“278. Eine dieser Praxis und obigen Erwägungen genau entsprechende hermeneutische Theorie brachte die Goethezeit allerdings nicht hervor. Wie Klaus Weimar gezeigt hat, existierten dazu lediglich Ansätze in den bibelhermeneutischen Überlegungen von Johann Georg Hamann (1730–1788) und von Herder, ferner, in mehr dichtungshermeneutischen Kontexten, reflektierende Betrachtungen zu einzelnen Teilen des Verfahrens, etwa bei Karl Philipp Moritz (1756–1793), Johann Wilhelm Süvern (1775–1829), Friedrich Schlegel (1772–1829), Georg Gustav Fülleborn (1769–1803) und Ferdinand Delbrück (1772–1848).279 So stellten Süvern und Schlegel heraus, dass das Verständnis eines Textes von dessen gedanklichem „Mittelpunkt“ ausgehen müsse (so bereits Moritz) und von diesem aus der Aufbau des Textes nachzukonstruieren sei, dass für ein vollständiges Verständnis das Werk aber außerdem auch auf seinen „Keim“, seinen Entstehungsort in Leben und Geist des Autors, zurückgeführt und genetisch aus diesem abgeleitet werden müsse. Fülleborn und Delbrück wiederum nahmen Klassifikationen der verschiedenen Interpretationsarten vor, zu welchen sie neben der Klärung des Textsinns und der Erklärung vom Autor aus auch die Analyse der emotionalen Wirkung und den Vergleich mit der poetologischen Theorie zählten. Den stärksten Niederschlag in einem ausgearbeiteten theoretischen System hat die neue Hermeneutik in dem (freilich mehr bibel- denn dichtungs-)hermeneutischen Werk Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers (1768–1834) gefunden, besonders in der postumen Schrift Hermeneutik und Kritik (1838).280 Ausgehend von den Prämissen, dass jede sprachliche Äußerung als individuelle Prägung der allen Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft gemeinsamen Sprache anzusehen ist und dass hinsichtlich ihres Verständnisses nicht vom Verstehen, sondern vom Missverstehen als Regelfall auszugehen ist, sieht Schleiermacher ein hermeneutisches Verfahren vor, das durch grammatische und psychologische Interpretation die „objektiven“ und „subjektiven“ 278 Ebd., 359. 279 Vgl. Weimar 1975, 66–110; Weimar 2003, 362–365. 280 Vgl. Weimar 2000, 28. Textausgabe: Schleiermacher 1977. – Zum Folgenden vgl. insbes. Weimar 1975, 116–134, und Szondi 1975, 155–191. S. auch die Ausführungen in den Beiträgen „Philosophie“ (Kap. IV.1) und „Bibel“ (Kap. IV.3) in diesem Band.

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Anteile einer Rede transparent macht, d. h. neben ihren allgemeinen sprachlichen und sozio-kulturellen Bezügen auch den Einfluss des individuellen Denkens und der besonderen Lebenssituation ihres Urhebers aufzeigt. Wo die psychologische Interpretation mehr die Sprache, den individuellen Stil eines Autors betrachtet, bezeichnet Schleiermacher sie auch als technische Interpretation, während die im engeren Sinne psychologische Interpretation die Herleitung der Gedanken aus dem Lebensganzen des Autors untersucht. Die Arbeitsweise der psychologischen resp. technischen Interpretation ist dieselbe wie die der grammatischen; sie besteht aus der Kombination von Komparation (Vergleich) und Divination (Einfühlung). Ziel der Interpretation ist die Aufdeckung der ursprünglichen Entstehungsbedingungen des Werks, das sind die zeitgenössische Sprache, die dem Werk zugrunde liegende Idee und die Individualität des Autors, um aus diesen als Einheiten verstandenen Faktoren die konkrete Rede in ihrer Mannigfaltigkeit zu rekonstruieren.281 Die Bewegung der Interpretation verläuft somit „vom Text vermittels Divination und Komparation zurück zu seiner ursprünglichen Einheit in Bedeutung [der Wörter], Idee [des Werks] und individueller Natur [des Autors], und von der Einheit vermittels Konstruktion vorwärts zum gegebenen Text“282. Zielen Divination und Vergleich auf das Hineinversetzen in den Autor und seine Zeit und dadurch auf ein dem Autor gleiches Verstehen der Rede, so die (Re-)Konstruktion auf ein darüber hinausgehendes Besserverstehen, indem sie auch die dem Autor unbewussten Produktionsmechanismen ins Bewusstsein hebt. Die Lösung dieser Aufgabe kann jedoch nie abschließend, sondern immer nur annäherungsweise erfolgen, da sich der Bedeutungsgehalt von Aussagen nie letztgültig fixieren lässt. Denn wie im Verhältnis von individuell gestaltetem Text und allgemeinem sprachlichen und historischen Kontext kann auch innerhalb eines Textes das Besondere nur aus dem Allgemeinen, der Teil nur aus dem Ganzen, der Satz nur aus dem Werk verstanden werden, wie umgekehrt das Verstehen des Ganzen vom Verstehen der einzelnen Teile abhängt. Verstehen bedarf somit nach Schleiermacher eines kontinuierlichen Prozesses der Hypothesenverfeinerung, in dem jede durch Divination/Komparation und Konstruktion gebildete Sinnhypothese als Basis für den nächsten Verstehensdurchlauf dient. Auf diese Weise entsteht eine spiralförmige, von Schleiermacher gleichwohl als „hermeneutischer Zirkel“ bezeichnete Verstehensbewegung, in der sich Einzelnes und Ganzes immerfort wechselseitig erhellen. 281 Schleiermacher 1977, 93: „Die Kunst kann ihre Regeln nur aus einer positiven Formel entwickeln[,] und diese ist ‚das geschichtliche und divinatorische (profetische) objektive und subjektive Nachkonstruieren der gegebenen Rede‘.“ (Hervorhebungen ebd.) 282 Weimar 1975, 129 (Ergänzungen: M.B.).

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Wesentliche Elemente der neuen Hermeneutik sind in diese Konzeption aufgenommen, insbesondere die zentrale Forderung der Rekonstruktion. Auch zielt die Interpretation nicht mehr wie früher auf eine unter oder hinter dem Textsinn liegende tiefere Bedeutung oder auf die Autorintention, sondern allein auf den Sinn des konkreten Textes in seinem historischen Gewordensein.283 Allerdings werden Texte weiterhin vor allem als Schreiberprodukte betrachtet und wird dem Autor eine große Bedeutung für das Verstehen zugemessen: In Entsprechung zur Ausrichtung der psychologischen Interpretation auf die Psyche des Autors verlagert Schleiermacher den „Mittelpunkt“, an dem die Konstruktion anzusetzen hat, aus dem Text zurück in den Autor. Darüber hinaus steht das traditionelle Umkehrungsmodell unversöhnt neben dem Rekonstruktionsmodell, wenn das Verstehen mal als „Nachconstruiren der gegebenen Rede“, mal als „Umkehrung eines Aktes des Redens“ definiert wird.284 Schleiermachers Konzeption beeinflusste über seinen Schüler August Boeckh (1785–1867) insbesondere die Hermeneutik der Klassischen Philologie.285 Deren Aufgabe besteht nach Boeckh im „Erkennen des vom menschlichen Geist Producirten, d. h. des Erkannten“286. Hierunter versteht Boeckh die auf Besserverstehen angelegte Rekonstruktion bzw. Reproduktion aller geistigen Äußerungsformen einer Kultur, speziell der antiken, seien die Äußerungen begrifflicher oder, wie beispielsweise Architektur, vorbegrifflich-anschaulicher Art. Induktiv soll so im Ausgang von den einzelnen Hervorbringungen der Zeit der Geist des Altertums erforscht werden. Als Philologe konzentrierte sich Boeckh auf die sprachlichen Zeugnisse. Wie Schleiermacher unterscheidet er bei ihnen zwischen objektiven und subjektiven Einflussgrößen und ordnet diesen vier Interpretationsweisen zu: der objektiven Seite die grammatische und die historische Interpretation, d. h. die Beleuchtung des allgemeinen sprachlichen und kulturellen Hintergrunds einer Äußerung, der subjektiven Seite die individuelle und die generische Interpretation. Damit bezeichnete er zum einen 283 „Verstehen ist damit für Schleiermacher nicht, wie für die Aufklärungshermeneutik, identisch mit dem Rekurs auf die Absicht des Autors. Die Rede (bzw. die Schrift), die es zu verstehen gilt, ist nicht bloß Zeichen, Vehikel, eines Gemeinten. Sie löst sich im Akt des Verstehens nicht auf, um dem von ihr Bedeuteten, der reinen Absicht des Autors zu weichen. Im Gegensatz zur Aufklärungs- wie auch zur patristisch-scholastischen Hermeneutik, ist die Rede bzw. die Schrift, die sprachliche Konkretion, und nicht der Sinn, der sensus oder auch die verschiedenen sensus, einer Stelle Gegenstand der Interpretation. Damit fällt die Schranke, die in den früheren Konzeptionen die Hermeneutik von der Rhetorik und der Poetik trennt; Sinnverstehen und Interpretation im heutigen Wortsinn greifen ineinander.“ (Szondi 1975, 172.) 284 Vgl. Weimar 2003, 368 (mit Anm. 102 u. 103), dort auch Nachweis der Zitate. 285 Boeckh 1877. – Zum Folgenden vgl. Wach 1966, Teil I, 168–226; Rodi 1979; Strohschneider-Kohrs 1979. 286 Boeckh 1877, 10 (dort teilw. hervorgehoben).

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die Untersuchung der eigentümlichen Denk- und Anschauungsweise eines Autors, wie sie sich in seinem Stil, seiner besonderen Weise der Komposition und des Wortgebrauchs, zeigt (individuelle Interpretation), andererseits die Prüfung, inwiefern Komposition, Stilmittelverwendung und Sprachgestaltung durch Vorgaben der jeweiligen literarischen Gattung bedingt sind (generische Interpretation). Da jede der vier Interpretationsweisen bei ihrer Anwendung die Erkenntnisse der übrigen drei voraussetzt, sie sich also wechselseitig bedingen, spricht auch Boeckh von einem „hermeneutische[n] Cirkel“287. Ein geschlossener Zirkel, in dem die Erkenntnis in den Tautologien einander wechselseitig erklärender Aussagen leerläuft, liegt für Boeckh hier aber nur im negativen Extremfall vor. Dies ist ebenso selten wie das positive Gegenteil, der Ausbruch aus dem Zirkel aufgrund kongenialer Einfühlung in den Geist des Autors, die als „lebendige Anschauung“288 der Erkenntnis Gewissheit verleiht. Den Regelfall sieht er stattdessen wie Schleiermacher in einer unendlichen spiralförmigen Verstehensbewegung, die sich dem Ziel vollständigen Verstehens zwar immer mehr annähert, es aber nie ganz erreicht.289 Vieles von dem, was Schleiermacher und Boeckh ausführten, hatten Friedrich August Wolf (1759–1824) und Friedrich Ast (1778–1841) vorweggenommen oder vorbereitet.290 Für die Goethezeit besonders charakteristisch ist die idealistische Hermeneutik Asts.291 Dem Neuhumanismus verpflichtet, setzte er der Klassischen Philologie das Ziel, aus den antiken Zeugnissen den Geist des Altertums zu ermitteln. Den philosophischen Ermöglichungsgrund hierfür lieferte seine „Allgeistlehre“ (Wach), nach der alles Geistige in einer ursprünglichen Einheit des Geistes wurzelt, die ihm bei aller zeit- und kulturbedingten Verschiedenheit eine grundsätzliche Gemeinsamkeit und damit die Erkennbarkeit sichert. Ast sah jedoch bereits, dass zwar einerseits jedes Werk aus dem Geist seiner Zeit und jeder Werkteil aus der Idee des Ganzen verstanden werden muss (analytisches Verfahren), dass aber umgekehrt die Idee eines Werks nur aus seinen Teilen und der Zeitgeist nur aus den zugehörigen Werken erkannt werden kann (synthetisches Verfahren) – dass also ein hermeneutischer Zirkel vorliegt. Seine Lösung des Problems bestand in der Annahme, in jedem einzelnen Teil wie in jedem einzelnen Werk sei der Geist, aus dem er/es hervorgegangen ist, stets vollständig enthalten, so dass zu seiner Erkenntnis nicht erst die ganze Reihe der Teile/Werke durchlaufen werden müsse, wenngleich 287 288 289 290 291

Ebd., 102. Ebd., 86. Vgl. Rodi 1979, 71f. Vgl. Flashar 1979. Zu Ast vgl. Wach 1966, Teil I, 31–62; Szondi 1975, 139–154; Weimar 1975, 111–134.

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die Erkenntnis mit deren steigender Zahl an Deutlichkeit zunehme.292 Auf diese Weise war es ihm möglich, analytisches und synthetisches Verfahren zu einer einzigen Bewegung des Verstehens und Erklärens zu verschränken: Im Ausgang von der unmittelbaren „Ahndung“293 der Idee des Ganzen anhand des ersten wahrgenommenen Werkteils (analytisches Erkennen) wird die Entfaltung dieser Idee in Form einer den Zusammenhang der Werkteile verständlich machenden Rekonstruktion des Werkes aufgezeigt (synthetisches Begreifen). Verstehen und Erklären werden hier gefasst als begreifende „Wiederholung des Schaffensprozesses“294 oder, in Asts eigenen Worten, als „wahrhaftes Reproduciren oder Nachbilden des schon Gebildeten“295. Gerade in dieser Aufrichtung eines genetisch-rekonstruktiven Verstehensbegriffs, der den Sinn aus dem Ganzen entwickelt, gegenüber dem bis dahin vorherrschenden additiven, für den Verstehen des Ganzen das Verstehen aller Einzelstellen ist, liegt das Revolutionäre und Wegweisende von Asts Konzeption, außerdem in der damit zusammenhängenden Ausrichtung der Verstehensbemühung auf den Geist des Autors statt auf das Verständnis einer Stelle bzw. der durch sie bezeichneten Sache.296 Schon bei Ast konnte es der Auslegung daher nicht mehr um die an der Sache orientierte Unterscheidung von Wortsinn und tieferer Bedeutung gehen, sondern nur mehr um verschiedene Betrachtungs- und Auslegungsweisen des Textes: eine grammatische Interpretation zur Klärung der sprachlichen Form, eine historische Interpretation zur Klärung des inhaltlichen Zeitbezugs und eine geistige Interpretation zur Klärung des Bezugs zum Geist des Autors und des gesamten Altertums. Das Problem der historischen Distanz des Erkennenden zu seinem Gegenstand war Ast zwar bewusst, durch seine „Allgeistlehre“ wurde es jedoch mehr umgangen als gelöst. Der Philologe nämlich sollte in der Beschäftigung mit der Antike seinen Geist von allem „Zeitlichen, Zufälligen und Subjektiven“ reinigen und dadurch den Standpunkt des universalen Geistes einnehmen, von welchem aus er dann „das Wahre, Gute und Schöne in allen, wenn auch noch so fremden, Formen und Darstellungen“ erkennen könne.297

1.3 Hermeneutische Praxis – Methoden der Dichtungsinterpretation Was die praktische Beschäftigung mit Literatur betrifft, so ist die Situation um 1800 gegenüber der Zeit davor durch Veränderung und Ausdifferenzierung geprägt: Die 292 293 294 295 296 297

Joachim Wach spricht von der „Perfektibilität des Verstehens“ (Wach 1966, Teil I, 42) bei Ast. Ast 1808, 186. Flashar 1979, 27. Ast 1808, 187. Vgl. Szondi 1975, 142f., 152. Ast 1808, 168f. (Zitate ebd., 169). Vgl. Szondi 1975, 144f.

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weiter präzisierte philologische Methode wurde in einem neuen Kontext gebraucht und nun auch auf alte deutsche Texte angewandt, die im engeren Sinne interpretativen Verfahren hatten sich gewandelt, und mit Literaturgeschichte und Literaturkritik waren zwei neue Formen der Literaturbetrachtung hinzugekommen.

1.3.1 Die philologische Methode in Klassischer und (Alt-)Deutscher Philologie Schon im Humanismus war die historisch-kritische Methode der Philologie in ihren beiden Bestandteilen der Textkritik (chronologische Klassifizierung der Handschriften, Klärung der Abhängigkeitsverhältnisse, Vornahme historisch begründeter Konjekturen) und der historisch-grammatischen Textinterpretation (Wort- und Sacherklärung) ausgebildet worden.298 Die Goethezeit brachte jedoch zwei Neuerungen. Zum einen überführte Karl Lachmann (1793–1851) die Textkritik in eine neue, nun festen Regeln folgende Form, die wegen ihrer scheinbaren Objektivität bis weit ins 20. Jahrhundert hinein maßgeblich blieb. Vorgegeben war nun der Dreischritt von recensio, examinatio und emendatio, der vergleichenden Einordnung der Handschriften in einen Stammbaum (stemma), aus dem regelgeleitet ein archetypus, die früheste erreichbare Textform, rekonstruiert wird (recensio), der qualitativen Prüfung des archetypus unter anderem auf grammatische, stilistische und logische Korrektheit (examinatio) und der anschließenden Korrektur fehlerhafter Stellen (emendatio).299 Zum anderen, was entscheidender war, entwickelte insbesondere Friedrich August Wolf die Konzeption der Klassischen Philologie als historische Altertumswissenschaft.300 Er folgte hierbei dem Geist des Neuhumanismus, der nicht mehr die Wiederbelebung der Antike in der Gegenwart herbeiführen wollte, sondern die antike Kultur nur noch als Vorbild und Anstoß eigener Bildungsbemühungen ansah. Historisches (antiquarisches) Wissen hatte für ihn daher keine rein dienende Funktion für Hermeneutik und Kritik mehr, sondern diese waren nun umgekehrt der Quellenaufbereitung und Wissensgewinnung in den historischen Einzeldisziplinen der Altertumswissenschaft (Alte Erdkunde, Alte Geschichte etc.) untergeordnet. Auch literarische Texte fungierten nun als Quellen, an denen die Kultur des Altertums abgelesen werden kann; sie interessierten weniger als nachzuahmende Stilvorbilder denn als historische Dokumente.301 298 S. o. Kap. III.2.3. Vgl. Muhlack 1988a, 156–158. 299 Vgl. Bohnenkamp 2008, 181–183. 300 Vgl. Muhlack 1988a, 170–174. Zu dem bedeutenden Anteil, den schon Wolfs Lehrer Christian Gottlob Heyne (1729–1812) an diesem Wandel hatte, vgl. die Hinweise bei Grafton/Most 1997, 44, und Vogt 1997, 124. 301 Vgl. Hentschke/Muhlack 1972, 85.

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Erstmals in philologische Praxis umgesetzt wurde dieses Konzept der rein historischen Betrachtung literarischer Texte von Wolf selbst. In seinen Prolegomena ad Homerum (1795) unternahm er als Erster – nach Richard Simon auf dem Feld der Bibelkritik – den methodisch fundierten Versuch, zum Zweck der Textkritik die Geschichte eines antiken Textes zu rekonstruieren, in seinem Fall die der Werke Homers.302 Vor allem aufgrund des historischen Arguments fehlender Schriftlichkeit zur Zeit Homers kam er dabei zu dem Ergebnis, Ilias und Odyssee gingen nur in ihren Kernbeständen auf Homer selbst zurück. Seine Gesänge seien im Zuge der mündlichen Überlieferung durch die Rhapsoden zunehmend ausgeschmückt und verändert worden, ehe sie dann Peisistratos im 6. Jahrhundert v. Chr. zu einer Einheit verbunden und schriftlich niedergelegt habe.303 Von der analytischen Methode, die stilistische und logische Brüche im Text auf verschiedene Quellen bzw. Autoren und Bearbeiter zurückführt und die im 19. Jahrhundert unter Berufung auf Wolf auf die verschiedensten Texte von der Bibel304 bis zum Nibelungenlied angewandt wurde, machte Wolf selbst in seiner Untersuchung kaum Gebrauch. Lediglich einige Füllstellen zur Verbindung vormals separater Gedichte glaubte er damit aufzeigen zu können. Aufs Ganze machte er bei Homer sogar einen recht einheitlichen Stil aus. Allerdings hielt er dies für einen nur oberflächlichen Eindruck und erwartete er von einer zukünftigen stilistischen Analyse den Nachweis mehrerer Verfasser.305 Bei dieser historischen Verortung von Text und Autor beließ es Wolf dann aber; die Textgeschichte sollte bei ihm kein ästhetisches Werturteil mehr vorbereiten – im Gegenteil, ästhetische Bewertungen dienten ihm im Rahmen der Stilanalyse umgekehrt zur Rekonstruktion der Textgeschichte.306 Dieser Übergang zur historischen Betrachtung antiker Dichtung hatte zur Folge, dass sich die Auslegung fortan ganz auf die Klärung des wörtlichen Verständnisses durch historisch-grammatische Interpretation beschränkte. Lassen sich schon in den Kommentaren des ausgehenden 18. Jahrhunderts ästhetische Bewertungen nur noch sehr selten feststellen,307 so verschwanden die früher noch vielfach anzutreffenden allegorischen Deutungen jetzt fast vollständig.308 Anfang des 19. Jahrhunderts übernahm dann auch die neu entstandene Universitätsdisziplin „(Alt-)Deutsche Philologie“ die historische Methode der Klassischen 302 303 304 305 306 307 308

Vgl. Pfeiffer 1982, 215f. Zu Richard Simon s. Kap. III.6.1 des Beitrags „Bibel“ in diesem Band. Vgl. Volkmann 1874, 48–71. S. Kap. IV.2.2.2 des Beitrags „Bibel“ in diesem Band. Vgl. Volkmann 1874, 62–64; Pfeiffer 1982, 217. Vgl. Muhlack 1988a, 172; Most 1997, 755. Vgl. ebd., 756. Für das Beispiel der Homerauslegung vgl. Clarke 1981, 98–105.

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Philologie und wandte sie auf deutsche Texte des Mittelalters an.309 Die Texte wurden hier vor allem als „Sprachdenkmahle“ (Erduin Julius Koch [1764–1834]) betrachtet, als „Überreste eines vergangenen und rekonstruktionsbedürftigen Sprachstandes“310. Sie waren Quellen für die Erarbeitung einer mittelhochdeutschen Grammatik und Metrik, auf deren Basis dann wiederum kritisch „gereinigte“, d. h. an die zur Norm erhobene Grammatik und Metrik angepasste Texteditionen sowie philologische Kommentare mit Wort- und Sacherklärungen erstellt wurden. Von darüber hinausgehenden Interpretationen sahen die Philologen zumeist ab; diese Aufgabe wurde anderen überlassen.

1.3.2 Im engeren Sinne interpretatorische Verfahren Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts kam an den Gymnasien die Praxis auf, neben den antiken auch deutsche Klassiker zu erklären, da sie aufgrund ihrer stark von der Alltagssprache abweichenden Diktion sowie dem enthaltenen Bildungsgut (mythologische Anspielungen etc.) für junge Leser nicht ohne Weiteres verständlich waren.311 Dabei wurden nicht nur Wort- und Sachfragen geklärt, sondern es wurde auch die poetische Sprechweise mit der gewöhnlichen kontrastiert, so dass der poetische Text als „Differenzphänomen“312, als fremd und vom eigenen Sprechen und Denken verschieden sowie als Träger bestimmter Gattungsmerkmale in den Blick kam. Die Schullektüre sollte den Geschmack bilden und tugendhaftes Verhalten verinnerlichen, um so nicht zuletzt auch die außerschulische Privatlektüre in die vom Lehrkörper gewünschte Bahn zu lenken. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert wurde deutsche Dichtung vereinzelt auch an Universitäten ausgelegt, insbesondere durch (zumeist junge) Philosophen.313 Die Auslegung sollte die Schönheit der behandelten Werke erweisen, wofür die Methode der rationalen Zergliederung zum Einsatz kam. Diese wurde gegenüber dem Sensualismus Baumgarten’scher Prägung durch die Auffassung gerechtfertigt, Dichtung spreche Sinne und Vernunft gleichermaßen an, müsse also sowohl über den Geschmack als auch über den Verstand rezipiert werden. Die Zergliederung diente der induktiven Ableitung der Normen, an denen ein Werk zu messen ist, aus diesem selbst, statt sie von außen, aus einem vorgefertigten Schönheitsbegriff, an es heranzutragen. Die Interpretation zielte folglich darauf, die Arbeitsweise des Autors rational zu durch309 310 311 312 313

Vgl. hierzu Weimar 2003, 213–256. Ebd., 228. Vgl. ebd., 150–155. Ebd., 153. Vgl. hierzu ebd., 155–167.

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dringen. Zwar deutete sich hier bereits an, dass Interpretation Wiederholung der Produktion sei, doch wurde dies nicht eigens hermeneutisch reflektiert, nicht zuletzt aufgrund der Annahme, die an der Entstehung ebenso wie an der Rezeption beteiligte Vernunft unterscheide sich bei Dichter und Leser nicht. Auf das oben (Kap. IV.1.2) bereits geschilderte Intermezzo der rationalen Rekonstruktion um 1800, welche auf der Erfahrung der semantischen Offenheit poetischer Texte beruhte, folgte mit der schon bald vollzogenen neuerlichen Einbindung der Literatur in einen allgemeinen Sinnzusammenhang, der nun „nationaler Geist“ hieß, eine Phase, in der Dichtung vor allem als Produkt dieses Geistes und daher im Rahmen der Literaturgeschichte als Quelle zur Erkenntnis von dessen jeweiligem historischen Zustand betrachtet wurde. Analog zum allgemeinen literaturgeschichtlichen Interesse rückten nun auch bei der Interpretation von Einzelwerken deren Autoren in den Mittelpunkt und war der einzelne Text vor allem ein „Stimulans des biographischen Interesses“.314 In den 1820er-Jahren kehrte jedoch die rationale Rekonstruktion in Form der „philosophischen Reproduktion“, welche insbesondere Philosophen wie Karl Rosenkranz (1805–1879), Heinrich Gustav Hotho (1802–1873) oder Heinrich Theodor Rötscher (1803–1871) übten, noch einmal zurück.315 Bei dieser wurde ein Sinnzusammenhang im Ausgang von philosophischen – in der Regel Hegel’schen – Theoremen gestiftet.316 Während jedoch die einen nur die philosophische Terminologie aufgriffen, sich den hergestellten Sinn aber nicht von der Theorie vorgeben ließen, stülpten andere dem Text einfach eine fertige Philosophie als Sinn über. Im Unterschied zur rationalen Rekonstruktion achtete die philosophische Reproduktion vor allem auf das Was, den Inhalt (Handlung und Personen), nicht allein auf das Wie, die Komposition der Texte. Ihr Hauptaugenmerk galt der inhaltlichen Gestaltung, weshalb sie im zentralen Gedanken den „Mittelpunkt“ erblickte, aus dem heraus der Text zu reproduzieren sei. Formal trat die Deutung als den Text begleitende Paraphrase auf, was wegen der dadurch erzeugten Parallelität des Richtungssinns von den Textaufbau begründender Argumentation und Paraphrase die Deutung als Re- und nicht als Neuproduktion des Textsinns erscheinen ließ.

314 Vgl. ebd., 366–368 (Zitat ebd., 367). 315 Vgl. ebd., 371–385. 316 So konnten etwa einzelne Teile aus Goethes Faust als Darstellung bestimmter Entwicklungsstufen des Bewusstseins erscheinen, z. B. der Pudel in der Begegnung mit Faust als Objektivation des Faust selbst innewohnenden und seinem Streben nach Unendlichkeit entgegengesetzten Prinzips der Endlichkeit, der Natur im Gegensatz zum Geist (vgl. ebd., 376).

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1.3.3 Literaturgeschichte Mitte des 18. Jahrhunderts entstand aus der älteren „Litterärgeschichte“, der katalogartigen Auflistung bedeutender Personen und Werke in den verschiedenen Wissensgebieten, eine Literaturgeschichtsschreibung im heutigen Sinn, bei der Dichtung und bei dieser nicht die Autoren, sondern die Werke und ihr Zusammenhang im Zentrum stehen.317 Sie arbeitete zum einen mit dem „Konzept ‚Fortschritt‘“, das die Werke am Gegenwartsgeschmack misst und die Entwicklung teleologisch darauf zulaufen lässt, zum anderen mit dem auf Herder zurückgehenden „Konzept ‚Entwicklung‘“, bei dem die Werke genetisch aus dem zu ihrer Zeit herrschenden Zeitgeist abgeleitet werden, in den sich der Literaturhistoriker folglich einzufühlen hat. Zusammenhang stifteten bekannte historische Schemata wie Blüte – Verfall – Renaissance, aber auch die unterschiedlichen literarischen Neigungen einzelner Herrscher konnten den Wandel erklären helfen. Wo dieses Vorgehen mangels historischer Daten nicht möglich war, wurde auf das Mittel der Charakteristik zurückgegriffen, bei der die je verschiedene Werkgestalt aus der dichterischen Eigenart der verschiedenen Autoren erklärt wird, ohne dass diese in einen historischen Zusammenhang gebracht werden. Eine umfassende theoretische Konzeption der Literaturgeschichte, die noch dazu mit der neuen Hermeneutik kompatibel war, entwarfen Anfang des 19. Jahrhunderts die Brüder Friedrich und August Wilhelm Schlegel (1767–1845).318 Nach Letzterem war das Subjekt der Literaturgeschichte die dem Menschen wesenseigene poetische Kraft, letztlich der überzeitliche „Genius der Menschheit“319 selbst. Die Erklärung der von ihm als dem eigentlichen Autor hervorgebrachten Werke hatte daher aus dem Zeitgeist (als der jeweiligen Modifikation des Menschheitsgeistes) sowie den allgemeinen äußeren Umständen zu erfolgen, wohingegen die Biografie des Autors nicht interessierte. Die Werke sollten argumentativ in ihrer Entstehung rekonstruiert werden (statt sie an der aktuellen Dichtungstheorie zu messen und die Geschichte teleologisch auf die Gegenwart zulaufen zu lassen). Erforderlich war hierfür vor allem die Einfühlung in den Zeitgeist, was mittels historischer Forschung bzw., bei mangelhafter Quellenlage, durch Divination allein auf Grundlage der Texte selbst zu bewerkstelligen war. Den historischen Zusammenhang zwischen den Werken schließlich sollten „Schulen“ erklären, die vom Literaturhistoriker aufzuzeigen oder zumindest plausibel zu machen waren. In der Praxis scheiterte diese Konzeption allerdings schon bei Friedrich Schlegel selbst. Schon ihm wurde der jeweilige Zeitgeist zum eigentlichen Erkenntnisziel, wes317 Vgl. ebd., 107–148 (die folgenden Zitate ebd., 134). 318 Vgl. ebd., 258–265. 319 A. W. Schlegel, Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst I (1884), 18, zitiert nach Weimar 2003, 262.

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halb er Literaturgeschichte als „diagnostische Historie“ betrieb, in der die literarischen Texte zu weitgehend aus der Darstellung ausgeblendeten Quellen herabsanken.320 Die Darstellung fokussierte sich auf die jeweilige Gestalt des Zeitgeistes, d. h. auf die retrospektiv gewonnenen Erkenntnisse, während sie deren vorwärtslaufende Verknüpfung zu einer Geschichtserzählung vernachlässigte und sie stattdessen allenfalls lose verbunden in chronologischer Reihe nebeneinanderstellte. Es dominierte hier wieder die alte Umkehrungshermeneutik gegenüber der neuen Wiederholungshermeneutik. Schlegels Methode war symptomatisch nicht nur für seine Zeit, denn die Ausrichtung der Literaturgeschichte auf Geisteserkenntnis sollte das ganze 19. Jahrhundert prägen. Attraktiv war die Methode besonders wegen ihres positivistischen Grundzuges, der es gestattete, persönliche Werturteile und damit eine Gesinnung als historische Tatsache zu präsentieren. Als passende Gesinnung war schon früh im 19. Jahrhundert der Nationalismus entdeckt worden, so dass die Literatur der Vergangenheit am Kriterium ihrer „Teutschheit“ (Ludwig Wachler [1767–1838]) gemessen wurde, was auch immer man jeweils konkret darunter verstand. 1830 unternahm dann aber der bereits erwähnte Karl Rosenkranz den Versuch, auch die Literaturgeschichte von Hegel her zu verstehen.321 Gegenüber der diagnostischen „äußeren Literaturgeschichte“ konzipierte er sie als „innere Literaturgeschichte“ (Wolf), nahm die Texte also nicht als Quellen zur Erkenntnis der Geisteshaltung ihrer Urheber oder des Zeitgeistes, sondern untersuchte ihre Inhalte, d. h. ihre Stoffe. Deren Wandel in Wahl und Bearbeitung (episch, lyrisch oder didaktisch) leitete er aus dem von Hegel aufgezeigten Gang der Geschichte des Geistes ab und gestaltete seine Darstellung dementsprechend als genetisch-argumentative Rekonstruktion. Hermeneutisch harmonierte Rosenkranz’ Art der Literaturgeschichtsschreibung mit der neuen Wiederholungshermeneutik, doch wurde sie kaum rezipiert, da sie wegen ihrer Verwendung der Hegel’schen Philosophie „als Marotte einer bestimmten philosophischen Schule abgetan werden [konnte]“322. Weitaus größeren Einfluss hatte das Modell, welches Georg Gottfried Gervinus (1805–1871) – bei aller methodischen Uneinheitlichkeit –323 in seiner Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen (1835–1842) entwickelte. Wie Rosenkranz wandte sich Gervinus gegen die zusammenhangslose Aneinanderreihung der Werke im Stile der „Litterärhistorie“ und forderte stattdessen den Aufweis der historischen Entwicklungszusammenhänge. Auch betrachtete er Dichtung wie dieser vor 320 321 322 323

Vgl. ebd., 277–284 (Zitat ebd., 280). – Zum Folgenden vgl. ferner ebd., 284–294. Vgl. ebd., 304–311. Ebd., 311. Vgl. ebd., 312–320.

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allem inhaltlich. Anders als Rosenkranz wählte er aber als einheitsstiftendes Subjekt der Darstellung das deutsche „Volk“, die „Nation“, so dass seine Literaturgeschichte das Werden der nationalen Identität anhand ihrer literarischen Zeugnisse nachzeichnete.324

1.3.4 Literaturkritik Schon vor der Literaturgeschichte war im 18. Jahrhundert die Literaturkritik in ihrer modernen Form entstanden. Nach ersten Anfängen im 17. Jahrhundert hatte sie sich in der Aufklärung als eigenständige Form der Dichtungsbetrachtung auf breiter Front durchgesetzt.325 Diente sie zur Zeit Gottscheds noch einer „vernunftgeleiteten Literaturdidaktik“326, bei der akademische „Kunstrichter“ (Gottsched) die Literatur nach den geltenden poetologischen Regeln beurteilten und dadurch eine entsprechende Geschmacksbildung beim Publikum bewirken wollten, so trat sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts weniger belehrend auf. Statt die Literatur nach vorgegebenen Normen abzuurteilen, sollte ihre öffentliche Rezeption intellektuell begleitet werden. Hierfür positionierte sich die Kritik zwischen Publikumsgeschmack und philosophischer Ästhetik, indem sie die Berechtigung der poetologischen Vorgaben vom subjektiven Empfinden des Kritikers aus einer Prüfung unterzog. Zugleich zielte sie mit dem eigenen Urteil aber auch auf die Herausbildung eines geschmacklichen Konsenses, so dass der Kritiker „zugleich Anwalt des Publikums und dessen Erzieher“327 war. Die Kritiker des Sturm und Drang lehnten wie für den Dichter so auch für die Literaturkritik alle Regelbindung ab. Statt auf Regeln setzten sie auf kongeniale Einfühlung, durch die der Geist und Plan eines Werks erfasst und anschließend dem Publikum erklärt werden sollte. Während sie hierbei einen natürlichen, ursprünglichen Kunstgeschmack zugrunde legten, dem das einfache Volk seit jeher gefolgt sei, den das ge- bzw. verbildete Publikum aber erst wiedergewinnen müsse, setzten dem die Klassiker, insbesondere Friedrich Schiller (1759–1805), einen elitären, gegen den trivialen Publikumsgeschmack gerichteten Kunstbegriff entgegen, an dem sich die Kritik auszurichten und zu dem sie das Publikum zu erziehen habe. In der Romantik schließlich fand die Kritik ihren Platz innerhalb der Literaturtheorie selbst. Nach romantischer Vorstellung war das literarische Kunstwerk der autonome Ausdruck freier Subjektivität, der als solcher nie restlos in die begriffliche Abgeschlossenheit 324 325 326 327

Vgl. Baasner/Zens 2005, 51–54; Meier 2008, 580. Zu diesem Kapitel vgl. Hohendahl 1985, 10–128; Anz/Baasner 2004, 27–64. S. auch Jaumann 2000. Anz/Baasner 2004, 27. Hohendahl 1985, 39.

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und Objektivität rationaler Sprache einholbar ist. Der Kritik kam deshalb die Aufgabe zu, den Geist des Kunstwerks erst kongenial zu erfassen, um dann in kontinuierlicher Reflexion die inneren Zusammenhänge des Werks aufzuzeigen, es nicht kritisch zu bewerten, sondern seinen Gehalt immer weiter zu entfalten, mithin das Kunstwerk weiterzuführen und zu vollenden. Im Hintergrund der romantischen Konzeption der Literaturkritik stand Kants Begriff der „ästhetischen Idee“, einer von der Fantasie hervorgebrachten anschaulichen Vorstellung, die sich einer vollständigen logischen Durchdringung entzieht. Auf dieser Basis war es möglich, dem Kunstwerk eine unendliche Bedeutungsfülle zuzuschreiben und entsprechend auch die zugehörige Reflexionsbewegung als unendlich anzusehen. Der oben (Kapp. III.4.2 u. IV.1.2) aufgezeigte Wandel in der Hermeneutik von der alten Auslegungskunst, welche die Bedeutung von Texten abschließend bestimmen zu können glaubte, zur neuen Kunstlehre des Verstehens, nach der der Sinn von Texten nur näherungsweise bestimmt werden kann, stellt sich somit als Verzeitlichung sowohl des Sinns als auch der Interpretation dar: Statt einer überzeitlichen Bedeutung haben Texte einen unerschöpflichen historischen Sinn, den eine nie zu Ende kommende Interpretationsanstrengung approximativ zu bergen sucht.328

2. Im Zeichen des Positivismus: Literarische Hermeneutik im 19. Jahrhundert Nach der Goethezeit erlebte die Literatur zuerst eine Phase der Politisierung (1830– 1848), dann, in der zweiten Jahrhunderthälfte, der Entidealisierung. War im Vormärz noch in Opposition zum romantischen Autonomiepostulat eine gesellschaftskritische und politisch engagierte Literatur gefordert worden, die für liberal-progressive Werte und nationale Einheit eintreten sollte, so bewirkte die Enttäuschung über das Scheitern der Revolution von 1848, dass von Literatur nicht mehr gesellschaftliche Utopien, sondern verstärkt Realismus erwartet wurde.329 Mit Realismus war allerdings kein Naturalismus gemeint, vielmehr ein „Idealrealismus“, d. h. eine Abbildung der Wirklichkeit, die sich zwar an das Gegebene hält, es aber zugleich verklärt und die Schattenseiten, das Hässliche, ausblendet. Nicht aufgegeben war nämlich die Vorstellung, die Welt sei in ihrem unter der Oberfläche liegenden Wesen vernünftig strukturiert und Literatur mache diese innere Harmonie und Schönheit sichtbar. 328 Vgl. Assmann 1996, 12. 329 Vgl. hierzu und zum Folgenden Jung 2007, 144–170. – Unterstützt wurden die Forderungen der Poetik durch die zeitgenössische Literaturkritik, die sich als Wächterin über die Kunst verstand (vgl. Anz/Baasner 2004, 65–91).

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Parallel zu dieser Entwicklung wandelte sich auch der literarische Wahrheitsbegriff.330 Grundsätzlich wurde die romantische Konzeption von literarischer Wahrheit als ästhetisch zutreffende Charakterisierung beibehalten, sie wurde nun aber verknüpft mit der Forderung nach Wahrscheinlichkeit und Wirklichkeitstreue der Darstellung. Das Wesentliche der Wirklichkeit, das Literatur aufzeigen soll, wurde erst im Idealen als dem positiv Paradigmatischen gesehen, nach 1850 dann zunehmend im Charakteristischen bzw. Typischen allgemein, was auch das negativ Paradigmatische einschloss. Tatsächlich aufgenommen hat Letzteres aber erst der Naturalismus gegen Ende des Jahrhunderts. Zunächst blieb es gemeinhin bei der Idealisierung der Wirklichkeit im Sinne des Ausschlusses von allem, was den geltenden ästhetischen oder moralischen Wertvorstellungen nicht entsprach. Neu war im Realismus gleichwohl, dass das Charakteristische und Typische in den kausalen Zusammenhängen der Wirklichkeit gesehen wurde statt wie noch in der Romantik in den Analogien. Der Naturalismus schließlich radikalisierte diese Sicht, indem er Natur und Zivilisation als vollständig determiniert betrachtete und ihre kausallogischen Gesetzmäßigkeiten aufzuzeigen versuchte. Den Hintergrund solcher Auffassungen bildet die Philosophie des Positivismus. Für diesen kann sich sichere Erkenntnis allein auf empirisch gegebene Fakten beziehen und sind alle Erscheinungen in Natur und Gesellschaft auf solche beobachtbaren Ursachen zurückzuführen. Alle über den Bereich des Empirischen hinausgehende Erkenntnis, alle Meta-Physik, muss für ihn Spekulation bleiben. Auch hinsichtlich gesellschaftlicher Erscheinungen sind aus dem positiv Gegebenen anhand des Grundsatzes der Kausalität wie in den Naturwissenschaften induktiv die der Wirklichkeit zugrunde liegenden Gesetze zu erheben.331 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewann der Positivismus maßgeblichen Einfluss auch auf die Literaturwissenschaft und ihre hermeneutischen Verfahren.332 Zwar wurde keine totale Erklärbarkeit der Literatur postuliert, sondern in der Regel weiterhin ein individueller ideeller Rest angenommen, der sich mit den Mitteln positiver Forschung nicht erheben und darstellen lässt.333 Doch befassten sich die Ausleger nun vornehmlich mit den materiellen Grundlagen von Dichtung, mit den Texten und ihren Verfassern, und versuchten in Übernahme der induktiven Methode der Naturwissenschaften zunächst die Entstehung der einzelnen Werke kausallogisch zu erklären, sodann die übergeordneten Gesetze der literarischen Entwicklung aufzuzei330 331 332 333

Vgl. Damerau 2003, 199–248. Vgl. Maren-Grisebach 1970, 10–22; Kablitz 2008, 583. Vgl. Maren-Grisebach 1970, 10–22; Baasner/Zens 2005, 55–60; Allkemper/Eke 2006, 159–161. Vgl. Maren-Grisebach 1970, 15; Baasner/Zens 2005, 102.

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gen. Wilhelm Scherer (1841–1886), einer der wichtigsten Vertreter des literaturwissenschaftlichen Positivismus in Deutschland, formulierte programmatisch: „Mit schönen Ansichten, mit geistreichen Worten, mit allgemeinen Redensarten ist uns nicht geholfen. Wir verlangen Einzeluntersuchungen, in denen die sicher erkannte Erscheinung auf die wirkenden Kräfte zurückgeführt wird, die sie ins Dasein riefen […]. Gewissenhafte Untersuchung des Tatsächlichen ist die erste und unerlässliche Forderung. Aber die einzelne Tatsache als solche hat an Wert für uns verloren. Was uns interessiert, ist vielmehr das Gesetz, welches daran zur Erscheinung kommt. Daher die ungemeine Bedeutung, welche die Lehre von der Unfreiheit des Willens, von der strengen Kausalität auch in der Erforschung des geistigen Lebens erlangt hat.“334

In Scherers Worten klingen die zentralen Arbeitsfelder positivistischer Literaturwissenschaft an: 1. Textkritik zur Sicherung der literarischen Fakten; 2. Erforschung der Dichterbiografie als dem maßgeblichen Faktor bei der Werkentstehung; 3. Literaturgeschichtsschreibung zum Aufweis der die literarische Produktion bestimmenden Gesetze. Der Textkritik widmete der Positivismus große Aufmerksamkeit, was sich nicht zuletzt in einer Fülle kritischer Editionen niederschlug. Auf diese Aufgabe sowie auf die Erstellung historisch-grammatischer Kommentare hatte sich die Klassische Philologie schon bald nach Boeckh wieder ganz konzentriert und dabei auch eine gewisse mechanistische Strenge der Kritik entwickelt, wenn sie ihre induktiv gewonnenen Erkenntnisse über Sprache, Komposition und Metrik zur Norm machte, an der sie die Texte maß.335 Im Bereich der deutschen Literatur wurde die Editionstätigkeit von mittelalterlichen Texten zunehmend auch auf neuere Werke ausgeweitet. Dieser Schritt war von einer Modifizierung des Verfahrens begleitet. Die einzelnen Überlieferungsstufen wurden nicht mehr nur gegen die Erstausgabe bzw. die frühest erreichbare Textstufe geprüft, sondern gegen den aus dem Text divinatorisch erschlossenen Dichterwillen. Abgedruckt wurden daher nicht mehr die Leithandschrift und im Apparat ihre Varianten sowie die verschiedenen Lesarten der übrigen Handschriften, sondern die letzte vom Dichter autorisierte Fassung in kritisch nach dem angenommenen 334 W. Scherer, Vorträge und Aufsätze zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland und Österreich (1874), 408, 412, zitiert nach Rusterholz 2008, 369. 335 Vgl. Hentschke/Muhlack 1972, 97; Landfester 1979, 156–159, 167. Erst in den 1880er-Jahren trat mit Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1848–1931) wieder ein Altphilologe für eine weiter gefasste Altertumswissenschaft mit dem Ziel der „Verlebendigung“ der Antike ein, doch blieb er darin letztlich ebenfalls positivistisch, insofern er die Vergangenheit für durch die Quellen unmittelbar zugänglich hielt (vgl. Hentschke/Muhlack 1972, 97–106, bes. 102f.).

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Dichterwillen bereinigter Form und in den Anmerkungen nur noch die echten Varianten aus früheren Schaffensphasen, nicht mehr orthographische oder Abschreibefehler oder absichtliche Änderungen durch spätere Herausgeber.336 Für die Auslegung rückte mit der Maßgabe, sich an empirische Ursachen zu halten, die Biografie des jeweiligen Autors in den Fokus. Die hierbei zu berücksichtigenden Faktoren brachte Scherer in Anlehnung an den französischen Positivisten Hippolyte Taine (1828–1893) auf die Formel des „Ererbten, Erlebten und Erlernten“: natürliche Anlage, persönliche Erfahrungen und soziokulturelle Einflüsse.337 Zum Einsatz kam ein autorpsychologisches Interpretationsverfahren, welches seit den 1840er-Jahren allmählich ausgebildet worden war.338 Bei diesem wurden die Texte wie in der diagnostischen Literaturgeschichtsschreibung zunächst als Quellen behandelt, nun aber zur Erkenntnis weniger des Zeitgeistes als vielmehr der Psyche bzw. der Art der Weltbetrachtung des Autors, welche man in Wahl und Behandlung des – als immer schon verstanden vorausgesetzten – Stoffes ausgedrückt sah. Ergänzend wurde weiteres biografisches Material (Briefe etc.) herangezogen, um ansonsten vielleicht nicht verständliche seelische Regungen (und vor allem deren Niederschlag im Text) zu erklären. War auf diese Weise eine innere und äußere Dichterbiografie erarbeitet, konnte der Text aus Leben und Seelenleben des Dichters historisch-psychologisch abgeleitet und rekonstruiert werden. Diese Konzeption lag nicht nur den „Erläuterungen“ zugrunde, jenen neuartigen philologischen Kommentaren, die seit der Jahrhundertmitte den Buchmarkt prägten und nicht mehr nur grammatische und sachliche Erklärungen boten, sondern zumeist eine Dichtervita voranstellten und bei der Kommentierung des Textes einzelne Details entweder aus dieser oder, besser noch, direkt aus dem divinatorisch eröffneten Seelenleben des Dichters zu erklären suchten. Sie harmonierte auch bestens mit der Gesamtanlage der neueren Abteilung der nun als universitäres Fach fest etablierten Germanistik, deren im engeren Sinne philologische Operationen (Textkritik, Kommentar, Quellenforschung) vom Text zur Dichtervita zurückführten, während die interpretativen Operationen (Interpretation und Literaturgeschichte) die Texte in Unmittelbarkeit zum Schaffensprozess von den Autoren aus rekonstruierten.339 Auf dem Gebiet der Literaturgeschichte ragt Scherers Geschichte der Deutschen Litteratur (1883) heraus. Die darin entwickelte Blütezeiten- bzw. Wellentheorie, nach der die deutsche Literatur alle 600 Jahre einen Höhepunkt erklimmt – um 600 mit 336 337 338 339

Vgl. Weimar 2003, 450–455. Vgl. Maren-Grisebach 1970, 11f.; Baasner/Zens 2005, 56, 57; Allkemper/Eke 2006, 161. Vgl. Weimar 2003, 390–487. Vgl. ebd., 405–409, 471–482.

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der Blüte des germanischen Nationalepos, um 1200 mit der Hochphase der mittelalterlichen Dichtung, um 1800 mit der deutschen Klassik –, von dem sie anschließend herabsinkt, ehe sie einem neuen Höhepunkt entgegenstrebt, erzeugt den gewünschten Eindruck der Gesetzmäßigkeit des Verlaufs der Literaturgeschichte.340 Einen strengen Positivismus im Sinne von mechanischer Methodenanwendung, von Ursachenforschung und Kausalitätsdenken oder stumpfer Rückführung auf Ererbtes, Erlebtes und Erlerntes übt Scherer allerdings nicht.341 Sein Vorgehen besteht vielmehr darin, das einheitliche Subjekt zu eliminieren, welches vordem insbesondere der „deutsche Geist“ dargestellt hatte, so dass er Literaturgeschichte zunächst als wertfreie Beschreibung der steten Folge von Dichter-Text-Einheiten, als „Referat des Supertextes ‚Literaturgeschichte‘“342 betreiben kann. Erst indem er die literarischen Texte anhand des ethischen Kriteriums der „Humanität“ beurteilt, die für ihn in ihrer Fähigkeit besteht, der Sprache und dem Leben Form und Kultur zu geben und hier wie dort zur Achtung vor Juden und Frauen beizutragen, gewinnt er die notwendigen Daten, die ihn einen wellenförmigen Verlauf der Literaturgeschichte erkennen lassen.

3. Verstehen statt erklären: Literarische Hermeneutik im 20. Jahrhundert 3.1 Geistesgeschichte Die Geistesgeschichte löste im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts den Positivismus als führende Richtung in der Literaturwissenschaft ab.343 In sich keineswegs homogen, fand sie in der Ablehnung des Positivismus und der von ihm geübten Ableitung der Literatur aus der Dichterbiografie den gemeinsamen Nenner. Statt der Außen- wählte sie die Innenperspektive, weshalb sie statt der philologischen die geistige und ästhetische Dimension von Literatur untersuchte, statt der materialen Produktionsbedingungen ihre Ideen, Gedanken, Probleme und Formen. Grundlage war ein Literaturbegriff, 340 341 342 343

Vgl. Baasner/Zens 2005, 58; Allkemper/Eke 2006, 161. Vgl. Weimar 2003, 459–470. Ebd., 463. Dieser Befund gilt allerdings nur für Deutschland. In vielen anderen Ländern gingen die Bestrebungen unterdessen in Richtung einer streng formalen Literaturbetrachtung (vgl. Brenner 1998, 76). Zudem wurden schon zur Hochzeit der Geistesgeschichte auch in Deutschland alternative Konzepte in der Literaturwissenschaft erprobt, z. B. psychoanalytische und soziologische, wenn auch mehr am Rande (vgl. Hermand 1994, 90–93). Die Darstellung dieser Strömungen erfolgt unten im Zusammenhang ihrer verstärkten Rezeption in Deutschland seit den 1960er-Jahren (s. u. Kap. IV.4). – Zum Folgenden vgl. Maren-Grisebach 1970, 23–38; Weimar 1997; Brenner 1998, 74–76; Baasner/Zens 2005, 61–71; Allkemper/Eke 2006, 163f. – Zu den geistesgeschichtlichen Tendenzen in der ansonsten weiterhin traditionellen Altphilologie vgl. Hentschke/Muhlack 1972, 128–135; Vogt 1997, 128–130.

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der Dichtung als freie Schöpfung des Geistes auffasste, die weder in ihren Inhalten noch in ihrer Entstehung an die materielle Wirklichkeit gebunden oder auf Ereignisse in dieser rückführbar ist. Generell wurden geistige Phänomene als von der historischen Wirklichkeit losgelöst angesehen, weshalb sie auch ohne Berücksichtigung biografischer, sozialer oder sonstiger Kontexte verhandelt wurden. Zu diesem Perspektivwechsel und damit zur Grundlegung der Geistesgeschichte hat insbesondere Wilhelm Dilthey (1833–1911) mit seiner Unterscheidung der Verfahrensweisen der Geistes- und Naturwissenschaften beigetragen.344 Nach Dilthey bedarf der Gegenstand der Geisteswissenschaften, die Kultur bzw. die aus menschlichen Kulturprodukten bestehende geschichtliche Welt, anders als die Natur nicht kausallogischer Erklärung, sondern einfühlenden Verstehens. Dieses vollzieht sich auf Grundlage des eigenen Erlebens, welches verstanden wird als „das Ereignis, in dem der Mensch Natur und andere Menschen in ihrer Bedeutung für ihn selbst wahrnimmt“345. Da dies bei allen Menschen auf strukturell gleiche Weise geschieht, kann das innerliche und subjektive Erleben auch intersubjektiv vermittelt werden. Die Vermittlung geschieht im Fall der Literatur über die Sprache, wobei es dem Genie vorbehalten ist, einen völlig treffenden und also wahren Ausdruck dafür zu finden. Von Genies produzierte Literatur bringt dadurch nicht nur das eigene Erleben des Dichters zum Ausdruck, sondern wendet es zugleich ins Allgemeine, Typische, wodurch auch allgemeine Aspekte des menschlichen Weltverhältnisses – „der Zusammenhang des Lebens selbst und sein Sinn“346 – sichtbar werden. Literatur verweist den Leser somit auf ureigene Erfahrungen. Von diesen muss auch das Verstehen ausgehen: „Das Verstehen ist ein Wiederfinden des Ich im Du […].“347 Verstehen vollzieht sich somit nach Art des Analogieschlusses: Im Ausgang vom eigenen Erleben wird aus der sprachlichen Äußerung auf ein gleichartiges Erlebnis des Sprechers geschlossen. 348 Vom Ausleger ist folglich Kongenialität gefordert, um sich ausgehend vom Text in die Seelenlage des Dichters einfühlen zu können. Indem Dilthey das Verstehen so als das 344 Zu Dilthey vgl. Brenner 1998, 53–57, 73f.; Baasner/Zens 2005, 62–64; Bogdal 2008, 142–144; Rusterholz 2008a, 117–121; Simons 2009, 17–27; Geisenhanslüke 2010, 47–50. S. ferner Kap. IV.2 des Beitrags „Philosophie“ in diesem Band. 345 Baasner/Zens 2005, 63. 346 Dilthey 2005, 127. 347 Dilthey 1992, 191. 348 Zwar differenziert Dilthey seine Auffassung vom Verstehen noch dahin gehend, dass neben den Analogien auch die Differenzen zwischen dem eigenen und dem fremden Erleben beachtet werden müssen, doch wurden diese Ausführungen erst postum (1927) publiziert, so dass sie ohne Einfluss auf die Geistesgeschichte blieben, die sich vielmehr an frühe Aussagen hielt, die einen auf Analogiebildung beruhenden Verstehensbegriff nahelegen (vgl. Rusterholz 2008a, 117, 119f.).

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„Nachfühlen fremder Seelenzustände“349 fasst, betont er, bezogen auf Schleiermachers Hermeneutik, einseitig das divinatorische Element im Verstehensprozess. Hierdurch erhält seine Hermeneutik eine gewisse methodische Unschärfe. Trotz dieser Vagheit übernahm die Geistesgeschichte Diltheys divinatorische Methode und wandte sie auf die Literaturgeschichte an. Dichtung galt ihr neben Theologie und Philosophie als eine der hauptsächlichen Manifestationsformen des Geistes. Dieser wurde als prinzipiell einfacher und einheitlicher gedacht, wenngleich er zu verschiedenen Zeiten in je unterschiedlicher Weise die ewigen Fragen der conditio humana beleuchte. Entsprechend wurde das Ziel geistesgeschichtlicher Literaturbetrachtung vor allem in der (einfühlend-verstehenden) Erkenntnis des Zeitgeistes der jeweiligen Ursprungsepoche eines Textes gesehen. Mit der Geistesgeschichte kehrte die Literaturgeschichte somit in veränderter Gestalt zur „diagnostischen Historie“ des 19. Jahrhunderts (s. o. Kap. IV.1.3.3) zurück. Grundsätzlich existierten zwei verschiedene Vorgehensweisen. Einige Vertreter der Geistesgeschichte konzentrierten sich ganz auf den inhaltlichen Aspekt, den „Gehalt“ der Dichtung. Literatur wurde von ihnen untersucht auf ihren „Sinngehalt“, die „Lebensdeutung“, welche sie bietet.350 Es ging um die epochenspezifische dichterische „Weltanschauung“351, die Weise, in der die Dichter einer Epoche das Leben betrachten, was sich ausdrückt in ihren je spezifischen Haltungen zu den grundlegenden Fragen des menschlichen Daseins (Schicksal, Sittlichkeit, das Verhältnis zur Natur, Liebe, Tod etc.). Geistesgeschichte war hier konzipiert als Ideen- und Problemgeschichte. Als ebenso einschlägige wie beredte Titel seien genannt das vierbändige Werk Geist der Goethezeit (1923–1953) von Hermann August Korff (1882–1963) und Der Todesgedanke in der deutschen Dichtung vom Mittelalter bis zur Romantik (1928) von Walter Rehm (1901–1963). Andere Forscher nahmen neben dem „Gehalt“ auch die „Gestalt“ der Texte in den Blick. Die äußere Form der Texte galt den Vertretern dieser Richtung nicht als vernachlässigbares Akzidens, sondern als die je epochenspezifische „äußere Objektivation des ideellen ‚Gehaltes‘“352 und damit als wesentlicher Bestandteil der als organisches Ganzes aufgefassten Literatur. Geistesgeschichte wurde hier als Stil- bzw. Formgeschichte betrieben. Wichtige Autoren waren Fritz Strich (1882–1963) mit seiner Untersuchung Deutsche Klassik und Romantik oder Vollendung und Unendlichkeit 349 Dilthey 1990, 317. 350 Diese Ausdrücke verwendet Rudolf Unger (1876–1942) in einem Aufsatz über Programm und Methode der literaturwissenschaftlichen Geistesgeschichte (vgl. Unger 1926, 181f., 190). 351 Dilthey 2005, passim. 352 Baasner/Zens 2005, 67.

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(1922) und Oskar Walzel (1864–1944) mit seinem Handbuch Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters (1923). Auch im Dritten Reich verfuhr die Germanistik geistesgeschichtlich. Allerdings richtete sie ihren Fokus nun verstärkt auf ideologisch opportune Themen wie Volkstum, Rassenlehre und Krieg und produzierte Titel wie Hermann Pongs’ (1889–1979) Krieg als Volksschicksal im deutschen Schrifttum (1934).353

3.2 Werkimmanente Interpretation und New Criticism Vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis weit in die 1960er-Jahre hinein beherrschten mit der Werkimmanenten Interpretation im deutschsprachigen und dem New Criticism im angelsächsischen Raum zwei Richtungen die Literaturwissenschaft, die den Fokus von der Literaturgeschichte wieder auf die Interpretation einzelner Dichtwerke verschoben.354 So interessierte die Werkimmanente Interpretation statt historischer Bezüge (Positivismus) oder epochentypischer Anschauungen (Geistesgeschichte) gerade das Besondere, das ihrer Ansicht nach wahre Poesie als Kunstwerk aus der Masse der Literatur heraushebt. Da sie hierbei von der Überzeugung ausging, dass Kunst autonom, dass „das gestaltete Werk in seiner sinnlich-spirituellen Ganzheit […] ein Phänomen sui generis, nicht ein Spiegel oder Ausdruck von Kräften und Bewegungen anderer Sphären“355 ist, sollten sich literaturwissenschaftliche Untersuchungen bei dieser Suche nach dem Besonderen primär auf den Text und das sprachliche Detail konzentrieren und Kontextbezüge nur eine untergeordnete Rolle spielen. Aus diesem Geist heraus definierte Wolfgang Kayser (1906–1960), neben Emil Staiger (1908–1987) der Hauptvertreter der Werkimmanenten Interpretation, 1948 in seiner Studie Das sprachliche Kunstwerk Dichtung als „in sich geschlossenes sprachliches Gefüge“356. Aufgabe der Literaturwissenschaft „sollte demnach sein, die schaffenden sprachlichen Kräfte zu bestimmen, ihr Zusammenwirken zu verstehen und die Ganzheit des einzelnen Werkes durchsichtig zu machen“357 – kurz: die „Fügungsart“358 eines Dichtwerks zu erhellen. Kaysers laut Untertitel als „Einführung in die Literatur353 Vgl. ebd., 72–74. 354 Zu diesem Kapitel vgl. Brenner 1998, 85–95; Baasner/Zens 2005, 74–78; Allkemper/Eke 2006, 164f.; Borgmeier 2008; Köppe/Winko 2008, 39–46; Rusterholz 2008; Wenzel 2008. Auf die methodische Nähe beider Richtungen zu Russischem Formalismus und französischer explication de textes sei hier nur hingewiesen. 355 Viëtor 1945, 915. 356 Kayser 1948, 5. 357 Ebd. 358 Rusterholz 2008, 368.

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wissenschaft“ konzipiertes Lehrbuch gab hierzu zwar vielfältige methodische Hinweise, zum „hermeneutischen Manifest ‚immanenter Literaturwissenschaft‘“359 avancierte jedoch die mit „Die Kunst der Interpretation“ überschriebene Einleitung aus Emil Staigers gleichnamigem Buch von 1955. Ausgangspunkt der Interpretation ist demnach der erste, unreflektierte ästhetische Eindruck, den die Lektüre hinterlässt: „[d]as allersubjektivste Gefühl“ (12).360 Eine gewisse affektive Begabung ist also Voraussetzung der Interpretation, der Ausleger braucht „außer der wissenschaftlichen Fähigkeit ein reiches und empfängliches Herz“ (13). Allerdings ist „das lebendige Kunstwerk in seinen festen Grenzen unendlich“ (33), weshalb sich das Gefühl von Interpret zu Interpret unterscheiden kann und sich die Reihe möglicher Interpretationen ins Unendliche weitet.361 Das Gefühl selbst besteht in der Wahrnehmung des durchgängigen „Rhythmus“ (13), jenes „Geist[es], der das Ganze beseelt“ (ebd.), die Teile zur Einheit fügt und dem Werk seinen individuellen „Stil“ (14) verleiht. Aufgabe der Interpretation ist es, dieses Gefühl von Einheit und Vollkommenheit als berechtigt zu erweisen, denn anders als der bloße Kunstliebhaber zielt der Forscher darauf ab, „zu begreifen, was uns ergreift“ (10f.). Da unter „Stil“ gemäß dem implizit zugrunde gelegten klassizistischen Kunstbegriff die vollkommene Harmonie aller formalen und inhaltlichen Aspekte – vom Versbau über die Motivwahl bis hin zur Bilderfolge – begriffen wird, hat die Interpretation „nachzuweisen, wie alles im Ganzen und wie das Ganze zum Einzelnen stimmt“ (15). Der hermeneutische Zirkel, für dessen epistemologischen Grundlagencharakter sich Staiger auf Heidegger beruft,362 gilt auch in der Literaturwissenschaft. Der Interpret gelangt in ihn hinein „[i]n der Vorerkenntnis des ersten Gefühls“, und er vollendet ihn „in dem Nachweis, dass es stimmt“ (18). Das einzig probate methodische Mittel für diesen Nachweis wird in der Beschreibung des Stils gesehen, durch welche der umfassende Zusammenhang der Teile zur „Evidenz“ (19) gebracht wird. Die kausallogische Erklärung aus äußeren Faktoren wie der Dichterbiografie gilt als unbrauchbar, da sie am Eigentümlichen des (autonomen) Kunstwerks vorbeigehe, nämlich daran, dass es etwas „Schöpferisches“ ist, das, „gerade weil es schöpferisch ist, nie abgeleitet werden kann“ (10). Mit Blick auf die in ihrer Stimmigkeit bestehende Schönheit vollkommener Dichtung hält Staiger daher fest:

359 Rusterholz 2007, 155. 360 Seitenangaben nach Staiger 1955. Zur Bedeutung der Kunst der Interpretation für die aktuelle Methodendiskussion vgl. Rickes/Ladenthin/Baum 2007. 361 Vgl. Staiger 1955, 32f. 362 Vgl. ebd., 11. Zu Heidegger s. Kap. IV.3 des Beitrags „Philosophie“ in diesem Band.

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„Die Kategorie der Kausalität ist nichtig, wo makellose Schönheit als solche verstanden werden soll. Da gibt es nichts mehr zu begründen. Wirkung und Ursache fallen dahin. Statt mit ‚warum‘ und ‚deshalb‘ zu erklären, müssen wir beschreiben, beschreiben aber nicht nach Willkür, sondern in einem Zusammenhang, der ebenso unverbrüchlich und inniger ist als der einer Kausalität.“ (20)

Das heißt jedoch nicht, dass historische Bezüge methodisch ausgeklammert würden oder allenfalls in die Auslegungspraxis einflössen.363 Im Gegenteil wird die Berücksichtigung des historischen Ortes eines Werkes, aller stofflichen, sprachlichen, stilistischen und biografischen Verbindungslinien durch die Zeit, wie sie die positivistische Forschung aufzeigt, ausdrücklich gefordert, da nur vor diesem Hintergrund das Werk in seiner Besonderheit verstanden werden könne.364 Schon 1939, in der Untersuchung Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters, hatte Staiger den „Wert kulturgeschichtlicher und soziologischer Einführungen“ eben darin erblickt, dass der Ausleger durch sie „in die Lage eines zeitgenössischen Lesers versetzt“ würde.365 Wie dies allerdings schon da nur als Hinführung „bis zur Pforte des Dichterischen“ galt, hinter der „die eigentlich literaturwissenschaftliche Arbeit erst beginnt“,366 so kommt dem historischen Wissen auch in der Kunst der Interpretation nur eine heuristische, dem Verstehen dienende Funktion zu. Dennoch wird seine Rolle als eine wesentliche beschrieben, da es gleichsam den „Klang“ des Dichtwerks „durch historische Resonanzen verstärkt“ (16) und dadurch ein angemessenes Verständnis überhaupt erst ermöglicht: „Die Kunst der Interpretation beruht auf dem ausgebreiteten Wissen, das ein Jahrhundert deutscher Literaturwissenschaft erarbeitet hat. […] Je älter eine Dichtung ist, desto tiefer bleiben wir ihr verpflichtet und angewiesen auf die Erforschung der Sprache und des Lebensraumes.“ (18)

Ist der Vorwurf der Enthistorisierung der Texte somit nur bedingt zutreffend, so hat er in der methodischen Konzentration auf die Klärung der Textgestaltung, in der Behandlung der Dichtung als Gegenstand, der durch Überspringen des historischen Abstands unmittelbar zugänglich und verstehbar ist, und in der faktischen Ausklammerung der politischen und der Sozialgeschichte zugunsten der Literatur- und Kulturgeschichte

363 So etwa Allkemper/Eke 2006, 165; Borgmeier 2008, 761f. – Vgl. dagegen z. B. Rusterholz 2008, 373, 376f. 364 Vgl. Staiger 1955, 15–18, 25–28. 365 Staiger 1939, 13. 366 Ebd.

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doch eine gewisse Berechtigung.367 Hermeneutisch ist daran entscheidend, dass die Stilanalyse weder auf eine Klärung des Textsinns zielt, dessen (auch durch historisch-grammatische Forschung zu ermittelndes) Verständnis vielmehr vorausgesetzt wird, noch auf die Erhebung der Bedeutung aus einer Außenperspektive, sei diese psychologischer, ethnologischer, soziologischer, politischer oder kultureller Art.368 Stattdessen will sie das Besondere der Textgestaltung greifbar machen. Ein solcher Interpretationsbegriff aber weicht deutlich von dem der traditionellen Hermeneutik ab. Dennoch konnte die Werkimmanente Interpretation ihre Stilbeschreibungen als durchaus Sinn-erhellend verstehen. Gemäß ihrem Selbstverständnis als „Phänomenologie der Literatur“ 369 im Gefolge Husserls und Heideggers sah sie nämlich das Wesentliche in der wahrnehmbaren Gestalt der Dinge selbst liegen, im Fall der Dichtung also in ihrer Textgestalt. Zusätzlich geadelt wurde diese Auffassung durch den späten Heidegger, der Dichtung existenziell deutete – als ausgezeichnete Weise der Erschließung des „Sinns von Sein“, als „Sich-insWerk-Setzen der Wahrheit“, als Hörbarmachen des Unsagbaren. Und obgleich damit im Grunde jede hermeneutische Klärung durch eine Interpretation, die den Gehalt des Dichtwerks auf rationale Begriffe zu bringen versucht, desavouiert und der Leser auf das reine Hören der dichterischen Botschaft verpflichtet war, bot dies doch Anlass zu Interpretationen, die unter Aufgreifen des existenzialistischen Jargons den Versuch unternahmen, an die ewigen Seins-Wahrheiten großer Dichtung heranzuführen. Wie im archaischen Griechenland galt Dichtung manchen nun wieder als Künderin der Wahrheit, auch wenn diese Wahrheit nun nicht mehr den Charakter konkreten Wissens hatte.370 In Bezug auf Methodik und poetologische Prämissen bestehen große Ähnlichkeiten zwischen Werkimmanenter Interpretation und New Criticism.371 Zwar existierte dort die zusätzliche Auffassung, Dichtung komme eine moralisch-gegenwartskritische Funktion zu.372 Im Mittelpunkt stand aber auch hier die Überzeugung von der Auto367 Vgl. Brenner 1998, 92; Rusterholz 2008, 373f., 381. Gerade die dadurch eröffnete Möglichkeit zeitenthobener, da rein ästhetischer Beschäftigung mit Literatur wird denn auch gemeinhin als Hauptgrund für den Übergang zur Werkimmanenten Interpretation nach der Erfahrung einer ideologisch imprägnierten Germanistik während des Dritten Reiches angesehen (vgl. etwa Köppe/Winko 2008, 39f.). 368 Staiger 1939, 13: „Denn was den Literaturhistoriker angeht, ist das Wort des Dichters, das Wort um seiner selbst willen, nichts was irgendwo dahinter, darüber oder darunter liegt.“ 369 Ebd., 19 (dort teilw. hervorgehoben). 370 Vgl. Schlaffer 2005, 236–238. Gerade hermetische Dichter wie Friedrich Hölderlin (1770–1843), dem sich schon Heidegger selbst zugewandt hatte, boten sich für entsprechende Deutungen an (vgl. ebd., 236, Anm. 2). – Zum Vorigen vgl. Hermand 1994, 117f., 125f.; Brenner 1998, 90–92; Baasner/Zens 2005, 75f.; Rusterholz 2008, 375. 371 Vgl. hierzu Brenner 1998, 79–84; Köppe/Winko 2008, 44f.; Wenzel 2008. 372 Vgl. Brenner 1998, 81f.

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nomie der Dichtung, aus der gleichfalls die Forderung werkimmanenter Interpretation (intrinsic approach) abgeleitet wurde. Entsprechend konzentrierte sich auch im New Criticism die Auslegung auf den Text, während der historische Kontext weitgehend ausgeblendet wurde. Darüber hinaus wurden Erklärungen aus einer unterstellten Autorintention oder aus der subjektiven Wirkung des Textes auf den Leser als Fehlschlüsse (intentional bzw. affective fallacy) abgelehnt. Stattdessen sollte die ganze Aufmerksamkeit dem close reading gelten, dem „genaue[n], allen Bedeutungsnuancen und sprachlichen Effekten eines Textes nachspürende[n] Lesen“373. Insbesondere mehrdeutige Stellen (ambiguities) und Spannungen innerhalb des Textes sollten so aufgespürt werden. Das letzte Ziel blieb gleichwohl der Aufweis der Einheit in aller Disparatheit, liege sie in einem zentralen Charakter, Schauplatz oder einem leitmotivischen Thema. Festgehalten wurde dabei allerdings an der These von der Unmöglichkeit, den dichterischen Ausdruck durch Paraphrase einzuholen; Interpretationen sei es nie möglich, den Gehalt poetischer Texte vollständig zu erfassen.

4. Zwischen Erklären, Verstehen und Sinnverweigerung: Die Entwicklung seit Mitte der 1960er-Jahre Seit ca. 1965 wurde die Vorrangstellung der Werkimmanenten Interpretation in der deutschen Literaturwissenschaft – die hier weiterhin im Vordergrund stehen soll – zunehmend infrage gestellt. Der poetologischen Entwicklung folgend, in der die relative Einheit der Konzeptionen schon in den 1920er-Jahren einer Pluralität unterschiedlicher Ansätze gewichen war,374 brach eine vielstimmige und bis heute nicht abgeschlossene Theorie- und Methodendiskussion auf. Drei Hauptströmungen prägten die ersten Jahrzehnte der Debatte: 1. „Versuche der Verwissenschaftlichung“375 der Literaturwissenschaft durch den Import externer Erklärungsansätze, wodurch die Subjektivität des werkimmanenten Verstehensansatzes überwunden und der Literaturwissenschaft Objektivität und Wissenschaftlichkeit gesichert werden sollten; 2. Versuche, den Verstehensansatz der philosophischen Hermeneutik zu einer literarischen Hermeneutik, die auch eine Methodenlehre umfasst, weiterzuentwickeln; 3. die Etablierung einer anti-hermeneutischen Position, die sich gegen die Annahme wendet, Texte enthielten einen einheitlichen, kohärenten Sinn. Daneben erlangte 4. auch der schon länger bekannte psychoanalytische Ansatz weitere Verbreitung.

373 Wenzel 2008, 536. 374 Vgl. Jung 2007, 213. Zu den wichtigsten Positionen im 20. Jahrhundert vgl. ebd., 213–276. 375 Baasner/Zens 2005, 90 (Überschrift).

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4.1 Die Verwissenschaftlichung der Literaturwissenschaft (scientific turn) Den Kriterien der Objektivität und Wissenschaftlichkeit genügende Methoden fand die Literaturwissenschaft vor allem in der Linguistik und in den Sozialwissenschaften.376 Von der Linguistik übernahm sie im Zuge des sogenannten linguistic turn das Konzept des Strukturalismus, das eine streng formale Literaturbetrachtung ermöglichte, indem es Texte als strukturierte Zeichensysteme zu sehen lehrte, die über die Anordnung der Zeichen Bedeutung erzeugen. Die strukturale Analyse zielt folglich nicht auf Feststellung der Bedeutung eines Textes, sondern auf die Auffindung der Regeln, nach denen er Bedeutung konstruiert, nach denen er „funktioniert“ (Roland Barthes).377 Zwar scheiterte der Versuch, ein spezifisch literarisches Strukturprinzip zu bestimmen, das nur poetischen Texten eigen ist und sie grundsätzlich von sonstigen Texten unterscheidet, dafür gelang es aber, strukturelle Besonderheiten einzelner Texte und Gattungen aufzuzeigen. Und auch wenn sich kein prinzipieller Strukturunterschied zwischen dichterischer und normaler Sprache feststellen ließ, wurde ein wichtiges Merkmal poetischer Texte darin entdeckt, dass sie „sekundäre semiotische Systeme [sind], die […] mit den Mitteln einer primären (natürlichen) Sprache und nach deren Konstruktionsprinzipien eigene Bedeutungen aufbauen“378, dass sie sich also gängiger Vokabeln und Sprachregeln bedienen, sie aber in einem durch die Dichtung geschaffenen neuen Bezugsrahmen verwenden, wodurch sich neue Bedeutungen ergeben. Der andere wichtige Methodenlieferant waren die Sozialwissenschaften. Ihre auf die Funktionsweise sozialer Systeme gerichtete Perspektive lenkte die Aufmerksamkeit vom Text weg auf seinen gesellschaftlichen Kontext. Gefragt wurde nun nach der gesellschaftlichen Funktion von Literatur und nach den gesellschaftlichen Faktoren, die sie in Form und Inhalt beeinflussen, nach den Weisen des Umgangs mit Literatur also, nach sozialen Themen und nach den gesellschaftlichen Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen. Literatur fungiert bei diesem Zugang als immer schon verstandene Quelle, für deren Inhalte und Formen Erklärungen aus dem gesellschaftlichen Kontext gesucht werden (wenngleich für gewöhnlich keine kausale Ableitung stattfindet, so dass der Literatur ein gewisses Maß an Unabhängigkeit zugestanden bleibt). Als wichtigste 376 Die folgende Darstellung basiert auf den Überblicken bei Baasner/Zens 2005, 79–88, 115–127, 191– 216, 222–236; Allkemper/Eke 2006, 165–169; Köppe/Winko 2008, 47–63, 149–200. S. ferner die betreffenden Passagen in Arnold/Detering 2008. 377 Das ganze Barthes-Zitat bei Geisenhanslüke 2010, 82. 378 Köppe/Winko 2008, 50.

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Richtungen seien genannt: 1. die marxistische Literaturtheorie, nach welcher Literatur Teil des ideologischen „Überbaus“ ist und die materielle „Basis“, die vor allem von der Ökonomie bestimmten gesellschaftlichen Verhältnisse, mehr oder weniger verzerrt widerspiegelt; 2. die Ideologiekritik, die mit dem Marxismus die Basis-ÜberbauTheorie teilt, Literatur aber weniger als Widerspiegelung denn als Verschleierung der wahren Verhältnisse betrachtet und ihr umgekehrt auch eine emanzipatorische Wirkung zutraut; die Kritik richtet sich auf den ideologischen Standpunkt, den Literatur in Bezug auf die sozialen Verhältnisse ihrer Zeit einnimmt, wobei der Kritiker seinen eigenen Standpunkt dezidiert offenlegt; 3. die Sozialgeschichte der Literatur oder Literatursoziologie, welche ihrer Untersuchung kein streng marxistisches Modell zugrunde legt und Literatur mit soziologischen Methoden vor allem unter dem Aspekt des sozialen Kommunikationshandelns untersucht; 4. die Systemtheorie der Literatur nach Niklas Luhmann (1927–1998), mit welcher die literaturhistorische Entwicklung in ihrem komplexen Wechselverhältnis zur Gesellschaft beschrieben werden soll; 5. die Theorie des literarischen Feldes nach Pierre Bourdieu (1930–2002), nach welcher die soziale Funktion von Literatur auf Rezipientenseite darin besteht, über die zu ihrem Verständnis notwendige Kompetenz – das erforderliche „kulturelle Kapital“ – soziale Distinktion zu befördern und zu festigen, während es auf Produzentenseite darum geht, sich innerhalb des von verschiedenen internen wie externen Machtfaktoren beeinflussten literarischen Feldes eine möglichst vorteilhafte Position zu verschaffen. Vom sozialwissenschaftlichen Ansatz führt über die empirisch-statistischen Methoden der Soziologie ein Weg hinüber in die Empirische Literaturwissenschaft, welche mit erfahrungswissenschaftlichen Methoden die realen Verhaltensweisen vor allem der Leser erforscht.379 Über den literarischen Charakter von Texten entscheiden nach diesem Zugang nicht bestimmte Textmerkmale, sondern die soziale Praxis des Umgangs mit ihnen, weshalb die Erforschung der diesbezüglichen Konventionen ein wichtiges Aufgabenfeld darstellt. Im Zentrum stehen jedoch Experimente, in denen literaturwissenschaftliche Annahmen empirisch überprüft und gegebenenfalls modifiziert werden. Untersucht werden etwa die Wirkung von Literatur auf das Überzeugungssystem der Leser oder der Einfluss des Bildungsgrades auf die einem Text zugeschriebene Bedeutung. Den Texten selbst wird dabei kein allzu großes Gewicht für die Bedeutungskonsti379 Vgl. dazu Baasner/Zens 2005, 188f., 216–221; Köppe/Winko 2008, 293–300. – Von der Empirischen Literaturwissenschaft zu unterscheiden ist die vor allem im angelsächsischen Raum verbreitete kognitionswissenschaftliche Literaturwissenschaft, die nicht selbst empirisch arbeitet, sondern auf Basis rezeptionspsychologischer Ergebnisse theoretische Modelle hinsichtlich des Zusammenhangs von Struktur und Wirkung literarischer Texte entwirft (vgl. dazu ebd., 300–312).

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tution zugemessen. Nach dem Ansatz des Radikalen Konstruktivismus, wie ihn Siegfried J. Schmidt (*1940) vertritt, beruhen die Inhalte menschlicher Erkenntnis allein auf der Konstruktionsleistung des Gehirns. Texte bergen folglich keine eigentlichen Informationen, sondern bieten lediglich Stimuli für die Hirntätigkeit, deren Ergebnisse unterschiedlich ausfallen können. Diese Grundüberzeugung liegt auch dem rezeptionspsychologischen Ansatz von Norbert Groeben (*1944) zugrunde, allerdings hält Groeben anders als Schmidt den Einfluss der objektiven Textmerkmale auf die Rezeption für erforschbar. Neben dem Rückgriff auf Linguistik, Soziologie und Erfahrungswissenschaften wurde auf einer übergeordneten, ansatzübergreifenden Ebene eine Verwissenschaftlichung der Literaturwissenschaft zu erreichen versucht durch Anschluss an die analytische Philosophie und Wissenschaftstheorie.380 Von diesen wurden nicht nur Verfahren und Kriterien zur Bildung und Überprüfung einer möglichst klaren Begrifflichkeit und möglichst stichhaltigen Argumentation übernommen, sie gaben der Literaturwissenschaft auch Kriterien für die Bildung und Validierung von Interpretationshypothesen an die Hand. Die wichtigsten Kriterien stellen Korrektheit, Plausibilität (Übereinstimmung mit dem Text), Widerspruchsfreiheit, Umfassendheit, historische Stimmigkeit (Vermeidung von Anachronismen) und Einfachheit der Thesen dar. An diesen Kriterien sollte sich auch die Debatte um eine literarische Hermeneutik orientieren.

4.2 Literarische Hermeneutik Ausgangs- und zentraler Bezugspunkt der literaturhermeneutischen Diskussion war Hans-Georg Gadamers (1900–2002) Buch Wahrheit und Methode, dessen erste Ausgabe 1960 erschien.381 Gadamers Gegenstand ist die philosophische Hermeneutik, doch spielt die Kunst bei ihm eine wichtige Rolle. Kunstwerke bergen für ihn eine eigene Wahrheit, deren Erkenntnis nicht Wissen, sondern (Selbst-)Bildung bedeutet. Daher ist ihre Wahrheit auch nicht mit der zwischen Subjekt und Objekt Distanz schaffenden Methodik der Naturwissenschaften zu erheben, sondern durch aneignendes Verstehen. Alles Verstehen aber ist historisch fundiert, da sowohl Subjekt als auch Objekt der Erkenntnis nicht aus dem sie beide umfangenden Geschichtszusammenhang heraus380 Vgl. hierzu ebd., 141f., 275–292. 381 Hier verwendet wird die 6. Auflage: Gadamer 1990. Hierauf beziehen sich auch die folgenden Seitenangaben im Text. – Zu Gadamers Gesamtkonzept vgl. Kap. IV.5 des Beitrags „Philosophie“ in diesem Band. Zum Folgenden vgl. ferner Brenner 1998, 59–64; Rusterholz 2008a, 125–131; Grondin 2009, 50–67.

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treten können. Also historisiert Gadamer den hermeneutischen Zirkel und beschreibt das Verstehen als „Horizontverschmelzung“ (312): Verstehen vollzieht sich demnach als übersetzende Hereinholung des historischen Sinnhorizonts des Kunstwerks in den Sinnhorizont der Gegenwart, bei welcher der Verstehende einerseits stets von seinen (legitimen wie illegitimen) Vorurteilen ausgehen muss, die andererseits aber ebenso wie seine Fragestellungen immer schon durch die Wirkungsgeschichte des zu verstehenden Werkes selbst vorgeprägt sind.382 Verstehen ist damit weniger „Handlung der Subjektivität […] als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen“ (295). Wird dabei der Zeitenabstand zwischen Text und Ausleger nicht bedacht, geschieht die Horizontverschmelzung als unbewusste, naive Aneignung der Überlieferung. Erst die wissenschaftliche Interpretation macht die im Verstehen sich ereignende Bildung eines neuen Gegenwartshorizonts, der den historischen wie den bisherigen aktuellen Horizont umfasst und zu einem neuen verschmilzt, als „Abhebung“ (310) bewusst. Der historische Horizont erscheint somit als eine Konstruktionsleistung aus der Perspektive des verstehenden Subjekts, die im Zuge der Produktion eines neuen Gegenwartshorizonts entsteht und auch gleich wieder verschwindet. Einen für sich selbst bestehenden historischen Sinn gibt es für Gadamer daher nicht. Der Sinn kommt nur in den Worten der aktualisierenden Auslegung zur Sprache, die ferner, da sie Geltung beansprucht, nicht nur Auslegung, sondern immer zugleich auch Anwendung, Applikation, ist. Nun ist der Verstehensprozess als geschichtlicher unabschließbar. Jede Zeit muss sich ihre Überlieferung neu aneignen, sie neu verstehen, ihr eine neue Bedeutung geben. Ausgenommen davon ist nur das „Klassische“ (292), das Gadamer mit Hegel als „das sich selbst Bedeutende und damit auch sich selber Deutende“ (294) bestimmt. Aufgrund seiner Identität mit sich selbst kann es sich jeder Zeit in gleicher Weise mitteilen und ist daher von überzeitlicher Bedeutung. Seine Hermeneutik entwickelt Gadamer vielfach am Beispiel der Textauslegung. 383 Bei dieser findet der hermeneutische Zirkel seine Grundlage darin, dass der Ausleger dem Text von vornherein in einem „Vorgriff der Vollkommenheit“ (299) einen einheitlichen und kohärenten Sinn unterstellt. Beim Lesen legt er sich dann einen ersten Entwurf dieses Sinns zurecht, bei dem er nicht anders als von seinen mitgebrachten Vorurteilen, seinen „Vor-Meinungen“ (272), ausgehen kann. Im Fortgang des Lesens gleicht er seinen Sinnentwurf permanent mit dem Text ab und korrigiert ihn, falls nötig. Der Interpret ist somit Teil des hermeneutischen Zirkels, und die Interpretation vollzieht sich als Gespräch des Auslegers mit dem Text. Zwar kommt dem Text als Korrektiv dabei ein 382 Zum Zusammenhang vgl. Gadamer 1990, 270–329. 383 Vgl. hierzu auch Köppe/Winko 2008, 25–27.

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gewisses Eigengewicht zu, ein vom historischen Standpunkt des Interpreten unabhängiger, objektiver Sinn kann aber nicht erhoben werden. Vielmehr lässt sich der Textsinn nur in der aktualisierenden Deutung des Interpreten ausdrücken. In dieser Ineinssetzung von Verstehen, Auslegung und Applikation gründet denn auch der immer wieder gegen Gadamer erhobene Vorwurf, seine Hermeneutik verlege den Sinn ganz ins erkennende Subjekt und legitimiere damit willkürliche ideologische Deutungen.384 Schon früh wurde gegen diesen vermeintlichen Subjektivismus Gadamers die ältere objektivistische Position verteidigt, wonach Texte einen objektiven Sinn haben, der sich von ihrer Bedeutung für die jeweilige Gegenwart unterscheidet und unabhängig davon auch festgestellt werden kann, zumindest näherungsweise. Nach Emilio Betti (1890–1968) und Eric Donald Hirsch (*1928), den Hauptvertretern dieser gemeinhin als „Neohermeneutik“ bezeichneten Richtung, liegt dieser Sinn in der ursprünglichen Aussageabsicht des Autors. Beide berufen sich insbesondere auf Schleiermacher und gestalten ihre Konzeptionen als auf Rekonstruktion des historischen Sinns zielende Umkehrungshermeneutiken. Betti richtet den Fokus streng auf den Text.385 Texte betrachtet er als „Objektivationen des Geistes“, als „sinnhaltige[.] Formen“, in deren Strukturen der Autor den Sinn eingeschrieben hat.386 Aus ihrem Zusammenhang soll daher auf den Geist des Autors als jener inneren Einheit des Ganzen geschlossen werden, aus der sie hervorgingen, um daraus den Schaffensprozess und damit den intendierten Sinn zu rekonstruieren. Gemeint ist damit nicht das einfühlende Nacherleben des Produktionsprozesses, sondern das selbständige Nachbilden der fremden Gedanken durch den Interpreten. Zwar teilt Betti mit Gadamer die Ansicht, dass der Ausleger hierbei seine Subjektivität nicht ausblenden kann, doch hält er daran fest, dass der Sinn in seiner Fremdheit und Eigenständigkeit gewahrt werden kann. Zur Sicherung dieses Anspruchs gibt er vier methodische Regeln („Kanons“) an, die aber lediglich die Forderung unvoreingenommener Auslegung aufstellen, ohne Kriterien zur Überprüfung ihrer Einhaltung zu nennen, wodurch sich erst richtige von falschen Interpretationen unterscheiden ließen. Nach Hirsch besteht dieses Unterscheidungskriterium in der Wahrscheinlichkeit der Auslegungen.387 Kriterien der Wahrscheinlichkeit wiederum sind die Möglichkeit des behaupteten Textsinns im Rahmen der zeitgenössischen Sprachnormen, das Harmonieren der Deutung sowohl mit allen Einzelstellen als auch mit den Konventionen 384 So etwa neuerdings wieder Tepe 2007, Ergänzung 195. 385 Das Folgende nach Betti 1967, bes. 179–187, 216–233. Vgl. dazu Brenner 1998, 117–119; Grondin 2012, 174–178. 386 Betti 1967, 181. 387 Hierzu und zum Folgenden vgl. Hirsch 1972, bes. 7–14, 263–300.

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der Textgattung, insbesondere aber die innere Stimmigkeit (Plausibilität, Kohärenz) der Interpretation. Sie ist das entscheidende Kriterium. Allerdings lässt sich darüber nicht allein auf Textebene entscheiden. Hier bewegt sich die Deutung nämlich im hermeneutischen Zirkel zwischen ahnungsvoll ratender Bildung von Sinnhypothesen und ihrem Abgleich am Text. Auch durch Hinzuziehung historischer Kontexte wie Sprachgebrauch und Gattungsnormen lässt sich nur das Deutungsspektrum verengen, indem ein Sinnhorizont umrissen wird, der bestimmte Sinnhypothesen ausschließt. Die unterschiedliche Akzentuierung einzelner Sinnelemente innerhalb der Textstruktur macht auf dieser Ebene aber immer noch eine Vielzahl von Deutungen möglich. Eben darum muss nach Hirsch auf die Aussageabsicht des Autors rekurriert werden, da nur so ein außerhalb des hermeneutischen Zirkels liegendes Kriterium zur Plausibilitätsprüfung gewonnen werden kann. Durch die Autorintention werde der Sinnhorizont des Textes eindeutig bestimmt (was freilich nicht ausschließe, dass einzelne Elemente des Textsinns mehrdeutig sind, vielmehr seien sie dann in dieser ihrer Vagheit bestimmt und dürften nicht einseitig in die eine oder andere Richtung ausgelegt werden). Zwar könne über die Autorintention keine Gewissheit erlangt werden, wohl aber könnten Annahmen mit größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit getroffen werden. Hierfür sei die Geisteshaltung des Autors zu rekonstruieren. Am besten geschieht dies mittels historischer Dokumente. Wo diese wie bei anonymen Texten (z. B. Märchen) fehlen, muss man sie erraten, wobei zeittypische Auffassungen Orientierung geben können. Von der so begründeten Wahrscheinlichkeit einer Auslegung hängt ab, ob sie sich gegen andere durchsetzt. Entschieden wird dies allein anhand der genannten Kriterien, eine über diese „Logik der Geltungsprüfung“ hinausgehende „Methodologie der Auslegung“, die jederzeit zu sicheren Ergebnissen führt, hält Hirsch wegen der vielen Unsicherheiten im Prozess der Hypothesenbildung hingegen für nicht erreichbar.388 Trotz dieses eingeschränkten Anspruchs ging Hirsch mit seinen methodischen Erwägungen deutlich über Gadamer hinaus. Dieser hatte bewusst kein „System von Kunstregeln“ geben wollen, weder zur Bildung noch zur Verifizierung von Deutungshypothesen, sondern einzig eine philosophische Analyse des Verstehensvorgangs.389 So blieb es auch auf nicht-objektivistischer Seite nicht aus, dass man sich darum bemühte, die Hermeneutik methodologisch zu unterfüttern und dadurch für die Textinterpretation fruchtbar zu machen. Entsprechende Versuche stammen von Peter Szondi (1929–1971), Manfred Frank (*1945) und Uwe Japp (*1948). Angestrebt 388 Vgl. ebd., 252–262 (Zitate ebd., 261). 389 Vgl. Gadamer 1993, 438 (Zitat ebd.).

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wurde eine Verbindung mit dem Strukturalismus, um so den „strukturalistischhermeneutische[n] Methodenkonflikt“390 zwischen Erklären/Beschreiben und Sinnverstehen zu beheben. Auf eine solche Synthese drangen vor allem diejenigen, die wie Szondi und Japp an der Entwicklung einer literarischen Hermeneutik arbeiteten, mit der sich auch moderne und avantgardistische Literatur391 adäquat behandeln lassen. Denn wo, wie in der hermetischen und selbstbezüglichen Lyrik Stéphane Mallarmés (1842–1898), Stefan Georges (1868–1933) oder Paul Celans (1920–1970), Sprache nicht primär als Sinnträger dient, sondern die Sprache als Sprache zur Geltung gebracht werden soll, geht es weniger um inhaltliches Verstehen als vielmehr darum, die Funktionsweise der Sprache zu erklären. Anknüpfungspunkt der verschiedenen Entwürfe war, wenn auch in je unterschiedlicher Weise, Schleiermacher, dessen doppeltes Verfahren von grammatischer und psychologischer Auslegung sich für die geplante Zusammenführung anzubieten schien. Für Szondi ist dabei essenziell, dass die zu entwickelnde literarische Hermeneutik „den ästhetischen Charakter der auszulegenden Texte nicht erst in einer Würdigung, die auf die Auslegung folgt, berücksichtigt, sondern zur Prämisse der Auslegung selbst macht“392. Aus diesem Grund müsse das hermeneutische Instrumentarium im Lichte des gegenwärtigen Dichtungsverständnisses revidiert werden. Dies ist für Szondi die Konsequenz aus Gadamers Lehre von der Standortgebundenheit des Verstehens.393 Szondis kritische Sichtung der Tradition wendet sich den Hermeneutiken von Johann Martin Chladenius, Georg Friedrich Meier, Friedrich Ast und Schleiermacher zu.394 Das Dichtungsverständnis, das ihm dabei als Maßstab dient, ähnelt dem seines Lehrers Emil Staiger, indem es vor allem die Absolutheit der Dichtung betont und die Interpretation dazu anweist, „das Kunstwerk als Kunstwerk zu begreifen“395. Zwar solle auch die Geschichtlichkeit des Werks berücksichtigt werden, zu untersuchen sei jedoch nur „die Geschichte im Kunstwerk“, nicht, wie in der Literaturgeschichte, „das Kunstwerk in der Geschichte“.396 In der Auslegung ist also, wie aus Szondis eigener Praxis hervorgeht, die historische Bedingtheit der ästhetischen Formen aufzuzeigen.397 390 Frank 1977, 11. 391 S. dazu Jung 2007, 171f., 189–212. 392 Szondi 1975, 13. Zu Szondi vgl. insbes. Altenhofer 1979, ferner: Brenner 1998, 95–97; Simons 2009, 45–48. 393 Vgl. Szondi 1975, 13f. 394 Vgl. ebd., 27–191. 395 Szondi 1967, 21 (Hervorhebung ebd.). 396 Ebd., 20. 397 Vgl. Brenner 1998, 96.

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Die Hermeneutiken von Chladenius und Meier erachtet Szondi trotz manch guter Ansätze im Einzelnen als weithin unbrauchbar für die Gegenwart. Ein wichtiger Grund ist, dass sie Sprache allein als Repräsentation der Wirklichkeit ansehen, weshalb ihre Auslegungsregeln nur auf Erkenntnis der bezeichneten Sachen zielen. Bei Ast erkennt Szondi den Übergang zu einer modernen Hermeneutik, die sich um die Entfaltung des Sinns durch den Nachvollzug der Textgenese bemüht. Sein Hauptinteresse gilt aber Schleiermacher, speziell dessen grammatischer und technischer Interpretation. In ihnen sieht Szondi wesentliche Einsichten des Strukturalismus vorweggenommen und den Grund gelegt für „eine Stilkritik und eine Formanalyse, die sowohl die Individualität als auch die Geschichtlichkeit der Erscheinungen zu erkennen erlauben“398. Die psychologische Interpretation im engeren Sinne, das intuitive inhaltliche Verstehen, vernachlässigt er hingegen, da er es mehr der gesprochenen Sprache zuordnet.399 Das Verhältnis zwischen beiden Auslegungsweisen bleibt somit theoretisch unklar. Eine Klärung versuchte Manfred Frank. Allerdings bestimmte er das Verhältnis, nun gewendet auf Strukturalismus und existenziale Hermeneutik, im Unterschied zu Schleiermacher nicht als ein dialektisches, sondern hierarchisch:400 Während die strukturale Analyse nur die in einem Text angewendeten allgemeinen Sprachregeln entschlüsseln kann, bedarf es des intuitiven Verfahrens der Hermeneutik, um auch den je besonderen Sinn zu verstehen, der mit ihrer Hilfe ausgedrückt werden soll und der sich im individuellen Stil eines Werkes niederschlägt. Das psychologische Verstehen ist dem grammatischen Entschlüsseln folglich übergeordnet. Eine analoge Hierarchisierung nimmt Frank auch innerhalb der psychologischen Interpretation selbst vor, indem er die unbegrifflich verfahrende Divination der notwendig begrifflich operierenden Komparation vorordnet. Mit Gadamer verbindet Frank, dass auch er das Verstehen als produktiven Akt ansieht, bei dem der Interpret den divinatorisch erratenen Sinn je neu in seiner eigenen Sprache hervorbringt.401 Denn das Individuelle entzieht sich nach Frank jeder begrifflichen Bestimmung. Es ist radikale „Singularität“402, die nicht aus einem übergeordneten Allgemeinen abgeleitet werden kann. Im Text als dem „individuelle[n] Allgemeine[n]“, wie Frank mit einem Begriff seines Kronzeugen Jean-Paul Sartre 398 Szondi 1975, 168. 399 Vgl. Altenhofer 1979, 177, 184. 400 Vgl. Danneberg/Müller 1984, 201–210. – Zum Folgenden vgl. ferner Frank 1977, bes. 262–364, sowie Frank 1979. 401 Vgl. Frank 1977, bes. 351–358. 402 Ebd., 327 et passim.

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(1905–1980) sagt, ist der Stil somit das „irreduzibel Nicht-Allgemeine“.403 Aus diesem Grund kann nicht nur keine Methodologie angegeben werden, mittels derer der Sinn nach festen Regeln (re-)konstruierbar wäre, er ist auch nie gleichsinnig in einem anderen Sprachsystem reproduzierbar. Der Ausleger kann den Sinn nur im Ausgang vom Text unter den Bedingungen seiner eigenen Sprache je neu schöpferisch zu erzeugen versuchen. Hieraus resultiert die unendliche Bedeutungsfülle der Texte. Eine Franks „divinatorischer Hermeneutik“ (Danneberg/Müller) in mancher Hinsicht ähnliche Konzeption ist Uwe Japps „Hermeneutik der Entfaltung“404. Anders als Frank sieht Japp die Mehrdeutigkeit (Polysemie) der Texte aber nicht in der Singularität ihres Stils begründet, sondern in der prinzipiellen Vieldeutigkeit der Sprache, die sowohl synchron – aus sprachökonomischen Gründen – auf Wort- und Satzebene als auch diachron – aufgrund sich ändernder Sinnhorizonte – auf Werkebene gegeben sei. Diese Bedeutungsvielfalt müsse entfaltet werden und dürfe nicht wie bei Betti und Hirsch mit ihrer objektivistischen „Hermeneutik der Reduktion“ auf einen einzigen Sinn, die historische Autorintention, reduziert werden.405 Um bei der Entfaltung der Vieldeutigkeit allerdings ein Ausufern ins Sinnlose zu verhindern, müssen Interpretationen die Kriterien der Sinneinheit (Kohärenz) und Widerspruchsfreiheit (Konsistenz) erfüllen und sich gegen konkurrierende Deutungen durchsetzen können.406 Die Mehrdeutigkeit auf Textebene soll mittels strukturaler Analyse entfaltet werden. Auf diachroner Bedeutungsebene, d. h. hinsichtlich der textexternen Bezüge, soll dies durch traditionelle hermeneutische Interpretation geschehen, die durch ratende Hypothesenbildung vom Text zu immer höheren Erklärungsebenen (Werk, Gesamtwerk, Epoche, Geschichte, Welt) aufsteigt und von dort aus argumentierend zum Text zurückkehrt.407 Das Verhältnis beider Auslegungsweisen bestimmt sich nach dem auszulegenden Text: Je moderner und hermetischer die Literatur ist, desto stärker ist das Moment der synchronen formalen Beschreibung zu betonen, bis hin zum Extrem der fast vollständig in syntaktischen, lexikalischen und phonetischen Analysen aufgehenden „Lektüre“, die vorrangig die Beziehungen der Wörter untereinander untersucht, alle Vieldeutigkeiten stehen lässt und erst ganz am Schluss so etwas wie eine

403 Frank 1979, 64, 74. 404 Japp 1977, 10 (dort kursiv) et passim. Zu Japp vgl. Danneberg/Müller 1984, 210–217. 405 Begründet wird dies damit, dass die Autorintention prinzipiell unzugänglich sei und sich deshalb die Polysemie auf Textebene nicht auflösen lasse; allenfalls sei eine abstrakte Sinnaussage formulierbar, die wegen ihrer zu großen Komplexitätsreduktion die Mehrdeutigkeit im Einzelnen aber nur überdecke statt auflöse (vgl. Japp 1977, 54–57). 406 Vgl. ebd., 65–75. 407 Vgl. ebd., 75–84, 105–117.

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Bedeutung anzugeben versucht.408 Hier rekurriert Japp unter anderem auf Szondi, der in seinen Celan-Studien (1972) die Lektüre allerdings strenger von der sinnverstehenden Interpretation zu trennen scheint.409 Der Begriff der „Lektüre“ verweist auf den Leser. Dieser hatte bisher von allen Teilen der an der literarischen Kommunikation beteiligten Trias Autor – Text – Leser in der Hermeneutik am wenigsten Beachtung gefunden. Mit der im Wesentlichen von Hans Robert Jauß (1921–1997) und Wolfgang Iser (1926–2007) entwickelten Rezeptionsästhetik trat Ende der 1960er-Jahre dann aber ein neuer Ansatz auf, der dem Rezipienten eine entscheidende Rolle im Verstehensprozess zuerkannte.410 In der Auseinandersetzung zwischen Subjektivismus und Objektivismus fand die Rezeptionsästhetik so zu einer mittleren Position. Jauß untersuchte vor allem die historische Dimension der Textrezeption und entwarf unter Rückgriff auf zentrale Gedanken Gadamers ein gewöhnlich als „Rezeptionsgeschichte“ bezeichnetes Konzept. Nach diesem basiert die ästhetische Beurteilung von Literatur auf dem jeweiligen zeitgenössischen „Erwartungshorizont“ (175).411 Er ist gebildet „aus dem Vorverständnis der Gattung, aus der Form und Thematik zuvor bekannter Werke und aus dem Gegensatz von poetischer und praktischer Sprache“ (173f.). Von dem Erwartungshorizont hebt sich jedes neue Werk durch den von ihm entworfenen Werkhorizont mehr oder minder stark ab („ästhetische Distanz“ [177]). Im Akt der Rezeption durch den Leser erfolgt sodann die Verschmelzung von Erwartungs- und Werkhorizont, wodurch ein neuer Erwartungshorizont produziert und ein „Horizontwandel“ (178) herbeigeführt wird. Dadurch sieht sich jedes Werk immer neuen Erwartungshorizonten ausgesetzt, weshalb es immer neu interpretiert werden muss. „Das literarische Werk ist kein für sich bestehendes Objekt, […] kein Monument, das monologisch sein zeitloses Wesen offenbart.“ (171f.) Erscheint Literaturgeschichte damit als die kontinuierliche Ablösung verschiedener Erwartungshorizonte, so der von Gadamer als Wirkungsgeschichte bezeichnete Wandel der Deutungen als „sukzessive Entfaltung eines im Werk angelegten, in seinen historischen Rezeptionsstufen aktualisierten Sinnpotentials“ (186). Im Unterschied zu Jauß galt Isers Hauptaugenmerk nicht der Geschichte, sondern dem „Akt des Lesens“ (so der Titel seines Hauptwerks von 1976) und hierbei besonders 408 Vgl. ebd., 117–128. 409 Vgl. Althenhofer, 191f. 410 Vgl. hierzu und zum Folgenden Brenner 1998, 101–113; Baasner/Zens 2005, 179–185; Allkemper/Eke 2006, 169f.; Rusterholz 2008a, 131–133; Geisenhanslüke 2010, 60–62. Auf die auch gesellschaftskritische Funktion, welche die Rezeptionsästhetik der Literatur zumisst, sei hier nur hingewiesen (vgl. dazu Brenner 1998, 110–113; Simons 2009, 43–45). 411 Seitenangaben nach Jauß 1979.

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der Steuerung des Verstehens durch den Text, dessen Wirkungsstruktur Iser unter dem Begriff und Werktitel Der implizite Leser (1972) fasste.412 Nach seiner „Theorie ästhetischer Wirkung“ (dies der Untertitel von Der Akt des Lesens) enthalten literarische Texte neben „Negationen“ – evozierten und dann negierten Positionen – insbesondere „Leerstellen“ – nicht explizit gemachte Zusammenhänge zwischen Sinnelementen – und „Unbestimmtheitsstellen“ – schematische Darstellungen, die Dinge nicht unter allen, sondern nur unter bestimmten Aspekten darstellen.413 Gerade Leerstellen, deren Arrangement den „Textstrategien“414 des Autors folgt, fordern den Leser heraus, sie in seiner Vorstellung durch Sinnhypothesen aufzufüllen; hierin liegt die „Appellstruktur“ 415 der Texte. Die Bedeutungen eines Textes sind folglich keine festen und rekonstruierbaren Substanzen, sondern vom Leser generierte Produkte, wobei er gleichwohl nicht willkürlich verfahren kann, sondern den Vorgaben des Textes folgen muss. Zwar kann aus Isers Ausführungen eine Methodologie der Textauslegung erschlossen werden,416 selbst entwickelt hat er sie aber nicht. Berücksichtigung fanden seine impliziten methodischen Grundsätze jedoch in Jauß’ Interpretation eines BaudelaireGedichts, anhand derer er den methodischen Dreischritt expliziert, den ein Ausleger seiner Ansicht nach zu vollführen hat, auch wenn diese Schritte in der Praxis meist nicht streng geschieden würden.417 Berufen kann sich Jauß auf die traditionelle Dreiteilung der Interpretation in Verstehen, Auslegen und Anwenden, welche Gadamer wieder bewusst gemacht habe. Der erste Schritt besteht aus einer „ersten, ästhetisch wahrnehmenden Lektüre“ (813), in der das gesamte Bedeutungspotenzial des Textes entfaltet wird. Damit soll Szondis Forderung nachgekommen werden, den ästhetischen Charakter des Textes zur Prämisse der Auslegung zu machen. Dabei richtet sich das „ästhetische Verstehen“ (816) auch auf den Wahrnehmungsprozess selbst und analysiert, wie der Text durch „Aufbau“, „Suggestion des Rhythmus“ und „allmähliche Erfüllung der Form“ (ebd.) die Wahrnehmung lenkt. Nach dem „Verstehen“ folgt als zweiter Schritt das „reflektierende Auslegen“ (815), das Konkretisieren eines bestimmten Bedeutungszusammenhangs aus dem umfassenden Sinnhorizont der ersten Lektüre. Den dritten Schritt schließlich, das „Anwenden“ (822), stellt eine „historische Lektüre“ (813) zum Zweck der „Horizontabhebung“ (822) dar. Das historische Verstehen, das von der objektivis412 413 414 415 416 417

Iser 1972; Iser 1976. Zu Iser vgl. zusätzlich zur oben genannten Literatur Richter 2008. Zu den genannten Begriffen s. Iser 1976, 257–355. S. dazu ebd., 143–174. Iser 1970, Titel. Vgl. Köppe/Winko 2008, 91f. Zum Ganzen vgl. Jauß 1982, 813–865. Vgl. dazu auch Köppe/Winko 2008, 28.

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tischen Hermeneutik an den Anfang gestellt wird, bildet hier also den letzten Schritt. In diesem wird die Rezeptionsgeschichte des Textes rekonstruiert und der dabei eruierte ursprüngliche Erwartungshorizont der ersten Leser mit dem Gegenwartshorizont kontrastiert. Dadurch soll einer „naiven Horizontverschmelzung“ (ebd.) vorgebeugt werden, bei der „der Text der Vergangenheit den Vorurteilen und Sinnerwartungen der Gegenwart naiv angeglichen wird“ (821). Stattdessen soll es darum gehen, „in der literarischen Kommunikation mit der Vergangenheit den Horizont der eigenen Erfahrung an der Erfahrung des andern zu messen und zu erweitern“ (822). Von der Semiotik herkommend, entwickelte Umberto Eco (*1932) ein Modell der Textauslegung, das, wie er selbst bemerkte,418 dem der Rezeptionsästhetik sehr nahe kommt. So bezeichnet der Begriff der Interpretation für Eco „einen aktiven Rezeptionsprozess, in dessen Verlauf im Kunstwerk selbst angelegte Strukturen realisiert werden“419. Er begreift Interpretation als Kommunikationsprozess, in dem der Text „die Mitarbeit des Lesers als wesentliche Bedingung seiner Aktualisierung postuliert“420. Literarische Texte sind dabei auf der einen Seite durch ihre Offenheit für viele Deutungen gekennzeichnet, da sie Leerstellen und implizite Botschaften enthalten, die erschlossen werden müssen. Auf der anderen Seite sind in ihre Strukturen aber auch Strategien der Rezeptionslenkung eingeschrieben. Außerdem entwerfen sie – implizit oder explizit – über Merkmale wie Sprache, Vokabular, Stil etc. ihren jeweiligen „Modell-Leser“421, der die Gesamtheit derjenigen (Sprach-, Wissens- und Kombinations-)Kompetenzen darstellt, die für die beabsichtigte Rezeption erforderlich sind. Durch ihre formale Gestaltung bringen Texte somit zum Ausdruck, wie sie verstanden werden wollen. An dieser intentio operis muss sich nach Eco die Interpretation ausrichten, nicht wie in der objektivistischen Hermeneutik an der Autorintention (intentio auctoris) – jedenfalls nicht an der des empirischen Autors, wohingegen die aus den Daten der Textstrategie erschlossene Intention des virtuellen „Modell-Autors“ mit der intentio operis in eins fällt.422 Auch die Absicht des Lesers (intentio lectoris) kann nicht maßgeblich sein, jedenfalls nicht in der extremen Form, wie das im Dekonstruktivismus geschehe, wo die Texte „zu reinen Stimuli für ein interpretatives Sichtreibenlassen“423 würden. Allerdings lehnt Eco auch den Strukturalismus mit seiner einseitigen Fokussierung auf den Text ab. Stattdessen plädiert er (wie die Rezep418 419 420 421 422 423

Vgl. Eco 1987a, 12. Zu Eco vgl. Schalk 2000, bes. 145–192. Ebd., 193. Eco 1987, 65. Ebd., 61 (Überschrift). Vgl. Schalk 2000, 171–175. Eco 1987a, 39.

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tionsästhetik) für eine „dialektische Verbindung zwischen der intentio operis und der intentio lectoris“424. Ausgehend vom Text entwirft der Leser demnach Sinnhypothesen, die er dann am Text wieder überprüft. Wo der Leser sich nicht auf die Aussageabsicht des Textes einlässt, sondern ihn auf Basis willkürlicher Vorannahmen und Absichten liest, spricht Eco statt von Interpretation vom „Gebrauch“425 der Texte. Während sich die Interpretation die Codes, d. h. die Regelsysteme zur Erzeugung des Sinns, vom Text vorgeben lässt, werden diese beim Gebrauch von beliebig gewählten Kontexten her genommen, auch auf die Gefahr hin, den Text damit „fehlzuverstehen“426. Bei der Interpretation selbst unterscheidet Eco zwei Formen, zum einen die semantische Interpretation, die den Text naiv in eine der möglichen Bedeutungen umsetzt, zum anderen die kritische Interpretation, die die Textstruktur auf die formalen Gründe für das jeweilige Verständnis hin analysiert. Gerade literarische Texte sind mehrdeutig, bieten also viele verschiedene Möglichkeiten der semantischen Interpretation. Die kritische Interpretation soll daher zeigen, wie diese Mehrdeutigkeit formal gewährleistet wird. Die verschiedenen Interpretationen führen nach Auffassung Ecos auf ein immer besseres gemeinsames Verständnis hin, sie ergänzen sich und schließen einander nicht aus.427 Über die Qualität der einzelnen Interpretationen entscheidet dabei das Kriterium der „interne[n] Textkohärenz“428. Es besteht in der Übereinstimmung der Hypothesen und Schlussfolgerungen einer Interpretation mit dem Textganzen und dient der Kontrolle der „ansonsten unkontrollierbaren Antriebe des Lesers“429. Wie eine Synthese der bisher betrachteten Positionen mutet schließlich die Hermeneutik Paul Ricœurs (1913–2005) an.430 Wie Eco und die Rezeptionsästhetik betont sie die Eigenständigkeit des Textes gegenüber seinem Autor ebenso wie die Rolle des Lesers, wie Szondi und andere beruft sie sich auf Schleiermacher und verbindet mit Strukturalismus und Hermeneutik Erklären und Verstehen, wie Betti und Hirsch benennt sie Methoden der Textauslegung und Kriterien der Hypothesenvalidierung, wie Frank, Japp und Eco berücksichtigt sie die Vieldeutigkeit von Texten und wie Gadamer integriert sie die Applikation in den Verstehensvorgang.

424 425 426 427 428 429 430

Ebd., 45. S. Eco 1987, 72–74; Eco 1987a, 43f. Ebd., 43. Vgl. Schalk 2000, 157f. Eco 1987a, 46. Ebd. Zum Folgenden vgl. insbes. Grondin 2009, 79–96. S. ferner Kap. IV.6 des Beitrags „Philosophie“ in diesem Band.

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Grundsätzlich kennt Ricœur zwei Interpretationsformen: die „Sammlung des Sinns“431, d. i. die unkritische Aufnahme, Entfaltung und Erweiterung des dargebotenen Sinns (Verstehen), und die „Übung des Zweifels“432, das kritische Fragen nach seiner Wahrheit und seinen Grundlagen (Erklären). Beide sieht er als gleichberechtigt an, ja letztlich sind Verstehen und Erklären für ihn keine Alternativen, die sich wechselseitig ausschließen, sondern einander ergänzende Auslegungsweisen. Zu dieser Einsicht führt ihn seine Metapherntheorie.433 Nach dieser sind Metaphern nicht dadurch gekennzeichnet, dass ein Ausdruck entgegen seiner eigentlichen Bedeutung zur Bezeichnung von etwas anderem verwendet wird (Substitutionsmodell), sondern dadurch, dass die kreative Kombination von Wörtern eine neue Bedeutung erzeugt, für die es häufig gar keinen anderen Ausdruck gibt (Interaktionsmodell). Dieses Modell wendet Ricœur auch auf Texte an, da sie ihm zufolge als ausgedehnte Metaphern anzusehen sind. Eine strukturale Textanalyse soll daher erklären, durch welche Verfahren ein Text neue Bedeutungen erzeugt, während im Verstehen deren jeweiliger Gehalt erhoben und entfaltet wird. Texte sind nach Ricœur wesentlich durch Distanzierung und Dekontextualisierung gekennzeichnet.434 Aufgrund ihrer Schriftlichkeit ist ihr Sinn fixiert, vom Autor und der ursprünglichen Entstehungssituation gelöst und einem unbegrenzten Adressatenkreises zugänglich. Texte bieten folglich einen eigenen, objektiven und von der ursprünglichen Intention des Autors gelösten Sinn dar, weshalb ihr Verstehen auch nicht durch Versetzung in den Autor geleistet werden kann, sondern am Text selbst vollzogen werden muss. Das hierfür in Anschlag zu bringende Modell der Textauslegung beschreibt Ricœur in ausdrücklicher Anlehnung an Schleiermacher als „Dialektik von Erklären und Verstehen“ (102).435 Die Bewegung vom Verstehen zum Erklären stellt sich ihm dabei als Dialektik von „Erfindung und Validierung“ (104) dar: Da Texte nicht nur auf Wortund Satzebene mehrdeutig sind, sondern auch als Ganzes durch „Mehrstimmigkeit“ (ebd.) geprägt sind, insofern ihre Sätze unterschiedlich gewichtet und aufeinander bezogen werden können, sind immer verschiedene Interpretationen möglich. Alle Deutungen folgen jedoch dem aus divinatorischer Hypothesenbildung (Verstehen) und anschließender Validierung am Text (Erklären) bestehenden Muster des hermeneutischen Zirkels. Als Kriterien der Qualität einer Deutung werden ihre Wahrschein431 432 433 434 435

Ricœur 1972, 259 (Überschrift). Ebd., 263 (Überschrift). Vgl. hierzu Simons 2009, 48–51. Vgl. Rusterholz 2008a, 134f. Seitenangaben nach Ricœur 1978.

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lichkeit und ihre Durchsetzungsfähigkeit gegenüber konkurrierenden Deutungen genannt. In der umgekehrten Bewegung vom Erklären zum Verstehen ist das Modell dreistufig. Die erste Stufe besteht aus der „naiven“ bzw. „Oberflächen-Interpretation“ (112), dem einfachen semantischen Verstehen des Textsinns. Ohne diese Basis kann es kein Erklären geben, befindet Ricœur. Auf der zweiten Stufe wird dann mittels einer strukturalen Analyse die Funktionsweise des Textes, seine Kompositionslogik erklärt. Die dritte und höchste Stufe schließlich besteht aus der „kritischen“ bzw. „Tiefen-Interpretation“ (ebd.). Sie zeigt die „Tiefensemantik“ (ebd.) des Textes auf, seine nicht-ostentativen Bezüge, d. h. die von ihm entworfene Welt, seine Weltsicht. „Einen Text verstehen heißt, seiner Bewegung vom Sinn zum Bezug, von dem, was er sagt, zu dem, wovon er handelt, folgen.“ (113) Von hier empfängt der Text seinen „Aufforderungscharakter“, denn er verlangt, ihn „als Ausgangspunkt einer neuen Weltsicht zu nehmen und in einer bestimmten Weise zu denken“ (ebd.); Verstehen, so zeigt sich, erreicht sein Ziel in der „persönlichen Aneignung“ (116). Mit Ricœur endet dieser Überblick. Für ein Fazit der Bemühungen um eine literarische Hermeneutik, welches zugleich überleitet zum nächsten Kapitel, sei die rückblickende Einschätzung des erreichten Standes von Alo Allkemper und Norbert Otto Eke zitiert: „Die literarische Hermeneutik der letzten Jahrzehnte ist überzeugt, dass der Text mehr weiß als sein Autor, dass der Sinn im literarischen Werk nicht wie in einer Nussschale verborgen liegt, so dass er herausgeknackt werden muss, um ihn dann für alle Zeiten zu besitzen; der Sinn muss vielmehr wegen seiner Vieldeutigkeit immer wieder neu ausgelegt, hergestellt, entworfen werden, und der Leser als Interpret nimmt immer nur Vorläufiges wahr, das korrigiert und erweitert werden muss. Aber die literarische Hermeneutik stellt nicht grundsätzlich das Verstehen, Auslegen und Interpretieren in Frage, ebenso wenig wie den Autor als Subjekt, das Werk (wenn auch als negative) Einheit und die produktive Deutungskompetenz des Lesers.“436

4.3 Anti-Hermeneutik/Poststrukturalismus Der dargestellten Vielfalt und Differenziertheit der hermeneutischen Ansätze zum Trotz kam es in Teilen der Literaturwissenschaft zu einer Verengung des Sprachgebrauchs. Vielfach wurde (und wird) Hermeneutik mit einem Verstehensimpetus gleichgesetzt, der den Texten nicht nur einen kohärenten, einheitlichen Sinn unter436 Allkemper/Eke 2006, 158.

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stellt, sondern sie an jeder Stelle auf einen einzigen, eindeutigen Sinn festlegen will. Exemplarisch hierfür steht Susan Sontags (1933–2004) Aufsatz Gegen Interpretation aus dem Jahr 1964.437 Interpretation und Hermeneutik werden darin als synonyme Begriffe für eine allegorische Auslegungspraxis gebraucht, deren einziges Interesse dem Inhalt von Kunstwerken gilt, den sie eins zu eins in die eigene Terminologie übersetzen zu können glaubt. Statt sich von Kunst „nervös“ (13) machen zu lassen, zwinge sie ihr von außen eine Bedeutung auf, ersetze sie letztlich durch „ein Äquivalent“ (12), um sie zu „zähm[en]“ und „manipulierbar, bequem“ zu machen (13). All das lehnt Sontag ab und fordert stattdessen eine „Kritik […], in der inhaltliche Erwägungen mit formalen verschmelzen“ (18), oder jedenfalls eine präzise Beschreibung der äußeren Form. Ihr Ziel ist die Neubelebung der beim modernen Menschen degenerierten sinnlichen Wahrnehmung, der Erfahrung von Kunst als ästhetischem Phänomen, weshalb sie es für nötig hält, bei der Kritik „den Inhalt zurückzuschneiden, damit die Sache selbst zum Vorschein kommt“ (19). Radikalisiert wurde diese Kritik an der Hermeneutik durch den in Frankreich entwickelten Poststrukturalismus. Seine Vertreter bestreiten die schiere Möglichkeit einer stabilen Bedeutung von Texten und lehnen im Zeichen eines Differenzdenkens alle dem rationalistischen Identitätsdenken verpflichteten Interpretationsmodelle ab, geben sich also dezidiert anti-hermeneutisch. Neben der Dekonstruktion lassen sich insbesondere bestimmte Konzepte der Intertextualität und der Diskursanalyse dieser Richtung zuordnen.438 Die theoretischen Grundlagen der Dekonstruktion schuf der französische Philosoph Jacques Derrida (1930–2004), auf die Literaturwissenschaft übertragen hat das Konzept insbesondere der im amerikanischen Yale lehrende Belgier Paul de Man (1919–1983).439 Derrida baut auf der Einsicht des Strukturalismus auf, dass die Bedeutung sprachlicher Zeichen aus ihrer Differenz zu anderen Zeichen resultiert, geht aber über diesen hinaus, indem er den bedeutungskonstituierenden Abgrenzungsprozess als unendlich auffasst. Der Prozess kommt nach Derrida an kein Ende, da mit jeder neuen Differenzsetzung, d. h. mit jedem neuen Kontext, in dem ein Wort gebraucht wird, nicht nur seine eigene Bedeutung weiter abgegrenzt wird, sondern sich dadurch zugleich auch alle übrigen Bedeutungen verschieben. Zum Anhalten dieser steten Verschiebung bedürfte es eines „transzendentalen Signifikats“440, eines nur auf sich selbst verweisenden Zei437 Sontag 1968, 9–18. Vgl. dazu Allkemper/Eke 2006, 154–156. 438 Vgl. Köppe/Winko 2008, 97–132. 439 Zur Dekonstruktion vgl. Brenner 1998, 133–166; Köppe/Winko 2008, 113–127; Pross/Wildgruber 2008; Rusterholz 2008b, 162–170; Geisenhanslüke 2010, 90–120, bes. 97–102, 106–112. 440 Derrida 1972, 424.

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chens, das immer nur sich selbst bedeutet und dadurch der Sprache ein stabiles Zentrum verschafft. Ein solches Zentrum, das die abendländische Philosophie in Begriffen wie Existenz, Gott, Mensch o. Ä. gefunden zu haben glaubte, existiert nach Derrida jedoch nicht. Vielmehr sei von einer „Dezentrierung“441, einer „diskontinuierliche[n] Umstrukturierung“442 der Sprache im unendlichen „Spiel des Bezeichnens“443 bzw. „Spiel der Differenzen“444 auszugehen. Was ein Wort bedeutet, richtet sich weder nach der Wirklichkeit noch nach der Vorgabe eines Subjekts, sondern allein nach seiner Beziehung zu anderen Wörtern. Diese aber wird permanent neu justiert. Das daraus folgende stete Aufschieben der Bedeutung bezeichnet Derrida mit dem Kunstwort différance.445 Sie ist der Grund, warum eine Aussage nie im exakt gleichen Sinn wiederholbar ist, da sich immer schon das gesamte Sprach- und Bedeutungssystem umstrukturiert, verschoben hat. Diesen Grundgedanken Derridas folgen Literatur- und Interpretationsbegriff der Dekonstruktion. So wird, um keine falsche Sinneinheit zu suggerieren, statt vom Werk zumeist von Texten gesprochen. Texte haben wie die einzelnen Wörter keine feste Bedeutung, sondern sind dem ständigen Bedeutungswandel unterworfen, der sich durch die immer neuen Kontextualisierungen ergibt: mit jeder neuen Relation der Differenz, die durch neue (Kon-)Texte entsteht, verändert sich der Sinn eines Textes. Der (Kon-)Textbegriff ist dabei stark erweitert und umfasst letztlich den gesamten kulturellen Raum.446 Auch der Autor kann den Sinn nicht festschreiben, weshalb er für die Auslegung kaum von Gewicht ist. Da nach der Bedeutung als der Identität oder Wahrheit von Texten somit nicht sinnvoll gefragt werden kann, wird auch das hermeneutische Verfahren der Interpretation abgelehnt, zumal der Rückgang auf die Autorintention. An seine Stelle treten „Lektüren“, die, jede der anderen gleichwertig, nach den verschiedenen Bedeutungsmöglichkeiten der Textelemente fragen und dabei gerade jene Bedeutungen herausarbeiten, welche sich einer harmonisierenden Gesamtdeutung widersetzen.447 441 442 443 444 445 446

Ebd. Derrida 1984, 57. Derrida 1972, 424. Derrida 1976, 16. S. Derrida 1976. Nach Derrida ist der Text „praktisch alles. Es […] gibt einen Text, sobald es eine Spur gibt, eine differentielle Verweisung von einer Spur auf die andere. Und diese Verweise bleiben nie stehen. Es gibt keine Grenzen der differentiellen Verweisung einer Spur auf die andere. […] [D]er Text beschränkt sich folglich nicht auf das Geschriebene, auf das, was man Schrift nennt im Gegensatz zur Rede. Die Rede ist ein Text, die Geste ist ein Text, die Realität ist ein Text in diesem neuen Sinne.“ (Engelmann 1990, 20f.) 447 Während Derrida in seiner interpretatorischen Praxis vor allem die Bezüge zu anderen Texten herausstellt,

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Den von der Dekonstruktion bereits herausgestellten Verweisungscharakter sprachlicher Zeichen arbeitete Julia Kristeva (*1941) mit ihrer Theorie der Intertextualität weiter aus.448 Texte sind demnach grundsätzlich intertextuell konstituiert, da sie immer „Absorption und Transformation“ bestehender Texte, ein „Mosaik von Zitaten“ sind. 449 Zu ihren Quellen zählen auch Geschichte und Gesellschaft, denen ebenfalls Textqualität zugesprochen wird, da sie wie solche gelesen werden können. Allerdings integrieren Texte die diversen Elemente, die sie aufnehmen, nicht zu einer neuen Einheit. Sie haben kein Zentrum, sondern bleiben vielstimmig. Die Wörter eines Textes lassen sich doppelt lesen, als seine eigenen, aber auch als die des Quelltextes: „[D]as Wort (der Text) ist Überschneidung von Wörtern (von Texten), in der sich zumindest ein anderes Wort (ein anderer Text) lesen lässt.“450 Aus diesen Verweisungen der Texte untereinander resultiert zum einen ihre Offenheit, zum anderen ihre Bedeutung. Aufgabe der Literaturwissenschaft ist es daher, die Heterogenität und Disparatheit der Texte aufzudecken. Die im Werk Michel Foucaults (1926–1984) gründende Diskursanalyse geht in eine ähnliche Richtung.451 Diskurse sind Teil anonymer gesellschaftlicher Machtpraktiken, die vor allem über Verbote die Bedingungen für alle in ihrem jeweiligen Themenbereich relevanten Aussagen vorgeben, die also regeln, wer wann wie worüber sprechen darf und was dabei ungesagt bleibt. Über (historisch variable) gemeinsame Ordnungsprinzipien, von Foucault unter dem Begriff episteme zusammengefasst, organisieren die Diskurse die symbolische Ordnung, die „Weltdeutungs- und Erkenntnismuster“452, welche die Wahrnehmung und Sprache einer Zeit lenken. Diskurse gehen somit allem Sprechen voraus und bestimmen es weithin. Der Autor ist daher nicht als der freie Schöpfer seiner Aussagen anzusehen, sondern lediglich als eine „interne Ordnungs-

448 449 450 451 452

um so die Grenzen des Textes und dadurch seine Identität aufzulösen (vgl. Brenner 1998, 146f.), richtet sich de Mans Verfahren auf den Aufweis, dass einzelne Textelemente (Metaphern, sprachliche Bilder etc.) nicht nur eine, sondern viele divergierende Bedeutungen haben können, so dass sich literarische Texte letztlich selbst dekonstruieren. Im Hintergrund steht de Mans Sprachtheorie mit ihrer Unterscheidung von grammatisch-logischer und rhetorischer Funktion der Sprache (vgl. Geisenhanslüke 2010, 107–109): Sprache macht einerseits wörtliche, referenzielle Sachaussagen (grammatisch-logische Funktion), andererseits arbeitet sie aber immer auch mit figürlichen Wendungen, die nicht- bzw. selbstreferenziell sind (rhetorische Funktion). Wo beide nun aber so miteinander verschränkt sind, dass nicht entschieden werden kann, welche den Vorrang hat, kommt es zur „Unlesbarkeit“ des Textes. Aber auch dort, wo eine Entscheidung möglich ist, verweist der rhetorische Charakter aller Sprache auf eine letzte Unsicherheit, ja die Unmöglichkeit, Wahrheit eindeutig mittels Sprache auszudrücken. Vgl. hierzu Brenner 1998, 147–151; Köppe/Winko 2008, 128f. Kristeva 1996, 337. Ebd. Vgl. hierzu Baasner/Zens 2005, 137–146; Bogdal 2008, 149–151; Köppe/Winko 2008, 98–113; Geisenhanslüke 2010, 121–131. Baasner/Zens 2005, 138.

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kategorie für Diskurse […], die verschiedene Funktionen erfüllt, zum Beispiel Texte zu Gruppen zusammenzufassen oder Identitäten herzustellen, die eigentlich nicht gegeben sind“453. Gleiches gilt für literarische Texte, die „als ‚Knotenpunkte‘ im Netz verschiedener Diskurse“454 erscheinen, wobei der Literatur aufgrund der Selbstreferenzialität ihrer Sprache eine mal mehr, mal minder große Autonomie im Sinne der Enthobenheit von den Kommunikationsregeln der Diskurse bescheinigt wird. Die Aufgabe der Literaturwissenschaft kann aus diskursanalytischer Sicht somit nicht darin bestehen, (wie manche hermeneutische Richtungen) hinter den Text zurück nach dem Autor als dem Sinnstifter zu fragen, der er ihrer Ansicht nach nicht ist, oder (wie szientistisch orientierte Ansätze) im Zeichen eines rationalistischen Wahrheitsbegriffs objektive Strukturen der Texte erheben zu wollen. Es geht ihr nicht um die Feststellung von Sinn oder Bedeutung der Texte, sondern um deren diskursive Entstehungsbedingungen. Ziel ist es daher, literarische Texte in ihrer Materialität und Diskursivität zu erfassen, d. h. in ihrer konkreten materialen und medialen Beschaffenheit, in ihrer Prägung durch die zeitgenössischen Diskurse oder durch ihren mehr oder weniger subversiven Umgang mit diesen, wie sie aus den von ihnen verwendeten sprachlichen Mustern, Bildern oder Themen hervorgehen, ferner in ihrem textuellen Beziehungsgeflecht, d. h. in ihrem Verhältnis zu früheren oder späteren Texten, die ihnen in irgendeiner Beziehung ähnlich sind. In der Praxis lief (und läuft) dieses ambitionierte Vorhaben freilich vielfach darauf hinaus, dass Erkenntnisse über Diskurse zur Entstehungszeit eines Textes zu dessen historischer Kontextualisierung im Rahmen einer traditionellen hermeneutischen Auslegung herangezogen werden, ohne dass die Unverträglichkeit beider Konzepte berücksichtigt würde.

4.4 Psychoanalytische Literaturwissenschaft Dem Poststrukturalismus wird meist auch Jacques Lacan (1901–1981) zugeordnet. Außer von der strukturalen Linguistik ist sein Ansatz stark von der psychoanalytischen Literaturwissenschaft geprägt. Diese im 20. Jahrhundert sehr einflussreiche Richtung geht auf den Begründer der Psychoanalyse selbst, auf Sigmund Freud (1856– 1939), zurück, in Deutschland wurde sie jedoch erst seit den 1970er-Jahren breiter rezipiert.455 Der Ansatz zielt auf die latenten Gehalte literarischer Texte und die vor allem 453 Köppe/Winko 2008, 102 (dort teilw. hervorgehoben). 454 Ebd. 455 Zum Folgenden vgl. Köppe/Winko 2008, 64–75. S. ferner Baasner/Zens 2005, 147–157; Allkemper/ Eke 2006, 171f.; Geisenhanslüke 2010, S 30–32.

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unbewussten psychischen Prozesse, denen sie sich verdanken. Denn nach Freud ist Dichtung Sublimation, Erfüllung unbefriedigter, da anstößiger Wünsche des Autors in der Fantasie, wobei die Wünsche, wie in Tagträumen häufig, nicht rein, sondern in transformierter Gestalt vorgestellt werden. Auf diese Weise werden sie nicht nur mitteilbar, die ästhetische Form der Dichtung animiert den Leser auch, seinen eigenen Wünschen angstfrei zu begegnen und sie in der Fantasie auszuleben. Im Ausgang von diesen Grundgedanken kann Literatur seit Freud analog der Traumdeutung auf die seelischen Triebfedern hin untersucht werden, die unter der manifesten Oberflächenerzählung verborgen liegen. Gewöhnlich werden hierfür Textauffälligkeiten (Unstimmigkeiten, Metaphern, Symbole etc.) auf ihren Bedeutungsgehalt hin analysiert, der ihnen vor dem Hintergrund vorab gewählter psychologischer Theoreme zukommt, und die Ergebnisse anschließend nach den gängigen Validierungskriterien (s. o. Kap. IV.4.1) zu Deutungshypothesen verbunden. Da die Texte als Ausdruck seelischer Vorgänge im Autor betrachtet werden, kann zur Stützung der Thesen auch entsprechendes biografisches Material herangezogen werden. Gerade seine Handhabung in der literaturwissenschaftlichen Praxis legt es nahe, den psychoanalytischen Ansatz als allegorisches Verfahren anzusehen, bei welchem der (literarische) Primärtext in einen (psychologischen) Sekundärtext übersetzt wird.456 Demgegenüber wurde insbesondere von Lacan betont, dass Freud in seiner Traumdeutung (1900) weniger eine Theorie zur allegorischen Rückübersetzung manifester Traumgehalte in latente vorgelegt habe als vielmehr eine Theorie über die vom Subjekt nicht kontrollierbaren, vor allem in Verdichtung und Verschiebung bestehenden Mechanismen der Transformation latenter in manifeste Gehalte. Freud sei es also weniger um Sinn und Bedeutung von Träumen gegangen als um die Verfahrensweisen, wie sie erzeugt werden, d. h. um die „grammatikalische Struktur des Traums“.457 In diese Richtung zielt auch Lacans eigener Ansatz.458 Nach diesem kann unter keinem Zeichen eine feste Bedeutung ausgemacht werden. Dabei besteht kein Unterschied zwischen bewusst hervorgebrachten sprachlichen Zeichen und Zeichen des Unbewussten wie Träumen, da das Unbewusste nach Lacan sprachlich strukturiert ist. Er sieht alle Zeichen nach den gleichen Verfahren gebildet, nämlich durch die Verschiebung und Verdichtung von Bedeutung, für welche bei ihm die Begriffe der Metonymie bzw. der Metapher stehen. Durch diese Verzerrungen wird verhindert, dass das Gemeinte im Zeichen rein zum Ausdruck gebracht bzw. umgekehrt aus ihm erkannt werden kann. 456 Vgl. etwa Sontag 1968, 12. 457 Vgl. Simons 2009, 60 (Zitat ebd., 54). Zum Zusammenhang vgl. ebd., 53–70. 458 Zum Folgenden vgl. Baasner/Zens 2005, 157f.; Köppe/Winko 2008, 76–84; Simons 2009, 60–70; Geisenhanslüke 2010, S 75–80.

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Grundlage dieser Ansicht ist Lacans poststrukturalistische Zeichentheorie. Nach dieser führt kein gerader Weg vom Zeichen zum Bezeichneten. Die Zeichen verweisen nur auf andere Zeichen. Durch ihre Differenz erzeugen sie zwar Bedeutung, dies aber willkürlich, denn die Zeichen bilden ein geschlossenes System, das Bedeutungen produziert, ohne dass diese in einem festen Verhältnis zu den bezeichneten Gegenständen stehen. Das aber hat zur Folge, dass auch der Sprecher keine Kontrolle über die Bedeutung des Gesagten hat und letztlich „das Signifizierte unaufhörlich unter dem [!] Signifikanten gleitet“459. Darüber hinaus ist das Unbewusste wie die Sprache vom Begehren geprägt, vom Streben nach dem Abwesenden, welches beim Unbewussten die ursprüngliche, präödipale Identität des Menschen mit sich selbst ist. Dieses Begehren ist in vielerlei Weise in die Struktur literarischer Texte eingeschrieben, sei es durch die literarische Gestaltung des Begehrens selbst, durch ödipale Konstellationen oder auch durch Verschiebungen im Buchstaben- oder Silbenmaterial. Nach diesen Spuren des Begehrens soll die Literaturwissenschaft suchen, nicht nach der unauffindbaren latenten Bedeutung des Textes. Ihr Gegenstand ist damit die Textstruktur selbst, nicht die psychischen Vorgänge im Autor oder Leser.

4.5 Die Situation in der Gegenwart: Methodenpluralismus, Kulturwissenschaft und literarische Hermeneutik Zusätzlich zu den zahlreichen bereits genannten Ansätzen ließen sich noch weitere anführen: die Feministische Literaturwissenschaft etwa, die Gender Studies oder der medienwissenschaftliche Ansatz. Aus hermeneutischer Perspektive bringen sie jedoch keine neuen Aspekte zum Tragen, sondern stellen sich als Variationen oder Vertiefungen bereits vorgestellter Ansätze dar, insbesondere der Ideologiekritik, Dekonstruktion, Diskursanalyse und Systemtheorie. Sie seien daher lediglich erwähnt.460 Angesichts dieses Methodenpluralismus verstärkt sich der Eindruck, das Feld literaturwissenschaftlicher Theorien und Methoden sei durch die Debatte über die verschiedenen Verstehens- und Erklärungsansätze weithin abgeschritten. Während nun aber die verschiedenen Methoden relativ problemlos nebeneinander bestehen können als je unterschiedliche Weisen, den gemeinsamen Gegenstand zu beleuchten, schließen sich auf Ebene der Theorien, von welchen sie sich herleiten, die Annahmen über 459 Lacan 1975, 27. 460 Für Kurzübersichten und weiterführende Literatur zu den genannten Ansätzen vgl. Köppe/Winko 2008, 201–216, 255–274.

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den Status von Literatur häufig gegenseitig aus:461 Entweder ist ein Text der mehr oder weniger deutlich erkennbare Ausdruck der Mitteilungsabsicht eines Autors, oder er ist ein vom Autor weitgehend unabhängiges, autonomes Zeichensystem, das eine weder einheitliche noch feste Bedeutung hat – beides zugleich ist nicht denkbar. Dem Methodenpluralismus steht somit das Fehlen einer übergreifenden und Einheit stiftenden Theorie gegenüber. Derzeit existieren im Wesentlichen drei Weisen des Umgangs mit dieser Situation. Eine erste Weise stellt die „pragmatische Lösung“462 dar. Sie verzichtet auf einen theoretischen Gesamtrahmen und richtet stattdessen ihre Methodenwahl nach der jeweiligen Fragestellung, die sich ihrerseits an den Eigenschaften des Gegenstands orientiert. Der Grundsatz lautet: „[E]rklären, was erklärt werden kann, verstehen, was nicht erklärbar ist.“463 Eine zweite Lösung bietet die seit den 1990er-Jahren diskutierte Hinwendung zur Kulturwissenschaft, die Literatur als kulturelles Phänomen betrachtet und aus dem Kontext der Kultur ihrer Entstehungszeit zu erklären sucht.464 Orientiert an umfassenden Fragestellungen wie etwa dem Beitrag literarischer Texte zur historischen An thropologie, ist der Zugang dezidiert transdisziplinär angelegt. Im Vordergrund steht die praktische Ergiebigkeit des (eher noch erweiterten) Methodenarsenals, zu dessen Gunsten auf Theorieebene auf Konsistenz verzichtet wird. Hierin der pragmatischen Lösung ähnlich, unterscheidet sie sich von ihr in der Unterordnung der methodischen Vielfalt unter übergreifende Fragestellungen. Der kulturwissenschaftliche Ansatz betrachtet Literatur nicht als autonomes Gebilde, sondern als eine der Formen, in denen sich Kultur manifestiert. Auch beim Bild des Autors dominiert der Aspekt der Determiniertheit von Diskursen und sonstigen (Kon-)Texten, zu welchen auch die Kultur zählt, denn auch sie hat Textstatus. Das Interesse gilt daher insbesondere den „Wechselbeziehungen zwischen Texten und kulturellen Phänomenen“465. Die wichtigste amerikanische Spielart, der New Historicism, hebt dabei die soziale Dimension hervor: Literatur und Gesellschaft stehen in einer „Austauschbeziehung“ (Stephen Greenblatt), insofern Literatur Gesellschaft repräsentiert und zugleich auf sie zurückwirkt. Ein Ziel der kulturwissenschaftlichen Auslegung liegt in der Rekonstruktion der Beziehung von Literatur und ihrer historischen Umwelt. Neben poststrukturalis461 462 463 464 465

Vgl. Allkemper/Eke 2006, 175f. Baasner/Zens 2005, 102. Ebd. Einen ganz ähnlichen, dezidiert eklektischen Ansatz vertritt Vogt 2008, 223f. Vgl. dazu Baasner/Zens 2005, 237–246; Köppe/Winko 2008, 221–254. Ebd., 247 (dort hervorgehoben).

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tischen Ansätzen, vor allem der Diskursanalyse, findet so auch der hermeneutische Ansatz Anwendung. Dieses neuerliche Aufgreifen der Hermeneutik nach dem Bruch des Poststrukturalismus erfolgt als Re-Import aus der Ethnologie. Hier hatte Clifford Geertz (1926–2006) mit der Methode der „dichten Beschreibung“ (thick description) eine Kulturhermeneutik etabliert, nach welcher kulturelle Phänomene nicht nur an sich, sondern auch in ihren Bezügen zu ihrer kulturellen Umwelt möglichst detailliert zu beschreiben sind, und zwar sowohl in den wahrnehmbaren oberflächlichen Bezügen (einfache Beschreibung) als auch in den vom Forscher dahinter vermuteten Intentionen und Motiven (dichte Beschreibung). Das einzelne Phänomen wird hier also gut hermeneutisch aus dem Ganzen der Kultur zu verstehen gesucht, indem hypothetisch seine tiefere kulturelle Bedeutung vermessen wird. Der dritte Lösungsansatz schließlich besteht darin, durch eine neue literarische Hermeneutik einen umfassenden Theorierahmen vorzugeben, anhand dessen die Methodenvielfalt strukturiert werden kann. Als ein Versuch in diese Richtung kann Peter Tepes (*1948) Kognitive Hermeneutik (2007) angesehen werden.466 Ihre zentrale theoretische Prämisse ist die Annahme, dass Texte einen objektiven Sinn bergen, den der Autor ihnen eingeschrieben hat und der mit einer gewissen Sicherheit auch rekonstruiert werden kann. Der erste Schritt der insgesamt zweistufigen Interpretation, die „Basisarbeit“, geht diese Aufgabe werkimmanent an. Sie besteht (neben der Lektüre) aus zwei Teilschritten: der „Basis-Analyse“ und der „Basis-Interpretation“. Erstere besteht in der Beschreibung der vom Text geschilderten Welt in ihrer Beschaffenheit, d. h. hinsichtlich Handlungsstruktur, Themen und Motiven, Stil und Erzählhaltung, aber auch hinsichtlich mehrdeutiger, sinnoffener oder sinnloser Stellen. Die Basis-Interpretation versucht sodann, die in der Analyse beschriebene Textgestalt in ihrer konkret vorliegenden Form aus ihren Entstehungsgründen zu erklären. Hierzu werden vom Text aus Hypothesen über die „textprägenden Instanzen“ aufgestellt, nach welchen der Autor den Text bewusst oder auch unbewusst gestaltet haben soll. Als maßgebliche Instanzen gelten hierbei das Textkonzept (künstlerische Zielsetzung), das Literaturprogramm (poetologische Orientierung) und das Überzeugungssystem (Ideologie, Werte) des Autors. Der zweite Schritt, die „Aufbauarbeit“, dient dem vertieften Verständnis des Textes, indem er als in bestimmter Weise geprägter in für ihn relevante Kontexte eingeordnet wird. Dies können psychologisch-biografische, literaturhistorische, gattungspo466 Vgl. Tepe 2007, 49: „Aus der kognitiven Hermeneutik ergibt sich das Projekt einer integralen Literaturtheorie, die allen bekannten Methoden der Textarbeit – und darüber hinaus allen denkbaren Methoden – einen systematischen Ort zuweist.“ – Zum Folgenden vgl. ebd., bes. 11–213.

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etische, sozial-, wirtschafts- oder ideengeschichtliche Kontexte sein, aber auch psychoanalytische oder diskurstheoretische Betrachtungsweisen sind hier möglich. Ein Überspringen der Basisarbeit und das direkte Interpretieren des Textes im Rahmen einer Theorie wie der Systemtheorie, Psychoanalyse oder Dekonstruktion („theoriegebundene Direktinterpretation“) wird hingegen abgelehnt, ebenso die weltanschauliche Vereinnahmung des Textes („projektiv-aneignende Interpretation“). Für legitim wird lediglich noch die „aneignende Interpretation“ erachtet, die den Text zwar anhand der mitgebrachten Maßstäbe des Lesers misst und ihn vor allem auf seine lebenspraktische Relevanz befragt, aber auf jeden wissenschaftlichen Erkenntnisanspruch verzichtet. Tepe gelingt es auf diese Weise, Methoden verschiedenster Provenienz – strukturalistische, hermeneutische, diskursanalytische, psychoanalytische, historische, sozialgeschichtliche usw. – in einem hermeneutischen System zu vereinen. Der theoretische Rahmen verbietet jedoch nicht nur die Verabsolutierung einzelner Methoden, er schließt auch ihm entgegengesetzte Theoriekonzepte wie das der Dekonstruktion aus. Da aber bezweifelt werden kann, dass sich die theoretischen Vorannahmen des von Tepe vertretenen objektivistischen Ansatzes „im Kanon literaturwissenschaftlicher Glaubenssätze und Grundsatzentscheidungen als verbindlicher Konsens […] durchsetzen werden“467, dürfte auch diese Konzeption nicht das letzte Wort in der Theorieund Methodendiskussion der Literaturwissenschaft gewesen sein.

467 Röcken 2009, 6.

Meinrad Böhl und Harald Haury 1

Bibel Bibelauslegung war im Christentum von Beginn an von hermeneutischer Reflexion begleitet. Dabei standen anfangs jedoch nicht Komplexität und Vielschichtigkeit dieses Textkorpus in Bezug auf Sprache, Herkunft und Entstehung im Vordergrund. Vielmehr war in den ersten Jahrhunderten zunächst die Frage nach dem Umfang des Kanons zu beantworten. Außerdem musste das Verhältnis des irdischen, in Buchform vorliegenden Textes zu seinem göttlichen Gegenstand gedanklich erfasst werden, was zu intellektuellen Höchstleistungen nötigte, da die antike Philosophie hierfür kein vorgefertigtes Denkmodell bereitstellte. Zusammen mit der Frage nach dem Verhältnis von Altem zu Neuem Testament, die freilich bereits in die Kanonfrage mit hineinspielte, bildet diese Bestimmung von Profanem und Göttlichem in der Schrift den Kern christlicher Bibelhermeneutik bis heute. Demgegenüber war die Frage nach den Interpretationsmethoden eher nachrangig, so dass das in der heidnischen Antike ausgebildete philologische Instrumentarium in entsprechender Abwandlung zum Einsatz gebracht werden konnte. Einen grundsätzlichen Wandel erfuhr die so ausgebildete hermeneutica sacra – nach neuerlichen Streitigkeiten über den Umfang des Kanons in der Reformationszeit – erst im 18. Jahrhundert, als die Bibel statt in ihrem bisherigen kirchlichen Kontext zunehmend im säkularen Rahmen der modernen Universität und der ihr eigentümlichen Rationalität gelesen wurde. In der Folge übernahm die protestantische Bibelwissenschaft weithin die hermeneutischen Prinzipien der Klassischen Philologie und der Geschichtswissenschaft. Hiergegen richtete sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Versuch, in Orientierung an philosophischen Hermeneutik-Konzepten Exegese als „hermeneutische Theologie“ zu betreiben und die Bibel auf ihre existenziale Bedeutung für den Menschen zu befragen. Um diese Zeit fand schließlich auch 1

Harald Haury: Kap. I u. II; Meinrad Böhl: Kap. III u. IV, Einleitung und Redaktion.

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Bibel

der Katholizismus Anschluss an die neuere Entwicklung. Auf diese Weise erlebte er gemeinsam mit dem Protestantismus das Zerbrechen aller hermeneutischen Alleingeltungsansprüche und deren Ersetzung durch Methodenvielfalt und hermeneutische Pluralität in der Postmoderne. Gegenüber dieser ist die gegenwärtige Situation verstärkt von dem Bemühen geprägt, ein neues Gleichgewicht zu finden, das die alten Einseitigkeiten vermeidet und es erlaubt, wie in der frühesten Zeit beide Seiten der Bibel, ihre irdische und ihre göttliche, angemessen zur Sprache zu bringen.

I. Antike Kanon und Theologie – Auslegung zwischen paganen Routinen und christologischer Hermeneutik

1. Vorbemerkungen Die Antike nimmt innerhalb des Themenfeldes Bibelauslegung eine Sonderstellung ein. Die Gestalt Jesu, die Entstehung des Christentums und seiner Heiligen Schrift, die Anfänge seiner kirchlichen Organisation und Lehrentwicklung umschreiben das Gebiet, auf das spätere Theologen wie selbstverständlich zurückgriffen, wenn es galt, die eigene Sicht der Offenbarung als ursprünglich zu erweisen und gegnerische Standpunkte als deren Verfälschung abzuwehren. Für das vorliegende Kapitel ist das insofern relevant, als auch die historisch-kritische Forschung, die das heutige Bild der Anfänge und Frühzeit des Christentums bestimmt, indirekt theologische Gesamtdeutungen verhandelt, obwohl das von dem Anspruch und den Verfahrensweisen exakter historisch-philologischer Forschung leicht verdeckt wird, die innerhalb der Theologie von den systematischen Fächern auch noch weitgehend abgekoppelt ist. Geschichtlich betrachtet, setzte sich die historisch-kritische Methode jedenfalls als Vehikel liberalprotestantischer, gegen die kirchliche Orthodoxie gerichteter Deutungen vom Wesen des Christentums durch.2 Von daher hätte das Kapitel zur Antike mit einigem Recht zu weiten Teilen auch in die Darstellung zur Bibelauslegung des 19. und 20. Jahrhunderts eingearbeitet werden können. Weil in ihm aber Grundlagen für das Verständnis des gesamten Themenfeldes gelegt werden, wurde nicht diese Möglichkeit gewählt, sondern auf die gängige chronologische Einordnung zurückgegriffen. Auf den folgenden Seiten wird zunächst die Entstehung der christlichen Bibel, also der Prozess der Kanonisierung behandelt. Daran schließt sich die Geschichte ihrer Auslegung an. Sie wird dem Trend der Forschung folgend in zwei Stränge unterteilt, um einerseits ihre Fortführung der vorgefundenen Rou2

Vgl. u. Kap. IV.2.

I. Antike

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tinen des Textumgangs und andererseits die besondere christologische Prägung ihrer Hermeneutik herauszuarbeiten. Am Schluss steht die Frage, welche Texte der antiken Auslegungstradition für die Folgezeit besonders wirkungsmächtig wurden.

2. Der Weg zur zweigeteilten christlichen Bibel Jesus hatte seine Lehre ausschließlich mündlich verkündet, und auch die Gemeinden sahen zunächst keinerlei Veranlassung, sie schriftlich niederzulegen, solange man seine Wiederkunft in nächster Zukunft erwartete und noch Zeugen seiner Verkündigung unter sich hatte. Stattdessen entwickelte sich eine Form mündlicher Überlieferung, über die unter anderem Zeugnisse der Verkündigung Jesu, Herrenworte und Tatenberichte, in die spätere christliche Literatur eingingen. 3 Dennoch waren die frühen Christen nicht ohne heilige Schriften. Ihr Bekenntnis zu Jesus als dem Messias formten sie vor dem Hintergrund der Heilserwartungen und Traditionsliteratur des zeitgenössischen Judentums.4 Allerdings ist dabei zweierlei zu beachten. Erstens gab es dort vor der Wende zum 2. Jahrhundert noch keinen allgemein anerkannten Schriftkanon, sondern nur Textsammlungen der rivalisierenden Religionsparteien, wobei die apokalyptischen Gruppen für eine extensive Fassung des Kanons eintraten, die Priesterschaft der Sadduzäer ihn auf den Pentateuch beschränkt sehen wollte und die nichtpriesterlichen Schriftgelehrten der Pharisäer eine Mittelposition einnahmen. Dass sich die Pharisäer durchsetzten, hing mit der Zerstörung des zweiten Tempels und der Vernichtung vieler apokalyptisch ausgerichteter Gruppen im ersten jüdischen Krieg zusammen.5 Zweitens besaßen in den Jahrhunderten um die Zeitenwende Übertragungen der heiligen Texte große Bedeutung, da die Mehrzahl der Juden des Hebräischen nicht mehr mächtig war. In Palästina und im Judentum Babyloniens handelte es sich dabei um deutende Paraphrasen in aramäischer Sprache, die sogenannten Targumim. Sie dürften sich aus dem Bemühen entwickelt haben, die Lesung im Synagogengottesdienst, die auf Hebräisch erfolgte, mit einer Verständnishilfe zu begleiten; sie dienten, wenigstens seit sie schriftlich abgefasst und kommentarartig erweitert wurden, aber auch als Hilfe beim Studium der Schrift. Die Anfänge der Targumtradition lassen sich nicht mehr genau ermitteln, dürften aber im 4. Jahrhundert v. Chr. liegen. Textsammlungen sind erst aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. erhalten. Am bekanntesten ist das Targum Onkelos, eine vergleichsweise wortgetreue Übertragung der Thora vom Beginn des 2. Jahrhunderts aus Babylonien, wo die Targumliteratur redigiert und 3 4 5

Vgl. Drobner 1994, 7f. Vgl. Dohmen 1998, 18f. Vgl. Wanke 1980. Für einen früher gegebenen Kanon vgl. Hanhart 1994, 2–5.

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Bibel

standardisiert wurde. Zeitweise stand es dort neben dem hebräischen Text in autoritativer Geltung.6 In der hellenistischen Diaspora waren seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. griechische Übersetzungen zunächst der Thora entstanden, unter denen sich die alexandrinische, die Septuaginta, durchsetzte. Ihr Name rührt von der Wunderlegende her, dass sie kraft göttlicher Inspiration von 72 Übersetzern in 72 Tagen vollendet worden sei. Auch in der Septuaginta gingen Übersetzung und Auslegung ineinander über, passte sich der Text der Umwelt an. Besonders das Gesetzesverständnis, das in der Septuaginta zum Ausdruck kommt, und ihre Abschwächung von Anthropomorphismen in der Beschreibung von Gottes Handeln an Israel zeigen den Einfluss der hellenistischen Philosophenschulen. Aber auch die Vorstellung von einer Auferstehung der Toten, die in ihr häufiger begegnet, findet sich in den hebräischen Texten nicht. Allerdings ist zu beachten, dass es sich bei ihr um eine im Lauf von etwa 150 Jahren gewachsene Übersetzung handelt, deren Charakter trotz Revisionen nicht einheitlich ist.7 Die Septuaginta prägte die religiöse Sprache und das Denken der hellenistischen Juden. Sie wurde aber auch zu der Bibel des Heidenchristentums und damit – um das Neue Testament erweitert – der entstehenden christlichen Großkirche, da spätestens nach dem ersten jüdischen Krieg mit dem Judenchristentum auch die hebräischen Schrifttexte und die Targumliteratur innerhalb der christlichen Tradition in den Hintergrund traten.8 Das spiegelt sich auch in der entstehenden christlichen Literatur, zumal den Schriften des Neuen Testaments, wider. Zwar übertrifft dort die Zahl bloßer Anspielungen auf die Schrift diejenige der Zitate.9 Auch sind diese oft ungenau, haben keine Herkunftsangabe bei sich und stammen aus Stellensammlungen, also aus zweiter Hand. Dennoch lässt sich die Septuaginta als der bei Weitem überwiegende Referenztext erkennen. Ihr Einfluss zeigt sich auch am Sprachstil christlicher Autoren, besonders des Paulus und Lukas.10 Gleichwohl blieb das Verhältnis der Septuaginta zu den hebräischen Texten ein Problem. Innerhalb des Judentums, wo ihr Ansehen geschwunden war, seitdem die Christen sie für sich benutzten, entstanden im 2. Jahrhundert neue Übersetzungen durch Aquila, der oft mit Onkelos identifiziert wird,11 Symmachus und Theodotion. Dessen Übersetzung des Buches Daniel wurde langfristig auch für die Christen kanonisch.12 Die jüdische Konkurrenz regte christliche 6 7 8 9 10 11 12

Vgl. Colpe 1979, 886; Reicke 1982, 126–129; Alexander 1988, 247–253; Pépin/Hoheisel 1988, 742. Vgl. Lamarche 1984, 21–35; Tov 1988, 161–181; Reventlow 1990, 28–32; Hengel 1994, 187–218, 236–256. Vgl. Lamarche 1984, 19f.; Reventlow 1990, 31. Vgl. Heckel 1994, 219. Vgl. Plümacher 1980, 11–13; Dassmann 1996, 13–15. Vgl. Alexander 1988, 217f. Vgl. Trobisch 1996, 157.

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Revisionen der Septuaginta an, wobei im 3. Jahrhundert diejenige des Origenes (ca. 185–254) und im 4. Jahrhundert eine – wohl fälschlicherweise – Lukian von Antiochia (240–312) zugeschriebene Version dominierten.13 Von prominenter christlicher Seite wurde das Authentizitätsproblem dann noch einmal an der Wende zum 5. Jahrhundert aufgeworfen, als Hieronymus (ca. 340–420) im Zuge der Arbeit an seiner lateinischen Übersetzung der Bibel gegen die Septuaginta und für die veritas hebraica plädierte.14 Im Sinne seiner Formel – aber ironischerweise gegen die auf ihn zurückgehende Vulgata – wandten sich später die Humanisten und die Theologen der Reformation den hebräischen Texten zu. Demgegenüber gelangte die jüngere Forschung dahin, die Septuaginta als originär jüdische Übersetzung – ohnehin gab es zur Zeit ihrer Entstehung ja noch keinen autoritativen Urtext – höher einzuschätzen, da man in den erhaltenen Handschriften die ursprüngliche Übersetzung hinter späteren christlichen Überarbeitungen zu identifizieren lernte und erkannte, dass sich auch das rabbinische Judentum mit den hebräischen Texten seines Kanons – nicht zuletzt im Zuge antichristlicher Polemik – von den älteren Textfassungen interpretierend entfernt hatte.15 Seit der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts traten zu den heiligen Schriften, die man aus dem Judentum übernommen hatte, Mahn- und Verkündigungsbriefe, die dazu bestimmt waren, im Gottesdienst verlesen und an andere Gemeinden weitergegeben zu werden. Sie bilden die älteste Gattung originär christlicher Literatur. Um das Jahr 70 entstanden die ersten Evangelien, in denen Berichte von Worten und Taten Jesu jeweils aus einem bestimmten theologischen Blickwinkel zusammengestellt waren. Ihre Autoren gingen dabei mit den Texten ihrer Vorgänger sehr unbefangen um. So trugen Lukas und Matthäus offenbar keine Bedenken, Markus auszuschreiben und zu erweitern. Auch die patristischen Quellen des 2. Jahrhunderts zitieren die Evangelien sehr frei. Das zeigt, dass sie zunächst nicht als neue Schrift und Norm des Glaubens verstanden wurden. Das gilt auch für die Apostelbriefe.16 Die einzelnen Schriften waren jahrzehntelang unabhängig voneinander in Umlauf, bevor man begann, sie in Sammlungen zusammenzuführen. Nach der Analyse des Forschungsstandes, die Brevard S. Childs 1984 vorgelegt hat, der als ein führender Vertreter der jüngeren Kanonforschung gilt, waren um 200 die vier heute kanonischen Evangelien zusammen mit einer Sammlung von Paulusbriefen in den christlichen Gemeinden weithin anerkannt

13 14 15 16

Vgl. Hanhart 1994, 10–19; Viciano 1996, 371, 403; Studer 1998, 239–241. Vgl. Markschies 1994, 131–137; Studer 1998, 241. Vgl. Lamarche 1984, 24–28, 35f.; Tov 1988, 180–187; Reventlow 1990, 26–28; Dassmann 1996, 34; Trobisch 1996, 157. Vgl. Schneemelcher 1980, 30–35; Drobner 1994, 9f.

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und wurden gleichberechtigt neben der Septuaginta gelesen.17 Zu dieser Zeit ist – bei Tertullian (160–225) und Clemens von Alexandria (150–215) – auch erstmals von Altem und Neuem Testament die Rede, um beide Teile der christlichen Schrift voneinander zu unterscheiden.18 Während der Kern des künftigen Kanons zu Beginn des 3. Jahrhunderts feststand, blieben seine Grenzen weiterhin umstritten. Das betraf vor allem den Hebräerbrief und die Apokalypse des Johannes, deren apostolischer Charakter immer wieder angezweifelt wurde, während gleichzeitig Schriften wie die Didache, der Hirt des Hermas oder die Apokalypse des Petrus vielfach noch zum Neuen Testament gerechnet wurden.19 Für das Alte Testament setzte zwar die Septuaginta-Fassung des Origenes einen Standard. Gleichwohl bereiteten einerseits der Status der Apokryphen und andererseits der Vergleich mit dem Tannach, der rabbinischen „Bibel“, die auf den Kanon der Pharisäer zurückging, Probleme. Ihre Redakteure hatten die Makkabäerbücher, die Bücher Baruch, Judit, Tobit, Jesus Sirach und Weisheit Salomos, die in der Septuaginta aufgenommenen waren, sowie ihre Zusätze zu den Büchern Daniel und Esther ausgeschieden. Demgegenüber folgte die Mehrzahl der christlichen Theologen der Auffassung des Origenes und nahm zum hebräischen Kanon die nur in der Septuaginta enthaltenen Schriften hinzu, wies ihnen aber einen geringeren Status zu. In der Frage der Apokryphen gewann im Lauf des 3. Jahrhunderts die Auffassung an Boden, sie als häretisch einzustufen und ihre Lektüre zu untersagen. Allerdings muss man bei all diesen Feststellungen berücksichtigen, dass die Entwicklung regional unterschiedlich verlief. Ohnehin dürften viele Gemeinden nur Teile der Schrift besessen haben. Ende des 4. Jahrhunderts verstärkte sich dann vor allem im lateinischen Westen das Bemühen, zu einer kirchlich bindenden Scheidung von kanonischem und apokryphem Schriftgut zu kommen. Bezeichnenderweise ist auch der Ausdruck „Kanon“20 erst seit dieser Zeit im Zusammenhang mit der christlichen Bibel belegt.21 Eine Reihe von Synodalentscheidungen bewirkte jetzt eine Angleichung zwischen den Regionen. Für das Neue Testament etablierte sich damit der bis heute gültige Kanon von 27 Schriften. Dagegen gelangte man für das Alte Testament in der Antike zu keiner entsprechenden Festlegung. Zwar kann der Beschluss der Synode von Karthago (397), alle über die hebräische Bibel hinaus in kirchlichem Gebrauch stehenden Schriften unterschiedslos (!) in den Kanon einzubeziehen, als Richtungsentscheidung angesehen werden. Doch kursierten 17 18 19 20 21

Vgl. Childs 1984, 18; Dohmen 1998, 22–26. Vgl. Schneemelcher 1980, 27f. Vgl. Drobner 1994, 14f.; Studer 1998, 242. Zur Begriffsgeschichte vgl. Assmann 1999, 103–114. Vgl. Schneemelcher 1980, 25–27.

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im Einzelnen weiterhin unterschiedliche Aufstellungen. Insofern kam die Entwicklung erst mit der Vulgata, die sich in der lateinischen Kirche bis zum 8. Jahrhundert als kanonische Bibel durchsetzte, zu einem – blickt man auf die Reformation – vorläufigen Abschluss. Ihr Umfang folgte für das Alte Testament der Sammlung des Origenes, da Hieronymus, der im Sinn seiner hebraica veritas zeitweise auf den hebräischen Kanon hatte zurückgehen wollen, letztlich doch alle Bücher der Septuaginta in seine Übersetzung aufgenommen hatte, mit der sie in die Vulgata gelangten.22 In den syrischen Kirchen und der griechischen Ostkirche blieben die Verhältnisse noch erheblich länger unbestimmt. Hier kann der Kanon erst seit dem 10. Jahrhundert als gesichert gelten.23 Während sich die Entstehung der christlichen Literatur im 1. Jahrhundert mit der Enttäuschung der Naherwartung in Verbindung bringen lässt, die einen Erklärungsbedarf schuf, dem Lehrbriefe und Evangelien abhalfen, indem sie die Eschatologie „individualisierten“ – für den Einzelnen kommt „sein“ jüngster Tag mit Gewissheit in absehbarer Zeit – und mit der Annahme einer in entferntere Zukunft verschobenen Wiederkunft Christi kombinierten,24 bereiten die Vorgänge des 2. Jahrhunderts, die zu der Textsammlung führten, wie sie um 200 vorlag, größere Schwierigkeiten. Umstritten ist, ob sie allmählich aus dem Gemeinde- und Kirchengebrauch der Überlieferung erwuchs – so Werner Georg Kümmel 1950 –25 oder ein identifizierbares theologisches „Ereignis“ ihre Redaktion veranlasste, wie das zuerst der berühmte liberalprotestantische Dogmenhistoriker Adolf Harnack26 vertreten hatte.27 Für Harnack ging der Kanon aus der Auseinandersetzung um das Verhältnis zwischen der Offenbarung Jesu und der jüdischen Tradition hervor. Die gängige Praxis, die heiligen Schriften der Juden zu übernehmen, aber auf Jesus hin zu interpretieren, sei um die Mitte des 2. Jahrhunderts von den Vertretern einer christlichen Gnosis, vor allem aber von Marcion († um 160), einem christlichen Reeder aus Sinope, der sich als einzig legitimen Schüler des Paulus ansah, angegriffen und schwer erschüttert worden, indem sie mit jeweils unterschiedlicher Begründung bestritten, dass der Gott des Alten Testaments mit dem Vater Jesu Christi identisch sei, und dementsprechend forderten, die Schriften der Juden zu verwerfen und die Überlieferung des neuen Glaubens von ihren Spuren zu „reinigen“. Die Urform des katholischen Kanons sei als Antwort auf den Kanon ent22 23 24 25 26 27

Vgl. Colpe 1979, 887; Schneemelcher 1980, 38–43, 45; Hengel 1994, 263–270, 272–284; Trobisch 1996, 5–11; Studer 1998, 242f. Vgl. Schneemelcher 1980, 43–46. Vgl. Drobner 1994, 9f.; Dassmann 1996, 40f. Kümmel 1950. Harnack 1889; Harnack 1914; Harnack 1921. Vgl. Trobisch 1996, 10.

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standen, den Marcion aus einer in seinem Sinn überarbeiteten Fassung des Lukasevangeliums und zehn Paulusbriefen erstellt hätte. Eine weitere Präzisierung des Kanons habe die Abwehr des Montanismus Ende des 2. Jahrhunderts bewirkt, einer von der Naherwartung der Wiederkunft Christi getragenen, rigoristischen Erweckungsbewegung, deren Anhänger gefordert hätten, die Ansagen ihrer Propheten in die Schrift aufzunehmen.28 Harnacks Erklärungsmodell hat den Vorteil, die Entwicklung des Kanons eng mit der Religionsgeschichte des 2. Jahrhunderts zu verbinden, zeigt aber auch seine zeittypische Befangenheit in einer Historiographie der „großen Männer“ – und seien es große Häretiker.29 Sein Ansatz wurde besonders wirkungsvoll von Hans von Campenhausen30 weiterentwickelt und wird auch heute noch vertreten. Die Habilitationsschrift von David Trobisch31 ist nur eines der Beispiele, die sich dafür anführen ließen. Im Einzelnen stellen sich allerdings beträchtliche Schwierigkeiten. So zeigen die Evangelien der christlichen Gnostiker, dass sie ihre Tradition nicht so sehr gegen ein herrschendes Jesusbild als analog zum bisherigen freien Umgang mit der Jesustradition literarisierten. Auch haben sie die jüdische Schrift offenbar nicht so sehr verworfen als ihre Autorität relativiert, indem sie auch heidnisches Offenbarungswissen heranzogen. Sie haben die Krise zwischen der jüdischen Tradition und dem neuen Bekenntnis wohl nicht heraufgeführt, aber bewusst gemacht und verschärft. Das gilt mit etwas anderer Begründung auch für Marcion. Ihn als mittelbaren Erfinder des kirchlichen Kanons anzusehen, ist jedenfalls problematisch. Erstens setzt seine Forderung, die jüdische Schrift zu verwerfen, voraus, dass diese als heilige Schrift der Kirche zu seiner Zeit bereits anerkannt war. Zweitens dürfte ihm zumindest eine etablierte Sammlung von Paulusbriefen bekannt gewesen sein. Drittens ist es nicht sicher, ob er sein Textkorpus selbst überhaupt als „Neues Testament“ verstanden hat. Wenigstens scheint es von seinen Anhängern nicht als heilig und abgeschlossen angesehen worden zu sein. Was die Montanisten anbelangt, so sind ihre Vorstellungen und Forderungen hinsichtlich der Schrift weniger klar, als noch von Harnack angenommen wurde. Allerdings wird man sagen können, dass ihr Auftreten die Frage nach der Abgeschlossenheit der biblischen Überlieferung noch einmal grundsätzlich zum Problem gemacht hat.32 Letztlich steht die Forschung vor der Schwierigkeit, dass die Chronologie und die Reichweite der Gnosis, des Marcionismus und des Montanismus nicht geklärt sind, so dass sich nicht entscheiden lässt, ob sie bereits auf den Kern des späteren Kanons Bezug nahmen, der 28 29 30 31 32

Vgl. Schneemelcher 1980, 22–25; Trobisch 1996, 8. Vgl. Schneemelcher 1980, 37. Campenhausen 1968. Trobisch 1996. Vgl. Schneemelcher 1980, 35–38.

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sich um 200 fassen lässt, seiner Ausbildung parallel gingen oder diese ihrerseits veranlassten.33 Im Ergebnis wird man wohl ein Wechselverhältnis zwischen dem schon aus sich selbst heraus auf eine Kanonisierung hinwirkenden Gemeindegebrauch der Schriften und dem Katalysatoreffekt theologischer Auseinandersetzungen ansetzen. In diese Richtung weisen auch die Abläufe des 4. Jahrhunderts. So entstand mit der Reichskirche zwar eine Organisation, die allein schon kraft ihres institutionellen Interesses auf eine Vereinheitlichung der Schrift ausging und dazu besser als das ältere Christentum in der Lage war. Den Anlass lieferten aber die theologischen Auseinandersetzungen mit dem dualistischen Manichäismus, der unter anderem Gemeinden und Gedankengut des Marcionismus aufgenommen hatte, den Priszillianern, die einige apokryphe Prophetenschriften wenigstens zur propädeutischen Lektüre zugelassen sehen wollten, aber auch mit der zeitweiligen Wendung des Hieronymus gegen die Septuaginta, die in der Westkirche eine scharfe Reaktion unter anderen des Augustinus (354–430) auslöste und zu der erwähnten Entscheidung des Konzils von Karthago (397) führte.34 Auch wenn wichtige Fragen offenbleiben, machen Dauer und Vielschichtigkeit der geschilderten Entwicklung deutlich, dass die theologische Interpretation der Erscheinung Jesu und die Bestimmung der kanonischen Schriften des Christentums zusammen gesehen werden müssen. Damit lässt sich bereits von der Kanongeschichte die in der Präsentation des Themenfeldes aufgestellte Behauptung einholen, dass die christliche Auslegung der Bibel seit jeher nicht nur von dem Zwang geprägt ist, das Verhältnis zwischen dem neuen Glauben und der jüdischen Tradition zu bestimmen, sondern auch von der Spannung zwischen der Annahme einer personalisierten Offenbarung und der sie überliefernden Heiligen Schrift. Beides zog sich auch durch die patristische Exegese, die auf den folgenden Seiten zuerst hinsichtlich ihrer Fortführung der antiken Tradition des Textumgangs behandelt wird, bevor dann die Frage nach ihrer spezifisch christlichen Prägung aufgenommen wird.

3. Der patristische Umgang mit der Heiligen Schrift 3.1 Die Aufnahme paganer Traditionen Die christlichen Autoren der Kaiserzeit stammten meist aus der provinzialen Oberschicht35 und waren wie ihre nichtchristlichen Standesgenossen durch die Schule der

33 34 35

Vgl. ebd., 35; Trobisch 1996, 10. Vgl. Schneemelcher 1980, 43; Hengel 1994, 227; Dassmann 1996, 40f.; Studer 1998, 242. Vgl. Pollmann 1996, 75.

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Homer-Exegese gegangen.36 Ihre Auslegung der Bibel folgte den Routinen der Texterschließung, in die sie der Grammatik- und Rhetorikunterricht eingeübt hatte, wie in der jüngeren Forschung vor allem der Altphilologe Christoph Schäublin37 und vonseiten der Patristik Basil Studer38 herausgearbeitet haben.39 Dass daneben noch auf einer ganz anderen Ebene Parallelen zum „heidnischen“ Umgang mit dem heiligen Wort bestanden, belegen in großer Zahl erhaltene Papyri, in denen biblische Gestalten und Wendungen für unterschiedliche Formen des Beschwörungszaubers in Dienst genommen wurden.40 Die christliche Literatur zeigt bereits hinsichtlich ihrer Gattungen das pagane Vorbild. Das gilt für die christliche Briefliteratur und die Predigt, die sich in einem „Umfeld“ bewegte, das von der Synagoge, aber auch den klassischen Formen öffentlicher Rede geprägt war,41 wird aber besonders an der Gattung der Kommentare deutlich, wo man mit Christoph Schäublin42 und Basil Studer43 „Problemkommentare“, die eine Schriftpassage aufnahmen, um nach Art der antiken quaestionesund-responsiones-Abhandlungen von ihr aus ein Sachproblem aufzuarbeiten, von solchen Kommentaren unterscheiden kann, die am Text entlangliefen. Entsprechend der Schultradition schlossen die christlichen Autoren an den Prolog ihres Kommentars, der anhand der gängigen Frageschemata in die jeweilige Schrift einführte, eine Paraphrase an, die den vom Autor beabsichtigten Sinn in möglichst einfachen Worten wiedergeben sollte. Auch mithilfe von Lexika wurden dabei unklare Ausdrücke und Sachverhalte, etwa Hebraismen, Personen und geographische Bezüge, die in der Bibel vorkommen, erklärt – ein Handbuch biblischer Realien scheint in der Antike allerdings nicht verfasst worden zu sein –44, die symbolische Bedeutung von Namen und Zahlen erhoben, Metaphern aufgelöst und der Stil des Textes auf seine Wirkungsweisen hin analysiert. Wie von der antiken Grammatik gefordert und in der Klassikerexegese praktiziert, stand am Schluss eine krisis poiematon, eine Gesamtbeurteilung der auszulegenden Schrift, die das prodesse et delectare bzw. die opheleia (griech. ‚Nutzen‘) des Textes zur Darstellung bringen sollte.45 Den Kommentatoren der Bibel erging es 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45

Vgl. Siegert 1993, 160; Eden 1997, 41–63. Vgl. Schäublin 1974; Schäublin 1992, 148f. Vgl. etwa Studer 1996, 88–94; Studer 1998. Vgl. Viciano 1996, 386, 390. Vgl. Wischmeyer 1998, 88–122. Vgl. Schäublin 1994a, 25f. Schäublin 1992, 153f. Studer 1998, 202, 100–136, 201–208. Vgl. Dassmann 1996, 44. Vgl. Schäublin 1974, 104–170; Schäublin 1992, 154–173; Studer 1996, 75–77, 80–83; Viciano 1996, 386– 394.

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nicht anders als den Deutern Homers. Auch sie sahen sich vor das Problem gestellt, dass der vorgefundene Ausdruck vielfach nicht zu dem Gehalt passte, den man dem Text zuschreiben wollte. Um Christus zumal im Alten Testament wiederfinden zu können, sahen sie sich daher gezwungen, gegebenenfalls auf allegorische Deutungen auszuweichen. Unter anderem diese Notwendigkeit bildete den Hintergrund für die Annahme einer göttlichen Inspiration der Heiligen Schrift, die man vom hellenistischen Judentum übernahm und – wie das zuvor schon Philo von Alexandria (um 15/10 v. Chr.–nach 40 n. Chr.) getan hatte – auf die Septuaginta übertrug. Auch die an sich theologisch verankerte Inspirationsannahme wird erst vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Rhetorik voll verständlich. Gott erschien darin als Rhetor von außergewöhnlicher Gewandtheit, seine Botschaft zur Wirkung zu bringen, wobei die Theologen bereits von der Tradition der Prolegomena dazu angehalten wurden, auf die „Mitwirkung“ der menschlichen Autoren zu achten.46 Schaut man zunächst auf die ersten Jahrhunderte, so lässt sich das Ineinander von antiker Philologie und christlicher Schriftauslegung an keinem anderen Theologen besser verdeutlichen als an Origenes, der als Leiter der alexandrinischen Katechetenschule auf Clemens von Alexandria folgte und mit seiner umfassenden Gelehrsamkeit auch in die nichtchristliche Bildungselite hineinwirkte.47 Seine philologische Fertigkeit belegt neben einer Vielzahl von Kommentaren zu biblischen Büchern vor allem seine um 230 fertiggestellte Revision der Septuaginta. In seiner Ausgabe, die in Caesarea noch lange Zeit einsehbar war,48 stellte Origenes den hebräischen Text der Schrift in hebräischen Buchstaben (1), dessen griechische Umschrift (2), die griechischen Übersetzungen des Aquila (3) und Symmachus (4), seine eigene revidierte Fassung der Septuaginta (5) sowie die griechische Übersetzung des Theodotion (6) nebeneinander. Dazu kam ein textkritischer Apparat. Der Obelos (griech. ‚Spieß‘) markierte eine Stelle, die sich in der Septuaginta, aber nicht in der hebräischen Bibel fand. Ein Asterisk (griech. ‚Stern‘) zeigte an, dass die hebräische Fassung mit anderen Übersetzungen als der Septuaginta übereinstimmte. Mit dieser Ausgabe, die aufgrund der parallel laufenden Anordnung der Texte in sechs Spalten (Abfolge wie oben angegeben) den Namen Hexapla erhielt, ging Origenes weiter als jeder Philologe vor ihm.49 Seine Leitlinien zur Auslegung der Heiligen Schrift finden sich im IV. Buch seines zwischen 220 und 230 verfassten theologischen Hauptwerkes Peri Archon, das als erste systematische Darstellung des christlichen Glaubens überhaupt gelten kann. Die 46 47 48 49

Vgl. Karpp 1980, 51; Wanke 1980, 1f.; Hanhart 1994, 18; Hengel 1994, 188; Studer 1998, 237–241. Vgl. Reventlow 1990, 170. Vgl. Studer 1998, 240. Vgl. Colpe 1979, 887. Vgl. dazu Neuschäfer 1987, 85–138, bes. 85–103.

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betreffende Argumentation entwickelte er dort aus einem apologetischen Szenario. Gegenüber den Juden, die einwendeten, dass im Alten Testament nicht von Jesus die Rede sei, weil sich die messianischen Weissagungen in ihm nicht im Wortsinn erfüllt hätten, wie gegenüber „den“ Häretikern, die argumentierten, dass das Alte Testament nicht Wort Gottes sein könne, weil es buchstäblich Gottes Unwürdiges enthalte, dürfe ein Christ nicht beim Wortsinn der Schrift stehenbleiben.50 Tatsächlich habe die Heilige Schrift ganz wie ein Mensch Leib, Seele und Geist, wobei ihr Leib mit dem wörtlichen Schriftsinn und ihre Seele mit dem moralisch anleitenden Schriftsinn gleichzusetzen seien, während ihr geistlicher Sinn aufschließe, welcher Art die himmlischen Dinge und zukünftigen Güter sind, deren Schatten die Juden dienten.51 Die Schrift enthalte an jeder Stelle den geistigen Sinn, während der wörtliche Sinn bisweilen unmöglich sei,52 weil der Heilige Geist in der ganzen Schrift – auch in den Evangelien und Apostelschriften – Widersprüchliches und Anstößiges niedergelegt habe, um einerseits den gläubigen Lesern Hinweise zu geben, dass man sich nicht mit dem zufriedengeben dürfe, was augenfällig sei, und um andererseits die geistigen Wahrheiten vor der Menge zu verbergen.53 Zur Deutung von Stellen, an denen der wörtliche Schriftsinn unmöglich sei, müsse der Leser textlich ähnlich gelagerte, aber geschichtlich wahre Aussagen der Bibel heranziehen und beide vom Gesamtsinn der Schrift her übertragen auslegen, wobei er sich nach den Regeln der auf die Nachfolge der Apostel gegründeten Kirche zu richten habe.54 Allein schon das Bild, das Origenes heranzog, um die Sinnebenen der Schrift voneinander abzuheben, macht in seinem Bezug auf den einzelnen Menschen deutlich, dass es ihm nicht um verschiedene Klassen von Lesern, sondern um Stationen ging, die ein Christ im Umgang mit der Schrift durchlaufen müsse. Die Ereignisse, von denen die Bibel berichtet – beispielsweise aus der Geschichte Israels – beschreiben innerseelisches Geschehen, den Weg, den die Seele auf den Vater hin zu gehen hat, wenn sie unter Anleitung christlicher Lehrer von der wörtlichen zur moralischen Betrachtung des Gotteswortes gelangt und sich schließlich zu dem Verständnis der Glaubensgeheimnisse aufschwingt, das ihr der Heilige Geist gibt.55 Origenes vertrat eine Hermeneutik der Seelenführung, in der sich unschwer der Einfluss platonischen Gedankenguts erkennen lässt, das sich für seine Einlösung am Text auf die stoische Tradition 50 51 52 53 54 55

Vgl. Origenes 1985, IV, 2,1. Vgl. ebd., IV, 2,4f. Vgl. ebd., IV, 3,5. Vgl. ebd., IV, 2,7–9 u. 3,3f. Vgl. ebd., IV, 3,5 u. 2,2. Vgl. Reventlow 1990, 176–185.

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der Allegorese stützte. Diese Kombination war in Alexandria wohl nicht zuletzt durch Philo und das hellenistische Judentum in besonderer Weise gegenwärtig und erlangte mit der Hermeneutik des Origenes – obwohl seine Theologie bereits zu seinen Lebzeiten mehr und mehr als häretisch verschrien war – prägenden Einfluss in der alexandrinischen Exegese. Das zeigt sich an ihren späteren Vertretern bis hin zu Didymos dem Blinden (313–398), aber auch an Theologen wie Eusebius von Caesarea (265–340) und Gregor von Nyssa (330–394), die sich der alexandrinischen Schule zwar nicht direkt zuordnen lassen, aber doch unter ihrem Einfluss standen.56 Alexandria war nicht das einzige Inspirationszentrum christlicher Exegese. Eine zweite, ihren Anfängen nach etwas später anzusetzende Richtung entwickelte sich in Antiochia, das damals nach Konstantinopel und Alexandria die dritte Metropole im Osten des Imperiums war. Als ihre führenden Vertreter gelten der schon genannte Lukian von Antiochia, Diodor von Tarsus († um 394), Johannes Chrysostomus (350– 407), Theodor von Mopsuestia (ca. 350–428) und Theodoret von Cyrus (390–460). Allerdings fehlte ihr eine institutionelle Verankerung, wie sie in Alexandria gegeben war.57 In welchem Verhältnis beide Richtungen zueinander standen, ist in der Forschung noch immer umstritten. Die Antiochener empfingen aus Alexandria Einflüsse – als Vermittler gilt vor allem Eusebius von Caesarea.58 Doch handelte es sich dabei vor allem um einen Transfer von philologischen Techniken, um das Erbe des Museions, das auch bei Origenes lebendig war, aber von den Antiochenern in eine Hermeneutik eingebracht wurde, die sich von derjenigen der Alexandriner unterschied. Deutlich wird dies vor allem an ihrem Umgang mit dem Alten Testament. Auch die Antiochener lasen es als verhüllte Ankündigung der Inkarnation, bemühten sich jedoch, dies mittels einer von ihnen als theoria bezeichneten heilsgeschichtlichen Betrachtung des Zusammenhangs der Testamente herauszuarbeiten, die vom wörtlichen und historischen Sinn der Texte ausging. Wie Homer aus Homer so sollte auch das Alte Testament aus sich selbst ausgelegt und die Verbindung zum Neuen Testament nur dort gesucht werden, wo dieses durch Zitation dazu berechtigte oder der Brückenschlag im wörtlichen und historischen Sinn des Textes angelegt war. Das war bei Begebenheiten, Institutionen oder Personen der Fall, die sich innerhalb des Zusammenhanges, in dem sie standen, zwanglos als typologische Hinweise auf das Neue Testament deuten ließen, sowie bei messianischen Psalmen und solchen Prophetenvisionen – von ihnen leitete sich der Ausdruck theoria überhaupt her –, die 56 57 58

Vgl. Pépin/Hoheisel 1988, 761–764; Simonetti 1994, 48f. Vgl. Pépin/Hoheisel 1988, 764f.; Viciano 1996, 370f. Vgl. Hollerich 1999, 95–102.

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zwar Israel galten, aber diesen Horizont nach Einschätzung der christlichen Interpreten überstiegen und im Status der Inspiration zugleich den kommenden Christus vor Augen hatten. Eine derartige prophetische ekbasis (griech. ‚Wirkung‘) nahm man beispielsweise dann für gegeben an, wenn der Prophet hyperbolische, d. h. überschießende Sprachbilder verwendete, die in keinem angemessenen Verhältnis zu den Anlässen und Umständen seiner Ansage standen. Wenn man vom Verständnis der Prophetie als Modell der antiochenischen theoria ausgeht, lässt sie sich unter dem Vorbehalt, dass das zeitgenössische Begriffsverständnis immer noch nicht völlig geklärt ist, als ein einziger, in seiner Anlage doppelter Wortsinn verstehen und unterschied sich dem antiochenischen Sprachgebrauch zufolge von der Allegorie dadurch, dass der allegorische Sinn im Prinzip auch unabhängig vom Zusammenhang des wörtlichen und historischen Textsinnes erhoben werden konnte und zu ihm hinzutrat.59 Ausgehend von den Überlegungen zum Unterschied zwischen Allegorie und theoria schloss die ältere Forschung unter anderem in Anlehnung an Wilhelm Dilthey60 auf einen scharf konturierten Gegensatz zwischen den beiden Exegeserichtungen. In neuerer Zeit argumentierte Manlio Simonetti wieder in diese Richtung, indem er unter anderem auf die frühe litteralistische Tradition Kleinasiens und den theologisch und kirchenpolitisch begründeten Einflussverlust des Platonismus im 4. und 5. Jahrhundert verwies, der die Ausbildung der antiochenischen Hermeneutik begünstigt habe.61 Mehrheitlich neigen die Forscher gegenwärtig jedoch dazu, die Schulunterschiede als weniger einschneidend anzusehen. Zwar reicht der mit Christoph Schäublins Forschung begründete Hinweis auf die gemeinsame Bildungstradition62 dafür nicht aus, da diese bereits in der Klassikerexegese unterschiedliche Hermeneutiken hervorgebracht hatte. Doch zeigen jüngere Untersuchungen zu einzelnen Theologen, dass innerhalb der beiden Richtungen große Unterschiede bestanden. Nicht alle antiochenischen Exegeten lehnten allegorische Deutungen ab, während die Alexandriner sie vor allem bei unklaren Stellen und – sieht man einmal vom Genre der erbaulichen Laienpredigt ab – meist nicht unabhängig vom Sinnzusammenhang, den sie einer auszulegenden Schrift beilegten, verwendeten, sondern durch diesen kontrolliert. Schließlich war den Vertretern beider Schulen ein christologisch motiviertes Schriftverständnis gemeinsam, das im Alten Testament die Vorbereitung und im Neuen Testament die Verlängerung der Fleischwerdung des göttlichen logos betrachtete.63 59 60 61 62 63

Vgl. Margerie 1980, 188–213; Guinot 1989, 1–34; Viciano 1996, 373–375, 379, 389, 397. Dilthey 1990, 322f. Vgl. Viciano 1996, 398–400. Vgl. etwa Simonetti 1994, 54–85. Schäublin 1974, 173. Vgl. Viciano 1996, 402–405. Vgl. dazu Margerie 1980, 13–28, 33–36; Panagopoulos 1992, 56; Jacob

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3.2 Christologische Hermeneutik Der Hinweis auf die gemeinsamen christologischen Wurzeln beider Auslegungsrichtungen rührt an einen entscheidenden Punkt. Zwar ist es überzeugend, wenn Basil Studer herausarbeitet, dass die altkirchlichen Autoren vor allem als „Schrifttheologen“ angesehen werden müssen. Doch drohen dort Missverständnisse, wo er vom „Biblizismus der Väter“ spricht, insofern sich der innere Zusammenhang der altkirchlichen Bibelexegese auch seiner eigenen Auffassung nach nur dann erschließt, wenn man neben die Perspektive der christlichen Aufnahme paganer Philologie und Rhetorik die Frage nach dem theologischen Richtmaß stellt, das die Exegeten der Bibel anlegten.64 Im Rahmen dieser Darstellung ist es nicht möglich, die Lehrentwicklung im Einzelnen zu verfolgen. Doch ist bereits im Zusammenhang der Kanongeschichte deutlich geworden, dass zwischen ihr und dem Schriftverständnis eine Wechselwirkung bestand. Während die Anfänge der Trinitätstheologie in den Schriftkommentaren zu suchen sind,65 findet sich bereits um 200 bei Irenäus von Lyon (140/50–nach 200) und Tertullian die wenig später in Origenes’ Peri Archon wiederkehrende Mahnung, die Schrift im Einklang mit der regula fidei, der kirchlichen Glaubenslehre, auszulegen.66 Insofern lässt sich die christliche Bibel mit einiger Berechtigung als Norm bezeichnen, die von Beginn an ihrerseits an der theologischen Formulierung ihres Gehalts normiert wurde, wenngleich dabei den Theologen zufolge nur das von Christus selbst geschaffene Verständnis der Schrift zum Tragen kam, das die Apostel übermittelt hätten. Seit dem 4. und 5. Jahrhundert wurde das Verhältnis dann zusehends genauer bestimmt – Chronologie und Ablauf ähneln bezeichnenderweise denen der Kanonisierung der Schrift –, als die Auseinandersetzungen um die Lehren der Arianer, Nestorianer und Monophysiten, in denen es um das Verhältnis ging, in dem die Personen der Trinität sowie die göttliche und die menschliche Natur in Jesus Christus zueinander stünden, eine konziliare Fixierung der regula fidei bewirkten, die den Gehalt der Schrift auf eine kirchlich approbierte Begrifflichkeit brachte. Wohl zur Absicherung des Verfahrens sprach man den zum Konzil versammelten Bischöfen zu dieser Zeit neben dem Titel Kirchenväter bzw. Heilige Väter die Gabe zu, strittige Glaubensfragen kraft Inspiration richtig zu entscheiden.67 Zwar stand nach wie vor außer Zweifel, dass die Heilige Schrift das grundlegende Zeugnis des Glaubens sei, was symbolisch unter

64 65 66 67

1993, 107–114; Studer 1996, 75–78, 80–83. Vgl. Studer 1998, 26–30. Vgl. Sieben 1996, 270. Vgl. Studer 1998, 28. Vgl. Drobner 1994, 2; Studer 1998, 256–261.

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anderem dadurch zum Ausdruck gebracht wurde, dass man sie jeweils zu Beginn der Versammlung in die Konzilsaula tragen und dort aufstellen ließ. Doch rückte sie jetzt gegenüber der Lehrtradition in technischer Hinsicht insofern in den Hintergrund, als sich die konziliaren Entscheidungen nach Nicaea (325), das mit seiner antiarianischen Formel von der Wesenseinheit des Sohnes mit dem Vater in besonderer Weise traditionsbildend wirkte, nurmehr auf die Beschlussformeln der vorangegangenen ökumenischen Konzile sowie in wachsendem Umfang auf die Aussagen der Väter beriefen. Offenbar benötigte man im Glaubensstreit präzisere Aussagen als diejenigen, die in der Bibel zu finden waren und von den Vertretern der Minderheitengruppen immer wieder für die eigene Sache umgedeutet wurden.68 Der Christologie zufolge, die sich zwischen Nicaea (325) und Chalcedon (451) kirchlich durchsetzte, hing die Heilswirksamkeit der Inkarnation davon ab, dass der göttliche Erlöser das Menschsein wahrhaft angenommen hatte – nur so konnte die Menschheit in ihm der Erlösung teilhaft geworden sein –, ohne dass seine Gottheit, die Macht, die Erlösung zu bewirken, dadurch verdunkelt worden wäre. Damit diese Anforderungen als erfüllt gelten konnten, musste er identisch mit dem ewigen Sohn Gottes und als solcher eines Wesens mit dem Vater sein.69 Dieser Zusammenhang bildete den hermeneutischen Rahmen der Schriftauslegung und hatte zugleich sprachund erkenntnistheoretische Implikationen.70 Grundlegend war dabei die Gleichsetzung des Sohnes mit dem logos Gottes, die der Prolog des Johannesevangeliums in das christliche Denken eingeführt hatte.71 Sie stellte den Anschluss an die logos-Lehren der Stoa her, in denen die Verbindung zwischen dem inneren logos endiathetos des Menschen, seiner Vernunft, die ihm Teil an dem universellen kosmischen logos gab, und dem nach außen wirkenden Wort, dem logos prophorikos, eine wichtige Rolle spielte. Bereits in hellenistischer Zeit wurde diese Unterscheidung von der Anthropologie in den Bereich von Kosmologie und Theologie übertragen und weit über die Stoa hinaus zum Gemeingut philosophischer Spekulation. So machte Philo den zweigeteilten logos zu Gottes Mittler und Werkzeug bei der Erschaffung der Welt, indem er den logos endiathetos mit der göttlichen Weisheit gleichsetzte, die den körperlosen Ideen innewohne, aus denen die intelligible Welt entstanden sei, während der logos prophorikos deren dinghafte Abbilder ins Dasein rufe, die sich zur Körperwelt verbinden würden.72 Auch frühe christliche Apologeten wie Tertullian übernahmen die stoische Unter68 69 70 71 72

Vgl. Karpp 1980, 51; Sieben 1996, 273, 277, 282. Vgl. Beyschlag 1987, 272; Beyschlag 1991, 119. Vgl. Panagopoulos 1992, 41–45. Vgl. Mühl 1962, 7, 38f.; de Vries 1990, 230. Vgl. Mühl 1962, 8–24; Beyschlag 1987, 112–117.

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scheidung, um das Verhältnis von Sohn und Vater begrifflich darzustellen, verblieb doch der logos, auch wenn er als prophorikos eine äußere Form und selbständige Wirklichkeit annahm, mit dem inneren logos in ursprünglichem Zusammenhang.73 Allerdings erwies sich der stoische Doppelbegriff zusehends als problematisch – zumindest, sofern er weiterhin vom Bild menschlichen Denkens und Sprechens ausging. Schon Philo sah sich vor der Schwierigkeit, über die stoische Unterscheidung keine Spaltung in den einen Gott hineinzutragen. Für die christlichen Theologen trat dazu noch das Problem, sich mit Modellen auseinandersetzen zu müssen, die eine Unterordnung des hervorgetretenen logos unter den Vater behaupteten. Der alexandrinische Presbyter Arius (†335), der – unter anderem von den beiden stoischen logoi ausgehend – lehrte, dass der Sohn als erstes Geschöpf Gottes anzusehen sei, das diesem dazu gedient habe, die Welt hervorzubringen, stand für eine ganze theologische Richtung. Zwar kannte auch Arius einen gottimmanenten logos. Ihm zufolge war der als Christus in Erscheinung getretene logos jedoch nicht von derselben Substanz wie dieser ewige logos, sondern ihm nur wesensähnlich und daher veränderlich, was auch seine Erniedrigung am Kreuz verständlicher machte.74 Gegen die Lehre des Arius stellte das Konzil von Nicaea das Wort von der Wesenseinheit des ewigen logos, des Sohnes, mit dem Vater. Bezeichnenderweise verwarf die theologisch bestimmende Persönlichkeit des Konzils, der spätere Patriarch Athanasius von Alexandria (295–373), mit Bezug auf diese Festlegung ausdrücklich die gebräuchliche stoische Begrifflichkeit.75 Seine Absage findet sich in Formulierungen des Augustinus vom Beginn des 5. Jahrhunderts wieder, die den Zusammenhang der lateinischen Theologie einprägten.76 So führte Augustinus in seiner Schrift De trinitate aus, dass die Zeugung des logos-Sohnes durch den Vater als Akt der Selbsterkenntnis und als Selbstzeugnis Gottes zu deuten sei, der im Sohn als seinem inneren Wort sein ganzes Wesen und damit sich selbst von Ewigkeit her ausspreche. Das nach außen getragene, stets defiziente menschliche Wort könne dafür aber keine Analogie abgeben.77 Während es bei der Formel von Nicaea um das Binnenverhältnis der trinitarischen Personen ging, stand bei den folgenden ökumenischen Konzilien das Problem der Inkarnation im Vordergrund. Gegen die namentlich mit dem Patriarchen Nestorius von Konstantinopel (†451) verbundene strenge Trennung zwischen der göttlichen und der menschlichen Natur des Erlösers, die ihren Gegnern auf die Behauptung eines 73 74 75 76 77

Vgl. Mühl 1962, 25–40; Colish 1985, 19–25. Vgl. Mühl 1962, 53f.; Hiltbrunner 1979, 544f.; Beyschlag 1987, 195–197, 228–268. Vgl. Mühl 1962, 41–56; Panagopoulos 1992, 45. Vgl. de Vries 1990, 230. Vgl. Augustinus 1997, VII, C.I.1., 933.

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„Doppelchristus“ hinauszulaufen schien, aber auch gegen die etwas später anzusetzende monophysitische Auffassung, der zufolge die menschliche Natur von der göttlichen Natur absorbiert worden sei, setzte es sich als rechtgläubig durch, gleichzeitig die inkarnatorische Einheit der beiden Naturen und ihre seinshafte Nichtidentität festzuhalten.78 Diese Auffassung hatte direkte Folgen für das Schriftverständnis. Nach dem Dafürhalten der Kirchenväter schloss die Menschwerdung des logos-Sohnes notwendig die reale Präsenz der beiden Naturen Christi im Wort der Schrift ein, das von der Menschwerdung Kunde gibt. Allerdings stellte sich damit das Problem, wie ihre sprachliche Vermittlung zu denken war, zeigte doch allein schon der paradoxale Charakter der chalcedonensischen Formel von der unvermischten und zugleich ungetrennten Einheit der beiden Naturen in Jesus Christus die Schwierigkeit, die Gottmenschheit auszusagen. Die gängigen antiken Sprachmodelle boten für dieses Problem keine Handhabe. Der Grund lässt sich am Beispiel der Personen der Trinität und ihrer Namen gut verdeutlichen. Sowohl das platonische Modell einer ontologischen Entsprechung zwischen Benennung und Sache als auch das aristotelische Modell einer bloß konventionellen Beziehung beider verfehlten das trinitarische Konzept der Einheit in der Dreiheit, weil die Gottesnamen im Fall des platonischen Modells auf einen Tritheismus hinausliefen, während man vom aristotelischen Modell leicht dahin geführt wurde, sie als bloß scheinbare Differenzierungen anzusehen, die keinerlei Entsprechung im Wesen Gottes hätten. Die christlichen Theologen waren darum gezwungen, eine eigene Beschreibung des Verhältnisses von Sache und Benennung zu entwickeln. Ihr Ausgangspunkt war das Bild von dem allmächtigen Gott, der in seiner Einheit dem menschlichen Bewusstsein notwendig jenseitig ist, sich aber in seiner Wirkung mitteilt, was man begrifflich in die Unterscheidung zwischen der theologia, die das Geheimnis der Einheit Gottes wahrt, und der oikonomia, die Gottes heilswirksames Handeln in der Zeit bezeichnet, fasste. Die Bedeutung dieses Ansatzes für die patristische Sprachauffassung lässt sich leicht einholen. Ihr zufolge galt, dass zwischen den Sachen – etwa der Wirklichkeit Gottes – und ihrer Benennung zwar allgemein ein Unterschied besteht, die Worte aber dann als hermeneutische Zeichen funktionieren können, die zu den Sachen hinführen, wenn sie die von den Sachen ausgehende Wirkung (griech. energeia) aufscheinen lassen. Die Voraussetzung dafür war, dass sie in Analogie zu den Sachen gefunden und verknüpft wurden. Bei der Heiligen Schrift war dies aber mit Sicherheit der Fall, weil Gott in ihr für eine symphonia zwischen Sachen und Worten Sorge getragen hatte. Das war zugleich die theologische Herleitung der 78

Vgl. Beyschlag 1991, 76–84, 115–120, 164–170.

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christlichen Inspirationslehre. Die Heilige Schrift war Ausdruck der oikonomia Gottes, der sich in ihren Worten so entäußert und erniedrigt hat, dass sie den Menschen sein Gnadenhandeln fassbar macht, wobei menschenmögliche Andeutungen der theologia einbegriffen sind. In der Schrift war freilich sorgfältig zu unterscheiden. Solche Stellen, die von der Menschheit Jesu handeln, mussten nach ihrem Wortsinn genommen werden, weil beispielsweise das Leiden und der Tod Jesu nicht heilswirksam gewesen wären, wenn er sie in der Konsequenz der monophysitischen Auffassung zwar auf sich genommen, aber von ihnen nicht berührt worden wäre. Ihren Sinn gewannen diese Aussagen freilich erst in Verbindung mit den Aussagen, die der Gottheit Jesu gelten und damit kenntlich machen, dass hinter jenen die Ratio der oikonomia steht. Wie im Fall der beiden Naturen Christi durften auch die Sinne der Schrift weder auseinandergerissen noch vermischt werden. Vielmehr musste man ihre dynamische Verbindung sehen. Erst dann würde der menschlichen Reflexion eine Nachbildung der Person Jesu Christi gelingen, die seine Gottheit – apophantisch (sich offenbarend) – auch im Sinn der theologia aufscheinen lässt.79 Verdeutlichen lassen sich diese Überlegungen wiederum an der Formel von Chalcedon. Nimmt man Gottheit und Menschheit Jesu als im Wortsinn gegeben an, macht gerade die Widersprüchlichkeit der Behauptung ihrer unvermischten und ungeteilten Vereinigung deutlich, dass der sich wechselseitig ausschließende Wortsinn auf die jenseitige Einheit Gottes hin überstiegen werden muss, die als Einheit dem Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch entzogen ist, der in der vielheitlich verfassten Welt des menschlichen Bewusstseins gilt. Die zuletzt geschilderten Überlegungen bewegten sich auf einer so hohen Ebene der Abstraktion, dass sich fragen lässt, inwieweit sie die spätantike Lektüre und Deutung der Bibel tatsächlich prägten. Dennoch zeigen sie, dass zumindest den Theologen ein von ihnen freilich nicht als solcher verstandener Metatext der Heiligen Schrift durchgängig gegenwärtig war – was nicht im Widerspruch zu dem Befund Basil Studers steht, demzufolge die theologisch reflektierende Auslegung immer den Rückhalt am Wortsinn suchte.80 Als mystischer Sinn der Schrift stand die Christologie – theologisch betrachtet – dafür, dass es zwischen der personalen Offenbarung und ihrer schriftlichen Überlieferung ebenso wenig eine Differenz gab wie zwischen dem Neuen und dem Alten Testament, in dem man die Menschwerdung des logos in ihrer Doppelnatur ebenfalls angelegt glaubte.81

79 80 81

Vgl. zum Zusammenhang patristischer Hermeneutik und Sprachauffassung Panagopoulos 1992 und Panagopoulos 1996. Vgl. Studer 1996, 71–75. Vgl. Panagopoulos 1992, 53.

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4. Augustins De doctrina christiana und die Vermittlung der antiken Bibelexegese an das lateinische Mittelalter Während die Rekapitulation der antiken Bibelauslegung im Zusammenhang der mittelalterlichen Exegese behandelt wird (s. u. Kap. II), soll zum Abschluss dieses Kapitels noch auf solche Texte hingewiesen werden, die in besonderem Maß als Traditionsbrücken über die Zeit der Völkerwanderung hinweg angesehen werden können. Die konziliare Fixierung der regula fidei, die Vulgata sowie die logos-Präzisierung des Augustinus wurden hier bereits genannt. Nachzutragen sind noch die Schriftkommentare des Hieronymus, die hinsichtlich ihrer Wirkung oft nicht ausreichend gewürdigt werden,82 sowie Augustins Traktat De doctrina christiana83, der in der Forschung als „Klassiker der westlichen Kultur“84 gehandelt wird. Zwar ist die Sichtweise der älteren Forschung, wonach die Schrift des Augustinus paradigmatisch für die Synthese zwischen antiker Kultur und Christentum stehe, in jüngerer Zeit stark modifiziert worden.85 Doch bleibt unbestritten, dass der Text für die mittelalterlichen Theologen große Bedeutung hatte, da er einen Aufriss der regula fidei mit einem Repertoire der gängigen Instrumente der Textauslegung kombinierte.86 Drei seiner vier Bücher befassen sich – eine Ausnahme in der kirchlichen Literatur der christlichen Antike – mit Fragen der Hermeneutik, wobei Augustinus unter anderem den Liber regularum des häretischen Theologen Tyconius (330–390) verarbeitete.87 Auf die res des Glaubens, die Augustinus gleich im ersten Buch der Doctrina christiana vorstellt, da den Lesern die Summe und Absicht der Schrift bekannt sein muss, bevor sie an die Interpretation ihrer Texte gehen können, folgt eine Betrachtung der signa, die diese Botschaft vermitteln. Im Unterschied zu den res, die Besitz der Christen sind, geht es bei den signa weithin um Verfahrensweisen, die für alle Arten von Texten gelten – Augustinus konnte sich hier auf seine eigene Erfahrung als Rhetor stützen. Das zweite Buch handelt von den signa ignota, das dritte Buch von den signa ambigua, wobei Augustinus jeweils unterscheidet, ob die signa wörtlich (propria) oder übertragen (translata) aufzufassen seien.88 Während sich die Verständnisprobleme im Fall der ignota propria ihm zufolge oft beheben ließen, wenn man nach Varianten der Übersetzung suche,89 82 83 84 85 86 87 88 89

Vgl. Froehlich/Gibson 1992, VIII. Im Folgenden zitiert als „DDC“. Benutzt wurde die Ausgabe Augustinus 1997a. Arnold/Bright 1994, Titel. Vgl. Schäublin 1994, 47, 53, 55. Vgl. u. Kap. II sowie Kap. II des Beitrags „Philosophie“ in diesem Band. Vgl. Pollmann 1996, 51–66. Vgl. Schäublin 1992, 164–166; Schäublin 1994, 48–55. Vgl. DDC II 16–23.

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gingen die ignota translata eher auf mangelndes Sachwissen zurück.90 In Form eines Exkurses entwickelt Augustinus ein System der Wissenschaften, die er jeweils in Hinblick auf ihren Ertrag für die Bibelauslegung erörtert.91 Was die ambigua propria anbelange, gelte es solche Irritationen auszuschließen, die auf Unklarheiten der Satzzeichen und der Aussprache zurückgingen,92 während man sich hinsichtlich der ambigua translata immer dann mit dem Wortsinn bescheiden solle, wenn sich bereits damit eine Bedeutung der signa finde, die dem Geist der Schrift entspreche.93 Augustinus setzt sich hier von dem bislang vorgestellten Wortgebrauch insofern ab, als die wahre spirituelle Lesart für ihn bisweilen eine wörtliche, bisweilen eine übertragene Auslegung fordert und sich damit sowohl von dem „fleischlichen“94 Schriftverständnis der Juden, das überall am Wortsinn anhafte, als auch von der Lesart der Griechen unterscheidet, die sich auch dort, wo der Geist der Schrift eine wörtliche Interpretation fordert, in Spekulationen versteige, die keinen Rückhalt am Fundament der Schrift hätten.95 Das vierte Buch gibt Anregungen für eine christliche Rhetorik, wobei Augustinus die Möglichkeit nutzt, auf den ästhetischen und intellektuellen Reiz einzugehen, den die Bibel in seinen Augen nicht zuletzt deswegen besitzt, weil der Sinn ihrer Aussagen auf den ersten Blick oft dunkel bleibt.96 Welchen Adressatenkreis die Doctrina christiana ansprechen sollte, ist in der Forschung nach wie vor umstritten. Ihre Ausführungen sind zu anspruchsvoll für eine breitere Leserschaft, gleichzeitig aber zu knapp und lückenhaft, um ein Handbuch christlicher Seelsorge abgeben zu können.97 Christoph Schäublin sieht in ihr den Aufriss einer christlichen Wissenschaft als Bibelhermeneutik, die freilich deutlich vom antiken Bildungsbegriff abzugrenzen sei.98 Tatsächlich besteht Augustinus zwar im Prolog seiner Schrift gegenüber einer Position, die das rechte Schriftverständnis als reine Gnadengabe ansieht, auf der Notwendigkeit von Regeln der Exegese, einer christlichen doctrina also.99 Seine weiteren Ausführungen zeigen aber deutlich das Bemühen, das erforderliche heidnische Wissen auf den geringstmöglichen Umfang zu reduzieren. Besonders das erste Buch macht deutlich, dass die Doctrina chris90 91 92 93 94 95 96 97 98 99

Vgl. DDC II 24. Vgl. DDC II 29–57. Vgl. DDC III 2–8. Vgl. DDC III 23. DDC III 13. Vgl. DDC III 9–23; Eden 1997, 59–63. Vgl. Pollmann 1996, 217–224, 243. Vgl. ebd., 72–75. Vgl. Schäublin 1994, 55. Vgl. DDC Prol. 3–17; Pollmann 1996, 76–84.

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tiana nicht auf die gelehrte Auslegung als Selbstzweck, sondern auf eine christliche Lebensführung zielt, den Weg in die Heimat, den die Lektüre der Bibel anleitet.100 Dass Augustinus gegen Ende des Buches als Summe der res und Kriterium der rechten Bibellektüre das doppelte Liebesgebot bestimmt, steht für dieses Programm. Solange ein Leser aus der Bibel Anschauungen gewinne, die in ihm die Liebe zu Gott und seinen Mitmenschen aufbauten, verursache es keinen schlimmen Schaden, wenn er im Einzelnen die Absicht verfehle, die den Autoren der biblischen Schriften jeweils vor Augen stand.101

II. Mittelalter Tradition und Entwicklung – Textformen und Schriftsinne

1. Vorbemerkungen Dass die Auslegungsgeschichte der Bibel ein zentraler Gegenstand der Mediävistik sein muss, wurde dem Fach erst durch die englische Historikerin Beryl Smalley zu Bewusstsein gebracht, deren bahnbrechendes Werk The Study of the Bible in the Middle Ages 1941 erschien.102 Bis dahin war die Bedeutung des Themas von der – unter englischen Mediävisten besonders zählebigen – Auffassung verstellt worden, dass allein Politik Geschichte mache, aber auch von konfessionellen Sichtblenden, einer Geringschätzung des mittelalterlichen Schriftstudiums auf protestantischer Seite, dem vorrangigen Interesse an systematisch-philosophischen Ausdrucksformen der christlichen Tradition auf katholischer Seite.103 Von Smalley ausgehend setzte sich die Einsicht durch, dass sich die Bibel über das gesamte Mittelalter als Grundbuch des Bildungskanons behauptete. Die Sprache und Bilderwelt der Intellektuellen waren von ihr geprägt. Zugleich hatte ihre Lektüre immer eine existenzielle Dimension.104 Darum lässt sich die Geschichte des Schriftstudiums als „Spiegel“ verwenden, der Veränderungen in der Organisation des Lernens, aber auch von Denkmustern einfängt und wiedergibt, wie Smalley in der Einleitung zur zweiten Auflage ihres Buches feststellte.105 Dabei entwarf sie ein Modell, demzu100 Vgl. DDC I 4–12. 101 Vgl. DDC I 39f.; Dawson 1994, 123–131; Schäublin 1994, 53–55; Pollmann 1996, 147; Eden 1997, 53–56. 102 Smalley 1941. Eine zweite, überarbeitete und stark erweiterte Auflage erschien 1952, eine dritte 1983, beide wie die erste in Oxford. 103 Vgl. van Engen 1996, 19. 104 Vgl. Dahan 1999, 23–30. 105 Vgl. Smalley 1952, XIII.

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tiana nicht auf die gelehrte Auslegung als Selbstzweck, sondern auf eine christliche Lebensführung zielt, den Weg in die Heimat, den die Lektüre der Bibel anleitet.100 Dass Augustinus gegen Ende des Buches als Summe der res und Kriterium der rechten Bibellektüre das doppelte Liebesgebot bestimmt, steht für dieses Programm. Solange ein Leser aus der Bibel Anschauungen gewinne, die in ihm die Liebe zu Gott und seinen Mitmenschen aufbauten, verursache es keinen schlimmen Schaden, wenn er im Einzelnen die Absicht verfehle, die den Autoren der biblischen Schriften jeweils vor Augen stand.101

II. Mittelalter Tradition und Entwicklung – Textformen und Schriftsinne

1. Vorbemerkungen Dass die Auslegungsgeschichte der Bibel ein zentraler Gegenstand der Mediävistik sein muss, wurde dem Fach erst durch die englische Historikerin Beryl Smalley zu Bewusstsein gebracht, deren bahnbrechendes Werk The Study of the Bible in the Middle Ages 1941 erschien.102 Bis dahin war die Bedeutung des Themas von der – unter englischen Mediävisten besonders zählebigen – Auffassung verstellt worden, dass allein Politik Geschichte mache, aber auch von konfessionellen Sichtblenden, einer Geringschätzung des mittelalterlichen Schriftstudiums auf protestantischer Seite, dem vorrangigen Interesse an systematisch-philosophischen Ausdrucksformen der christlichen Tradition auf katholischer Seite.103 Von Smalley ausgehend setzte sich die Einsicht durch, dass sich die Bibel über das gesamte Mittelalter als Grundbuch des Bildungskanons behauptete. Die Sprache und Bilderwelt der Intellektuellen waren von ihr geprägt. Zugleich hatte ihre Lektüre immer eine existenzielle Dimension.104 Darum lässt sich die Geschichte des Schriftstudiums als „Spiegel“ verwenden, der Veränderungen in der Organisation des Lernens, aber auch von Denkmustern einfängt und wiedergibt, wie Smalley in der Einleitung zur zweiten Auflage ihres Buches feststellte.105 Dabei entwarf sie ein Modell, demzu100 Vgl. DDC I 4–12. 101 Vgl. DDC I 39f.; Dawson 1994, 123–131; Schäublin 1994, 53–55; Pollmann 1996, 147; Eden 1997, 53–56. 102 Smalley 1941. Eine zweite, überarbeitete und stark erweiterte Auflage erschien 1952, eine dritte 1983, beide wie die erste in Oxford. 103 Vgl. van Engen 1996, 19. 104 Vgl. Dahan 1999, 23–30. 105 Vgl. Smalley 1952, XIII.

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folge an den Schulen des 11. Jahrhunderts eine Entwicklung einsetzte, die den theologischen Umgang mit der Bibel von der klösterlich-kontemplativ geprägten Exegese des frühen Mittelalters, der es vor allem um den mystischen Sinn der Schrift zu tun war, absetzte und zu einer Auslegungspraxis führte, die zunehmend auf den Wortsinn einerseits, die Kunst dialektischer Argumentation andererseits abstellte. Mit der Bibelauslegung an den Universitäten, die sich im 13. Jahrhundert aus den Schulen herausbildeten, habe sich diese Entwicklung allgemein durchgesetzt.106 Die Gegenposition markierte vor allem der Jesuit Henri de Lubac, der in seiner vierbändigen Exégèse médiévale107 auf die beherrschende Allgegenwart des geistigen Sinns in der mittelalterlichen Bibelauslegung abstellte.108 Die Entwürfe Smalleys und de Lubacs organisieren noch immer die wissenschaftliche Debatte, wobei die neuere Literatur – vgl. etwa die Beiträge in dem von Robert E. Lerner herausgegebenen Band Neue Richtungen in der hoch- und spätmittelalterlichen Bibelexegese109 oder Gilbert Dahans L’Exégèse chrétienne de la Bible en occident médieval110 –, was die Entwicklungsrichtung der in engem Sinn theologischen Bibelexegese anbelangt, eher dem Modell Smalleys zuneigt.111 Im folgenden Überblick liegt das Augenmerk zunächst auf der Entwicklung der am Wortsinn orientierten Auslegung, um dann in einem zweiten Abschnitt die Frage nach dem mittelalterlichen Umgang mit dem tieferen Schriftsinn einzuholen.

2. Der Trend zum Literalsinn Die Exegese des frühen Mittelalters war ihrem Selbstverständnis nach vor allem Weitergabe von Tradition, des Bibeltextes der Vulgata, der Kirchenväter und auch des antiken Bildungsgutes, soweit es dem Schriftverständnis dienlich war. Dem kam entgegen, dass der Kodex, das Buch aus Pergamentblättern, die zwischen Deckeln gebunden waren, die Papyrusrolle bis zum 5. Jahrhundert als Medium der Informationsspeicherung verdrängt hatte.112 Da der Kodex häufig großformatig war, ermöglichte diese Veränderung, dem zu kommentierenden Text weitaus umfänglicheres Material an Erklärungen beizugeben, als es zuvor der Fall war.113 Im Feld der Schriftauslegung brachte 106 107 108 109 110 111 112 113

Vgl. ebd., XIII–XVI. Lubac 1959–1964. Vgl. Colish 1992, 72f. Lerner 1996. Dahan 1999. Vgl. Lerner 1996a; Southern 1985, 1–16. Vgl. Bruckner 1983, 2197f. Vgl. Wilson 1997, 102f.

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dies eine anthologische Form von Kommentar hervor, die zu einem biblischen Text Exzerpte aus der einschlägigen Auslegung der Väter zusammenstellte und nur vereinzelt eigene weiterführende Überlegungen anschloss.114 In der Literatur wird bisweilen jede Auslegung dieser Form als Katenenkommentar (von lat. catena, ‚Kette‘) bezeichnet. Im engen Sinn steht der Ausdruck jedoch für eine Gattung ostkirchlicher Traditionsliteratur, die vor allem zwischen dem 6. und 9. Jahrhundert entstand. Ohne eigene Bemerkungen anzubringen, reihten ihre Bearbeiter Exzerpte aus einem gewählten Korpus von Kommentaren aneinander, deren Autoren namentlich genannt waren. Randkatenen platzierten dabei die auszulegende biblische Passage an der Innenseite oder in der Mitte des Blattes und ordneten die Kommentarstellen darum herum an, Textkatenen ließen ihr die Väterzitate folgen.115 Nimmt man die Präsenz in späteren Kommentaren als Maßstab, lassen sich als herausragende Vermittler der antiken Auslegungstradition für die lateinische Kirche Papst Gregor der Große (um 540–604), Isidor von Sevilla (um 560–636), die beiden angelsächsischen Gelehrten Beda Venerabilis (667–735) und Alkuin (um 730–804) sowie dessen Schüler Hrabanus Maurus (um 780–856) hervorheben, der in der Absicht, alles verfügbare Material zu sammeln, das sich bei den älteren Auslegern finden ließ, fast die gesamte Bibel durchkommentierte.116 Ausgehend von den Schulen von Auxerre, Laon und Paris begann sich die Bibelauslegung seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts zu verändern. Neben den Väterkommentaren wurden die artes wieder in größerem Umfang herangezogen, um den Bibeltext zu erklären. Möglicherweise stand dahinter das Ziel, die Kenntnis der artes nicht mehr an heidnischen Texten, sondern an den Büchern der Heiligen Schrift zu vertiefen und die Bibel so als neuen Basistext der höheren Bildung zu etablieren. Immerhin ging der Beginn dieser Veränderung zeitlich mit der Bewegung zur Kirchenerneuerung parallel, die mit Papst Gregor VII. (1073–1085) verbunden ist. Im Einzelfall, etwa bei Manegold von Lauterbach (um 1030–1103), der eine erfolgreiche Karriere als Interpret der antiken Klassiker aufgab, um seine an Priscian (um 500), Cicero (106–43 v. Chr.) und Ovid (43 v. Chr.–17/18 n. Chr.) erprobten Techniken der Texterklärung in den Dienst der Bibelauslegung zu stellen, lässt sich durchaus ein direkter Einfluss nachweisen.117 An sich war das Programm einer auf der Bibel basierenden höheren Bildung nicht neu. Am Hof Karls des Großen hatte man schon ähnliche Vorstellungen entwickelt, 114 115 116 117

Vgl. Dahan 1999, 79–90. Vgl. Mühlenberg 1989; Reventlow 1994, 146f.; Wilson 1997, 103. Vgl. Reventlow 1994, 105–145; Dahan 1999, 87–90. Vgl. Gibson 1992, 12–16, bes. 13.

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wobei Alkuin eine zentrale Rolle spielte, der im Auftrag des Kaisers unter anderem eine Revision des durch Kopistenfehler teilweise verdorbenen Vulgata-Textes vorgenommen hatte.118 Und auch vor der karolingischen Zeit war die Bibelauslegung darum bemüht, die artes zu integrieren. Insbesondere Isidor von Sevilla und Beda Venerabilis hatten hier einschlägige kompilierende Handbücher verfasst.119 Der Neuansatz des 11. und frühen 12. Jahrhunderts entfaltete demgegenüber aber eine nachhaltigere Wirkung, wobei sich die Auslegungspraxis im Ergebnis von der ursprünglichen Ausrichtung der Reform eher entfernte. Die Schulen des 11. und 12. Jahrhunderts waren weniger abhängig von kurzfristigen dynastischen Konjunkturen als die karolingischen Vorläufer, da sie sich in einem aufblühenden städtischen Umfeld entwickelten. Damit verbunden war das Aufkommen des neuen Gelehrtentypus berufsmäßiger Intellektueller. In Medizin und Recht boten erstmals Laienmagister, die von Hörergeld lebten, Unterweisung an. Aber auch die Welt- oder Regularkleriker, die an den theologisch führenden Schulen in Nordfrankreich lehrten, wurden durch das neue Phänomen einer scharfen Konkurrenz um Hörer und Ideen geprägt.120 Dem entsprach eine veränderte Herangehensweise an die Bibel. Kennzeichnend für die klösterliche Erfahrung der Schrift war einerseits die individuelle, von Meditation begleitete Lektüre, andererseits die Gemeinschaftsszene, in der die Mönche die Heilige Schrift als gesungenes Gebet oder liturgische Lesung passagenweise und im Zusammenhang des Kultus hörten.121 Die Schulmeister präsentierten die Bibel demgegenüber als Text, den sie in öffentlicher Vorlesung, der lectio, „seriatim“ durchgingen. Im Prinzip handelte es sich um eine kursorische Lektüre, die zwei und in manchen Fällen drei Etappen umfasste: eine Erklärung, die auf Schwierigkeiten der Wortbedeutung und Grammatik einging, eine Vertiefung des Sinnes durch Rückgang auf die Väter oder frühere Kommentatoren und die Lösung von komplexeren theologischen Fragen (quaestiones), die von den Hörern aufgeworfen wurden.122 Das charakteristische literarische Erzeugnis der Schulauslegung war die Glossa ordinaria, Text und Kommentar der gesamten Bibel im Umfang von sieben bis acht Quartbänden.123 Glossa meint ursprünglich die knappe Erklärung eines unklaren Ausdrucks, im einfachsten Fall durch ein Synonym. Sie wurde interlinear, zwischen den Zeilen des auszulegenden Textes platziert. In dieser Weise hatte man vor dem 11. Jahr118 119 120 121 122 123

Vgl. Reventlow 1994, 127–135. Vgl. ebd., 114–127. Vgl. ebd., 152; Verger 1995, 1582–1586; Dahan 1999, 91–93. Vgl. van Engen 1996, 21; Dahan 1999, 81–86. Vgl. van Engen 1996, 21–23; Dahan 1999, 95–106. Vgl. Smalley 1984, 452–457; Gibson 1992, 19.

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hundert nur die heidnischen Klassiker, die antiken Handbücher der artes und die Texte des kanonischen Rechts glossiert, während Manuskripte der Bibel bzw. einzelner biblischer Bücher nur durch die Exzerpte aus der Kirchenväterliteratur erklärt wurden, die marginal, neben und unter dem Text angeordnet waren. Etwas missverständlich – wenn man sich den Umfang derartiger Erklärungen vor Augen hält – wird ein dort platzierter Kommentar als Marginalglosse bezeichnet. Wo in älteren Bibelmanuskripten Erklärungen zwischen den Zeilen zu finden sind, handelt es sich um Ergänzungen, die Leser anbrachten.124 Nach dem Vorbild der nichttheologischen Lehrtexte verband die Glossa ordinaria erstmals Interlinear- und Marginalglosse. Ihre Interlinearglosse enthält erläuternde Stichworte zu Grammatik, Lesarten und Gliederung des Textes sowie etymologische und historisch-geographische Worterklärungen. Ihre Marginalglosse bietet den üblichen Apparat aus Kommentarexzerpten. Vereinzelt finden sich darunter Übernahmen aus Texten der moderni, von Meistern des 11. Jahrhunderts. Das Gros des Materials geht jedoch, vermittelt durch Hrabanus Maurus, auf die Zeit der Kirchenväter bis Beda Venerabilis zurück. Bei Weitem am umfangreichsten ist der Beitrag des Hieronymus, der seinerseits besonders auf Kommentare des Origenes zurückgegriffen hatte.125 Ort, Zeit und Umstände, unter denen die Glossa ordinaria entstand, sind noch nicht genau geklärt. Gewöhnlich nimmt man an, dass sie zwischen 1080 und 1130 sukzessive an den Schulen von Auxerre, Laon und Paris zusammengestellt wurde. Als frühe Redakteure bzw. Autoren des Kommentars zu einzelnen Büchern sind Anselm von Laon (1080 bis zu seinem Tod 1117 in Laon) und Gilbert von Auxerre (1120–1128 in Auxerre) gesichert. Möglicherweise geht die Anregung des Gesamtwerkes auf einen der beiden zurück. In den 1160er-Jahren findet sich die Glossa ordinaria dann als Referenzform von Bibeltext und Kommentar an den Pariser Schulen. Obwohl mit der Postilla litteralis super biblia des Nikolaus von Lyra (†1347) ein Kommentar zur gesamten Bibel entstand, der die Auslegung späterer Theologen in das Material der Glossa ordinaria einarbeitete und vielleicht als die bedeutendste Leistung der Exegese im späten Mittelalter gelten kann,126 hielt sich der autoritative Status der Glossa ordinaria nördlich der Alpen bis in die Zeit der Reformation.127 Mittelalterliche Theologen waren geprägt von der Auffassung, dass der Heilige Geist, der in den Autoren der biblischen Bücher lebendig ist, auch die Auslegung der Kirche anleitet. Dementsprechend sah man die kanonischen Bibeltexte als Zentrum eines stetig weiter wachsenden Korpus an, das sie mit den gleichfalls inspirierten Tex124 125 126 127

Vgl. Dahan 1999, 123–127. Vgl. Froehlich/Gibson 1992, VIII–X. Vgl. Reventlow 1994, 259–271; van Engen 1996, 28; Angenendt 1997, 179. Vgl. Froehlich/Gibson 1992, VII, Xf.; Gibson 1992, 5–21; Smith 1996, 5; van Engen 1996, 27f.

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ten der Kirchenväter, Konzilien und späteren kirchlichen Interpreten bildeten. Die Traditionsschichten lagerten sich übereinander, ohne dass das jeweils Frühere als überholt angesehen worden wäre.128 Die Glossa ordinaria brachte dies zur Darstellung, wirkte aber insofern petrifizierend, als sich ihre Auswahl von Kommentarauszügen als Standard durchsetzte.129 Von Thomas von Aquin bis hin zu Martin Luther war das Eröffnungskapitel des Buches Genesis in der Erinnerung der Theologen nicht von der Auslegung zu trennen, die Beda bzw. Augustinus – dem Arrangement der Glossa ordinaria nach – dem Text gegeben hatten.130 Sie markiert aber noch in anderer Hinsicht den Übergang zu neuen Auslegungsformen. Der Bibeltext war mit ihr zum Unterrichtsobjekt geworden, dem die Schulroutine und eine von ihr geprägte Intimität der Textkenntnis möglicherweise etwas von seiner Sakralität nahmen.131 Im Vergleich zu älteren Kommentaren war außerdem das Vätermaterial in der Marginalglosse der Glossa ordinaria der Unterrichts- und Lernökonomie wegen verknappt.132 Die Bearbeitung theologischer Probleme verlagerte sich dementsprechend zunehmend in neue Gattungen von Literatur.133 In der Frühscholastik waren erstmals wieder Werke verfasst worden, die nicht unmittelbar mit der Bibelauslegung zusammenhingen. Ein bekanntes Beispiel sind die Schriften Anselms von Canterbury (1033–1109) Monologion, Proslogion und Cur deus homo.134 In die gleiche Richtung weisen die Sammlungen von quaestiones-Auslegungen, die an den Schulen entstanden. Die sogenannten Quaestiones de divina pagina verhandelten Fragen, die an Schriftstellen aufgeworfen worden waren. Daneben stand die Redaktion von Sentenzen, theologischen Lehrsätzen, die auf Sachprobleme antworteten.135 Sentenzensammlungen stellten das dogmatische Wissen der Zeit zusammen, wobei die Sententiarium libri IV des Petrus Lombardus (ca. 1100–1160), der an der Kathedralschule von Paris lehrte, bald einen Standard setzten.136 Nicht so sehr als eigene literarische Gattung, sondern als eine Fortbildung der Sentenzensammlungen, lassen sich die theologischen Summen auffassen, die den Stoff systematischer organisierten und ebenfalls seit dem 12. Jahrhundert entstanden. Summen wurden für alle Wissensgebiete geschrieben, finden sich jedoch in ihrer Mehrzahl in der Theologie. Sie 128 129 130 131 132 133 134 135 136

Vgl. Smith 1996, 2–4, 14; Dahan 1999, 56, 65. Vgl. Smith 1996, 9. Vgl. van Engen 1996, 29. Vgl. Smith 1996, 9; van Engen 1996, 24–33. Vgl. Evans 1984, 46. Vgl. Gibson 1992, 19; Berndt 1996, 71f. Vgl. Reventlow 1994, 151. Vgl. Ricklin 1995, 1765f.; Dahan 1999, 95–98. Vgl. Reventlow 1994, 150. Vgl. Colish 1992 und Colish 1994, 155–225.

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konnten einen Teilbereich, aber auch die Gesamtheit der betreffenden Disziplin zur Darstellung bringen.137 Die theologischen Summen waren in der Aufbereitung ihres Stoffes von der disputatio beeinflusst, die sich als eine formalisierte Weise, theologische Probleme zu erörtern, ebenfalls aus den quaestiones und dem Umgang mit den Sentenzen entwickelte. Literarisch wegweisend war hier Peter Abaelard (1079–1142), der in seinem Sic et non (‚Rede und Gegenrede‘) eine Methode der Kanonistik aufnahm und einander widerstreitende Aussagen der Bibel und Väterliteratur konfrontativ aufeinander bezog. Der Prolog dieses Textes stellt eine Einführung in die kritische Lektüre der Bibel dar. Darin unterscheidet Abaelard zwischen scheinbaren Widersprüchen, die sich auflösten, wenn man in ihnen den Fehler von Kopisten oder eigenes Missverstehen des biblischen Sprachgebrauchs aufdeckt, und eindeutigen Widersprüchen. Viele Autoren des Neuen Testaments seien ungebildete Heidenchristen gewesen, die Namen und Sachverhalte aus der Zeit des Alten Testaments leicht durcheinandergebracht hätten. Im Fall solcher Fehler sei der Leser frei, kraft eigenen Verstandes nach der Wahrheit zu suchen. Dabei sei es angebracht, zwischen wichtigen und weniger wichtigen Teilen der Schrift zu unterscheiden und auf den Kontext der fehlgehenden Stelle zu achten. Sicher sei, dass die Bibel nicht absichtlich in die Irre führe.138 Zu Beginn des 13. Jahrhunderts schlossen sich die magister der Pariser Schulen zu einer Schutzgenossenschaft zusammen, die sich bald auch auf gemeinsame Lehrregularien verständigte. Das waren die Anfänge der Universität Paris, die noch vor der wenig später gegründeten Universität Oxford zum angesehensten Ort theologischen Denkens im Bereich der lateinischen Kirche wurde. Ein ähnlicher, allerdings von den Studenten ausgehender Vorgang lief fast zeitgleich in Bologna ab, dessen Universität einen vergleichbaren Status für die Rechtswissenschaften erlangte. Andernorts entstanden Universitäten später auch als Stiftungen der Kirche oder weltlicher Fürsten.139 Den Übergang von der Schul- zur Universitätstheologie begleitete eine formale Trennung von Exegese und systematischer Reflexion des Glaubens. An den theologischen Fakultäten wurden beide als komplementäre Teildisziplinen parallel betrieben.140 Die Sentenzen des Petrus Lombardus etablierten sich als Standardtextbuch neben der Glossa ordinaria. Die Sentenzen zu kommentieren wurde zur Grundanforderung für jeden Theologen, der magister werden wollte.141 Auf dem Weg zu diesem Grad durchlief man um die Mitte des 13. Jahrhunderts zunächst ein etwa fünfjähriges 137 138 139 140 141

Vgl. Hödl 1997, 306–308. Vgl. Reventlow 1994, 151–161; Luscombe 1996, 81–83; Spivey 1998, 75; Dahan 1999, 410. Vgl. Verger 1999, 1249–1255. Vgl. Dahan 1999, 108. Vgl. Smith 1996, 9; Dahan 1999, 109.

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Studium, gab dann als baccalaureus biblicus zwei Jahre lang einen kursorisch erklärenden Durchgang der Bibel, um anschließend als baccalaureus sententiarius weitere zwei Jahre über die Sentenzen des Petrus Lombardus zu lesen. Danach bestand die Möglichkeit, die Lehrerlaubnis (licentia docendi) als magister zu erlangen, der vertiefte Studien einzelner Bücher der Bibel und spezieller theologischer Probleme anbot.142 Möglicherweise beförderte diese Aufgliederung der Theologie längerfristig eine Verlagerung der Interessen von der Glossa ordinaria hin zu den Sentenzen, die denselben Stoff in einer Form boten, die direkt an quaestio und disputatio heranführte, die neuen Felder akademischer Profilierung.143 Dass die Glossa ordinaria nach 1250 kaum mehr kopiert wurde, deutet als Indiz in diese Richtung, könnte aber auch damit zu tun haben, dass inzwischen alle großen Bibliotheken über ein Exemplar dieses kostspieligen Standardwerkes verfügten.144 Ohnehin bedeutete eine derartige Interessenverlagerung nicht, dass die Bibel ihre zentrale Position verlor. Auch in der disputatio argumentierten die Kontrahenten weithin mit Belegen aus der Schrift. Und wenn die Glossa ordinaria – im Unterschied zu den Sentenzen – kein Gegenstand schriftlicher Kommentare war, gilt dies nicht für die Bücher der Bibel selbst. Nimmt man die Einteilung des Arbeitstages und die literarische Produktion der magister als Maßstab, war die Aufgabe, die Schrift auszulegen, der systematischen Theologie jedenfalls vorgeordnet.145 Die Universitätskommentare zeigen die Fortsetzung der Trends, die an den Schulen begonnen hatten.146 Während die monastischen Autoren noch die langen Fügungen des klassischen Stils gebraucht hatten, reduzierten die magister an den Schulen und Universitäten die Sprache ihrer Schriftauslegung auf das Notwendigste und prägten damit in Syntax und Vokabular ein technisches Idiom aus.147 Der Struktur nach folgten ihre Kommentare der lectio. Auf die einleitende Vorstellung von Autor und Buch, die eines der aus der Antike überlieferten Schemata des accessus ad auctores abarbeitete, folgte die Behandlung des Textes. Dabei gingen die Kommentare abschnittsweise vor, wobei sie der kursorischen Erklärung einer Passage gegebenenfalls die Erörterung eines komplizierteren Problems als Exkurs anschlossen. Inhaltlich zeigen sie eine beachtliche Verfeinerung der philologischen Analyse, die sich an dem Dreischritt littera – sensus – sententia orientierte, der aus der antiken Rhetorik stammte und die 142 143 144 145 146 147

Vgl. Reventlow 1994, 214; Dahan 1999, 110. Vgl. Smith 1996, 9; van Engen 1996, 19. Vgl. Smith 1996, 9. Vgl. Reventlow 1994, 200; Spivey 1998, 79. Vgl. Dahan 1999, 114. Vgl. ebd., 86, 98, 109.

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Klärung von Vokabular und Grammatik, des Bezugsrahmens und der philosophischtheologischen Aussage des Textes aufeinander folgen ließ.148 Dass Alkuins Vulgata-Revision viele Fehler aufwies, war den Gelehrten seit Längerem bekannt. Bereits im 12. Jahrhundert versuchten einzelne Theologen, die ursprüngliche Übersetzung des Hieronymus dadurch freizulegen, dass sie den umlaufenden Text der Vulgata mit hebräischen und später auch mit griechischen Manuskripten biblischer Texte verglichen. Dabei kam es auch zum Austausch mit jüdischen Gelehrten. Im 13. Jahrhundert entstanden einzelne Bibelbearbeitungen mit kritischen Anmerkungen und die sogenannten correctoria, Handbücher, die Varianten und Verbesserungen des Bibeltextes anboten, auf die sich die Kommentatoren bei ihrer Arbeit stützten.149 In den Bereich des sensus gehört die von den scholastischen Gelehrten charakteristisch verfeinerte Technik, den gedanklichen Aufbau eines Textes durchsichtig zu machen, indem sie ihn ausgehend von einer formalen Einteilung in Kapitel in immer kleinere Sinneinheiten zerlegten.150 Auf dieses Verfahren geht beispielsweise die heute gültige Kapiteleinteilung der Bibel zurück, die Stephen Langton (um 1155–1228) vornahm.151 Was die Klärung der biblischen Chronologie und Geographie anbelangt, konnten die Universitätsgelehrten auf die Arbeiten der Theologen von St. Viktor in Paris aus dem 12. Jahrhundert, zumal auf die Historia scholastica des Petrus Comestor (†1178) zurückgreifen, eine Weltgeschichte für die Zeit von Altem und Neuem Testament.152 Während für viele Bereiche der Eindruck einer kontinuierlichen Fortentwicklung entsteht, machte die Universitätsexegese doch eine Veränderung durch, die sie deutlich über die Anwendung der artes an den Schulen hinausführte. Als treibende Kraft wirkte dabei die Rezeption des „neuen“ Aristoteles.153 Aus dem Werk „des Philosophen“ waren dem lateinischen Mittelalter zunächst nur die Kategorienschrift und De interpretatione bekannt, die ihm durch Boethius (ca. 475/80–524) vermittelt wurden. Zusammen mit der Isagoge des Porphyrios (ca. 234–305/10) prägten sie während des frühen Mittelalters und der Karolingerzeit den Dialektikunterricht an den Schulen. Im 12. Jahrhundert begann eine Übersetzungstätigkeit aus dem Arabischen und Griechischen, die den Gelehrten weitere Schriften des Aristoteles zur Kenntnis brachte. Um 1200 lagen zusätzlich bereits die Erste und die Zweite Analytik, die Topik und die 148 149 150 151 152 153

Vgl. Berndt 1996, 77; Dahan 1999, 111–116, 239–298. Vgl. Dahan 1996, 124; Dahan 1999, 162–238. Vgl. Minnis 1984, 149–153; Dahan 1999, 271–276. Vgl. Reventlow 1994, 208. Zur späteren weiteren Einteilung in Verse s. u. Kap. III.5.1. Vgl. Dahan 1999, 276–283. Zur viktorinischen Exegese vgl. zuletzt Berndt 2009. Vgl. Berndt 1996, 76; Meier 1996, 58.

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Elenchi in lateinischer Sprache vor. Als Ars nova oder Logica nova setzte man sie von den schon bekannten Schriften des Aristoteles und der Isagoge des Porphyrios ab, die nun Ars vetus oder Logica vetus genannt wurden. Schriften des Aristoteles zu Physik und Metaphysik folgten im 13. Jahrhundert.154 An den theologischen Fakultäten brach sich die aristotelische Philosophie erst im 13. Jahrhundert Bahn.155 Die christlichen Theologen sahen sich dabei vor die Aufgabe gestellt, die Glaubenslehre und den biblischen Text mit einem konkurrierenden Paradigma der Weltdeutung abgleichen zu müssen, das die Unerschaffenheit der Welt und die Sterblichkeit der menschlichen Seele lehrte.156 Während diese Konfrontation vor allem die systematische Theologie bzw. den Bereich der sententia betraf, war die Rezeption des Aristoteles auch für die littera-Ebene wichtig. In Form eines neuen accessus ad auctores übertrug man das Kausalitätsschema, das Aristoteles zufolge alle Entwicklungen des Universums anleitete, auf den Umgang mit der Heiligen Schrift. Dabei wurden der Autor eines biblischen Textes als dessen causa efficiens, seine Quellen als causa materialis, Stil und Aufbau der Argumentation als causa formalis und das angestrebte Ziel als causa finalis behandelt.157 Indem man, beeinflusst von Aristoteles, die Allmacht Gottes als erste und universelle Ursache eines Kontinuums nachgeordneter, instrumenteller Ursachen auffasste, ließ sich die göttliche Inspiration der biblischen Texte damit zusammendenken, dass die menschlichen Autoren in vollem Bewusstsein Worte, Stilfiguren und Gedankenfolge wählten, um die beabsichtigte Wirkung zu erzielen.158 Dieser Ansatz traf sich mit der Diskussion, die der aristotelische Wissenschaftsbegriff unter den Theologen über den Status ihrer Disziplin sowie des biblischen Textes auslöste.159 Einflussreich war dabei die Unterscheidung zwischen den endlichen artes oder scientiae und der göttlichen sapientia, die Alexander von Hales (1186–1245) in seiner Summa theologica vornahm. Danach gingen jene von der Kraft des Verstandes aus und erfassten ihren Stoff auf dem Weg von definitio, divisio und collectio, während diese auf die Affekte der Menschen wirkte, um in ihnen die Liebe zum Guten zu entfachen und sie zur Erlösung zu lenken.160 Zwar fand diese Entgegensetzung nicht nur Zustimmung. Thomas von Aquin (1225–1274) vertrat demgegenüber die Auffassung, dass auch die Theologie eine rationale Wissenschaft sei.161 154 155 156 157 158 159 160 161

Vgl. van Steenberghen 1980, 936–938. Vgl. ebd., 938. Vgl. Spivey 1998, 78f. Vgl. Minnis 1984, 4f. Vgl. ebd., 82–84, 112f., 118; Angenendt 1997, 179. Vgl. Minnis 1984, 119–130. Vgl. ebd., 119–121. Vgl. ebd., 128f.

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Doch änderte solcher Widerspruch nichts daran, dass man gegenüber der Sprache und Methodik der systematischen Theologie mit ihren technisch anmutenden FrageAntwort-Schemata, wie sie sich aus den Sentenzen entwickelten, in der Bibel zunehmend eine nichtwissenschaftliche Sprache und die Vielgestaltigkeit der literarischen Formen entdeckte, in denen die Botschaft des Heils zur Wirkung gebracht wurde.162 Zusammen mit der veränderten Sicht auf die Rolle des menschlichen Autors ermöglichte dies – beispielhaft fassbar an der Postilla litteralis super biblia des Nikolaus von Lyra –163, die Bibel zum Gegenstand einer vertieften literarischen Analyse zu machen, die nach den gewählten formae tractandae und insbesondere den rhetorischen Mitteln des jeweiligen Textes fragte.164 Diese Verbindung schuf auch eine Plattform, auf der sich heilige und profane Dichtung leichter in Beziehung setzten ließen. Obwohl der Geltungsunterschied zwischen beiden für die zeitgenössischen Theologen außer Frage stand, arbeitete dies seit dem 14. Jahrhundert einer humanistischen Interpretation der antiken Klassiker insofern vor, als sich nun leichter argumentieren ließ, dass sie viele Wahrheiten des Christentums vorweggenommen und in literarischer Einkleidung zur Wirkung gebracht hätten.165

3. Das Problem des tieferen Schriftsinns Den mittelalterlichen Theologen stand immer vor Augen, dass der logos Gottes, Jesus Christus, die Grenzen der menschlichen Sprache sprengt, die seine Kundgabe transportiert. Die Heilige Schrift ist nicht einfach Gottes Wort, sondern der Zugang zu ihm. Dass sie eine Pluralität von Lektüreniveaus zulässt, blieb darum unbeschadet der in Richtung einer verfeinerten Analyse des Wortsinns laufenden Entwicklung der Exegese unstrittig.166 So hatten die Theologen der Schule von Chartres, denen Beryl Smalley zu Recht einen zentralen Platz in der Begründung ihrer These einräumte, im 12. Jahrhundert tatsächlich großen Anteil daran, die Klärung von verba, res und facta der biblischen Texte voranzutreiben. Doch bildete ihre im Wortsinn verankerte Auslegung die Basis einer heilsgeschichtlich und kosmologisch orientierten geistigen Lesart der Heiligen Schrift, die darauf ausging, Bibel und Schöpfung als komplementäre Bücher der Offenbarung offenzulegen, und in der meditatio der göttlichen Geheimnisse gipfeln sollte.167 Kom-

162 163 164 165 166 167

Vgl. ebd., 3–6; Dahan 1999, 109. Vgl. Reventlow 1994, 259–271; Angenendt 1997, 179. Vgl. Minnis 1984, 124–126, 130. Vgl. Krewitt 1978, 284–289; Minnis 1984, 131–143; Minnis 1996, 178f. Vgl. Dahan 1999, 27–32, 299–307. Vgl. Berndt 1996, 76f.; Meier 1996, 48–57.

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plizierter wurde die Lage im 13. Jahrhundert. Im Zuge der Rezeption des Aristoteles gewann an den Universitäten die Auffassung an Boden, dass in der theologischen Argumentation nur Schriftbegründungen aus dem Bereich des Wortsinns Gültigkeit haben könnten.168 Damit einher ging jedoch eine Ausweitung dessen, was als dem Wortsinn zugehörig aufgefasst wurde.169 Anders ließ sich offenbar dort, wo man bislang auf eine geistige Lesart zurückgegriffen hatte, um die behauptete Einheit der beiden Testamente zu zeigen sowie offensichtliche Widersprüche und Anstößigkeiten in den Texten aufzulösen, nicht verfahren. In beispielhafter Weise lässt sich dies an Überlegungen zeigen, die Thomas von Aquin zu Beginn seiner Summa theologica anstellte.170 Ihr Ausgangspunkt war die Frage, ob in der Heiligen Schrift ein Wort einen mehrfachen Sinn haben könne, ohne in Widersprüchlichkeit zu führen. In seiner Antwort griff Thomas auf den hermeneutischen Grundsatz des Augustinus zurück, dass Gott anders als ein menschlicher Autor die Macht habe, nicht nur Worte, sondern auch Dinge zu verwenden, um etwas zu bezeichnen. Darum finden sich für Thomas in der Heiligen Schrift grundsätzlich zwei Bedeutungsebenen: Die erste Ebene, auf der die Worte Dinge bezeichnen, bietet den Wortsinn des Textes, während die zweite Ebene, auf der die mit Worten aufgerufenen Dinge selbst Zeichen und Sinnbilder anderer Dinge sind, seinen geistigen Sinn eröffnet. Entscheidend ist für Thomas, dass der geistige Sinn im Wortsinn gründet und ihn voraussetzt.171 Die Tendenz, den Wortsinn auszuweiten, zeigt sich dann in der prinzipiellen Begründung, die Thomas für dessen Primat gibt: Da der Wortsinn das ist, was der Autor bei seinen Worten im Sinn hatte, Gott als Autor der Heiligen Schrift aber alle Bedeutungsebenen auf einmal begreift, kann diese nach dem Wortsinn einen mehrfachen Sinn haben, ohne dass daraus Mehrdeutigkeit oder eine andere unerwünschte Wirkung von Vielheit folgt.172 Tatsächlich fasste Thomas mit der Mehrzahl der Autoren des 13. Jahrhunderts – eine Ausnahme machte der berühmte Franziskanertheologe Bonaventura (1220–1274) –173 den gesamten Bereich der philosophisch-theologischen Schriftdeutung, der sententia, unter den Bereich des Wortsinns.174 Ebenso verfuhr man mit metaphorischen Aussagen in der Heiligen Schrift.175 Thomas erläutert deren Einordnung am Beispiel der biblischen Wendung vom „Arm Gottes“. Der Wortsinn liege hier nicht im manifesten, sondern im übertragenen bildlichen Sinn, weil der Absicht des 168 169 170 171 172 173 174 175

Vgl. Smalley 1985, 60f.; Dahan 1996, 123f. Vgl. Dahan 1999, 301, 434. Vgl. Dahan 1996, 125; Dahan 1999, 446. Vgl. S. th. I, q. 1, a. 10. Vgl. ebd. Vgl. van Engen 1996, 35f. Vgl. Dahan 1999, 301. Vgl. Dahan 1992, 109–117; Dahan 1996, 137; Dahan 1999, 427.

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Textes nach nicht wirklich von einem Körperglied die Rede sei, sondern ausschließlich vom Versinnbildlichten, der Kraft Gottes.176 Im gleichen Text unterscheidet Thomas als Formen geistigen Schriftsinnes die allegoria – sie lässt Begebenheiten des Alten Testaments als typologische Vorwegnahmen des Neuen Testaments erkennen –, die tropologia – sie erschließt in Christus und seiner Ankündigung im Alten Testament Vorbilder zur moralischen Anleitung gegenwärtigen Handelns – und die anagogia – sie eröffnet, was für den Christen in der ewigen Herrlichkeit zu erhoffen ist.177 Allen drei ist gemeinsam, dass sie als zweite Sinnebene zum manifesten Sinn hinzutreten, der anders als im Fall der Metapher als der im Text beabsichtigte Wortsinn bestehen bleibt.178 Wichtig wurde diese Unterscheidung in der Deutung der bildhaften Aussagen, derer sich die Propheten bedienten. In der christlich-theologischen Lesart nicht nur des Thomas künden sie im metaphorischen, aber wörtlichen Sinn von Christus. Während der manifeste – „jüdische“ – Wortsinn entfiel,179 blieb eine eschatologisch-anagogische Deutung zwar möglich, war aber insofern nicht unproblematisch, als sie im Prinzip geeignet war, die Endgültigkeit des Christusereignisses zu relativieren.180 In seiner Exégèse médiévale ließ Henri de Lubac die Entwicklung der Bibelauslegung auf das Schema der vier Schriftsinne zulaufen, wie es sich auch bei Thomas von Aquin findet. Es war kurz vor der Mitte des 5. Jahrhunderts von Johannes Cassianus (um 360–435) und Eucherius von Lyon († um 450), die darin älteres Material aufnahmen und umformten, in der Begrifflichkeit formuliert worden, die sich im Mittelalter durchhielt.181 Vorherrschend wurde es allerdings erst im 13. Jahrhundert. Andere Einteilungen, darunter diejenige des Origenes, blieben daneben immer gebräuchlich.182 Die grundlegende Unterscheidung war ohnehin diejenige von Wortsinn und geistigem Sinn, wobei – wie oben ausgeführt – auch der Wortsinn untergliedert wurde.183 Im Bereich des geistigen Sinns führte man Allegorie und Typologie meist zusammen.184 Um den Übergang in den geistigen Schriftsinn und seine Bestimmung regelhafter zu gestalten, entstanden Hilfsmittel, die immer weiter verfeinert wurden. Handbücher listeten die geistige Bedeutung der res auf, der Personen, Zahlen, Ortsnamen, Pflanzen, Tiere und naturräumlichen Gegebenheiten, die in den biblischen Texten vorkamen und die geschilderten Ereignisse als circumstantiae 176 177 178 179 180 181 182 183 184

Vgl. S. th. I, q. 1, a. 10. Vgl. ebd. Vgl. Dahan 1999, 444. Vgl. Dahan 1996, 136f. Vgl. Riedlinger 1981, 64. Vgl. Pépin/Hoheisel 1988, 766–769. Vgl. Minnis 1984, 4; Reventlow 1994, 155, 174, 185, 221; Dahan 1999, 6, 436. Vgl. ebd. Vgl. Smalley 1985, 44.

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zeichenhaft einrahmten. Um die je eigene vis der einzelnen Worte offenzulegen, gaben außerdem spezielle etymologische Wörterbücher Auskunft über die ursprüngliche Korrespondenz zwischen den Worten und den von ihnen bezeichneten Sachen, wie sie vor der Verwirrung der Sprachen geherrscht hätte.185 Im Zusammenhang der Bemühungen, den geistigen Sinn zu präzisieren, eröffnete sich auch eine zweite Ebene des Austauschs mit den zeitgenössischen jüdischen Gelehrten. Seit der Antike war die jüdische Schriftauslegung von einem mythischen Ansatz geprägt, der seinen klarsten Ausdruck im Midrasch fand. Die Schrift wurde darin als Sammlung gleichnishafter Texte begriffen, die den Mythos als Mittel verwenden, um metaphysische oder moralische Realitäten auszudrücken, die über den unmittelbaren Wortsinn des Textes hinausreichen. Zu ihrer Auslegung bediente sich der Midrasch selbst einer gleichnishaft erzählenden Sprache.186 Im lateinischen Europa öffnete sich die jüdische Exegese seit dem 12. Jahrhundert für das mit Abaelard und anderen an Boden gewinnende ratio-zentrierte Denken. Dies brachte eine neue, stärker auf den Wortsinn ausgehende Auslegung hervor, den Peshat. Christliche Gelehrte nutzten diese Wendung, um sich für die Deutung des Alten Testaments die besondere sprachliche und historisch-archäologische Kompetenz jüdischer Schriftkundiger zu erschließen, worauf ebenfalls Beryl Smalley als Erste aufmerksam machte.187 Gleichzeitig belegen die christlichen Kommentare jedoch auch ein ausgeprägtes Interesse an midraschischen Deutungen bildhafter Bibelpassagen. Das gilt für die kosmologische Exegese, wie sie an den nordfranzösischen Schulen des 12. Jahrhunderts gepflegt wurde, aber auch für die Bibelauslegung des 13. Jahrhunderts und ihr Nachdenken über die Sprache der Heiligen Schrift, das mit deren mythisierenden Aspekten rang und von ihnen loszukommen versuchte. Diese Doppelgesichtigkeit der exegetischen Anleihen zeigt sich auch an der zeitgenössischen antijüdischen Polemik. Wo auf die Auslegung der Heiligen Schrift Bezug genommen wurde, warf man den jüdischen Gelehrten gleichzeitig die „Dürre“ ihrer Buchstabengläubigkeit und ihren Hang zum fabulari vor, dem mythenhaften Geschichtenerzählen der midraschischen Tradition.188

4. Jenseits der Universitätsauslegung Welche Bedeutung der Bibelauslegung an den Schulen und Universitäten und ihrem Trend, den Wortsinn stärker zu gewichten, beizulegen ist, lässt sich nur schwer abschät185 186 187 188

Vgl. Meier 1996, 48–51, 60; Dahan 1999, 299–358. Vgl. Dahan 1996, 122–124; Dahan 1999, 369–373. Vgl. van Engen 1996, 19. Vgl. Dahan 1996, 125–138; Dahan 1999, 373–387.

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zen. Das kanonische Recht und die scholastische Methode der Theologie, in denen die Exegese allenfalls indirekt zur Wirkung kam, waren die einflussreicheren Universitätsprodukte. Außerdem sahen sich die magister immer der Konkurrenz durch Lesarten der Bibel ausgesetzt, die Mystiker, Häretiker und andere Außenseiter vorlegten.189 So fand der Abt Joachim von Fiore (um 1130–1202) mit seiner chiliastischen, auf den nahen Anbruch eines Zeitalters des Heiligen Geistes ausgehenden Deutung, die in einer Art doppelten Typologie aus Altem und Neuem Testament erschlossen, dabei aber eigenem Anspruch nach solide im Wortsinn der Bibel verankert war, auch unter Klerikern beträchtliche Resonanz.190 Auf der anderen Seite ist es nicht bloße Spekulation, darüber nachzudenken, ob Verbindungen von der mittelalterlichen Universitätsexegese zur Bibelphilologie des Humanismus und der Reformation bestanden.191 Einer verbreiteten Kenntnis des Bibeltextes standen die vergleichsweise enormen Kosten der Manuskripte und der allgemeine Analphabetismus entgegen. Dazu kam der Ketzereiverdacht, unter den die Kirche volkssprachliche Bibelübersetzungen stellte. Die Heilige Schrift war im mittelalterlichen Leben darum vor allem über die Liturgie, liturgische Spiele und andere Visualisierungen, die Predigt, aber auch über Praktiken, die sich als Bibelmagie bezeichnen lassen, präsent.192 Die Predigt, wichtigste Form der Vermittlung zwischen Theologie und Welt, blieb auch in den Augen der magister des 13. Jahrhunderts das eigentliche Feld des geistigen Schriftsinnes, der moralischen tropologia.193 Doch zeigen die Beispiele der Waldenser und Spiritualen, dass es auch im Bereich der Laienfrömmigkeit – wenngleich am Rande oder bereits außerhalb der Kirche – seit dem Hochmittelalter starke Gruppen gab, die eine ausgeprägte Wortfrömmigkeit, ein buchstäbliches Verständnis der Schrift vertraten.194 Es war schließlich Beryl Smalley selbst, die mit ihrer Entdeckung der Pfarrpredigten des Oxforder Philosophen, Schrifttheologen und Kirchenreformers John Wyclif (um 1320–1384) eine Brücke fand, die von ihrer These, der am Wortsinn orientierten Auslegung der Universitätstheologen, in die mittelalterliche Alltagsfrömmigkeit führte.195

189 190 191 192 193 194 195

Vgl. Southern 1985, 14–16. Vgl. Potestà 1996, 117. Vgl. Dahan 1999, 32. Vgl. Angenendt 1997, 179f. Vgl. Smalley 1985, 46–48; Meier 1996, 59–60. Vgl. Mutius 1981, 69–72. Vgl. Southern 1985, 15.

III. Frühe Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

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III. Frühe Neuzeit (16.–18. Jahrhundert) 1. Einleitung Die Bibelauslegung in der frühen Neuzeit unterscheidet sich nicht prinzipiell von der des Mittelalters oder der Kirchenväter. Diesen Punkt hat die neuere Forschung gerade mit Blick auf die Reformation, die in älteren Darstellungen häufig als tiefer Einschnitt erscheint, herausgearbeitet.196 Deutlicher als früher werden heute nicht die methodischen und dogmatischen Neuerungen zu Beginn der Neuzeit, sondern die in der Aufklärung zum Durchbruch gelangenden geistig-philosophischen Veränderungen als entscheidend für die Epochenscheide zwischen vormoderner und moderner, „vorkritischer“ und historisch-kritischer Auslegung herausgestellt und folglich die Elemente der Kontinuität zwischen Mittelalter und früher Neuzeit stärker beachtet.197 Verwiesen wird insbesondere auf die Beibehaltung zentraler hermeneutischer Grundsätze, gegenüber denen die Änderungen nur gradueller Natur gewesen seien.198

2. Hermeneutische Prinzipien frühneuzeitlicher Bibelauslegung Der wichtigste dieser hermeneutischen Grundsätze ist die Vorstellung, die Bibel sei ein von Gott inspiriertes Buch, das, weil sich der Heilige Geist nicht selbst widersprechen könne, eine sachliche Einheit darstelle. Dieses Prinzip der Inspiriertheit und Einheit der Schrift stellt gewissermaßen das „Axiom“199 der vormodernen Bibelhermeneutik dar, aus welchem sich verschiedene weitere Auslegungsgrundsätze ableiten: „a) Alle Einzelschriften und -aussagen ordnen sich dem Ganzen ein. b) Jede Bibelstelle kann mit jeder anderen erklärt werden. c) Der Exeget braucht, um richtig zu verstehen, den Geist, in dem diese Bücher geschrieben sind. d) Große Teile der Bibel haben neben dem wörtlichen einen übertragenen Sinn, der durch Allegorese zu gewinnen ist. e) Eine Auslegung, die der Regula (oder Analogia) fidei widerspricht, kann nicht sachgemäß sein.“200

Von diesen Grundsätzen ausgehend, zielte die Exegese vor allem darauf, jenes Ganze der Schrift – ihr Ziel, ihren scopus – zu bestimmen, von dem aus sich der Sinn der 196 Vgl. z. B. Steinmetz 1997. 197 Hervorgehoben seien Muller 2007, 22f., 25–27; Reiser 2007, 1–38, 219–275. Vgl. ferner z. B. Kremer 1993, 41. 198 Vgl. Muller 2007, 26; Roth 2010, 255–265. 199 Reiser 2007, 253. 200 Ebd.

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einzelnen Bücher und Stellen erschlösse.201 Indem dieser scopus vielfach mit Christus bzw. seinem Erlösungswerk, teils auch mit dem Bund Gottes mit den Menschen identifiziert wurde, blieb die christologische Interpretation des Alten Testaments weit verbreitet. Die Exegese zielte zwar auf den Literalsinn, durch die Beibehaltung der Unterscheidung von Wort bzw. Wörtern (verba) und damit bezeichneter Sache (res) beinhaltete dieser aber neben dem buchstäblichen Sinn auch eine zutiefst theologische Dimension. Auf diese Weise verbanden sich die mittelalterliche Suche nach dem tieferen Schriftsinn und der Trend zum Literalsinn. Als Literalsinn konnte man so bei prophetischen Aussprüchen deren Erfüllung ansehen und bei figürlichen oder metaphorischen Reden die damit bezeichnete Sache. Erzählende Texte hingegen wurden vielfach beim Wort genommen, auch wenn sie von Wundern, Dämonen oder dem Teufel handelten. Eine Unterscheidung zwischen dem Sinn und der Wahrheit biblischer Aussagen wurde nicht vorgenommen, vielmehr verbürgte gerade die göttliche Autorität der Schrift auch ihre Wahrheit. Außerbiblische Überlieferung konnte somit allenfalls Ergänzendes zum Schriftverständnis beitragen, nicht aber eine kritische Funktion gegenüber der Schrift einnehmen. Historische Kritik im modernen Sinn war damit allenfalls in Ansätzen möglich. Die Bibel wurde als Glaubensbuch gelesen, das den Gläubigen das Wort Gottes kundtut. Das Problem, die Kluft zur Vergangenheit, in welcher die biblischen Texte verfasst wurden, methodisch berücksichtigen zu müssen, um den Sinn adäquat zu erfassen, wurde dabei kaum gesehen. Die Bibel galt als jeder Gegenwart unmittelbar zugänglich, und so entnahm man ihr ohne Weiteres dogmatische, moralische und eschatologische Botschaften. Deshalb hatte Bibelauslegung im Raum der Kirche und ihrer exegetischen Tradition, zusammengefasst in der regula bzw. analogia fidei, zu geschehen. Faktisch wurde der Auslegung damit eine Lehrtradition vorgeordnet, auch wenn man diese auf protestantischer Seite als der Bibel selbst entnommen, auf katholischer Seite als ihr jedenfalls nicht widersprechend ansah.202 Weil somit dogmatisch reflektierte und fixierte Sätze das Vorverständnis bestimmten, mit welchem die Exegeten an die Bibel herantraten, wird hier von einer doktrinalen bzw. dogmatischen Auslegungsweise gesprochen. Trotz aller Übereinstimmung im Grundsätzlichen erfuhr die Bibelauslegung auch gewisse Veränderungen gegenüber dem Mittelalter. Sie konzentrieren sich auf drei Bereiche, die, weil sie auch historisch aufeinander folgen, die weitere Darstellung strukturieren. Zunächst verhalfen die Humanisten den antiken Praktiken des philolo201 Vgl. hierzu und zum Folgenden Steinmetz 1997; Muller 2007, 22f., 25–27. 202 Vgl. Schmithals 1996, 37f.

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gischen und grammatischen Textumgangs zu neuen Ehren (Kap. III.3); anschließend brachte die Reformation eine Neubestimmung des theologischen Maßstabs der Interpretation (Kap. III.4); schließlich kam es vor dem Hintergrund des weltanschaulichen Wandels der Neuzeit zu vehementen Auseinandersetzungen über die Inspiration der Schrift und damit einhergehend zu einer Diskussion über die Rolle der menschlichen Vernunft bei der Bibelinterpretation (Kapp. III.5 u. III.6).

3. Philologie und Grammatik: Humanistische Bibelauslegung Renaissance und Humanismus mit ihrer Begeisterung für Antike und klassische Bildung schlugen sich auf dem Gebiet der Bibelauslegung in einer vertieften philologischen Beschäftigung mit dem Bibeltext und einer an der klassischen Rhetorik orientierten Auslegungsweise nieder.203 Die humanistische Rückwendung zu den Quellen (ad fontes!) bedeutete für die Bibelexegese, dass man über die Vulgata hinweg auf den biblischen Urtext als Auslegungsgrundlage zurückgriff.204 Die hierfür notwendigen Kenntnisse in Latein, Griechisch und Hebräisch vermittelten eigens zu diesem Zweck gegründete Sprachschulen, die sogenannten collegia trilingua, die in humanistischen Zentren wie Alcalá, Löwen und Paris entstanden. Philologen wie Johannes Reuchlin (1455–1522), der mit seinem aus Wörterbuch und Grammatik bestehenden lateinischen Lehrbuch De rudimentis hebraicis (1506) den Grundstein für ein eigenständiges, nicht auf jüdische Lehrer angewiesenes Erlernen der hebräischen Sprache legte, stellten die entsprechenden Hilfsmittel bereit. Um die Texte allgemein verfügbar zu machen, veranstalten die Humanisten Editionen der Bibel in den Ursprachen. Mit der Complutenser Polyglotte legten sie 1520 die erste Gesamtausgabe vor. Zuvor hatten jüdische Drucker im italienischen Soncino das Alte Testament (1488) und Erasmus von Rotterdam (1466/69–1536) unter dem Titel Novum Instrumentum 1516 in Basel das Neue Testament herausgegeben. Erasmus gab dem griechischen Text auch eine von der Vulgata abweichende Neuübersetzung bei.205 Kritik an der Vulgata führte zwar stets zu Angriffen der Traditionalisten,206 dennoch erachteten die Humanisten eine Neuübersetzung für dringend geboten. Hieronymus’ Stil wurde als nicht elegant genug empfunden, vor allem aber hatte man Fehler, Ungenauigkeiten sowie Auslassungen und Hinzufügun203 Zum Ganzen vgl. Spitz 1986; Walter 1996; Augustijn 2003. 204 Eine gute Übersicht über die „Arbeit des Humanismus am Urtext“ (so der Titel des entsprechenden Kapitels) gibt Schäfer 1980, 87–92. 205 Zur Forschungsdiskussion, ob die Ausgabe des griechischen Textes oder seine Neuübersetzung das primäre Ziel des Erasmus war, vgl. Walter 1991, 121–126. 206 Vgl. Reventlow 1997, 12f., 20, 60.

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gen in seiner Übersetzung entdeckt. Bereits im 15. Jahrhundert hatte daher Gianozzo Manetti (1396–1459) Teile der Bibel neu übersetzt und dabei nicht nur sehr gute Sprachkenntnisse des Übersetzers, sondern auch eine die Mitte zwischen zu großer Wörtlichkeit und zu freier Paraphrase wahrende Übersetzung angemahnt.207 Von Bedeutung waren dann aber insbesondere die kritischen Anmerkungen, die Lorenzo Valla (1405/07–1457) in seiner Collatio Novi Testamenti am Vulgata-Text anbrachte.208 Sie dienten dem Ziel, die jeweilige Wortbedeutung durch Rückgang auf den griechischen Text und durch den Vergleich der Wörter zwischen den Synoptikern und mit klassischen profanen Autoren genauer zu fassen, um dann eine neue Übersetzung in möglichst klassischem Latein vornehmen zu können. In methodischer Hinsicht behandelte Valla die Bibel somit als ein Buch wie jedes andere, was zu Recht als revolutionärer Schritt bezeichnet worden ist.209 Darüber hinaus übte Valla in seinen Anmerkungen auch Textkritik, indem er verschiedene griechische und lateinische Handschriften verglich und dabei zwischen neueren und älteren sowie seltenen und daher zu bevorzugenden Handschriften unterschied.210 Nach heutigen Maßstäben „unfertig“ war seine Methode dahin gehend, dass Grammatik und Stil der Lesarten auf Grundlage der Klassiker, nicht des Sprachgebrauchs zur Zeit der Verfasser der biblischen Bücher bewertet wurden.211 Die Methode der Textkritik durch Handschriftenvergleich jedoch war epochemachend. Teilweise betrieben die Humanisten auch schon Quellen-, Literar- und historische Kritik, wenn sie nach den Vorlagen und Quellen sowie der Zeit der Abfassung der Texte und nach ihrem historischen Gehalt fragten, wie beispielsweise Valla, der so die Echtheit der „Konstantinischen Schenkung“ bestritt.212 Bezogen auf die Bibel konnte dies aufgrund des herrschenden Inspirationsverständnisses aber nicht über Ansätze hinausgehen, galt sie doch als absolut glaubwürdig. Ihre philologischen Methoden wandten die Humanisten jedoch nicht nur auf die Bibel, sondern auch auf die Schriften der Kirchenväter an, die sie in großem Umfang herausgaben, da ihr bibelnahes Theologisieren als vorbildlich aufgefasst wurde. Neben der philologischen Arbeit am Bibeltext betätigten sich die Humanisten auch auf dem Feld der eigentlichen Bibelinterpretation. Dabei orientierten sie sich aber 207 Vgl. ebd., 13. 208 Die Erstausgabe besorgte Erasmus 1505 in Paris unter dem Titel In latinam Novi Testamenti interpretationem adnotationes. – Zum Folgenden vgl. Reventlow 1997, 21–23. 209 Vgl. Reventlow 1988, 48. 210 Vgl. Reventlow 1997, 24. 211 Vgl. Karpp 1992, 130 (Zitat ebd.). 212 Vgl. ebd.

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nicht wie die Scholastiker an der aristotelischen Metaphysik, sondern an der klassischen Rhetorik in der von Quintilian zusammengefassten Gestalt, wodurch ihre Theologie insgesamt bibelnäher wurde. Sie versuchten die Bibel als Zeugnis der Selbstkundgabe Gottes zu erfassen, weshalb ihre Auslegungsweise auch als „rhetorical theology“ (Charles Trinkaus) bezeichnet worden ist.213 In ihrer elaboriertesten Form begegnet sie bei Erasmus.214 Auf der Grundlage eines durch Origenes vermittelten platonischen Weltbildes unterscheidet Erasmus die äußere Textgestalt (verba) der Bibel von ihrem sachlichen Gehalt (res), auf den der Text nur verweise.215 Als Text unterwirft er die Bibel den für alle Literatur geltenden philologischen und hermeneutischen Auslegungsgrundsätzen, denn eine Sonderstellung komme ihr allein wegen ihres göttlichen Inhalts zu. Am Anfang steht daher die kritische Feststellung des Urtextes, der die Grundlage bildet für die eigentliche Interpretation. Diese folgt dann den Regeln der Rhetorik, denn Erasmus – das macht seine Verwendung des Begriffs accommodare deutlich – betrachtet die Schrift als Zeugnis der Anrede Gottes an den Menschen, so dass die Exegese grundsätzlich „den Weg in umgekehrter Richtung zurückzugehen [versucht], den das Wort Gottes vom Herzen des Vaters her in der Mensch- und Schriftwerdung auf die Menschen zu gemacht hat, um vom Wort der Schrift her über die Gestalt Jesu Christi zum Willen des Vaters zu gelangen“216. Im Zentrum steht das Prinzip der grammatisch-rhetorischen Analogie, wonach jedes Detail in Einklang mit dem Ganzen stehen muss und daher von ihm aus zu interpretieren ist. Dieses Ganze, den scopus und die sachliche Mitte der Schrift, erblickt Erasmus in Jesus Christus bzw. seiner Lehre, der philosophia Christi. Diese Lehre ist am klarsten in den Evangelien und den Paulusbriefen enthalten, aus welchen daher für die Auslegung eine kurze Summe christlichen Glaubens und Lebens zusammenzustellen ist. Aufgrund der Einheit der Schrift können dann die in der Summe zusammengefassten klaren Stellen zur Erhellung sachlich ähnlicher, aber unklarer Aussagen herangezogen werden. In ihrer Funktion als Auslegungsrichtschnur entspricht diese Summe damit der traditionellen regula fidei: Sie dient dem Stellenvergleich, dem „Grundgesetz der rhetorischen Philologie“217. Für die Praxis empfiehlt Erasmus in diesem Zusammenhang auch das Anlegen einer Sammlung von Belegstellen zu bestimmten theologischen Themen (loci-Metho213 Vgl. Walter 1996a, 324. 214 Zu Erasmus’ Auslegung vgl. Krüger 1985; Walter 1991; Hoffmann 1994. Soweit nicht anders angemerkt, folgt die Darstellung Walter 1991. 215 Vgl. Krüger 1985, 32–59. Zum Verhältnis von Erasmus zu Origenes vgl. Godin 1982. 216 Walter 1991, 95. 217 Ebd., 253.

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de), wobei nicht nur die Bibel, sondern auch zeitlich und sachlich besonders nahe stehende Autoren Material liefern können, vor allem die Kirchenväter, daneben aber auch profane Schriftsteller. Zudem fordert Erasmus vom Ausleger das genaue Lesen des Textes sowie die Berücksichtigung des Sprachgebrauchs (Idiomatik, Redefiguren), des unmittelbaren und weiteren Kontextes (d. h. jeder Einzelschrift wie auch der Bibel als Ganzes) und der jeweiligen Redesituation (circumstantiae). Bei der Interpretation kennt Erasmus – ohne die mittelalterliche Lehre vom vierfachen Schriftsinn grundsätzlich abzulehnen – wie die Kirchenväter mit dem geistlichen Sinn nur einen weiteren Schriftsinn neben dem Wortsinn. Allegorischen, tropologischen und anagogischen Schriftsinn sieht er als je verschiedene Aspekte im geistlichen Sinn aufgehoben, wobei er den tropologischen Sinn aufgrund seiner Nähe zum Literalsinn, aber auch wegen seines Gegenwartsbezugs präferiert. Die allegorische Auslegung im mittelalterlichen Sinn hält er gleichwohl für gerechtfertigt, schließlich werde sie schon von Jesus und Paulus in der Schrift geübt. Er selbst verwendet sie vor allem zur christologischen Deutung des Alten Testaments sowie zur Erhebung des ekklesiologischen Sinns der Schrift.218 Die humanistischen Bibelkommentare sind hinsichtlich ihres Aufbaus getreue Abbilder der grammatisch-rhetorischen Methode. Die wichtigsten Bestandteile bilden in der Regel 1. die Feststellung des ursprünglichen Textes, 2. eine lateinische Übersetzung, 3. kurze philologische Anmerkungen zu Text und Übersetzung und 4. ausführliche Anmerkungen zur Auslegung, gegebenenfalls unter Berufung auf die Kirchenväterexegese und vor allem bei Erasmus mit langen Exkursen zur exegetischen Debatte und Problemen der eigenen Zeit.219 Zum Theologischen, welches im Mittelalter vorgeherrscht hatte, traten nun Rhetorik und Philologie als wesentliche Elemente hinzu, die alten Muster von Glosse und Scholie wichen stärker individualisierten und diskursiveren Kommentarformen.220 Mit Unterstützung des Buchdrucks, der für eine weite Verbreitung ihrer Werke sorgte, strebten die Humanisten auch die Popularisierung der Ergebnisse ihrer exegetischen Arbeit an. Vielleicht der erste Schritt auf diesem Gebiet waren Erasmus’ verschiedene Paraphrasen zum Neuen Testament (1517–1524).221 Hierher gehören aber auch die von Humanisten durchgeführten Übersetzungen der Bibel in die jeweiligen Landessprachen.222

218 219 220 221 222

Vgl. Hoffmann 1994, 214. Vgl. Augustijn 2003, H111. Vgl. Muller 2007, 27. Vgl. Augustijn 2003, H105. Die wichtigsten Werke nennt Augustijn (ebd., H113).

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4. Ein neuer Maßstab: Die reformatorische Bibelauslegung Mit seiner bibelwissenschaftlichen Arbeit bereitete der Humanismus der Reformation den Boden.223 Die Reformatoren benutzten nicht nur die von den Humanisten erarbeiteten Hilfsmittel wie Bibelausgaben und Wörterbücher, sie übernahmen auch deren grammatisch-rhetorische Methode der Bibelauslegung. Entgegen manch älterem Urteil der Forschung steht die Reformation somit nicht am Anfang der historischkritischen Bibelauslegung.224 Ihr Beitrag hierzu blieb auf das beschränkt, was sie an kritischem Geist aus dem Humanismus aufnahm und weitergab. Indem sie an Einheit, Widerspruchslosigkeit und Unfehlbarkeit der Schrift festhielt, blieb die historische Vielfalt der Bibel außerhalb des Blickfelds und bewegten sich die Reformatoren weiterhin innerhalb des vormodernen Auslegungsparadigmas.225 Neu war allerdings das reformatorische Schriftprinzip, wonach allein die Schrift (sola scriptura) Autorität für die Theologie beanspruchen kann, nicht Kirche oder Tradition. Dies ist der zentrale Grundsatz reformatorischer Hermeneutik.226 Das Schriftprinzip beruht auf der alten Annahme der sachlichen Einheit der Schrift, erweitert diese jedoch um die Annahmen ihrer prinzipiellen Klarheit (perspicuitas) und inhaltlich zureichenden Vollständigkeit (sufficientia).227 Auf dieser Grundlage konnte Martin Luther (1483–1546) erklären, die Bibel lege sich selbst aus, berichtige falsches Verständnis und sei Prüfstein der Wahrheit.228 Auslegung blieb zwar weiterhin theologische Aufgabe; anders als bei Erasmus, der Kirche und Tradition noch als Autoritäten anerkannt hatte,229 war die Auslegung nun aber allein an die Bibel als Kontrollinstanz verwiesen. In anderen Grundsätzen der Bibelhermeneutik herrschte größere Nähe zwischen Luther und Erasmus. So unterschied auch Luther zwischen der Sache (res) und den Worten (verba), wenngleich er diese Unterscheidung auf die Klarheit der Schrift bezog und von deren innerer und äußerer Klarheit sprach.230 Grundsätzlich war für ihn alles

223 Vgl. Merk 1980a, 379. Allgemein zum Verhältnis von Humanismus und Reformation vgl. Spitz 1986, 651–653. 224 So noch Otto 1998, 1522; ähnlich Kümmel 1970, 12–21. Die Gegenposition vertritt Reiser 2007, 31f., etwas moderater auch Reventlow 1988, 52f. 225 Vgl. Baird 1992, xviii. 226 Vgl. Köpf 2001, 25. 227 Vgl. Reuss 1860, 613f. 228 „[…] ipsa [scil. scriptura] per sese certissima, facillima, apertissima, sui ipsius interpres, omnium omnia probans, iudicans et illuminans […].“ (WA 7,97,23f.) 229 Vgl. Walter 1991, 138. 230 Vgl. hierzu und zum Folgenden Karpp 1992, 153–155; Köpf 2001, 25f.

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Heilsrelevante in der Schrift klar gesagt, der Sache wie den Worten nach. Zwar gebe es auch dunkle Stellen, aber nur den Worten nach, und diese könnten mit den bekannten philologischen und grammatischen Mitteln (Sprachstudium, Benutzung philologischer Hilfsmittel, Beachtung des Kontextes, Kenntnis der zentralen Begriffe des Textes, Erhellung unklarer Stellen durch klare) behoben werden.231 Der Sache nach sei die ganze Schrift hingegen durchgängig klar, wenngleich der Ausleger freilich der Gabe des Heiligen Geistes im Glauben bedarf, um dies zu erkennen. Entsprechend dieser doppelten Klarheit der Schrift ist für Luther auch der Literalsinn ein doppelter: zum einen historischer, wörtlicher, dann aber auch prophetischer, auf Christus bezogener Sinn.232 Gegenüber dem grammatischen Sinn steht dabei ganz der theologische im Vordergrund. Die geistliche Deutung bleibt somit erhalten, auch wenn sie nicht als zusätzlich zum Literalsinn hinzukommende Deutung verstanden wird, sondern als der Wortsinn selbst.233 Aus diesem Grund kann Luther zunehmend Vorbehalte gegenüber der Lehre vom vierfachen Schriftsinn äußern und die allegorische Deutung schließlich ganz verwerfen, wo sie nicht in der Schrift selbst angelegt ist.234 Doch nicht das war das entscheidend Neue an Luthers Bibelinterpretation, sondern die inhaltliche Neubestimmung ihres hermeneutischen Schlüssels. Diesen bestimmte er als die Dialektik von Gesetz und Evangelium, von göttlicher Gehorsamsforderung (Gesetz) und gnädiger Sündenvergebung in Christus (Evangelium),235 und stellte so die reformatorische Christologie und Rechtfertigungslehre (sola fide und sola gratia) als die aus der Bibel selbst gewonnene Mitte der Schrift heraus. Damit war ein neues inhaltliches Kriterium der Interpretation gewonnen, welches als analogia fidei, wie man in Anlehnung an Röm. 12,6 nun bibelnäher formulierte, an die Stelle der traditionellen regula fidei als Deutungsrahmen trat. Nach dieser Richtschnur legte Luther die ganze Schrift in neutestamentlicher Perspektive christologisch bzw. rechtfertigungstheologisch aus. Das Alte Testament, in 231 Der Literalsinn der Schrift, verstanden als wörtlicher Sinn, kann nach Luther also rein mit den Mitteln der menschlichen Vernunft erhoben werden, ohne dass beim Ausleger der rechtfertigende Glaube vorausgesetzt sein muss (vgl. Genthe 1977, 27). 232 Vgl. Karpp 1992, 187. 233 Vgl. Steinmetz 1997, 260. 234 „Als ich jung war, da war ich gelehrt, und sonderlich, ehe ich in die Theologia kam, da ging ich mit Allegoriis, Tropologiis und Anagogiis um, und machte eitel Kunst. […] Aber ich weiß, daß es ein lauter Dreck ist. Nu hab ichs fahren lassen, und ist meine beste und erste Kunst, tradere scripturam simplici sensu; denn literalis sensus, der thuts, da ist Leben, da ist Kraft, Lehre und Kunst innen; in dem andern, da ist nur Narrenwerk, wiewol es hoch gleißet.“ (WA.TR 5,45,20–26.) 235 Vgl. Mau 1984, 82–90.

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welchem er mehr Gesetz als Evangelium ausmachte, bildete für ihn eine Einheit mit dem Neuen Testament und konnte daher ganz traditionell in seinen prophetischen Teilen christologisch, in seinen erzählenden als Geschichte menschlichen Glaubens oder Unglaubens interpretiert werden. Was die alttestamentlichen Gesetze betraf, so sollten sie noch gelten, soweit sie das natürliche Gebot der Gottes- oder Nächstenliebe enthalten (z. B. der Dekalog); alles Partikulare und Nationale aber, das nur einem bestimmten Volk und für eine bestimmte Zeit gegeben worden ist, sei vergangen (z. B. das Sabbatgebot). Gesetz war für Luther jedoch nicht einfach gleichbedeutend mit Altem Testament und Evangelium mit Neuem, vielmehr fand er sie in beiden Testamenten gleichermaßen, wenn auch in unterschiedlichem Umfang. Bei alledem bedeutete Evangelium als Heilszusage für Luther in erster Linie mündliche Verkündigung des Wortes Gottes in Predigt und Lehre. Nur in der Verkündigung wirke der Geist im Menschen den Glauben an die in Christus geschenkte Gnade, nur in ihr sei das Evangelium lebendig (viva vox evangelii), sei Christus gegenwärtig und erschließe der Geist dem Menschen den Sinn der Schrift. Insofern Verkündigung des Evangeliums aber letztlich Schriftauslegung ist – denn aus der Schrift ist das Gotteswort zu erheben –, bleibt das Wirken des Geistes neben dem Wort auch an den Buchstaben der Schrift gebunden. Hierauf legte Luther gerade mit Blick auf spiritualistische Auffassungen großen Wert. Schrift, Geist und Wort bilden eine Einheit: Um die innere Klarheit der Schrift und das Schriftwort als Gotteswort zu erkennen, bedarf der Mensch der Gabe des Geistes; diesen empfängt er in der mündlichen Verkündigung des Predigers, der Geist ist also an das äußere Wort des Predigers gebunden; die Schrift aber dient als Korrektiv der inhaltlichen Bestimmtheit des verkündigten Wortes.236 Mit seiner Kombination von Schriftprinzip und einem einheitlichen hermeneutischen Schlüssel rechten Schriftverständnisses wirkte Luther stilbildend. Auch das starke dogmatische Interesse findet sich bei den anderen Reformatoren, denn Theologie bestand nun wesentlich aus Bibelexegese.237 Einig waren sie sich hinsichtlich des kirchenkritischen Aspekts des Schriftprinzips in Bezug auf Theologie (Scholastik) und äußere Verfassung (Papsttum, Ämter, Ablasswesen etc.). Keine Einigkeit herrschte in Bezug auf die Mitte der Schrift und das Verhältnis des Geistes zum Wort, wobei die von allen bekämpften Extrempositionen des aus Spiritualisten, Täufern, „Schwärmern“ und Antitrinitariern bestehenden sogenannten „linken Flügels der Reformation“ (Heinold Fast) die Grenzen des Meinungsspektrums absteckten.238 So 236 Vgl. Karpp 1992, 148–150. 237 Vgl. Reuss 1860, 614. 238 Vgl. Karpp 1992, 157–182.

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betrachteten Spiritualisten wie Sebastian Franck (1499–1542) und „Schwärmer“ wie Thomas Müntzer (um 1490–1525) die Schrift als bloßes Zeugnis des freien Wirkens des Heiligen Geistes und entkoppelten so den Geist vom Wort. Demgegenüber betonten sowohl Huldrych Zwingli (1484–1531) als auch Johannes Calvin (1509–1564) die Bindung des Geistes an den Buchstaben, auch wenn sie ihm eine größere Selbständigkeit als Luther zumaßen. Für Calvin ist es der Geist, der dem Gläubigen die Schrift überhaupt erst als aus sich selbst heraus glaubwürdig (autopistos) erweist. Zwingli und Calvin hoben ferner stärker als Luther den gesetzlichen Charakter der Bibel für die Gestaltung der äußeren Ordnung hervor, indem sie die Schrift nicht nur von ihrer Mitte, Christus, her, sondern als ganze in den Blick nahmen. Auf diese Weise kommt das Alte Testament bei ihnen selbständiger zu Wort, der typologischen Deutung wird weniger Platz eingeräumt. Auch sie wandten sich aber gegen die biblizistischen Auffassungen der Täufer, die strikten Gehorsam gegenüber einem wörtlich verstandenen Schriftwort forderten und die gesamte Lebensordnung daran ausrichten wollten, wie auch gegen Deutungen wie die des in Genf als Ketzer hingerichteten Michael Servet (1511–1553), die das Trinitätsdogma als unbiblisch ablehnten (zu den Sozinianern s. u. Kap. III.6.3). Wie eingangs erwähnt, verwendeten die Reformatoren die grammatisch-rhetorische Auslegungsmethode der Humanisten.239 Hiermit zusammenhängende Züge wie die Betonung des Literalsinns oder die Ablehnung der Allegorese begegnen allenthalben.240 Philipp Melanchthon (1497–1560) übernahm aus dem Humanismus ferner die bereits von Erasmus für die Bibelauslegung fruchtbar gemachte antike Methode der Gliederung des Stoffes nach Zentralbegriffen (loci).241 In seinem systematischen Hauptwerk, den Loci communes rerum theologicarum seu hypotyposes theologicae (1521), näherte er so Exegese und lutherische Dogmatik unter hermeneutischen Gesichtspunkten einander an. Die einzelnen loci ließ er sich dabei nicht von der Tradition vorgeben, sondern erhob sie aus der Bibel selbst. Wie Luther ging er dabei vom Römerbrief als dem Inbegriff der ganzen evangelischen Lehre aus. Seine Hauptbegriffe sind daher – neben weniger zentralen anderen – Sünde, Gesetz, Evangelium, Gnade und Rechtfertigung. Ihre inhaltliche Bestimmung lehnt sich eng an Luther an. Hermeneutische Relevanz gibt Melanchthon ihnen dadurch, dass sie angeben sollen, wonach beim Bibelstudium hauptsächlich zu fragen ist. Die loci communes werden verstanden als Einführung in die Schrift, sie sind das hermeneutisch-methodische Mittel, die Schrift aus sich selbst auszulegen: „Sie fassen die Schrift zusammen und sind gleich239 Vgl. Augustijn 1991, 46. 240 Vgl. Karpp 1992, 157–182. 241 Zum Folgenden vgl. Leiner 1997 sowie Reventlow 1997, 90–97.

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zeitig der Schlüssel, um Gesichtspunkte zu gewinnen, um die Schrift zu verstehen.“ 242 Calvin griff dieses Vorgehen Melanchthons auf und orientierte sich in der letzten Fassung seiner Institutio religionis christianae von 1559 daran.243 Die Gestalt der Bibelkommentare spiegelt den humanistischen Ansatz reformatorischer Auslegung ebenso wider wie ihre dogmatische Zielsetzung. Sofern der Kommentar nicht wie bei Calvin dezidiert kurz gehalten werden sollte, lassen sich am Beispiel des Römerbriefkommentars Martin Bucers (1491–1551) sechs Hauptelemente unterscheiden:244 1. eine freie Übersetzung aus dem Urtext; 2. Aufzeigen von scopus und Argumentationsstruktur; 3. Interpretation einzelner Sätze und Wörter; 4. verallgemeinernde Nutzanwendung der enthaltenen Lehren und Vorschriften für den zeitgenössischen Leser; 5. Ausgleich von Widersprüchen; 6. quaestiones über Gegensätze zur scholastischen Theologie und über zentrale loci unter Anfügung bestätigender Vätermeinungen245. Das besondere Augenmerk der Reformatoren galt dem vierten Punkt, denn ihre Auslegung zielte letztlich stets auf die theologische Unterweisung der Gemeinde, die Predigt.246 Die Kommentare verstanden sich vielfach als Beitrag zu einer besseren Übersetzung der ihnen zugrunde liegenden Urtexte.247 Die Reformatoren führten daher zum einen die philologische Arbeit der Humanisten fort und institutionalisierten sie durch entsprechende Studienreformen an ihren Lehranstalten, zum anderen förderten sie die Verbreitung der Bibel sowohl in den Ursprachen als auch in Übersetzungen.248 Im deutschen Sprachraum setzte Luthers auf hebräischem und griechischem Urtext beruhende Übersetzung Maßstäbe; sie wirkte sprachprägend und gab Anstoß zu vielen weiteren Übersetzungen. Daneben erschienen Übersetzungen in andere europäische Sprachen, revidierte Ausgaben der Vulgata und lateinische Neuübersetzungen. Die Unterschiede des theologischen Verständnisses ließ man dabei in die Übersetzungen einfließen. Schon Luther hatte diese Praxis geübt, wenn er etwa Röm. 3,28 wiedergab mit: „So halten wir dafür, dass der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben“, obwohl weder der griechische noch der lateinische Text das Wort „allein“ enthält.249 242 243 244 245 246 247 248 249

Leiner 1997, 477. Vgl. Mühlenberg 1998, 482f. Vgl. ebd., 483f. Trotz des Schriftprinzips verzichtete man auch auf protestantischer Seite keineswegs auf Kirchenväterzitate, vielmehr sollte Tradition mit Tradition überwunden werden (vgl. Steinmetz 1997, 253–255). Vgl. etwa für Zwingli Reventlow 1997, 107. Vgl. Muller 2007, 27. Vgl. hierzu und zum Folgenden Karpp 1992, 183–185, 238–252. Vgl. ebd., 246.

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Mit der Reformation kam auch in die Kanonfrage neue Bewegung.250 So beurteilte Luther den Kanon auf Grundlage seiner christuszentrierten Definition der Schriftmitte („was Christum treibet“) und stellte die ihn in dieser Hinsicht nicht voll zufriedenstellenden Schriften Hebräerbrief, Jakobusbrief, Judasbrief und Johannes-Offenbarung als eine Art Anhang an den Schluss des Neuen Testaments, ohne sie aber als apokryph auszuscheiden. Im Alten Testament beschränkte er den Kanon auf den Umfang der hebräischen Bibel; die deuterokanonischen Schriften der Vulgata (Judith, Tobit, Baruch, Weisheit, Jesus Sirach, die beiden Makkabäerbücher und Zusätze zu Daniel und Esther) druckte er zwar weiterhin ab, kennzeichnete sie aber durch Anordnung und Titulierung als „Apokrypha“ als zweitrangig. Demgegenüber betonte die katholische Kirche in Trient die Zugehörigkeit auch dieser Bücher zum Kanon. Die Bibelausgaben der Reformierten wiederum schieden sie alsbald ganz aus. Die Grundlage, auf der Bibelauslegung betrieben wurde, war in der Folgezeit also nicht nur hinsichtlich der Sprache, sondern auch hinsichtlich des Umfangs eine zumindest partiell unterschiedliche.

5. Dogma vor Exegese: Konfessionelle Bibelauslegung Die Vielfalt der auf das Schriftprinzip gegründeten Auslegungen, die das Reformationszeitalter hervorbrachte, stand in schroffem Kontrast zu dem gleichzeitig stärker werdenden Bestreben, nur noch eine Deutung als richtig gelten zu lassen.251 Auf protestantischer Seite ergab sich diese Forderung bereits aus der behaupteten Klarheit der Schrift, die hinsichtlich der äußeren Klarheit auf die Eindeutigkeit des Schriftwortes hinauslaufen musste und hinsichtlich der inneren Klarheit es nicht zuließ, dass sich der Geist widerspricht, indem er mal die eine, mal die andere Deutung autorisiert. Von katholischer Seite wurde demgegenüber auf die Notwendigkeit der Rückbindung jeder Auslegung an die institutionalisierte Kirche und die Übereinstimmung mit den Lehrentscheidungen ihrer Repräsentanten, Papst und Konzilien, verwiesen. Zur Beseitigung dieses Konflikts gingen beide Seiten zur Fixierung ihrer Bekenntnisse und zur Systematisierung ihrer bibelhermeneutischen Methoden über. Die anschließende Phase der Konsolidierung und Festigung wird als das Zeitalter der Orthodoxie bezeichnet. Sie umfasst den Zeitraum von rund 150 Jahren zwischen dem letzten Drittel des 16. und dem ersten Drittel des 18. Jahrhunderts.252 250 Zum Folgenden vgl. ebd., 151–153, 252. 251 Vgl. Leiner 1997, 470f. Vgl. auch Steinmetz 1997, bes. 250: „Indeed, it may well be in their desire to find a single literal sense of the text that the sixteenth-century interpreters make the sharpest break with their exegetical past, though the point is arguable.“ 252 Zur Periodisierung vgl. Fatio 1995, 488, und Matthias 1995, 465f.

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5.1 Die altprotestantische Orthodoxie Im protestantischen Bereich wurden die hermeneutischen Überlegungen zur Bibelauslegung, die bis dahin von den Exegeten nur sporadisch in ihre Werke eingestreut worden waren, von dem strengen Lutheraner Matthias Flacius Illyricus (1520–1575) in seiner Clavis scripturae sacrae (1567) erstmals systematisch und zusammenhängend behandelt.253 Das Werk blieb für die Orthodoxie und ihre Hermeneutik lange Zeit maßgebend.254 Inhaltlich bringt es gegenüber Luther nichts Neues, sondern übernimmt sowohl dessen hermeneutische Vorgaben des Schriftprinzips und eines aus Christus bzw. der Dialektik von Gesetz und Evangelium bestehenden hermeneutischen Schlüssels als auch die grammatisch-rhetorische Methode der Humanisten mit ihrem zentralen Grundsatz der Auslegung des Einzelnen aus dem Ganzen und des Ganzen aus dem Einzelnen.255 Neben einem solchen „organischen“ (Moldaenke), Analyse und Synthese in gegenläufigen Schritten verbindenden Verfahren empfiehlt Flacius zur Klärung des Schriftsinns insbesondere den Stellenvergleich über die ganze Schrift hinweg.256 Der ganze erste Teil der Clavis ist ein an Melanchthons loci-Methode angelehntes Wörterbuch, das – neben der Erklärung einiger nichtbiblischer theologischer Begriffe – vor allem philologische Anmerkungen und theologische Bedeutungen zu biblischen Begriffen liefert. Die hierbei im Hintergrund stehende Ansehung der Schrift als sachlicher Einheit überwiegt alle in der philologisch-grammatischen Untersuchung gewonnenen Erkenntnisse zur Besonderheit einzelner Schriften.257 So werden Widersprüche im Text dadurch auszugleichen versucht, dass für die betreffenden Ereignisse jeweils andere räumliche, zeitliche oder situative Umstände (circumstantiae) geltend gemacht und sie dadurch als separate Geschehnisse ausgewiesen werden.258 Beibehalten wird ferner die traditionelle christologische Deutung des Alten Testaments. Sie findet sich wieder in der im Syllogismusverfahren gewonnenen Zusammenfassung des Inhalts der Schrift, wonach die Prophetien des Alten Testaments Wort Gottes und also wahr sind, weshalb Jesus, der diese Prophetien erfüllt habe, der wahre Messias sei.259 Gleichwohl hält Flacius an einer am Literalsinn orientier-

253 254 255 256 257 258 259

Vgl. hierzu insbes. Moldaenke 1936; Dilthey 1985, 599–608; Reventlow 2001, 11–21. Vgl. Meyer 1803, 171f.; Geldsetzer 1968. Vgl. Flacius 1968, 40/41–44/45. Vgl. ebd., 26/27, 58/59f. Vgl. Dilthey 1985, 603–606, bes. 604. Vgl. ebd., 607, sowie Moldaenke 1936, 619f. (mit Anm. 311a). Flacius 1968, 34/35–40/41. Vgl. hierzu Moldaenke 1936, 605–607.

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ten Exegese fest. Eine allegorische Deutung gesteht er nur da zu, wo eine Allegorie oder eine andere figürliche Redeweise im Text angelegt ist oder wo ein wörtliches Textverständnis keinen Sinn ergibt.260 Kriterium zur Feststellung figürlicher Rede ist in Anlehnung an Augustinus die fehlende Übereinstimmung des wörtlichen Sinns entweder mit der Glaubens- oder mit der Sittenlehre.261 Liegt aber eine figürliche Rede vor, stellt deren übertragene Bedeutung wiederum den einzigen Sinn des Textes dar. Es gibt also auch in diesem Fall nicht mehrere, sondern nur einen einzigen Schriftsinn.262 Bildet Flacius’ Werk in hermeneutischer Sicht auf der einen Seite die Zusammenfassung und damit einen gewissen Abschluss des Reformationszeitalters, so weist es auf der anderen Seite über diese Zeit hinaus in Richtung Orthodoxie. Deutlich wird dies an der Uneindeutigkeit seiner Aussagen zu zwei zentralen hermeneutischen Grundsätzen: zur Inspiration der Schrift und zum Inhalt der analogia fidei. So verwendet Flacius bisweilen Formulierungen, die eine Verbalinspiration im Sinne eines göttlichen Diktats des Bibeltextes nahelegen, und auch wenn sich zeigen lässt, dass er die biblischen Schriftsteller nicht als bloß mechanische Schreiber ansah,263 gilt er wegen der Missverständlichkeit seiner Äußerungen bis heute vielfach als derjenige, der die strenge Verbalinspirationslehre der Orthodoxie in die protestantische Theologie eingeführt hat.264 Des Weiteren ist unklar, ob er den Begriff der analogia fidei als Übereinstimmung der Auslegung mit dem lutherischen Bekenntnis dogmatisch (miss-)verstand oder ob er noch stärker im Geist der Reformatoren an eine Übereinstimmung mit dem Geist der Schrift dachte. Seine Bestimmung des Begriffs als Übereinstimmung entweder mit der Glaubenssumme, die Gen. 1–3, Dekalog, Vaterunser und Einsetzungsworten entnommen werden soll, oder mit den Glaubensartikeln lässt jedenfalls beide Interpretationen zu.265 Die anhaltende Notwendigkeit der Verteidigung des eigenen Standpunkts in den kontroverstheologischen Auseinandersetzungen mit Katholiken, protestantischen Sekten und Reformierten sorgte zusammen mit dem Bemühen um die Systematisierung und logische Durchdringung des reformatorischen Erbes zum Zwecke der Siche-

260 261 262 263 264 265

Vgl. Flacius 1968, 88/89f.; Kümmel 1970, 22. Vgl. Moldaenke 1936, 243f. Vgl. ebd., 242f., 248f.; Kümmel 1970, 22. Vgl. Moldaenke 1936, 301–315. Vgl. Diestel 1869, 364; Genthe 1977, 31; Schäfer 1980, 109f.; Reventlow 1988, 51; Oeming 2007, 13. Vgl. Flacius 1968, 44/45–48/49. Zur Diskussion vgl. Moldaenke 1936, 562–578, bes. 574–577. In der Literatur herrscht bis heute die Auffassung eines dogmatischen (Miss-)Verständnisses vor, vgl. etwa Reventlow 2001, 16, 19.

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rung, Bewahrung und Weitergabe an die nächsten Generationen für eine Vertiefung insbesondere dieser beiden bei Flacius noch unklaren Themen durch die protestantische Orthodoxie.266 Was die Lehre von der Verbalinspiration betrifft, so kam ihr in ihrer Funktion als argumentative Grundlage für die Sicherung der Autorität und damit auch der Deutlichkeit, Vollkommenheit und Wirksamkeit der Schrift eine zentrale Stellung bei der Verteidigung des Schriftprinzips zu.267 Ihre zunehmende Betonung führte alsbald zur weitgehenden Ineinssetzung von Wort Gottes und Heiliger Schrift.268 Allgemein wird Johann Gerhard (1582–1637) als der erste bedeutende lutherische Dogmatiker angesehen, der die Verbalinspiration im strengen Sinne vertreten hat.269 Die Autoren der Bibel gelten ihm nur mehr als Handlanger Gottes oder Schreiber und Notare des Heiligen Geistes.270 Explizit für die Inspiration der Bibel bis in den Wortlaut und die Vokalzeichen des hebräischen Textes hinein hat sich Abraham Calov (1612–1686) ausgesprochen, da er andernfalls die Zuverlässigkeit des Textes (und damit letztlich das Schriftprinzip selbst) gefährdet sah.271 Derartige Positionen führten dazu, dass Textkritik nur noch in sehr eingeschränktem Ausmaß zulässig erschien.272 Ihr Einsatzgebiet blieb auf die Bestätigung bestehender theologischer Lehren273 bzw. auf unter dogmatischen Gesichtspunkten nebensächliche Stellen274 beschränkt. Förderlich hingegen wirkte sich das Inspirationsdogma auf die Durchsetzung eines einheitlichen griechischen NT-Textes aus.275 Für lange Zeit normative Geltung erlangte die als textus receptus bezeichnete Ausgabe, die 1633 bei Elzevier in Leiden gedruckt wurde und die im Wesentlichen auf dem Text des Erasmus basierte. Der Pariser Verleger Robert Estienne (1503/04–1559) hatte diesem in seiner eigenen Ausgabe von 1551 bereits die bis heute gültige Verseinteilung beigegeben, was nicht nur das Zitieren erleichterte, sondern dabei auch den Eindruck verstärkte, es mehr mit einzelnen dicta probantia als mit größeren Zusammenhängen zu tun zu haben.276 266 Namen und Werke der wichtigsten lutherischen und reformierten Vertreter der Orthodoxie nennt Reuss 1860, 625f. Die umfassende Erforschung der orthodoxen exegetischen Literatur steht gleichwohl noch aus; zum Forschungsstand vgl. Saebø 2008, 699f. 267 Vgl. Karpp 1980, 77. 268 Vgl. Merk 1980a, 381. 269 Vgl. bspw. Genthe 1977, 32; Schäfer 1980, 110; Oeming 2007, 13. 270 Vgl. Kraus 1982, 34. 271 Vgl. Reventlow 1997, 225–233, bes. 226–228, 230. 272 Vgl. Reiser 2007, 230f. 273 Vgl. Meyer 1804, 471–473; Matthias 1995, 480. 274 Vgl. Reuss 1860, 625. 275 Vgl. Genthe 1977, 33. 276 Vgl. Karpp 1992, 239. Zur bereits im Mittelalter vorgenommenen Einteilung in Kapitel s. o. Kap. II.2.

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Hinsichtlich der Rolle der Dogmatik ist festzuhalten, dass das Zeitalter der Orthodoxie vor allem durch das überall in den Vordergrund drängende dogmatische Interesse charakterisiert ist. Göttliche Offenbarung wurde grundsätzlich als „Mitteilung von Lehre“277 (doctrina) verstanden, wodurch sich die Bibelauslegung in den Dienst der Dogmatik gestellt sah. Es kam zu einer Renaissance des aristotelischen Denkens, der Systemgedanke hielt wieder Einzug, eine neue Scholastik entstand.278 Ferner wurde Auslegung gemäß der analogia fidei zunehmend im Sinne einer bekenntniskonformen Interpretation aufgefasst.279 Der Bibelexegese kam daher insbesondere die Funktion zu, Belegstellen (dicta probantia) zur Bestätigung dogmatischer Lehrsätze zu liefern.280 Auch wenn gerade von der neueren Forschung281 wieder verstärkt darauf hingewiesen wird, dass die Schriftauslegung auch nach orthodoxem (Selbst-)Verständnis Vorrang vor der Dogmatik hatte, da ja alle Lehre aus der Schrift zu gewinnen sei und die Dogmatik nur diese zum Maßstab habe, scheint dies doch eher die Theorie wiederzugeben. Für die exegetische Praxis dürfte hingegen nach wie vor Karpps Diktum gelten, dass die Ergebnisse der Exegese „kaum eine kritische Funktion gegenüber der Dogmatik“282 erlangten. In methodischer Hinsicht folgte die Bibelauslegung Flacius, indem sie auf Grundlage eines die Bibel als sachliche Einheit betrachtenden Schriftverständnisses die grammatisch-rhetorische Arbeit am Text mit der Methode des die ganze Schrift umfassenden Stellenvergleichs verknüpfte und so die alle historischen Unterschiede einebnende Art der Bibelauslegung fortführte.283 Die typologische Interpretation des Alten Testaments blieb in allgemeinem Gebrauch, ebenso die Betonung des Literalsinns, wenngleich dieser in der pädagogisch-praktischen Anwendung weiterhin vielfach als Träger eines übertragenen Sinnes angesehen wurde.284 Darüber hinaus behielt die Orthodoxie das Interesse an den Eigenheiten der biblischen Sprachform – Stilkritik wurde anders als die eigentliche Textkritik weiterhin geübt –285 und an der Realienkunde bei, welche

277 278 279 280 281 282 283 284 285

Karpp 1980, 78. Vgl. Matthias 1995, 475f. Zu den Gründen vgl. Saebø 2008, 700. Vgl. Karpp 1980, 78. Vgl. Reuss 1860, 623f.; Kraus 1982, 31; Otto 1998, 1523. Vgl. etwa Schäfer 1980, 110f.; Reventlow 1997, 226, 230; Mühlenberg 1998, 485; Muller 2007, 31f.; Saebø 2008, 699. Karpp 1980, 78. Vgl. auch Mühlenberg 1998, 486. Vgl. z. B. Reventlows Artikel zu Johann Gerhard (Reventlow 2001, 21–30) und Abraham Calov (Reventlow 1997, 225–233). Vgl. Kraus 1982, 36. Vgl. Saebø 2008, 705–707.

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sich beide bereits bei Flacius finden.286 In einer Vielzahl von Handbüchern wurde das Wissen zur Chronologie, Geschichte, Geographie, Zoologie und den biblischen Sprachen zusammengetragen.287 Das bisher vor allem über die lutherische Orthodoxie Gesagte gilt genauso für die reformierte.288 Hier fand die Verbalinspirationslehre durch ihre Aufnahme in den Consensus Helveticus von 1675 sogar Eingang in eine Bekenntnisschrift.289 Unterschiede zwischen den beiden Konfessionen lassen sich allenfalls in den theologischen Standpunkten finden, die wiederum bei den Reformierten nicht zuletzt wegen der räumlichen Zersplitterung und des Fehlens einer allen gemeinsamen Bekenntnisschrift weit weniger homogen ausfielen als im lutherischen Bereich. Einen gemeinsamen Differenzpunkt zu den Lutheranern bildete gleichwohl die wichtige, wenn auch vielleicht nicht zentrale Rolle, welche die Prädestinationslehre für die reformierte Theologie spielte, weshalb sie dort entsprechend eingehend behandelt wurde.290

5.2 Die katholische Bibelauslegung In methodischer Hinsicht bestanden zwischen Katholiken und Protestanten weniger Unterschiede als in der theologischen Deutung einzelner Stellen.291 Humanistische Methoden fanden auch im katholischen Bereich Berücksichtigung, wie die am ursprachlichen Text und am Literalsinn orientierte Exegese eines Thomas de Vio Cajetan (1469–1534), des frühen Hauptgegners Luthers, veranschaulicht.292 Allerdings wurde der Rückgang auf den Urtext stets auch mit Skepsis gesehen, da dadurch zum einen dogmatische Formulierungen, deren Basis allein der lateinische Text der Vulgata war, ins Wanken geraten konnten und zum anderen auch die Urtexte keineswegs als gesichert galten.293 Nicht zum Protestantismus übergegangene Humanisten gerieten daher zwischen die Fronten, da sie auch in der katholischen Kirche stets beargwöhnt wurden.294 Insgesamt setzte sich allerdings auch hier allmählich ein bibelnäheres und stärker philologisches Theologisieren durch.295 286 Vgl. Mühlenberg 1998, 484, 486. 287 Vgl. ebd., 486. Für eine Auflistung von Werken s. Meyer 1804, 7–149, und Meyer 1805, 9–141. Vgl. auch Diestel 1869, 442–473. 288 Vgl. Reuss 1860, 622–626. 289 Vgl. Fatio 1995, 495. 290 Vgl. ebd., 486–488. Weitere Unterschiede in den Positionen bei Saebø 2008, 691–757. 291 Vgl. Steinmetz 1997, 245f. 292 Vgl. Muller 2007, 31 (dort auch weitere katholische Exegeten humanistischer Prägung). 293 Vgl. Steinmetz 1997, 251f. 294 Vgl. Augustijn 2003, H115–118. 295 Vgl. ebd., H120f.

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Eine Klärung der katholischen Position zu Schrift und Schriftauslegung erfolgte auf dem Konzil von Trient (1545–1563).296 Entgegen dem reformatorischen Schriftprinzip wurde dort festgehalten, dass Wahrheit und Lehre des Evangeliums „in geschriebenen Büchern und ungeschriebenen Überlieferungen enthalten“ seien und dass von der Kirche beide, Bibel und kirchliche Tradition, „mit dem gleichen Gefühl der Dankbarkeit und der gleichen Ehrfurcht“ verehrt würden.297 Altes und Neues Testament seien dabei wegen ihres gemeinsamen göttlichen Urhebers gleichermaßen verehrungswürdig. Zudem erklärte das Konzil den Kanon gemäß der Vulgata für heilig und verbindlich und bestimmte die vetus vulgata Latina als einzig „authentische“, d. h. für den offiziellen Gebrauch in der Kirche – öffentliche Lesung, Disputation, Predigt und Auslegung – zulässige Bibelausgabe.298 Hinsichtlich der Auslegung wurde festgelegt, dass, „um leichtfertige Geister zu zügeln, […] niemand wagen soll, auf eigene Klugheit gestützt in Fragen des Glaubens und der Sitten, soweit sie zum Gebäude christlicher Lehre gehören, die heilige Schrift nach den eigenen Ansichten zu verdrehen und diese selbe heilige Schrift gegen jenen Sinn, den die heilige Mutter Kirche festgehalten hat und festhält, deren Aufgabe es ist, über den wahren Sinn und die Auslegung der heiligen Schriften zu urteilen, oder auch gegen die einmütige Übereinstimmung der Väter auszulegen“299.

Die katholische Exegese war damit auf die lateinische Vulgata als Textgrundlage und auf die Lehrtradition (Kirchenväter und Konzilsbeschlüsse) und das kirchliche Lehramt als Autoritäten für die Auslegung festgelegt – auch wenn es hier wohl weniger um eine positive Festlegung als um den Ausschluss widersprechender Autoritäten ging.300 Entsprechend wurde in der Zeit nach dem Konzil in päpstlichem Auftrag eine offizielle Vulgata-Ausgabe erarbeitet. Dieser Text, die 1590 von Sixtus V. (1585–1590) und dann 1592 in nochmals überarbeiteter Form von Clemens VIII. (1592–1605) autorisierte Sixto-Clementina, blieb für fast 400 Jahre verbindlich in Geltung und wurde erst 1979 durch die Nova Vulgata, einen auf Anregung Pauls VI. (1963–1978) hin revidierten Text, ersetzt. Die Verwendung der biblischen Texte in den Ursprachen war von den Konzilsvätern freilich nicht untersagt worden.301 Zwar war es für katholische Ausleger opportun, 296 297 298 299 300 301

Hierzu vgl. Brandmüller 1987, 32–38; Karpp 1992, 220–223. DH 1501. Vgl. DH 1502–1504, 1506. DH 1507. Vgl. Brandmüller 1987, 37f. Vgl. hierzu und zum Folgenden Reiser 2007, 219–237, bes. 229–231, 18f.

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den hebräischen oder griechischen Text nicht allzu sehr gegen die Vulgata in Anschlag zu bringen, doch gewährte das Traditionsprinzip einen gewissen Freiraum für die kritische Beschäftigung mit dem Text. Kritik wurde sogar durchaus gern gesehen, sofern ihre Ergebnisse kontroverstheologisch verwertbar waren, etwa wenn sie den Gebrauch der Vulgata legitimieren halfen oder Klarheit und Suffizienz der Schrift infrage stellten und damit die Notwendigkeit von Tradition und Lehramt erwiesen. Bei aller dogmatischen Restriktion, der kritische Bibelexegese im 16. und 17. Jahrhundert auch im Katholizismus unterworfen war, scheint sie daher insgesamt noch eher möglich gewesen und auch geübt worden zu sein als im Protestantismus. Eine mögliche Ursache kann im Studienbetrieb der damaligen Zeit erblickt werden, bei dem die eigentliche Bibelexegese als Lehrfach im protestantischen Bereich schon bald wieder von einer loci-theologici-Systematik verdrängt wurde, während sie bei den Katholiken vor allem in der Ratio studiorum der jesuitischen Ausbildungsstätten einen festen Platz fand. Denn den mittels der Schrift geführten protestantischen Angriff auf die katholische Lehre und Kirche glaubte man am wirksamsten mit ebenfalls biblischen Argumenten abwehren zu können.302 Bei dieser Aufgabe taten sich denn auch die Jesuiten und unter diesen besonders die spanischen hervor. Einen Spitzenplatz nimmt hier Johannes Maldonatus (1533/34–1583) ein.303 Nach Inhalt und Methode ist sein Evangelienkommentar304 „typisch für die frühe jesuitische Bibelauslegung“305. Maldonatus verbindet humanistische Exegese mit scholastischer Theologie. Auf Basis umfassender Sprachkenntnisse stellt er überall Vergleiche zwischen lateinischer Vulgata-Übersetzung und jeweiligem Urtext an und spricht sich allen Konzilsbeschlüssen zum Trotz mal mehr für diesen, mal mehr für jene aus. Daneben greift er ausgiebig auf die Deutungen der Kirchenväter zurück. Eine rein scholastische Theologie lehnt er ab, dies jedoch nicht allein aus humanistischen Motiven, sondern insbesondere wegen der konsequent antiprotestantischen Zielrichtung seiner Auslegung. Scholastische Spekulation ist ihm „Kinderlärm“, der Angriffen durch Häretiker nichts entgegenzusetzen hat. Stattdessen müsse im Kampf gegen diese auf Bibel, Kirchenväter und die alte, vorscholastische Weise des theologischen Argumentierens als den wirksameren Waffen zurückgegriffen werden. Die scholastische Theologie wird jedoch nicht komplett verworfen. Zur Erhebung des dogmatischen Sinns – und auf diesen zielt seine Auslegung überall ab – erachtet er sie weiterhin für notwendig. Allerdings wird sie eingebettet in die exegetische Arbeit, und so wird die 302 303 304 305

Vgl. Reventlow 1997, 201. Die wichtigsten übrigen Namen und Werke nennt Reuss 1860, 622. Maldonatus 1874. Reventlow 1997, 204. – Zum Folgenden vgl. ebd., 201–211, bes. 204–208.

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Auslegung einzelner Bibelstellen dazu verwendet, dogmatische Fragen in Form scholastischer quaestiones unter Zuhilfenahme humanistischer Gelehrsamkeit und der Kirchenväterliteratur zu diskutieren – und das Ergebnis im Bedarfsfall auch gleich antiprotestantisch zu wenden. Grundsätzliche Probleme stellen sich Maldonatus bei der dogmatischen Interpretation der Bibel nicht in den Weg, denn wie seine protestantischen Gegner betrachtet auch er die Bibel sachlich als eine harmonische Einheit. Historisch-kritische Fragen kommen ihm noch nicht in den Blick. Das Jahrhundert nach dem Tridentinum (1563–1660) sollte „das goldene Zeitalter der katholischen Exegese“306 werden. Das Resultat war wie im Protestantismus eine wahre Flut von Kommentaren, aber auch von Bibelausgaben und -übersetzungen. Die Auslegungen sind als dogmatisch und vielfach allegorisch zu beschreiben. Inhaltlich blieben sie grundsätzlich der Tradition, insbesondere den Kirchenvätern verhaftet, während das humanistische Erbe sich in entsprechenden Untersuchungen zu Text, Grammatik und Stil niederschlug.

6. Göttliche Inspiration vs. menschliche Vernunft: Übergänge zur historischkritischen Bibelauslegung der Moderne Wie groß im Einzelnen die Differenzen im konfessionellen Streit auch immer sein mochten, in der Frage der Wahrheit und Autorität der Schrift wussten sich die Theologen aller Lager einig. Dieser Ansicht erwuchs in der frühen Neuzeit nun aber quasi von außen eine neue Herausforderung in Form des sich allmählich vollziehenden weltanschaulichen Wandels, dessen Auswirkungen auf die Bibelauslegung Klaus Scholder aufgezeigt hat.307 Nicht nur wurden Welt- und Geschichtsbild der Bibel zunehmend fragwürdig, auch setzte die neue philosophische Strömung des Cartesianismus an die Stelle des Autoritätsglaubens die kritische Prüfung durch die menschliche Vernunft. Für die Bibelauslegung war dies nicht zuletzt darum von Belang, als die sich verfestigende Glaubensspaltung zunehmend die Frage nach einer Instanz aufwarf, die dem Glauben im Falle einander widersprechender autoritativer Auslegungen Gewissheit verschaffen konnte. Hierfür bot sich nun mehr und mehr die Vernunft an. Die Frage, welches Gewicht menschlicher Vernunfterkenntnis bei der Bibelinterpretation zuzumessen sei, stellte sich damit neu und in bislang ungekannter Schärfe (Kap. III.6.3). Verstärkt seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts kam es hierüber zur Auseinandersetzung mit der Orthodoxie. Für diese stand ihr Inspirationsverständnis auf dem Spiel, denn an ihm entschied sich, in welchem Umfang Textkritik (Kap. III.6.1) 306 Bauer 1971, 30. 307 Vgl. Scholder 1966.

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und eine die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse berücksichtigende Bibelinterpretation (Kap. III.6.2) möglich waren. Allerdings war die Vorherrschaft der Orthodoxie noch lange weithin ungebrochen, so dass sich Neues nur an den Rändern, bei Verstoßenen und Außenseitern bemerkbar machen konnte, wo es „vereinzelt und wenig wirksam“ blieb.308 Im modernen Sinne kritische Bibelauslegung stieß bis Ende des 17. Jahrhunderts in allen Konfessionen auf Vorbehalte und Widerstand.309 Gleichwohl wurden entsprechende Versuche unternommen. Sie fanden in den Niederlanden und England statt, teils auch in Frankreich. Getragen waren sie vor allem von reformierten Autoren, die Calvins Erbe einer historischen, am Literalsinn orientierten Exegese weiterführten und das methodische Rüstzeug aus der Klassischen Philologie nach und nach auch in der Bibelauslegung durchsetzten und so für eine Historisierung des Verständnisses sorgten.310 Vereinzelt waren auch Katholiken beteiligt. Das lutherische Deutschland hingegen nahm an der Debatte bis um die Mitte des 18. Jahrhunderts so gut wie gar nicht teil, verknüpfte dann aber die Rezeption der neuen Ideen sogleich mit ihrer Weiterentwicklung. 311 Zuvor hatte der Pietismus bereits einen ersten Versuch vorgelegt, alte und neue Sichtweise zu verbinden (Kap. III.6.4).

6.1 Die Arbeit am Text: Historisch-philologische Exegese im 16. und 17. Jahrhundert Die philologische Arbeit war seit den Humanisten stets weitergeführt worden. In begrenztem Umfang gilt das auch für das Zeitalter der Orthodoxie, doch war in dieser Zeit die philologische Textbehandlung aus dogmatischen Gründen massiven Einschränkungen unterworfen (s. o. Kap. III.5.1). Auf diese Situation reagierte die Theoriebildung im 17. Jahrhundert mit der Entwicklung einer allgemeinen Hermeneutik, die zur Interpretation aller Texte, auch der biblischen, die gleiche Methodik vorsah, nämlich die Anwendung der Regeln der Klassischen Philologie (Textkritik, Sprachvergleich, Beachtung des Skopus sowie des einer Stelle Vorangehenden und Folgenden, Erklärung des Einzelnen aus dem Ganzen und umgekehrt etc.). Zunächst sollte so nur der Aussagesinn festgestellt werden (Johann Conrad Dannhauer [1603–1666]), später kam ergänzend noch die Forderung nach Sachkritik zur Beurteilung des Wahrheitsgehalts des Gesagten

308 309 310 311

Vgl. Merk 1980a, 381 (Zitat: Smend 1991e, 14f.). Vgl. Reiser 2007, 17, 234f. Vgl. Laplanche 1986, bes. 459–469. Vgl. Scholder 1966, 10f.

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hinzu (Johannes Clauberg [1622–1665]).312 Entscheidend daran war, dass bei dieser Vorgehensweise von der Göttlichkeit der Schrift, wie sie die Orthodoxie annahm, abgesehen wurde. Entsprechend ablehnend reagierten deren Vertreter daher auf Versuche, diesem Vorgehen auch in der Bibelauslegung Geltung zu verschaffen. Was das Verstehen der Schrift aus ihrer Zeit heraus betrifft, hatte sich schon 1572 der evangelische Humanist Joachim Camerarius (1500–1574) in seinem Kommentar zu ausgewählten Stellen des Neuen Testaments für ein historisches Verständnis ausgesprochen und hierfür den Sprachvergleich mit klassischen antiken Autoren angeregt.313 Das gleiche Ziel vor Augen, bezog nach ihm Hugo Grotius (1583–1645) in seinen wirkungsgeschichtlich überaus einflussreichen Annotationes in Novum Testamentum (3 Bde., 1641–1650) und Annotata ad Vetus Testamentum (1644) neben den antiken Klassikern auch jüdisch-hellenistische Literatur sowie die Kirchenväter in diesen Ansatz mit ein.314 Grotius übte ferner Textkritik, und so enthielten seine Anmerkungen auch Ergebnisse aus dem Vergleich verschiedener Textvarianten. Und weil er schließlich sachliche Schwierigkeiten in einzelnen Schriften (wie etwa Paulus’ Naherwartung) durch Vermutungen zur Verfasserschaft, zur Abfassungszeit oder zur Textüberlieferung zu beheben suchte, gilt Grotius als der Erste, der die Methode historischer Hypothesen zur Erhellung der geschichtlichen Situation biblischer Bücher eindeutig gebrauchte.315 Wie Camerarius konzentrierte er sich auf die Erklärung des grammatischen Sinns und vermied dogmatische Ausführungen. Dieses Vorgehen war nicht zuletzt seiner Absicht geschuldet, durch eine undogmatische Auslegung zur Überwindung der Konfessionsgegensätze beizutragen (Grotius selbst gehörte der diesem Anliegen verpflichteten Richtung der reformierten Arminianer an). Mit der rabbinischen Literatur, deren Sprache und Vorstellungen er als zeitgenössisch zum Neuen Testament betrachtete, tat der anglikanische Pfarrer John Lightfoot (1602–1675) eine weitere Quelle für den Sprachvergleich auf und beförderte mit seinen vielfältigen Beobachtungen die religionsgeschichtliche Einordnung des Neuen Testaments.316 Den neben Grotius bedeutendsten Beitrag philologischer Bibelkritik im 17. Jahrhundert steuerte jedoch der französische Oratorianer Richard Simon

312 313 314 315 316

Vgl. Bormann 1986, 113–115. S. hierzu auch Kap. III des Beitrags „Philosophie“ in diesem Band. Vgl. Kümmel 1970, 26–28. Vgl. ebd., 28–36; Genthe 1977, 34–38; Reventlow 1988, 53–55; Reventlow 1997, 211–225. Vgl. Kümmel 1970, 32. Vgl. ebd., 36f.

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(1638–1712) bei.317 In vier großen Abhandlungen318 wandte er als Erster umfassend die Methoden der Text- und Literarkritik an, um Quellen, Zustandekommen, Überlieferung und Kommentierung des Alten und Neuen Testaments zu untersuchen. Auf diese Weise gelangte er jedoch zu Ergebnissen, die der herrschenden Orthodoxie aller Lager zu weit gingen, etwa die Bestreitung der mosaischen Autorschaft des Pentateuchs. Simon wurde aus dem Oratorium ausgeschlossen und gleich sein erstes und Hauptwerk, die Histoire critique du Vieux Testament, auf Betreiben Jacques-Bénigne Bossuets (1627–1704) von der katholischen Kirche verboten – obwohl Simons erklärtes Ziel der Angriff auf das protestantische Schriftprinzip war, indem er mit seinem Werk die Notwendigkeit der Tradition als zusätzlicher Autorität zur Bibelauslegung zu erweisen suchte. Simons Ansätze sollten erst rund hundert Jahre später, bei Johann Salomo Semler, und auch nur im Protestantismus fruchtbar werden, während die Bibelkritik auf katholischer Seite zunehmend kirchenamtlicher Ablehnung begegnete.319 Die kritische Untersuchung der Bibel hatte eine Einschränkung des Inspirationsbegriffs erforderlich gemacht. Grotius etwa sah nur die Aussagen Christi und der Propheten (inklusive der prophetischen Aussagen der Apostel und der Apokalypse) als verbalinspiriert im strengen Sinne an, wohingegen alles Übrige menschliches Zeugnis, geschichtlicher Bericht und daher offen für Kritik sei.320 Simon wiederum betrachtete die Schrift nur hinsichtlich ihrer literarischen Vorstufen – der verlorenen Originalberichte – als inspiriert, nicht aber in ihrem tradierten Wortlaut.321 Die biblischen Schriftsteller waren für ihn auch als Instrumente Gottes weiterhin normale Menschen, die sich bei der Abfassung der Texte ihres Verstandes bedienten. Ihre Rechtleitung durch den Heiligen Geist habe sich nur darauf bezogen, dass sie inhaltlich nicht irren konnten, nicht aber auf die Verwendung einzelner Wörter. Weil überdies die Urtexte verloren gegangen und die erhaltenen Texte im Zuge des Tradierungsprozesses durch Kopierfehler verfälscht worden seien, hielt Simon die kritische Untersuchung der Bibel sogar für notwendig, um einen zuverlässigen Text für die theologische Interpretation bereitzustellen. Hier, in der von der kritischen Untersuchung strikt geschiedenen theologischen Deutung, war für ihn der Ort, wo Tradition und regula fidei als „legitime 317 Vgl. v. a. Reiser 2007, 185–217; außerdem: Reventlow 1980a; Reventlow 1988, 56–58; Reventlow 2001, 87–92; ferner: Kümmel 1970, 41–50; Kraus 1982, 65–70. 318 Histoire critique du Vieux Testament (1678); Histoire critique du texte du Nouveau Testament (1689); Histoire critique des versions du Nouveau Testament (1690); Histoire critique des principaux commentateurs du Nouveau Testament (1693). 319 Vgl. Reiser 2007, 215. 320 Vgl. Reventlow 1997, 221f. 321 Vgl. Reiser 2007, 198–214.

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Vorurteile“ (préjugés légitimes) für das Verständnis maßgeblich sein sollten, während auf dem Feld der Kritik die Vernunft genügte. Aber auch wenn Simons Inspirationsbegriff schon recht nah an der Position mancher Ausleger des 18. Jahrhunderts ist, bestanden doch noch wesentliche Unterschiede zur aufgeklärten Bibelauslegung. Hierzu gehört vor allem das Festhalten an der grundsätzlichen Glaubwürdigkeit und Irrtumslosigkeit der Schrift. Für den Bereich der theologischen Auslegung, wo es um Glaube und Theologie geht, hatte Simon diese ja nie infrage gestellt.322 Auch Grotius sah die Bibel weiterhin als in der Sache widerspruchsfrei an und hielt sie auch historisch für im Wesentlichen zuverlässig, insbesondere hinsichtlich der Wunderberichte, der Auferstehung oder der Fähigkeit der Propheten, in die Zukunft zu sehen.323 Von einer historisch-kritischen Bibelauslegung, die auch Sachkritik beinhaltet hätte, kann hier also nicht gesprochen werden. Ein anderes Feld der Auseinandersetzung war das der Textkritik im engeren Sinn.324 So stieß die Ansicht des jüdischen Philosophen und Humanisten Elias Levita (1469–1549), die Vokalzeichen und Akzente im Alten Testament seien erst im fünften nachchristlichen Jahrhundert von den rabbinischen Kommentatoren (Masoreten) von Tiberias zum ursprünglichen hebräischen Konsonantentext hinzugefügt worden, auf den erbitterten Widerstand des Lutheraners Johannes Buxtorf d. Ä. (1564–1629), der in seinem Werk Tiberias (1620) eine solche Spätdatierung vor allem mit dem dogmatischen Argument ablehnte, dass sonst viele Stellen der Bibel hinsichtlich ihrer Lesart gänzlich unsicher würden und damit die Möglichkeit bestünde, den Sinn ihrer Aussagen beliebig abzuändern. Vielmehr hätten die Masoreten die Vokale und Akzente bereits vorgefunden und lediglich fixiert, um sie vor Änderungen zu schützen, sie stammten aber von Esra und den Männern der „großen Synagoge“. Dem widersprach insbesondere der reformierte Theologe Louis Cappel (1585–1658).325 Unter Hinweis auf verschiedene antike jüdische Texte, die alle von keinem punktierten Bibeltext wüssten, verteidigte er die Spätdatierung. Ausgehend von einem gemäßigten Inspirationsbegriff und der Zuversicht, dass durch philologische und grammatische Arbeit jeweils ein hinreichend sicherer Urtext ermittelt werden könne, zeigte er zudem Textvarianten sowohl innerhalb des hebräischen Textes als auch zu den neutestamentlichen AT-Zitaten und zur Septuaginta auf und führte sie auf Fehler während des Tradierungsprozesses zurück. Cappels Zuversicht hinsichtlich des Urtextes wurde von katholischer Seite jedoch aus nicht zuletzt kontroverstheologischen Gründen in Zweifel gezogen. 322 323 324 325

Vgl. ebd., bes. 198–204. Vgl. Reventlow 1997, 217–219. Zum Folgenden vgl. Reventlow 2001, 79–82. Zu Cappel und seiner Position vgl. auch Kraus 1982, 47–50.

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Für Jean Morin (1591–1659) musste der hebräische Text für derart entstellt gelten, dass er nicht mehr als Quelle und Norm des Bibelstudiums dienen könne.326 Stattdessen sei die Septuaginta als inspiriert anzusehen und zu verwenden, da sie aus den reinsten hebräischen Quellen geschöpft sei. Beim Text des Neuen Testamentes begegneten den Kritikern ähnliche Widerstände. Änderungen an dem als inspiriert angesehenen textus receptus konnten nur in Anmerkungen und mit größter Behutsamkeit angebracht werden.327 Nachdem Simon den Anstoß für eine historisch orientierte Textkritik gegeben hatte, edierte der Anglikaner John Mill (1645?–1707) in seinem Todesjahr eine nur leicht veränderte Ausgabe des textus receptus, die jedoch neben einer Einleitung auch einen umfangreichen Anmerkungsapparat der Lesarten aller Mill erreichbaren Handschriften, Übersetzungen und Druckausgaben umfasste. 1734 folgte die ebenfalls nur leicht modifizierte Ausgabe des Pietisten Johann Albrecht Bengel (1687–1752), die vor allem in quellenkritischer Hinsicht bedeutsam war, insofern sie die im Apparat genannten Varianten nach ihrem Gewicht in fünf Gruppen einteilte, zwei mit dem textus receptus überlegenen, eine mit gleichwertigen und zwei mit schlechteren Lesarten. Darüber hinaus gab Bengel auch kritische Grundsätze für die Einteilung an, dass etwa nicht die Anzahl der Handschriften für oder gegen eine Lesart spreche, dass die harte der glatten Lesart vorzuziehen sei und dass die Handschriften zur besseren Bewertung in Familien eingeteilt werden könnten (Bengel selbst unterschied bereits eine asiatische [byzantinische] und eine afrikanische [alexandrinische] „Nation“). Die 1751/52 in Amsterdam erschienene Ausgabe des reformierten Theologen Johann Jakob Wettstein (1693–1754) schließlich führte in einem direkt unter dem Text befindlichen textkritischen Apparat diejenigen Varianten an, die Wettstein für ursprünglicher hielt, und gab ferner in einem zweiten Apparat Sachparallelen aus der klassischen und jüdischen Literatur an. Während Wettstein die seiner Ansicht nach besseren Lesarten noch unterhalb des Textes anführte, gab Johann Jakob Griesbach (1745–1812) 1774/75 erstmals einen auf Grundlage besserer Handschriften an zahlreichen Stellen verbesserten Text heraus und brach so mit der traditionellen Vorherrschaft des textus receptus.328

6.2 Bibel und Wissenschaft: Modernes Weltbild und neues Wirklichkeitsverständnis Aus ihrer Verbalinspirationslehre leitete die Orthodoxie nicht nur die Unveränderlichkeit des Textes ab, sondern auch die Normativität der Bibel hinsichtlich allen Wis326 Zu Morin und seiner Position vgl. auch ebd., 46f. 327 Vgl. hierzu und zum Folgenden Kümmel 1970, 50–54; Reventlow 2001, 82–86. 328 Vgl. Kümmel 1970, 88; Reventlow 2001, 200–202.

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sens über Natur und Geschichte. Dieses Verständnis der Bibel als allgemeingültiges Lehrbuch für alle Lebensbereiche wurde nun aber umso zweifelhafter, je mehr das kopernikanische Weltbild und das neue, auf mathematischem Beweis und empirischem Befund fußende Wirklichkeitsverständnis durch wissenschaftlichen Erkenntniszuwachs im Lauf des 17. Jahrhunderts an Gewissheit gewannen.329 In ursprünglich apologetischer Absicht wurden daher schon bald Versuche unternommen, Glauben und neues Weltbild vereinbar zu machen. Für den Bereich der Astronomie und damit die Frage, ob mit Kopernikus von einem helio- oder mit der Bibel von einem geozentrischen Weltbild auszugehen sei, taten dies Johannes Kepler (1571–1630) und Galileo Galilei (1564–1642).330 Sie forderten, dass die Bibel überall dort, wo sie über die Natur handelt, nicht entgegen dem ausgelegt werden dürfe, was die Vernunft mittels empirischer Wissenschaft als sicheres Wissen erkannt habe. Denn, so argumentierte Galilei in einem Brief an Christine von Lothringen, beide, Natur und Schrift, gingen aus Gottes Wort hervor, diese als Niederschrift des Heiligen Geistes, jene als gehorsame Vollstreckerin seiner Gesetze. Während nun aber die Schrift der Interpretation bedürfe und nicht alles im wörtlichen Sinn zu verstehen sei, seien die Vorgänge in der Natur zwingend. Folglich könne nichts, was der Mensch durch sinnliche Anschauung oder mathematische Beweise erfasst habe, aufgrund von Schrifttexten angezweifelt werden. Vielmehr seien umgekehrt die Ergebnisse der exakten Wissenschaften für die Bibelauslegung maßgeblich. Schon Kepler hatte unter Vorwegnahme der aufklärerischen Akkommodationstheorie (s. u. Kap. IV.2.1) ein solches Vorgehen damit begründet, dass die Schrift, um verstanden zu werden, von den irdischen Dingen (res vulgares) stets gemäß den zeitgenössischen Vorstellungen (humano more) ihrer ersten Adressaten spreche, auch wenn sie damit Höheres und Göttliches ausdrücken wolle. Nicht aber sei sie als ein Lehrbuch über die res vulgares eingesetzt. Die Autorität der Bibel war daher nach Kepler und Galilei auf die Heils- und Glaubenswahrheiten zu beschränken. Das Problem, zwischen biblischem und modernem Weltbild vermitteln zu müssen, stellte sich auch für den Bereich der Geschichte.331 Bis zu Beginn des 16. Jahrhunderts hatte die Bibel den umfassenden heilsgeschichtlichen Deutungsrahmen abgegeben, innerhalb dessen Geschichte verstanden, geschrieben und nach dem sie chronologisch wie geographisch gegliedert wurde. Gerade auf diesen Gebieten aber wurde die traditionelle Sicht durch die Entdeckung neuer, außerbiblischer Geschichtsquellen sowie der Bibel unbekannter Länder und Völker unsicher. In chronologischer Hinsicht wur329 Zum Ganzen vgl. Scholder 1966. Vgl. auch Titzmann 2005, der die Modifizierung der bibelhermeneutischen Grundannahmen im Zuge des neuzeitlichen Wissenschaftsdiskurses klar herausarbeitet. 330 Vgl. Scholder 1966, 56–78. 331 Vgl. hierzu und zum Folgenden ebd., 79–104.

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de die Unsicherheit noch verstärkt durch die in der Bibel selbst angelegte Möglichkeit verschiedener Zählweisen der Jahre zwischen der Erschaffung der Welt und der Geburt Jesu, was nun zunehmend als beunruhigend wahrgenommen wurde. Einen Lösungsvorschlag für diese Problematik unterbreitete der reformierte Gelehrte Isaac de La Peyrère (1594/96–1676) in seinem 1655 anonym in Amsterdam veröffentlichten Werk Praeadamitae. Darin verteidigte er mit exegetischen, logischen und historischen Argumenten die These, dass Adam nicht der erste Mensch, sondern lediglich der Stammvater Israels gewesen sei. Nur dann geriet seiner Ansicht nach die biblische Erzählung weder in Widerspruch zu sich selbst (vor wem anders als vor den zeitgleich lebenden heidnischen Völkern hätte beispielsweise Abel sonst seine Schafe hüten müssen?) noch zu dem, was über die Geschichte der Ägypter, Chaldäer, Skythen, Phönizier und anderer Völker schon bekannt war oder noch herausgefunden werden möge. Wie Galilei fand aber auch La Peyrère mit seinen Thesen bei keiner der drei großen Konfessionen Anklang und musste sie widerrufen, nachdem er unter nicht mehr vollständig rekonstruierbaren Umständen zum Katholizismus konvertiert war.

6.3 Die neue Rolle der menschlichen Vernunft: Sozinianer – Spinoza – Deismus Solange alle auf menschlicher Vernunft und Wissenschaft gegründete Erkenntnis der Autorität der Schrift strikt untergeordnet blieb, waren Versuche wie der La Peyrères zum Scheitern verurteilt. Es bedurfte einer Aufwertung der Vernunfterkenntnis. Schon im 16. Jahrhundert hatten die Sozinianer, die für sich in Anspruch nahmen, durch eine konsequente Beachtung des Schriftprinzips die Reformation Luthers erst eigentlich zu vollenden, die Auffassung vertreten, dass Vernunft und Schrift als gleichgeordnete Autoritäten anzusehen seien.332 Sie lehnten alle Dogmen, die sich ihrer Ansicht nach nicht klar aus der Schrift belegen ließen, als nicht schriftgemäß ab, allen voran das Trinitätsdogma und die Lehre von den zwei Naturen Christi. Der Vernunft maßen sie insofern eine kritische Funktion bei, als in der Auslegung nichts behauptet werden durfte, was wider die Vernunft (contra rationem) ist. Aussagen wie die Wunderberichte wurden gleichwohl als die menschliche Vernunft übersteigend (supra rationem) anerkannt. Das moderne Wirklichkeitsverständnis, das grundsätzlich nicht mit übernatürlichen Ereignissen und einem Eingreifen Gottes in die Geschichte rechnet, liegt ihren Thesen noch nicht zugrunde, nur die Widerspruchsfreiheit wird als Kriterium herangezogen. Einen Schritt weiter ging im 17. Jahrhundert der jüdische Philosoph Baruch de Spinoza (1632–1677).333 Die Bibel betrachtete er als ein Buch wie jedes andere. Als heilig 332 Vgl. hierzu und zum Folgenden ebd., 34–55. 333 Zu ihm vgl. ebd., 56–78; Reventlow 2001, 92–113; ferner: Titzmann 2005, 149–155.

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konnte sie ihm nur hinsichtlich ihres Nutzens, die Menschen zur Verehrung Gottes zu führen, gelten. Inhaltlich reduzierte er ihre Botschaft im Wesentlichen auf den ethischen Kern des Liebesgebots. Grundsätzlich ging er davon aus, dass sie nichts enthalte, was sich nicht auch allein durch den Gebrauch der Vernunft erkennen ließe. Denn der Glaube konnte es für ihn nur mit ganz einfachen, jedermann einsichtigen, der Vernunft nicht widersprechenden Aussagen zu tun haben. Überhaupt betrachtete Spinoza die philosophische Spekulation und damit die menschliche Vernunft als die einzige Instanz, die über den Wahrheitsgehalt von Aussagen, auch biblischen, urteilen kann. Seine Bibelkritik zielte daher darauf, anhand des sachlichen Kriteriums des Liebesgebots die ewigen religiösen Vernunftwahrheiten vom historisch Bedingten der biblischen Erzählungen wie den Kern von der Schale zu trennen. Hierfür war zunächst der Textsinn zu erheben, wofür dieselbe Methode Anwendung finden sollte wie zur Naturerklärung: die cartesianische. So sei zuerst „eine getreue Geschichte der Schrift auszuarbeiten, um daraus als aus den sicheren Daten und Prinzipien den Sinn der Verfasser der Schrift in richtiger Folgerung abzuleiten“334. Die Auslegung müsse sich um die biblische Sprache und ihre Geschichte bemühen, sodann um die Hauptgesichtspunkte der einzelnen Schriften, um aus ihnen und dem Sprachgebrauch den Sinn dunkler Stellen zu ermitteln. Auch seien die einzelnen Schriften und ihre Verfasser historisch zu verorten, einschließlich der Kanonfrage. Auf Grundlage des so bestimmten Textsinns sollte die Auslegung dann zur Erhebung der ewigen und heilsamen Lehre der Schrift fortschreiten. Dazu war der Text an der Vernunft zu prüfen. Was wie die Wunderberichte der Vernunft zu widerstreiten schien, erklärte Spinoza entweder als dichterischen Ausdruck oder mit der Akkommodationstheorie als zeitbedingte irrige Anschauung. Wunder im eigentlichen Sinn konnte es für ihn nicht geben, allenfalls Phänomene, die wunderbar erscheinen, weil die ihnen zugrunde liegenden Gesetze nicht bekannt sind. Mit dieser Überordnung der Vernunft über die Schrift nahm Spinoza die rationalistische Position der Aufklärung vorweg. Die bislang gültigen theologischen Ansichten sollten als Vorurteile enttarnt und durch Vernunfturteile ersetzt werden. Denselben Ansatz vertraten die englischen Deisten, die anders als Spinoza, der lange Zeit kaum Beachtung fand,335 beträchtlichen Einfluss auf die weitere Entwicklung nahmen.336 Vorläufer dieser Richtung war entgegen seinem Willen John Locke (1632–1704), als Hauptvertreter können John Toland (1670–1722) und Matthew Tin334 Spinoza 1994, 114f. 335 Vgl. Reventlow 1988, 59. 336 Zum Folgenden vgl. Reventlow 1980; Kraus 1982, 56–58; Reventlow 1988, 60–62.

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dal (1653–1733) angesehen werden. Auch wenn bei ihnen kein geschlossenes System erkennbar ist, tauchen bestimmte Züge in unterschiedlicher Ausprägung immer wieder auf. Das gemeinsame Hauptmerkmal ist, dass die Bibel am Maßstab der Natur und der Vernunft (im Sinne der empiristischen Erkenntnislehre als Übereinstimmung von Begriff/Idee und Anschauung/Objekt) gemessen wurde. Die Bibel galt zwar nach wie vor als göttlichen Ursprungs, glauben wollte man aber nur noch, was dem deistischen Vernunftbegriff entsprach (Toland). Ausgelegt werden sollte die Schrift wie jedes andere Buch auch, wozu die seit dem Humanismus bekannten Methoden empfohlen wurden. Hinzu kam ein wesentlich moralisch-ethisches Religionsverständnis. Religion war im Grunde Morallehre, und die auf dem Wege rationaler Erkenntnis bestimmte natürliche Religion galt als ebenso universal gültig wie die Vernunft selbst. Über den Moralbegriff erfolgte auch die inhaltliche Verknüpfung der Vernunft mit der Bibel. Die Bibel wurde gemessen an dem, was als moralisch vernünftig erkannt worden war. Jesus erschien so vor allem als Morallehrer. Beurteilte die gemäßigte Position von diesem Standpunkt aus das Neue Testament als der natürlichen Vernunft entsprechend (Toland), war die Bibel für den radikalen Deismus zwar eine „Wiederveröffentlichung“ der natürlichen Religion, galt aber aufgrund der Fragwürdigkeit der moralischen Integrität der Offenbarungsempfänger sowie deren offensichtlicher Irrtumsanfälligkeit (Naherwartung) als nicht zuverlässig (Tindal). Letztlich war eine besondere Offenbarung wie die biblische darum verzichtbar und reichten die Vernunftwahrheiten der natürlichen Offenbarung aus. Anders als die Libertins der radikalen französischen Aufklärung verstanden sich die englischen Deisten allerdings nach wie vor als Christen.

6.4 Der Versuch eines Ausgleichs: Pietistische Bibelauslegung Während in England die Auseinandersetzung über die Ansichten der Deisten tobte, bildete sich in Deutschland mit dem Pietismus eine weniger an Vernunft und Erkenntnis als vielmehr an Innerlichkeit und Frömmigkeit orientierte theologische Richtung aus.337 Mit der Frage nach der Fähigkeit der Bibel, im Menschen Frömmigkeit zu bewirken, griff der Pietismus in spezifischer Weise den Gedanken der Erfahrung als Prüfstein der Wahrheit auf, der dem modernen Wirklichkeitsverständnis zugrunde liegt. Neben dem Erbauungsgedanken ist außerdem die Trennung zwischen Schale (Text) und Kern (Botschaft) kennzeichnend für die pietistische Bibelauslegung. Grundgelegt finden sich diese beiden Aspekte bereits in den 1675 erschienenen Pia desideria Philipp Jakob Speners (1635–1705). Schon hier wird zwischen äußerlicher, 337 Vgl. zum ganzen Folgenden vor allem Schäfer 1980, 119–124.

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grammatisch-historisch verfahrender Auslegung und innerer, durch den Geist erschlossener Wahrheit des Herzens unterschieden und die Ergänzung der wissenschaftlichen Behandlung der Bibel um persönliche Erbauung, die Anwendung der Bibel auf das eigene Leben, gefordert. Aufgegriffen und weiterentwickelt wurden Speners Anregungen von August Hermann Francke (1663–1727) an der Universität Halle.338 In seinen hermeneutischen Hauptschriften, der Manducatio ad lectionem scripturae sacrae (1692/93) und den Praelectiones hermeneuticae (1717), gliedert Francke die Bibelauslegung in sieben einzelne Schritte (lectiones). Die ersten drei Schritte gelten der Arbeit an der Schale. Sie widmen sich der Entstehung (lectio historica), Sprache (lectio grammatica) und dem Aufbau (lectio analytica) des Textes. In der lectio exegetica erfolgt dann der Übergang von der Schale zum Kern. Sie dient der Erhebung des sensus literalis als dem vom Autor intendierten Mitteilungssinn, wobei insbesondere die historischen Umstände (circumstantiae) der jeweiligen Rede sowie die beteiligten Affekte zu beachten sind. Hieran schließt sich die lectio dogmatica als die eigentlich theologische Interpretation an, ehe die Auslegung mit der Ableitung von Folgesätzen (lectio porismatica) und der Anwendung der exegetischen Ergebnisse auf das praktische Leben (lectio practica) ihren Abschluss findet. Obgleich Francke mit seiner circumstantiae-Lehre bereits im Kern zu einer geschichtlichen Fragestellung vorgedrungen war, blieb das für die Auslegung folgenlos, da in der theologischen Deutung das traditionelle Bibelverständnis und die dogmatischen Lehren der Orthodoxie unbesehen übernommen wurden. Die Bibel galt Francke aufgrund der Inspiration weiterhin als sachliche Einheit und Christus als ihr Kern. Hermeneutisch bedeutsam war dies insofern, als dadurch der in der lectio exegetica ermittelte Schriftsinn mit dem vom Heiligen Geist intendierten Sinn in eins gesetzt werden konnte. Um die hierdurch bewirkte Bedeutungsfülle des sensus literalis ausloten zu können, führte Francke später noch den sensus mysticus oder sensus spiritualis ein, mittels dessen das Alte Testament nun auch wieder allegorisch interpretierbar war. Allerdings band Francke das rechte Verständnis bereits des sensus literalis an die Erfahrung der Wiedergeburt. Nur Wiedergeborene sind demnach in der Lage, zum Kern vorzudringen und sowohl den intendierten als auch den mystischen Sinn der Schrift zu erschließen. Nichtwiedergeborene hingegen haben nur Zugang zur Schale und können daher nur bis zum buchstäblichen Verständnis (sensus litterae) gelangen. Ein sensus literalis, der zwar zum sensus litterae, nicht aber zum sensus mys338 Vgl. ebd., 120f.; Barth 2000, 70–76; Reventlow 2001, 135–146.

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ticus passt, war folglich zu verwerfen; für Francke war er nicht aus der Schrift heraus-, sondern in sie hineingelesen worden. Die hermeneutischen Grundsätze Franckes fasste Johann Jakob Rambach (1693– 1735) in seinem Lehrbuch Institutio hermeneuticae sacrae (1723) in den drei methodischen Schritten des Verstehens der Textaussage (subtilitas intelligendi), des erläuternden Erklärens (subtilitas explicandi) und des aktualisierenden Anwendens auf die Gegenwart (subtilitas applicandi) zusammen und sorgte so für ihre weite Verbreitung. Die für die pietistische Bibelauslegung fortan typische Verbindung aus philologischer Untersuchung und dogmatisch-erbaulicher Deutung findet sich in ihrer wirkmächtigsten Gestalt in Bengels Gnomon Novi Testamenti (1742) durchgeführt. Charakteristisch für diesen Kommentar ist ferner das ihm zugrunde liegende „biblizistische Prinzip“ (Schäfer), welches jedem Wort Gewicht und Bedeutung beimisst und durch dieses genaue Achten auf jede Einzelaussage der Schrift nicht zuletzt auch zum Wiederaufleben endzeitlicher Erwartungen führte.339 Daneben gewann die mystische Deutung immer mehr an Bedeutung, so etwa in der Berleburger Bibel (1726–1742). Die Auslegungen der Herrnhuter Brüdergemeinde waren demgegenüber nüchterner und kritischer, betonten aber ebenfalls den erbaulichen Charakter.

IV. Neuzeit und Gegenwart (19.–21. Jahrhundert) 1. Hermeneutische Prinzipien moderner Bibelauslegung Für die Darstellung der Bibelhermeneutik in Neuzeit und Gegenwart muss zunächst noch einmal hinter das in der Überschrift genannte Startdatum zurückgegangen werden, da der für die neuzeitliche Entwicklung entscheidende Paradigmenwechsel bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stattfand.340 Im Zuge jenes geistigen Klimawandels, durch den in der Aufklärung Vernünftigkeit, Toleranz, Fortschrittsglaube und Skepsis gegenüber allem Geheimnisvollen und Übernatürlichen als oberste Ideale des Denkens aufgerichtet wurden, vollzog sich die Ersetzung der bisherigen kirchlich-dogmatischen Betrachtungsweise durch eine menschlich-historische. Das Axiom dieser neuen Art der Auslegung lautete: „Die Bibel ist ein Buch wie jedes andere, zu deuten wie jedes andere.“341 Entsprechend änderten sich auch die daraus abgeleiteten hermeneutischen Grundsätze: 339 Vgl. Schäfer 1980, 122. Zum eschatologischen Interesse vgl. auch Reuss 1860, 631f. 340 Hierzu und zum Folgenden vgl. Reiser 2007, 19–38, 238–249, 260–275. 341 Ebd., 265 (dort kursiv).

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ticus passt, war folglich zu verwerfen; für Francke war er nicht aus der Schrift heraus-, sondern in sie hineingelesen worden. Die hermeneutischen Grundsätze Franckes fasste Johann Jakob Rambach (1693– 1735) in seinem Lehrbuch Institutio hermeneuticae sacrae (1723) in den drei methodischen Schritten des Verstehens der Textaussage (subtilitas intelligendi), des erläuternden Erklärens (subtilitas explicandi) und des aktualisierenden Anwendens auf die Gegenwart (subtilitas applicandi) zusammen und sorgte so für ihre weite Verbreitung. Die für die pietistische Bibelauslegung fortan typische Verbindung aus philologischer Untersuchung und dogmatisch-erbaulicher Deutung findet sich in ihrer wirkmächtigsten Gestalt in Bengels Gnomon Novi Testamenti (1742) durchgeführt. Charakteristisch für diesen Kommentar ist ferner das ihm zugrunde liegende „biblizistische Prinzip“ (Schäfer), welches jedem Wort Gewicht und Bedeutung beimisst und durch dieses genaue Achten auf jede Einzelaussage der Schrift nicht zuletzt auch zum Wiederaufleben endzeitlicher Erwartungen führte.339 Daneben gewann die mystische Deutung immer mehr an Bedeutung, so etwa in der Berleburger Bibel (1726–1742). Die Auslegungen der Herrnhuter Brüdergemeinde waren demgegenüber nüchterner und kritischer, betonten aber ebenfalls den erbaulichen Charakter.

IV. Neuzeit und Gegenwart (19.–21. Jahrhundert) 1. Hermeneutische Prinzipien moderner Bibelauslegung Für die Darstellung der Bibelhermeneutik in Neuzeit und Gegenwart muss zunächst noch einmal hinter das in der Überschrift genannte Startdatum zurückgegangen werden, da der für die neuzeitliche Entwicklung entscheidende Paradigmenwechsel bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stattfand.340 Im Zuge jenes geistigen Klimawandels, durch den in der Aufklärung Vernünftigkeit, Toleranz, Fortschrittsglaube und Skepsis gegenüber allem Geheimnisvollen und Übernatürlichen als oberste Ideale des Denkens aufgerichtet wurden, vollzog sich die Ersetzung der bisherigen kirchlich-dogmatischen Betrachtungsweise durch eine menschlich-historische. Das Axiom dieser neuen Art der Auslegung lautete: „Die Bibel ist ein Buch wie jedes andere, zu deuten wie jedes andere.“341 Entsprechend änderten sich auch die daraus abgeleiteten hermeneutischen Grundsätze: 339 Vgl. Schäfer 1980, 122. Zum eschatologischen Interesse vgl. auch Reuss 1860, 631f. 340 Hierzu und zum Folgenden vgl. Reiser 2007, 19–38, 238–249, 260–275. 341 Ebd., 265 (dort kursiv).

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„a) Alle Einzelschriften sind für sich zu deuten. Der Zusammenhang von Altem und Neuem Testament ist nur literarisch-historisch begründbar. Auch das Neue Testament enthält nicht die christliche Theologie oder Christologie, sondern eine Pluralität von Theologien und Christologien. b) Bibelstellen aus unterschiedlichen Schriften können nur dann zur gegenseitigen Erklärung dienen, wenn sie historisch, d. h. traditionsgeschichtlich oder sachlich-kulturgeschichtlich zusammenhängen. c) Der Exeget braucht zur angemessenen Exegese lediglich Vernunft und die richtigen Methoden. d) Allegorese ist eine willkürliche Deutung und damit unwissenschaftlich. e) Die Regula (oder Analogia) fidei ist kein Maß für richtige und sachgemäße Exegese.“342

Es handelt sich hierbei um das – zur besseren Kontrastierung zugespitzt formulierte – Paradigma der historisch-kritischen Bibelwissenschaft, das im Zeitraum zwischen etwa 1750 und 1950 der dominierende exegetische Ansatz wurde. Begleitet wurde dieser Paradigmenwechsel von einem sich bereits im Pietismus abzeichnenden Wandel des institutionellen und gesellschaftlichen Rahmens der Auslegung. War die traditionelle, an der regula fidei orientierte Exegese in der Kirche als der Gemeinschaft von in einem gemeinsamen Glaubensbekenntnis Verbundenen beheimatet, so die historischkritische, deren exegetische Richtschnur man als regula rationis bezeichnen kann, in der Universität als der Gemeinschaft derjenigen, die sich allein der wissenschaftlichen Vernunft verpflichtet fühlen.343 Die Entstehung der historisch-kritischen Bibelwissenschaft im 18. wie dann auch ihre Ausgestaltung im 19. und 20. Jahrhundert ging allerdings nicht ohne das retardierende Moment einer starken Gruppe konservativer Exegeten vonstatten, die auf dem Primat der theologischen Auslegung beharrten und die historisch-kritische Untersuchung teils rundheraus als nicht sachgemäß ablehnten, teils allenfalls als Hilfswissenschaft zu dulden gewillt waren.344 Insbesondere während der Zeit der Restauration und der Erweckungsbewegung konnten sie sich des Rückhalts in der Politik wie auch in den Gemeinden sicher sein.345 Hermeneutische Reflexionen zur Bibelauslegung begleiteten die Entwicklung. Die Darstellung betrachtet daher zunächst die Entwicklung der historisch-kritischen Bibelwissenschaft seit der Aufklärung inklusive der damit einhergehenden Kritik (Kap. IV.2), kommt dann auf die verschiedenen hermeneutischen Konzeptionen (Kap. IV.3) sowie den Neuansatz der „dialektischen Theo342 343 344 345

Ebd., 265f. (Hervorhebung ebd.). Vgl. Rüegger 2007, 240f. Vgl. Smend 1991e, 20. Nicht umsonst ist das 19. Jahrhundert auch schon als „Zweites Konfessionelles Zeitalter“ (so der Untertitel von Blaschke 2000) bezeichnet worden.

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logie“ im 20. Jahrhundert (Kap. IV.4) zu sprechen, um nach einem separaten Blick auf die katholische Auslegung (Kap. IV.5) abschließend die Entwicklung der jüngsten Vergangenheit zu skizzieren (Kap. IV.6).

2. Die Ausbildung der historisch-kritischen Bibelwissenschaft 2.1 Grundlegung in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts In der Aufklärung vollzog sich der Übergang von der dogmatischen zur historischen Interpretation.346 Dabei war die Bibelauslegung der Aufklärung zunächst selbst dogmatisch, insofern sie die Wahrheiten einer zeitlos gedachten menschlichen Vernunft zum Maßstab der Auslegung machte. Sie verband das jedoch mit der Frage nach dem ursprünglichen Sinn der biblischen Texte, was den historischen Abstand zwischen Text und Ausleger bewusst machte. Für die Bibel sollten die gleichen hermeneutischen Regeln wie für die übrige antike Literatur gelten: Textkritik zur Erarbeitung einer sicheren Textgrundlage, grammatische Untersuchung zur Erhebung der Wortbedeutungen und historische Untersuchung zur Feststellung des ursprünglich vom Autor intendierten Sinns (= hermeneutische Wahrheit). Das Auffinden der Autorintention stand im Zentrum der Aufklärungsexegese.347 An ihre Bestimmung sollte sich dann aber eine Vernunftkritik zur Überprüfung der Textaussage auf ihren sachlichen Wahrheitsgehalt (= historische Wahrheit) hin anschließen. Deutlich zeigt sich in diesem Programm die Verwurzelung der aufgeklärten Bibelauslegung im Humanismus einerseits und im englischen Deismus andererseits.348 In der deutschen Aufklärung war deistisches Gedankengut seit Mitte des 18. Jahrhunderts rezipiert worden. Seit dieser Zeit setzte sich die deutsche Theologie auch an die Spitze der Entwicklung, eine Position, die sie die folgenden rund zweihundert Jahre behielt.349 Universitäre Zentren bildeten dabei zunächst Halle und Göttingen, die später so progressive Universität Tübingen galt dagegen noch als traditionell.350

2.1.1 Neologie Anders als in England oder Frankreich, wo die Bibel einer teilweise radikalen Ver346 Vgl. Schmithals 1996, 39f. Vgl. auch Reiser 2007, 19–26, 238–241, 260–266; Roth 2010, 265f. 347 Vgl. Bühler 1994a, 3. 348 Einen maßgeblichen Anteil der Reformation bei der Hervorbringung der historisch-kritischen Bibelwissenschaft nimmt die neuere Forschung hingegen nicht an (vgl. Reventlow 1988, bes. 52f., 62f.; ebenso Reiser 2007, 233f. et passim). 349 Vgl. Reventlow 2001, 9. 350 Vgl. Reiser 2007, 239–241.

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nunftkritik unterzogen wurde, versuchte die aufklärerische Theologie in Deutschland, Vernunft und Offenbarung zu verbinden. Dieses spezifische Bemühen, die Vernunft bei der Auslegung zu ihrem Recht kommen zu lassen, zugleich aber den übernatürlichen Offenbarungscharakter der Schrift zu wahren, wird als Neologie bezeichnet.351 Ein wichtiger Strang der Entwicklung führt hier von dem halleschen Pietismus Francke’scher Prägung über den Dogmatiker Siegmund Jacob Baumgarten (1706– 1757) zu dessen Schüler Johann Salomo Semler (1725–1791), der als der herausragende Vertreter der Neologie gilt.352 Baumgarten bündelte nicht nur die ältere hermeneutische Diskussion, er gab zugleich entscheidende Impulse für die weitere Entwicklung.353 So übernahm er die rational-deduktive Methode aus der Philosophie Christian Wolffs (1679–1754), indem er seine Interpretationen, die inhaltlich weiterhin orthodox waren, wo immer möglich mit natürlich-vernünftigen Begründungen unterfütterte, um so ihre Vernunftgemäßheit zu erweisen. Von der pietistischen Auslegungsweise Franckes unterschied sich die Baumgartens weiter darin, dass er für die Erhebung des Literalsinns nicht die Bekehrtheit des Auslegers zur Voraussetzung machte, sondern allein die Fähigkeit zum Vernunftgebrauch. Auch trennte er die Exegese strikt von der auf Erbaulichkeit zielenden praktischen Anwendung und wandte sich gegen eine vorschnelle dogmatische Interpretation nach der analogia fidei. Baumgarten unterschied in der Bibel zwischen der Offenbarung ewiger Wahrheiten und erzählenden Passagen, die zwar inspiriert seien, bei welchen sich die Inspiration aber auf die grundsätzliche Rechtleitung der biblischen Schriftsteller beschränke, so dass sie in Nebendingen auch Fehler enthalten könnten. Er ging allerdings davon aus, dass eine gründliche Untersuchung jeweils ergeben werde, dass kein Fehler vorliege. Letztlich blieb die Überordnung des dogmatischen Einheitsgedankens gegenüber dem historischen Charakter der Schrift somit gewahrt. Im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts verlagerte sich die Suche nach der Wahrheit von Texten zunehmend von den Texten selbst auf den hinter oder unter ihnen liegenden Bereich der Geschichte.354 Mit der Unterscheidung von Text und Ereignis fielen hermeneutische und historische Wahrheit auseinander. Der Literalsinn wurde nun nicht mehr als mit dem Wort Gottes identisch und als durchgängig wahre Offenbarung über menschliches Heil, Natur und Geschichte betrachtet, sondern als Darstellung der antiken Geschichte und der in dieser sich ereignenden Offenbarung Gottes. 351 Vgl. Schilson 1998, 736. 352 Vgl. Merk 1980, 46; Barth 2000, 69f. 353 Vgl. Danneberg 1994a, 92. Zu Baumgartens Hermeneutik vgl. ferner Schloemann 1988; Barth 2000, 77–82. 354 Vgl. Sheppard/Thiselton 2007, 47–49.

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Die Exegese hatte daher diese verschiedenen Dimensionen des Bibeltextes inklusive seiner Quellen und der dort vorherrschenden Begriffe und Vorstellungen aufzuzeigen. Indem ferner Geschichte selbst zur Norm erhoben wurde, richtete sich das Hauptinteresse jetzt auf den „originalen“ Text, die ältesten Quellen und die ursprüngliche Intention des Autors. An den Ergebnissen dieser historischen Untersuchungen sollte sich der tradierte Bibeltext messen lassen müssen. Den entscheidenden Schritt hin zu einem solcherart historischen Verstehen der Bibel tat Johann Salomo Semler.355 Er machte die Bibelinterpretation zu einer historischen Disziplin und erhob sie von einer vorrangig philologisch-kritischen „in den Rang einer am Paradigma der Religionsgeschichte entfalteten historiographischen Hermeneutik“356. Semlers Hermeneutik basiert auf der Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Religion. Zur äußeren Religion zählte er alles, was die historischen Erscheinungsformen der Religion betrifft, seien es ihre heiligen Texte, ihre Zeremonien oder ihre politisch-soziale Ordnung. Die innere Religion bezeichnet demgegenüber die jeweilige Überzeugung des Einzelnen, welche religiösen Wahrheiten als moralisch verpflichtend anzusehen sind. Die Bibel als Buch gehört für Semler zur äußeren Religion. Sie ist ein von Menschen verfasstes geschichtliches Zeugnis der Offenbarung Gottes. Sie enthält zwar Gottes Wort, ist aber nicht mit ihm identisch. Vielmehr enthält auch die Bibel das Wort als den reinen religiösen Gehalt der Religion nur eingekleidet in die zeitgenössischen Vorstellungen der jeweiligen Entstehungszeit der Schriften. Die aufklärerische Akkommodationstheorie, wonach die biblischen Lehrer und Autoren die universellen religiösen Wahrheiten jeweils dem zeitgenössischen Vorstellungsvermögen ihrer Hörer angepasst hätten, konnte Semler von hier aus religionsgeschichtlich fassen, insofern jede Religion, auch die christliche, sich der vorhandenen religiösen Vorstellungen bedienen müsse, um sich artikulieren zu können – auch wenn ihr Ziel die Emanzipation von diesen Vorstellungen ist. Die hermeneutische Aufgabe der Scheidung des überzeitlichen religiösen Gehalts vom Zeitbedingten seiner historischen Einkleidung erfordert für Semler somit einen religionsgeschichtlichen Ansatz. Die wesentlichen religiösen Wahrheiten erblickt Semler in Christi Tod und Auferstehung und in der Lehre der Apostel. Das so bestimmte Wort Gottes erschließt sich ihm zufolge in seiner Wahrheit durch das innere Zeugnis des Heiligen Geistes. Dieses testimonium internum bzw. die aus ihm folgende erbauliche Wirkung ist das 355 Vgl. Kraus 1982, 113. – Zum Folgenden vgl. Hornig 1994; Barth 2000, 83–96; Reventlow 2001, 175– 189. 356 Barth 2000, 87.

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Kriterium, nach welchem jedem Einzelnen ein Urteil über die Relevanz der biblischen Bücher und damit über den Kanon zusteht. Bücher, die dem Leser keinen geistlichen Nutzen in Form von Erbauung oder Erkenntniszugewinn bringen, kann jeder für sich aus dem Kanon ausklammern. Ausgehend von dem Gedanken, dass sich die Religion von der jüdischen und heidnischen über die frühchristliche bis hin zu den späteren Formen des Christentums immer mehr vervollkommnet habe, können es für Semler letztlich nur die genannten neutestamentlichen Wahrheiten sein, die hier als Maßstab infrage kommen, und so scheidet er weite Bereiche der alttestamentlichen Geschichtserzählung als bloß partikulare Geschichte ohne Gehalt an allgemeinen Wahrheiten aus. Grundlage für die Erhebung der ewigen Wahrheiten ist die Feststellung des ursprünglichen Textsinns. Diesen kann nach Semler jeder Vernunftbegabte mit den Mitteln der Philologie, Grammatik und Logik erheben. Zusätzlich zur grammatischrhetorischen fordert er aber auch eine historische Untersuchung des Textes, seiner Entstehungs- und Auslegungsgeschichte. Denn zur Ermittlung der ursprünglichen Aussageabsicht sind alle zugehörigen kulturellen Faktoren zu berücksichtigen: „Die Vorstellungswelt einer Zeit, Sprache und Schrift als deren kulturelles Gedächtnis, das Auftreten normativer Glaubensurkunden, die Existenz besonders legitimierter Auslegungsinstanzen: all diese in den Aussagegehalt eines Textes eingehenden bedeutungskonstituierenden Faktoren sind historisch gewachsene Phänomene, deren jeweiliger Beitrag zum Sinn eines Textes sich nur durch eine streng genetische Rekonstruktion erschließt.“357

Im Rahmen seiner historischen Untersuchung übt Semler auch in begrenztem Umfang Sachkritik, bei welcher er auf Grundlage des neuzeitlichen Wirklichkeitsverständnisses nach der historischen Wahrheit bzw. dem Wirklichkeitsbezug des Berichteten fragt. Während er zentrale Gottesaussagen von der Kritik ausnimmt, werden Aussagen zum Weltbild, zur Chronologie, zu Naturvorgängen oder zur Geschichte auf zeitbedingte falsche Vorstellungen zurückgeführt oder schlicht als Irrtümer bezeichnet. So kritisiert Semler die urchristliche Naherwartung, die sich durch den Gang der Geschichte als irrige menschliche Vorstellung erwiesen habe, ferner auch Aussagen über das Wirken des Teufels und der Dämonen oder vom kopernikanischen Weltbild abweichende Vorstellungen. „Hermeneutisch wahr“ entspricht bei ihm nicht mehr automatisch „sachlich richtig“. Stattdessen wird die Autorität der Bibel auf die in ihr enthaltene Christusbotschaft, das Evangelium und die Heilsordnung beschränkt. 357 Ebd., 86.

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In der Universitätstheologie wurde eine nicht am kirchlichen Dogma orientierte Auslegung durch Männer wie Johann August Ernesti (1707–1781) und Johann David Michaelis (1717–1791) etabliert. Bei beiden stand zunächst der philologisch-grammatische Aspekt im Vordergrund, Michaelis ging später aber noch in eine stärker historisch-kritische Richtung und wurde so zum Begründer der neutestamentlichen Einleitungswissenschaft.358 Semlers Unterscheidung von hermeneutischer und historischer Wahrheit trafen nach ihm auch Johann Gottfried Eichhorn (1752–1827) und Johann Philipp Gabler (1753–1826), sie jedoch, indem sie den Mythosbegriff Christian Gottlob Heynes (1729–1812), wonach der Mythos die typische Ausdrucksform der Menschen im Kindesalter der Menschheit gewesen sei, auf die alttestamentliche Urgeschichte anwendeten und diese als zwar auf historischen Fakten beruhende, aber in mythologische Sprache gekleidete Erzählung auswiesen.359 Schon 1724 hatte Bernard Le Bovier de Fontenelle (1657–1757) in seinem Essai De l’origine des fables die These von der primitiven Mentalität vertreten, nach welcher „die frühen Menschen in einer fantastischen und unwirklichen Welt lebten, einer Mischung aus fehlerhafter Beobachtung und Glauben an übernatürliche Mächte“360. Im Hintergrund stand hier wie dort der Fortschritts- und Perfektibilitätsgedanke der Aufklärung, der von einer kontinuierlichen Fortentwicklung der Menschheit von primitiven Anfängen hin zu ihrem Höhepunkt in der aufgeklärten Gegenwart ausging, eine Vorstellung, die auch den Konzeptionen Semlers, Gotthold Ephraim Lessings (1729–1781) und Johann Gottfried Herders (1744–1803) zugrunde lag.361 Auf Herder geht ferner die ästhetische Betrachtung der Bibel zurück, die an die hebräische Poesie des Alten Testaments nicht wie bisher die Maßstäbe der klassischen Antike anlegte, sondern auf ihre spezifische Eigenart aufmerksam machte.362

2.1.2 Rationalismus Radikaler als die Neologen und allein auf Basis dessen, was sie als vernunftgemäße und aus der Vernunft ableitbare Wahrheiten anerkannten, schieden die Rationalisten in der Bibel zwischen inhaltlichem Kern und textlicher Hülle. Herausragender Vertreter dieser Richtung im 18. Jahrhundert war Hermann Samuel Reimarus (1694– 1768), dessen Gedanken Lessing 1774 und 1777/78 anonymisiert in den Wolfenbütteler 358 Vgl. Kümmel 1970, 82. Zu Ernesti vgl. Schäfer 1980, 124f. Zu Michaelis vgl. Löwenbrück 1988; Smend 1991. 359 Vgl. Reventlow 2001, 209–219. 360 Diebner/Rogerson 1980, 349. 361 Vgl. Reventlow 2001, 166–200. 362 Vgl. ebd., 198f.

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Fragmenten veröffentlichte und dadurch den sogenannten Fragmentenstreit mit der lutherischen Orthodoxie auslöste.363 Anders als die Neologen ging Reimarus nicht davon aus, dass die Offenbarung zusätzliche Erkenntnisse gegenüber der natürlichen, auf Vernunfterkenntnis beruhenden Religion bereithält, weshalb er die Offenbarung letztlich für entbehrlich hielt.364 Umgekehrt sollte sich die Schrift an Vernunft und natürlicher Religion messen lassen müssen. Alles Wunderbare und Übernatürliche bis hin zur Auferstehung erklärte Reimarus’ daher entweder rational-natürlich (im Falle der Auferstehung nahm er den Diebstahl des Leichnams Jesu durch die Jünger an) oder wies es als lügenhaften Bericht zurück (so etwa der Durchzug der Israeliten durchs Rote Meer, der nach Reimarus‘ statistischen Berechnungen in der angegebenen Zeit gar nicht habe bewältigt werden können). In Jesus sah er mal den Verkünder der wahren, natürlichen, moralischen Religion, mal den weltlich-politischen Messias, als der er sich angesehen habe und der seine Morallehre nur zur Vorbereitung seines Hauptziels, der Leitung des Aufstands gegen die Römer, eingesetzt habe. In jedem Fall betrachtete er Jesus als bloßen Menschen. Für die Forschungsgeschichte bedeutsam wurde vor allem seine Unterscheidung zwischen den ursprünglichen Absichten und Worten Jesu und den theologischen Vorstellungen der Jünger und Autoren des Neuen Testaments, in welche eingekleidet sie tradiert wurden. Dieser Gedanke übte großen Einfluss vor allem auf die Leben-Jesu-Forschung des 19. Jahrhunderts aus. Ganz ähnliche Thesen hatten vor Reimarus bereits Spinoza (s. o. Kap. III.6.3) und – eng an diesen angelehnt – Johann Christian Edelmann (1698–1767) vertreten; unter den Nachfolgern ist insbesondere Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (1761–1851) hervorzuheben.365 Ihre Legitimation fand diese Art der Vernunftkritik durch die Philosophie Immanuel Kants (1724–1804). Diesem zufolge ist überall in der Bibel die notwendige Vernunftwahrheit von der zufälligen Geschichtserzählung zu trennen und soll als oberster Auslegungsgrundsatz gelten, nicht danach zu suchen, „was der heilige Verfasser mit seinen Worten für einen Sinn verbunden haben mag, sondern was die Vernunft (a priori) in moralischer Rücksicht bei Veranlassung einer Spruchstelle als Text der Bibel für eine Lehre unterlegen kann“.366

363 364 365 366

Vgl. Schäfer 1980, 128f. Vgl. Reventlow 2001, 157–166, hier: 159. Zu Edelmann vgl. ebd., 146–156. Zu Paulus vgl. ebd., 202–209. Vgl. Bayer 1988 (das Kant-Zitat ebd., 35).

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2.2 Konsequent geschichtliche Bibelexegese: Literarkritik und Religionsgeschichte im 19. Jahrhundert Die historische Betrachtungsweise setzte sich im 19. Jahrhundert auf breiter Front durch. Immer mehr Forscher sorgten immer systematischer für eine „konsequent geschichtliche Betrachtung“367 der Bibel.368 Die Ausleger folgten dabei einem rein menschlich-immanenten Ansatz, der göttliches Handeln in der Geschichte methodisch ausschließt und zur Erklärung der Bibel nur zulässt, was der menschlichen Erfahrung nicht zuwiderläuft. 1898 fasste Ernst Troeltsch (1865–1923) diesen Ansatz prägnant in den Prinzipien Kritik, Analogie und Korrelation zusammen.369 Die historische Methode besteht demnach in der Prüfung des Grades der Wahrscheinlichkeit des Berichteten (Kritik), für die der allgemein-menschliche Erfahrungshorizont den Maßstab bildet und die sowohl von der grundsätzlichen Gleichartig- und damit auch Vergleichbarkeit (Analogie) aller Geschichtsvorgänge ausgeht als auch von ihrem Zusammenhang und ihrer wechselseitigen Beeinflussung (Korrelation), so dass alle Vorgänge in der Welt auch nur aus innerweltlichen Faktoren zu erklären sind. Für eine theologische Deutung ist innerhalb eines solchen Ansatzes kein Raum mehr, sie kann allenfalls ergänzend hinzukommen. In methodischer Hinsicht herrschte im 19. Jahrhundert lange Zeit die textzentriert arbeitende Literarkritik („höhere Kritik“) vor, ehe seit den 1860er-Jahren im Rahmen der aufkommenden religionsgeschichtlichen Betrachtung verstärkt auch außertextliche Daten wie archäologische Befunde in den Blick genommen wurden. Im Hintergrund stand jeweils ein zunehmend symbolisches Sprachverständnis, nach dem Sprache nicht mehr in erster Linie Repräsentation der Wirklichkeit ist, sondern Symbol oder Zeichen, das auf eine Wirklichkeit außerhalb des Textes verweist, die auch mit nichttextlichen (z. B. archäologischen) Mitteln erforscht werden kann, was häufig auch für objektiver gehalten wurde.370 Daneben sorgte der Historismus für eine Isolierung der historischen Wirklichkeit in ihrer jeweiligen Zeit, so dass die Ansicht Einzug in die Bibelwissenschaft hielt, biblische Aussagen hätten ihren Sinn vor allem in den ursprünglichen Ansichten und Ereignissen, von denen sie berichten. Deshalb bestehe die Aufgabe der Exegese darin, zum einen den historischen Wirklichkeitsgehalt zu 367 So der Titel des entsprechenden Kapitels bei Kümmel 1970. 368 Vgl. Smend 1991e, 19 et passim. – Zum Folgenden vgl. ferner v. a. Theobald 1996, 489f.; Sheppard/ Thiselton 2007, 55–66. 369 Vgl. Troeltsch 1922. 370 Vgl. Sheppard/Thiselton 2007, 55.

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eruieren, zum anderen alle sekundären (mythischen oder vom Herausgeber hinzugefügten) Züge der Texte aufzuzeigen.371 Das Alte und das Neue Testament behandelten die Ausleger im 19. Jahrhundert vermehrt getrennt. Dies war zum einen der Tribut, den die ständig wachsende Materialfülle forderte, zum anderen wurden aber auch die historischen Unterschiede zwischen beiden immer deutlicher erkannt, je weniger eine die Bibel zu einer Einheit zusammenzwingende Inspirationslehre für Harmonisierung sorgte. Damit wurde es freilich zunehmend schwieriger, von dem einen Sinn der Schrift zu sprechen. Auch wurde das Alte Testament auf Grundlage der Annahme einer fortschreitenden Offenbarung immer wieder als wertlos für die christliche Theologie betrachtet.

2.2.1 Textkritik Die Lösung von der orthodoxen Inspirationslehre machte die Textkritik frei, die Methoden der Klassischen Philologie ohne dogmatische Rücksichtnahmen auf die Bibel anzuwenden. Dass dies nicht zwangsläufig zur Erosion der Textbasis führen muss, zeigt die Entwicklung im Bereich des Alten Testaments.372 Gegenüber der alten Unsicherheit in Bezug auf den hebräischen Text brachte hier die Wende zum 19. Jahrhundert nämlich ein größeres Zutrauen. Der Brite Benjamin Kennicott (1718–1783) hatte in einem umfassenden Vergleich der ihm verfügbaren Handschriften aufgezeigt, dass sie alle relativ jung (nach 1100 n. Chr.) waren und der Text in der jüdischen Tradition mit großer Treue weitergegeben worden ist. Weil, wie auch die anschließenden Arbeiten Giovanni Bernardo de Rossis (1742–1831) erwiesen, somit keine Vielzahl verschiedener Lesarten bereitgestellt werden konnte, ließ man die Hoffnung auf die Wiederherstellung des ursprünglichen hebräischen Textes mehr und mehr fahren. August Hahn (1792–1863) gab auf Grundlage dieser Arbeiten 1833 lediglich eine revidierte Ausgabe der alten, gebräuchlichen Textausgabe der hebräischen Bibel von Everardus van der Hooght (1642–1716) heraus. Wilhelm Gesenius (1786–1842) und Hermann Hupfeld (1796–1866) schließlich wiesen endgültig und überzeugend die Spätdatierung der Punktation nach. Dass eine Autorität wie Gesenius ferner die Treue der Textüberlieferung bestätigte, hatte große stabilisierende Wirkung für die folgenden Forschungen. Für das Neue Testament stellte der Philologe Karl Lachmann (1793–1851) die Textkritik auf eine neue Grundlage, indem er seiner griechisch-lateinischen Ausgabe (1831 ohne, 1842–1850 mit umfangreichem Apparat) nicht mehr wie noch Griesbach den 371 Vgl. ebd., 60. 372 Zum Folgenden vgl. Kraus 1982, 160f.

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textus receptus, sondern ausschließlich die ältesten Handschriften zugrunde legte.373 Auf diese Weise wollte er den Text des 4. Jahrhunderts, den er für den ältesten erreichbaren hielt, wiedergewinnen. War der textus receptus damit faktisch aufgegeben, so blieb das methodische Problem, dass Lachmann bei seiner Textrekonstruktion rein mechanisch vorgegangen war und keine innere Textkritik, d. h. die Anwendung auch inhaltlicher Kriterien, betrieben hatte. In methodisch abgesicherter Form erarbeiteten erst die beiden Cambridger Wissenschaftler Brooke Foss Westcott (1825–1901) und Fenton John Anthony Hort (1828–1892) eine neue Textausgabe, die 1882 erschien. Ihr lag das von Constantin von Tischendorf (1815–1874) bereitgestellte Handschriftenmaterial zugrunde, durch das sogar der Text des 2. Jahrhunderts erreichbar geworden war. Die Edition von Westcott und Hort beruht auf zwei seither nicht mehr aufgegebenen Grundsätzen: 1. der Einteilung der Handschriften in Textfamilien zur Beurteilung ihres Werts (wobei sie die „syrische“ Rezension des textus receptus als sekundär betrachten und dieser den „neutralen“ Text der Vatikanischen und Sinaitischen Handschrift vorziehen); 2. der Bindung von Werturteilen über Textfamilien an die Beachtung innerer Gründe für die Ursprünglichkeit ihrer Lesarten.

2.2.2 Literarkritik Seine größten Leistungen vollbrachte das 19. Jahrhundert jedoch nicht auf dem Gebiet der Text-, sondern auf dem der Literarkritik. Als solche bezeichnet man die Überprüfung zuvor definierter Texteinheiten auf ihre thematisch-logische, syntaktisch-stilistische und semantische Kohärenz hin, um auf dieser Grundlage Hypothesen zu ihrer Entstehung zu formulieren (einfache, erweiterte und/oder ergänzte Texteinheiten). 374 Die Ermöglichung von Rückschlüssen auf Quellen, Redaktionszusätze und historische Zuverlässigkeit der Texte ist die zentrale Aufgabe der Literarkritik. Sie will ganz im Sinne des Historismus hinter die Berichte auf die tatsächlichen Ereignisse zurückgehen und die Entstehung der Texte rekonstruieren. Im theologischen Rahmen geht es ihr also, wie Abraham Kuenen (1828–1891), einer ihrer herausragenden Vertreter, sagt, um das Aufzeigen der „wahren Geschichte“ hinter der Geschichtskonstruktion der Bibel.375 Grob unterteilt, durchlief die Literarkritik drei Phasen.376 Die erste Phase ist gekennzeichnet von „negativer Kritik“, die aufzeigen will, was an den biblischen Berichten nicht historisch ist. Betrieben wurde sie als Mythenkritik, d. h. als Beurtei373 374 375 376

Zum Ganzen vgl. Kümmel 1970, 179f., 231f. Vgl. Dohmen 1998, 59f. Vgl. Kraus 1982, 250. Vgl. Smend 1991e, 20–24; Smend 1991a, 145–154.

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lung der biblischen Berichte auf Grundlage des modernen, naturwissenschaftlichen Weltbildes. Für das Neue Testament wurde eine solche Kritik von David Friedrich Strauß (1808–1874) in seinem epochalen Werk Das Leben Jesu (2 Bde., 1835) durchgeführt.377 Darin betrachtete er die Evangelienberichte als „geschichtartige Einkleidungen urchristlicher Ideen, gebildet in absichtslos dichtender Sage“378. Sie sind demnach keine Tatsachenberichte, sondern im Lauf des mündlichen Überlieferungsprozesses (Sage) aus vor allem alttestamentlichen Stoffen gebildete Erzählungen, durch die gezeigt werden sollte, „dass Jesus die Propheten und Moses übertrifft und die Messiasverheißungen erfüllt“379. Unter diesen Voraussetzungen gelangte Strauß zu dem Ergebnis, dass weder die Kindheitsgeschichten noch die Berichte über Taufe und Versuchung, Verklärung, Auferstehung und Himmelfahrt Jesu historisch seien, ebenso wenig die meisten Wunderberichte. Vom historischen Jesus blieb so nicht viel mehr als ein aus Nazareth stammender Wanderprediger übrig, der Jünger um sich scharte, allmählich ein messianisches Bewusstsein entwickelte und schließlich am Kreuz starb.380 Im Alten Testament konzentrierte sich die Mythenkritik von Wilhelm Martin Leberecht de Wette (1780–1849) auf den Pentateuch, den er größtenteils für religiöse Dichtung hielt.381 Um seinen unhistorischen Charakter zu erweisen, sollte das von ihm gezeichnete Geschichtsbild als nachträglich konstruiert demonstriert werden. Als Zeichen einer späten Abfassung galt ihm dabei in formaler Hinsicht eine theologisch reflektierte, lehrhafte Erzählweise, in inhaltlicher Hinsicht vor allem die Tendenz zur Zentralisierung und Reglementierung des Kultus. Weil er beim Vergleich mit den übrigen Schriften des Pentateuchs nun ebensolche Anzeichen am Deuteronomium bemerkte, sah er es als später als die anderen an und verlegte die Zeit seiner Abfassung in das siebte vorchristliche Jahrhundert. Mit dieser Spätdatierung des Deuteronomiums setzte de Wette als Erster dem biblischen Geschichtsbild ein radikal anderes entgegen: 377 378 379 380

Zu Strauß vgl. Kümmel 1970, 147–156; Reventlow 2001, 240–256; Zager 2004, 3–21. Strauß 1835, 75. Zager 2004, 13. Strauß übte allerdings nicht nur Kritik, sondern versuchte im letzten Teil seines Werkes im Anschluss an Hegel und Schelling auch eine positive Wiederherstellung des christlichen Glaubens zu geben. So seien die christlichen Mythen als historische Tatsachen zwar erledigt, die Wahrheit der in ihnen ausgedrückten Idee der Einheit von göttlicher und menschlicher Natur sei jedoch festzuhalten. Die Menschwerdung Gottes sei in Jesus nur erstmalig verkörpert, aber noch nicht vollumfänglich realisiert worden. Vielmehr ereigne sie sich in der ganzen Menschheit. In der Menschengeschichte bemächtige sich der Geist immer mehr der Natur und werde sich die Menschheit ihrer Einheit mit Gott immer mehr bewusst (vgl. Reventlow 2001, 254f.; Zager 2004, 15f.). 381 Zu de Wette vgl. insbes. Smend 1958; Rogerson 1984, 28–49; Smend 1989, 38–52; Smend 1991a, 145– 149; Rogerson 1992; ferner: Kraus 1982, 174–189; Reventlow 2001, 227–240.

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„Nicht mehr Mose ist in seinen Augen der Schöpfer einer umgreifenden Religionsund Kultordnung, die von da ab für ganz Israel gültig war, sondern das vom Alten Testament vermittelte Bild ist das Ergebnis einer sich bis in die Spätzeit hinziehenden Entwicklung.“382

Auf die negative Kritik folgte eine Phase „positiver Kritik“, in der die Ergebnisse der ersten Phase zu einem neuen Geschichtsbild zusammenfügt wurden. Als Konstruktionsprinzip wurde die Geschichtsphilosophie Hegels verwendet, nach der sich die Weltgeschichte als Prozess der Selbstbewusstwerdung des absoluten Geistes in der Entwicklung des endlichen menschlichen Geistes nach dem dialektischen Schema von These – Antithese – Synthese vollzieht. Analog dazu stellte sich für Wilhelm Vatke (1806–1882) in seinem Werk Die biblische Theologie wissenschaftlich dargestellt (1835) auch die Entwicklung der Religion als dreistufiger Prozess dar, der von der Naturreligion über das Judentum (Altes Testament) zum Christentum (Neues Testament) als der absoluten Religion führt.383 Das Alte Testament ist demnach von der allmählichen Durchsetzung des „ideellen Prinzips“ des Monotheismus gegen die Naturreligion geprägt. Ungeachtet aber der Brüche, Widersprüche und Gewaltsamkeiten, die Vatkes Ansatz bei der Einordnung der historischen Erkenntnisse in das vorgegebene philosophische Schema notwendig machte, gelangte er schließlich zu der bis heute vertretenen und prägnant als lex post prophetas bezeichneten These, dass die Gesetze, Institutionen und kultischen Vorschriften der mittleren Bücher des Pentateuchs nicht auf Mose zurückgehen, sondern in späterer Zeit entstanden sein müssen und erst nach dem Exil schriftlich fixiert worden sind, da sie das Wirken der Propheten voraussetzen und das Resultat ihrer Bemühungen um die Religion Israels in die frühere Geschichte zurückprojizieren. Die überaus wirkmächtige „positive Kritik“ des Neuen Testaments stammt von Ferdinand Christian Baur (1792–1860), dem Begründer der jüngeren Tübinger Schule.384 Seit 1831 untersuchte er in mehreren Arbeiten die neutestamentlichen Schriften konsequent historisch-kritisch und verortete sie im Kontext der Geschichte des Urchristentums. Sein Ausgangspunkt war dabei die These von dem die ganze urchristliche Entwicklung der ersten zwei Jahrhunderte prägenden Gegensatz einer juden- und einer heidenchristlichen Partei, repräsentiert in Petrus bzw. Paulus. Während die judenchristliche Partei für Versöhnung mit den Juden und Beachtung des Gesetzes eingetreten sei (These), habe die heidenchristliche für Bekehrung der Heiden und Recht382 Ebd., 229. 383 Zu Vatke vgl. Perlitt 1965, 86–152; Brömse 1973; Kraus 1982, 194–199; Reventlow 2001, 256–269. 384 Zu Baur vgl. Kümmel 1970, 156–176; Köpf 1994; Reventlow 2001, 269–278; Hafemann 2007.

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fertigung durch den Glauben gestanden (Antithese). Dieser Gegensatz habe schon die Urgemeinde geprägt. In nachapostolischer Zeit habe sich dann eine vermittelnde Richtung herausgebildet, ehe um 200 die Lösung des Konflikts durch die ekklesiologische Position der katholischen Kirche in Abwehr der Gnostik erfolgt sei (Synthese). In diesen angenommenen dialektischen Geschichtsverlauf ließen sich die neutestamentlichen Schriften einordnen, indem ihre jeweilige Tendenz bestimmt und sie dann den einzelnen Phasen zugeordnet wurden.385 Darüber hinaus konnte Baur so auch den Verlauf der neutestamentlichen Dogmengeschichte nachzeichnen. Dabei unterschied er grundsätzlich zwischen der ethischen Religion, welche Jesus verkündet habe – paradigmatisch zusammengefasst in der Bergpredigt –, und der nachfolgenden christologischen Theologie der Apostel. Aber auch innerhalb dieser Christologie machte er eine Entwicklung aus. So zeichneten die Synoptiker noch das Bild eines rein menschlichen Messias, Paulus steigere und idealisiere demgegenüber das Menschliche schon ins mehr als Menschliche, bis bei Johannes dann schließlich ganz die Göttlichkeit Jesu im Vordergrund stehe. Für einen gewissen Abschluss sorgte in der dritten Phase eine „positive Kritik“, die unter Einbeziehung auch der Quellenkritik das Geschichtsbild von seinem hegelschen Gerüst weitgehend befreite und dadurch eine neue Synthese schuf. Für das Alte Testament leistete dies Julius Wellhausen (1844–1918).386 Mittels Tendenzkritik analysierte er, welche Formung der Überlieferungsstoff zu verschiedenen Zeiten aufgrund divergierender Vorstellungen erhalten hatte, um dann aus den Unterschieden die Entwicklung zu rekonstruieren.387 Dabei war er stark dem aus der Romantik gespeisten Historismus seiner Zeit verpflichtet, mit dem er neben einem allgemeinen Entwicklungsdenken auch die Wertschätzung von Natürlichkeit, Freiheit, Individuellem, Konkretem, Profanem, Nationalem und Staat teilte. Demgegenüber war alles Abgeleitete, Institutionelle, Gesetzliche, Allgemeine, Abstrakte, Supranaturalistische, Heilige und 385 So galten ihm nur noch Römer-, Galater- sowie erster und zweiter Korintherbrief als echt paulinisch, da sie den Parteiengegensatz klar erkennen ließen. Die übrigen Paulusbriefe hielt er für später. Eine deutlich petrinische Tendenz erblickte er in der Offenbarung des Johannes, vermittelnde Tendenzen von petrinischer Seite im Jakobusbrief, von paulinischer Seite im Hebräerbrief, den kleineren Paulusbriefen, den Pastoralbriefen und im ersten Petrusbrief. Die Apostelgeschichte bestimmte er als apologetisches Werk der paulinischen Partei aus der Mitte des 2. Jahrhunderts, während er das Johannesevangelium aufgrund des in ihm vertretenen Ideals einer gleichermaßen aus Juden wie aus Heiden bestehenden Gemeinde bereits am Übergang zur katholischen Kirche verortete. Auch die Synoptiker kategorisierte Baur nach diesem Schema. Matthäus hielt er wegen seiner judaisierenden Tendenz für das älteste Evangelium, gefolgt vom paulinischen Lukas- und schließlich vom neutralen, vermittelnden Markusevangelium (vgl. Kümmel 1970, 162–173; Reventlow 2001, 272–277). 386 Zu Wellhausen vgl. Perlitt 1965, 153–243; Perlitt 1966; Kraus 1982, 255–274; Smend 1989, 99–113; Smend 1991d; Reventlow 2001, 302–316. 387 Zu Wellhausens Methode vgl. insbes. Perlitt 1965.

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Internationale negativ konnotiert, und weil dies für Wellhausen gleichbedeutend mit zeitlich später war, betrachtete er beispielsweise supranaturalistische Elemente in den Texten als spätere Übermalungen ursprünglich profaner Geschichte. Das aber führte dazu, dass sich Wellhausen aufs Ganze gesehen im Alten Testament eine Entwicklung der Religion zum Negativen darbot. Im Zentrum von Wellhausens Bild der Geschichte der alttestamentlichen Religion steht der Gegensatz zwischen altem Israel und nachexilischem Judentum. Während das alte Israel als ein Volk mit zunehmend nationalem Charakter dargestellt wird, das den Kultus frei, natürlich und ungezwungen handhabt und kein schriftliches Gesetz, sondern nur die mündliche Weisung durch Priester und Propheten kennt, ist das Judentum, das aus dem Exil heimkehrt, keine staatliche Gemeinschaft mehr, sondern eine religiöse, die den Kultus zentralisiert, reglementiert und verschriftlicht und die Theokratie nicht mehr als Idee, sondern als Anstalt in Form einer Hierokratie mit einem Hohenpriester an der Spitze versteht. Dieser Befund ergibt sich für ihn aus der Analyse des Kultus, der für die frühe Zeit eine Vielzahl von Kultstätten, einen als bekannt vorausgesetzten, ins Leben eingebundenen Opferritus, ebensolche Feste und das Fehlen eines Berufspriestertums aufweise, während nach dem Exil Jerusalem den zentralen Kultort bilde, der Opferritus genau geregelt, die Feste ihres natürlichen Bezugsrahmens entkleidet und eine Priesterkaste aufgerichtet seien. Dies bestätigt ihm auch der quellenkritische Befund der nach Karl Heinrich Graf (1815–1869) benannten Graf ’schen Hypothese, wonach das Jehowistische Geschichtswerk (JE) – die von einem Redaktor vereinigten und nicht mehr überall ganz zu trennenden Schriften Jahwist (J) und Elohist (E) – die älteste, das Deuteronomium (Dt) die mittlere und die Priesterschrift (P) die jüngste Quelle des Pentateuchs darstellt. So kenne JE noch viele Kultstätten, während Dt eine Zentralisierung fordere, die dann in P vollzogen sei. Auf neutestamentlichem Gebiet nahmen insbesondere Albrecht Ritschl (1822–1889) und Carl Weizsäcker (1822–1899) Berichtigungen an Baurs Geschichtsbild vor.388 Ritschl bestritt den von Baur aus philosophischen Gründen postulierten radikalen Gegensatz zwischen Paulus und den Uraposteln, indem er das ihnen gemeinsame Glaubensgut aufzeigte. Dafür stellte er neben beiden ein extremes Judenchristentum auf der einen und ein mit Paulus theologisch nicht voll übereinstimmendes Heidenchristentum auf der anderen Seite fest. Aus Letzterem allein, nicht unter Aufnahme auch des Judenchristentums, sei dann später die katholische Kirche hervorgegangen. Weizsäcker folgte Ritschl in der Beurteilung des Verhältnisses von Paulus, gemäßigter Urgemeinde und extremen Judenchristen, schloss sich im Übrigen aber recht eng an 388 Vgl. hierzu und zum Folgenden Kümmel 1970, 201–215.

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Baur an. Den Gegensatz zwischen den extremen Judenchristen und Paulus betrachtete er jedoch anders als dieser als Folge erst der Anerkennung von Paulus’ Heidenmission durch die Urapostel bei dessen zweitem Besuch in Jerusalem, zuvor habe er nicht bestanden. Zur bleibenden Spaltung habe dann die Auseinandersetzung zwischen Petrus und Paulus in Antiochien geführt. Neu war bei Weizsäcker, dass er auch die synoptische Tradition als zusätzliche Quelle für die Geschichte der Urgemeinde verwendete und die Geschichte des Gottesdienstes und des kirchlichen Lebens mit einbezog. In den Blick gerückt worden war die den Evangelien vorausliegende mündliche Tradition durch die Klärung der Quellenfrage, die 1863 Heinrich Julius Holtzmann (1832–1910) herbeigeführt hatte.389 Auf Basis des Vergleichs der sprachlichen Eigenart der Quellen und des Zusammenhangs der Berichte hatte er eine überzeugende Begründung der Zweiquellentheorie geliefert, wonach Lukas und Matthäus neben ihrem jeweiligen Sondergut auf zwei gemeinsame Quellen, das Markusevangelium sowie die (verlorene) Spruchquelle Q, zurückgegriffen haben. Vor und neben Markus nahm Holtzmann nur mündliche Überlieferung an. Das Jesusbild freilich, das er auf dieser Grundlage zeichnete, war das psychologisierend-idealistische der liberalen Theologie, das bis Ende des 19. Jahrhunderts vorherrschte. Nach diesem ist sich Jesus seiner Messianität erst allmählich seit der Taufe bewusst geworden und hat er sich bis zum Messiasbekenntnis von Caesarea Philippi auch den Jüngern gegenüber nur schrittweise offenbart; zudem pflegte er keine endzeitliche Naherwartung und wollte auch kein sichtbares, sondern ein geistiges Gottesreich gründen.

2.2.3 Religionsgeschichte Die Literarkritik wurde um 1880/90 von der sogenannten Religionsgeschichtlichen Schule als vorherrschende theologische Richtung abgelöst. Sie hatte ihr Zentrum in Göttingen, wo sich viele ihrer Hauptvertreter habilitierten. Hervorzuheben sind vor allem Hermann Gunkel (1862–1932) und Wilhelm Bousset (1865–1920), daneben Hugo Greßmann (1877–1927), Johannes Weiß (1863–1914) und William Wrede (1859–1906). Als geistiger Vater der Bewegung übte zudem der in Halle lehrende Albert Eichhorn (1856–1926) großen Einfluss aus. Die Religionsgeschichtliche Schule stellte zwar keine völlig einheitliche Bewegung dar – die Unterschiede reichen bis in die Methodik hinein –390, doch teilten ihre Vertreter gewisse Grundansichten, die sich als vier exegetische Prinzipien fassen lassen.391

389 Vgl. hierzu und zum Folgenden ebd., S. 177–191. 390 Vgl. Merk 1980a, 387. 391 Vgl. Lüdemann 1996, 9–13.

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Erstes Prinzip ist die radikal-historische Betrachtungsweise: Die Religion ist rein historisch zu untersuchen. Das bedeutete zum einen die Einbeziehung auch außerbiblischer Quellen,392 zum anderen wurde die Entwicklung der israelitisch-jüdischen bzw. christlichen Religion nun nicht mehr losgelöst von der religiösen Entwicklung ihrer jeweiligen Umwelt betrachtet, sondern in diese eingebettet. Das in der Bibel Berichtete wurde vergleichend neben die historischen und archäologischen Befunde gehalten und auf seinen historischen Wahrheitsgehalt sowie auf die mögliche Übernahme fremder Erzählstoffe und Vorstellungen hin geprüft. Damit ist auch schon das zweite Prinzip genannt: der Religionsvergleich. Durch den Vergleich mit verwandten religiösen Phänomenen im Umfeld des alten Israels bzw. des Urchristentums sollte das jeweils Besondere aufgezeigt werden. Es ging hierbei also nicht um die Relativierung, sondern um die genauere Bestimmung des Charakteristischen der biblisch-christlichen Religion.393 Das dritte Prinzip ist die Beachtung der soziologischen Komponente aller Literatur. Jeder Text wurde auf seinen „Sitz im Leben“ (Gunkel) hin untersucht, auf den soziokulturellen Zusammenhang, dem er entstammt.394 Die historische Fragestellung erfuhr dadurch eine literaturgeschichtliche Umorientierung. Gefragt wurde jetzt weniger nach der „wahren Geschichte“ (Kuenen) hinter dem biblischen Text als vielmehr nach der Geschichte seiner Entstehung. An die Stelle der Literarkritik traten daher Form-, Gattungs-, Stoff- und Überlieferungsgeschichte als die hauptsächlichen exegetischen Methoden. Paradigmatisch entwickelt wurden sie für das Alte Testament von Hermann Gunkel in seinen Kommentaren bzw. Einleitungen zur Genesis (1901), den Psalmen (1925/26; 1933) und den großen Propheten (1915).395 Auf Basis der Grundunterscheidung von Poesie und Prosa definierte er dort jeweils spezifische literarische Untergattungen, mittels derer er die verschiedenen Texteinheiten nach dem formal und inhaltlich für sie Typischen klassifizieren und bestimmten historischen Situationen (Gottesdienst, prophetische Verkündigung etc.) zuordnen konnte. Anhand sowohl gattungsgeschichtlicher als auch – darin das romantische Erbe Herders aufgreifend – formal-ästhetischer Kriterien ordnete er seine Befunde dann zu einer Darstellung der Literaturgeschichte. Dabei galten ihm Reinheit der Gattung, Kürze, Frische und Prägnanz des Ausdrucks und alles Poetische als Zeichen früherer, Mischung der Gattungen, Weitschweifigkeit, Starrheit und Künstlichkeit und alles Prosaische hingegen als Zeichen späterer Entstehungszeit. Wie schon Wellhausen verband er seine diesbe392 393 394 395

Vgl. die programmatischen Äußerungen wichtiger Vertreter bei Kümmel 1970, 387–393. Vgl. Smend 1991e, 25. Vgl. Kraus 1982, 345. Vgl. Smend 1991e, 25f. – Zum Folgenden vgl. Kraus 1982, 333–337, 341–362.

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züglichen Einschätzungen auch mit frömmigkeitsgeschichtlichen Werturteilen. Allerdings bezog er nicht nur die schriftliche, sondern in Form von Stoff- und Überlieferungsgeschichte auch die ihr vorausliegende mündliche Tradition mit ein. Neben dem religionsgeschichtlichen Aufweis der Herkunft der biblischen Stoffe (z. B. der Schöpfungsgeschichte aus einem babylonischen Schöpfungsmythos) lag hierbei das Hauptaugenmerk auf der Darstellung der geschichtlichen Aneignungs- und Umformungsprozesse. Für das Neue Testament wies Albert Eichhorn in diesem Zusammenhang auf die konstitutive Bedeutung des Glaubens und Kultus der urchristlichen Gemeinde hin.396 Als viertes Prinzip schließlich ist das psychologische Religionsverständnis zu nennen, die „Abwendung von aller Theorie zum Primat der Erfahrung“ 397. Die religionsgeschichtliche Untersuchung begreift Religion als historisch-psychologische Erfahrung, der es nachzuspüren gilt. Nach Gunkel ist es ihr Ziel, „den Männern der Religion ins Herz zu schauen, ihre Gedanken im innersten mitzuempfinden und zureichend zu beschreiben“398. Eine solcherart kongeniale Einfühlung in die biblischen Schriftsteller hatte allerdings auch die Erhebung der „religiös mitschwingende[n] Subjektivität zur norma normans der Exegese“399 zur Folge. Wie die an diesen Prinzipien ausgerichtete Hermeneutik der Religionsgeschichtlichen Schule konkret aussah, lässt sich am Beispiel Gunkels gut veranschaulichen.400 Die kongeniale Wiedergabe des Innenlebens des Autors sollte demnach erreicht werden, indem der Exeget auf Grundlage umfassenden philologischen und historischen Wissens den Inhalt des Werkes künstlerisch nachschafft, wobei er seine imaginative Kraft durch kontinuierliche Reflexion auf sein Tun zu bändigen hat. Methodisch folgt auf philologische Untersuchung und Textkritik zunächst die traditionelle Literarkritik zur Klärung der Entstehungsverhältnisse des Textes, wobei auch politische Geschichte und Archäologie zu beachten sind. Die Ergebnisse aus diesen Untersuchungen bilden dann die Basis für die ästhetische, formkritische und literaturgeschichtliche Darstellung als der eigentlichen exegetischen Leistung. Wenn Gunkel bei alledem schließlich ein „theologisches Selbstbewusstsein“ des Auslegers einfordert, meint er dies nicht im Sinne eines kirchlich-orthodoxen Vorverständnisses, sondern dahin gehend, dass die Exegese auf die Frömmigkeit als den Kern der alttestamentlichen Religion zielt und sich stets auf die Religionsgeschichte bezogen weiß. Die religionsgeschichtliche Betrachtung ließ vielfältige Einflüsse sichtbar werden. 396 397 398 399 400

Vgl. Kümmel 1970, 319–322. Lüdemann 1996, 11. Gunkel 1913, VI. Kraus 1982, 358. Vgl. ebd., 362–367.

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Auf dem Gebiet des Neuen Testaments erwies sich das Urchristentum als nicht nur vom zeitgenössischen Judentum geprägt, sondern bis in die Gemeinschaftsformen und das Brauchtum hinein auch von heidnischen Mysterienkulten und Vorstellungen aus der hellenistischen Mystik und Gnosis beeinflusst.401 Das Judentum fand man durch Messianismus, Apokalyptik und Synkretismus bestimmt, wobei neben babylonischem auch persisch-zarathustrischer Einfluss ausgemacht wurde. Zwar betrachtete man auch Jesus vor dem Hintergrund des so charakterisierten Judentums, doch nahm man ihn und seine ethische Verkündigung von den zugehörigen Synkretismus- und religionsgeschichtlichen Abhängigkeitsurteilen unter Hinweis auf seine außerordentliche Erscheinung stets aus.402 Indem auf der anderen Seite insbesondere für Paulus und seine christologische Theologie Einflüsse aus der hellenistischen Mystik und Gnosis geltend gemacht wurden, traten vor allem die Unterschiede zwischen Jesus und ihm hervor und wurden bisweilen so stark empfunden, dass Paulus als „der zweite Stifter des Christentums“ erschien, der „das Christentum zur Erlösungsreligion gemacht hat“ (Wrede).403 Die historische Kritik ließ nun also nach der Einheit von Altem und Neuem Testament auch die des Neuen Testaments zum Problem werden. Unabhängig davon, wie groß der Einfluss des Hellenismus auf Paulus angesetzt wurde, galt die hellenistische Prägung des Johannesevangeliums als evident. Gunkel zog die Summe aus alledem und kennzeichnete das Christentum als „synkretistische Religion“404. Während man Jesus noch vom Alten Testament aus verstehen könne, seien bei Paulus und Johannes, vermittelt durch das ebenfalls stark synkretistische Judentum, diverse alte orientalische Vorstellungen eingeflossen. Die hinsichtlich der Verkündigung Jesu folgenreichste, da dem liberalen Jesusbild widersprechende Erkenntnis war die Wiederentdeckung der Eschatologie zuerst durch Johannes Weiß in seiner Schrift Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes (1892), später dann in ähnlicher Form durch Albert Schweitzer (1875–1965) in seiner Geschichte der Leben-Jesu-Forschung (1906). Nach Weiß verkündete Jesus das Reich Gottes als zwar nahe, aber noch ausstehend. Es werde erst bei der Wiederkunft des Messias auf Erden errichtet, doch habe Jesus diese Wiederkunft und damit seine Inthronisation im Reich Gottes als unmittelbar bevorstehend angesehen.405 Im Übrigen wurde erkannt, dass die Sprache des Neuen Testaments weitgehend der zeitgenössischen Umgangssprache entspricht und die soziale Struktur des Urchristen401 402 403 404 405

Zu den Ergebnissen der religionsgeschichtlichen NT-Forschung s. Kümmel 1970, 261–393. Vgl. Lüdemann 1996, 13. S. z. B. Kümmel 1970, 291–293, 302, 328–330. Vgl. ebd., 377–382 (Zitate ebd., 382, 381). Gunkel 1903, 88. Vgl. Kümmel 1970, 290–294.

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tums vor allem die Unter- und Mittelschicht umfasste. Nicht nur die Gedankenwelt, auch die Sprache des Neuen Testaments wurde so bis zu einem gewissen Grad auf geschichtliches Normalniveau heruntergeholt.406 Im Bereich des Alten Testaments hatten die seit Mitte des 19. Jahrhunderts immer zahlreicheren archäologischen Funde neue Kenntnisse über die Umwelt des alten Israels gebracht und ein neues Bild von seiner Geschichte entstehen lassen. So war der babylonische und ägyptische Einfluss auf Palästina und Syrien zur Zeit der israelitischen Einwanderung ebenso sichtbar geworden wie der Baalskult der Urbevölkerung Kanaans.407 Folglich war für die frühe Zeit Israels nicht mehr von einem primitiven Naturalismus auszugehen (Wellhausen), sondern von einer deutlichen kulturellen Prägung. Diese entdeckte man unter anderem in Form von Ähnlichkeiten zwischen babylonischer Kultur und Altem Testament, etwa zwischen dem babylonischen Schöpfungsmythos und dem Schöpfungsbericht der Genesis, zwischen Gilgamesch-Epos und Sintflutbericht und zwischen dem Codex Hammurapi und den biblischen Gesetzesbestimmungen.408 Im Gefolge Hugo Wincklers (1863–1913) leiteten einige daraus einen Panbabylonismus ab, wonach alle Kultur und also auch die des alten Israel auf ein altes babylonisches Weltbild zurückgehe.409 Die Auseinandersetzung darüber erreichte 1902 mit dem von Friedrich Delitzsch entfachten „Bibel-Babel-Streit“ ihren Höhepunkt. Während die Bibel bei Delitzsch nur mehr als „religionsgesch[ichtlicher] Absenker babylonischer Religion“410 erscheint, setzte die Religionsgeschichtliche Schule gegen diese mit bloßer „Ähnlichkeit“ argumentierende Position auf methodische Strenge in der Überlieferungsgeschichte und grenzte die Abhängigkeitsurteile in der Folge ein. Den babylonischen Chaosmythos erkannte jedoch auch Gunkel als die Gen. 1 zugrunde liegende Erzählung, die dann nach und nach umgeformt wurde (Etappen bildeten demnach Ps. 89,10ff. und Jes. 51,9ff.).411 Daneben zeigte Hugo Greßmann, wie die alttestamentliche Messiaserwartung aus dem gemeinorientalischen Phänomen der Königsvergötterung entstand.412 Im Ganzen zeigten sich so vielerlei Abhängigkeiten in Form und Inhalt, so dass Israel nun geradezu als „Spätling unter den Völkern“ (Walter Baumgartner [1887–1970]) erscheinen konnte.413

406 407 408 409 410 411 412 413

Vgl. ebd., 280f. Vgl. Kraus 1982, 295–302. Vgl. ebd., 302–304. Vgl. ebd., 306–309. Otto 1998, 1526. Vgl. Kraus 1982, 336f.; Reventlow 2001, 330–332. Vgl. Kraus 1982, 337–339. Vgl. Smend 1991e, 26 (dort auch Nachweis des Zitats).

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2.3 Fortführung der historisch-kritischen Bibelexegese im 20. Jahrhundert 2.3.1 Form- und Überlieferungsgeschichte Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die soziologisch-literaturgeschichtliche Methodik, die Gunkel im Alten Testament erprobt hatte, als „Form-“ (Dibelius) bzw. „Überlieferungsgeschichte“ (Bultmann) auch im Neuen Testament zur Anwendung gebracht.414 Vorreiter war Karl Ludwig Schmidt (1891–1956) mit seiner Untersuchung Der Rahmen der Geschichte Jesu (1919), in der er mit noch ganz literarkritischen Mitteln den Nachweis zu führen versuchte, dass die Orts- und Zeitangaben der synoptischen Evangelien – mit Ausnahme der Leidensgeschichte, die von Anfang an im Zusammenhang erzählt worden sei – auf die Evangelisten zurückgehen. Mit ihnen hätten sie die vorliegenden mündlichen Überlieferungsstücke, die im Rahmen des Gottesdienstes als Perikopen (Lesungen) tradiert worden seien, nach sachlichen oder auch praktischen Prinzipien verknüpft. Martin Dibelius (1883–1947) und Rudolf Bultmann (1884–1976) entwickelten die Methode weiter.415 Wie Gunkel richteten sie den Blick auf die „kleinen Einheiten“ der Überlieferung und ihren „Sitz im Leben“. Ihr Hauptinteresse galt dabei zum einen der Bestimmung der literarischen Formen der Traditionseinheiten, zum anderen dem Aufzeigen sowohl der Bedingungen und Faktoren für ihre Veränderung als auch der zugehörigen Überlieferungswege und -gesetze. Dibelius ging konstruktiv vor und versuchte von einem vorgefertigten Bild der frühen Kirche aus zu den zugehörigen Formen der mündlichen Überlieferung zu gelangen, während Bultmann in analytischer Arbeit vom Überlieferungsstoff aus ein solches Bild erst erschließen wollte. Dibelius sah die Überlieferung vor allem von den Bedürfnissen der Missionspredigt geprägt, Bultmann zusätzlich noch von der Auseinandersetzung mit der nichtchristlichen Umwelt, der Gemeindeordnung und der schriftgelehrten Arbeit am Alten Testament. Trotz dieser Unterschiede in Herangehensweise und Einschätzung der formenden Faktoren gelangten beide zu dem zentralen Ergebnis, dass die urchristliche Überlieferung kerygmatischen Charakter hat, dass sie also Glaubenszeugnis und nicht historischer Bericht sein wollte und auch ist. Damit aber waren Sinnhaftigkeit wie bloße Möglichkeit der von der liberalen Theologie betriebenen Rückfrage nach dem historischen Jesus grundsätzlich infrage gestellt. Obschon sich Dibelius und Bultmann in diesem Punkt gegen die liberale Theologie stellten, stimmen ihre methodischen Voraussetzungen durchaus mit denen der 414 Zum Ganzen vgl. Kümmel 1970, 419–433; Genthe 1977, 238–244; Söding 1998, 64–66. 415 Zu Bultmann vgl. zusätzlich zur eingangs des Kapitels genannten Literatur Reventlow 2001, 380–382.

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historisch-kritischen Theologie des 19. Jahrhunderts überein.416 Beide räumen dem Wort vor dem Ereignis den Vorrang ein: Sinn und Bedeutung sind ganz in der Sprache aufgehoben, das historische Ereignis als Faktum gehört zum Bereich des Irrationalen. Beide unterstellen Diskontinuität für alle Phasen der Überlieferung: Sowohl zwischen Altem und Neuem Testament als auch innerhalb des Neuen Testaments besteht nicht der von der Schrift behauptete innere Zusammenhang der Traditionsstücke, sie stammen vielmehr aus ganz unterschiedlichen Zusammenhängen. Vor allem aber entlehnen beide dem naturwissenschaftlichen Evolutionsmodell die Vorstellung, dass Einfachheit auf Ursprünglichkeit hinweist, Kompliziertheit hingegen auf spätere Entstehung. Dies betrifft zum einen die Beurteilung der literarischen Formen, wo Dibelius das Paradigma, die mündliche Beispielerzählung, und Bultmann das Apophthegma, das gerahmte Jesuswort, als älteste Form ansieht, während Formen wie die Novelle, Legende oder der Mythos (Dibelius) als jünger gelten. Zum anderen wird das Ursprüngliche aber auch inhaltlich bestimmt. Als früh und spät werden einander gegenübergestellt das Wort und der Kult, Eschatologie und Apokalyptik, Jüdisches und Hellenistisches, Prophetisches und Gesetzliches, Ethos und Ethik. Ähnliches war bereits bei Wellhausen und Gunkel zu beobachten (s. o. Kap. IV.2.2), und wie bei diesen dürfte es sich auch hier letztlich um Nachwirkungen des dialektischen Denkens Luthers handeln.417 Die dadurch notwendige Erklärung des Übergangs von einem unmessianischen, unapokalyptischen, prophetischen Jesus zur synkretistischen Haltung des Urchristentums leistete Bultmann durch Rückgriff vor allem auf die religionsgeschichtliche Forschung, wodurch die Gemeinde als produktiver Faktor in den Vordergrund gerückt wurde. Die Frage, wie die formgeschichtlichen Ergebnisse theologisch zu interpretieren seien, beantwortete er im Rahmen seiner hermeneutischen Theologie (s. u. Kap. IV.4).

2.3.2 Redaktionsgeschichte In den 1950er-Jahren kam mit der Redaktionsgeschichte eine neue exegetische Richtung auf, die auf neutestamentlichem Gebiet bis in die 1980er-Jahre hinein vorherrschend blieb.418 War es der Literarkritik vor allem um die Ermittlung der ältesten Quellen gegangen und hatte die Formgeschichte die biblischen Autoren weniger als selbständige Schriftsteller denn vor allem als Sammler und Tradenten (Dibelius) betrachtet, richtete die Redaktionsgeschichte den Fokus auf die theologischen Pro-

416 Vgl. hierzu und zum Folgenden Ratzinger 1989, bes. 24–34. 417 Vgl. ebd., 29. 418 Zum Ganzen vgl. Söding 1998, 66f.; ferner: Genthe 1977, 296–302.

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gramme, welche die Autoren und Bearbeiter der biblischen Bücher verfolgten – eine der Sache nach keineswegs neue Fragestellung, sondern letztlich so alt wie die historisch-kritische Bibelwissenschaft selbst. Den Blick von der Formgeschichte hinüber zur Redaktionsgeschichte hatten im Bereich des Alten Testaments bereits die traditionsgeschichtlichen Forschungen Gerhard von Rads (1901–1971) und insbesondere die überlieferungsgeschichtlichen Untersuchungen Martin Noths (1902–1968) geleitet. Beide beschäftigten sich vorwiegend mit Wachstum und Anreicherung der ursprünglichen Stoffe im Zuge der vorliterarischen Tradition, doch schon Noth fasste die schriftliche Ausgestaltung der endgültigen Texte als planmäßigen redaktionellen Vorgang auf.419 Auf neutestamentlichem Gebiet legte 1954 Hans Conzelmann (1915– 1989) mit einer Untersuchung über die lukanische Theologie die erste redaktionsgeschichtliche Arbeit vor, wenngleich die Richtung ihren Namen erst zwei Jahre später durch Willi Marxsen (1919–1993) mit seiner Schrift Der Evangelist Markus. Studien zur Redaktionsgeschichte des Evangeliums (1956) erhielt.420 Während seither im Alten Testament praktisch alle Bücher redaktionsgeschichtlich untersucht werden, konzentriert sich die Forschung im Neuen Testament auf die Synoptiker, da der Ansatz insbesondere für die Briefliteratur nur sehr begrenzt anwendbar ist.421 Gegenstand der redaktionsgeschichtlichen Betrachtung ist „die Entstehung eines Textes von der ersten schriftlichen Auszeichnung über eventuelle Bearbeitungsstadien bis zur vorliegenden, durch die Textkritik rekonstruierten Gestalt“422. Methodischer Ausgangspunkt ist die Endgestalt des Textes. Von hier aus erfolgt die Bestimmung der theologischen Absichten der Autoren und Bearbeiter auf den verschiedenen Redaktionsstufen mittels Tendenzkritik. Kriterien dieser Bestimmung sind Auswahl, Anordnung, Rahmung und Abwandlung des vorgegebenen Stoffes. Die Redaktionsgeschichte ist somit auf die Vorarbeiten vor allem der literarkritischen, aber, da sie auch die soziale und historische Verortung der Redaktoren zum Ziel hat, auch der formgeschichtlichen Analyse angewiesen und bildet dadurch gewissermaßen deren Synthese.

2.4 Konservative Kritik an der historisch-kritischen Exegese Die Entwicklung der historisch-kritischen Bibelwissenschaft war von Beginn an von der Kritik konservativer Theologen begleitet. Für die Zeit der Aufklärung ist hier auf 419 420 421 422

Vgl. Kratz 1997, 371. Zu von Rad und Noth vgl. Kraus 1982, 444–455. Für weitere frühe Arbeiten s. Söding 1998, 67, Anm. 35 u. 36. Vgl. Kratz 1997, 372–377; Merk 1997, 381f. Schmitt 2004a, 139. Zur begrifflichen Unterscheidung von Redaktion, Redaktionskritik und Redaktionsgeschichte vgl. Kratz 1997, 367.

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Johann Gottlob Carpzov (1679–1767) oder Johann Melchior Goeze (1717–1786), Lessings Gegner im Fragmentenstreit, zu verweisen, für England etwa auf Daniel Whitby (1638–1725).423 Entgegen allen Neuerungen hielten sie an dem alten, umfassenden Geltungsanspruch der Bibel fest.424 Die Kritiker wandten sich vor allem gegen den methodischen Ausschluss göttlichen Handelns in der Geschichte, mit dem die historisch-kritische Exegese arbeitet. Stattdessen plädierten sie für einen Ansatz, der grundsätzlich auch mit dem Übernatürlichen rechnet, weshalb sich im 19. Jahrhundert für sie die Bezeichnung „Supranaturalisten“ einbürgerte. Sie stellten der historisch-kritischen Bibelauslegung Konzepte gegenüber, die dem Theologischen in der Auslegung einen mindestens ebenbürtigen, meist sogar einen übergeordneten Rang einräumten, auf jeden Fall aber die grammatisch-historische Exegese um die theologische ergänzt wissen wollten. Diese wegen ihres Strebens nach Vermittlung zwischen Glauben und Wissenschaft als „Vermittlungstheologie“ bezeichnete Richtung erfuhr im Zuge der Restauration starke politische Förderung. Daneben führten die orthodoxen Bestrebungen des aus der Erweckungsbewegung hervorgegangenen Neuluthertums zu einer zunehmenden Orientierung am traditionellen Konfessionsdogma.425 Zu nennen sind hier Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802–1869), Johann Christian Konrad von Hofmann (1810–1877), Johann Tobias Beck (1804–1878), August Tholuck (1799–1877), Rudolf Stier (1800–1862), Hermann Olshausen (1796–1839), August Hahn (1792–1863) sowie Franz Delitzsch (1813–1890). Sie kehrten hinter die Aufklärung zurück zum orthodoxen Schriftverständnis (am entschiedensten wohl in Form der sogenannten „Repristinationstheologie“ Hengstenbergs, die das altprotestantische Dogma zur Richtschnur der Auslegung machte).426 Der historischen Untersuchung der Bibel wurde zwar in der Regel nicht grundsätzlich die Berechtigung bestritten, im Vordergrund stand aber stets die theologische Interpretation. Gemeinsame Grundlage war der Glaube an die Inspiration der Bibel, das Festhalten an ihrem übernatürlichen Offenbarungscharakter und die Annahme der sachlichen Einheit der gesamten Schrift. Insbesondere die Zusammengehörigkeit von Altem und Neuem Testament war aufzuzeigen, nachdem die historisch-kritische Forschung vor allem die Unterschiede betont hatte. So wurden beide Testamente auf unterschiedliche Art und Weise in einen heilsgeschichtlichen Zusammenhang gestellt, sei es messianisch-christologisch (Hengstenberg), typologisch-symbolisch (Stier) oder universalgeschichtlich nach dem Schema 423 424 425 426

Weitere Vertreter bei Reuss 1860, 654–656. Vgl. Smend 1991e, 15. Vgl. Reuss 1860, 660f. Vgl. Schäfer 1980, 137. Zu den exegetischen Konzepten der Genannten vgl. Kraus 1982, 209–241. Zu Hengstenberg vgl. ferner Reventlow 2001, 278–290.

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von Weissagung und Erfüllung (von Hofmann).427 Die Auslegung zielte dabei wieder auf einen hinter dem Literalsinn liegenden tieferen Schriftsinn, der sich nur dem im Glauben am Geist der Schrift Partizipierenden erschließt. In der zweiten Jahrhunderthälfte fand die Vermittlungstheologie ihre Erneuerung in der Theologie Ritschls, in welcher Form sie dann auch bis zum Ersten Weltkrieg in Deutschland beherrschend blieb.428 Für Ritschl ist das Neue Testament das Zeugnis der Gemeinde von der in Jesus geschehenen Offenbarung, hinter welches nicht mehr zurückgegangen werden kann. Es ist Quelle und Norm für die Kirche und jeden einzelnen Gläubigen. Mitte der Schrift ist die supranaturalistisch verstandene Stiftung der Gemeinde durch Christus. Ritschl ließ aber auch Raum für die historisch-kritische Forschung, insofern der Inhalt der Offenbarung, den er selbst als religiöse (durch gläubiges Vertrauen auf Gott im Gottesdienst), vor allem aber praktisch-ethische (durch dem Liebesgebot gehorchende Berufsausübung im Alltag) Verwirklichung des Reiches Gottes als der idealen Gemeinschaft von Geschöpf und Schöpfer bestimmte, vom Exegeten jeweils erst in seiner ursprünglich von Jesus verkündeten Form aus der Bibel zu erheben und anschließend systematisch zu ordnen ist. Grundsätzlicher und ganz praktisch stellten Hermann Cremer (1834–1903), Adolf Schlatter (1852–1938) und Theodor Zahn (1838–1933) die historisch-kritische Exegese in Frage:429 Cremer, indem er in seinem Biblisch-theologischen Wörterbuch der neutestamentlichen Gräcität (1867) vom Offenbarungscharakter der Bibel ausging und die Gedankenwelt des Neuen Testaments als ebenso verschieden vom profanen Griechisch wie in sich einheitlich darstellte; Schlatter und Zahn, indem sie den persönlichen Glauben des Exegeten zur Voraussetzung ihrer Schriftauslegung machten und eine zwar historisch-philologische, nicht aber historisch-kritische Exegese pflegten. Deren Charakteristika waren bei Schlatter die vergleichende Heranziehung der jüdisch-rabbinischen Literatur, akribische philologische Arbeit und eine dezidiert theologische Interpretation, bei Zahn die ganz unkritische Betrachtung des Neuen Testaments als Bericht über Tatsachen, die vom Ausleger wiederzugeben sind.430 Weil Zahn somit nicht zwischen Bericht und Ereignis unterschied, sondern beide im Kanon aufgehoben sah, lehnte er auch die religionsgeschichtliche Fragestellung ab. Mit dieser ablehnenden Haltung stand die in Zahn repräsentierte streng konservative Richtung jedoch keineswegs alleine da.431 Unterstützt wurde sie hierin zum einen 427 428 429 430 431

Vgl. Reuss 1860, 664–666. Vgl. Schäfer 1980, 139f. – Zum Folgenden vgl. auch Herms 2008, 536f. Vgl. Kümmel 1970, 243–250; Merk 1980a, 385. Vgl. Merk 2004, 479f.; Neuer 2004, 901f. Zu den folgenden sowie weiteren ähnlichen Positionen vgl. Kümmel 1970, 394–414.

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von Vermittlungstheologen wie Paul Feine (1859–1933), der die Gefahr sah, dass das Christentum durch seine religionsgeschichtliche Einordnung als eine nur abgeleitete Religion erscheine und das Besondere und Eigenständige an ihm verwischt werde, wo es doch auf dem Wirken Gottes in der Geschichte beruhe und also nicht aus der religionsgeschichtlichen Entwicklung zu erklären sei. Zum anderen gab es auch unter liberalen Theologen Vorbehalte, so bei Adolf Jülicher (1857–1938), der die Religionsgeschichte für weder besonders nützlich noch besonders schädlich, wenngleich tendenziell eher Verwirrung stiftend hielt, oder bei Wellhausen, der ihre auf die Herkunft biblischer Stoffe gerichtete Fragestellung als methodisch schlicht irrelevant ansah. Vom Standpunkt des Glaubens aus kritisierte Martin Kähler (1835–1912) die historische Herangehensweise.432 Die Untersuchung der Evangelien nach der historischen Analogie, d. h. nach menschlicher Erfahrung und Wahrscheinlichkeit, sah er als dem Gegenstand unangemessen an, da zwischen dem Gottmenschen Jesus und dem Rest der Menschheit ein nicht nur gradueller, sondern wesentlicher Unterschied bestehe, so dass alle psychologischen Erklärungsversuche zum Scheitern verurteilt seien. Ähnlich urteilte er über Versuche der religionsgeschichtlichen Erklärung des Christentums aus dem zeitgenössischen Judentum heraus. Vor allem aber hob er hervor, dass der Christus des Glaubens nicht der historische Jesus, sondern der Christus der Verkündigung sei. Aufgabe der Theologie sei es daher nicht, nach der Herkunft des im Neuen Testament bezeugten Christusbildes zu forschen, sondern sich mit ebendiesem zu beschäftigen. Von dem entgegengesetzten Standpunkt eines vollständigen Unglaubens kam Franz Overbeck (1837–1905) zu einem ähnlichen Ergebnis.433 Theologie und historische Forschung sind ihm zufolge wie Glaube und Wissen scharf voneinander zu trennen, denn die der Theologie angemessene und seit jeher geübte Methode sei allein die allegorische Auslegung. Nur durch sie sei es der Alten Kirche möglich gewesen, sich nach der Enttäuschung der urchristlichen Naherwartung der fortwährenden religiösen Geltung ihrer Glaubensurkunden zu versichern. Der historisch-kritischen Methode gestand Overbeck zwar für die profane Wissenschaft ihr Recht zu, nicht aber für die Theologie, sofern diese als eine christliche ihren apologetischen Charakter nicht aufgeben wolle. So sah er die liberale Theologie vor die Aufgabe gestellt, sich ihrer Zielsetzung klar zu werden „und sich ernster zu besinnen, inwiefern sie ihre Bestrebungen noch christliche nennen kann“434. Denn eine theologische Aufgabe kommt der rein geschichtlichen Bibelbetrachtung nach Overbeck ja gerade nicht zu. 432 Vgl. ebd., 281–285. Zu Kählers der historischen Kritik durchaus Raum gewährenden Haltung gegenüber dem Alten Testament vgl. Kraus 1982, 386–389. 433 Vgl. Kümmel 1970, 250–258. 434 Overbeck 1974, 109.

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3. Hermeneutische Konzeptionen im 19. Jahrhundert Wie die bisherige Darstellung gezeigt hat, betraf die hermeneutische Frage, vor die sich die Theologie seit dem Aufkommen der historisch-kritischen Bibelwissenschaft gestellt sah, das Verhältnis zwischen historischer Rekonstruktion und theologischer Interpretation oder, anders gewendet, zwischen Exegese und Dogmatik.435 Eine erste Antwort gab Johann Philipp Gabler mit seiner Konzeption einer streng historisch verfahrenden Biblischen Theologie, die er in seiner Altdorfer Antrittsrede 1787 entwarf.436 Erstmals wurde hier zwischen biblischer und dogmatischer Theologie als gesonderten Disziplinen unterschieden. Aufgabe der Biblischen Theologie sollte es sein, mittels grammatisch-historischer Untersuchung die Theologien der einzelnen biblischen Bücher aufzuzeigen und vergleichend nebeneinanderzustellen. Die so gewonnene „wahre“ biblische Theologie sollte dann durch Scheidung der biblischen Grundbegriffe von allem bloß Zeitbedingten, das ihnen in der Bibel anhafte, zu einer „reinen“ biblischen Theologie fortgeführt werden. Diesen Schritt zählte Gabler aber schon nicht mehr zur „Auslegung“, sondern bereits zur „Erklärung“ und damit zu einem Zwischenbereich im Übergang zur dogmatischen Theologie, deren Aufgabe wiederum die Anwendung der Grundbegriffe der „reinen“ biblischen Theologie auf die jeweilige Gegenwart sei. Bestimmung des Textsinns (Auslegung), Kritik an der Bibel nach den aus der Vernunft abgeleiteten reinen Religionsbegriffen der Aufklärung (Erklärung) und Anwendung der durch die Vernunftkritik gewonnenen dicta classica437 auf die Gegenwart (dogmatische Theologie) waren damit klar getrennt. Auch historische Kritik sah Gabler vor, allerdings wies er die Frage nach der historischen Wahrheit des Berichteten mal dem Bereich der Auslegung, mal dem der Erklärung zu, so dass ihr methodischer Ort offenbleiben muss.438 Nach einer Phase vorwiegend theoretischer hermeneutischer Reflexion in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als nur selten konkrete exegetische Entwürfe in Form von Kommentaren vorgelegt wurden, kehrte sich dieses Verhältnis im 19. Jahrhundert um.439 Die praktische Exegese erlebte einen Aufschwung, wobei in den Kommentaren eine vielfach als „grammatisch-historisch“ bezeichnete Auslegung vorherrschte.440 Im Anschluss an Ernesti und Semler ging es den Exegeten hier allein um die Ermittlung 435 436 437 438 439 440

Vgl. Merk 1980a, 382; Körtner 1998, 490. Vgl. Smend 1991c; Reventlow 2001, 225f. Vgl. Körtner 1998, 490. Vgl. Smend 1991c, 115f. Vgl. Kraus 1982, 166f. Vgl. Reuss 1860, 651f.; Kümmel 1970, 130; Kraus 1982, 167.

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des ursprünglich von den biblischen Schriftstellern intendierten Sinns. Sie sahen vom Offenbarungscharakter der Schrift ab und wendeten die grammatischen und historischen Methoden der Klassischen Philologie an. Ziel der Exegese war historische Deskription, nicht theologische Interpretation. Herausragender Vertreter dieser Richtung war Karl August Gottlieb Keil (1754– 1818).441 Seine Art der Schriftauslegung setzte sich immer mehr durch, bis sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Kommentare beherrschte.442 Gleichzeitig nahm seit der Jahrhundertmitte die hermeneutische Reflexion im Sinne einer theoretischen Rechtfertigung der Auslegungsprinzipien immer mehr ab. Im Zeitalter von Historismus und Positivismus kam auch in der Theologie eine Richtung auf, die der Theorie gegenüber eher gleichgültig und von prinzipieller Empirie und Gegnerschaft gegen alles Deduktiv-Apriorische und Spekulative – vor allem Hegel – gekennzeichnet war. Sie behielt das alte philologische Ideal bei, zugunsten der reinen Erhebung des geschichtlich Überlieferten (Rekonstruktion) auf Wertung (Interpretation) zu verzichten. Aber anders als noch bei Keil und seiner Schule, wo die theologische Interpretation noch als wichtige Ergänzung der historischen Rekonstruktion anerkannt gewesen war, auch wenn sie anderen Disziplinen wie der Dogmatik, Philosophie oder Ästhetik zugewiesen wurde, geriet der zunächst rein methodisch gemeinte Verzicht auf Interpretation im Rahmen der Exegese nun oft zu einem vollständigen, indem alle Fragen, die über das rein historisch verfahrende exegetische Tagesgeschäft hinausgingen, ganz ausgeklammert blieben. Hermeneutische Fragen wurden zwar in gewissem Umfang in die Einleitungswissenschaften verlagert, fanden dort aber keine umfassende Behandlung mehr. Schließlich verschob sich der Akzent immer mehr vom geschichtlichen auf den kritischen Faktor, „vereinigt in der Themenstellung: Erforschung der Geschichte des Ursprungs, der Sammlung und des Textes der Schriften beider Testamente“443. Demgegenüber hatte Georg Lorenz Bauer (1755–1806) schon 1799 eine nicht nur historisch-deskriptive, sondern dezidiert auch kritische Exegese gefordert und entsprechende hermeneutische Regeln aufgestellt.444 Zum einen müssten die Wunder Jesu vom Exegeten auf ihren historischen Wahrheitsgehalt hin geprüft werden, zum anderen müsse bei den Reden Jesu zwischen den Berichten der Evangelisten und seinen ursprünglichen Worten unterschieden werden, da diese nicht wörtlich überliefert seien, so dass die Evangelisten sie sowohl bewusst manipuliert als auch falsch verstan441 Vgl. Wach 1966, Teil II, 99. Zu Keil vgl. ebd., 98–113; Kümmel 1970, 128–130. Für weitere Vertreter dieser Richtung vgl. Wach 1966, Teil II, 113–120, 239–253; Kümmel 1970, 131f. 442 Vgl. hierzu und zum Folgenden Ebeling 1959, 255; Wach 1966, Teil II, 251–253. 443 Ebd., 251, Anm. 1. 444 Vgl. Kümmel 1970, 132–135.

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den haben könnten. Ferner sei im Alten Testament die Existenz von Mythen anzuerkennen, die auf ihren historischen Kern sowie auf ihre Erzählabsicht hin analysiert werden müssten. Carl Friedrich Stäudlin (1761–1826) wiederum hatte in einer Göttinger Rektoratsrede aus dem Jahr 1807 auf die Notwendigkeit einer zur historischen Auslegung hinzukommenden moralischen, religiösen und philosophischen Interpretation der Schrift hingewiesen.445 Er sah dies wegen des besonderen Inhalts der Schrift, den überzeitlichen Offenbarungswahrheiten der Lehre Jesu, als unbedingt erforderlich an. Im Rahmen der theologischen Interpretation müsse der Ausleger von der gleichen tiefen religiösen Empfindung beseelt sein wie die Apostel, wenn er zum vollen Schriftverständnis vordringen wolle, und anders als bei der historischen Auslegung könne er die Theopneustie (Inspiration) nicht vollständig methodisch außen vor lassen. Allerdings blieb Stäudlin die Antwort auf die Frage schuldig, wie genau eine solche Verbindung von historischer und theologischer Auslegung methodisch zu bewerkstelligen sei. Er hatte jedoch die Frage nach ihrem Verhältnis nachdrücklich gestellt und fand in seinem Festhalten an der Notwendigkeit einer über die bloß philologisch-historische Interpretation hinausgehenden Schriftauslegung zahlreiche Nachfolger.446 Die Positionen Bauers auf der einen und Stäudlins auf der anderen Seite zeigen die Pole auf, zwischen denen sich die hermeneutische Diskussion im 19. Jahrhundert im Wesentlichen abspielte. Extrempositionen wie die von Franz Overbeck (s. o. Kap. IV.2.4), der die historische Untersuchung als für Theologen unzulässig ablehnte, blieben die Ausnahme. In der Praxis führte dies dazu, dass liberale Theologen im Zuge einer historisch-ableitenden, objektivistischen Betrachtungsweise zwar nach der Herkunft, nicht aber nach der theologischen Bedeutung der biblischen Schriften fragten und eine entsprechende Rekonstruktion der Vergangenheit vornahmen, während ihre supranaturalistisch gesinnten Kollegen dogmatisch den heilsgeschichtlichen Zusammenhang von Altem und Neuem Testament und dessen Besonderheit gegenüber der Weltgeschichte konstruierten. Die religionsgeschichtliche Betrachtung schließlich machte durch das Aufzeigen der zeitgeschichtlichen Bezüge einmal mehr den historischen Abstand der biblischen Überlieferung zur Gegenwart deutlich. Das 19. Jahrhundert hinterließ dem 20. Jahrhundert auf hermeneutischem Gebiet somit die Aufgabe „einer grundsätzlichen Besinnung auf die Möglichkeit der Vermittlung zwischen fremdem historischen Geschehen, das durch die distanzierende wissenschaftliche Vernunft erforscht wird, und der Gegenwart von Sinn und Bedeutung, die sich 445 Vgl. Wach 1966, Teil II, 140–153; Kümmel 1970, 135–138. 446 Einige Namen nennt Ebeling 1959, 255. Zu den dort Genannten vgl. Wach 1966.

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in der Lebenserfahrung der lebenden Menschen und im kulturellen Zusammenhang zeigen“447. Mit seiner Forderung, dass das grammatisch-historische Verstehen um eine psychologische Komponente zu ergänzen sei, hatte Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834) schon früh im 19. Jahrhundert einen entsprechenden Lösungsvorschlag unterbreitet.448 Schleiermacher begriff Texte als individuell geformte Sprache. Um sie zu verstehen, seien beide an der Textentstehung beteiligten Pole in ihrem Verhältnis zueinander transparent zu machen: zum einen die Sprache als die allen gemeinsame Welt, zum anderen die individuelle Art und Weise, wie der Sprecher seine Gedanken in der Sprache zum Ausdruck bringt. Hermeneutik ist somit das gegenläufige Verfahren zur Dialektik, die „spekulativ den Übergang der allgemeinen Vernunft in die individuelle sprachliche Mitteilung“449 erörtert, d. h. nachzuvollziehen versucht, wie aus Gedanken Worte werden, und ihr Ziel die Rekonstruktion der Textproduktion durch Aufweis der allgemeinen und individuellen Produktionsbedingungen des Autors. Schleiermacher geht dabei vom Normalfall des Missverstehens aus. Verstehen dagegen müsse gewollt, absichtsvoll und planmäßig (nach den Regeln der Hermeneutik) erstrebt werden. Es ist das Ziel, den Text erst genauso gut und dann noch besser zu verstehen als der Autor selbst, indem bei der Rekonstruktion auch die dem Autor unbewussten Produktionsmechanismen aufgezeigt werden. Die Zweipoligkeit der Textentstehung macht eine doppelte Operation aufseiten des Auslegers erforderlich: die grammatische und die psychologische Interpretation. Erstere untersucht die Rede im Sprachzusammenhang, Letztere im Zusammenhang der individuellen Gedankenerzeugung. Als Methoden stehen hierfür das komparative und das divinatorische Verfahren zur Verfügung, die Erhellung von Dunklem durch Verstandenes mittels historisch-philologischer Untersuchung und die intuitive Erhellung von Sinn und Zusammenhang auf Grundlage der grundsätzlichen Einheit des menschlichen Geistes und seiner Erkenntnisformen. Beide Methoden sind sowohl für die grammatische als auch für die psychologische Interpretation anzuwenden, allerdings verfahre die grammatische stärker komparativisch, die psychologische stärker divinatorisch. Beide Verstehensmomente sind in umfassenden holistischen Thesen aufgehoben. Generell sei jede Rede oder Schrift nur in einem größeren Zusammenhang zu verstehen. Für die grammatische Interpretation heißt dies, dass sich die Bedeutung 447 Bormann 1986, 120. 448 Vgl. Kümmel 1970, 138. – Zum ganzen Folgenden vgl. insbes. Meckenstock 2001. 449 Ebd., 253.

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jeweils erst aus dem Zusammenhang ergibt. So ist das Wort im Zusammenhang des Satzes, dieser im Kontext der Rede, diese im Kontext einer höheren Einheit (Absatz, Abschnitt, Kapitel etc.), diese Einheit wiederum im Kontext des Werkes zu verstehen. Für die psychologische Interpretation heißt das, dass die Äußerungen eines Autors nur aus dem gesamten Lebenszusammenhang sowohl seiner selbst als auch seiner Zeit heraus verständlich werden.450 Ganzes und Einzelnes erhellen sich demnach beständig wechselseitig und setzen so einen unabschließbaren Prozess immer besseren Verstehens in Gang. Schleiermacher zielte mit seinen Ausführungen auf eine allgemeine Verstehenslehre jenseits aller Spezialhermeneutiken. Die Bibelhermeneutik fasste er lediglich als eine Modifikation der allgemeinen hermeneutischen Regeln.451 Gleichwohl erachtete er eine bibelspezifische Hermeneutik für notwendig. Dies aber nicht, weil er von ihrer Verbalinspiration ausgegangen wäre – vielmehr betrachtete er die Schrift als von Menschen geschrieben und beschränkte die Inspiration auf einen innerlichen Impuls, den der Heilige Geist den neutestamentlichen Schriftstellern für ihre Schriften gegeben habe –, sondern wegen der Besonderheit der neutestamentlichen Sprache mit ihrem hebraisierenden Griechisch. Für die grammatische Interpretation des Neuen Testaments forderte er daher neben Griechisch- auch Hebräischkenntnisse und drängte auf die genaue Erfassung der Art ihrer Vermischung. Schwierigkeiten sah er aber auch bei der psychologischen Interpretation, da nur wenige Informationen über die Autoren und ihr Verhältnis zu den zeitgenössischen Lesern vorhanden seien. Bei den historischen Schriften kam es ihm vor allem darauf an, ob die Evangelisten als Schriftsteller oder Sammler anzusehen sind, ob sie also selbst Augenzeugen waren oder fremde Berichte verwendeten, denn hiervon musste abhängen, wie die hermeneutische Lösung aussieht – die Hermeneutik war somit aufs Engste mit den Ergebnissen der historischen Kritik verwoben. Im Fall der Briefliteratur sah er das Hauptproblem darin, dass keine externen Informationen über die Verfasser und Empfänger und ihr jeweiliges Umfeld vorhanden seien. So lasse sich häufig nur vermuten, woher bestimmte Gedanken gekommen sind, was die Unsicherheit aller Interpretation erhöht. Im Übrigen trat Schleiermacher für eine inhaltliche Bestimmung des Kanons als Übereinstimmung mit dem ursprünglichen christlichen Bewusstsein ein. Dem Alten Testament maß er vor diesem Hintergrund eine zwar historisch-hermeneutische Bedeutung bei, da es den allen neutestamentlichen Autoren und Lesern gemeinsamen 450 Vgl. Scholz 2001, 279–282. 451 Vgl. hierzu Meckenstock 2001, 255–263.

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Vorstellungskreis darstelle und weil Jesus sich auf die Propheten berufe, nicht aber eine normative. So schloss er es aus dem Kanon aus, auch wenn er seine Verwendung zu wissenschaftlichen, pädagogischen, erbaulichen und gelegentlich auch homiletischen Zwecken weiter zugestand.452 Schleiermacher ist vor allem im 20. Jahrhundert für die Geschichte der allgemeinen Hermeneutik wichtig geworden, auch wenn er diese Disziplin nicht erst eigentlich begründet hat, wie es erst von ihm selbst und später dann insbesondere von Wilhelm Dilthey behauptet wurde.453 Im 19. Jahrhundert wirkte seine Hermeneutik primär auf die Philologie (August Boeckh), Geschichtsschreibung (Gustav Droysen) und die Methodologie der Geisteswissenschaften (Wilhelm Dilthey).454 Dabei wurde zunächst nur die psychologische Komponente seiner Verstehenslehre rezipiert, erst im 20. Jahrhundert kam auch der grammatische Teil mit in den Blick.455 Doch wurde sein Ansatz vereinzelt auch auf theologischem Gebiet aufgegriffen. Zu nennen sind hier Henrik Nicolai Clausen (1793–1877) und insbesondere Friedrich Lücke (1791–1855).456 Aufbauend auf den Grundgedanken Schleiermachers, betonte Lücke stärker als dieser den besonderen Charakter des Neuen Testaments, dessen religiösem Element nur eine „christliche Philologie“ gerecht werde. Der Ausleger bedürfe demnach echt christlichen Geistes, um zum vollen Schriftverständnis zu gelangen, eine nur historische Auslegung oder die bloße Anwendung der allgemeinen hermeneutischen Prinzipien reiche nicht aus.457

4. Theologische Neubesinnung im 20. Jahrhundert: dialektische Theologie und theologische Hermeneutik Die umfassende kulturelle Krise nach dem Ersten Weltkrieg führte auch in der Theologie zu einer Neubesinnung. In Opposition zu der im Geschichtlichen verbleibenden historisch-kritischen Bibelauslegung der liberalen Theologie rief Karl Barth (1886–1968) mit seinem Kommentar zum Römerbrief (1919) die Theologie zurück zur Sache.458 Die im 19. Jahrhundert verfestigte Trennung zwischen historisch arbeiten-

452 Vgl. Karpp 1980, 83. 453 Vgl. Scholz 2001, 265–277. S. auch Kap. III.6 des Beitrags „Philosophie“ in diesem Band. 454 Vgl. Ebeling 1959, 255. S. auch die entsprechenden Passagen in den Beiträgen „Dichtung“ (Kap. IV.1.2), „Geschichte“ (Kap. IV.1.1.2) und „Philosophie“ (Kapp. IV.1 u. IV.2) in diesem Band. 455 Vgl. Jeanrond 2000, 1656. 456 Vgl. Ebeling 1959, 255; Wach 1966, Teil II, 153–172, 305–318. 457 Vgl. ebd., bes. 166–172; Kümmel 1970, 140–142. 458 Die Ausführungen zu Barths Schriftauslegung beruhen insbes. auf Schmithals 1996 und Trowitzsch 1996a. Vgl. ferner Kümmel 1970, 466–476; Genthe 1977, 233–238; Schäfer 1980, 145f.; Smend 1988; Reventlow 2001, 366–380.

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der Exegese und systematisch reflektierender Dogmatik sollte durch eine ganzheitliche theologische Exegese überwunden werden. Barths Ansatz basierte dabei auf dem grundlegenden Gegensatz von Gott und Mensch, der durch das Ganz-anders-Sein Gottes begründet ist und beider Verhältnis zu einem dialektischen werden lässt (von hier rührt auch die Bezeichnung „dialektische Theologie“, mit der alsbald die ganze theologische Richtung belegt wurde)459. Dieser Gegensatz ist für Barths Bibelauslegung zentral, er bestimmt sein Schriftverständnis wie auch seinen hermeneutischen Schlüssel zur Schrift. Barths Schriftverständnis steht dem der Reformatoren nahe. Wie sie (s. o. Kap. III.4.) unterscheidet er zwischen Text und bezeichneter Sache und versteht die Bibel als prophetisch-apostolisches Zeugnis der Offenbarung. Das Wort Gottes ist demnach in der Schrift enthalten, aber nicht mit ihr identisch. Für die Erfassung des Textsinns wird die historisch-kritische, insbesondere die historisch-philologische Forschung als hilfreich zugestanden.460 Sie hat aber nur vorbereitenden Charakter. Denn Ziel der Auslegung ist es, „durch das Historische hindurch zu sehen in den Geist der Bibel“461. Während die historische Kritik bei der Erklärung des Textes stehen bleibe, bedeute Verstehen, auf die vom Text dargebotenen Begriffe einzugehen, über das „Rätsel der Urkunde“ hinaus zum „Rätsel der Sache“ vorzustoßen.462 Die Sache aber, die Offenbarung, ist menschlichem Sicherungsbestreben durch wissenschaftlichen, methodisch abgesicherten Zugriff entzogen.463 Offenbarung ist einseitiges Handeln Gottes auf den Menschen zu. Der Mensch hat keine aktive Rolle in diesem Geschehen. Für die Bibelauslegung bedeutet das, dass keine wissenschaftliche Methode, deren Zweck ja das Verfügbarmachen ihres Gegenstandes in Form von reproduzierbarem Wissen ist, den Zugang zur Sache, von der die Bibel zeugt, absichern kann. Der Ausleger ist auf das Hören der Botschaft im Glauben verwiesen. Wie bei den Reformatoren ist der Zugang zur Offenbarung also an Schrift und Heiligen Geist gebunden.464 Verstehen der Offenbarung kann dem Ausleger nur gegeben werden. Weil sich dieses Verstehen jedoch schenken und nicht vorenthalten will, hat er Grund zur Hoffnung, dass es ihm gegeben wird. Die Bibel legt sich somit in der Tat selbst aus, und Barth stellt dem Anspruch der neuzeitlichen Wissenschaft auf Maßgeblichkeit der Methode die Maßgeblichkeit des Gegenstands entgegen. Kritik am Verständnis der Schrift kann für ihn immer nur 459 460 461 462 463 464

Zum Begriff und zur Geschichte vgl. Härle 1981, 683–686. Vgl. Barth 1933, X. Ebd., V (Hervorhebung ebd.). Vgl. ebd., XII (Zitate ebd.). Vgl. hierzu und zum Folgenden Trowitzsch 1996a, bes. 77–80, 93–105. Vgl. Reventlow 2001, 378.

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von der Sache selbst her kommen.465 Das ist gemeint, wenn er ruft: „Kritischer müssten mir die Historisch-Kritischen sein!“466 In der Konsequenz dieses Ansatzes liegt Barths Forderung, die in der Schrift geäußerten Gedanken in ihrer dargebotenen Form ganz ernst zu nehmen.467 Die biblischen Berichte sind beim Wort zu nehmen, zwischen Sinn und Wahrheit einer Aussage wird nicht unterschieden. Folgerichtig lehnt Barth Bultmanns Forderung nach Sachkritik ab, die das Gesagte am Gemeinten messen will.468 Die Offenbarung findet sich für ihn nicht über oder hinter den Texten, sondern in ihnen.469 Die Bibel als Offenbarungszeugnis will nicht historische Tatsachen wiedergeben, sondern die geschichtliche Wirklichkeit der in Christus geschehenen Offenbarung bezeugen.470 Den Vorwurf eines so verstandenen Biblizismus lässt sich Barth daher durchaus gefallen, wie er sich hinsichtlich seines Schriftverständnisses auch selbst in eine Reihe mit von Hofmann, Beck oder auch Schlatter stellt.471 Barths Bibelauslegung weist denn auch viele Züge vormoderner Auslegung auf.472 So wird die Bibel als sachliche Einheit aufgefasst, Altes und Neues Testament liegen auf einer Ebene. Den hermeneutischen Schlüssel zur Schrift bestimmt Barth als jene „innere Dialektik der Sache“, die Kierkegaard den „unendlichen qualitativen Unterschied“ von Zeit und Ewigkeit nennt und die Barth als „die Beziehung dieses Gottes zu diesem Menschen, die Beziehung dieses Menschen zu diesem Gott“ konkretisiert.473 Von hier aus begreift er Offenbarung als Selbstoffenbarung Gottes in Kreuz und Auferstehung Christi, in der die „absolute Krisis“, die Gott als der ganz Andere für die Welt ist, hervorbricht – als Gericht, zugleich aber auch als gnädige Versöhnung und Rechtfertigung.474 Die Mitte der Schrift ist Christus, die Auslegung daher konsequent christologisch, im Alten Testament vor allem typologisch. Gleichwohl ist Barths Exegese nicht als vor-, sondern eher als „nachkritisch“ (Smend) zu bezeichnen.475 Berechtigung und Notwendigkeit historisch-kritischer Bibelforschung werden ja durchaus anerkannt, wenn auch 465 466 467 468 469 470 471 472 473 474 475

Vgl. Barth 1933, XII. Ebd. (Hervorhebung ebd.). Vgl. ebd., XVI; Smend 1988, 9. Vgl. ebd., 27; Schmithals 1996, 49. Vgl. Smend 1988, 27f. Vgl. Genthe 1977, 234f. Vgl. Barth 1933, XI, XVf. Vgl. Schmithals 1996, 46f. Barth 1933, XIII (Hervorhebungen ebd.). Vgl. Traub 1966, 265f.; Reventlow 2001, 373–375. Zum Ganzen vgl. Smend 1986.

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nur zur Vorbereitung der theologischen Auslegung, die den in seinem historischen Sinn festgestellten Text so liest, wie er Barth zufolge verstanden werden will: als Zeugnis der Offenbarung. Die Exegese kehrt hier zu einem „naiven“ Schriftverständnis zurück, welches nicht den menschlich-innerweltlichen Maßstab der historisch-kritischen Forschung anlegt, sondern sich vom Text her die Maßstäbe für Mögliches und Unmögliches – z. B. Wunder – vorgeben lässt. Insofern für Barth in dieser Art der Bibelauslegung stets auch der Lehrgehalt der einzelnen Stellen zutage tritt, kann seine Exegese fließend in Dogmatik übergehen. 476 Diese wird vor allem trinitätstheologisch entfaltet. Umgekehrt werden Erkenntnisse der historisch-kritischen Exegese nur in dem Umfang rezipiert, wie sie zu den dogmatischen Aussagen passen oder passend gemacht werden können. In seiner Theologie findet Barth so einerseits zur Kritik an manchen kirchlichen Lehrtraditionen (etwa zu Taufe und Prädestination), andererseits versucht er aber auch historische Bedenken (wie gegen die Jungfrauengeburt) mit dogmatischen Gründen auszuräumen.477 Barths Ziel der Überwindung der liberalen Theologie zugunsten einer theologischen Exegese stand auch Rudolf Bultmann bei seiner sogenannten „hermeneutischen Theologie“ vor Augen.478 Anders jedoch als Barth, für den „die allgemein und allein gültige Hermeneutik […] an Hand der Bibel als Offenbarungszeugnis gelernt werden [müsste]“479, verortete Bultmann die Bibelauslegung innerhalb des Rahmens der allgemeinen Hermeneutik und entwickelte seine Auffassung in Anlehnung an die philosophische Hermeneutik Schleiermachers, Diltheys und vor allem Heideggers.480 Sein hermeneutisches Grundverständnis legte Bultmann in dem Aufsatz Das Problem der Hermeneutik (1950) dar.481 Die Bedingung der Möglichkeit allen Textverstehens ist demnach der prinzipiell gleiche Erfahrungshorizont von Ausleger und Autor, insofern beide als Menschen in der gleichen geschichtlichen Welt leben.482 Konkret bedarf es weiter eines gewissen Grundbezuges („Lebensverhältnis“) des Interpreten zu der Sache, um die es in dem Text direkt oder indirekt geht, da dieser ein gewisses Vorverständnis gewährleistet, wie reflektiert und bewusst dies auch immer sein mag.483 Zudem erwächst aus dem vorgängigen Bezug zur Sache das Interesse, die Fragestellung, 476 Vgl. Schmithals 1996, 50. 477 Vgl. Karpp 1980, 88. 478 Zu Bultmanns Hermeneutik vgl. Mußner 1970, 16–19; Genthe 1977, 261–270; Schäfer 1980, 146–148; Bormann 1986, 127–129; Reventlow 2001, 380–391. 479 Barth 1948, 515. 480 Vgl. Bormann 1986, 127. 481 Bultmann 1952. 482 Vgl. ebd., 219. 483 Vgl. ebd., 217.

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das „Woraufhin“, mit dem der Ausleger an den Text herangeht. Als die für religiöse Texte angemessene Fragestellung betrachtet Bultmann diejenige, welche auf die in diesen sich zeigenden Möglichkeiten des menschlichen Seins zielt. Um hier „echtes Verstehen“ zu erreichen, muss der Ausleger offen sein für den im Text begegnenden „Anspruch“, er muss sein eigenes Vorverständnis vom Text infrage stellen lassen.484 Es gilt der Satz: „Die ‚subjektivste‘ Interpretation ist hier die ‚objektivste‘, d. h. allein der durch die Frage der eigenen Existenz Bewegte vermag den Anspruch des Textes zu hören.“485 Nun unterliegt die Bibelinterpretation nach Bultmann den gleichen Verstehensbedingungen wie jede andere Literatur. Daher gelten „für sie unbezweifelt die alten hermeneutischen Regeln der grammatischen Interpretation, der formalen Analyse, der Erklärung aus den zeitgeschichtlichen Bedingungen“486. Doch muss auch ein Vorverständnis der Sache, um die es geht, angenommen werden. Ein solches „existenzielles Wissen um Gott“ und damit einen „Sachbezug auf die Offenbarung“ erkennt Bultmann in der jedem menschlichen Dasein inhärenten „Frage nach ‚Glück‘, nach ‚Heil‘, nach dem Sinn von Welt und Geschichte, […] nach der Eigentlichkeit des je eigenen Seins“.487 Das „Woraufhin der Interpretation“ ist demnach die Frage nach Gott bzw. Gottes Offenbarung und damit nach der Wahrheit der menschlichen Existenz, weshalb die Interpretation in einer Begrifflichkeit existenzialen Verstehens der Existenz zu erfolgen habe – wofür Bultmann auf Heideggers Existenzphilosophie zurückgriff.488 Von diesem Grundverständnis ausgehend, sah Bultmann die Bibelexegese vor die Aufgabe der „Entmythologisierung“ gestellt.489 Denn das Neue Testament drücke sein Verständnis menschlicher Existenz in den mythologischen Vorstellungen seiner Entstehungszeit aus. So werde das Heilsgeschehen vor dem Hintergrund eines Weltbildes geschildert, das die Welt in Himmel, Erde und Unterwelt unterteilt und in dem die Erde Schauplatz des Wirkens übernatürlicher Kräfte ist. Nicht nur weil dieses Weltbild vergangen und für den modernen Menschen unglaubhaft ist, könne biblische Verkündigung heute nicht mehr die auf diesem Weltbild beruhenden Aussagen der Bibel als solche zu Glaubenssätzen erheben (z. B. die Himmel- und Höllenfahrt Christi). Auch das Wesen des Mythos als Ausdruck menschlichen Selbstverständnisses und die Widersprüchlichkeit der Vorstellungen im Neuen Testament selbst machten es erforderlich, die Mythologie auf die von ihr unabhängige Wahrheit, d. h. das in ihr 484 485 486 487 488 489

Vgl. ebd., 228. Ebd., 230. Ebd., 231. Ebd., 232. Vgl. ebd., 232f. Vgl. hierzu Bultmann 1948.

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zum Ausdruck kommende Verständnis menschlicher Existenz hin zu interpretieren. Eine solche Auslegung nennt Bultmann „existentiale Interpretation“490. Eine in dieser Weise kritische Interpretation ist nach Bultmann die einzig sachgemäße, wohingegen die liberale Theologie in ihrer Suche nach den ewigen ethischen Wahrheiten mit der Mythologie auch das Kerygma, die biblische Botschaft vom „entscheidenden Handeln Gottes in Christus“, eliminiert habe und die Theologie im Gefolge Barths Gefahr laufe, die biblische Mythologie einfach zu repristinieren.491 Durch seine existenziale Interpretation fand Bultmann im Neuen Testament zwei Existenzverständnisse gegenübergestellt: das des glaubenden Menschen und das des nicht glaubenden. Während sich Unglaube darin äußere, dass der Mensch sich an das Verfügbare, die sichtbare, gegenständliche Welt hält und so Sicherheit zu erlangen sucht, damit aber, da das Verfügbare vergänglich ist, dem Tod verfallen ist, zeige sich Glaube im Anheimgeben an das Unsichtbare, Unverfügbare, im Vertrauen auf die Gnade Gottes, d. h. darauf, dass das Unverfügbare „dem Menschen als Liebe begegnet, ihm seine Zukunft entgegenbringt, nicht Tod, sondern Leben für ihn bedeutet“492. Indem die Bibel den Menschen zum Glauben auffordert, rufe sie ihn in die Entscheidung, entweder diesem Anspruch mit Gehorsam zu entsprechen oder in seiner Eigenmächtigkeit zu verharren. In diesem Anspruch liegt für Bultmann die zentrale Bedeutung des Evangeliums. Aus eigener Kraft könne der Mensch nicht zum Glauben gelangen. Vielmehr werde dieser durch das Christusgeschehen, die Offenbarung von Gottes Liebe in Christus, überhaupt erst ermöglicht. Glaube ist immer zugleich Glaube an Christus. Hierin bestehe kein „mythologischer Rest“, den es noch zu entmythologisieren gelte.493 Allerdings lässt Bultmann nur das Kreuz als historisches Ereignis stehen, die Rede von der Auferstehung betrachtet er lediglich als „Ausdruck der Bedeutsamkeit des Kreuzes“494 als desjenigen Heilsereignisses, durch das Gott den Tod überwunden hat. Kreuz und Auferstehung sind im Wort der Verkündigung zusammengebunden, und der Glaube bezieht sich auf dieses Wort. Eine historische Legitimation verlangt er nicht nur nicht – denn sonst wäre die Grundlage der Entscheidung ja der Unverfügbarkeit beraubt – 495, sie kann auch gar nicht gegeben werden, da hinter das Wort der Verkündigung nicht zurückgefragt werden kann. Historisch fassbar wird die Auferstehung am frühesten im 490 491 492 493 494 495

Ebd., 27. Vgl. ebd., 25f. (Zitat ebd., 26). Ebd., 30. Vgl. ebd., 43–53. Ebd., 47f. (dort kursiv). Vgl. Genthe 1977, 266f.

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Glauben der ersten Jünger, so dass historisch der Glaube der Jünger, nicht die Auferstehung das Osterereignis darstellt. Mit seinem Ansatz von existenzialer Interpretation und Entmythologisierung gelingt es Bultmann auf der einen Seite, der historisch-kritischen Forschung umfassend Raum zu geben. Er hält sie für notwendig, weil sie das zu interpretierende Material verstehbar macht und aufbereitet.496 Und da seine Interpretation von der historischen Fragestellung absieht und zur Legitimation des Glaubens nicht der Historizität der in der mythologischen Erzählung des Neuen Testaments geschilderten Ereignisse bedarf, kann er ihr größtmögliche Freiheit gewähren. Auf der anderen Seite bezahlt er dafür den Preis der weitgehenden inhaltlichen Unbestimmtheit der vom Menschen geforderten Entscheidung, und die Person Jesu verliert bis auf das historische Faktum der Kreuzigung weitgehend ihre Bedeutung.497

5. Katholische Bibelauslegung bis Mitte des 20. Jahrhunderts Im katholischen Bereich ist der gesamte Zeitraum zwischen ca. 1750 und ca. 1950 von dem wiederholten Bemühen der Fachexegeten gekennzeichnet, entgegen der ablehnenden Haltung der Amtskirche in ein positives Verhältnis zur modernen Bibelwissenschaft zu treten, eine Anstrengung, der erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts Erfolg beschieden war. Der erste Anlauf fand während der Aufklärung statt, als mit einer Phasenverschiebung von ein bis zwei Generationen gegenüber den Protestanten aufklärerisches Gedankengut auch in die katholische Theologie Eingang fand.498 Die Glaubenslehre blieb dabei meist unangetastet, angestrebt wurden vielmehr Reformen in Wissenschaft und Praxis.499 Zwischen etwa 1770 und der Mitte des 19. Jahrhunderts entstand auf diese Weise eine ebenso aufgeklärte wie kirchen- und dogmentreue katholische Exegese,500 bei der sich wie auf protestantischer Seite vor allem die Deutschen hervortaten.501 Wichtige Vertreter sind Johann Lorenz Isenbiehl (1744–1818), Johann Jahn (1750–1816), Johann Leonhard Hug (1765–1846), Peter Alois Gratz (1769–1849) und aus dem außerdeutschen Raum der schottische Priester Alexander Geddes (1737–1802).502 496 497 498 499 500 501 502

Vgl. Bultmann 1952, 223; Kümmel 1970, 479. Vgl. Schäfer 1980, 148. Vgl. Jung 2002, 31. Vgl. ebd., 48f. Vgl. Reiser 2007, 241. Vgl. Reuss 1860, 672. Zu Isenbiehl vgl. Jung 2002, 632–635. Zu Jahn vgl. Uecker 1990. Zu Hug vgl. Müller 1990. Zu Gratz vgl. Wolff 1998. Zu Geddes vgl. Fuller 1984. Weitere Namen nennen Meyer 1809, 755–757, und Reuss

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Sie sahen sich bei ihrem Tun nicht nur nicht im Widerspruch zu den Beschlüssen des Tridentinums (s. o. Kap. III.5.2), sondern hielten es auch für unbedenklich, wenn die historische Untersuchung einmal ergebe, dass eine Stelle nicht zur Begründung einer bestimmten Glaubenslehre herangezogen werden könne, weil damit ja nicht die betreffende Lehre widerlegt sei, sondern nur ihre Begründung mit dieser Bibelstelle ausgeschlossen werde und sich die Lehre im Zweifelsfall ohnehin nicht auf die Schrift, sondern auf die Tradition gründe.503 Auf dem Gebiet der Textkritik knüpften die Exegeten an die Bemühungen von Cappel bis Griesbach an, auf Basis des Handschriftenvergleichs einen möglichst reinen Urtext wiederherzustellen, den – nicht die Vulgata! – sie dann auch zur Grundlage neuer Übersetzungen in die Volkssprachen machten.504 In literarkritischer Hinsicht beteiligten sie sich mit eigenen Thesen an der bislang den Protestanten überlassenen Debatte über die Textgeschichte des Neuen Testaments (Hug) und die Lösung der synoptischen Frage (Hug, Gratz).505 In der Auslegung wurde nun vor allem nach dem historischen Sinn gesucht. So konnte Gratz die Apokalypse aus ihrer Entstehungszeit heraus als Trostschrift für die Christen in der damaligen Zeit der Verfolgung interpretieren und Jahn die Bücher Hiob, Jonas, Judith und Tobit als Lehrgedichte auffassen.506 Hinsichtlich Umfang und Verfasserschaft der biblischen Schriften kamen die Untersuchungen mal zu einer Bestätigung der traditionellen Ansichten (Hug), mal wurde die mosaische Verfasserschaft des Pentateuchs bestritten und stattdessen die Fragmentenhypothese vertreten, wonach der Pentateuch eine in nachmosaischer Zeit erfolgte Kompilation verschiedener unabhängiger Fragmente darstellt (Geddes).507 Geddes unterzog die Urgeschichte und die Geschichtserzählungen des Pentateuchs auch einer rationalistischen Mythenkritik, durch die er die historischen (natürlichen) von den mythischen (übernatürlichen) Bestandteilen schied, was vielfach auf rationalistische Wunderdeutungen hinauslief.508 Demgegenüber waren die Auslegungen in Deutschland meist antirationalistisch und hielten von einem supranaturalistischen Standpunkt aus an der Möglichkeit von Wundern fest.509

503 504 505 506 507 508 509

1860, 672–674. Vgl. auch die Ausführungen zu Sebastian Seemüller (1752–1798) und Sebastian Wagner (1753–1808) bei Schäfer 1993, 521f. So Gratz 1817 in einer Disputationsschrift Ueber die Grenzen der Freiheit, die einem Katholiken in Betreff der Erklärung der heiligen Schrift zusteht (vgl. Wolff 1998, 417–420). Vgl. Wolff 1997, 221f. Die wichtigsten Übersetzungen nennt Meyer 1809, 748–753. Vgl. Müller 1990, 56–61, 81–93; Wolff 1998, 425–430. Vgl. Uecker 1990, 1448; Wolff 1998, 434. Vgl. Fuller 1984, 34, 55–59; Müller 1990, 94–137. Vgl. Fuller 1984, 44–51, 116. Vgl. z. B. Müller 1990, 138–146, und Wolff 1998, 470.

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Die aufgeklärte Schriftauslegung stieß sogleich auf die Kritik der Traditionalisten, da „[d]ie philologisch-kritische Exegese […] eben eine energische Absage an die allegorische Bibelauslegung und ihre bequemen Harmonisierungsversuche [bedeutete]“510. Sie wurde als „Kind des Rationalismus und der Aufklärung […] mit allen Fehlern der Eltern“ angesehen, wobei insbesondere die kurze Halbwertszeit vieler ihrer Thesen sowie die antidogmatischen und antikirchlichen Motive, die ihnen im außerkirchlichen Raum häufig zugrunde lagen, für Skepsis sorgten.511 Der häufigste Vorwurf lautete, die Exegeten verstießen gegen die tridentinischen Beschlüsse, weil sie weder die Autorität der Vulgata noch die Kirchenväter achteten. Mit der letztgenannten Anschuldigung sah sich beispielsweise Isenbiehl in der bekanntesten Auseinandersetzung dieser Art, dem sogenannten Isenbiehl’schen Streit, konfrontiert.512 Es ging um seine zwar keineswegs neue, in der Tat aber bei den Kirchenvätern nur schwer auffindbare These, Jes. 7,14 sei weder im wörtlichen noch im typologischen Sinn eine auf Maria und Jesus zu beziehende messianische Weissagung und die Anführung dieses Jesajawortes bei Matthäus (Mt. 1,22f.) erfolge lediglich wegen der Ähnlichkeit der beiden heilsgeschichtlichen Ereignisse (jeweils bezeugt ein Engel die Echtheit seiner Verkündigung mit der Vorhersage eines zukünftigen Ereignisses). Wegen dieser Behauptung verlor Isenbiehl noch im selben Jahr (1774) seine Mainzer Professur und wurde, nachdem er seine These 1777 erneuert hatte, im Vikariatsgefängnis inhaftiert, aus dem er erst nach Unterzeichnung einer Widerrufserklärung zu Weihnachten 1779 wieder freikam. In der vorangegangenen Auseinandersetzung hatten sich mehrere theologische Fakultäten in ihren Gutachten gegen seine These ausgesprochen, war diese von Rom als „häretisch“ bewertet und sein Buch auf den Index gesetzt worden. Wie Isenbiehl erging es den meisten aufgeklärten Exegeten: Geddes wurde 1793 von seinem Bischof suspendiert, Jahn 1806 von seiner Professur entfernt, indem man ihn zum Kanoniker am Wiener Stephansdom berief, Gratz musste 1823 seine Lehrtätigkeit in Bonn einstellen (er wechselte nach längerem Hin und Her als Geistlicher Rat und Schulrat nach Trier).513 Lediglich Hug war es gelungen, nicht nur seine Freiburger Professur zu behalten, sondern dort auch erst Domkapitular (1827), später Domdekan (1843) zu werden. Neben seiner kirchentreuen Grundhaltung dürfte dazu auch das gegenüber anderen deutschen Staaten liberalere badische Klima beigetragen haben.514 510 Hegel 1975, 27. 511 Vgl. Reiser 2007, 245f. (Zitat ebd.). 512 Vgl. Reichert 1973, 293f. Zur Auseinandersetzung vgl. ferner Jung 2002, 624–662; Reiser 2007, 277– 230. 513 Weitere Theologen anderer Fachrichtungen, die ebenfalls ihre Stellen verloren, nennt Hegel 1975, 30. 514 Vgl. Wolff 1997, 224.

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Aufs Ganze gesehen, setzte sich im Katholizismus seit der Französischen Revolution jedoch immer mehr eine der Aufklärungstheologie feindselige Haltung durch, die im Zuge der Ultramontanisierung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts für das baldige Ende dieser Strömung sorgte. Wie die kirchlichen Verlautbarungen in der zweiten Jahrhunderthälfte zeigen, richtete sich die kirchliche Ablehnung der historisch-kritischen Exegese weniger gegen einzelne ihrer Methoden als vielmehr gegen das hinter ihr stehende innerweltlichevolutionistische Weltbild, welches als Rationalismus oder Naturalismus gegeißelt und verworfen wurde.515 Stattdessen bestand die Kirche auf der Anerkennung des supranaturalen Elements und mahnte auch für die Exegese die Orientierung an den statischunhistorischen Kategorien der sich seit der Jahrhundertmitte weithin durchsetzenden neuscholastischen Theologie an.516 Wo immer es aus dogmatischen Erwägungen erforderlich schien, wurden die Ergebnisse der liberalen Kritik, wonach viele biblische Berichte, auch zentrale, als mythisch und damit unhistorisch anzusehen seien, unter Berufung auf die analogia fidei zurückgewiesen. Irrtumslosigkeit und Historizität der Schrift wurden gleichgesetzt, weswegen beispielsweise die Evangelien als Augenzeugenberichte verteidigt wurden. Hinsichtlich der exegetischen Techniken indes war man bereit, eine relative Freiheit zuzugestehen. Ausschlaggebend war die Regelung ihrer rechten Anwendung, und hierüber beanspruchte die Kirche für sich das Entscheidungsrecht. Diese Haltung gegenüber der liberalen Exegese zieht sich durch alle relevanten offiziellen Stellungnahmen der Kirche. Schon der Syllabus Papst Pius’ IX. (1846–1878) aus dem Jahr 1864 verwarf die Ansichten, dass Gott weder an Mensch noch Welt handle (Satz 2), dass die menschliche Vernunft Quelle und Richtschnur aller Wahrheitserkenntnis sei (Satz 4), dass die biblischen Prophetien und Wunderberichte poetische Fiktionen seien (Satz 7), dass die Bibel mythische Erfindungen enthalte (Satz 7) oder dass die scholastische Methodik nicht mehr zeitgemäß sei (Satz 13).517 Sechs Jahre später wiederholte das I. Vatikanische Konzil (1869–1870) in der dogmatischen Konstitution Dei Filius (24. April 1870) bestätigend die Aussagen des Tridentinums zum Kanon, zur Vulgata und zur Auslegung, wobei die negative tridentinische Formulierung der kirchlichen Deutungshoheit nun positiv gewendet wurde, dass also „jener als der wahre Sinn der heiligen Schrift anzusehen [ist], den die heilige Mutter Kirche festgehalten hat und festhält“518. Ferner betonte das Konzil die gött515 516 517 518

Vgl. hierzu und zum Folgenden Theobald 1996, 489–514, bes. 490, 493, 496–498, 501f. Vgl. Leinsle 1999, 365; Reventlow 1999, 16. Vgl. DH 2902, 2904, 2907, 2913. DH 3007. Vgl. hierzu insbes. Brandmüller 1987, 57–61; außerdem: Mußner 1970, 23; Schäfer 1980, 143.

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liche Urheberschaft und Inspiriertheit der kanonischen Bücher mit allen ihren Teilen und wies auf die Unmöglichkeit eines Widerspruchs zwischen Glauben und Vernunft hin, da beide auf Gott als denselben Ursprung zurückgingen, weshalb wissenschaftliche Erkenntnisse niemals kirchlichen Glaubenslehren widersprechen könnten und andersartige Äußerungen als falsch abzulehnen seien.519 Dieser Auffassung schloss sich die Enzyklika Providentissimus Deus (1893) Papst Leos XIII. (1878–1903) an.520 Sie lehnte darüber hinaus explizit die Methode der Literarkritik als subjektivistisch ab, weil sie nur textinterne Kriterien berücksichtige, die Kritik sich aber auf äußere Geschichtszeugnisse stützen müsse und innere Gründe nur verstärkend hinzugenommen werden könnten.521 Ansonsten gewährte sie den Exegeten bei der philologischen und historischen Arbeit am Text weitgehende Freiheit, ja forderte sie eigens zum Studium der Bibel im Urtext und zum Erwerb der entsprechenden Sprachkenntnisse auf.522 Für die theologische Deutung blieben allerdings die alten Autoritäten in Kraft, wobei die analogia fidei als höchste Auslegungsnorm für alle nicht von der Kirche in ihrem Sinn bestimmten Stellen in Erinnerung gebracht wurde.523 Trotz der teilweise anregenden Wirkung dieser Enzyklika auf die Exegese – der Jesuit Franz von Hummelauer (1842–1914) etwa machte sich an die Untersuchung der literarischen Gattungen der Bibel – dominierte in der Folgezeit ihr disziplinierender Aspekt.524 Im Zeichen des besonders von Pius X. (1903–1914) forcierten Kampfes gegen den Modernismus, in welchem sich der Streit um das richtige Weltbild fortsetzte, wurden alle weiter gehenden Öffnungsversuche verhindert.525 1902 wurde eigens 519 Vgl. DH 3006, 3009, 3017–3020, 3034, 3043. 520 Vgl. EB 81–134; DH 3280–3294. Vgl. hierzu Mußner 1970, 24f.; Schäfer 1980, 143; Theobald 1996, 499–502. 521 Vgl. EB 116–119. 522 Vgl. EB 106f., 118. 523 Vgl. EB 108f., 112f., 116, 119. 524 Vgl. Mußner 1970, 25; Lang 1994, 162f. 525 Vgl. Karpp 1980, 89. Zum Begriff des Modernismus vgl. Weiß 1998, 367f. In dieser Auseinandersetzung verwarf 1907 erst das Dekret des Hl. Offiziums Lamentabili 65 Sätze, die Prinzipien und Ergebnisse liberaler und rationalistischer Exegese wiedergaben, dann stellte die Enzyklika Papst Pius‘ X. Pascendi dominici gregis den Modernismus als ein zusammenhängendes antireligiöses Gedankensystem dar, das durch „Agnostizismus“ (die Reichweite der menschlichen Vernunft ist auf die Erscheinungswelt begrenzt) und „vitale Immanenz“ (die Erklärung des Phänomens Religion ist in der menschlichen Erfahrung zu finden) gekennzeichnet sei und daher natürlicherweise zu einer historisch-kritischen Sichtweise führe, ehe dann drei Jahre später das Motu Proprio Sacrorum Antistitum alle Lehrer an katholischen Seminaren und Hochschulen sowie alle Priesteramtskandidaten zur Leistung des Antimodernisteneids verpflichtete, mit welchem der Eidleistende die kirchlichen Auslegungsregeln sowie die in Lamentabili und Pascendi dominici gregis ausgesprochenen Verwerfungen ausdrücklich anerkannte (vgl. Schäfer 1980, 143f.; Reardon 1994, 130f.).

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die Päpstliche Bibelkommission gegründet, um fortan über exegetische Fragen zu entscheiden, und zwischen 1905 und 1915 erschienen 14 Stellungnahmen (responsa), in denen die Kommission „nahezu alle Neudeutungen der kritischen Exegese […] ausdrücklich verwirft“526 und stattdessen das traditionelle, auf Integrität, Authentizität und Historizität der Bibel vertrauende Bibelverständnis verteidigt.527 Neben die Bibelkommission trat 1909 ferner das unter jesuitischer Führung stehende Päpstliche Bibelinstitut, das der Ausbildung konservativ gesinnter Bibelwissenschaftler dienen sollte, eine Linie, die sein erster Rektor, Leopold Fonck (1865–1930), treu befolgte.528 Anlass zu diesen ganzen Absicherungsmaßnahmen hatten Bestrebungen vor allem in Frankreich gegeben, der historischen Kritik auch in der katholischen Exegese größeres Gewicht zu verleihen.529 Geahndet wurde dies wie schon zur Zeit der Aufklärung mit Indizierung, Amtsenthebung und Verketzerung. Prominente Betroffene waren Ernest Renan (1823–1892), dessen Leben Jesu (1863) noch im Jahr seines Erscheinens auf den Index kam und der auf Drängen der Kirche seine Professur am Collège de France verlor,530 und Alfred Loisy (1857–1940), die Zentralfigur des Modernismus. Loisy wurde erst indiziert (1903), dann aber auch exkommuniziert (1908), nachdem ihn seine historisch-kritische Bibelauslegung zu der Überzeugung geführt hatte, dass die neuscholastischen Prinzipien der katholischen Apologetik – 1. die wesentlichen religiösen Ideen sind seit jeher unverändert; 2. die alttestamentlichen Prophetien beziehen sich auf Jesus und die Kirche; 3. Jesus selbst hat die Kirche mit ihrer Hierarchie, ihren Dogmen und ihrem Kultus gestiftet – nicht haltbar sind.531 Ein weiterer Fall ist François Lenormant (1837–1883), dessen Abhandlung Les origines de l’histoire d’après la Bible et les traditions des peuples orientaux (3 Bde., 1880–1882) 1887 indiziert wurde, da er darin den biblischen Schöpfungsbericht mit den Erkenntnissen der Naturwissenschaft in Einklang zu bringen versucht hatte, indem er die Inspiration auf die res fidei et morum einschränkte und die biblische Urgeschichte sodann als völlig unhistorisch charakterisierte.532 Marie Joseph Lagrange (1855–1938) schließlich, der Gründer der Jerusalemer École biblique (1890), war, obwohl er eine moderatere Konzeption als Loisy vertrat, ebenfalls in den Verdacht des Modernismus geraten und gemaßregelt, jedoch nicht ausge526 527 528 529 530 531

Lang 1994, 163. Vgl. DH 3394–3400; 3505–3509; 3512–3519; 3561–3578; 3587–3593. Vgl. Lang 1994, 163. Vgl. Seidel 1993, 47f. – Zum ganzen Folgenden vgl. auch ebd., 51–172. Vgl. Reiser 2007, 246. Vgl. Neuner 1991; Theobald 1996, 503f. Zur Vorgeschichte der römischen Verurteilung Loisys vgl. Arnold/Losito 2009 und Arnold/Losito 2011. 532 Vgl. Kraus 1982, 379.

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schlossen worden.533 Denn auch wenn historische Kritik für ihn zur Bibelauslegung mit dazu gehörte, hielt er anders als Loisy die Berufung der Kirche auf die Schrift für durchaus vertretbar, da er die Evangelien als in den Grundlinien historisch verlässlich ansah. Auch erachtete er gegenüber dem historischen Evolutionsdenken die kirchliche Tradition für den objektiveren Ansatz zur Bibelauslegung und mahnte allgemein die Unterscheidung zwischen dem kirchlich-dogmatisch definierten Gehalt eines Bibeltextes und den nur auf Wahrscheinlichkeit gegründeten Meinungen einzelner Exegeten an.534 Über die École biblique half Lagrange aber mit, die historisch-kritische Forschung langfristig in der katholischen Exegese zu beheimaten. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war diese jedoch von einem starken und „reaktionären Konservativismus“ (Fitzmyer) geprägt, der etwa in den responsa der Bibelkommission zum Ausdruck kam, die sich, da sie nie förmlich aufgehoben wurden, noch lange hemmend auf die katholische Exegese auswirkten.535 In dieselbe Zeit fallen aber auch Ansätze der Zuwendung zur modernen Bibelwissenschaft, so einige wichtige bibelwissenschaftliche Zeitschriften und Reihenwerke.536 Aufs Ganze gesehen, steuerte die Debatte über die kirchliche oder profane Verfügungsgewalt über die Bibel auf verschiedenen Ebenen schrittweise auf ein neues Gleichgewicht zu, wobei es hermeneutisch weiterhin vor allem um das der Auslegung zugrunde zu legende Weltbild ging, während in theologischer Hinsicht die Frage im Mittelpunkt stand, wie sich dogmatische Regulierung des Schriftsinns durch die Kirche mit den verschiedenen möglichen Interpretationen eines Textes verbinden lässt.537 Auf diesem Weg stellte die Enzyklika Spiritus Paraclitus von Papst Benedikt XV. (1914–1922) aus dem Jahr 1920 zunächst „eher einen Rückschritt als einen Fortschritt“538 dar. In der Inspirationsfrage eigentümlich schwankend zwischen dem Gedanken einer Arbeitsgemeinschaft von Gott und menschlichem Schriftsteller und der traditionellen instrumentellen Sicht, tritt sie für ein Verständnis von Providentissimus Deus ein, wonach die Schrift auch in ihren historischen Teilen als absolut wahr anzusehen und zu verteidigen ist.539 In der Konsequenz wird auch die Annahme literarischer Gattungen in der Bibel als nicht vollständig mit der Wahrheit des göttlichen 533 Vgl. Diebner/Rogerson 1980, 354; Lang 1994, 161. Zu den von der École biblique vertretenen Grundsätzen der Exegese vgl. Kraus 1982, 293. 534 Vgl. Theobald 1996, 504f. 535 Vgl. Klauck 1999, 46f. 536 Vgl. Kertelge 1995, 1098. 537 Vgl. Theobald 1996, 513f. Zum ganzen Zeitraum zwischen Erstem Weltkrieg und II. Vatikanischem Konzil vgl. auch Seidel 1993, 173–333. 538 Mußner 1970, 25. 539 Vgl. EB 448, 452–460. Vgl. dazu Klauck 1999, 48; Reventlow 1999, 20.

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Wortes vereinbar zurückgewiesen.540 In der Bibelauslegung wird zwischen geistlicher Lektüre, exegetischer Untersuchung (zu dogmatischen und apologetischen Zwecken) und Verkündigung unterschieden, wobei der Exegese vor allem die Grundlegung der weiteren (theologischen) Auslegung durch die Erhebung des Literalsinns zugewiesen wird.541 Vom Wortsinn gelöste mystische Interpretationen werden ebenso abgelehnt wie übermäßig allegorische Deutungen, deren grundsätzliche Berechtigung hingegen verteidigt wird.542 Allen Christen, vor allem dem Klerus, wird intensives Bibelstudium anempfohlen.543 Die Enzyklika reiht sich damit ein in die fortgesetzte päpstliche Anregung zum Bibelstudium, die zusammen mit der liturgischen Bewegung und der Katholischen Aktion nach dem Ersten Weltkrieg zu einer Bibelbewegung führte und sich ferner in der kritischen Edition des AT-Textes der Vulgata (1926ff.) – dies eine wesentliche Vorarbeit für die Nova Vulgata von 1979 (s. o. Kap. III.5.2) – und einer amtlichen Neuübersetzung der Psalmen (1945) niederschlug.544 Parallel dazu sorgte Augustin Bea (1881– 1968) als Rektor des Päpstlichen Bibelinstituts seit 1930 für die allmähliche Übernahme der neueren Forschungsergebnisse und kritischen Arbeitsweisen und erreichte „bald schon eine Änderung des kirchlichen Klimas“ – die Kirche trat ein in die etwa von 1935 bis 1965 dauernde „Phase der Rezeption“ der historisch-kritischen Exegese.545 Als der entscheidende Schritt hin zur offiziellen Anerkennung und Aufnahme der historisch-kritischen Exegese durch die Kirche wird allgemein die Enzyklika Divino afflante Spiritu (1943) Papst Pius’ XII. (1939–1958) angesehen.546 Anders als Providentissimus Deus war sie weniger gegen den Rationalismus gerichtet als gegen die jede wissenschaftliche Auslegung ablehnende „spirituelle“ oder „mystische“ Interpretation, die zwei Jahre zuvor in einer populären anonymen Schrift in Italien gefordert worden war.547 Gegenüber dieser Position stellte die Enzyklika unter Beibehaltung aller früheren kirchlichen Aussagen zur Bibelauslegung die Berechtigung der historisch-kritischen, insbesondere der gattungskritischen Untersuchung heraus.548 Auf der Grundlage von Sprachkenntnissen und auf die Urtexte zurückgehender Textkritik – die autoritative Stellung der Vulgata, die das Tridentinum vorsah, wird ausdrücklich auf 540 541 542 543 544 545 546 547 548

Vgl. EB 461. Vgl. dazu Mußner 1970, 25. Vgl. hierzu Theobald 1996, 512f. Vgl. EB 485–491. Vgl. EB 475–477 et passim. Vgl. Karpp 1980, 89f. Vgl. Lang 1994, 164 (Zitate ebd. [dort teilw. kursiv]). Vgl. etwa Kertelge 1993, 62. Vgl. PBK 1993, 9. Vgl. EB 547–561.

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den offiziellen Gebrauch der Bibel in der Kirche eingeschränkt – weist sie der Exegese die Bestimmung des Literalsinns als vordringliche Aufgabe zu. Dabei hält sie es nun zusätzlich zur traditionellen grammatisch-rhetorischen Untersuchung für notwendig, die Charakteristika sowohl des biblischen Schriftstellers (Lebensumstände, mündliche und schriftliche Quellen, verwendete Redeformen) als auch der literarischen Gepflogenheiten seiner Zeit und Gegend zu ermitteln, wofür Geschichte, Literaturgeschichte, Archäologie, Ethnologie etc. als Hilfswissenschaften dienen sollen. Vor dem so geklärten zeitgenössischen Hintergrund kann der Literalsinn dann in Form der hinter den jeweiligen literarischen Gattungen stehenden Autorintention bestimmt werden. Letztes Ziel der Auslegung bleibt aber weiterhin die Erhebung des theologischen Lehrgehalts in Glaubens- und Sittenfragen, wofür wie bisher Lehramt, Tradition (Kirchenväter) und analogia fidei maßgeblich sein sollen. Wo ausreichend sicher erkennbar sei, dass Gott an einer Stelle auch einen geistlichen, sprich: allegorischen Sinn gewollt habe, solle die Exegese auch diesen aufzeigen. Orientierung böten hier die Aussagen Jesu, der Apostel, der Tradition sowie der liturgische Gebrauch. Weiter gehende übertragene Bedeutungen der Schrift mögen in der Verkündigung zur Erläuterung der Glaubens- und Sittenlehren ihren Raum haben, für die Bibelauslegung werden sie aber ebenso abgelehnt wie die erwähnten spirituellen oder mystischen Deutungen. Hermeneutisch bedeutsam ist an dieser Enzyklika zum einen die Klärung des Inspirationsbegriffs im Sinne einer erkennbaren Mitwirkung des menschlichen Schriftstellers, die eine rein instrumentelle Sicht ausschließt und Raum für eine der jeweiligen Zeit und Kultur entsprechende Redeweise der biblischen Texte lässt.549 Erst diese Klärung eröffnete den Raum für die umfassende historisch-kritische Arbeit an der Bibel.550 Zum anderen ist die Identifizierung des Literalsinns mit der Aussageabsicht des menschlichen Schriftstellers von Bedeutung.551 Dadurch fand nicht nur eine Verschiebung gegenüber der thomistischen Auffassung statt, dass der Literalsinn hauptsächlich die Aussageintention Gottes als des eigentlichen Autors der Schrift beinhalte. Auch wurde der geistliche Sinn nicht mehr wie noch bei Thomas explizit an den Literalsinn als sein Fundament gebunden, sondern nur mehr auf die Aussagen Jesu, der Apostel, der Tradition und der Liturgie verwiesen. Entscheidend aber ist, dass die Erforschung des Literalsinns fortan nicht mehr ohne die Beachtung der literarischen Gattungen geschehen konnte. Denn durch die Rückbindung des Literalsinns an die Intention des Autors kam der Text in seiner literarischen Gestalt zwischen dem Exegeten und der aufzufindenden Autorintention 549 Vgl. EB 556, 559. 550 Vgl. Mußner 1970, 26. 551 Vgl. hierzu und zum Folgenden Beaude 1996, 515f.

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zu liegen, und die Kritik musste nun erweisen, welchen Sinn der Autor durch die Verwendung der jeweiligen Textgattung hatte ausdrücken wollen. Weil damit das Problemfeld von Sprache und Sprachlichkeit in den Blick kam, ist in der Freigabe des Studiums der Gattungen der „eigentliche Fortschritt“ der Enzyklika erblickt worden.552 Das Feld für die freie Arbeit der Exegeten kennzeichnet die Enzyklika als ein weites, da nur wenige Stellen durch Lehramt oder Väterkonsens in ihrem Sinn festgelegt seien.553 Allerdings bleibt es beim Festhalten an den Aussagen zur Irrtumslosigkeit der Schrift und dem grundsätzlich apologetischen Ziel aller katholischen Exegese.554 Mit Blick auch auf das oben Dargelegte lässt sich die Position von Divino afflante Spiritu daher als „stärkere Öffnung gegenüber modernen exegetischen Methoden bei grundsätzlichem Verharren in der traditionellen h[ermeneutisch]en Position“555 charakterisieren. Indem sie Kritik am Neuen zurückweist, die sich allein an dessen Neuheit stößt,556 stärkt die Enzyklika den Exegeten den Rücken. Sie wurde daher vor allem als Ermutigung zu wissenschaftlicher Bibelauslegung verstanden und führte noch vor dem Zweiten Vatikanum zu einer „spürbaren Belebung der Exegese“557. Schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden erste Arbeiten, die sich „um eine Vermittlung v[on] historisch-krit[ischer] Arbeit u[nd] theologisch reflektierter Verkündigung wie auch um eine differenzierte Sicht der bibl[ischen] Geschichtsüberlieferung“558 bemühten. Beobachten lässt sich das etwa in der Biblischen Zeitschrift, dem maßgeblichen Organ der deutschen Exegese. Hier wich die konservative bis moderat kritische Position, die in der ersten Folge (1903–1939) vorherrschte, in der neuen Folge (seit 1957) einer sich ganz auf der Höhe der Zeit befindlichen, weniger romzentrierten Haltung, die die alten responsa der Bibelkommission als überholt betrachtete.559 Anders als zur Zeit vor Pius XII., als die Exegeten vor allem damit beschäftigt waren, die Direktiven der Bibelkommission auf den noch vorhandenen Bewegungsspielraum hin auszuloten, um dann in diesen Grenzen kritisch zu arbeiten oder – sofern sie nicht von sich aus eine ganz konservative und apologetische Auslegung pflegten – sich ruhig zu verhalten und auf eine Hilfswissenschaft zu spezialisieren,560 wandten sie sich nun offen der modernen Methodik zu. 552 553 554 555 556 557 558 559 560

Vgl. Mußner 1970, 26 (Zitat ebd.). Vgl. EB 565. Vgl. EB 538–540, 560, 564. Ebeling 1959, 256. Vgl. EB 564. Reventlow 1999, 21. Kertelge 1995, 1099. Vgl. Klauck 1999, 54–69. Vgl. Reventlow 1999, 21–27.

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Aus Rom erfuhr dieser Prozess Unterstützung.561 So befand die Bibelkommission 1948 in einem Schreiben an den Erzbischof von Paris, es sei davon auszugehen, dass Moses Quellen verwendet habe und die Texte – auch die historischen – später Zusätze erfahren haben, wenngleich hier eine Klärung im Detail noch ausstehe.562 Umgekehrt müsse die Erforschung der literarischen Gattungen zeigen, in welchem Umfang am historischen Charakter der ersten elf Kapitel der Genesis festgehalten werden könne. 1964 äußerte sich die Bibelkommission in der von Papst Paul VI. autorisierten Instruktion über die historische Wahrheit der Evangelien dann auch zur Auslegung des Neuen Testaments.563 Den hermeneutischen Standpunkt von Divino afflante Spiritu aufgreifend, fordert die Instruktion die Exegeten „unter Beachtung der Regeln der wissenschaftlichen und katholischen Hermeneutik“564 zum Gebrauch der historischkritischen Methode, zur Beachtung der literarischen Gattungen und – dies erstmals namentlich in einem offiziellen Dokument der Kirche – zur Verwendung der formgeschichtlichen Methode auf. Nachdem für diese einmal mehr die Unzulässigkeit ihrer Verwendung unter rationalistischen philosophischen Vorzeichen eingeschärft wurde, werden einige ihrer Ergebnisse in Form der Feststellung dreier Überlieferungsphasen für die Evangelientradition anerkannt und den Exegeten zur Beachtung eingeschärft: Die erste Phase bildet demnach die ursprüngliche Verkündigung Jesu, die zweite die vom Glauben an den Auferstandenen geprägte Verkündigung der Apostel und die dritte die Niederschrift der Urkatechese durch die Evangelisten, welche unterschiedliche Ziele verfolgten und dementsprechend „einzelne Stücke aus der Fülle des Überlieferungsstoffes auswählten, andere zusammenfassten, wieder andere im Blick auf die Lage der Kirchen interpretierten“565. Entgegen fundamentalistischen Bestrebungen in der katholischen Kirche jener Zeit, die ein wörtliches Bibelverständnis verbindlich machen wollten, erteilte die Instruktion damit „vielen neuen Tendenzen der Bibelwissenschaft ihre offizielle Sanktion“566. Zur selben Zeit fanden vor allem in Frankreich Versuche statt, unter Rückgriff auf die Kirchenväter eine wieder stärker allegorische Exegese zu etablieren. Hauptvertreter dieser als Nouvelle théologie bezeichneten Richtung waren die Jesuiten Jean Daniélou (1905–1974) und Henri de Lubac (1896–1991). Während Daniélou eine christologischtypologische Deutung des Alten Testaments propagierte, neigte de Lubac stärker einer 561 562 563 564 565 566

Vgl. Lang 1994, 165–167; Klauck 1999, 51. Vgl. DH 3862–3864. Vgl. Fitzmyer 1966, 36/37–52/53. Vgl. ferner Mußner 1970, 27f.; Klauck 1999, 52. Fitzmyer 1966, 38/39. Ebd., 44/45. Ebd., 30.

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tropologisch-moralischen Auslegung zu.567 In einem gewissen Zusammenhang damit steht auch die schon ältere Diskussion um den sogenannten „Vollsinn“ (sensus plenior) der Schrift, eine Konzeption, die dem Literalsinn seine vormoderne, vor allem die Aussageabsicht des göttlichen, weniger des menschlichen Autors umfassende Bedeutungsfülle zurückgeben wollte.568 Die theologische Deutung sollte dadurch als der grammatisch-historischen nicht entgegengesetzt, sondern diese auf einer tieferen Ebene ergänzend herausgestellt werden. Insbesondere für die christologische Deutung des Alten Testaments wurde daher ein vom göttlichen Autor in den Literalsinn gelegter tieferer Sinn postuliert, den der Hagiograph in der Regel gar nicht bewusst wahrgenommen habe. Damit schrieb das sensus-plenior-Konzept die Gewinnung weiterer Sinne neben dem wörtlichen dem göttlichen Autor zu, was nach postmoderner Literaturtheorie als Kontextualisierungsleistung des Lesers anzusehen ist.

6. Die Entwicklung in der Postmoderne Unter Postmoderne569 wird hier die seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts verstärkt hervortretende kritische Auseinandersetzung mit der Moderne verstanden. Als wesentliches Merkmal der Postmoderne gilt, dass sie in Form einer „Selbstreflexion der Moderne“570 das in dieser selbst angelegte Differenzierungspotenzial entschieden bejaht und so das ehedem vorherrschende Einheits- und Ganzheitsdenken zugunsten einer von Pluralität und „Widerstreit“ (Jean-François Lyotard [1924–1998]) bestimmten Weltsicht aufbricht.571 Die Geschichte zerfällt der Postmoderne zu einzelnen Geschichten, die durch keine Metaerzählung mehr zusammengehalten werden, und die Idee einer universalen Wahrheit zersplittert ihr in eine Vielzahl zeitbedingter Wahrheiten – aus dem geordneten Vor- und Nacheinander wird ein beziehungsloses und unhierarchisches Nebeneinander. In der Bibelauslegung haben sich diese Vorstellungen in Form einer Pluralisierung der Methoden und Textsinne sowie der Entobjektivierung der Wahrheit niedergeschlagen.572 Statt mit einer maßgeblichen Methode (wie der historisch-kritischen in der Moderne oder der dogmatischen im vorangehenden Zeitraum) wird der Bibeltext nun mit ganz unterschiedlichen Methoden und Zugangsweisen untersucht, was 567 Vgl. Seidel 1993, 277–288; Reventlow 1999, 35. 568 Vgl. hierzu Beaude 1996, 522–526. S. auch Seidel 1993, 288–294. 569 Zum Begriff und seiner Verwendung sowie zur philosophischen und theologischen PostmoderneDiskussion vgl. Kunstmann 1997, 13–17, 24–85, 162–229. 570 Ebd., 15 (dort teilw. kursiv), passim. 571 Vgl. Welsch 1999. 572 Vgl. Oeming 2007, 29f.

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zu einer großen Vielfalt der Ergebnisse und damit der proklamierten Textsinne bzw. -bedeutungen führt, die dann weitgehend unvermittelt nebeneinander stehen. Eine Harmonisierung verhindert nicht zuletzt der Verlust der regulativen Idee einer einzigen, objektiven Wahrheit. Das postmoderne Denken verlegt Wahrheit zunehmend ins Subjekt, das aufgrund seiner je unterschiedlichen geschichtlichen Situation zu ganz individuellen Wahrheiten gelangen kann, ja muss. Diese Entwicklung der Bibelwissenschaft beruht auf hermeneutischen Überlegungen, die aus Philosophie und Literaturwissenschaft übernommen wurden.573 Dort war man zu der Einsicht gelangt, dass Verstehen grundsätzlich kontextuell bedingt ist, dass also die historische und geographische Situation des Auslegers den Rahmen für sein Textverständnis vorgibt, indem die in seinem jeweiligen Kulturraum herrschenden Vorstellungen sein Vorverständnis prägen und sein gesellschaftliches Umfeld Auswirkungen auf die Fragestellung hat (Hans-Georg Gadamer). Die Verstehensbewegung wurde als prinzipiell unabschließbar erkannt, und die Wahrheiten, die ein Text liefern kann, als dementsprechend vielfältig. Texte, so zeigte sich, haben nicht nur einen einzigen Sinn (auf Textebene) und auch nicht nur eine einzige Bedeutung (für den jeweiligen Rezipienten), sondern sind grundsätzlich vieldeutig (polysem). Hierauf machte mit Nachdruck der Dekonstruktivismus (Jacques Derrida) aufmerksam, der Verständnis vor allem als Leistung des Lesers herausstellte, wohingegen er im Text keinen feststehenden Sinn mehr erkennen konnte. Demgegenüber stellte die auf Ferdinand de Saussure (1857–1913) zurückgehende strukturalistische Richtung den Text ins Zentrum der Aufmerksamkeit, dessen Verständnis sie sich allein von der Analyse seines Aufbaus und seiner Linienführung versprach. Quasi eine Mittelstellung nehmen die Rezeptionsästhetik und ihr nahestehende Autoren wie Umberto Eco oder auch Paul Ricœur ein. Einerseits messen sie dem Leser und seiner Herangehensweise an den Text (intentio lectoris) einen gewichtigen Anteil am Verstehensprozess bei, denn letztlich entscheidet sich auf Leserseite, wie ein Text verstanden wird. Andererseits behaupten sie eine dem Werk als Text innewohnende intentio operis als regulative Idee der Auslegung, als Korrektiv, das die Auslegung vor Beliebigkeit schützt. Die intentio operis ist von der Autorintention (intentio auctoris) unterschieden. Nach der Niederschrift, mit dem „Tod des Autors“ (Roland Barthes), ist der Text als selbständiges Ganzes in die Autonomie entlassen, und was er besagt, wird fortan nur noch je neu zwischen Text (intentio operis) und Leser (intentio lectoris) entschieden. 573 Zu diesen vgl. insbes. die Beiträge „Philosophie“ (bes. Kapp. IV.5 u. IV.6) und „Dichtung“ (bes. Kap. IV.4) in diesem Band. – Zum Folgenden vgl. ferner die entsprechenden Passagen bei Körtner 1998; Jeanrond 2000; Körtner 2006; Oeming 2007; Körtner 2010.

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In der hier vollzogenen Hinwendung zum Leser kann die wesentliche hermeneutische Neuerung der Postmoderne erblickt werden.574 Sie ist eng verknüpft mit der Konzentration auf den Text. Im Unterschied zu früheren Epochen sucht die Postmoderne den Sinn der biblischen Texte nicht mehr vorwiegend in einem Denksystem vor bzw. über den Texten (wie die dogmatische Bibelauslegung in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit) oder in der hinter bzw. unter den Texten liegenden Sache (wie die historisch-kritische Auslegung der Moderne), sondern in den Texten selbst.575 Weil die alten Zugänge damit aber nicht erledigt sind, sondern wie bisher weiter angewandt werden, sieht sich die Exegese vor die hermeneutische Aufgabe gestellt, die verschiedenen Methoden und Zugänge in ihrem gegenseitigen Verhältnis zu bestimmen und in eine hermeneutische Gesamtkonstruktion einzuordnen. Deshalb werden im Folgenden auch Strömungen wie die Wirkungsgeschichte oder der New Criticism dargestellt, die nicht im engeren Sinn zur Postmoderne zählen. Diese Aufgabe ist bis heute nicht abschließend gelöst.576 Die hermeneutische Reflexion darüber findet jedoch in großer Intensität statt. Ehe aber die dort diskutierten Modelle vorgestellt werden (Kap. IV.6.2), sind zunächst die gängigsten Methoden und Zugänge postmoderner Exegese kurz darzustellen (Kap. IV.6.2).

6.1 Bibelhermeneutische Methoden und Zugänge577 Die Übersicht folgt dem von Manfred Oeming (*1955) gewählten Schema und ordnet die Methoden und Zugänge danach, welchem Pol des Verstehensvorgangs sie sich besonders zuwenden: dem Autor, dem Text, dem Leser oder der Sache (nebst den zugehörigen Welten).578 Zum besseren Verständnis wird ferner, wo angebracht, zwischen „Sinn“ als Ebenen des Textes und „Bedeutung“ als Ebenen des Verständnisses auf Leserseite unterschieden. An den Autoren und ihren Welten orientiert ist insbesondere die historisch-kritische Methode mit all ihren in der Moderne ausgebildeten Einzelschritten (Textkri574 Vgl. Oeming 2007, 27, 91. 575 Vgl. Roth 2010, 268f. 576 S. hierzu etwa die Beiträge in Becker 2003. Vgl. Weder 1998, 1537. Vgl. auch Klinger 2003, 319: „Die Konturen einer theologischen Hermeneutik, die der Textualität und Kontextualität der biblischen Texte gleichermaßen gerecht wird und synchronische und diachronische Fragestellungen miteinander vermittelt, beginnen sich abzuzeichnen. Eine ausgearbeitete Methodik für diese integrative Hermeneutik steht aber noch nicht zur Verfügung.“ 577 Als Methode wird bezeichnet, was unterschiedslos auf alle biblischen Texte anwendbar ist, als Zugang, was nur bei ausgewählten Stellen sinnvoll ist (vgl. Dohmen 1992, 57f.). 578 Vgl. Oeming 2007, bes. 5f. – Zum Folgenden vgl. ebd., 31–174. Die hermeneutischen Implikationen und Problemstellungen beleuchtet Körtner 2006, 85–105.

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tik, Literarkritik, Überlieferungsgeschichte, Redaktionsgeschichte, Formgeschichte, Traditionsgeschichte, Begriffsexegese, Bestimmung des historischen Ortes unter Verwendung archäologischer, religions- und sonstiger geschichtlicher Erkenntnisse, abschließende Gesamtinterpretation).579 Trotz der vor allem in Nordamerika wegen der theologischen Dürftigkeit ihrer Ergebnisse vermehrt an ihr geübten Kritik ist sie im europäischen bzw. deutschsprachigen Raum nach wie vor die vorherrschende Methode.580 Ergänzend traten in der Postmoderne die sozialgeschichtliche Exegese, die historische Psychologie und die Neue Archäologie hinzu. Die einem marxistischmaterialistischen Denkansatz folgende sozialgeschichtliche Exegese wendet soziologische und wirtschaftsgeschichtliche Fragestellungen wie die nach der Sozialstruktur der zeitgenössischen Gesellschaft, nach wirtschaftlichen Institutionen und Prozessen usw. auf die Bibel an. Sie fragt dabei auch ideologiekritisch nach den politischen und wirtschaftlichen Interessen, die die Autoren als Vertreter bestimmter gesellschaftlicher Schichten mit ihren Texten (auch) verfolgt haben. Die historische Psychologie weiß sich der Psychoanalyse Sigmund Freuds (1856–1939) verpflichtet und untersucht die Bibel mit den in der psychoanalytisch orientierten Literaturwissenschaft gebräuchlichen Methoden581, um auf diese Weise Seelenleben und Verhaltensmuster und gegebenenfalls auch Neurosen der biblischen Schriftsteller aufzudecken. Die Neue Archäologie schließlich versucht unter Zuhilfenahme naturwissenschaftlicher Methoden wie der C14-Methode zur Altersbestimmung organischer Funde und durch die systematische Erforschung von Inschriften und Kunstzeugnissen den kulturellen Wandel im alten Orient unabhängig von den biblischen Berichten zu rekonstruieren und so ein eigenständiges Bild des alten Israel zu entwerfen. Abgesehen von den methodischen Schwierigkeiten im Einzelnen, ist allen diesen an den Autoren und ihren Welten orientierten Methoden und Zugängen ihre streng wissenschaftliche Ausrichtung gemeinsam, wodurch in ihren Ergebnissen der applikative, religiös-erbauliche Aussagegehalt der Bibel unberücksichtigt bleibt, während die gesellschaftlich-instrumentellen oder gar pathologischen Aspekte des Religiösen hervortreten, etwa wenn Propheten als Schizophrene beschrieben werden.582 Demgegenüber betrachten die an den Texten und ihren Welten orientierten Methoden und Zugänge den Text als in sich geschlossene Einheit, weshalb sein Aussagegehalt allein aus ihm selbst, ohne Rückgriff auf Autor oder Umwelt erhoben werden

579 580 581 582

Zu diesem ganzen Abschnitt vgl. Oeming 2007, 31–62. Vgl. Barton 1998; Olbricht 2007, 98, 9; Sheppard/Thiselton 2007a, 84. S. dazu Kap. IV.4.4 des Beitrags „Dichtung“ in diesem Band. So Karl Jaspers (1883–1969) in einer Untersuchung des Ezechielbuches (vgl. Oeming 2007, 52).

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soll.583 Auf dieser Ansicht basieren insbesondere die seit den 1960er-Jahren verstärkt zur Anwendung gelangenden linguistisch-strukturalistischen Methoden, mit welchen im Anschluss an sprachphilosophische Überlegungen im Gefolge Wittgensteins unter Absehung vom Wirklichkeitsbezug eines Textes dessen Sinn allein durch die Analyse seiner syntaktischen Struktur und seiner logischen Verknüpfungen ermittelt werden soll.584 Konzentriert sich die strukturalistische Analyse auf einzelne Textbausteine, so betrachtet der vor allem im angelsächsischen Raum verbreitete New Criticism den Text als ganzen und untersucht ihn ästhetisch auf seine Erzählstruktur hin. Ausgehend vom kanonischen Endtext, nimmt auch der Ende der 1970er-Jahre aufgekommene kanonische Zugang (canonical approach) die Bibel im Sinne einer „holistischen“ Lesart als organisches Ganzes in den Blick. Aufgezeigt werden sollen auf diese Weise die innerbiblischen Bezüge, die Baustruktur einzelner Textgruppen, ganzer Bücher, Büchergruppen und letztlich des gesamten Kanons. In anderer Form textzentriert ist die „neue Hermeneutik“, die Ernst Fuchs (1903–1983) und Gerhard Ebeling (1912–2001) im Anschluss an das Spätwerk Martin Heideggers entwickelten. Für sie ist Sprache nicht bloßes Werkzeug, sondern das notwendige Medium der Vergegenwärtigung Gottes, weshalb ihr – vor allem in gesprochener Form – eine kaum zu überbietende Bedeutung zukommt: Das Heilsereignis wird zum „Sprachereignis“ (Fuchs) bzw. „Wortgeschehen“ (Ebeling).585 Gegenüber den Modellen einer autororientierten Produktionsästhetik und einer werkorientierten Darstellungsästhetik hat die postmoderne Literaturwissenschaft mit ihrer Konzeption der Rezeptionsästhetik die sinnstiftende Rolle des Lesers sowie die große Bedeutung von dessen jeweiligem politischen, sozialen und kulturellen Kontext für den Verstehensvorgang herausgestellt.586 Während der Dekonstruktivismus die Leserorientierung auf die Spitze treibt, indem er Auslegung in Form freien Assoziierens betreibt, dem der Text nur mehr als Stichwortgeber dient, wendet sich die von Gadamer herkommende wirkungsgeschichtliche Exegese den verschiedenen Lesarten zu, die der Text in der Vergangenheit aus sich heraus entlassen hat, und sucht sie in allen Bereichen der Hoch- und Volkskultur, d. h. in Kunst, Musik, Literatur, Umgangssprache usw., auf. Sie kommt damit Gadamers Forderung nach, dass sich der Ausleger der Tradition bewusst werden solle, die sein Vorverständnis immer schon prägt und mit deren Horizont sein eigener im Verstehensvorgang verschmilzt. 583 584 585 586

Zu diesem Abschnitt vgl. ebd., 63–88. Zu einzelnen Untergruppen dieser Richtung vgl. Söding 1998, 68–73. Vgl. Mußner 1970, 19–21. Vgl. auch Körtner 2006, 55–57, 61–72. Zu diesem Abschnitt vgl. Oeming 2007, 89–139. Zur Mittelstellung zwischen text- und leserorientierten Methoden, welche die hier nicht weiter darzustellende Textpragmatik mit ihrer Untersuchung der beabsichtigten Wirkung eines Textes auf den Leser einnimmt, vgl. Dohmen 1998, 98–100.

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Bei der tiefenpsychologischen Deutung, wie sie insbesondere von dem katholischen Theologen Eugen Drewermann (*1940) in den 1980er- und 90er-Jahren ausgearbeitet wurde, findet dagegen keine Auseinandersetzung mit der Tradition statt. Die biblischen Erzählungen werden hier vielmehr als Ausdruck unterbewusster seelischer Konflikte aufgefasst, zu deren Lösung und damit zur Selbstfindung des Menschen sie zugleich Hilfestellung geben wollen. Analog zur Traumdeutung wird zwischen der Oberflächenhandlung des Textes als dem „Objektalen“ und der darin in verschlüsselter Form zum Ausdruck kommenden seelischen Selbstfindungsproblematik als dem „Subjektalen“ unterschieden, und es wird als Aufgabe des Auslegers angesehen, diese Konflikte sowie die mitgelieferten Hilfestellungen aufzuzeigen. Der tiefenpsychologische Ansatz macht so die für alle leserorientierten Zugänge feststellbare Nähe zur allegorischen Auslegung mit ihrer Unterscheidung von wörtlichem und tieferem Schriftsinn besonders deutlich.587 Indem diese Zugänge die Bedeutung der biblischen Texte nicht auf die historisch-kritisch festzustellende Autorintention beschränkt sehen wollen, sondern auch den Gehalt des Tieferliegenden, Unbewussten erheben wollen, stellen sie die Mehrdimensionalität der Texte heraus und unterstreichen damit das Recht von Allegorese und Typologie auch für die gegenwärtige Bibelauslegung. Im Unterschied zur Vormoderne wird ein solches Verständnis nun allerdings überall dort, wo es nicht im Text selber angelegt ist, nicht als dem Text inhärente weitere Sinnebene verstanden, sondern als zusätzliche Bedeutung aufseiten des Lesers verortet. In eine ähnliche Richtung weist auch die symbolorientierte Exegese, die die Bibel als angefüllt mit Symbolhandlungen, Symbolgeschichten und Symbolfiguren betrachtet, die alle zusammen und je für sich auf jenen absoluten Ursprung menschlichen Seins verweisen, der begrifflich nicht fassbar und nur im Symbol erfahrbar ist. Exegese will hier den Lesern der Bibel durch die Erklärung der Symbole das in ihnen sich Ausdrückende als Antwort auf die Fragen aus ihrer alltäglichen Erfahrung nahelegen. Das Bibliodrama schließlich als ganzheitliche Methode der Bibelauslegung sei hier lediglich erwähnt, da es in unserem Zusammenhang nur von untergeordneter Bedeutung ist. Von größerem Gewicht sind dagegen die befreiungstheologische und die feministische Exegese.588 Als sogenannte „engagierte“ Lesart der Bibel zielt die um die Mitte der 1960er-Jahre aufgekommene befreiungstheologische Exegese auf die Veränderung der gegenwärtigen äußeren Verhältnisse. Marxistisch inspiriert, wählt sie für die Auslegung die Perspektive der Armen und Unterdrückten, insbesondere der 587 Vgl. hierzu und zum Folgenden Körtner 2006, 97f., 101f. 588 Vgl. hierzu auch ebd., 37–43.

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Landbevölkerung, und betrachtet die Bibel als von Armen für Arme geschriebenes Buch, dessen zentrale Botschaft die Befreiung der Armen von ihrer Unterdrückung ist und dessen politisches Programm die klassenlose Gesellschaft zum Ziel hat. Die seit den 1980er-Jahren betriebene feministische Exegese hingegen untersucht die Bibel aus einem dezidiert weiblichen Blickwinkel. Inhaltlich ist feministische Auslegung zum einen gegen patriarchalisches Denken und männliche Gottesbilder gewendet, zum anderen will sie positiv die Nähe Jesu zu den Frauen aufzeigen, unterdrückte Frauentraditionen in der Bibel wiederentdecken und eine eigene weibliche Spiritualität und ganzheitliche Anthropologie entwickeln. Dem kommt sie in dreierlei Gestalt nach: in Form der historisch-kritischen Erforschung der biblischen Frauengestalten, in Form einer „Hermeneutik des Verdachts“, die den kanonischen Text als Produkt patriarchalischer Übermalung eines ursprünglich frauenfreundlichen Urtextes ablehnt und jene ursprüngliche Fassung durch feministisch orientierte Kritik rekonstruieren möchte, und in Form einer „Hermeneutik der Verurteilung“, die den kanonischen Text insbesondere des Alten Testaments als unheilbar frauenfeindlich verwirft und die biblischen Geschichten mittels einer „Hermeneutik kreativer Aktualisierung“ frei neu erzählen und in Richtung einer weiblichen Spiritualität weiterentwickeln will.589 Die an den Sachen und ihren Welten orientierten Methoden und Zugänge schließlich fragen nach der Wirklichkeit hinter den Texten, auf welche diese nur hinweisen.590 Letztes Kriterium der Interpretation ist ihnen die Sachgemäßheit. Die Bibel wird als Zeugnis der Offenbarung angesehen, wobei als sachlicher Gehalt dieses Zeugnisses überall dieselbe göttliche Realität angenommen wird, was die Einheit der Bibel über beide Testamente hinweg begründe. Auf diesen Grundlagen beruht neben der bereits dargestellten existenzialen Interpretation Bultmanns (s. o. Kap. IV.4) jede dogmatische Bibelauslegung, d. h. jede im Kontext systematisch-theologischer Überlegungen vollzogene Exegese. Während die katholische Exegese hier mehr zur Berücksichtigung der gesamten kirchlichen Lehrtradition tendiert, neigt die protestantische Exegese eher der Auslegung von einer dogmatisch festgestellten Schriftmitte aus zu – in jedem Fall werden tendenziell weitere Horizonte in die Auslegung mit einbezogen. Auch wollen beide – wenngleich in geänderter Terminologie und mit einer moderneren Begründung – die alten Ansichten über die Inspiration und Vollkommenheit der Schrift beibehalten, ebenso die Bindung des rechten Bibelverständnisses an die Wirksamkeit des Heiligen Geistes. Erreicht werden soll so eine Verbindung von Exegese und Dogmatik unter den Bedingungen der Postmoderne. 589 Zu dieser Dreiteilung und entsprechenden Auslegungsbeispielen vgl. Oeming 2007, 130–137. 590 Zu diesem Abschnitt vgl. ebd., 140–174.

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Nicht in Auseinandersetzung, sondern in entschiedener Ablehnung moderner und postmoderner Auslegungsformen nimmt sich dagegen die fundamentalistische Exegese der Bibel an. Für sie ist die Bibel das wörtlich inspirierte Wort Gottes, ein durchgängig zuverlässiger Tatsachenbericht von Gottes faktischem Handeln in der Welt. Sie ist wortwörtlich zu verstehen, und ihre ethischen Gebote sind strikt zu halten. Die Bibel enthält Lehren von ewiger Gültigkeit, die dem Gläubigen unmittelbar zugänglich sind. An der Möglichkeit des Wunders wird festgehalten, auch wenn Wunder teilweise natürlich erklärt werden. Widersprüche innerhalb der Bibel werden hingegen oft mittels einer heilsgeschichtlichen Argumentation harmonisiert, wonach sich Gott in seiner Offenbarung dem jeweiligen Entwicklungsstadium der Menschheit angepasst habe.

6.2 Bibelhermeneutische Konzepte Seitdem Barth und Bultmann die hermeneutische Frage für die Theologie wieder mit Nachdruck auf die Tagesordnung gesetzt haben, wird die exegetische Entwicklung wieder verstärkt von hermeneutischen Reflexionen begleitet. Die zentralen Themen sind dabei die Bestimmung des Verhältnisses 1. von Altem und Neuem Testament, 2. von Exegese und Dogmatik/Systematischer Theologie und 3. der verschiedenen exegetischen Methoden und Zugänge zueinander. Bei dem letztgenannten Punkt geht es vor allem um das Verhältnis der synchronen zu den diachronen Methoden und von profanwissenschaftlicher Untersuchung zu theologischer Interpretation. Dass eine solche theologische Deutung mit zur Auslegung gehört, ist eine mittlerweile wieder verbreitete Ansicht.591 Vielfach findet die Diskussion daher auch im Kontext der Kritik an der historisch-kritischen Methode statt, wie sie seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts verstärkt vorgetragen wird. Den übergeordneten Rahmen der Gesamtdebatte bildet jedoch die Frage nach einer Biblischen Theologie bzw., seit Ende des 20. Jahrhunderts, zunehmend auch nach einer Biblischen Hermeneutik. In Bezug auf die oben genannten Themen besteht der Hauptunterschied zwischen beiden in dem Umfang, in dem sie sich ihnen widmen: Während für die Biblische Theologie die obige Reihenfolge der Themen tendenziell auch ihrer Gewichtung entspricht – das Verhältnis von Altem zu Neuem Testament steht also im Vordergrund –, so verhält es sich bei der Biblischen Hermeneutik eher umgekehrt und gilt das Interesse vor allem dem Verhältnis der Methoden und Zugangsweisen zueinander sowie dem von Exegese und Dogmatik.592 591 Wenngleich es auch weiterhin gewichtige Stimmen für die strikte Trennung von historisch-kritischer Exegese und applikativer theologischer Auslegung gibt (vgl. Körtner 2010, 87f., 97–100). 592 Zum Verhältnis von Biblischer Hermeneutik und Biblischer Theologie s. auch Körtner 2006, 76–78. Zur Bedeutung der Methodenfrage innerhalb der Biblischen Hermeneutik vgl. ebd., 78.

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Betrachtet man die Antworten, die auf obige Fragen gegeben wurden, so lassen sich die hauptsächlichen hermeneutischen Entwürfe in drei Gruppen unterteilen: 1. Modelle synchroner Versöhnung, 2. Modelle diachroner Versöhnung und 3. pluralisierende Modelle.593 Das prominenteste Modell synchroner Versöhnung ist der kanonische Zugang.594 Mit Karl Barth, der auch der theologische Lehrer von Brevard S. Childs (1923–2007), einem der Hauptvertreter dieser Richtung, war, teilt dieser Ansatz das Ziel, Exegese und Dogmatik miteinander zu versöhnen. Das Hauptaugenmerk gilt dem kanonischen Endtext als dem in synchroner Gestalt vorliegenden Schriftzeugnis, nicht dem diachronen Blick auf die historischen Ereignisse hinter dem Text. Der als feststehend gedachte Endtext ist Bezugs- und Kristallisationspunkt der Auslegung, der Kanon ihr primärer Kontext. Die biblischen Texte sollen sich wechselseitig wie auch aus ihrer Stellung innerhalb des Kanons erhellen. Gleichwohl wird die Gewordenheit des Kanons ausdrücklich mit bedacht und haben auch entsprechende historisch-kritische Methoden (Textkritik, Überlieferungs- und Redaktionsgeschichte etc.) ihren Platz in der Konzeption. Der Kanon wird als Traditionsliteratur erkannt und die Kanonbildung entsprechend als Niederschlag der Geschichte der Glaubensgemeinschaft angesehen, als zielgerichteter, dialogischer Prozess, in dem spätere Texte frühere aufgreifen und bejahend, ablehnend oder modifizierend auf sie antworten. Für die Auslegung spielen jedoch nicht historisch-kritisch ermittelte Vorstufen der Texte die entscheidende Rolle – sie dienen nur der Präzisierung des Verständnisses –, sondern der kanonische Endtext. Er ist die theologische Norm für die Auslegung, denn Exegese zielt im kanonischen Ansatz stets auf die Gewinnung theologisch-dogmatischer Aussagen und letztlich auf eine Biblische Theologie595. Altes und Neues Testament werden dabei zunächst je für sich geprüft, erst danach wird nach ihrem Verhältnis, ihren inhaltlichen Bezügen, nach Kontinuitäten und Brüchen, Zitaten und Fortschreibungen gefragt. Die Einheit beider Testamente wird jedoch nicht auf der Ebene der Texte gesehen, sondern in der von diesen bezeugten Wirklichkeit, der in Altem wie Neuem Testament gleichen göttlichen Realität, die teils stark christozentrisch artikuliert wird. Überhaupt bringt die Orientierung am Verbindenden einen Hang zur Harmonisierung mit sich, die der Vielfalt der biblischen Theologien nicht immer voll gerecht wird. Autororientierte Methoden, so zeigt sich, haben in diesem Modell lediglich eine assistierende Funktion, während text- und (im Rahmen der theologisch-dogmatischen Auslegung) sachorientierte Methoden im Zentrum stehen. Leserorientierte Methoden hingegen spielen keine bedeutende Rolle. 593 Vgl. Roth 2010, 278. 594 Vgl. ebd., 279–281; ferner: Dohmen 1998, 88–91; Oeming 2007, 75–78. 595 Vgl. dazu Söding 1999, 76–78.

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Ein weiteres Modell synchroner Versöhnung ist Manfred Oemings Konzeption ganzheitlichen Bibelverstehens.596 Auslegung spielt sich demnach stets innerhalb des von Oeming so genannten „hermeneutischen Vierecks“ ab, dessen Ecken Autor, Text, Leser und Sache die vier Pole bilden, die oben bereits als Gliederungsschema zur Darstellung der entsprechenden Auslegungsmethoden und -zugänge verwendet wurden. Als ganzheitliches Verstehen der Bibel wird eine Auslegung bezeichnet, die alle diese vier Pole und also alle jeweils relevanten Ergebnisse der zugehörigen Methoden und Zugangsweisen berücksichtigt. Oeming spricht vom Ideal der „Synopse der in sich spannungsreichen Facetten“ und kann darin die „notwendige Transformation der antiken Lehre vom vierfachen Schriftsinn“ erkennen.597 Die verschiedenen Pole mit ihren Methoden und Zugangsweisen werden hier nicht als sich wechselseitig ausschließende Totalitäten verstanden, sondern als einander ergänzende Aspekte des Verstehens. Jede Methode kann bestimmte Seiten des Textes besonders klar erhellen, hat aber auch „blinde Flecken“, die durch andere Methoden und Zugänge ergänzt werden können und müssen. So geht es letztlich nur um die jeweils richtige und sachgemäße „Verzahnung“ (Merklein [s.u.]) der Methoden. Auch wenn ein solch umfassendes Konzept nach Oeming in der Praxis wohl nicht umsetzbar ist, will er es doch als „regulative Idee“ aufrechterhalten. Eben daher, weil an dem Ideal der gleichzeitigen Berücksichtigung aller vier Pole festgehalten wird, ist Oemings Modell auf synchrone Versöhnung angelegt, auch wenn aufgrund der Geschichtlichkeit des Daseins und damit auch des Verstehens an der grundsätzlichen Unabschließbarkeit und Offenheit der Schriftauslegung ausdrücklich festgehalten wird. Wegen seiner Konzentration auf den Text kann auch das integrative Auslegungsmodell von Helmut Merklein (1940–1999) als Modell synchroner Versöhnung bezeichnet werden.598 Für Merklein haben alle Methoden, die ihrem Gegenstand, den biblischen Texten, gerecht werden, ihre Berechtigung, weshalb sich angesichts der großen Methodenvielfalt die Frage ihrer „Verzahnung“599 stellt. Textwissenschaftliche und historisch-kritische Methode sieht er schon recht gut miteinander verbunden, da sie sich methodisch wie hermeneutisch gut ergänzten. Auch soziologische und psychologische Fragestellungen seien bereits in hohem Maße mit einbezogen, was auch damit in Zusammenhang gebracht wird, dass sie auch zuvor schon – wenn auch nicht immer bewusst – Bestandteil der Auslegungen waren. Bei der existenzialen, tiefenpsychologischen und feministischen Interpretation sieht er hingegen noch Klärungsbedarf. Von entscheidender Bedeutung ist für Merklein aber, dass in allen methodischen Einzel596 597 598 599

Vgl. Oeming 2007, bes. 175–184. Vgl. dazu Roth 2010, 281–283. Oeming 2007, 177 (Hervorhebung ebd.). Vgl. Merklein 1989. Ebd., 122.

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schritten die theologische Dimension der Auslegung und damit ihre kirchliche Funktion – hermeneutischer Ort der Exegese ist die Kirche – sichtbar gemacht wird, dass also die theologische Interpretation integraler Bestandteil des gesamten Auslegungsvorgangs und nicht eine am Ende noch hinzukommende zusätzliche Methodik ist. Modelle diachroner Versöhnung zielen demgegenüber auf den Ausgleich der vielfältigen Lesarten der Bibel unter dem Aspekt der Geschichte.600 Sie haben ihren Ort vor allem in der Biblischen Theologie, die seit den 1960er-Jahren wieder verstärkt als gesamtbiblische Theologie konzipiert wird und damit die Frage nach dem Verhältnis von Altem und Neuem Testament neu stellt.601 Im Wesentlichen haben sich in der neueren Exegese vier Modelle etabliert.602 Ihren Ursprung haben sie alle im Werk Gerhard von Rads, von dem ausgehend sie dann weiterentwickelt wurden:603 1. Das verheißungsgeschichtliche Modell:604 Dieses Modell bestimmt das Verhältnis von Altem und Neuem Testament als das von Verheißung und Erfüllung. Es fordert die historisch-kritische Erforschung des Sinns der alttestamentlichen Texte, um dann in einem zweiten, methodisch nicht kontrollierbaren Schritt einer auf persönlichem Glauben fußenden Exegese nach dem Typischen und Analogen zwischen Altem und Neuem Testament (etwa im Welt-, Menschen- und Todesverständnis) zu suchen und so im Alten Testament Hinweise auf Christus aufzudecken. Anders als noch bei von Rad wurde diese enge Verbindung des Verheißung-Erfüllung-Schemas mit der Typologie in der Folge gelockert, so dass die Deutungen des Alten Testaments nun entweder eher christologisch oder eher typologisch ausfielen. Während die christologische Auslegung verschiedentlich aufgenommen wurde und sich auch in Predigt und Unterricht weiterhin großer Beliebtheit erfreute – Wilhelm Vischer (1895–1988) hatte sie im Anschluss an Karl Barth schon 1934 (Bd. I) bzw. 1942 (Bd. II/1) wieder zur Geltung gebracht –605, fand die typologische kaum Anhänger. Zu stark war die Kritik, die sie als unhisto600 Vgl. Roth 2010, 283–287. 601 Vgl. Merk 1980b, 456, 469–472. In der Zeit nach Gabler (s. o. Kap. IV.3) waren Altes und Neues Testament zumeist getrennt behandelt worden (vgl. Zimmerli 1980, 426–445; Merk 1980b, 458–469). Einen guten Überblick gibt auch Roloff 1999, 329–351. 602 Für einen Entwurf von dogmatischer Seite s. Mildenberger 1991. Im Unterschied zur Exegese wird hier nicht die Schrift, sondern die dogmatische Tradition als Ausgangspunkt gewählt, so dass die anvisierte gesamtbiblische Theologie zwischen Biblischer Theologie im exegetisch-historischen Sinn und der Dogmatik zu stehen kommt (vgl. ebd., 11f.). Sie zielt nicht auf eine historische Beschreibung, sondern auf die „Aktualisierung der gesamtbiblischen Zusammenhänge für die gegenwärtige kirchliche Situation“ (ebd., 11). 603 Vgl. Oeming 2001, 46. Zum Folgenden vgl. ebd., 41–243, bes. 51–62, 107–191. 604 Vgl. ebd., 52–55, 107–125. 605 Vgl. Kraus 1982, 426–428.

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risch und letztlich allegorisierend brandmarkte. Dennoch wurden in neuerer Zeit typologische Modelle entwickelt, die unter Aufnahme überlieferungsgeschichtlicher Forschungsergebnisse im Zeugnis beider Testamente nach existenzialen Strukturanalogien suchen. 2. Das überlieferungsgeschichtliche Modell:606 Nach diesem Modell sind Altes und Neues Testament Teil eines umfassenden Überlieferungsprozesses. Dabei handelt es sich um einen kritischen Filterungsprozess, der Altes teils weiterführt, teils ausscheidet. Er vollzieht sich bereits im Alten Testament als stete Neuinterpretation der Tradition im Lichte neuer Heilssetzungen Gottes und findet in der AT-Deutung des Neuen Testaments im Lichte des Christusgeschehens lediglich seine finale Gestalt. Nach von Rad weiterentwickelt wurde das Modell vor allem von Hartmut Gese (*1929) und Peter Stuhlmacher (*1932). Stuhlmacher gibt dem Modell auch eine methodologische Grundlegung in Form einer „Hermeneutik des Einverständnisses“, die sich wesentlich auf Gedanken Gadamers und Ricœurs stützt.607 Gefordert wird nicht nur die Berücksichtigung der kirchlichen Bekenntnistradition bei der Auslegung, auch sei die Inspiriertheit der Schrift anzunehmen und seien die von Troeltsch (s. o. Kap. IV.2.2) aufgestellten Prinzipien der historischen Methode um das „Prinzip des Vernehmens“ zu ergänzen, was eine Offenheit für ganz Neues, Analogieloses meint. Darüber hinaus erfahren der Text und die Sprache der Bibel als grundlegende Elemente für das Verständnis besondere Wertschätzung. 3. Das heilsgeschichtliche Modell:608 Dieses Modell sieht das Verbindende von Altem und Neuem Testament in der realen Geschichte des Handelns Gottes in der Welt. Weil aber Wort und Ereignis in beiden Testamenten nicht trennbar sind, sondern das Ereignis nur im immer neu deutenden Wort des Kerygmas greifbar ist, wird als die legitimste Form der Darstellung dieser Geschichte die vom Pathos der Objektivität absehende Nacherzählung angesehen, nicht die historischkritische Rekonstruktion. Sowohl die Strukturanalogie beider Testamente (z. B. hinsichtlich der radikalen Offenheit für die Zukunft) als auch die Einheit der Gottesgeschichte soll so zum Vorschein kommen. Seine Fortführung hat das Modell nach von Rad vor allem in dem Kreis um Wolfhart Pannenberg (*1928) gefunden, der Offenbarung als nicht im Wort, sondern im Geschichtshandeln Gottes geschehend und daher als indirekte Selbstoffenbarung Gottes durch die Geschichte begreift. Pannenberg zog damit die Konsequenz aus der bereits von Bultmann606 Vgl. Oeming 2001, 55–57, 127–155. 607 Vgl. ebd., 141–143, 146–151. 608 Vgl. ebd., 57–60, 157–176.

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Schülern wie Ernst Käsemann (1906–1998) vollzogenen neuerlichen Rückbindung der Theologie an die Geschichte in Form der Wiederaufnahme der Frage nach dem historischen Jesus und seiner Verkündigung, die bei Bultmann zugunsten des Kerygmas suspendiert worden war.609 Verbreitung hat die heilsgeschichtliche Deutung besonders im Bereich der systematischen Theologie gefunden, wo Heilsgeschichte nach dem trinitarischen Schema Zeit Israels (Vater) – Zeit Jesu (Sohn) – Zeit der Kirche (Geist) „im Grunde internationale, interkonfessionelle Normaltheologie geworden bzw. geblieben ist“610. 4. Das sprachgeschichtliche Modell:611 Dieses Modell sieht den Zusammenhang vor allem in der Sprache gegeben – Sprache verstanden als je unterschiedliche Art des Zugangs zur Wirklichkeit –, insofern das Neue Testament die Sprache und damit auch die Vorstellungswelt des Alten Testaments aufgreift und neu interpretiert. Von den vielen, die es seit den 1960er-Jahren weitergeführt haben, ist vor allem auf Antonius H. Gunneweg (1922–1990) hinzuweisen, der in ihm ein von Fuchs und Ebeling inspiriertes Sprachverständnis mit einer an Bultmann angelehnten existenzialen Interpretation verband. Indem James A. Sanders (*1927) das überlieferungsgeschichtliche Modell in den kanonischen Zugang integriert und auf die Vielfalt und auch Vieldeutigkeit der Texte innerhalb des biblischen Traditionsprozesses hinweist, bricht er das Kontinuitäts- und Einheitsstreben der Biblischen Theologie auf und leitet hinüber zu den pluralisierenden Modellen.612 Sie bekennen sich nicht nur zu der unhintergehbaren Pluralität der Auslegung, sondern heben diese ganz gezielt hervor. Prägnant formuliert Klaus Berg (*1933) als dritten Vorschlag für die Umsetzung seiner „erfahrungsbezogenen, mehrdimensionalen Auslegung“: „Den Text nicht auf eine Aussage festlegen. […] Letztlich bedeutet der Verzicht auf Eindeutigkeit nichts anderes als Respekt vor dem Reichtum der biblischen Überlieferung, die sich nicht auf eine Sinnbestimmung fixieren lässt.“613

Ulli Roth (*1966) gibt als weiteres Beispiel unter anderem die Arbeiten von Christoph Dohmen (*1957) an.614 In Dohmens hermeneutischem Konzept des „‚relationalen 609 610 611 612 613 614

Vgl. Bormann 1986, 131. Oeming 2001, 175 (dort teilw. kursiv). Vgl. ebd., 60f., 177–191. Vgl. Roth 2010, 285f. Berg 1991, 445 (dort teilw. kursiv). Vgl. Roth 2010, 288.

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Pluralismus‘ der Auslegungsarten“ und des „vielfachen Schriftsinns“ bilden Text und Leser die beiden Enden eines Spannungsbogens, der nie ganz aufgehoben werden kann.615 Den ursprünglichen Textsinn ermittelt die historisch-kritische Methode im Verbund mit den in sie integrierbaren neueren Ansätzen. Im Sinne des kanonischen Zugangs in seiner überlieferungsgeschichtlichen Ausprägung fordert Dohmen aber auch die Ergänzung des Textsinns um den/die „Rezeptionssinn(e)“, da kein qualitativer Unterschied zwischen Vorstufe(n) und Endgestalt eines Textes bestehe. Der derart um seine(n) kanonische(n) Rezeptionssinn(e) ergänzte Textsinn dient dann als Korrektiv für jede applikative, aktualisierende leserbezogene Deutung, die mittels entsprechender neuerer Zugänge wie dem tiefenpsychologischen oder feministischen zu gewinnen ist. Die Wahl des Zugangs wird dabei vom Text selbst bestimmt, da nicht jeder Zugang für jeden Text gleichermaßen geeignet ist (so werde etwa die existenziale Interpretation kaum ein tieferes Verständnis von Gesetzestexten eröffnen). Beide Pole, Text und Leser, Geschichte und Gegenwart, sind im Auslegungsvorgang korrespondierend aufeinander zu beziehen, so dass Synchronie und Diachronie der Glaubensgeschichte stets sichtbar bleiben. Keine Methode und kein Zugang darf verabsolutiert werden, sondern jeder ist auf den jeweils anderen zu beziehen und dann aus dieser Relation heraus zu beurteilen. Nicht zuletzt ist aber auch Roths eigener Ansatz einer „topologischen Exegese“ den pluralisierenden Modellen zuzurechnen. Nach Roth geschieht alles Verstehen als Kontextualisierung, als Hineinstellen des zu Verstehenden in einen neuen Kontext.616 Als konstituierende Elemente jedes Kontexts definiert er in Analogie zu den drei Seiten des semiotischen Dreiecks die jeweilige Weltsicht (Denkweise), die gemeinte Sache sowie den Text im Sinne eines Verweisungssystems. Aus seiner Untersuchung der Auslegungsgeschichte von Psalm 110 folgert Roth, dass die großen Epochen der Bibelauslegung je einem dieser drei Elemente – Denken, Sache, Text/Weisung – eine Vorrangstellung bei der Kontextualisierung eingeräumt und so drei Grundparadigmen ausgebildet hätten.617 So habe die Vormoderne, d. h. die Kirchenväter, das Mittelalter und – in modifizierter Form – auch noch die frühe Neuzeit, das Denken in den Vordergrund gestellt und eine dogmatische Auslegungsweise gepflegt, während die historisch-kritische Moderne ihr Augenmerk auf die hinter dem Text liegende Sache gerichtet und die Postmoderne schließlich den Text selbst ins Zentrum gestellt habe. 615 Vgl. Dohmen 1992, bes. 51–67. 616 Vgl. Roth 2010, bes. 245–296. 617 Tatsächlich spricht Roth von vier Grundparadigmen, doch ist das vierte, das frühneuzeitliche, lediglich eine Modifikation des ebenfalls am „Denken“ orientierten vormodernen Paradigmas (vgl. ebd., 271).

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Von der Warte des jeweils dominierenden Elements aus sei dann auch das Verständnis der beiden anderen in je spezifischer Weise durchgeprägt worden, so dass von den drei Grundparadigmen der Auslegung als voneinander ausschließenden Totalitäten gesprochen werden müsse.618 Weil mit diesen dreien alle grundsätzlichen Möglichkeiten benannt sind, betrachtet Roth die Auslegungsgeschichte als „prinzipiell vollendet“619 – ein völlig neues Auslegungsparadigma stehe nicht mehr zu erwarten. So kann er positiv für eine plurale Exegese plädieren, denn die Pluralität sei eine begrenzte, so dass die Ergebnisse nicht beliebig ausufern könnten. Allerdings sei jedem der drei bzw. vier Grundparadigmen innerhalb der Auslegung eigenständig und gleichberechtigt an seinem jeweiligen Ort (topos) Raum zu geben, anstatt wie sonst zumeist ein einzelnes hervorzuheben und die übrigen allenfalls als Anhang zu erwähnen.

6.3 Die Haltung der katholischen Amtskirche der Gegenwart Mit der dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum vom 18. November 1965 griff das II. Vatikanische Konzil (1962–1965) die jüngere Entwicklung in der katholischen Exegese auf und machte auch für sie den Weg in den Methodenpluralismus der Postmoderne frei.620 Von grundlegender Bedeutung waren hierbei die Einführung bzw. Durchsetzung sowohl eines Inspirationsverständnisses, nach dem Gott zwar der Urheber der Schrift ist, die Eigenständigkeit der biblischen Schriftsteller als Menschen aber gewahrt bleibt, so dass sie als „wahre Verfasser“ der Schrift bezeichnet werden können, als auch eines Wahrheitsbegriffs, der Wahrheit der Schrift nicht mehr als (auch historische) Irrtumslosigkeit definiert, sondern positiv als die in der Schrift aufgezeichnete Heilswahrheit.621 Auf dieser Grundlage wiederholt Dei Verbum die in Divino afflante Spiritu und der Instruktion von 1964 aufgestellten hermeneutischen Grundsätze. So soll es dem Ausleger zunächst darum gehen, die Aussageabsicht der Hagiographen, i. e. den Literalsinn,

618 So sei etwa in der dogmatischen Auslegung der Vormoderne im Ausgang vom Denken, dem Glaubensdogma, der Text als inspirierte Schrift und die Sache als Gottes Offenbarung bestimmt worden, wohingegen in der historisch-kritischen Auslegung der Moderne von der Sache, der Welt in ihrer geschichtlichen Entwicklung, ausgegangen wurde und so der Text als Zeugnis einer vergangenen Kultur und Buch wie jedes andere und das Denken als die Methodik der historischen Literaturwissenschaft festgelegt worden sei (vgl. ebd., 255–268). 619 Ebd., 271. 620 Text: DH 4201–4235. Vgl. dazu Mußner 1970, 28f.; Kertelge 1993, 62; Beaude 1996, 516f.; Reventlow 1999, 36–38; Hoping 2005; Roth 2010, 273–278. 621 Vgl. Reventlow 1999, 36–38.

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unter Beachtung sowohl der verwendeten literarischen Gattungen als auch der zugehörigen historischen Situation, der vorgegebenen Denk-, Sprach- und Erzählformen sowie der zeitgenössischen Umgangsformen zu erheben.622 Ferner wird in Bezug auf die Evangelien zunächst ihr grundsätzlich historischer Charakter bekräftigt, um dann aber wie in der Instruktion drei Überlieferungsphasen – Jesus, Apostel, Evangelisten – zu unterscheiden und damit implizit die Notwendigkeit formgeschichtlicher Evangelienforschung anzuerkennen.623 Neben dem Literalsinn ist weiter auch der tiefere Sinn der Schrift, die Aussageabsicht Gottes, zu bestimmen, was nur dann gelingt, wenn der Exeget auf den Inhalt und die Einheit der Schrift achtet und Tradition und analogia fidei berücksichtigt.624 Indem die Konstitution sowohl die menschliche als auch die göttliche Aussageabsicht im Schriftwort aufgehoben sieht, stellt sie traditionell-dogmatische und historisch-kritische Auslegung, die zu ihrer jeweiligen Erhebung anzuwenden sind, gleichberechtigt nebeneinander.625 Das Verhältnis beider wird jedoch nicht genauer entwickelt, es bleibt bei der Feststellung ihrer wechselseitigen Überlagerung.626 Auch wenn wegen dieses Kompromisscharakters zwischen traditioneller und historisch-kritischer Sicht, der die gesamte Konstitution durchzieht, vieles in der Schwebe blieb,627 ermöglichten doch gerade die sehr weit gefassten Regelungen zum wissenschaftlichen und privaten Schriftstudium die Zusammenarbeit der Exegeten über die Konfessionsgrenzen hinweg.628 Darüber hinaus eröffnete das Konzil mit Dei Verbum „die Wege für einen fruchtbaren Dialog mit der modernen Hermeneutik“, indem es vielerlei Ansätze zur weiteren Entwicklung lieferte. Stichworte sind der appellative Charakter der Schrift, die grundsätzliche Unabgeschlossenheit des Verstehens, die Bedeutung der Erfahrung und der Überlieferung im hermeneutischen Prozess, die Problematisierung des Verhältnisses von Wort Gottes und menschlicher Sprache, aber auch von Geschichtlichkeit und Wahrheit, schließlich die Rolle der Schrift als „Seele der Theologie“ innerhalb einer dialogisch aufgebauten Theologie.629 622 623 624 625

626 627 628 629

Vgl. DH 4217f. Vgl. DH 4226. Vgl. DH 4219. Vgl. Roth 2010, 274f. – DH 4217: „Da aber Gott in der Heiligen Schrift durch Menschen nach Menschenart gesprochen hat, muss der Ausleger der Heiligen Schrift, um zu durchschauen, was er uns mitteilen wollte, sorgfältig erforschen, was die Hagiographen wirklich zu sagen beabsichtigten und [was] Gott mit ihren Worten kundtun wollte.“ Vgl. Roth 2010, 275f. Vgl. Klauck 1999, 54. Vgl. Schäfer 1980, 144. Vgl. Mußner 1970, 29–33 (Zitat ebd., 34).

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Im Anschluss an das Konzil fand die historisch-kritische Methode in der katholischen Exegese allgemeine Verbreitung und es entwickelte sich ein lebhafter wissenschaftlicher Austausch auch mit protestantischen Forschern.630 Weitere Zeichen der Öffnung vonseiten der offiziellen Kirche waren die Aufhebung des Index librorum prohibitorum (1966) und die Änderung der Imprimaturregelung durch den Codex iuris canonici von 1983, der für wissenschaftliche und populäre Schriften keine Druckerlaubnis mehr vorschrieb.631 Die katholische Exegese fand so Anschluss an die aktuelle Diskussion. Mit den jüngsten Entwicklungen auf exegetischem Gebiet befasst sich als bisher letzte römische Verlautbarung speziell zur Bibelauslegung ein Dokument mit dem Titel Die Interpretation der Bibel in der Kirche, welches die Päpstliche Bibelkommission 1993 aus Anlass des hundert- bzw. fünfzigjährigen Jubiläums der beiden großen Bibelenzykliken Providentissimus Deus und Divino afflante Spiritu veröffentlichte und dem Papst Johannes Paul II. (1978–2005) durch eine positive Würdigung in einer feierlichen Ansprache einen quasi-lehramtlichen Status verlieh.632 Da es einen guten Überblick über den gegenwärtigen Stand katholischer Bibelhermeneutik bietet, sei abschließend etwas ausführlicher darauf eingegangen.633 Hervorzuheben ist insbesondere die positive Bewertung der Pluralität der exegetischen Methoden und Zugänge, zu der sich das Dokument in seinem ersten Teil bekennt.634 Mit Ausnahme des fundamentalistischen Zugangs wird allen Methoden und Zugängen zugestanden, dass sie zum besseren Verständnis der Schrift beitragen können. Der historisch-kritischen Methode erkennt das Dokument dabei eine Sonderstellung zu, da sie unerlässlich für die wissenschaftliche Erforschung des Sinns alter Texte sei. Nur mit ihr lasse sich die Aussageabsicht der biblischen Verfasser und Redaktoren auffinden. Erstmals werden mit Textkritik, linguistischer (morphologischsyntaktischer) und semantischer Analyse, Literarkritik, Gattungs-, Traditions- und Redaktionskritik alle methodischen Einzelschritte der historisch-kritischen Methode rezipiert, wobei das Hauptgewicht gar auf die zuvor noch nie offiziell erwähnte Redaktionskritik gelegt wird. Neben der diachronen historisch-kritischen Methode erkennt 630 Namen bedeutender Exegeten dieser Zeit nennt Merk 1980a, 391. 631 Vgl. Lang 1994, 168. 632 Der Text in PBK-Int. 1995, 91–168; die Ansprache in PBK 1993, 7–20. Zum Ganzen vgl. v. a. Ruppert 1995 sowie Klauck 1995. – Die Bibelkommission war unter Papst Paul VI. von einem Kardinals- zu einem Expertengremium umgewandelt worden, dessen Verlautbarungen im Gegensatz zu früher seither keinen lehramtlichen Charakter mehr tragen. Dafür bewegt sie sich in exegetischen Fragen nun auf der Höhe der Zeit und verfolgt nicht mehr den restriktiven Kurs der ersten Jahrzehnte ihres Bestehens (vgl. Ruppert 1995, 9–15). 633 Zur aktuellen Diskussion s. Busse 2005; Söding 2007. 634 Vgl. PBK-Int. 1995, 96–125.

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das Dokument ferner erstmals die synchronen Methoden der rhetorischen, narrativen und semiotischen Analyse der biblischen Endtexte als legitim und nützlich an, wenn auch nur in Ergänzung zur historisch-kritischen Methode. Genauso werden die neueren Zugänge zur Bibel bewertet, solange sie nicht verabsolutiert würden. Unterschieden wird dabei zwischen auf die Tradition gegründeten Zugängen (kanonischer Zugang, Zugang über die jüdische Interpretationstradition, Zugang über die Wirkungsgeschichte), Zugängen über die Humanwissenschaften (Soziologie, Kulturanthropologie, Psychologie und Tiefenpsychologie) und kontextuellen Zugängen (Zugang „im Umfeld von Befreiung“, feministischer Zugang). Einzig das fundamentalistisch-wortwörtliche Verständnis der Bibel wird als unsachgemäß, ja gefährlich abgelehnt, da es nicht nur dem geschichtlichen Charakter der Offenbarung und dem menschlichen Faktor bei der Abfassung der biblischen Texte nicht gerecht werde, sondern auch „zu einer Form der Selbstaufgabe des Denkens“635 einlade, indem schnelle Lösungen für aktuelle Probleme suggeriert würden. Eine Zuordnung und Verschränkung der diachronen und synchronen Methoden und Zugangsweisen in einem integrativen Ansatz nimmt das Dokument allerdings nicht vor, sie werden nur vor- und nebeneinandergestellt. Dieses Vorgehen wird auch im zweiten Teil bei der Behandlung der Frage des hermeneutischen Rahmens der Auslegung beibehalten.636 Ziel müsse es sein, „die Distanz zwischen der Epoche der Autoren und ersten Adressaten der biblischen Texte und unserer heutigen Zeit zu überbrücken, um so die Botschaft der Texte in richtiger Weise zu aktualisieren, damit sie das Glaubensleben der Christen nährt“637. Dazu werden zunächst die philosophischen Hermeneutiken von Bultmann, Gadamer und Ricœur vorgestellt. Sie werden prinzipiell positiv als Überwindung eines rein historischen Positivismus anerkannt und zur Berücksichtigung empfohlen, auch wenn Bultmanns existenziale Interpretation dann doch für eher ungeeignet befunden wird, da sie „die biblische Botschaft in die Enge einer besonderen Philosophie ein[schließe]“638. Unter Berufung auf diese Hermeneutiken wie auch auf die Sprachwissenschaft wird anschließend die Behauptung der historisch-kritischen Exegese, jeder Text habe genau einen Sinn, als unhaltbar zurückgewiesen. Zuvor schon hat das Dokument eine dynamische Bedeutungskonzeption verfochten und auf die Entfaltung neuer Sinndimensionen durch „relectures“ in neuen Kontexten hingewiesen. Auf dieser Basis wendet es sich nun der Frage der verschiedenen Schriftsinne zu. Unterschieden werden Lite635 636 637 638

Ebd., 125. Vgl. ebd., 125–134. Ebd., 127. Ebd., 128.

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ralsinn, geistlicher Sinn und sensus plenior. Analog der Formulierung von Dei Verbum wird der Literalsinn in der Aussageabsicht des menschlichen Autors verortet, die aufgrund der Inspiration mit dem von Gott gewollten Sinn übereinstimme.639 Unter dem geistlichen Sinn wird demgegenüber die auf das Ostergeheimnis zielende Sinnebene der Bibel verstanden. Während diese im Neuen Testament im Allgemeinen mit dem wörtlichen Sinn zusammenfalle, sei vor allem für das Alte Testament von einem eigenen, vom Literalsinn verschiedenen geistlichen Sinn zu sprechen, der jedoch nicht losgelöst von jenem bestimmt werden dürfe. Den sensus plenior fasst das Dokument als eine nur andere Bezeichnung für den geistlichen Sinn, wo dieser nicht mit dem buchstäblichen zusammenfällt. Allerdings zeigt sich, dass sich der sensus plenior nicht nur auf das Ostergeheimnis beziehen muss, sondern auch dogmatische Fragen wie die Trinität oder die Erbsündenlehre umfassen kann. Seine Existenz wird auf die Stellen begrenzt, wo ihn entweder ein biblischer Autor durch Wiederaufnahme und Neuinterpretation eines älteren biblischen Textes bezeugt oder wo ihn die kirchliche Lehrtradition, d. h. Kirchenväter oder Konzilien, festgestellt und dargelegt haben. Es folgt eine Charakteristik der katholischen Exegese, als deren Hauptmerkmal nicht ihre Methodik, sondern vor allem ihr bewusster Traditionsbezug herausgestellt wird.640 Sie berücksichtige sowohl die innerbiblische Tradition („relectures“ älterer biblischer Texte innerhalb der Bibel) als auch die spätere kirchliche (Kanon als kirchlich definierter Interpretationsrahmen, allegorische Kirchenväterauslegung als Vorbild einer in wahrem christlichem Geist erfolgenden theologischen Interpretation). In diesem Zusammenhang wird mit Blick auf die gelegentlich nicht voll übereinstimmenden Aussagen der Bibel zu einzelnen Gegenständen darauf aufmerksam gemacht, dass keine Auslegung für sich allein Geltung beanspruchen könne, da „Interpretation notwendig pluralistisch“641 sei und keine Deutung den Sinn des Ganzen erschöpfen könne. Die Aufgabe der Exegeten wird dabei als eine doppelte bestimmt, eine kirchliche und eine wissenschaftliche. Neben der wissenschaftlichen Erforschung des Literalsinns haben sie auch eine für Priester und Gemeinde möglichst fruchtbare geistliche Auslegung der Schrift zu geben, was zum einen die Herstellung eines Gegenwartsbezugs, zum anderen das Aufzeigen der christologischen, kanonischen und kirchlichen Tragweite der Texte umfasst. Zwar wird einmal mehr darauf hingewiesen, dass nur das Lehramt eine verbindliche Auslegung geben könne, doch wird dem ausdrücklich hinzugefügt, dass es hierfür Theologen, Exegeten und sonstige frei forschende Experten 639 Vgl. ebd., 130. 640 Vgl. ebd., 134–155. 641 Ebd., 139.

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konsultiere. Im Übrigen wird für das Verhältnis der Exegese zur systematischen Theologie auf die Notwendigkeit des intensiven gegenseitigen Austauschs hingewiesen und die Exegese damit auf der einen Seite an ein dogmatisch bestimmtes Vorverständnis gebunden, auf der anderen Seite aber auch als notwendige Grundlage und Korrektiv der Dogmatik herausgestellt. Nach einem praktisch-theologisch orientierten vierten Teil über die Interpretation der Bibel im Leben der Kirche, in dem kurz die Aktualisierung, Inkulturation und der Gebrauch der Bibel in Liturgie, geistlicher Lesung, Seelsorge und Ökumene behandelt wird, folgen abschließend einige Schlussfolgerungen, in denen nochmals gegen den Fundamentalismus die Notwendigkeit der Exegese betont und der Primat der historisch-kritischen Methode sowie die wesentlich theologische Aufgabe der Exegese unterstrichen wird.642 Damit ruft das Dokument noch einmal seine zentralen Aussagen in Erinnerung, deren Kern die Verbindung einer umfassenden wissenschaftlichen Untersuchung der Bibel mit einer in der kirchlichen Tradition verankerten theologischen Deutung und Aktualisierung bildet. Charakteristisch nicht nur für das Dokument als offiziöse kirchenamtliche Verlautbarung, sondern für den Stand der Bibelauslegung allgemein, auch über den katholischen Bereich hinaus, ist das Fehlen einer genaueren Bestimmung des Verhältnisses, in dem die Methoden und Zugänge zueinander stehen sollen. Es drückt sich hierin die nach wie vor offene und unabgeschlossene Suche nach einem größeren hermeneutischen Rahmen aus, durch den sie in mehrheitsfähiger Weise strukturiert und zum Ausgleich gebracht werden könnten. Diese Suche ist die bleibende Aufgabe, auch wenn die Ansichten darüber auseinandergehen, ob sie überhaupt gelöst werden kann.

642 Vgl. ebd., 155–168.

Martin Corzillius 1

Recht Recht war im Abendland von Haus aus kein Gegenstand der Hermeneutik. Denn es stellte kein selbständiges Gedankengebäude dar, sondern blieb im Feld zwischen Religion, Sitte und Sittlichkeit angesiedelt. Demgemäß hat es auch keine selbständigen, schriftlich vorliegenden Texte hervorgebracht, sondern wurde mündlich verhandelt. Das änderte sich im antiken Rom, dessen hoch entwickelte säkulare Rechtskultur bereits die üblichen Auslegungsprobleme kannte. Die anschließende Vorherrschaft von Völkern archaischer Kultur brachte allerdings erneut archaisches Recht der oben geschilderten Art mit sich. Aber diese Völker lebten auch mit der Tradition der Antike, so dass im hohen Mittelalter vom vollständig wiederentdeckten römischen Recht der Spätantike Impulse für einen revolutionären Wandel des Rechtslebens ausgehen konnten. Recht emanzipierte sich allmählich von seinem religiös-sittlichen Kontext, wurde verschriftlicht und professionalisiert, entwickelte seine eigene Rationalität. Die Integration des römischen Rechts als Produkt einer fremden Kultur in die eigene stimulierte dabei die rechtshermeneutische Diskussion, die aber allmählich den gesamten spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Rechtspluralismus einbezog und entsprechend vielseitig und großzügig ausfiel. Erst die Ausbildung eines säkularen Naturrechts führte angesichts von dessen transparenter Rationalität, an die neuartige Gesamtkodifikationen der werdenden modernen Staaten das positive Recht anzuhängen versuchten, zu einer restriktiven Handhabung der Rechtsexegese im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Seit das Recht aber jede unmittelbare Verankerung in übergeordneten Zusammenhängen verloren hat, ist hermeneutische Vielfalt, um nicht zu sagen Willkür zurückgekehrt. Allerdings wirkt die hermeneutische Theorie dabei eher als nachträgliche Erklärung dessen, was ein Richter tut, denn als Anleitung für seine Alltagspraxis.2 1 2

Ergänzt und redigiert von Wolfgang Reinhard, kritisch beraten von Horst Dreier, der damit aber nicht für mögliche Unzulänglichkeiten verantwortlich ist. Zur Gesamtproblematik vgl. die Beiträge von Marcel Senn, Stephan Meder, Ulfrid Neumann, Wer-

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I. Antike „Auf dem Markte standen die Bürger in Scharen. Ein Streitfall Wurde verhandelt. Es stritten zwei Bürger sich wegen des Bußgelds Eines erschlagenen Mannes. Der eine beschwor es dem Volke, Dass er schon alles beglichen, der andre bestritt die Bezahlung. Beide verlangten vom Richter, er solle den Hader entscheiden. Beifall rief beiden das Volk und schlug sich zu beiden Parteien. Herolde hielten die Haufen zurück. Die Ältesten aber Saßen im Heiligen Kreise auf ringsgeglätteten Steinen, Jeder, in Händen den Stab der rufenden Herolde haltend, Trat dann hervor, und alle der Reihe nach sprachen ihr Urteil. In der Mitte lagen zwei Teile gewogenen Goldes Dem zur Gabe, der hier das Recht am klarsten verkünde.“3

Bei dieser Textstelle handelt es sich um eine der ältesten Beschreibungen einer Gerichtsverhandlung überhaupt. Sie stammt aus der Ilias des Homer und lässt sich somit in das achte vorchristliche Jahrhundert datieren. Das Rechtssystem jener Zeit beruht – wie die Beschreibung deutlich macht – bereits auf einigen wichtigen Errungenschaften. Die erste bestand schlicht darin, dass eine Rechtsprechung mitsamt Gerichtsfolgepflicht der Bürger existierte. Zur Klärung von Streitigkeiten und zur Sühnung von Verbrechen war keine Selbsthilfe, keine Selbstjustiz mehr erforderlich. Und auch jenes Stadium der Rechtsgeschichte, in dem die Rechtsfindung auf Gottesurteilen beruhte, war bereits überwunden; hier waren schon Menschen berufen, das Urteil zu fällen. In dem Fall, den Homer schildert, haben die Richter über einen Mann zu urteilen, der wegen der Tötung eines anderen Mannes bereits zur Zahlung eines Bußgeldes verurteilt worden war. Der Angeklagte beteuert, diese Zahlung geleistet zu haben, kann aber keinen Beleg vorweisen. Der Kläger bestreitet hingegen den Erhalt des Geldes. Charakteristisch an Homers Schilderung der Gesetzesauslegung bei den Griechen sind vor allem zwei Aspekte. Zum einen handelt es sich bei den Männern, die dort im „Heiligen Kreise“ sitzen und das Recht verkünden, um die Ältesten und nicht um besonders ausgebildete Rechtsgelehrte. Das antike Griechenland kannte keinen profes-

3

ner Krawietz, Hans Peter Walter sowie das instruktive Diagramm in dem Beitrag von Hideo Sasakura in Senn/Fritschi 2009. Homer, Ilias XVIII, 497–508, zitiert nach Hattenhauer 1999, 4f.

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sionellen Juristenstand.4 Zum anderen wird in dieser Szene lebhaft deutlich, dass Recht und Rechtsprechung bei den Griechen noch keinen eigenen, abgegrenzten Bereich darstellten; es wurde kaum zwischen moralischen, politischen und rechtlichen Fragen unterschieden.5 Das griechische Rechtssystem in der Zeit Homers wie in der Folgezeit war vielmehr stark durch „Gefühle, Tagespolitik und Parteimeinungen“6 geprägt. Dieser „eher streitlustig als friedfertig, eher leidenschaftlich als abgeklärt“7 zu nennende Charakter der griechischen Gerichtsverhandlung spricht deutlich aus der Beschreibung Homers: Da beschwört der Beklagte dem Volk seine Unschuld, der Kläger hält dagegen, und das Volk ruft beiden dermaßen heftig Beifall, dass es von den Herolden zurückgehalten werden muss. Angesichts dieser Umstände und der Bedeutung der Rhetorik für die griechische Kultur im Allgemeinen ist es nicht verwunderlich, dass die Rhetorik eine besondere Rolle im Rahmen der öffentlichen Gerichtsverhandlung einnahm, ja dass sie sogar zur „Rechtstechnik par excellence“ wurde.8 Doch handelte es sich hierbei um eine allgemeine Rhetorik, die darauf abzielte, Argumente pro und contra zu ordnen, den Einsatz der Rede als Mittel der Überzeugung generell zu untersuchen und einen Kanon an stilistischen Mitteln zu finden. Es ging um die Kunst der Rede, nicht um eine Wissenschaft von den Gesetzen und ihrer Auslegung.9 Denn so wichtig die Errungenschaften auf den Feldern der Rhetorik, der Argumentations- und Wissenschaftstheorie und auch der Rechtsphilosophie waren, so wenig hatten die Griechen im engeren Bereich der Rechtswissenschaft und der methodisch gesicherten Gesetzesauslegung zu bieten: „Wie sie keinen Juristenstand besaßen, so kannten sie auch keine Methode der Gesetzesauslegung.“10 Laut Hans Hattenhauer war den griechischen Richtern all das unbekannt, was die moderne, aber auch bereits die römische Rechtspflege einsetzte: die restriktive und die extensive Auslegung, die Analogie oder die freie Rechtsfortbildung zur Schließung von Gesetzeslücken. Das Gesetz herrschte absolut und durfte nur in strikter Wortauslegung angewandt werden. „Kam es vor, dass der streitige Sachverhalt nicht unter den Wortlaut des nomos passte, so war nur die Auslegung und Anpassung des Streitgegen4 5 6 7 8 9

10

Zum Fehlen einer „legal profession“ bei den Griechen vgl. Strömholm 1985, 23; Hattenhauer 1999, 7. Vgl. Haft/Hilgendorff 1993, 94. Hattenhauer 1999, 7. Ebd., 5. „Indeed, when popular courts began to hear claims asserted and rebutted in the course of legal proceedings, rhetoric was the legal technique par excellence.“ (Jones 1956, 300.) „The Greek teachers of rhetoric are content to marshal the points for and against, to examine the structure of orations in general as a means to persuasion, and to work out canons of criticism and style. They were not interested in the science of law, but in the art of oratory.“ (Ebd., 305.) Hattenhauer 1999, 11.

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standes an das Gesetz, nicht aber dessen auslegende Anpassung an den Sachverhalt möglich.“11 Von einer „Wissenschaft“ des Rechts und der Rechtsauslegung lässt sich erst seit dem römischen Rechtssystem sprechen.12 Doch auch an dessen Beginn, in der archaischen Phase, stand das Festklammern am Wort, was Helmut Coing zu der bekannten Formulierung brachte: „Für keine Disziplin gilt so wie für die Jurisprudenz der Satz: ‚Am Anfang war das Wort.‘“13 In den frühen Rechtssystemen hatte das Wort eine Bedeutung, die eng mit magischer Kraft verschwistert war.14 Daher spielten Priester eine große Rolle, und für das Urteil entscheidend war das korrekte Aufsagen von Wortformeln durch die Prozessbeteiligten.15 Den Beginn des römischen Rechts im eigentlichen Sinn und die erste Rechtssammlung überhaupt stellte die Gesetzgebung der XII Tafeln dar, die um 451/50 v. Chr. von einer zehnköpfigen Kommission ausgearbeitet wurde.16 Das Zwölftafelgesetz war, in den Worten des römischen Historikers Livius (59 v. Chr.–17 n. Chr.), „fons omnis publici privatique iuris“, „die Quelle des gesamten öffentlichen und privaten Rechts“.17 Es begründete eine so große Rechtstradition, dass noch im 2. Jahrhundert n. Chr., 600 Jahre nach seinem Inkrafttreten, Kommentare dazu geschrieben wurden. Im Zwölftafelgesetz wurden unter anderem schon verfahrensrechtliche Fragen geregelt (Tafel 1) und Klageformeln, die legis actiones, festgeschrieben (Tafel 2). Aufgrund der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklungen im Zuge des Aufstiegs Roms wurde aber ein moderneres Recht notwendig. Einer der Schritte dorthin war die lex Aebutia, mit der im 2. Jahrhundert v. Chr. der Schriftformelprozess eingeführt wurde. Hiernach war es möglich, dass die für die Rechtsprechung zuständigen Beamten – insbesondere die Prätoren – neue Klageansprüche (actiones) mitsamt den darauf antwortenden neuen Einwänden (exceptiones) zuließen. Während es anfangs nur eine geringe Anzahl von actiones und exceptiones gab, so änderte sich dies natürlich im Laufe der Zeit. Die hinzukommenden, neu zugelassenen Klagen und Abweisungen wurden in die jährlichen Bekanntmachungen der Prätoren und der anderen Rechtsmagistrate, die Edikte, aufgenommen und auf diese Weise wei11 12 13 14 15 16 17

Ebd. Zum römischen Rechtssystem gibt es eine Fülle von Literatur. Vgl. bspw. zur Rechtswissenschaft Schulz 1961, zum Prozessrecht Kaser/Hackl 1996, zur Rechtsfindung Kaser 1962. Coing 1982, 210. Vgl. Thiel 1980, 360. An einer sehr herausgehobenen Stelle, nämlich im ersten Titel der Digesten (dazu unten), werden die Juristen als „Priester der Gerechtigkeit“ bezeichnet: Dig. 1, 1 (Behrends 1995, 91). Vgl. Düll 1976; Wieacker 1988, 287ff. Livius, Ab urbe condita III, 34, 6, lat. u. dt. zitiert nach Hattenhauer 1999, 82.

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ter tradiert und angehäuft. Es entstand ein Grundstock von Ediktnormen, „eine Art Kodifikation der Magistratsrechtsprechung“18. Verfasst wurden actiones wie exceptiones zumeist von iuris consulti, Rechtskundigen, wodurch berufsmäßige Juristen aufkamen. Das Zwölftafelgesetz als erste Sammlung hatte den Anfang der römischen Rechtsgeschichte markiert; an ihrem Ende stand – rund ein Jahrtausend später – das Projekt des Kaisers Justinian (482–565), die geltenden Gesetze sowie wichtige Aussagen der römischen Juristen zu sammeln. Auch wenn dieses Unterfangen im Grunde mit anderen römischen Rechtsaufzeichnungen in eine Reihe gestellt werden könnte, so gibt es doch zwei Besonderheiten: zum einen die immense, kaum zu überschätzende Wirkung, die dieses (später so genannte) Corpus iuris civilis für die europäische Rechtsgeschichte des späten Mittelalters und der gesamten Neuzeit erlangen sollte. Und zum anderen erlauben die Digesten, eben jene Sammlung der wichtigsten Aussagen von Juristen aus der klassischen Zeit, einen Überblick über die Rechtsauslegung in der römischen Rechtsgeschichte. Justinian wurde im Jahr 527 Kaiser. Bereits im folgenden Jahr initiierte er eine Rechtsreform und berief eine zehnköpfige Kommission unter der Leitung des kaiserlichen Kanzleichefs Tribonian (†542). Das erste Projekt war von traditionellem Charakter: eine Sammlung der Kaisergesetze, der Codex. Nach dem Gregorianischen, dem Hermogianischen und dem Theodosianischen handelte es sich um den vierten seiner Art. Er sollte die vorangegangenen mit den inzwischen erlassenen Kaisergesetzen in bereinigter Form zu einem Werk verarbeiten und wurde im Jahr 528 dem Senat von Konstantinopel vorgelegt. Kurz darauf berief Justinian eine weitere Kommission und erteilte ihr den Auftrag, die wichtigsten Aussagen der maßgeblichen Juristen der klassischen römischen Rechtswissenschaft zusammenzustellen. Aus der ungeheuren Schriftmasse – es wurden drei Millionen Zeilen juristischer Zitate gesichtet – wurden 150.000 Zeilen für die Digesten ausgewählt. Dabei wurden die Textstellen allerdings nicht immer unverändert übernommen, sondern zum Teil überarbeitet, um eine möglichst große Widerspruchsfreiheit und Benutzbarkeit zu ermöglichen. Die Digesten gliedern sich in 50 Bücher mit insgesamt 429 Titeln. Die Aussagen bzw. Fragmente stammen von insgesamt 38 Juristen, wobei jedoch vier Fünftel auf Modestinus, Gaius, Papinian, Paulus und vor allem Ulpian zurückgehen, allesamt Juristen des 2. und 3. Jahrhunderts n. Chr. Allein Ulpian zeichnet für zwei Fünftel der in den Digesten gesammelten Zitate verantwortlich. 18

Raisch 1995, 10.

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Das Corpus iuris wurde komplettiert durch das Institutionen-Lehrbuch des Gaius (in der von Tribonian überarbeiteten und 533 veröffentlichten Fassung) sowie die Novellen oder Authentica mit den nach Abschluss der Gesamtredaktion erlassenen Kaisergesetzen. Insgesamt bildeten also vier verschiedene Teile das Corpus iuris: – die Institutiones, ein vierteiliges Lehrbuch für den Rechtsunterricht; – die Digesten oder Pandekten, 50 Bücher mit den interpolierten Auszügen aus den Juristenschriften vor allem der klassischen Zeit mit hauptsächlich privatrechtlichem Inhalt; – der Codex, die Sammlung der bisherigen Kaisergesetze in harmonisierter Form (in zwei Versionen der Jahre 528 und 534); – die Novellen, die Sammlung der nach 535 erlassenen Kaisergesetze. Während für die damalige Zeit und den eigentlichen Zweck des Projektes der Codex den wichtigsten Teil darstellte, stehen aus späterer Sicht die Digesten im Mittelpunkt. In ihrem ersten, programmatischen Titel heißt es: „[…] ius est ars boni et aequi“, „das Recht ist die Kunst [der Herstellung, W.R.] des Guten und Billigen“.19 Diese Kunst oder auch Technik nahm ihren Ausgang in der primitiven Periode mündlicher Tradition und erreichte ein neues Stadium durch Fixierung des Rechts im Gesetz. Dadurch gewann es Sicherheit gegen Willkür und Verdrehung wie auch gegen zeitliche Erosion. Diese Unwandelbarkeit schien einen Wesenszug der Rechtsidee zu verwirklichen und, auf der Seite der Rechtsprechung, Erfüllung bis auf den Buchstaben zu fordern.20 Demzufolge war das strikte Festhalten an der wörtlichen Auslegung zunächst die Regel; es herrschte eindeutig ein „interpretative[r] Formalismus“21 vor. Doch durch den Gegensatz zwischen dem starren Recht einerseits und den fortschreitenden Veränderungen der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse andererseits kam es zur Unangemessenheit des Rechts. Zu dieser Erkenntnis gelangte man aber erst durch viele Erfahrungen, durch viele gesetzestreue, aber doch unrichtige, weil unbillige Richtersprüche. Summum ius – summa iniuria, größtes Recht – größtes Unrecht, diese Formel prägte Cicero (106–43 v. Chr.) später für die vielfach gemachte Erfahrung mit den Mängeln einer zu starren Rechtsauslegung. Als eine Konsequenz stellte man neben den interpretativen Formalismus bei der Auslegung der Gesetze die aequitas, die Billigkeit. Man lernte zu unterscheiden zwi19 20 21

Dig. 1, 1, 1 (Behrends 1995, 91; dt. Übers. hier: M.C.). Vgl. Stroux 1949, 9. Schulz 1961, 34 et passim.

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schen dem strengen Recht (ius strictum) und dem billigen Recht (ius aequum) und setzte dem Buchstaben des Gesetzes eine aus der Menschlichkeitsethik abgeleitete Gerechtigkeit entgegen.22 Doch auch abgesehen von der aequitas – die gewissermaßen über der Auslegung im üblichen Sinn angeordnet war – kann in der römischen Rechtsgeschichte eine zunehmende Freiheit der Auslegung gegenüber der strikten Ausrichtung am Wortsinn festgestellt werden. Zu dieser Entwicklung – die erst gegen Ende der Antike, in der Zeit zunehmender Bürokratisierung ein Ende fand, als die Juristen in Teilbereichen wieder zu einem engeren Formalismus zurückkehrten23 – trugen einige Neuerungen in der Auslegungsmethodik bei. Zwar blieb die Ausrichtung am wörtlichen Text, von den römischen Juristen zur grammatisch-philologischen Exegese weiterentwickelt, das Fundament für jegliche Auslegung.24 „Der Hang der römischen Jurisprudenz, an der Wortauslegung festzuhalten, die ihr der sichere Boden zu sein schien, [blieb], solange die römische Jurisprudenz sich fortentwickelt[e], stets erkennbar.“25 Doch neben diese wörtliche Auslegung trat bereits in der Antike das zusätzliche Auslegungsprinzip, dass nach der inneren Absicht – der voluntas oder sententia – des Gesetzgebers interpretiert werden muss. So zitieren die Digesten den Juristen Celsus aus der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts: „Gesetze sind so wohlwollend auszulegen, dass ihr Wille gewahrt bleibt.“26 In dieselbe Richtung zielt ein zweiter, ebenfalls in die Digesten aufgenommener Rechtssatz von Celsus: „Bei mehrdeutigem Wortlaut des Gesetzes soll man lieber die Bedeutung annehmen, die fehlerfrei ist, zumal da auf diese Weise auch der Wille des Gesetzes erschlossen werden kann.“27 In bestimmten Bereichen des Privatrechts, vor allem bei der Interpretation von Testamenten, ist in den späten Phasen der römischen Rechtsgeschichte ein geradezu „schrankenlose[r] Voluntarismus“28 zu erkennen, als die voluntas gegenüber den verba

22 23 24 25

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Zu ius aequum und ius strictum vgl. Pringsheim 1921. Vgl. Strömholm 1985, 68. Dig. 32, 25, 1: „Cum in verbis nulla ambiguitas est, non debet admitti voluntatis quaestio.“ (Krüger/ Mommsen 1963, 76.) Coing 1982, 211. Demgemäß finden sich im Corpus iuris ausdrückliche Worterklärungen, z. B. Dig. 50, 16, 1: „Der Ausdruck ‚jemand‘ umfasst sowohl Männer als auch Frauen.“ (lat. Text bei Krüger/ Mommsen 1963, 933.) Dig. 1, 3, 18: „Benignius leges interpretandae sunt, quo voluntas earum conservetur.“ (Behrends 1995, 113.) Dig. 1, 3, 19: „In ambigua voce legis ea potius accipienda est significatio, quae vitio caret, praesertim cum etiam voluntas legis ex hoc colligi possit.“ (Ebd., 113f.) Schulz 1961, 373.

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durch eine freie Interpretation zur Geltung gebracht wurde. So ging man hier sogar über die Frage, was der Erklärende in seinem Testament gewollt hatte, noch hinaus zu der Frage, was er unter bestimmten Umständen gewollt hätte. Ebenfalls bereits in der Antike wurde ein dritter Aspekt in die Gesetzesauslegung einbezogen: die Frage nach der ratio, nach dem objektiven Zweck des Gesetzes, der nicht identisch sein muss mit dem Wortsinn oder dem subjektiven Willen des Gesetzgebers: „Gesetze kennen heißt nicht, ihre Worte kennen, sondern ihren Sinn und Zweck.“29 Allerdings stand dieser Aspekt bei den klassischen römischen Juristen etwas zurück. Der Versuch, den Willen des Gesetzgebers zu erkennen und zu befolgen, wurde einer objektiven Gesetzesauslegung eindeutig übergeordnet. Neben dieser Berücksichtigung des Willens des Gesetzgebers oder des Sinns des Gesetzes wurden auch schon Ansätze zu einer systematischen Gesetzesauslegung entwickelt, wonach eine Gesetzesstelle oder eine Einzelheit erst durch Einordnung in den größeren Rahmen sinnvoll interpretiert werden könne. Ein Beispiel für einen Schritt in diese Richtung liefert etwa Dig. 1, 3, 24: „Es ist unrechtmäßig, nach irgendeiner vorgelegten Stelle eines Gesetzes einen Richterspruch zu fällen oder ein Gutachten abzugeben, ohne das ganze Gesetz in Betracht gezogen zu haben.“30

Die römischen Juristen entwickelten also eine Reihe von Rechtssätzen, die auch heute noch den Grundstock der Auslegungsregeln bilden. Zu diesen Grundprinzipien traten ebenfalls bereits in der Antike weitere Auslegungsregeln, die zum einen die Einheit der Rechtsordnung herstellen und zum anderen Lücken in der Rechtsordnung schließen sollten. Als Beispiele hierfür seien die Grundsätze lex specialis derogat generali oder lex posterior derogat priori angeführt, wonach jeweils die spezielleren bzw. die später erlassenen Gesetze Vorrang genießen sollten. Ebenfalls eingesetzt – wenn auch nicht unbedingt methodisch begründet – wurde bereits der Analogieschluss.31 Er wurde angewandt, weil die Gesetze nicht alle Eventualitäten wörtlich abdecken konnten. Ein Beispiel hierfür stellt Dig. 1, 3, 12 dar:

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Dig. 1, 3, 17: „Scire leges non hoc est verba earum tenere, sed vim ac potestatem.“ (Behrends 1995, 113.) „Incivile est nisi tota lege perspecta una aliqua particula eius proposita iudicare vel respondere.“ (Ebd., 114; dt. Übers. hier: M.C.) Vgl. Coing 1982, 211. Dazu kamen noch einige methodisch-rhetorische Kunstgriffe wie das (letztendlich auf die Topik des Aristoteles zurückgehende) argumentum e contrario sowie das argumentum a fortiori.

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„Es können nicht alle Fallvarianten einzeln von den Gesetzen oder Senatsbeschlüssen erfasst werden; wenn aber deren Sinn und Zweck auf irgendeinen [neuen] Fall zutreffen, dann muss derjenige, der für die Rechtsprechung zuständig ist, zur Bildung einer analogen Regel fortschreiten und danach Recht sprechen.“32

Ein großer Teil der juristischen Auslegungsmethoden, wie sie heute noch bekannt sind, wurde also bereits von den römischen Juristen eingeführt. Man kann schon in der klassischen römischen Jurisprudenz und dann gesammelt in den Digesten des Corpus iuris civilis einen traditionellen Bestand an Auslegungsregeln identifizieren, der in seinen wesentlichen Grundzügen durch die gesamte spätere Rechtsgeschichte erhalten bleibt und erst im 19. Jahrhundert durch einige neue Methoden ergänzt wurde.33 Nichtsdestoweniger sollte die Leistung der römischen Juristen in Bezug auf die Auslegungsmethodik nicht überschätzt werden. Die Interpretationsregeln, die in den Digesten gesammelt wurden, waren in ihrer Anzahl dann doch eher begrenzt, zudem waren sie nicht systematisch geordnet, sondern über die gesamten Digesten verstreut. Diese „Dürftigkeit der methodischen Aussagen im Corpus iuris ist [aber] nicht den Kompilatoren anzulasten. Eine Theorie der juristischen Hermeneutik war eben nicht in den Quellen zu finden.“34 Vor allem blieb die Frage nach dem Verhältnis und der Hierarchie unter den verschiedenen Auslegungsregeln ungeklärt. Die römischen Juristen entwickelten keine Doktrin der Interpretation im Sinne eines kohärenten und geschlossenen Systems, sondern beließen es bei einem „Katalog von intellektuellen Werkzeugen“35. Zwar bestand das römische Recht aus einem komplexen Netz von Regeln, aber diese bildeten eben kein theoretisches System, sondern „ein hochdifferenziertes Mosaik praktischer Lösungen bestimmter Rechtsfragen“36. Das Rechtsdenken der römischen Juristen schwebte zwischen Wissenschaft und Praxis. Dazu trug auch bei, dass das römische Rechtssystem keinen philosophischen Überbau besaß.37 Hatte die griechische Kultur eine Rechtsphilosophie, aber keine Rechtswissenschaft besessen, so galt für Rom das genaue Gegenteil. „A legal profession without a philosophy“ – so kann man das römische Rechtssystem charakterisieren.38 32

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„Non possunt omnes articuli singillatim aut legibus aut senatus consultis comprehendi: sed cum in aliqua causa sententia eorum manifesta est, is qui iurisdictioni praeest ad similia procedere atque ita ius dicere debet.“ (Behrends 1995, 113.) Vgl. Coing 1982, 210. Himmelschein 1931, 396. Strömholm 1985, 69. Berman 1991, 245. Vgl. Schulz 1961, 84. Strömholm 1985, 64.

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Diesem unsystematischen, unphilosophisch-pragmatischen Zug der Auslegungsmethodik korrespondiert die ausgeprägte Kasuistik des römischen Rechtssystems. Zum Finden von praktischen Ergebnissen ging man nicht von der Rechtsregel aus, sondern vom Fall. „Die Kasuistik führte zur Regel und nicht umgekehrt.“39 Ein wichtiger, vom Juristen Paulus stammender Rechtssatz über das Finden von Rechtsregeln (regulae) lautet: „Eine Regel stellt die bestehende Rechtslage in kurzer Form dar. Nicht etwa soll man das Recht (des Einzelfalles) aus der Regel ableiten, sondern aus dem bestehenden Recht soll die Regel erwachsen.“40

Die regulae sind also keine selbständige Quelle der Rechtserkenntnis, sondern sie spiegeln nur das Recht wider, wie es sich in den kasuistischen Fallentscheidungen manifestiert hat.41 Zudem opferten die römischen Juristen diese festen Regeln bedenkenlos, wenn sie zu ungerechten Entscheidungen geführt hätten. Und die meisten Juristensätze hatten ohnehin nicht die Geltung dieser allgemein formulierten Regelsätze, sondern waren in der Hierarchie darunter angesiedelt und dienten lediglich als Erfahrungsaussage.42 Auch wenn zu bestimmten Zeiten bestimmte Tendenzen in der Rechtsprechung vorherrschten, beispielsweise die Aufwertung der voluntas gegenüber den verba, blieb es doch immer bei Einzelentscheidungen; prinzipielle Überlegungen etwa zur Abwägung dieser beiden Elemente wurden nie angestellt.43 Und selbst wenn der Jurist einmal über den eigentlichen Fall hinausgriff und sich auf Nachbar- oder Gegenfälle bezog, um mit den Schlussfolgerungen nach dem argumentum a simili (Analogie) oder dem argumentum e contrario etc. zu arbeiten, so zielte er selten auf allgemeine Rechtssätze, sondern auf einzelne Fälle und verblieb im engeren Kreis der Kasuistik.44 Eine Rolle in diesem System spielten bedeutende Einzelprozesse45, die auch zur kasuistischen Abklärung von Grundsätzen dienten und über diese Funktion als Musterprozesse teilweise das Fehlen eines wissenschaftlichen Systems oder einer Rechtsphilosophie kompensierten. 39 Hattenhauer 1999, 106. 40 Dig. 50, 17, 1: „[N]on ex regula ius sumatur, sed ex iure quod est regula fiat.“ (Krüger/Mommsen 1963, 956; dt. Übers.: Hattenhauer 1999, 106.) Für Hattenhauer ist dies „die Regel aller Rechtsregeln“ (ebd.). 41 Vgl. Kaser 1962, 61. 42 Vgl. ebd., 60. 43 Vgl. Schulz 1961, 373. Schulz spricht von einem „kasuistische[n] Chaos“ (ebd.) in den Quellen. 44 Vgl. Kaser 1962, 59. 45 Johannes Stroux nennt die causa Curiana (unmittelbar vor Cicero) und Ciceros Rede pro Caecina (vgl. Stroux 1949, 45).

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Die römischen Juristen verfügten also über ein gewisses Instrumentarium an Regeln zur Gesetzesauslegung, das aber weder systematisiert noch widerspruchsfrei war. Dementsprechend konnte es in der Gerichtsverhandlung naturgemäß zu sehr verschiedenen Ansichten über die Anwendung der verschiedenen Rechtsregeln und über das Urteil kommen. Bei der Vielzahl der möglichen Streitpunkte über die Entscheidung eines Rechtsfalles unterschied die römische Rechtswissenschaft vier grundsätzliche Schemata (status oder quaestiones): 1. Die eine Partei stützt sich auf das Gesetz in der strikten Auslegung seines Wortlautes, die andere auf die sinngemäße, den Willen des Gesetzgebers, die Absicht des Gesetzes (scriptum et voluntas, sententia); 2. die Parteien stützen sich auf einander widersprechende Gesetze (antinomia, leges contrariae); 3. die Parteien stützen sich unter verschiedenen Auslegungen auf ein und dasselbe mehrdeutige Gesetz (amphibolia, ambiguitas); 4. die eine Partei beruft sich auf den im Wortlaut erfassten Umfang des Gesetzes, die andere vertritt den Standpunkt, dass eine Lücke im Gesetze vorliege und durch ein Schlussverfahren ergänzt werden müsse (syllogismus, ratiocinatio, collectio).46 Für die Entscheidung dieser Streitpunkte gab es keine feste Regel, sondern eine Reihe von Elementen, die beteiligt waren. Eine große Rolle spielte im römischen System der Rechtsfindung beispielsweise, was man als „juristische Intuition“47 bezeichnen könnte. Ebenfalls von großer Bedeutung war die Tradition der Rechtsprechung, aber auch die Autorität einzelner Juristen. Im Konfliktfall war die Benutzung der Auslegungsmethoden viel mehr als irgendwelchen rechtswissenschaftlichen Systemgedanken vor allem den rhetorischen Nützlichkeitserwägungen unterworfen. „Die Frage, ob man im Einzelfall beim Wortlaut stehen bleiben oder aber frei, dem ‚Willen‘, der ‚Billigkeit‘ entsprechend interpretieren darf und soll: diese Frage (d. h. also die Rechtsfrage!)“ entschied der iuris consultus „einfach danach, was für seinen Klienten vorteilhafter ist“48. Und in diesem Konfliktfall spielten dann natürlich auch Rhetorik oder Topik im Gerichtsverfahren eine entscheidende Rolle. 46

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Vgl. ebd., 29. Mit diesen vier status oder quaestiones ging man von einer vollständigen rhetorischen Theorie der Gesetzesauslegung aus. Es gab aber Varianten. Manche diskutierten über eine fünfte quaestio, die Definition, andere schlossen den Syllogismus aus. Dass es eine Beziehung der vier untereinander gab, wurde nicht verkannt. Kaser 1962, 58. Schulz 1961, 92.

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Einfacher hatten es da die Rechtsgutachter, welche die von ihnen gefällte Entscheidung im Normalfall gar nicht begründeten. Ein Beispiel für die klassische Auslegung gibt Dig. 21, 2, 11, ein Beispiel, das „für viele Tausende“49 steht: Es geht um den Kauf eines Grundstücks in Germanien jenseits des Rheins, wobei ein Teil des Kaufpreises bereits bezahlt wurde. Die restliche Summe hingegen wollte der Käufer nicht bezahlen, da das Grundstück vom Kaiser enteignet und Kriegsveteranen zugesprochen worden war. Der Jurist Paulus sollte nun klären, wer die Gefahr des zwischenzeitlichen Verlustes zu tragen hat. Sein Schluss lautete: „Der in der Zeit nach Abschluss des Kaufvertrages eingetretene Verlust einer Sache betrifft nicht den Verkäufer. Nach dem, was mir vorgetragen worden ist, kann daher der Restkaufpreis für die Grundstücke verlangt werden.“50

Paulus gab weder eine Begründung für seinen Rechtsbescheid noch eine Erklärung über dessen Zustandekommen. Das war auch nicht nötig, weil das Rechtsgutachten nicht an juristische Laien, sondern an den Prätor oder an einen Anwalt adressiert war. Und diese kannten „das hinter dem Votum stehende Gedankengebäude“51, in diesem eher einfachen Fall den Bezug auf die allgemeine Rechtsregel Dig. 18, 6, 8: „Periculum est emtoris“, „die Preisgefahr trägt der Käufer“.52 Aber der Hauptgrund für die römischen Rechtsgelehrten, auf Begründungen ihrer Rechtsgutachten zu verzichten, ist ein anderer: Es „genügte […] ihnen, die Entscheidung auf ihre Autorität zu stützen, im Selbstbewusstsein ihrer sicheren Erkenntniskraft; allenfalls noch auf die Autorität ihrer Vorgänger, soweit sie sie zitieren“53.

II. Mittelalter Nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches verlor natürlich auch das römische Recht an Strahlkraft. Es lebte nur teilweise fort, in den germanischen Volksrechten etwa, wohingegen nun regionale Rechtssysteme, Gewohnheitsrechte und Gottesurteile wieder in den Vordergrund traten. Das hoch entwickelte Gerichtssystem der Römer mit seinen professionellen Juristen und seinen Vollstreckungsmöglichkeiten verschwand ebenso wie die Wissenschaft des römischen Rechts im Sinne der klassi49 50 51 52 53

Hattenhauer 1999, 106. Zitiert nach ebd. Ebd. Zitiert nach ebd. Kaser 1962, 55.

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Einfacher hatten es da die Rechtsgutachter, welche die von ihnen gefällte Entscheidung im Normalfall gar nicht begründeten. Ein Beispiel für die klassische Auslegung gibt Dig. 21, 2, 11, ein Beispiel, das „für viele Tausende“49 steht: Es geht um den Kauf eines Grundstücks in Germanien jenseits des Rheins, wobei ein Teil des Kaufpreises bereits bezahlt wurde. Die restliche Summe hingegen wollte der Käufer nicht bezahlen, da das Grundstück vom Kaiser enteignet und Kriegsveteranen zugesprochen worden war. Der Jurist Paulus sollte nun klären, wer die Gefahr des zwischenzeitlichen Verlustes zu tragen hat. Sein Schluss lautete: „Der in der Zeit nach Abschluss des Kaufvertrages eingetretene Verlust einer Sache betrifft nicht den Verkäufer. Nach dem, was mir vorgetragen worden ist, kann daher der Restkaufpreis für die Grundstücke verlangt werden.“50

Paulus gab weder eine Begründung für seinen Rechtsbescheid noch eine Erklärung über dessen Zustandekommen. Das war auch nicht nötig, weil das Rechtsgutachten nicht an juristische Laien, sondern an den Prätor oder an einen Anwalt adressiert war. Und diese kannten „das hinter dem Votum stehende Gedankengebäude“51, in diesem eher einfachen Fall den Bezug auf die allgemeine Rechtsregel Dig. 18, 6, 8: „Periculum est emtoris“, „die Preisgefahr trägt der Käufer“.52 Aber der Hauptgrund für die römischen Rechtsgelehrten, auf Begründungen ihrer Rechtsgutachten zu verzichten, ist ein anderer: Es „genügte […] ihnen, die Entscheidung auf ihre Autorität zu stützen, im Selbstbewusstsein ihrer sicheren Erkenntniskraft; allenfalls noch auf die Autorität ihrer Vorgänger, soweit sie sie zitieren“53.

II. Mittelalter Nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches verlor natürlich auch das römische Recht an Strahlkraft. Es lebte nur teilweise fort, in den germanischen Volksrechten etwa, wohingegen nun regionale Rechtssysteme, Gewohnheitsrechte und Gottesurteile wieder in den Vordergrund traten. Das hoch entwickelte Gerichtssystem der Römer mit seinen professionellen Juristen und seinen Vollstreckungsmöglichkeiten verschwand ebenso wie die Wissenschaft des römischen Rechts im Sinne der klassi49 50 51 52 53

Hattenhauer 1999, 106. Zitiert nach ebd. Ebd. Zitiert nach ebd. Kaser 1962, 55.

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schen Zeit.54 Recht wurde jetzt häufiger von ehrenamtlichen Kennern der entsprechenden mündlich weitergegebenen Gewohnheiten gefunden als durch die professionelle Interpretation von schriftlich vorliegenden Normen. Vom Corpus iuris civilis blieben in Fachkreisen nur ein Teil des Codex, die Institutionen sowie eine Kurzfassung der Novellen bekannt, während die Digesten, die Grundlage der Rechtswissenschaft, vollkommen in Vergessenheit gerieten. Die Wiederentdeckung der römischen Rechtstradition setzte im 11. Jahrhundert ein, bevor das folgende Jahrhundert – „das juristische Jahrhundert“55 – dann eine neue Blüte des römischen Rechts und die Geburt des modernen Rechtsdenkens brachte. Geburtsort der neuen Rechtswissenschaft war die Universität von Bologna, die „alma mater des heutigen juristischen Denkens“56. Bologna war nicht nur ein geistiges und geistliches Zentrum, sondern auch ein Verkehrsknotenpunkt, was der Stadt zu beträchtlichem Reichtum verhalf. Infolgedessen waren nicht nur die materiellen und intellektuellen Voraussetzungen ausgezeichnet, sondern auch Bedarf an Rechtsgeschäften und Rechtskundigen vorhanden. In Bologna waren auch die zwei Persönlichkeiten tätig, die als Gründergestalten der modernen Rechtswissenschaft fungieren sollten: Gratian († vor 1160) und Irnerius (1055–ca. 1130). Gratian lebte als Mönch im Kamaldulenser-Kloster von Bologna. Er sammelte alle Regeln des Kirchenrechts, die seit den Konzilien des 4. Jahrhunderts erlassen worden waren, und gab sie als Concordantia discordantium canonum (sinngemäß: ‚Vereinheitlichende Sammlung der unterschiedlichen Regeln [der Kirche]‘) heraus. Diese als Decretum Gratiani bekannt gewordene Regelsammlung sollte – zusammen mit den Ergänzungen durch die päpstliche Gesetzgebung – die Grundlage für die Kanonistik im ausgehenden Mittelalter bilden und 1582 in das Corpus iuris canonici eingehen.57 Irnerius war Richter. Er war es, der die ersten Juristen in Bologna ausbildete und der die neue Wissenschaft vom römischen Recht begründete. Eine wesentliche Voraussetzung – gewissermaßen die Initialzündung – für die Neubelebung des römischen Rechtsdenkens bildete die Wiederentdeckung der Digesten. Diese hatten, wie erwähnt, in den Jahrhunderten seit dem Zerfall des Römischen Reiches keine Rolle gespielt. Tatsächlich hat sogar nur ein einziges Exemplar überlebt und „irgendwo unbeachtet, aber zufälligerweise unbeschadet in einem Winkel gelegen“ – ein „Zufall von weltgeschichtlicher Bedeutung“.58 Es bestand nur diese eine Brücke 54 55 56 57 58

Vgl. Raisch 1995, 17. Berman 1991, 199. Raisch 1995, 17. Vgl. Senn 2007, 181f. Kantorowicz 1910, 87.

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zwischen der Entstehung der Digesten in der Antike und ihrer Rezeption im Mittelalter (wohingegen beispielsweise eine Vielzahl von Abschriften des Codex existierte, so dass es hier kein Muster mit Autorität, sondern eine Reihe von mehr oder weniger unterschiedlichen Versionen gab). Diese eine Digesten-Abschrift wurde um 1050 in Pisa gefunden und nach ihrem Fundort bzw. ihrem späteren Aufbewahrungsort Florenz (ab 1406 bis heute) Littera Pisana oder Florentina genannt. Allerdings wurde nicht diese Fassung zur Textgrundlage der mittelalterlichen Rechtswissenschaft, sondern die Abschrift einer Abschrift. Die erste Stufe bildete der im 11. Jahrhundert in Pisa angefertigte, jedoch verschollene Codex secundus, der aber bereits deutliche, aus unbekannter Quelle stammende Veränderungen aufgewiesen haben muss. Hiervon wiederum wurde dann die Textfassung abgeschrieben und vielfach kopiert, die als Vulgata oder Littera vulgata die Textgrundlage für die Rechtswissenschaft bildete. Dabei wiesen diese Abschriften durchaus Differenzen auf, so dass von einer Littera vulgata im Sinne eines feststehenden, nicht mehr variierenden Textes nur mit Einschränkungen gesprochen werden kann. Die Textfassungen der Vulgata waren also nicht mehr identisch mit der Florentina. Zum einen kam es zu unbeabsichtigten, „mechanischen“ Fehlern durch falsches Abschreiben oder Vertauschen von Bögen. Zum anderen gab es beabsichtigte Änderungen. Einer der auffälligsten Unterschiede war, dass in der Vulgata alle griechischen Wörter entweder ersatzlos gestrichen oder ins Lateinische übersetzt wurden. Zudem war für die Digesten nun eine Dreiteilung üblich – das Digestum vetus von Buch 1 bis Buch 24, 2; das Digestum infortiatum von Buch 24, 3 bis Buch 38 und das Digestum novum von Buch 39 bis Buch 50 –, die mit der ursprünglichen Struktur nichts zu tun hatte. Dies geschah wahrscheinlich aus praktischen Gründen, aber die Grenzziehung zwischen Dig. 24, 2 und 24, 3 ist rätselhaft; eine der Vermutungen läuft auf einen Schreiberscherz hinaus.59 Auf jeden Fall wurde diese geänderte Fassung der Digesten, verbreitet in Hunderten von Abschriften, zur Basis der Rezeption, während die Florentina für lange Zeit bedeutungslos und kaum zugänglich war. Im 11. und 12. Jahrhundert wurden zwar auch die anderen von Justinian veröffentlichten Rechtsbücher bearbeitet, aber mehr als jene waren vor allem die Digesten grundlegend für die Rezeption des römischen Rechts, denn in ihnen offenbarte sich dessen Geist wie in keinem anderen Text. Zu bedenken ist dabei, dass die Rezeption des römischen Rechts zunächst eine Frage der Rechtswissenschaft blieb, weil in der Rechtspraxis Rechtssysteme regionaler oder gewohnheitsrechtlicher Natur maßgebend waren und das römische Recht nicht 59

Vgl. ebd., 91.

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als geltendes positives Recht angesehen wurde. Dass sich das römische Recht dennoch als Thema der Rechtswissenschaft und schließlich auch als positives Recht durchsetzen konnte, hat mehrere Ursachen. Zu nennen sind hier – neben seinen inneren Qualitäten, die es als ideales Recht erschienen ließen – die Rückbesinnung auf das antike Wissen, die ja nicht nur die Rechtswissenschaft dieser Zeit prägte, sowie die Gründung der ersten Universitäten.60 Wichtig waren außerdem politische Umstände wie die Verbreitung der Reichsidee und auf kirchlichem Gebiet die Idee des Papsttums, nicht zuletzt aber auch die Entwicklung des kanonischen Rechts. Denn das kanonische Recht war das erste moderne westliche Rechtssystem. Zwar nicht in dem Sinn, dass es vorher keine kirchlichen Gesetze bzw. Regeln gegeben hätte. Aber es existierte jetzt erstmals ein System des kirchlichen Rechts, d. h. ein selbständiges, einheitliches, sich entwickelndes Korpus kirchlicher Rechtsgrundsätze und -verfahren, das sich deutlich von Liturgie und Theologie abhob. Die beiden Rechtssysteme entwickelten sich in einer überaus engen Verflechtung, als utrumque ius, als zweierlei, aber eng verwandtes Recht. Denn in der Praxis war das kanonische Recht häufig der Wegbereiter für das römische. Das ist begründet vor allem in der schon vorhandenen Organisation der Kirche und ihrer Rechtsprechung, den Lateinkenntnissen, über die vor allem ihre Vertreter verfügten, und dem Vertrauen der Menschen in die professionellen kirchlichen Juristen und ihr Verfahren (im Vergleich zu den weltlichen Laien-Richtern). Auslegungsgeschichtlich war durch das Vorliegen dieser beiden schriftlich fixierten Korpora mit apriorischem Geltungsanspruch eine neue Lage gegeben. Denn im Gegensatz zu bisher konnte und musste Recht hinfort durch Auslegung von Texten gefunden werden, ähnlich wie die religiöse Wahrheit durch Auslegung der Bibel. Die neue Rechtswissenschaft übernahm die Methoden der Theologie.

1. Mos italicus In der von der Rezeption des römischen Rechts geprägten Jurisprudenz sind grundsätzlich zwei verschiedene Wege oder Methoden der Auslegung zu unterscheiden. Zunächst bildete sich ein erstes Verfahren in Bologna und an anderen italienischen Universitäten heraus, das mos italicus genannt und von den Anfängen im 12. Jahrhundert bis zum 17. Jahrhundert praktiziert wurde. Im Rahmen des mos italicus können wiederum zwei zeitliche Stufen unterschieden werden: die der Glossatoren und die 60 Harold J. Berman z. B. gibt auf die Frage, warum die Rechtswissenschaft um diese Zeit entstand, die schlichte Antwort: weil damals die Universitäten entstanden (vgl. Berman 1991, 261). Eine Antwort, die dann wiederum auf eine ideen- und sozialgeschichtliche Ebene verweist.

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der Kommentatoren. Im 16. Jahrhundert erhielt der mos italicus dann, ausgehend von Frankreich, Konkurrenz durch den mos gallicus. Die beiden Methoden wurden dann im 17./18. Jahrhundert im usus modernus pandectarum aufgehoben.

1.1 Glossatoren Zu Beginn der Rezeption des römischen Rechts musste das erste Ziel der Rechtswissenschaftler um Irnerius und seine Schüler schlicht die Stoffbeherrschung sein.61 Immerhin hatten sie es mit einem weitgehend unbekannten, zudem hochkomplexen und ziemlich ungeordneten Textkorpus zu tun. Hinzu kam, dass das Corpus iuris als ratio scripta, als quasi-heiliger Text eine Autorität genoss, die der Bedeutung der Bibel für die Theologen kaum nachstand. Den Text zu historisieren oder zu kritisieren war deshalb undenkbar. Die Aufgabe der Rechtswissenschaft, später auch der praktischen Rechtsprechung war es demnach, „ein unverrückbares Wort verständlich zu machen“62. Der Weg zur Beherrschung des Corpus iuris war die Analyse durch die Einzelglosse, die Keimzelle der modernen Rechtswissenschaft.63 Schwierige Begriffe wurden zunächst erläutert, indem man direkt darüber Erklärungen in den Text einfügte. Von dieser Interlinearglosse ging man aber bald schon dazu über, die Ränder der Seiten mit weiterführenden Anmerkungen zu beschreiben. Schon aus der Frühzeit sind viele Tausend Glossen überliefert. Sie wurden wie ein Bestandteil des Textes weiter abgeschrieben und erhalten. Das geschah übrigens, ohne den Glossator zu nennen, was nach heutiger Auffassung zwar auf ein Plagiat hinausliefe, damals aber selbstverständlich war.64 Im Laufe der Entwicklung wurden aus den Einzelglossen schließlich eigene Texte, die Glossenapparate, Kommentierungen oder eine lectura aus durchlaufenden Glossen zu bestimmten Titeln, zu ganzen Büchern, schließlich zum ganzen Corpus iuris. Ihren Höhepunkt fand die Kultur der Glossatoren in der gewaltigen Glossensammlung des Accursius (um 1185–1263) Mitte des 13. Jahrhunderts, in der 96.000 Glossen gesammelt sind. Bewundernd hieß es für lange Zeit: „[Q]uidquid non adgnoscit glossa, non adgnoscit curia.“65 Diese Glossa ordinaria genoss eine Autorität, die derjenigen

61 62 63 64 65

Vgl. Genzmer 1934, 10. Zu den Glossatoren jetzt sehr ausführlich und mit vielen Literaturhinweisen zu allen Aspekten: Lange 1997. Dahm 1963, 88. Vgl. Genzmer 1934, 10. Zur Glosse vgl. Weimar 1973. Vgl. Lange 1997, 122f. Zitiert nach Raisch 1995, 22.

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des eigentlichen Rechtstextes in nichts nachstand. Für die Praxis wurde sie sogar zur ersten Rechtsquelle und wichtiger als das Corpus iuris selbst. Denn die Glossa ordinaria stellt eine gewaltige Akkumulation nicht nur von Texten, sondern auch von Interpretationsstrategien, Unterrichtsmethoden u. dgl. dar.66 Die Glossatoren wie dann auch die Kommentatoren bauten ihre Argumentation auf der Glossa ordinaria anstatt auf den Originaltexten auf, womit die Interpretation der Interpretation zur Regel wurde. Aus der Glossa ordinaria stammt auch das folgende Beispiel für die Praxis der Glossatoren: „Dig. 41, 1, 31: Paulus im einunddreißigsten Buch zum Edikt: Niemals überträgt eine bloße Übergabe das Eigentum. Das geschieht nur dann, wenn ein Kauf oder ein anderer Rechtsgrund vorangeht, dessentwegen die Übergabe nachfolgt. Glosse [zu]: ‚Niemals‘. Rechtsfall. Die bloße Übergabe überträgt das Eigentum nicht, sondern nur diejenige, die mit einem Rechtsgrund geschieht; wie zum Beispiel wenn eine Sache wegen eines Kaufes oder dergleichen übergeben wird. […] [zu:] ‚Das geschieht‘. D. h. das Eigentum wird durch Übergabe übertragen. [zu:] ‚Rechtsgrund‘. Er ist entweder tatsächlich oder vermeintlich vorhanden. Es wäre anders, wenn man sagte, durch einen vermeintlichen Rechtsgrund werde kein Eigentum übertragen. Der gesamte Titel Dig. 12, 6 würde dem widersprechen. Dieser Titel greift Platz, wenn das Eigentum an einer Sache auf Grund eines vermeintlichen Rechtsgrundes übertragen wird. Dasselbe gilt von demjenigen, der sich durch ein Leistungsversprechen verpflichtet. Vergl. unten Dig. 44, 4, 2, 3; 44, 4, 2, 3 a. E.; und für das Anerkenntnis vergl. oben Dig. 22, 3, 25, 4. Ferner gilt Cod. 2, 3, 20 und oben Dig. 39, 5, 26.“67

Grundsätzlich waren die Glossen problemorientiert und zielten auf eine bestimmte Rechtsfrage. Durch ihre Berufung auf die Autorität der antiken Juristen praktizierten sie ein „Wiederdenken des Gedachten“68, aber mehr und mehr mit dem Ziel, über die Textstelle hinauszuführen. Sie arbeiteten auch bereits auf eine Systematisierung hin, indem sie auf concordantiae und contraria, auf vergleichbare oder gegensätzliche Textstellen hinwiesen, Argumente aufführten und bestimmte Textstellen, als deren Konsequenz oder Bestätigung, unter andere subsumierten. Die Juristen der Glossatorenzeit hatten einen anderen Anspruch an das römische Recht als dessen Begründer. Sie gingen über das antike Rechtsdenken hinaus, indem sie danach strebten, die Fälle zu schematisieren sowie die Regeln zu systematisieren 66 67 68

Vgl. Maclean 1992, 13f. Zitiert nach Hattenhauer/Buschmann 2008, 17. Genzmer 1934, 12.

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und zu Rechtsmaximen, zu selbständigen und allgemeingültigen Grundsätzen zu steigern. Ihr Ziel war es, wirklich ein Rechtskorpus, ein Corpus iuris zu schaffen.69 Dazu dienten auch die anderen Textformen, die sich aus den Glossen – zeitlich aber noch in dieser Phase der Glossatoren – entwickelten, vor allem summae, quare und quaestiones. Die Summen dienten der systematischen Darstellung des gegebenen Rechts, wohingegen die anderen Texte weiter vordrangen und zur Rechtsfortbildung (quaestiones) bzw. zur Harmonisierung (quare) dienten. Vor allem in diesen Texten gingen die mittelalterlichen Juristen an die gewaltige Aufgabe, zum einen die Widersprüche und Lücken innerhalb des Corpus iuris zu beseitigen und zum anderen diese jahrhundertealte Rechtssammlung an ihre Zeit anzupassen. „Das methodische Verfahren vollzog sich in formallogischer Weise, durch subtile Unterscheidungen, kühne Analogien, einschränkende und ausdehnende Interpretation.“70 Die Glossatoren arbeiteten mit dem scholastischen Schema pro – contra – solutio, legten dabei jedoch eine „eigenartige kasuistisch-analytisch-kombinative Anwendung logischer Schlüsse“71 an den Tag. Sie argumentierten weniger analytisch als topisch, nicht systematisch, sondern aneinanderreihend. Mit Mut zur kühnen Analogie und zu weitgespannten Billigkeitsgrundsätzen (eine Anspielung auf die alte Tradition der aequitas) füllten sie mit Intuition und Fantasie die Gesetzeslücken. „Praemitto, scindo, summo casumque figuro Perlego, do causas, connoto, objicio.“72

Diese Regel beschreibt den Weg der Juristen im Umgang mit Rechtsproblemen. In einem ersten Schritt soll ein bestimmter Rechtssatz des römischen Rechts vorausgesetzt, in seine Aussageelemente zerlegt, durch eine selbständige Zusammenfassung besser verständlich und durch ein Beispiel veranschaulicht werden. In einem zweiten Schritt soll der Rechtssatz aber noch weiter bearbeitet werden: durch ein erneutes gründliches Lesen, durch die Ermittlung der Gründe, die zur Formulierung des Rechtssatzes geführt hatten, durch die Verknüpfung mit den bekannten (zumeist uneinheitlichen) Lehrmeinungen der Glossatoren und schließlich durch Objektivierung der teilweise überaus zahlreichen und differierenden Lehrmeinungen zu einer allgemeinen Ansicht, zur opinio communis.73 69 70 71 72 73

Vgl. Berman 1991, 228. Thiel 1980, 362. Ebd. Matthaeus Gribaldus Mopha, De methodo ac ratione studendi libri tres (1554), o. S., zitiert nach Hattenhauer/Buschmann 2008, 4. Vgl. Senn 2007, 189.

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Durch ihre kühne und rechtschöpferische Vorgehensweise schafften es die ersten Rechtswissenschaftler, nicht nur, die zahlreichen Widersprüche innerhalb des Corpus iuris zu „beseitigen“, sondern auch das römische Rechtssystem für ihre Zeit zu adaptieren. Von Vorteil war dabei ihre absolut unhistorische Denkungsweise, die mögliche Unterschiede zwischen der Antike und ihrer Gegenwart samt den damit zusammenhängenden Problemen für die Gesetzesauslegung völlig ausblendete. Auch ihre scholastische Methode des Ausgleichs von Widersprüchen durch Distinktion und Subordination half den Glossatoren bei dieser Anpassung, denn durch die Analyse eines Einzelsatzes konnte dieser eine Bedeutung erhalten, gegen die er bei einer systematischen oder gar historischen Auslegung immun gewesen wäre. 74 Durch diese Anpassung des Corpus iuris brachten es die Glossatoren sogar fertig, dieses Recht von seinem ursprünglichen Status als Gelehrtenrecht auf den Weg zu einem weithin geltenden positiven Recht zu bringen.

1.2 Kommentatoren In Anschluss an die Epoche der Glossatoren, deren Höhe- und Endpunkt die Glossa ordinaria bildete, folgte die Epoche der Kommentatoren.75 Allerdings waren die Unterschiede zwischen diesen beiden Phasen der Rechtsgeschichte eher gradueller Natur. Wenn man heute auch von „Konsiliatoren“ spricht, so enthält dieser Begriff einen der angeblichen Unterschiede zu den Glossatoren: die stärkere Hinwendung zur Praxis durch consilia für Einzelfälle. Doch auch hierbei handelt es sich um eine nur graduelle und unscharfe Differenz, was ebenso für die ältere (und z. B. von Savigny durchaus abwertend gemeinte) Bezeichnung „Postglossatoren“ gilt. Denn auch in dieser Zeit der „Postglossatoren“ war die Glossa ordinaria „Ausgangspunkt und Grundlage jeder Beschäftigung mit den Quellen und darüber hinaus jeglicher juristischen Erörterung“76. Auch der Begriff „Kommentatoren“ mit seinem Verweis auf die Textgattungen vermag keine deutliche Grenze zu ziehen, denn in den Texten selbst finden sich im Grunde keine sonderlich großen Unterschiede zur Spätzeit der Glossatoren, die ja bereits über die Einzelglosse hinausgelangt war. Die meisten Textsorten blieben bestehen, der Kommentar nahm sie gewissermaßen in sich auf. Die einzelnen Kommentierungen spiegelten in ihrer voll entwickelten Form, d. h., soweit sie nicht aus irgendwelchen Gründen bruchstückhaft blieben, Aufbau und Methode der lectura wider, wie sie sich bereits in der Glossato74 75 76

Vgl. Thiel 1980, 363. Vgl. Lange/Kriechbaum 2007. Weimar 1973, 139.

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renzeit herausgebildet hatte. Das Grundschema des Kommentars umfasste folgende Elemente:77 1. Divisio: Aufgliederung des Quellentextes; 2. summa: zusammenfassende Inhaltsangabe; 3. casus: zur Erläuterung des Textes gebildeter Schulfall; 4. expositio litterae: Ausführungen zum Textverständnis (Wortverständnis); 5. notabilia (nota): gesammelte bemerkenswerte rechtliche Gesichtspunkte von allgemeiner Bedeutung (collectio notabilium); 6. oppositiones (contraria): mögliche Einwände gegen die vorgetragene Interpretation, die sich aus scheinbar einander widersprechenden leges ergeben, werden durch distinctiones et rationes beseitigt; zugleich oder an anderer Stelle werden übereinstimmende oder inhaltlich zugehörige Quellenstellen angeführt; 7. quaestiones: weitere Probleme, die mit der Quellenstelle sachlich zusammenhängen, werden in Frageform eingeführt; bisweilen handelt es sich dabei auch um praktische Rechtsfälle (quaestiones de facto).

III. Frühe Neuzeit (16.–18. Jahrhundert) Um 1500 litt die Praxis der Glossatoren bzw. Kommentatoren immer mehr unter den wuchernden Textmassen, die den ursprünglichen Gegenstand – das Corpus iuris – immer weiter zurückdrängten. Eine vernünftige Textarbeit wurde sowohl in der Rechtswissenschaft als auch in der praktischen Juristentätigkeit zunehmend unmöglich.

1. Mos gallicus Eine Gegenbewegung wollte daraufhin den eigentlichen Text wieder in den Mittelpunkt rücken – befreit von den Irrtümern und Verfälschungen der Textgeschichte und der dicken Kruste aus unzähligen Glossen. Diese mos gallicus genannte Bewegung hatte ihr Zentrum in Frankreich, vor allem in Bourges, fand aber auch bedeutende Vertreter an den Universitäten von Basel, Freiburg und Genf. Wichtig waren unter anderen Ulrich Zasius (1461–1535), Andreas Alciatus (1492–1550), Franciscus Hotomanus (François Hotman [1524–1590]) und Hugo Donellus (1527–1591). Geprägt wurde der mos gallicus nicht zuletzt vom Humanismus und dessen Ziel, zu den Ursprüngen und Quellen – ad fontes – zurückzukehren. Das Neue am Geist von

77

Vgl. Horn 1973, 324.

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renzeit herausgebildet hatte. Das Grundschema des Kommentars umfasste folgende Elemente:77 1. Divisio: Aufgliederung des Quellentextes; 2. summa: zusammenfassende Inhaltsangabe; 3. casus: zur Erläuterung des Textes gebildeter Schulfall; 4. expositio litterae: Ausführungen zum Textverständnis (Wortverständnis); 5. notabilia (nota): gesammelte bemerkenswerte rechtliche Gesichtspunkte von allgemeiner Bedeutung (collectio notabilium); 6. oppositiones (contraria): mögliche Einwände gegen die vorgetragene Interpretation, die sich aus scheinbar einander widersprechenden leges ergeben, werden durch distinctiones et rationes beseitigt; zugleich oder an anderer Stelle werden übereinstimmende oder inhaltlich zugehörige Quellenstellen angeführt; 7. quaestiones: weitere Probleme, die mit der Quellenstelle sachlich zusammenhängen, werden in Frageform eingeführt; bisweilen handelt es sich dabei auch um praktische Rechtsfälle (quaestiones de facto).

III. Frühe Neuzeit (16.–18. Jahrhundert) Um 1500 litt die Praxis der Glossatoren bzw. Kommentatoren immer mehr unter den wuchernden Textmassen, die den ursprünglichen Gegenstand – das Corpus iuris – immer weiter zurückdrängten. Eine vernünftige Textarbeit wurde sowohl in der Rechtswissenschaft als auch in der praktischen Juristentätigkeit zunehmend unmöglich.

1. Mos gallicus Eine Gegenbewegung wollte daraufhin den eigentlichen Text wieder in den Mittelpunkt rücken – befreit von den Irrtümern und Verfälschungen der Textgeschichte und der dicken Kruste aus unzähligen Glossen. Diese mos gallicus genannte Bewegung hatte ihr Zentrum in Frankreich, vor allem in Bourges, fand aber auch bedeutende Vertreter an den Universitäten von Basel, Freiburg und Genf. Wichtig waren unter anderen Ulrich Zasius (1461–1535), Andreas Alciatus (1492–1550), Franciscus Hotomanus (François Hotman [1524–1590]) und Hugo Donellus (1527–1591). Geprägt wurde der mos gallicus nicht zuletzt vom Humanismus und dessen Ziel, zu den Ursprüngen und Quellen – ad fontes – zurückzukehren. Das Neue am Geist von

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Vgl. Horn 1973, 324.

III. Frühe Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

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Bourges war vor allem die Entdeckung der Geschichtlichkeit. Das Corpus iuris hatte für diese humanistischen Rechtswissenschaftler nicht länger die Autorität eines heiligen Buches, sondern stellte eine Manifestation römisch-antiken Geistes dar.78 Wichtig war hierbei die im Jahre 1567 veröffentlichte Schrift Antitribonianus von François Hotman, Rechtsprofessor in Bourges. Schon der Titel brachte Protest gegen das bis dahin als heilig geltende Corpus iuris Justinians zum Ausdruck, das ja maßgeblich unter der Leitung des Juristen Tribonian entstanden war. Für jedes Rechtsgebiet wies Hotman die Geschichtlichkeit des Corpus iuris und dessen Untauglichkeit für die neuere Zeit nach. Es galt also, den Ballast des Mittelalters abzuwerfen und zurück zu den Quellen zu gehen, um die während des Überlieferungsprozesses immer wieder von Schreibern und Juristen vorgenommenen Änderungen zu korrigieren. Der erste Schritt hierzu war die Arbeit an der „Original-Abschrift“, der Florentina, nachdem diese von Herzog Cosimo I. (1519–1574) zur Forschung freigegeben worden war. Als das wichtige Ergebnis dieser Bemühungen konnten schließlich Lelio Torelli (1498–1576) und Lorenzo Torrentino (1499–1563) im Jahr 1553 die Florentiner Ausgabe im Druck vorlegen. Aber diese Ausgabe war nicht etwa der Endpunkt der Entwicklung, sondern diente als Basis für die Suche nach dem wirklich authentischen justinianischen Text – eine Jahrhundertaufgabe, die schließlich von Dionysius Gothofredus (Denis Godefroy [1549– 1622]) 1583 vollendet wurde. In allen Teilen seiner Ausgabe hat Godefroy die von den Humanisten neu edierten oder emendierten Texte herangezogen und mit seiner Littera Gothofrediana eine neue maßgebliche Textfassung, eine neue, humanistische Littera vulgata geschaffen. Damit stabilisierte sich der Text des römischen Rechts wieder. Er wurde, nach so vielen Schwankungen, fester als je zuvor fixiert. Für zwei Jahrhunderte genoss diese Ausgabe die volle Anerkennung der Rechtswissenschaft und konnte auch nicht durch die Göttinger Ausgabe (1776–1797) von Georg Christian Gebauer (1690– 1773) und Georg August Spangenberg (1738–1806) verdrängt werden. Noch 1756 und 1781 kam es in Basel zu Neudrucken der Littera Gothofrediana. Und auch die verschiedenen Auflagen des Corpus iuris civilis academicum, die im 18. Jahrhundert den Markt beherrschten, waren im Wesentlichen Reproduktionen der Littera Gothofrediana. Durch die textkritischen Forschungen der humanistischen Juristen erhielt das Corpus iuris civilis im Laufe des 16. Jahrhunderts als Ganzes und in seinen Bestandteilen eine deutlich andere Gestalt – ein Vorgang von eminent praktischer Bedeutung. Zum einen handelte es sich dabei um „Äußerlichkeiten“ wie verschobene Titelzählung, korrigierte Reihenfolge der Digestentitel etc. Zum anderen aber wurden vielfach neue Lesarten entwickelt, in manchen Fällen, indem man schlicht die alte Aussage auf den 78

Vgl. Thiel 1980, 364.

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Kopf bzw. vom Kopf zurück auf die Füße stellte. Ein Beispiel ist Dig. 19, 1, 21, 2, wonach bei Dissens über die Qualität der Kaufsache der Kauf gültig ist – oder eben nicht (emptionem esse oder non esse). Es gab viele solcher Fälle, in denen durch eine umstrittene Negation im Text Grundsatzfragen des Rechts zur Debatte standen. Man kehrte also in doppelter Hinsicht zu den Quellen zurück: zum einen, indem man die dicke Kruste aus Glossen durchstieß und sich wieder dem Corpus iuris selbst zuwendete, und zum anderen, indem man danach strebte, die Originaltexte zu rekonstruieren und als Grundlage einzusetzen. Nicht zuletzt wurde durch diesen doppelten Rückgang auf den Text die Interpretation von der Masse widersprüchlicher Meinungen der Autoritäten befreit. Man stützte sich stattdessen auf die Autorität des Textes und die individuelle Vernunft des Lesers. Die Arbeit am Text wurde verschlankt und greifbarer, weshalb der mos gallicus auch als der „elegante Stil“ bezeichnet wurde. Dieser neue Geist wurde programmatisch von einem der Hauptvertreter des mos gallicus, dem Freiburger Juristen Ulrich Zasius, folgendermaßen formuliert: „An den Leser Vor Allem will ich bekennen, dass ich allein von dem Texte der Quellen und von wahren und sicheren Gründen, die auf dem Rechte oder der Natur der Sache beruhen, abhängen, nur auf diese mich stützen, an sie mich halten will. Sodann: dass ich an den Wirbelwind der Meinungen, durch welche, wie Cebes bezeugt, der Weg zur Wissenschaft nicht führt, nicht gefesselt sein will, da sie bei mir nicht das geringste Ansehen haben, wenn sie nicht auf den Quellen des Rechts oder der klaren Vernunft beruhen. Drittens: dass ich die Autorität des Accursius, Bartolus, Baldus und der Uebrigen, bei aller Ehrfurcht, die ich ihnen schulde und zolle, doch nicht höher anschlage, als die aller übrigen Gelehrten, die sich durch Kenntnisse bewähren; dass sie mich also durch kein Vorurtheil beugen, wenn sie gleich an Geist und Gelehrsamkeit hervorragend gewesen sein mögen. Denn die Wahrheit des Rechts wird nur aus den Quellen, nicht aus der Autorität der Doctoren geschöpft. Endlich lasse ich den ganzen Wald von Consilien völlig bei Seite, da sie meistens mehr um Gewinns halben und um den Richter zu überreden, als um den wahren Sinn der Quellen zu vertheidigen, verfasst sind. Wer also künftig mich widerlegen will, der kämpfe gegen mich mit den Zeugnissen der Rechtsquellen und ächten Gründen. Kommt er mit anderen Waffen, so weise ich sie durch diese Erklärung zurück, als gegen die Kampfregeln.“79

79

Zitiert nach Senn 2007, 193.

III. Frühe Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

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Der Umgang mit dem Corpus iuris hatte sich also stark gewandelt. Es galt nunmehr als Quelle für die Arbeit am Text, verlor den geheiligten Status als ratio scripta, wurde historisiert und kritisiert. Man erkannte auch seine Schwächen, die mangelnde Ordnung und die Widersprüche, und versuchte sie zu beseitigen, indem man die Prinzipien des Rechts neu ordnete und mit anderen, neuen Rechtsprinzipien kombinierte. Nicht mehr die Einheit der behandelten Quelle sollte maßgebend sein, sondern der Sachzusammenhang. Von der vorgegebenen Reihenfolge der Quellentexte, etwa in der Digesten-Sammlung, strebte man, zunächst in Anlehnung an den Aufbau der Institutiones, zu einer Enzyklopädie der juristischen Fachgebiete.80 Damit vollzog die Rechtswissenschaft eine doppelte Bewegung, „einerseits zu historischem Ursprung, andererseits zu vernunftrechtlichem Idealismus und ihm inhärentem Systemdenken“81.

2. Neuartige Literatur über juristische Auslegung In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts trat eine weitere Neuerung auf. Es entstanden erstmals Schriften, die sich ausschließlich der juristischen Interpretation widmeten. Vielleicht das erste dieser Werke war das um 1460 veröffentlichte De verborum et rerum significatione des Paduaner Professors Bartholomaeus Caepolla (1446–1474).82 In seinem späteren Werk De interpretatione legis extensiva beschäftigte Caepolla sich mit der extensio, der Ausdehnung der gesetzlichen Regelung auf Fälle, die in der Regelung nicht ausdrücklich erwähnt werden.83 Die Grundlage für die Durchführung der extensio etwa durch Analogie bildeten Rückgriffe vor allem auf die aequitas („aequitas est fundamentum interpretandi leges et pacta“), aber auch auf die natürliche Vernunft. Die extensive Interpretation war auch noch im 16. Jahrhundert das zentrale Thema bei der juristischen Auslegung, weil durch die Fortentwicklung der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Rahmenbedingungen ständig Rechtssituationen auftraten, die das römische Recht nicht abdecken konnte. Wichtige Vertreter des mos gallicus, die damals spezielle Werke über die Auslegungsproblematik verfassten, waren – nach Constantius Rogerius (15. Jh.) mit seinem Tractatus de iuris interpretatione (1463, gedruckt 1549)84 – die bereits erwähnten Andreas Alciatus – dieser mit der Schrift De verborum significatione (1530)85 –, François Hotman und Hugo Donellus. 80 81 82 83 84 85

Vgl. Raisch 1995, 48; Schröder 2001, 80–92. Thiel 1980, 365. Vgl. Piano Mortari 1956, 7. Daneben gab es die deklarative und die restriktive Gesetzesinterpretation (vgl. Schröder 2001, 56–74). Vgl. Piano Mortari 1956, 8–10; Maclean 1992, 84. Vgl. Piano Mortari 1956, 13f.

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Hotman war nicht nur der Autor des Antitribonianus und wichtiger Beiträge zum positiven Recht, sondern auch der Monographie Iurisconsultus sive de optimo genere iuris interpretandi (1559), die sich ganz der juristischen Interpretation widmete. Zudem verfasste er eine umfassende Rechtsenzyklopädie, in der die Begriffe des römischen Rechts und der Rechtswissenschaft in alphabetischer Reihenfolge abgehandelt wurden.86 Das Werk Commentarii de iure civili (1589) von Donellus war vor allem deshalb wichtig, weil hier schon einige Fortschritte auf dem Weg zur Systematisierung der Interpretation juristischer Texte erzielt wurden. Das Hauptthema waren jene Fälle, in denen der Sinn eines Gesetzes von der wörtlichen Aussage differiert und der Text deshalb entweder extensiv oder restriktiv ausgelegt werden muss: „Sententia a verbis discrepat dupliciter.“87 Im 16. Jahrhundert wurden außerdem Schriften veröffentlicht, die als Methodica, Dialectica oder Topica entsprechende antike Denkweisen in die Rechtswissenschaft einbringen wollten. Dabei handelte es sich vor allem um die Einteilungen, Schlussformen und Beweisführungen des Aristoteles sowie die rhetorischen und topischen Argumentationsstrukturen Ciceros und Quintilians. Für die Topik bestand der Inbegriff der juristischen Auslegung in rhetorischen Argumentationsfiguren, die sie katalogisierte und deren Gebrauch sie diskutierte. Vermittelt wurde diese wissenschaftliche Denkweise in erster Linie durch die Humanisten Rudolf Agricola (1444–1485) und Philipp Melanchthon (1497–1560). Auch für Petrus Ramus (1515–1572), dessen Logik im späteren 16. Jahrhundert große Bedeutung gewann, blieb die Topik die zentrale wissenschaftliche Methode.88 Eine besonders wichtige von diesen topologischen Methodenlehren war die 1531 veröffentlichte Dialectica legalis von Christoph Hegendorf (1500–1540). Hier wurde das juristische Feld durch konsequente Anwendung der Dialektik im Sinne Ciceros und Agricolas systematisch geordnet. Die allgemeinste Gattung „Recht“ gliederte Hegendorf in die zwei Untergattungen „göttliches“ und „menschliches Recht“, letzteres wiederum in ius gentium et naturae und ius civile, als dessen Sonderfall dann wiederum das ius Romanorum ausgegliedert wurde. Außerdem untersuchte Hegendorf in seinem Werk die Anwendung der aus der Antike überkommenen logischen Schlussfiguren in der Rechtsauslegung. Die nach Petrus Ramus weiterentwickelte „ramistische Methode der sich verästelnden Zweiteilung“89 wurde durch Johann Thomas Freigius (1543–1583) und Johannes 86 87 88 89

Vgl. Strömholm 1978, 221. H. Donellus, Commentarii de iure civili (1589), 87, zitiert nach Strömholm 1978, 223. Vgl. Raisch 1995, 50. Ebd., 61. Vgl. Schröder 2001, 25–46, 119.

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Althusius (1557–1638) wegweisend eingesetzt. Hier wurde die überlieferte Rechtsordnung in eine streng dichotomische Gliederung überführt und systematisch von den obersten Grundbegriffen bis hinunter zu den kleinsten Details neu geordnet. Die Schematisierungen dieser Juristen wurden zu Prototypen einer Kodifikationsstruktur und zu Katalysatoren des vernunftrechtlichen Systems, das dann im 17. Jahrhundert geschaffen werden sollte.90

3. Rechtsvielfalt und Verschriftlichung Europäisches Recht in der frühen Neuzeit erschöpfte sich keineswegs im römischen Recht und der alten und neuen Literatur zu dessen Auslegung, ungeachtet der eindrucksvollen Massenhaftigkeit von beiden. Stattdessen bieten die Rechtsquellen noch lange „das bunte Bild eines ‚juristischen Pluralismus‘“91. Römisches Recht galt nur subsidiär, erst recht seit Hermann Conring (1606–1681) 1643 nachgewiesen hatte, dass es im Reich keineswegs als Ganzes durch Gesetzgebung eingeführt worden war, sondern nur gewohnheitsrechtliche Geltung hatte.92 Maßgebend war nämlich jeweils das lokale oder regionale Recht der Kommunen und Herrschaften einerseits, das besondere Recht der Kirche und verschiedener Korporationen wie z. B. der Kaufleute andererseits. Vom Recht der Kirche abgesehen, handelte es sich dabei oft genug um mündlich überliefertes Gewohnheitsrecht. Die europäischen Monarchien hatten in der Regel noch keine Rechtseinheit in ihren Territorien hergestellt. Nur das starke englische Königtum hatte es verstanden, mit seinen königlichen Richtern dem common law im ganzen Land Geltung zu verschaffen. Das ist aber nur die eine Seite der Sache. Denn auf der anderen Seite beeinflusste die Beschäftigung mit dem römischen Recht die gesamte europäische Rechtslandschaft und führte langfristig zu tief greifenden Veränderungen. Vor allem wurde es üblich, jede Art von Recht ebenso „wissenschaftlich“ und professionell zu behandeln, wie es sich für das römische Recht eingebürgert hatte. Grundlage dafür war die schriftliche Aufzeichnung des jeweiligen Gewohnheitsrechts, das erst damit analog zum römischen Recht auslegungsfähig und auslegungsbedürftig wurde. Bereits im Mittelalter entstanden in allen Ländern derartige Rechtsbücher, oft private Arbeiten wie der Sachsenspiegel, die aber – wie in der Kirche das Decretum Gratiani – durch allgemeine Anerkennung Autorität gewannen. Häufig waren aber auch die jeweiligen Monarchen beteiligt. In Frankreich ordnete die Krone schließlich 1454 ein festes Verfahren zur 90 Vgl. Raisch 1995, 61. 91 Schröder 2001, 21. 92 Vgl. ebd., 21, 115.

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Aufzeichnung des regionalen Gewohnheitsrechts an, so dass im 16. Jahrhundert die meisten dieser coutumes gedruckt vorlagen.93 Denn der Buchdruck verstärkte die Stabilisierung und Verbreitung der Rechtstexte ebenso wie die ihrer Interpretationen. Hand in Hand damit ging die zunehmende Schaffung neuen Rechts durch Gesetzgebung, deren Erzeugnisse ebenfalls durch Druck bekannt gemacht und gesammelt wurden. Da Recht ursprünglich in Sitte und Gewohnheit verankert war, konnte neues Recht nicht ohne Weiteres festgesetzt werden. Aber bereits im Mittelalter wurde die Befugnis dazu, die ursprünglich dem Kaiser vorbehalten war, zuerst von „kaisergleichen“ Königen, später dann von Fürsten und Stadtrepubliken in Anspruch genommen, bis schließlich Jean Bodin (1530–1596) Ende des 16. Jahrhunderts die Legislative zum Inbegriff der Souveränität erklären konnte. Gewiss, im Vergleich mit der heutigen, auf Hochtouren laufenden Gesetzgebungsmaschinerie war der Erlass eines Gesetzes damals eher die Ausnahme als die Regel. Ohnehin dienten Gesetze oft genug weniger zur allgemeinen Regelung als zur fallbezogenen Klärung von Rechtsunsicherheit. Nichtsdestoweniger lässt sich seit ca. 1500 europaweit ein neuer Aufschwung der Gesetzgebung feststellen, der erstens mit einer Ausweitung der obrigkeitlichen Befugnisse einherging, zweitens mit der Tendenz verbunden war, möglichst jede Konkurrenz für die Obrigkeit auf dem Gebiet der Rechtssetzung auszuschalten, und drittens einen ausgesprochen „nationalen“ oder territorialen Charakter aufwies. Entsprechende Gesetzessammlungen ließen nicht auf sich warten, z. B. 1555 für Württemberg, 1567/69 für Kastilien, 1616 für Bayern.94 Die juristischen Innovationen, die damit und mit den zahlreichen deutschen „Stadtrechtsreformationen“ verbunden waren, liefen häufig auf Zurückdrängung des bisherigen Landes- oder Stadtrechts durch das ius commune, das römische Recht, hinaus. Was das Verfahren angeht, hatten sich schon seit dem Mittelalter der vom römischen und kanonischen Recht geprägte schriftliche Zivilprozess und der ebenfalls teilverschriftlichte Inquisitionsprozess in Strafsachen durchgesetzt. Diese ganze Entwicklung ging einerseits mit der weiteren Professionalisierung des Rechtswesens durch Aufstieg der römisch und kanonisch gebildeten Juristen, der doctores utriusque iuris, einher, andererseits mit der Entstehung einer Hierarchie ständiger Gerichte, sprich einer zunehmenden Kontrolle nicht nur der Rechtssetzung, sondern auch der Justiz durch die werdende Staatsgewalt. Das Recht seinerseits wurde immer stärker „positiviert“. Das römische Recht hatte, wie gesagt, seinen quasi-sakralen Charakter längst eingebüßt und konnte dementsprechend nach Zweckmäßigkeitserwägungen 93 94

Vgl. Reinhard 2002, 289f. Vgl. ebd., 299f.

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mit Landesrecht kombiniert bzw. den Landesbedürfnissen angepasst werden. Das ist der usus modernus pandectarum (nach Samuel Stryk, Specimen usus moderni pandectarum [1690]), der „moderne“ Umgang mit den Digesten, der zur Ausbildung eines römisch-deutschen, römisch-holländischen, römisch-schwedischen Rechts usw. führte.95 Man sollte freilich den neuen „juristischen Nationalismus“ nicht überschätzen. Selbst eine so starke und ehrgeizige Monarchie wie das Frankreich Ludwigs XIV. (1638–1715) brachte keine umfassende Rechtsvereinheitlichung zustande, sondern musste sich mit prozessrechtlichen und handelsrechtlichen Kodifikationen begnügen.96 Vor allem aber war und blieb die juristische Methoden- und Interpretationslehre, auf die es hier ankommt, in der Frühneuzeit und darüber hinaus eine gemeineuropäische Angelegenheit. Die Beiträge von Autoren aus verschiedenen Ländern wurden rasch überall rezipiert, nicht nur, aber auch wegen der gemeinsamen Wissenschaftssprache Latein. Anders als lange angenommen wurde, gilt dies trotz des abweichenden Rechtssystems auch für England. Stefan Vogenauer konnte zeigen, dass gerade die einflussreichsten englischen Juristen wie Edward Coke (1552–1634) und William Blackstone (1723–1780) eine Fülle von Lehrsätzen der „kontinentalen“ Hermeneutik rezipiert haben. Es gibt im englischen Recht bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts kaum einen Auslegungsgrundsatz, „der nicht in der kontinentalen Interpretationslehre eine Entsprechung gefunden hätte“97.

4. Naturrecht und Aufklärung Eine neue und ebenfalls höchst folgenreiche Konfiguration ergab sich ebenfalls europaweit aus der Dominanz eines neuen Naturrechts im 17./18. Jahrhundert. Dass der Ordnung der Welt eine göttliche Vernunft innewohne, deren Absichten der Mensch kraft der seinigen erkennen könne – dieser Gedanke lässt sich zu Platon, Aristoteles und der Stoa zurückverfolgen. Für Theologen wie Thomas von Aquin (1225–1274) oder Francisco Suárez (1548–1617) bestand dieses aus der Antike übernommene ius naturale aus einer kleinen Anzahl von Rechtsnormen, die der Schöpfergott dem Menschen „ins Herz geschrieben“ hatte und die zugleich die Grundlagen natürlicher Sittlichkeit bilden sollten. Demgemäß waren sie mehr oder weniger mit den Zehn Geboten der Bibel identisch. Doch mit dem steigenden Vertrauen in die Vernunft und ihre Fähigkeit zur rationalen Welterklärung ging im 17./18. Jahrhundert erstens eine Säkularisierung und 95 96 97

Vgl. Schröder 2001, 115f., 128f.; Luig 2002, 43; Reinhard 2002, 301. Vgl. ebd., 303. Vogenauer 2001, o. S., zitiert nach Schröder 2002, 40. Vgl. Vogenauer 2001, 1295–1334.

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zweitens eine Ausweitung der Vorstellung vom Naturrecht einher. Es erhielt dadurch eine zentrale Rolle für die Rechtsordnung.98 Hugo Grotius (1583–1645) stellte in De iure belli et pacis 1625 fest, dass die von ihm naturrechtlich begründeten vertragsrechtlichen Grundsätze auch gelten würden, wenn es keinen Gott gäbe. Thomas Hobbes (1588–1679) leitete in seinem Leviathan 1651 den obersten Rechtsgrundsatz der Vertragstreue aus der Notwendigkeit zur Zähmung der naturgegebenen Feindseligkeit der Menschen ab. Er folgte dabei dem Discours de la méthode (1637) des René Descartes (1596–1650), wenn er Vernunftgebrauch als eine Art Rechnen darstellte, das mittels Ketten einfacher Begründungen nach Art der Geometer die schwierigsten Probleme löst. Das ist das Denken more geometrico, der „geometrische Geist“, der das Zeitalter beflügelte, aber natürlich eher metaphorisch als wörtlich zu verstehen ist.99 Mit diesem Verfahren und der Vorstellung vom Naturrecht als Gesetz, „welches seinen hinreichenden Grund im Wesen des Menschen und der Dinge hat“100, ließen sich Systeme bauen, die erstens Anspruch auf Vollständigkeit erhoben und zweitens das Recht als autonomes System erzwingbarer Vorschriften mehr und mehr von der christlichen Moral abzugrenzen wussten.101 Ganz so weit ging Samuel von Pufendorf (1632–1694) allerdings noch nicht, der als Erster unter dem Einfluss von Grotius, Descartes und Hobbes in seinen Elementa jurisprudentiae universalis libri duo 1660 versuchte, aus Axiomen und Definitionen ein natürliches Recht more geometrico zu entwickeln. In seinem Hauptwerk De iure naturae et gentium libri octo (1672) errichtete er vom Prinzip der menschlichen socialitas ausgehend ein umfassendes System des Rechts, in das er neben dem Staats-, Völker- und Strafrecht das geltende Zivilrecht auf der Grundlage des usus modernus pandectarum einbaute.102 Er wurde europaweit rezipiert. Sein Buch Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur von 1673 wurde in den folgenden 100 Jahren mehr als 150 Mal in vielen Sprachen nachgedruckt.103 Christian Thomasius (1655–1728) wurde unter dem Eindruck von Pufendorfs Werk Jurist und ein leidenschaftlicher Aufklärer. An der Universität Halle lehrte er erstmals in deutscher Sprache. In seinen Grundlagen des Naturrechts grenzte er 1705 als Erster

98 Vgl. Raisch 1995, 63f.; Schröder 2001, 100. 99 Vgl. Raisch 1995, 65. 100 Christian Wolff, Institutiones juris naturae et gentium (1750/1969), 20f. (§ 39), zitiert nach Schröder 2001, 101. 101 Vgl. ebd., 102f. 102 Vgl. Raisch 1995, 65–68; Schröder 2001, 102. 103 Vgl. Luig 2002, 47.

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im oben erwähnten Sinn Recht als erzwingbare Vorschrift von Moral und Sitte ab.104 Dem römischen Recht stand er ausgesprochen kritisch gegenüber.105 Die bis dahin dominierende Topik als Auslegungsverfahren verwarf er völlig,106 insbesondere die Berufung auf die Autorität der communis opinio, die ein besonders wichtiger Topos gewesen war.107 Stattdessen machte er deutlich, dass es bei allen Arten der Auslegung immer um dieselbe Frage der Sinnermittlung und ihre Hilfsmittel geht. Möglicherweise war er sogar der Erste, der neben den üblichen text- und vernunftbezogenen auch positiv-historische Hilfsmittel außerhalb des Textes zuließ. Bei der Interpretation selbst unterschied er erstmals nach den Instrumenten der Auslegung die grammatische, die Erforschung des reinen Wortsinns, und die logische, die Erforschung des vom Autor beabsichtigten Sinnes.108 Ihren Höhepunkt erreichte die deutsche Aufklärung zumindest dem Einfluss nach mit dem Systematiker Christian Wolff (1679–1754), der von Haus aus Theologe, Mathematiker und vor allem Philosoph war. Als solcher entwarf er unter anderem in den acht Bänden seines Jus naturae methodo scientifica pertractatum (1740–1748) „ein geschlossenes axiomatisch-deduktives Naturrechtssystem“109. Sein logisch zwingender Anspruch ergab sich aus der beanspruchten Perfektion sorgfältig definierter Begriffe einer exakten Fachsprache, lückenlos verknüpft durch ein syllogistisches System von Obersätzen und Schlussfolgerungen. Auch wenn Wolffs System aus heutiger Sicht Schwächen aufweist und seine Äußerungen zur Interpretation hinter Thomasius zurückfallen mögen,110 so handelt es sich doch um eine Spitzenleistung aufgeklärten Rechtsdenkens, die nicht nur zu ihrer Zeit sehr einflussreich war, sondern bis heute ihre Spuren in der Rechtswissenschaft hinterlassen hat.111 Ähnlich einflussreich war in Frankreich Robert Joseph Pothier (1699–1772). Er schuf nicht nur eine neu geordnete Ausgabe der Digesten, sondern veröffentlichte oder hinterließ zahlreiche Untersuchungen zu den meisten Gebieten des Zivilrechts, die Synthesen des römischen und des französischen Rechts herstellten. Sie sollten als Vorlagen für den Code civil von 1804 dienen. Sogar das notorisch unsystematische englische common law wurde von William Blackstone in seinen vierbändigen Commentaries on the laws of England 1765–1769 im Geiste aufgeklärter Naturrechtslehre in 104 105 106 107 108 109 110 111

Vgl. Schröder 2001, 103. Vgl. ebd., 114f. Vgl. ebd., 121f. Vgl. ebd., 127. Vgl. ebd., 134. Raisch 1995, 68. Vgl. ebd., 70; Schröder 2001, 136, 171. Vgl. Reinhard 2002, 301.

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eine elegante Systematik gebracht. Blackstone war nicht nur in England einflussreich, sondern seine Commentaries bildeten auch die Grundlage für die Rechtskultur der entstehenden USA.112 In seiner stringenten Vernünftigkeit schien das neue Naturrecht kaum interpretationsbedürftig zu sein – ein Triumph der aufgeklärten Vernunft und ihrer neuen Rechtswissenschaft. Umso mehr war jetzt das vom Naturrecht unterschiedene positive Recht auslegungsbedürftig, nachdem ihm als einziger Geltungsgrund nur noch der Wille eines Gesetzgebers geblieben war. Das neue Naturrecht wies obendrein schon seit Pufendorf ein beträchtliches kritisches Potenzial gegenüber dem positiven Recht auf. So widersprach die Vorstellung von der Rechtsgleichheit für alle Menschen keineswegs nur der damals blühenden Einrichtung der Sklaverei. Bezeichnenderweise taucht der Begriff „Menschenwürde“ ebenfalls immer wieder bei Pufendorf auf.113 Was tun? Die einfachste und dem Zeitalter der Vernunft entsprechende Lösung war es, auch das positive Recht aus dem Naturrecht abzuleiten, entweder indem man wie manche Wolffianer mit zweifelhaften legitimatorischen Manövern die Vernünftigkeit der Urheber bereits bestehender Gesetze unterstellte114 oder aber die Gesetzgeber zur naturrechtlichen Vernunft bekehrte, gewissermaßen die antike Vorstellung vom rex philosophus neu belebte. Christian Wolff selbst hatte ja in seiner Vorrede ausdrücklich einen derartigen Gestaltungsanspruch für sein System erhoben.115

5. Kodifikation und Verstaatlichung In der Tat, die Vorstellung aufgeklärter Juristen von einer vollständigen Neugestaltung des gesamten Rechts nach den Prinzipien des Naturrechts konvergierte mit dem Willen der inzwischen hinreichend mächtigen Inhaber staatlicher Gewalt, durch umfassende Neuschöpfung des Rechts von Grund auf das gesamte Rechtswesen der staatlichen Kontrolle zu unterwerfen, das hieß, das staatliche Monopol für die Anwendung von Gewalt durch ein staatliches Monopol für Recht und Justiz zu ergänzen. In diesem System sollten alle Untertanen die gleichen Rechte haben bzw., bedenkt man den damit verbundenen Verlust ihrer bisherigen Sonderrechte, zur gleichen Rechtlosigkeit gegenüber der Staatsgewalt bestimmt sein. Damit verbunden war die endgültige Bändigung der Juristen, die aus gelegentlich aufmüpfigen Dienern des Rechts in folgsame 112 113 114 115

Vgl. ebd.; Prest 2008. Vgl. Denzer 1972, 91, 93, 102, 148, 160; Raisch 1995, 67. Vgl. Schröder 2001, 173f. Vgl. Raisch 1995, 69.

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Diener der Staatsgewalt verwandelt wurden. In Preußen wurden vorübergehend sogar die Rechtsanwälte zu Staatsbeamten gemacht.116 Europas werdende Staaten hatten längst mit solchen Kodifikationen von bisher unbekannter Radikalität begonnen. 1683 wurde in Dänemark erstmals durch Neukodifikation unter Aufhebung des älteren Rechts von Staates wegen Rechtseinheit geschaffen. Aufgeklärtes Naturrecht kam aber erst später richtig zum Zug, in Schweden 1734 oder in Bayern 1751–1756. Der Höhepunkt der aufgeklärten Kodifikationen wurde um 1800 erreicht. Das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten (1794) hatte mit 19.194 Paragraphen eine lückenlose obrigkeitliche Regelung des rechtlich fassbaren Lebens im Auge. In Frankreich wurden 1804–1810 fünf Gesetzbücher für Zivil-, Straf-, Handels- und Prozessrecht erlassen, mit dem Code civil als inzwischen weltberühmtem „Flaggschiff “. Nach Vorarbeiten im 18. Jahrhundert schuf die österreichische Monarchie 1812 ihr Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch, das wie der Code civil modifiziert heute noch gilt. „Nach Vollendung der naturrechtlichen Kodifikationen stellte sich heraus, dass sie in vielen Normen auf römischem Recht beruhten“117, denn die Autoren der Codices betrachteten das römische Recht als hoch entwickeltes Naturrecht.118 In Deutschland lief der Kodifikationsprozess nicht zuletzt aus politischen Gründen noch weiter bis zum Strafgesetzbuch von 1871 und dem Bürgerlichen Gesetzbuch von 1900, das wie das Schweizerische Zivilgesetzbuch von 1912 ebenfalls weltweites Ansehen genießt.119 Mit einer gewissen Naivität gingen manche Aufklärer davon aus, dass für die neuen naturrechtlichen Kodifikationen grundsätzlich kein Interpretationsbedarf mehr bestünde. Im ersten Publikationspatent des Allgemeinen preußischen Landrechts heißt es ausdrücklich, weil das neue Gesetzeswerk auf die einfachsten Grundsätze der Vernunft und natürlichen Billigkeit zurückgeführt sei, könne jeder einigermaßen gebildete Einwohner des Staates es selbst lesen und verstehen.120 In Frankreich hieß es: „Tout le droit est dans le Code civil.“121 Damit sollte vor allem die von der Staatsgewalt unabhängige Interpretation durch die Juristen entfallen. Ursprünglich wurden sogar Interpretationsverbote erlassen; die Richter hatten sich an den Wortlaut zu halten und in Zweifelsfällen die authentische Interpretation des Gesetzgebers einzuholen. Doch auch nachdem notgedrungen wenigstens wieder die Freiheit zur Analogiebildung und 116 117 118 119 120 121

Vgl. Reinhard 2002, 297. Luig 2002, 47. Vgl. Raisch 1995, 89. Vgl. ebd., 81–91; Reinhard 2002, 302–304. Vgl. Raisch 1995, 86. Walter 2009, 134.

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zur Entscheidung nach „natürlichen Rechtsgrundsätzen“ eingeräumt werden musste, blieb es im Gegensatz zur Großzügigkeit der frühen Neuzeit im 19. Jahrhundert zunächst bei der strengen Exegese einer engen Bindung an den Wortlaut. Aus nicht näher bekannten Gründen folgte auch England mit zeitlicher Verschiebung dieser „kontinentalen“ Rechtspraxis.122

IV. Neuzeit und Gegenwart (19.–21. Jahrhundert) 1. Gesetzesauslegung und Rechtstheorie im 19. und frühen 20. Jahrhundert „[D]ass man erst den Glauben an die Theorie vollständig verloren haben muss, um ohne Gefahr sich ihrer bedienen zu können“ – diese bitter-ironische Lehre will Rudolf von Ihering (1818–1892), sicherlich einer der bedeutendsten Rechtstheoretiker überhaupt, nach eigenen Worten aus seinem „ersten so völlig verunglückten Versuch, meine theoretischen Kenntnisse in der Praxis zur Geltung zur bringen“, gezogen haben.123 Für die Mehrzahl der Juristen lässt sich allerdings behaupten, dass sie von einem Glauben an die Theorie erst gar nicht ergriffen wurden – was die Rechtspraxis natürlich noch weiter erleichterte. So kann für die diversen Ansätze in der Diskussion über die juristischen Methoden bei all ihrer Verschiedenheit zumindest die eine Gemeinsamkeit festgestellt werden, „dass sie von der Praxis kaum beachtet werden. Dort stößt man [stattdessen] häufig [nur] auf die vier klassischen ‚canones der juristischen Auslegung‘ […].“124 Diese „Beziehung, vielmehr Beziehungslosigkeit zwischen Methodenkritik hier, Rechtspraxis und praxisgerichteter Dogmatik dort“ hat nach Wolfgang Gast zumindest den praktischen Vorteil, dass sich die Auslegungspraxis in ihrer „Treue zum hergebrachten Auslegungsmuster“ auch nicht von all den „vernichtenden Verrissen des alten Instrumentariums“ irritieren lassen muss, die von der Methodendiskussion seit Jahrzehnten produziert werden.125 Diese Beziehung oder auch Nichtbeziehung soll im Folgenden untersucht werden. Das Ergebnis wird, um es vorwegzunehmen, nicht so krass wie in den zitierten Urteilen ausfallen. Erstens führte die Einschätzung der praktischen Auslegungsmethoden durch die Rechtstheorie nicht durchweg zu „Verrissen“. Für die meisten Theorieströmungen der Vergangenheit wie der Gegenwart stellen die traditionellen Auslegungs122 123 124 125

Vgl. Raisch 1995, 91–94; Schröder 2002, 40f. Ihering 1909, 54, 53. Haft/Hilgendorff 1993, 105. Gast 1997, 102.

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zur Entscheidung nach „natürlichen Rechtsgrundsätzen“ eingeräumt werden musste, blieb es im Gegensatz zur Großzügigkeit der frühen Neuzeit im 19. Jahrhundert zunächst bei der strengen Exegese einer engen Bindung an den Wortlaut. Aus nicht näher bekannten Gründen folgte auch England mit zeitlicher Verschiebung dieser „kontinentalen“ Rechtspraxis.122

IV. Neuzeit und Gegenwart (19.–21. Jahrhundert) 1. Gesetzesauslegung und Rechtstheorie im 19. und frühen 20. Jahrhundert „[D]ass man erst den Glauben an die Theorie vollständig verloren haben muss, um ohne Gefahr sich ihrer bedienen zu können“ – diese bitter-ironische Lehre will Rudolf von Ihering (1818–1892), sicherlich einer der bedeutendsten Rechtstheoretiker überhaupt, nach eigenen Worten aus seinem „ersten so völlig verunglückten Versuch, meine theoretischen Kenntnisse in der Praxis zur Geltung zur bringen“, gezogen haben.123 Für die Mehrzahl der Juristen lässt sich allerdings behaupten, dass sie von einem Glauben an die Theorie erst gar nicht ergriffen wurden – was die Rechtspraxis natürlich noch weiter erleichterte. So kann für die diversen Ansätze in der Diskussion über die juristischen Methoden bei all ihrer Verschiedenheit zumindest die eine Gemeinsamkeit festgestellt werden, „dass sie von der Praxis kaum beachtet werden. Dort stößt man [stattdessen] häufig [nur] auf die vier klassischen ‚canones der juristischen Auslegung‘ […].“124 Diese „Beziehung, vielmehr Beziehungslosigkeit zwischen Methodenkritik hier, Rechtspraxis und praxisgerichteter Dogmatik dort“ hat nach Wolfgang Gast zumindest den praktischen Vorteil, dass sich die Auslegungspraxis in ihrer „Treue zum hergebrachten Auslegungsmuster“ auch nicht von all den „vernichtenden Verrissen des alten Instrumentariums“ irritieren lassen muss, die von der Methodendiskussion seit Jahrzehnten produziert werden.125 Diese Beziehung oder auch Nichtbeziehung soll im Folgenden untersucht werden. Das Ergebnis wird, um es vorwegzunehmen, nicht so krass wie in den zitierten Urteilen ausfallen. Erstens führte die Einschätzung der praktischen Auslegungsmethoden durch die Rechtstheorie nicht durchweg zu „Verrissen“. Für die meisten Theorieströmungen der Vergangenheit wie der Gegenwart stellen die traditionellen Auslegungs122 123 124 125

Vgl. Raisch 1995, 91–94; Schröder 2002, 40f. Ihering 1909, 54, 53. Haft/Hilgendorff 1993, 105. Gast 1997, 102.

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kanones nämlich immer noch das unersetzliche Rüstzeug eines Juristen dar. Zweitens lässt sich keine grundsätzliche Trennung von Auslegungspraxis und Rechtstheorie aufrechterhalten. Aus beidem ergibt sich gewissermaßen ein Modell mit einer Grund- und einer Oberflächenströmung, oder, um es mit einem Bild Wittgensteins zu sagen: Die Bewegung des Wassers im Flussbett ist dieselbe geblieben, während sich das ganze Flussbett verschoben hat.126 Das Instrumentarium der praktischen Auslegung hat sich seit Savigny nicht signifikant weiterentwickelt.127 Noch immer bilden die vier Kanones den Kern der Auslegungsmethoden, noch immer ist die Hierarchie dieser Kanones nicht festgelegt; auch die Frage nach subjektiver oder objektiver Auslegung ist noch immer nicht geklärt usw. Hier hat auch die Rechtstheorie keine Fortschritte gebracht, ganz im Gegenteil hat sie eine früher zumindest in bestimmten Phasen gegebene Festlegung vollends aufgehoben. Das Ergebnis der Entwicklung im Bereich der Rechtstheorie scheint zu sein, dass die Juristen die Unmöglichkeit von eindeutigen Auslegungsregeln realisieren und darum anerkennen, dass das traditionelle Selbstverständnis der Jurisprudenz und damit auch das Bewusstsein der praktischen Jurisprudenz mit Bezug auf die Grundlagen und die Grenzen ihrer Tätigkeit revidiert werden muss. Auslegung wird mit der Zeit immer weniger als bloße Anwendung, als schlichte, für objektiv und unpersönlich gehaltene Subsumtion unter die Gesetze, sondern immer mehr als eine mit subjektiven Wertungen verbundene rechtschöpferische Leistung angesehen. Diese Entwicklung wird allerdings unterschiedlich bewertet. Während sie aus der Sicht der Rechtstheorie als „Gewissheitsverlust[.]“128 gesehen wird, scheinen die praktischen Juristen diese Entwicklung positiver aufzunehmen und sich über die neu gewonnene Freiheit und Bedeutung des einzelnen Richters zu freuen. Dieser kann nun nach seinem Ermessen oder persönlichen Gerechtigkeitsempfinden oder was auch immer urteilen und hinterher die Auslegungsmethoden benutzen, um seine Entscheidung unangreifbar zu machen.129 Im Folgenden soll daher die Entwicklung der Rechtstheorie im Hinblick auf die Konsequenzen für die Auslegungsproblematik skizziert werden. Ihre anderen Elemen126 127 128 129

Zu Wittgenstein vgl. Hänni 2009. Zu Savigny vgl. Apel 1955, 167ff. Haverkate 1977, Titel. So Josef Esser: „Insgesamt ergab sich, dass unsere akademische Methodenlehre dem Richter weder Hilfe noch Kontrolle bedeutet. Die Praxis […] geht nicht von doktrinären ‚Methoden‘ der Rechtsfindung aus, sondern sie benutzt sie nur, um die nach ihrem Rechts- und Sachverständnis angemessenste Entscheidung lege artis zu begründen.“ (Esser 1972, 7 [dort teilw. hervorgehoben].)

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te, die häufig innerhalb der jeweiligen Theorie viel wichtiger sein können, sollen nur dann betrachtet werden, wenn sie für die Auslegung relevant sind.130 Unter diesem Blickwinkel – der Frage nach den Konsequenzen für die Auslegung – können verschiedene Raster benutzt werden, um die Theorien zu sortieren. Ein Maßstab wäre dabei die Beurteilung der entsprechenden Auslegungspraxis bzw. der Möglichkeit von Auslegung überhaupt: Ist sie a) positiv oder problemlos, b) generell möglich, aber in manchen Fällen problematisch (meistens geht es dabei um Gesetzeslücken), oder c) kritisch oder unmöglich. Verbunden ist damit ein zweiter Maßstab: die Einschätzung durch die Theoretiker, ob es sich bei der Auslegung von Gesetzen um eine reine Anwendung, eine bloße Subsumtion handelt oder um eine vom jeweiligen Richter abhängige Rechtsbildung. Erscheint der Richter als „Subsumtionsautomat“ oder als „Richterkönig“?131 Ein drittes Raster wäre durch die Endpunkte subjektive und objektive Auslegung gekennzeichnet. „‚Rechtstheorie‘ ist ein Name für eine Sache, von der noch niemand recht zu wissen scheint, was durch ihn bezeichnet wird.“132 Irgendwo zwischen Methodenlehre und Rechtsdogmatik einerseits und Rechtsphilosophie andererseits liegt das ziemlich unsicher abgegrenzte Gebiet der Rechtstheorie.133 Im Rahmen dieser Untersuchung soll es prinzipiell um jede (innerhalb des juristischen Diskurses relevante) Aussage gehen, die nicht bloß praktische Auslegung ist oder dafür Regeln aufstellt, sondern auf einer MetaEbene Reflexionen über diese Regeln und die Möglichkeiten und Grenzen von Auslegung anstellt oder solche Reflexionen aus prinzipiellen Überlegungen ableitet. Zumindest die Abgrenzung zur Rechtsphilosophie134 ist in diesem Zusammenhang irrelevant, weil hier jede Meta-Aussage über die Jurisprudenz interessant ist, wenn sie nur Konsequenzen für die Auslegung mit sich bringt. Durch diesen spezifischen Blickwinkel unterscheidet sich die folgende Tour d’Horizon von den gängigen Überblicksdarstellungen über juristische Theorien. Von einer Theorie, deren eigentliche Bedeutung womöglich in einem ganz anderen Bereich liegt, ist nur dann und insoweit die Rede, als dies für das Verständnis ihrer auslegungsrelevanten Konsequenzen notwendig ist. „Die Rechtstheorie ist im 19. Jahrhundert als eine allgemeine juristische Theorie des Rechts und der Rechtswissenschaft entstanden […].“135 Ausgehend nicht zuletzt 130 Manche Strömungen, die in der Rechtstheorie durchaus wichtig sind, fallen hier ganz heraus, so z. B. die soziologische Rechtstheorie. 131 Ogorek 1986, Titel. 132 Podlech 1977, 13. 133 Zur Unterscheidung von Rechtstheorie und Rechtsphilosophie vgl. Dreier 1975; Kaufmann 1985. 134 Vgl. dazu Dreier 1992. 135 Brockmöller 1997, 13.

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von der Philosophie Kants, wurden damals sowohl die Jurisprudenz als Fachwissenschaft, „als Wissenschaft vom positiven Recht, die sich in ihren Überlegungen durch die von ihr entwickelte juristische Methodik leiten lässt“136, als auch „die Leitbilder geprägt, nach welchen sich noch heute besondere Konzeptionen von Rechtstheorie unterscheiden“137. Getragen wurde diese Entwicklung der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts von der allgemeinen Wissenschaftstheorie mit ihren drei großen Strömen Historismus, Rationalismus und Positivismus, welche – teils in diachroner, sich nur überlappender Abfolge, meistens aber gleichzeitig und gleichberechtigt – die rechtstheoretischen Systeme hervorbrachten.

1.1 Historische Rechtsschule: Friedrich Carl von Savigny Als einer der Gründerväter der modernen Rechtstheorie, ja womöglich als „erster Rechtstheoretiker“138 überhaupt, kann Friedrich Carl von Savigny (1779–1861) gelten, das Haupt der Historischen Rechtsschule mit ihrer geschichtlich-genetischen Anschauung von Rechtssystemen.139 Der „Stoff des Rechts“ ist nach Savigny durch die gesamte Vergangenheit einer Nation gegeben, nicht durch Willkür, sondern „aus dem innersten Wesen der Nation selbst und ihrer Geschichte hervorgegangen“.140 Entwickelt werde er durch das Volk als dem „stets werdenden, sich entwickelnden Ganzen“, wobei die Volksgemeinschaft ihre „leibliche Gestalt“ im Staat finde. Auf dieser hohen Stufe sei das Gewohnheitsrecht aufgehoben im gesetzgeberisch betreuten staatlichen und im rechtswissenschaftlich bearbeiteten Juristenrecht, wobei Fachjuristen wie Gesetzgeber jedoch als Repräsentanten des Volksgeistes fungierten. Dem Rechtssystem zugrunde lägen leitende, 136 Krawietz 1979, 128 (dort teilw. hervorgehoben). Zur Bedeutung Kants vgl. Krawietz’ These, dass der Ausgangspunkt dieser entscheidenden Phase in der Entwicklung der Methodenlehre und der Jurisprudenz zu einer Fachwissenschaft um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert gelegen habe, als es „unter dem Eindruck der Kritiken Kants an den erkenntnistheoretischen Voraussetzungen des Naturrechts und dessen ethischem Apriorismus zur endgültigen Ablösung der Rechtsmetaphysik kam“ (ebd. [dort teilw. hervorgehoben]). Vgl. dazu Blühdorn 1973. 137 Dubischar 1983, 8. Vgl. dazu Blühdorn 1973a und Wieacker 1972. 138 Brockmöller 1997, 113. Begründet wird diese Einschätzung damit, dass Savigny der Erste sei, „dem es gelingt, der Jurisprudenz einen autonomen Wissenschaftsanspruch zu sichern. Es bedarf nicht mehr des Hinzutretens von Geschichte und Philosophie zur Begründung der Rechtswissenschaft, sondern die Jurisprudenz ist Wissenschaft durch ihren mit Notwendigkeit gegebenen Stoff und durch ihre eigene diesen Stoff beherrschende Methode.“ (Ebd.) 139 Vgl. Fikentscher 1976, 37–78; Kleinheyer/Schröder 1983, 352–361. 140 Vgl. hierzu und zum Folgenden Dubischar 1983, 11–13, von wo auch die (dort ebenfalls nicht einzeln nachgewiesenen) Zitate aus Savignys Hauptwerk System des heutigen Römischen Rechts (1840ff.) genommen sind.

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„herauszufühlende“ Grundsätze, die den inneren Zusammenhang des Rechtssystems und die Verwandtschaft aller juristischen Begriffe und Sätze herstellten. Bezeichnend für die Historische Rechtsschule ist also die Forderung nach einer Verknüpfung von „historischer“ und „systematischer“ Sichtweise. Die eine bezieht sich auf die Entstehung jedes Gesetzes in einer bestimmten historischen Situation, die andere auf die Gesamtheit der Rechtsnormen und der ihnen zugrunde liegenden Rechtsinstitute als ein zusammenhängendes Ganzes. Dabei legt Savigny einen organischen Zusammenhang der im allgemeinen Bewusstsein lebendigen „Rechtsinstitute“ zugrunde, aus denen die einzelnen Rechtsregeln nachträglich durch Abstraktion abgeleitet werden. Durch eine organisch-systematische Benutzung solcher Oberbegriffe wie „Rechtsinstitut“ oder „Rechtsverhältnis“ – „zweier neuerer, die Theorie bis heute prägender“141 Begriffe – und ihre konstruktive Zusammenfügung mit anderen rechtsinstitutionellen Leitgedanken entwirft Savigny das Muster einer begriffsjuristischen Rechtswissenschaft, die im 19. Jahrhundert einen der Hauptströme bilden sollte.142 Dank dieser Auffassung vom Recht als organischem, vernünftigem System, „aus dem innersten Wesen der Nation selbst und ihrer Geschichte hervorgegangen“ und vom „Volksgeist“ erzeugt, als dessen Repräsentanten Gesetzgeber wie Fachjuristen fungieren, sieht Savigny keine Probleme bei der Auslegung von Gesetzen. Solange die Richter die historische Dimension beachteten, könne es keine Probleme geben, weil die Richter ja derselben historischen Entwicklung angehörten. Sein Glaube an die Möglichkeit einer bloßen Subsumtion lässt Savigny davon sprechen, dass nicht der Richter einen Fall entscheidet, sondern das Gesetz.143 Durch die systematische und vor allem die historische Auslegung, i. e. die Untersuchung, inwieweit ein Gesetz auf einer bestimmten Entwicklungsstufe in das Rechtssystem eingegriffen und es verändert hat – es handelt sich also nicht um eine historische Auslegung im heutigen Sinn –, macht es Savigny dem Richter möglich, über die Wortbedeutung des Gesetzes im engen Sinn hinauszugehen, wenn auch nur, um den Willen des Gesetzgebers zu erforschen und damit den Wortsinn des Gesetzes zu präzisieren. Die besondere Beachtung der geschichtlichen Genese von Rechtssystemen schlägt

141 Ebd., 13. 142 Dieser Systemgedanke bildete zwar das Fundament für die „Begriffsjurisprudenz“ (s. u. Kap. IV.1.2), Savigny selbst ist ihr jedoch nicht zuzurechnen; er hat sie zwar vorbereitet, aber eher unbeabsichtigt (vgl. Kriele 1967, 71). 143 Vgl. Savigny 1951, 15; ferner: ebd., 37, 39. „Es kann heute kaum ein Zweifel daran bestehen, dass Savigny in seiner Juristischen Methodenlehre die methodologischen Auffassungen von der juristischen Methodik seiner Zeit in paradigmatischer Weise zur Darstellung, auf den Begriff und ins System gebracht hat.“ (Krawietz 1979, 136f.)

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sich in dieser von Savigny neu geschaffenen historischen Auslegungsregel wie in der allgemeinen Auffassung von Auslegung nieder, dass „die Rekonstruktion des dem Gesetze in[ne]wohnenden Gedankens“144 die Hauptaufgabe der Gesetzesauslegung darstelle. Zu diesem Zweck müssten diejenigen, „welche mit dem Rechtsverhältnis in Berührung kommen, jenen Gedanken rein und vollständig auffassen. Dies[..] geschieht, indem sie sich in Gedanken auf den Standpunkt des Gesetzgebers versetzen, und dessen Tätigkeit in sich künstlich wiederholen, also das Gesetz in ihrem Denken von Neuem entstehen lassen.“145 Trotz des Systemgedankens ist Savigny also Verfechter einer subjektiven Auslegung. Er will die Intentionen des Gesetzgebers erkennen und zur Richtschnur bei der Gesetzesauslegung machen. Die Anlehnung der Jurisprudenz an die Geschichte und das organisch-begriffsjuristische Moment in seiner Theorie lassen Savigny an die Möglichkeit einer auf ihre eigene Weise wissenschaftlichen, reinen Auslegung der Gesetze ohne Verfälschung durch die Subjektivität des Richters glauben.146 Savigny hat die juristische Auslegung nicht mit der allgemeinen philosophischen Hermeneutik verknüpft wie Karl Salomon Zachariae (1769–1843) in seinem Versuch einer allgemeinen Hermeneutik des Rechts (1805), aber die vier Kanones seiner Auslegungslehre haben dennoch – oder gerade deswegen – eine ungleich größere Wirkung entfaltet. Er unterscheidet das grammatische, das logische, das von ihm hinzugefügte historische und das systematische Element der Auslegung.147 Hier spielt die Analogie eine wichtige Rolle. Gewiss, er hat das wenigste davon selbst erfunden, aber das Ganze wirkungsvoll auf den Begriff gebracht. „Diese vier Elemente der Auslegung“ – die vier Kanones – „sind heute noch in den meisten juristischen Methodenlehren […] als Grundregeln der Auslegung zu finden“148, allerdings infolge der seitherigen Theorieentwicklung in der einen oder anderen Richtung angereichert und differenziert.

1.2 Begriffsjurisprudenz Der bereits von Savigny betonte organische Charakter der Rechtssysteme bildet die theoretische Grundlage für die „Begriffsjurisprudenz“, von der die Rechtsordnung als lückenloses, in sich geschlossenes System von Rechtssätzen begriffen wird. Ihr liegt die 144 Savigny 1840, 213. 145 Ebd., 212f. 146 Savigny geht implizit davon aus, dass die Jurisprudenz keine Probleme mit Objektivität und Wissenschaftlichkeit bekommen kann, weil sie eben eingebettet ist in eine national und historisch bedingte Subjektivität, dass sie also gar nicht objektiv und wissenschaftlich sein kann. 147 Vgl. ebd., 213f. – Zu Zachariae vgl. Raisch 1995, 100–102. 148 Ebd., 104.

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Vorstellung zugrunde, aus den einzelnen Rechtsbegriffen lasse sich auf dem Weg rein logischer Konstruktion ohne Rücksicht auf außerjuristische Gegebenheiten eine juristische Begriffspyramide gewinnen, die dann für jeden erdenkbaren Rechtsfall die richtige Entscheidung allein durch formallogisch-begriffliches Deduzieren gewährleistet. Als eigentlicher Begründer der klassischen Begriffsjurisprudenz kann Savignys Schüler Georg Friedrich Puchta (1798–1846) gelten, der das formallogische Modell einer Begriffspyramide auf die Rechtswissenschaft übertrug. Danach ist ein logisches System dann ideal, „wenn an der Spitze ein allgemeinster Begriff steht, unter den sich alle übrigen Begriffe, als solche von Arten und Unterarten, subsumieren lassen, zu dem man also von jedem Punkt der Basis aus, durch eine Reihe von Mittelgliedern, im Wege jeweils der Weglassung des Besonderen aufsteigen kann“149. Aus der historischen Betrachtung der Entwicklung der Rechtssysteme entwickelt Puchta eine Theorie des logischen Zusammenhangs der Rechtsbegriffe: „Es ist nun die Aufgabe der Wissenschaft, die Rechtssätze in ihrem systematischen Zusammenhang, als einander bedingende und von einander abstammende, zu erkennen, um die Genealogie der einzelnen bis zu ihrem Prinzip hinauf verfolgen, und ebenso von den Prinzipien bis zu ihren äußersten Sprossen herabsteigen zu können.“150

Die Genealogie der Begriffe impliziert also, dass aus dem höchsten Begriff, den Puchta inhaltlich als rechtsphilosophisches Apriori aus dem Kant’schen Freiheitsbegriff gewinnt, alle niedrigeren abgeleitet werden können.151 Puchta gibt also die noch von Savigny betonte Beziehung der „Rechtsregeln“ zu dem ihnen zugrunde liegenden „Rechtsinstitut“ zugunsten der abstrakten Begriffsbildung auf, was methodisch auf das logisch-deduktive Verfahren einer „Begriffsjurisprudenz“ hinausläuft. Damit bereitet er „dem für mehr als ein Jahrhundert vorherrschenden juristischen ‚Formalismus‘ […] den Boden“152. In eine ähnliche Richtung geht der rationalistische Gesetzespositivismus Bernhard Windscheids (1817–1892), für den wie für Savigny und Puchta im Recht gleicherma149 Larenz 1991, 20. 150 Puchta 1853, 37. Auf S. 35f. heißt es dort auch: „Die einzelnen Rechtssätze, die das Recht eines Volks bilden, stehen in einem organischen Zusammenhang unter einander, der sich zuvörderst durch ihr Hervorgehen aus dem Geist des Volks erklärt, indem die Einheit dieser Quelle sich auf das durch sie Hervorgebrachte erstreckt. […] Jene Eigenschaft des Rechts, dass seine Sätze sich zu einem organischen Ganzen […] zusammenschließen, ist aber auch durch seine Natur, durch die Vernunftmäßigkeit, die ihm zukommt, gegeben.“ S. ferner Puchta 1853a. 151 Dieser höchste Begriff ist – im Gegensatz zum Relationsbegriff als rein formalem Bezugspunkt in Kelsens „Reiner Rechtslehre“ (s. dazu unten Kap. IV.1.6) – inhaltlich bestimmt und bildet also eine überpositive Grundlage. Die Verbindung zur Kant’schen Ethik ist deutlich. 152 Larenz 1991, 24.

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ßen das Geschichtliche wie das Vernünftige lebendig ist, weshalb es auch einer wissenschaftlichen – historischen wie systematischen – Bearbeitung zugänglich ist.153 Im Unterschied zu seinen Vordenkern sieht er die Vernunft im Recht jedoch nicht mehr als etwas Objektives, als immanenten Sinn der Rechtsinstitute an, die als die innere Macht des (objektiven) Geistes das Rechtsdenken einer Kulturepoche von vornherein weitgehend bestimmen, sondern definiert sie subjektiv, als Willen des Gesetzgebers. „Es ist ein durch den Glauben an die Vernunft des Gesetzgebers gemilderter rationalistischer Gesetzespositivismus, der bei Windscheid und der durch ihn beeinflussten Juristengeneration zu Worte kommt.“154 Das Recht wird also weitgehend gleichgesetzt mit den Gesetzen eines historischen, aber auch vernünftigen, idealisierten Gesetzgebers. Dementsprechend hat es die Auslegung für Windscheid „zuerst zu tun mit der Feststellung des Sinnes, welchen der Gesetzgeber mit den von ihm gebrauchten Worten verbunden hat“155. Außer der wörtlichen, logischen und systematischen Auslegung hat der Ausleger die Aufgabe, „sich unter Beachtung aller erreichbaren Momente möglichst vollständig in die Seele des Gesetzgebers hineinzudenken“156. Entscheidend seien dabei der zur Zeit des Gesetzes vorhandene Rechtszustand und der Zweck, welchen der Gesetzgeber mit seinem Gesetz erreichen wollte. Ähnelt diese Forderung einer historisch-empirischen Willensforschung zunächst der Auslegung in Savigny’scher Manier, so ist bei Windscheid doch auch eine Auslegung nach der sachlichen Angemessenheit angedeutet: „Endlich ist auch auf den Wert des Resultats Rücksicht zu nehmen, insofern nämlich angenommen werden kann, dass der Gesetzgeber eher etwas Bedeutendes und Angemessenes, als etwas Leeres und Unpassendes habe sagen wollen.“157

Auslegung hat demnach den Zweck, einen unklaren Ausdruck des Gesetzes in seinem wahren Sinn zu bestimmen, einen unvollständigen Ausdruck zu ergänzen oder sogar einen unrichtigen zu berichtigen; darüber hinaus hat sie überdies die Aufgabe, „hinter dem Sinne, welchen der Gesetzgeber hat ausdrücken wollen, dessen eigentlichen Gedanken hervorzuziehen“158. 153 Die Quelle allen positiven Rechts ist nach Windscheid die Vernunft der Völker, die dann in doppelter Weise – unmittelbar durch die Übung des Gewohnheitsrechts, mittelbar durch die Vermittlung der Gesetzgebung – Recht begründet (vgl. Windscheid 1900, 64f.). 154 Larenz 1991, 28. 155 Windscheid 1900, 82. 156 Ebd., 83. 157 Ebd., 84. 158 Ebd., 86. Hier sieht sich Windscheid genötigt, diese Methode noch als „wirkliche Auslegung“ zu verteidigen.

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Bei der Lückenausfüllung möchte Windscheid, der im Recht einen objektiven Sinnzusammenhang sieht, die Lücken nicht aus dem Naturrecht, sondern „aus dem Geiste des Rechtsganzen selbst“159 füllen. „Insofern dabei von den in dem Rechtsganzen wirklich ausgesprochenen Rechtssätzen ausgegangen, und die in diesen sich darstellende spezifische Art und Weise der Rechtsauffassung auf das einer rechtlichen Normierung bedürftige Verhältnis übertragen werden muss, spricht man auch hier von einer Analogie.“160

In diesem Zusammenhang ist auch Rudolf von Ihering (1818–1892) zu nennen, der in seinem frühen Werk die Begriffsjurisprudenz weiterentwickelt und an die als vorbildlich geltenden Naturwissenschaften wie die Chemie annähert. Beeinflusst durch den Aufschwung der Naturwissenschaften, entlehnt er deren Begriffe, um seine Vorstellung vom Recht mit derselben Evidenz auszustatten, die den chemischen und physikalischen Gesetzen und Bezeichnungen zukommt.161 Die Begriffsjurisprudenz, die das 19. Jahrhundert weitgehend beherrscht, geht einen entscheidenden Schritt über Savigny hinaus. Durch ihren Ansatz, die Rechtsordnung als geschlossenes Gefüge, als ein axiomatisches, pyramidenförmiges System zu sehen, in dem die Gesetze eine „Stelle“ haben und logisch auseinander ableitbar sind, verschafft sie der Rechtswissenschaft eine besondere Bedeutung und erlaubt dem Richter mit Berufung auf die Wissenschaft eine freiere Handhabung des Gesetzes.

1.3 Objektive Auslegungstheorie Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Vormachtstellung der Begriffsjurisprudenz, die ja trotz der Betonung des Systems und der logischen Deduzierbarkeit der Rechtsbegriffe letztendlich immer noch die Rekonstruktion des gesetzgeberischen Willens anstrebte, durch die neu entstehende objektive Auslegungstheorie attackiert. 1885 und 1886 entwickelten fast gleichzeitig drei der bedeutendsten Rechtwissenschaftler jener Zeit – Karl Binding (1841–1920), Adolf Wach (1843–1926) und Josef Kohler (1849–1919) –162 diese neue Theorie. 159 160 161 162

Ebd., 91. Ebd. (dort teilw. hervorgehoben). Vgl. Ihering 1857. Vgl. dazu Klemann 1989, 130ff.; Luf/Ogris 1995. Die Werke sind: Binding 1885; Wach 1885; Kohler 1886. Für programmatische Aussagen vgl. Wach 1885, 258: „Das Gesetz ist ein fortdauernde Geltung beanspruchender Wille, eine konstante lebendige Kraft. […] Aus alledem folgt, dass Auslegung nicht ist Darlegung des Sinnes, welchen der Gesetzgeber tatsächlich mit dem Satze verband, sondern des Sinnes, welcher dem Gesetze immanent ist.“ – Binding 1885, 454–456: Mit dem Moment der Gesetzespublikation verschwinde mit einem Schlag

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Über die Selbstverständlichkeit hinaus, dass ein Gesetz im Laufe der Zeit eine veränderte, vom Gesetzgeber nicht intendierte Bedeutung annehmen kann, postuliert die objektive Auslegungstheorie, dass nicht die vom Urheber gemeinte, sondern eine davon unabhängig zu ermittelnde, objektive, dem Gesetz immanente Bedeutung grundsätzlich die entscheidende und rechtlich maßgebende sei. Die subjektiven Absichten des Gesetzgebers seien irrelevant, das Gesetz sei vernünftiger als seine Urheber und stehe, einmal in Kraft, für sich selbst. Die lex, so die Überzeugung dieser Theoretiker, müsse weniger als voluntas denn als ratio scripta betrachtet werden. Während die Begriffsjurisprudenz die Vernünftigkeit des Rechts formal begriff, ist für die objektive Auslegung das Recht material vernünftig. Während die bisherigen Theorien in den Kontext des Historismus oder der rationalistischen Tradition gehören, dominiert seit dem späten Ihering der Positivismus.163 Denn das Gesetz beruhe auf allgemeinen Rechtsprinzipien, auf Ordnungsmaximen, die bestimmten Zwecken dienen sollen.164 An diesem Zweckstreben habe sich die Auslegung zu orientieren, weshalb unter mehreren, dem Wortlaut nach möglichen Interpretationen die „zweckentsprechendste“ gewählt werden müsse.165 Diese Frage nach der Zweckmäßigkeit lasse sich jedoch immer nur unter Berücksichtigung der tatsächlichen Verhältnisse beantworten, unter denen Auslegungen wirken sollen. Da diese Verhältnisse natürlich Veränderungen in der Zeit unterworfen seien, müsse auch die Interpretation des Rechtssatzes diesem Wandel folgen. Auslegung müsse also stets gegenwartsbezogen sein.166

163 164

165

166

der ganze Unterbau von Absichten und Wünschen des geistigen Urhebers des Gesetzes, „und das ganze Gesetz ruht von nun an auf sich, gehalten durch die eigene Kraft und Schwere, erfüllt von eignem Sinn; oft klüger, oft weniger klug als sein Schöpfer, oft reicher, oft ärmer als dessen Gedanken […]. Die Gesetzgebung bedeutet für den Inhaber der gesetzgebenden Gewalt geradezu eine Entäußerung seines Individual-Willens: der Wille des Rechts tritt ihm nun als objektive Macht gegenüber. […] So ist es besser statt den Willen der Gesetzgeber den Rechtswillen, der in einem Rechtssatz als einem Gliede des ganzen Rechtssystems seinen Ausdruck gefunden hat nach Inhalt, Autorität und beabsichtigter Wirkung, als Ziel der Auslegung dieses Satzes zu bezeichnen, oder wenigstens unter jenem persönlichen Willen diesen unpersönlichen zu verstehen.“ Vgl. Larenz 1991, 34f. Wichtig ist aber, dass hinter diesen Zwecken anders als in der noch zu erörternden „Interessenjurisprudenz“ (s. u. Kap. IV.1.5) nicht die realen Interessen gesehen werden, sondern „objektive Zwecke […], die durch die innere Vernünftigkeit des Rechts gefordert sind“ (Larenz 1991, 35 [dort teilw. hervorgehoben]). Zu den Auslegungsprinzipien schreibt Binding: „Ihrer kann es nur zwei geben: der Rechtssatz als Teil ist aus dem Ganzen, das Recht als Mittel ist aus seinem Zweck zu erläutern.“ (Binding 1885, 467 [dort teilw. hervorgehoben].) Zu den zahlreichen Anhängern dieser Auslegungstheorie vgl. Larenz 1991, 34, Anm. 39. Vgl. auch Engisch 1997, 88f.; Liver 1954.

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1.4 Freirechtsschule Die objektive Auslegungstheorie ist nicht die einzige Theorie, die in Opposition zur Vorherrschaft der traditionellen, von sich und den Möglichkeiten der Jurisprudenz sehr überzeugten Begriffsjurisprudenz entwickelt wurde. Um die Jahrhundertwende entstanden mehrere neue Strömungen, was zunächst zu einem Methodenpluralismus und schließlich, in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, zu einem regelrechten Methodenstreit in der Rechtswissenschaft führte. Eine besonders radikale Position bezog dabei die Freirechtsschule. Vorbereitet wurde sie durch Oskar Bülow (1837–1907) und seine 1885 veröffentlichte Schrift Gesetz und Richteramt. Nach Meinung Bülows ist es nicht das Gesetz, das Rechtssicherheit schafft. Denn das Gesetz stelle bloß einen Plan, einen Entwurf einer zukünftigen, erwünschten Rechtsordnung dar. Erst die richterliche Rechtsbestimmung schaffe die konkrete Ordnung als „Bestimmtheit“ der Rechtslage für den konkreten Fall.167 „Im Gesetz kommt der rechtsordnende Wille der Staatsgewalt noch nicht zum Abschluss: vollendet tritt er erst in den richterlichen Rechtssprüchen heraus.“168 Die Rechtsbildung könne um „vieles eher des toten Gesetzeswortes entbehren, als der viva vox des Richteramtes“169. Die Konsequenz ist die Ablehnung der traditionellen Auffassung, dass es sich bei der Gesetzesauslegung um eine einfache Subsumtion handle. Jedes richterliche Urteil ist hier nicht nur Anwendung einer fertigen Norm, sondern eine rechtschöpferische Leistung. Weiterentwickelt wird dieser Ansatz durch den Franzosen François Gény (1861– 1959), der im Gegensatz zu den deutschen Rechtswissenschaftlern dieser Zeit bereits Erfahrung mit einer umfassenden, aber veraltenden Kodifikation gesammelt hatte. Der Code civil stammt von 1804, während das BGB im Jahr 1900 in Kraft gesetzt wurde. In seinem Werk Méthode d’interpretation et sources en droit privé positif (1899)170 vertritt Gény die These, dass die Lebensverhältnisse nicht ausreichend durch die „Wortformeln“ der Gesetze zu regeln seien, und kritisiert den Glauben an eine Lückenlosigkeit der Gesetze. Stattdessen fordert er das richterliche Recht, um in „freier wissenschaftlicher Forschung“ zum richtigen Urteil zu gelangen. Man müsse den Gesetzestext als eigenständiges Wesen nehmen, das isoliert von seiner unmittelbaren Quelle allen Veränderungen folge.

167 168 169 170

Vgl. Dubischar 1983, 50f. Bülow 1885, 46f. Ebd., 47. Gény 1954.

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„Das berechtigt den Rechtsanwender, nicht nur die Absicht des Gesetzgebers zu vernachlässigen, sondern sich vom Text zu lösen, ihm sogar Gewalt anzutun, wenn es erforderlich ist, daraus etwas anderes zu entnehmen, als der Gesetzgeber wollte […].“171

In seinem späteren Werk Science et technique en droit privé positif (1914) versucht Gény zu zeigen, wie sich mithilfe einer gemeinsamen technique (der fachjuristischen Ausarbeitung eines Urteils) die in der science (der freien wissenschaftlichen Forschung) erarbeiteten und nur mit Autorität im jeweiligen Einzelfall ausgestatteten Urteile zu einer „Infrastruktur“ der sozialen Daten formen und in die „Superstruktur“ der juristischen Dogmatik einfügen.172 Auf den Begriff gebracht werden diese Positionen endgültig 1903 in Eugen Ehrlichs (1862–1922) Werk Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft173. Ausgangspunkt ist eine harsche Kritik an der Technik der Analogie, deren moderne Form Ehrlich durch den Drang erklärt, das römische Recht der Antike auf die Welt des Mittelalters und der Neuzeit anzuwenden: „Die deutsche Bauernleihe wurde als Colonat, das Eigen der Hauskinder als peculium behandelt, auf moderne Verträge wurde oft ohne weiteres das Recht der römischen stipulatio angewendet, das Indossament ist bald eine eigentümlich geartete Cession, bald eine Delegation mit gestatteter Subdelegation, in der offenen Handelsgesellschaft will man eine societas erblicken, bei der sich die socii gegenseitig als institores einsetzen. Nicht selten stellt man, um eine Entscheidung zu begründen, in willkürlicher Weise weithergeholte Quellenstellen zusammen, die sich auf die verschiedensten Dinge beziehen. So entstand die juristische Analogie, so die Konstruktion, so endlich die ganze juristische Technik, die bis heute noch als klassisch gilt und uns vor allem gelehrt hat, auf ein Verhältnis Rechtssätze anzuwenden, die sich auf ein Verhältnis ganz anderer Art beziehen, und sich darüber ruhig hinwegzusetzen. […] In diesem Sinne darf man wohl sagen, die Bedeutung der Rezeption liege darin, dass man es nicht mehr notwendig hatte, Recht zu finden, seit man gelernt hat, es anzuwenden.“174 171 „Ce qui justifie l’interprète, non seulement de négliger l’intention du législateur, mais de torturer le texte et de violenter, au besoin, pour en tirer tout autre chose que ce que le législateur y a voulu mettre, pour y trouver même, quand il le faut, ce que les exigences de la vie lui paraîtraient requérir.“ (Ebd., Bd. 1, 258f.; dt. Übers. nach Raisch 1995, 112.) 172 Vgl. ebd. 173 Ehrlich 1973a. Eine erste Vorarbeit dazu bildete bezeichnenderweise eine Arbeit über Gesetzeslücken: Ehrlich 1967. Als weiteres wichtiges Werk – ausführlicher und eher bezogen auf wissenschaftliche Detailfragen, dafür weniger programmatisch – ist zu nennen: Ehrlich 1918. Zu Ehrlich vgl. Rehbinder 1986; Ludwig 1999. 174 Ehrlich 1973a, 5f.

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Die angebliche Lückenlosigkeit des Rechtssystems ist für Ehrlich nichts anderes als ein „Scheingebilde der juristischen Technik“175. Überhaupt habe die juristische Technik mit ihrem Anspruch einer objektiven und eindeutigen Gesetzesauslegung ihre Ziele nicht erreicht. „Die Entscheidung ist in den Ländern der technischen Rechtsfindung nicht um ein Haar sicherer, die richterliche Willkür nicht beschränkter, als nach dem ius civile der Römer, dem common law der Engländer und Amerikaner. Schon die allergewöhnlichste Auslegung des Gesetzes, die in der Erforschung des Willens des Gesetzgebers besteht, gibt zu so vielen Zweifeln Anlass, dass es in der Tat ein wenig geschickter Mann sein müsste, der, wenn er das Recht beugen wollte, sich an dem papierenen Zaune stieße […].“176

Die Freirechtsschule erhebt also zunächst gar nicht den Anspruch, neue Auslegungsmethoden zu entwickeln oder durchzusetzen. Vielmehr will sie eine Theorie und ein juristisches Selbstverständnis begründen, die der Praxis gerecht werden und nicht deren Charakter unter dem Mantel der Objektivität und Wissenschaftlichkeit verbergen wollen.177 „Wenn ich es aber wage, die technische Rechtsfindung geradezu als Sünde gegen den heiligen Geist zu bezeichnen, so liegt das daran, dass sie unserem Auge verschleiert hat die einzige wahre Grundlage, nicht bloß einer sicheren und unparteiischen, sondern auch von großen Ideen beherrschten Rechtsprechung. Es gibt keine andere Gewähr der Rechtspflege als in der Persönlichkeit des Richters.“178

Ehrlichs Ziel ist einerseits eine „schöpferische Rechtsprechung“179, bei der ein Richter frei ist, nach moralischen Überzeugungen intuitiv Recht zu sprechen, andererseits eine eher soziologisch orientierte Rechtswissenschaft, die sich das Ziel setzt, „die Strebungen, die in 175 Ebd., 6. 176 Ebd., 19f. Hier wird auch Ehrlichs Kritik an der subjektiven Auslegungspraxis, die er schlicht für unrealistisch hält, angesprochen. Die zur Rechtsanwendung berufenen Personen – allesamt Beamte, wie er betont, weshalb das geltende Recht ein Beamtenrecht sei – sind „Kinder ihres Volkes und ihrer Zeit“ und müssen das Recht unausweichlich „im Geiste ihres Volkes und ihrer Zeit, der auch ihr Geist ist, nicht im Geiste vergangener Jahrhunderte, nach der ‚Absicht des Gesetzgebers‘, anwenden“ (ebd., 17). 177 „In dem Augenblicke, wo anerkannt wird, dass im Gesetz nur das entschieden ist, was darin entschieden ist, dass das, was darin nicht entschieden ist, darin eben nicht entschieden ist, entfällt wohl auch jeder Anlass, um mit Hilfe der Haarspaltmaschine und der hydraulischen Presse aus dem Gesetze Entscheidungen herauszudestillieren, die nicht darin enthalten sind.“ (Ebd., 33.) 178 Ebd., 21 (Hervorhebung ebd.). 179 Ebd., 37.

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der Rechtsprechung zu Tage treten, auf ihren Ursprung, ihre Wirkung, ihre Art und ihren Wert zu prüfen und so ein Bild dessen zu entwerfen, was in der Rechtsprechung vorgeht und aus welchen Gründen es geschieht“180. Die Rechtswissenschaft müsse als Rechtsquelle anerkannt werden, genauso wie die schöpferische Leistung der Rechtsprechung – die immer schon gegeben, aber nicht gewollt gewesen sei – akzeptiert werden müsse. Es handelt sich hier um den Versuch einer Zusammenführung von Naturrecht und Rechtspositivismus. Der übliche Fehler der Juristen liege darin, „nur das als Recht anzuerkennen, was vom Staate ausgeht, durch angedrohten staatlichen Zwang gefestigt ist; alles andere sei Sitte, Moral oder ähnliches Gebilde“181. Genau dieses „ähnliche Gebilde“ will Ehrlich unmittelbar für die Rechtsprechung – und nicht wie die traditionellen Naturrechtler bloß für das Gebiet der Rechtsquellenlehre – als Mittel zur Entscheidungsfindung nutzbar machen, das die Auslegung der Gesetze durch die Persönlichkeit des Richters, dessen Rechtsgefühl und Sittlichkeit steuert. Recht und Rechtsanwendung seien Erzeugnisse des Willens, da sich letztlich jedes gewünschte Ergebnis, je nach subjektivem Rechtsempfinden, „konstruktiv“ aus dem Gesetz ableiten lasse. Jedem Urteil liege eine schöpferisch-persönliche Leistung des Richters zugrunde und nicht nur ein logisch-deduktiver Schluss aus dem Gesetz – diese Erkenntnis will Ehrlich zunächst als nachträgliche Analyse der Urteilsfindung, dann aber auch als Maxime für die zukünftige Praxis durchsetzen. Ehrlich sagt im Grunde nicht mehr, als was bereits Bülow ausgesprochen hatte und was heute allgemein anerkannt ist: Ein Urteil ist eine rechtschöpferische Leistung. Noch weiter radikalisiert und mit einer Wendung zum Subjektivismus versehen, die für die Freirechtslehre in engerem Sinn bezeichnend ist, wird die Freirechtsbewegung durch Hermann Kantorowicz (1877–1940). Unter dem Pseudonym Gnaeus Flavius veröffentlichte er 1906 die programmatische Schrift Der Kampf um die Rechtswissenschaft, die er mit einer Skizze der allgemein herrschenden „Idealvorstellung vom Juristen“ eröffnet: „Ein höherer Staatsbeamter mit akademischer Ausbildung, sitzt er, bewaffnet bloß mit einer Denkmaschine, freilich einer von der feinsten Art, in seiner Zelle. Ihr einziges Mobiliar ein grüner Tisch, auf dem das staatliche Gesetzbuch vor ihm liegt. Man reicht ihm einen beliebigen Fall, einen wirklichen oder nur erdachten, und entsprechend seiner Pflicht, ist er imstande, mit Hilfe rein logischer Operationen und einer nur ihm ver180 Ebd., 35. Ehrlich erkennt der Rechtsdogmatik also keinen Wissenschaftscharakter zu und sieht die eigentliche Rechtswissenschaft in der Rechtssoziologie, da Erstere nicht von Worten, sondern von Tatsachen handle (vgl. Ehrlich 1973b sowie Ehrlich 1989). 181 Ehrlich 1973b, 6.

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ständlichen Geheimtechnik, die vom Gesetzgeber vorherbestimmte Entscheidung im Gesetzbuch mit absoluter Exaktheit nachzuweisen.“182

Die von der Freirechtsbewegung vertretene Auffassung stellt er demgegenüber als „eine Auferstehung des Naturrechts in veränderter Gestalt“ dar, als Naturrecht, das „von seiner eigenen Theorie gesondert“ werde.183 Das heißt ein Recht, das unabhängig von staatlicher Macht zu gelten beansprucht, das aber im Unterschied zur traditionellen Auffassung erstens wie die Gesellschaft Wandlungen und Entwicklungen unterworfen und zweitens nur dann anzuerkennen sei, wenn es „positiv“ ist, wenn „eine Macht, ein Wille, eine Anerkennung“ hinter ihm steht.184 Der entscheidende Konfliktpunkt ist für Kantorowicz die Frage nach den Gesetzeslücken. Gegner der Freirechtsbewegung müssten seiner Meinung nach die Existenz solcher Lücken grundsätzlich bestreiten. Schon die Kompromissformel, Lücken hie und da zwar einzugestehen, aber deren Überwindung mit den Mitteln der Dogmatik zu fordern und zu erwarten, ist für ihn eine „Konzession an unsern Standpunkt“ 185. Und dieser Standpunkt ist ziemlich radikal. Kantorowicz vertritt die Meinung, „dass nicht weniger Lücken als Worte da sind. Kein einziger Begriff ist bis in seine Urmerkmale zerlegt, wenige nur sind definiert und diese wenigen wieder nur durch andere, selber undefinierte Begriffe. Nur ein unwahrscheinlicher Zufall kann es daher fügen, dass ein Rechtsfall so gelagert ist, dass sämtliche auf ihn anzuwendende[n] Rechtsbegriffe mit ihren fest bestimmten Begriffskernen statt nur mit ihren schwimmenden Konturen auf ihn entfallen. Bei dieser Sachlage wäre der Ausweg, die Lücken durch die Mittel der Gesetzesinterpretation auszufüllen, auch dann ungangbar, wenn diese Mittel weniger untauglich wären, als sie sich tatsächlich bald erweisen werden. Nur freies Recht, mit der Spontaneität seiner Entscheidungen und der gefühlsmäßigen Deutlichkeit seiner Inhalte angesichts des einzelnen Rechtsfalles, kann diese Auffüllung bringen und hat sie in der Tat stets gebracht. Dass der die Lücken ausfüllende Jurist eine solche das Gesetz unleugbar abändernde Tätigkeit für unzulässig hält, sich dieser ihrer Eigenschaft auch gar nicht bewusst wird, ändert an der Tatsache nichts.“186

182 Kantorowicz 1962, 14. Zu den Hintergründen der Veröffentlichung unter einem Pseudonym vgl. Muscheler 1984, v. a. 28–30. Andere „Prediger in der Wüste“ waren neben Kohler, Bülow und Ehrlich vor allem Gustav Rümelin (1815–1889) und Rudolf Stammler (1856–1938), s. Rümelin 1891; Stammler 1911. 183 Kantorowicz 1962, 15f. 184 Ebd., 16f. 185 Ebd., 18. 186 Ebd., 18f.

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Die Analogie als übliche Methode, die Lücken zu füllen, ist nach Kantorowicz völlig unbrauchbar, weil es kaum einen Fall gebe, der Gemeinsamkeiten mit anderen aufweise. Kantorowicz erhebt nicht den Anspruch, von der Warte der Theorie die Praxis der Rechtsauslegung zu ändern, vielmehr nimmt er für sich in Anspruch, zunächst einmal die gängige Praxis zu beschreiben. Kritik übt er vor allem an dem Bild, das die Juristen selbst von ihrer Tätigkeit zeichnen. Als Exempel dient ihm Bartolus (†1357), „der berühmteste aller Juristen“, von dem berichtet werde, „er habe erst die Entscheidungen gemacht und sich dann von seinem Freund Tigrinius die zu ihnen passenden Corpusiuris-Stellen aufweisen lassen“187. Als Konsequenz will Kantorowicz die übliche Praxis der Juristen auf ein neues Fundament stellen. Dabei erkennt er zunächst die Vorwürfe der Kritiker an, dass die Freirechtstheorie eine Jurisprudenz fordere, die mit deren Selbstverständnis nicht mehr viel gemein habe. Denn die Rechtsprechung könne sich dann nicht mehr allein auf staatliches Recht gründen, nicht mehr bloß Dienerin des Gesetzes sein. Es könne nicht mehr jeder Rechtsfall rechtlich entschieden, nicht mehr unbedingt begründete Urteile erwartet werden, die Praxis verliere ihren Charakter der Vorhersehbarkeit und Gleichmäßigkeit – kurz: „Die Ideale der Gesetzlichkeit, der Passivität, der Begründetheit, der Wissenschaftlichkeit, der Rechtssicherheit, der Objektivität scheinen mit der neuen Bewegung unvereinbar.“188 Das ist natürlich eine radikale Position, doch Konsequenzen, so Kantorowicz, habe sie lediglich für den theoretischen Überbau, für das Selbstverständnis und das Berufsethos der Juristen. Denn die Praxis, so die Begründung, sei immer schon so gewesen wie in jenen Sätzen beschrieben. „Wozu also der ganze Lärm? Weil es besser ist, zu der richtigen Praxis auch die richtige, sie begründende Theorie zu besitzen, statt einer ihr ganz widersprechenden und verkehrten; und weil es besser ist, dem richtigen Ziel sich auf der graden Straße zu nähern, als auf krummen, schwierigen, gefährlichen und unehrlichen Schleichwegen […].“189

Freilich, die Freirechtsschule sorgte zwar für Furore, sie war aber zu radikal, um sich in dem Methodenstreit, der in der Zeit um den Ersten Weltkrieg in der Jurisprudenz stattfand, durchzusetzen. Bei Weitem erfolgreicher war in dieser Hinsicht die sogenannte „Interessenjurisprudenz“. 187 Ebd., 22. 188 Ebd., 33. 189 Ebd., 35. Zum Zusammenhang vgl. ebd., 33ff.

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1.5 Interessenjurisprudenz Die Wurzeln der Interessenjurisprudenz reichen über ihre Vorstufe der utilitaristischen Rechtstheorie weit zurück: bis zu dem 1789 veröffentlichten Werk Prinzipien der Moral und der Gesetzgebung von Jeremy Bentham (1748–1832). Grundlage aller Rechtssysteme ist für Bentham das Prinzip der Nützlichkeit: Gesetze seien von Menschen gemacht und somit Ausdruck menschlicher Interessen. Es gebe kein Naturrecht, sondern nur ein vom Menschen gesetztes Recht. Die „Wesenheiten“ von Vertrag, Staat oder Berechtigung lehnt Bentham als Inhalt rechtstheoretischer Aussagen ab; als solcher dürfe nur anerkannt werden, was wirklich menschlichem Verhalten ablesbar ist. In der Rechtstheorie verbindet sich dies mit Überlegungen von Karl Marx (1818–1883), der hinter Gesetzen immer spezifische Interessen bestimmter Klassen erkennt.190 Marx betreibt Ideologiekritik des Rechts als hinterfragende Interessenanalyse, welche das „objektive“ Recht auch als legitimatorische Tarnung partikularer Interessen entlarvt. Als weitere Wurzel zu nennen ist der allgemeine erkenntnistheoretische Positivismus mit seiner Kritik an jeglicher „Metaphysik“ einschließlich Ethik bzw. Moral und seinem Streben nach Tatsachen und empirisch beobachtbarer Gesetzlichkeit, der sich in seiner rechtswissenschaftlichen Variante gegen die Historische Schule sowie die rational-deduktive Methode des Naturrechts wendet. Die Rechtswissenschaft müsse sich zu einer wahren Wissenschaft wandeln, indem sie nur mit unbezweifelbaren Fakten arbeite.191 Die rechtstheoretische Umsetzung dieser Gedanken erfolgt in erster Linie durch (den späten) Rudolf von Ihering,192 vor allem in seinem 1877 bzw. 1883 veröffentlichten zweibändigen Werk Der Zweck im Recht. Rechte, so die Grundaussage Iherings, seien nicht dazu da, die Idee eines abstrakten Rechtswillens zu verwirklichen, sondern vielmehr, um den Interessen, Bedürfnissen und Zwecken des Verkehrs zu dienen. „Das ganze Recht ist nichts als eine einzige Zweckschöpfung, ein gewaltiger Rechts190 Vor allem in einer Artikelserie über die Debatten des Rheinischen Landtags über das Holzdiebstahlsgesetz. Vgl. dazu Paul 1974. 191 Die positivistischen Fakten gliedern sich in einen inneren und einen äußeren Bereich. Dem entsprechen a) die psychologische Rechtstheorie von Bierling et al. sowie b) die soziologisch orientierten Theorien von Ihering et al. Als Reaktion auf diese Tendenz, die Rechtswissenschaft zunehmend in andere Felder (Psychologie, Soziologie) auszulagern, entwickelt Hans Kelsen dann die Reine Rechtslehre (vgl. Larenz 1991, 38). 192 Nach seiner frühen Phase mit einer Mischung naturwissenschaftlicher und romantischer Elemente hatte sich Ihering von der Begriffsjurisprudenz abgewandt, um sie von da an heftig zu bekämpfen und die gänzlich andere Theorie einer utilitaristischen Rechtswissenschaft zu entwickeln.

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polyp mit unzähligen Fangarmen, Rechtssätze genannt, von denen jeder etwas will, bezweckt, erstrebt.“193 Auf Grundlage der Zweck- und Interessenanalyse Iherings sowie der rechtssoziologischen Werke Eugen Ehrlichs194 entwickeln Max von Rümelin (1861–1931), Ernst Stampe (1856–1941) und vor allem Philipp Heck (1858–1943) die Interessenjurisprudenz.195 In dieser wird das Recht – wie es der Amerikaner Roscoe Pound (1870–1964) ausdrückt – als Mittel des „Social Engineering“ betrachtet. Das Gesetz sei am besten zu verstehen als „Resultante“ oder als „Kraftdiagonale“ verschiedener gegensätzlicher Faktoren, als Lösung eines Interessenkonfliktes. Darauf liegt das Hauptaugenmerk der Interessenjurisprudenz, wie ihr führender Vertreter, Philipp Heck, selbst feststellt: „Die unterscheidende Eigenart dieser Richtung besteht darin, dass sie den Interessenbegriff und die mit ihm zusammenhängenden Vorstellungsreihen: Interessenabwägung, Interessenlage, Interessengehalt u. a. als methodische Hilfsbegriffe verwendet.“196

Den Grundbegriff dieser Theorie bildet also das „Interesse“ oder auch die „Begehrungsdisposition“, wobei das Interesse nicht nur materieller, sondern auch idealer, religiöser, nationaler oder ethischer Natur sein kann. „Die sachliche Besonderheit der Interessenjurisprudenz besteht in dem grundsätzlichen Bestreben, die Gebotsvorstellungen, die das Recht bilden, auf das Ineinandergreifen dieser Begehrungsdispositionen zurückzuführen und die Lücken unter Berücksichtigung aller berührten Begehrungsdispositionen auszufüllen. Dieses sachliche Bestreben rechtfertigt sich dadurch, dass die Rechtsbildung empirisch durch Begehrungsdispositionen bestimmt wird und die Rechtsprechung danach strebt, den im Leben auftretenden Begehrungen zu genügen.“197

Danach könne der Richter den Inhalt einer Rechtsnorm erst begreifen, wenn er das bei der Gesetzgebung herrschende Interesse und das Gegeninteresse berücksichtige.198 Für die Frage der Urteilsfindung hat diese Theorie die Konsequenz, dass jede Fallentscheidung als „eine Abgrenzung gegenüberstehender Interessen aufzufassen 193 194 195 196 197

Ihering 1877, 433. Ehrlich 1989. Wichtige (frühe) Schriften dieser Richtung in: Ellscheid/Hassemer 1974. Heck 1968a, 32f. Ebd., 33. Heck wählt das Wort Interesse, weil ihm andere Ausdrücke wie Bedürfnis, Bestrebung, Wert etc. zu sehr das aktuelle Element betonen und sich Zweck nur auf die eine, tatsächlich umgesetzte Begehrungsdisposition bezieht, nicht aber auf die anderen, ebenfalls einwirkenden. 198 Vgl. Heck 1968a und Heck 1968b.

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und durch eine Abwägung dieser Interessen nach Werturteilen und Wertideen zu gewinnen“199 ist. Die Besonderheit gegenüber allen anderen Formen der Rechtsfindung200 sieht Heck darin, dass es weder auf die Werturteile des Richters ankomme noch auf diejenigen, die sich aus dem Gesetz ergeben oder in der Rechtsgemeinschaft vorherrschen. Die Interessenjurisprudenz gehe tiefer. „Sie sucht die einzelnen Elemente herauszuheben, deren Zusammenwirken die Zweckvorstellung des Gesetzgebers und die Wahl seiner Mittel, die Gebotsvorstellungen bewirkt haben.“201 Der Blick richtet sich also auf das Erlassen eines Gesetzes, das von einem Richter auszulegen oder im Analogieschluss auf eine Rechtslücke zu übertragen ist,202 wobei jedoch hinter der Absicht des Gesetzgebers – dem Zweck des Gesetzes – die bei der Gesetzgebung wirksamen Interessen zu untersuchen sind. Dementsprechend ist es einsichtig, dass „die den Lebensinteressen am besten entsprechende Form der Gesetzesauslegung sich als eine historische Interessenforschung darstellt. Diese Auslegung ist eine historische. Wir müssen an der historischen Auslegung festhalten. Aber diese historische Auslegung soll keine rein subjektive sein. Sie ermittelt die menschlichen Vorstellungen, die bei dem Vorgang der Gesetzgebung hervorgetreten sind.“203

Hinter dieser erweiterten Form der seit Savigny betriebenen Suche nach dem Willen des Gesetzgebers steckt der Gedanke, dass der Willensbegriff kein psychologischer ist, sondern ein normativer, eben ein Interessenbegriff. „Der ‚Gesetzgeber‘ ist kein Phantom, sondern die zusammenfassende Bezeichnung für die kausalen Interessen.“ 204 Einen wie auch immer gearteten objektiven Sinn des Gesetzes gibt es demnach nicht. Angestrebt wird damit eine Rechtsfindung, die sich besser als bisher den tatsächlichen Lebensverhältnissen anpasst. Heck selbst sieht ihre praktischen Vorteile darin, dass sie die ursprünglichen Interessen und Absichten des Gesetzgebers gleichermaßen gegen „sprachliche Fehlgriffe“ (eben des Gesetzgebers, also gegen schlechte Gesetze) wie gegen subjektive Wertungen des Richters schützt.205 Es handelt sich bei diesem Modell aber dennoch um eine subjektive Auslegung, auch wenn durch die Möglichkeit der Anpassung an die aktuelle Situation und durch 199 Heck 1968a, 35. 200 Laienurteil, Gesetzesanwendung (Subsumtion), abhängige Gebotsergänzung (worunter Heck die traditionelle Form der Analogie versteht), die Vorstellungen der Freirechtsschule. 201 Ebd., 37. 202 Gedacht ist diese Theorie vor allem für das Privatrecht. 203 Heck 1968b, 48f. Vgl. auch ebd., 57, sowie ausführlicher ebd., 72–76. 204 Ebd., 49. 205 Vgl. ebd.

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das Transzendieren des bloßen Willens des Gesetzgebers durchaus Elemente der objektiven Auslegung mit einfließen. Denn der „Richter ist nicht bloß ein Subsumtionsapparat, ein Automat, in den Tatbestand und Rechtsnorm aufgenommen werden und aus dem dann ohne jede Eigenwertung des Richters das Urteil herausspringt“ 206. Der Richter ist also auch nach Philipp Heck Schöpfer anzuwendender Normen.207 Der Interessenjurisprudenz war in der deutschen Rechtspraxis ein ungewöhnlicher Erfolg beschieden. Mit der Zeit revolutionierte sie die Rechtsanwendung, indem sie mehr und mehr die Methode einer lediglich formallogisch begründeten Subsumtion unter die starren Gesetzesbegriffe durch die abwägende Beurteilung eines komplexen Sachverhalts und eine Bewertung der dabei in Betracht kommenden Interessen nach den der Rechtsordnung eigenen Bewertungsmaßstäben ersetzte.208

1.6 Reine Rechtslehre Der letzte wichtige und auf seine Weise in der Radikalität der Freirechtsschule durchaus ebenbürtige Konkurrent im Methodenstreit ist die „Reine Rechtslehre“ oder auch „Wiener Schule“ der Rechtstheorie. Die Reine Rechtslehre Hans Kelsens (1881–1973) von 1934, 1960 in zweiter Auflage neu bearbeitet, stellt einen Gipfelpunkt des Rechtspositivismus dar. Kelsen entwirft eine „reine“, „von aller politischen Ideologie und allen naturwissenschaftlichen Elementen gereinigte, ihrer Eigenart[,] weil der Eigengesetzlichkeit ihres Gegenstandes bewusste Rechtstheorie“209. Sie lässt sich am deutlichsten dadurch charakterisieren, was sie nicht sein will, nämlich keine Lehre von in irgendeinem inhaltlichen Sinne „guten“ Recht, sondern „rein“ als von fachfremden Einflüssen gesäuberte, nur ihren eigenen Regeln folgende und damit endlich perfek206 Ebd., 55. 207 Vgl. ebd., 49. 208 Vgl. auch die Einschätzung von Karl Larenz: „Dadurch, dass sie den Richter anwies, die im Gesetz enthaltenen Werturteile im Hinblick auf den zu beurteilenden Fall denkend nachzuvollziehen, hat die Interessenjurisprudenz auf eine im formalen Denken und im strengen Gesetzespositivismus erzogene Juristengeneration – ohne doch die Schranken des Positivismus wirklich zu durchbrechen – befreiend und befruchtend gewirkt. Dies umso mehr, als sie das gleiche Verfahren auch für die Ausfüllung von Gesetzeslücken empfiehlt und damit dem Richter die Möglichkeit eröffnet, das Recht ‚gesetzestreu‘ und dennoch den Lebensbedürfnissen gemäß fortzubilden.“ (Larenz 1991, 53 [dort teilw. hervorgehoben].) 209 Kelsen 1983, III. Die Darstellung berücksichtigt nur die für die Auslegungsproblematik relevanten Aspekte, die in Kelsens Theorie selbst keine zentrale Rolle spielen. Zu Kelsen vgl. Reine Rechtslehre 1982, Carrino/Winkler 1995 und Dreier 2007. Zur Wirkung der Reinen Rechtslehre in den wichtigsten Rechtssystemen vgl. Einfluss 1978–1983. Zur Auseinandersetzungen Kelsens mit anderen Theoretikern vgl. Paulson 1992. Als moderne Weiterentwicklung der Reinen Rechtslehre könnte der „Institutionelle Rechtspositivismus“ Ota Weinbergers angesehen werden (vgl. Koller 1994).

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tionierte Wissenschaft vom geltenden Recht. Dessen historische Herkunft und politische Ausrichtung wird zwar keineswegs ignoriert und muss dem Juristen durchaus vertraut sein, darf aber für seine wissenschaftliche Untersuchung keinerlei Rolle spielen. „Daher kann jeder beliebige Inhalt Recht sein.“210 Auf der anderen Seite ist auch die Rechtsanwendung zwar von dieser Rechtslehre beeinflusst, aber im Gegensatz zu dieser keine reine Wissenschaft. Denn der Reinen Rechtslehre geht es ausschließlich um die minutiöse fachgerechte Deskription und Analyse der geltenden Rechtsordnung, nicht um deren Begründung oder Anwendung. Wie Max Webers Wissenschaft soll sie von Werturteilen des Wissenschaftlers frei bleiben, insbesondere von seinen politischen Vorlieben und Zielvorstellungen. Sie ist eine Wissenschaft vom Sollen, nicht vom Sein, allerdings nicht vom moralischen, sondern ausschließlich vom rechtlichen Sollen – gewissermaßen eine Art autonome Rechtstechnologie. Der faktisch wirkungsvolle historische und gesellschaftliche Kontext des Rechts wird zwar nicht bestritten, ist aber rechtswissenschaftlich irrelevant – dafür gibt es Historiker und Soziologen. Auf der anderen Seite kann das Recht auch innerhalb der Sollenssphäre wissenschaftlich keineswegs von einem übergeordneten Naturrecht oder Sittengesetz abgeleitet werden, denn das wäre eine unwissenschaftliche Fremdbestimmung. Recht ist so wenig ein Produkt des Staates wie der Staat ein Produkt des Rechts. Vielmehr sind Staatsordnung und Rechtsordnung schlicht identisch. Demgemäß gibt es einen Stufenbau der Rechtsordnung von der Verfassung über Gesetze und Verordnungen zu richterlichen Urteilen und administrativen Entscheidungen sowie Verträgen zwischen Privaten.211 Durch Wandel der Rechtsordnung wandelt sich auch die Staatsordnung und umgekehrt (die EU träte z. B. an die Stelle des bisherigen Staates). Doch was bleibt angesichts dieses konsequenten Positivismus und Wertrelativismus als Geltungsgrund des Rechts? Gilt Recht nur deswegen, weil es gilt, und nur so lange, wie es gilt? Kelsen versucht das Geltungsproblem kantianisch durch die regulative Idee einer hypothetisch-fiktiven und vollkommen inhaltsleeren „Grundnorm“ als höchster Stufe der Rechtsordnung, von der alles weitere abhängt, zu lösen.212 Inhaltlich gefüllt wird das Recht nämlich dadurch, dass es von oben nach unten auf jeder Stufe der Rechtsordnung von den Rechtssetzungs- und Anwendungsinstanzen schöpferisch immer detaillierter ausgestaltet wird. Das Normensystem des Rechts befindet sich insofern in einem ständigen Prozess der Selbsterzeugung und gegebenenfalls auch 210 Kelsen 1983, 201. 211 Hier nutzt Kelsen die Vorarbeiten von Merkl 1931. 212 Vgl. Kelsen 1985, 66f.

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Selbstzerstörung. Außer der Grundnorm und der Rechtsdurchsetzung als den Endpunkten sind für Kelsen alle Rechtsstufen (wie Verfassung, Gesetz, Rechtsprechung) zugleich Rechtssetzung und Rechtsanwendung. Insofern handelt es sich dabei nicht mehr um eine rein wissenschaftliche Tätigkeit. Vielmehr kann die Rechtswissenschaft dazu nur eine möglichst umfassende Palette gleichberechtigter Möglichkeiten vorlegen. Der Übergang von einer Rechtsstufe zur nächstniedrigeren – also etwa im Falle der Urteilsfindung – ist deshalb durch eine „relative Unbestimmtheit“ gekennzeichnet, sei sie unbeabsichtigt oder – wie im Fall von Generalklauseln – beabsichtigt. Das Ergebnis der wissenschaftlichen Interpretation einer Norm könne also „nur die Feststellung des Rahmens sein, den die zu interpretierende Norm darstellt, und damit die Erkenntnis mehrerer Möglichkeiten, die innerhalb dieses Rahmens gegeben sind“213. Der nächste Schritt bei der Auslegung, die Auswahl einer Interpretation unter den angebotenen Möglichkeiten, ist für Kelsen nicht mehr durch einen Schluss innerhalb des gegebenen positiven Rechts möglich. Hier lasse der Richter zusätzliche äußere Faktoren in seine Entscheidung einfließen: „Normen der Moral, der Gerechtigkeit, soziale Werturteile, die man mit den Schlagworten Volkswohl, Staatsinteresse, Fortschritt usw. zu bezeichnen pflegt.“214 Diese Entscheidungen seien rechtstheoretisch nicht zu begründen, sie stellten kein rechtswissenschaftliches, sondern ein rechtspolitisches Problem dar. Für Kelsen also ist die übliche Auslegungspraxis der Gerichte zu einem Gutteil rechtswissenschaftlich unbegründet und unbegründbar. „Die übliche Theorie der Interpretation will glauben machen, dass das Gesetz, auf den konkreten Fall angewendet, stets nur eine richtige Entscheidung liefern könne und dass die positivrechtliche ‚Richtigkeit‘ dieser Entscheidung im Gesetz selbst begründet ist. Sie stellt den Vorgang dieser Interpretation so dar, als ob es sich dabei um einen intellektuellen Akt des Klärens oder Verstehens handelte, als ob der Interpret nur seinen Verstand, nicht aber seinen Willen in Bewegung zu setzen hätte und als ob durch eine reine Verstandestätigkeit unter den vorhandenen Möglichkeiten eine dem positiven Recht entsprechende, im Sinne des positiven Rechts richtige Auswahl getroffen werden könnte. Allein, von einem auf das positive Recht gerichteten Standpunkt aus gibt es kein Kriterium, auf Grund dessen die eine der im Rahmen der anzuwendenden Norm gegebenen Möglichkeiten der anderen vorgezogen werden könnte. [...] Alle bisher entwickelten Interpretationsmethoden führen stets nur zu einem möglichen, niemals zu einem einzig richtigen Resultat.“215 213 Ebd., 94. 214 Ebd., 99. 215 Ebd., 95f. (Hervorhebung ebd.)

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Kelsen weist also nachdrücklich darauf hin, dass die Frage nach dem Recht niemals eindeutig und im gegebenen Gesetzesrahmen, sondern immer nur unter Rückgriff auf politische, ideologische und andere Gründe beantwortet werden kann – und zwar sowohl auf der Ebene der Rechtsfindung innerhalb eines positiv gegebenen Rechtssystems wie auf derjenigen der Konstituierung eines solchen Rechtssystems. Ein Rückgriff auf die „höheren“ Bewertungsgrundlagen des Naturrechts oder der Gerechtigkeit ist für Kelsen ausgeschlossen. Seine Radikalität ist mit der eines Kantorowicz vergleichbar; in der Frage der Auslegung steht er den Freirechtlern durchaus nahe.216

1.7 Zwischenergebnis Man kann die Entwicklung der Rechtstheorie so lesen, dass sie eine immer weitere und freiere Auslegung der Gesetze ermöglichte.217 Ausgehend von den großen naturrechtlichen Kodifikationen, die ein striktes Auslegungsverbot beinhalteten,218 erarbeitete die Theorie für sich wie für die praktische Auslegung einen immer größeren Spielraum. „Seitdem die ersten vernunftrechtlichen Kodifikationen die strenge Gesetzesbindung des Richters einführten, ist die Geschichte der Rechtsfindungsmethode durch ständi-

216 Klaus Adomeit nennt Kelsens Position in seiner Rechtstheorie für Studenten einen „methodologischen Nihilismus“ und seine Abhandlung Was ist Gerechtigkeit? (= Kelsen 1975) den „wohl destruktivste[n] Aufsatz in aller Rechtstheorie“ (Adomeit 1981, 77, 180). Für Hans Hattenhauer ist Kelsens Reine Rechtslehre „ein letzter Schritt auf dem jahrhundertealten Wege der Säkularisierung des Rechts“ (Hattenhauer 1999, 706), denn bei ihm wurde „[d]er Pluralismus der Ideologien, von den meisten als Notstand empfunden, zum Anlass der Befreiung“ (ebd.), die er in Form einer Reinigung des Rechts von allen metaphysischen und ideologischen Beimengungen betrieb. Kelsens Rechtstheorie ist von vielen Seiten kritisiert und als „Rechtsleere“ (so der Titel von Klenner 1972) verhöhnt worden. Diese Vorwürfe richten sich vor allem gegen innere Widersprüche der problematischen Konstruktion der „hypothetischen Grundnorm“ sowie den rigoros rechtspositivistischen Charakter unter Ausblendung aller moralischen Aspekte des Rechts. Dabei wird aber ebenso wie beim Vorwurf eines methodischen Nihilismus übersehen, dass Kelsen hier eine kritische Analyse der Rechtsordnung vornimmt, gewissermaßen das Sagbare vom Unsagbaren zu trennen versucht und keineswegs ein von jeglicher Moral entbundenes Rechtssystem fordert. 217 Vgl. Kriele 1965. 218 Selbst der aufgeklärte Paul Johann Anselm von Feuerbach (1775–1833) hat für das wesentlich von ihm stammende Bayerische Strafgesetzbuch von 1813 – das erste moderne Strafgesetzbuch überhaupt – strafrechtliche Auslegungsverbote gefordert, und zwar aus rechtsstaatlichen Gründen, im Hinblick auf die Gewaltenteilung (vgl. Feuerbach 1804, 20). Vgl. auch Montesquieu 1950, 217, wo es von den englischen Richtern nicht ganz zutreffend heißt: „Les juges […] ne sont […] que la bouche qui prononce les paroles de la loi; des êtres inanimés qui n’ en peuvent modérer ni la force, ni la rigeur“ – die klassische Darstellung des Richters als Subsumtionsautomat!

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ge Lockerung dieser Bindung gekennzeichnet.“219 So erlaubten schon die etwas später erlassenen Kodifikationen wie das österreichische Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch die Analogie und im Notfall den Rückgang auf die „natürlichen Rechtsgrundsätze“, während die „Interpretation“ des Wortlauts oder die Berücksichtigung des Gewohnheitsrechts allerdings weiterhin nicht infrage kamen. Durch die Historische Rechtstheorie Savignys mit seinen Kanones der historischen und systematischen Auslegung wurde es möglich, über die bloße Wortbedeutung hinauszublicken, sofern es der Rekonstruktion des gesetzgeberischen Willens diente. Die Begriffsjurisprudenz stärkte die Position der Rechtswissenschaft gegenüber dem Gesetzeswillen und ermöglichte dem Richter dadurch eine freiere Gesetzesauslegung. Die Interessenjurisprudenz räumte dem Juristen darüber hinaus das Recht zu einer korrigierenden Interpretation und sogar zur schöpferischen Gesetzesergänzung ein. Dass die Freirechtsschule bei der Gewährung von Auslegungsfreiräumen eine besondere Rolle spielte, scheint selbstverständlich, doch die „bedeutsamste Wende“220 brachte für Martin Kriele in diesem Zusammenhang die objektive Auslegungstheorie mit sich, wo der Wille des Gesetzgebers eindeutig hinter den Willen des Gesetzes zurücktreten muss. Weil das Gesetz gegenwartsbezogen auszulegen ist, erhält der Richter einen weiten Spielraum. Zudem führte das Nebeneinander von objektiver und subjektiver Auslegung genau wie das Nebeneinander der verschiedenen Auslegungskanones zu einer Wahlfreiheit des Richters und damit zu einer zusätzlichen Erweiterung seiner Ermessensfreiheit.

2. Rechtstheorie im Nationalsozialismus Nachdem Rechtstheorie und Rechtspraxis bereits in der Weimarer Republik in politische Lagerbildung verstrickt waren, wurden sie von den Nationalsozialisten total instrumentalisiert. Sie sahen Gesetzgebung und Rechtsprechung vor allem als Mittel im politischen Kampf an. Die im Nachhinein als Unrechtssystem qualifizierte Herrschaft des Nationalsozialismus zwischen 1933 und 1945 beruhte zwar teilweise auf neu erlassenen Gesetzen, zu einem großen Teil aber auch auf solchen, die aus früheren, rechtsstaatlichen Zeiten stammten. Um auch sie nutzen zu können, machten sich die Nationalsozialisten die Rechtsprechung zunutze und ließen diese alten Gesetze in ihrem Sinne auslegen, was angesichts der ideologischen Vorbelastung der großenteils republikfeindlichen Richterschaft kein größeres Problem darstellte.221 Peter 219 Kriele 1965, 108. 220 Ebd., 109. 221 Vgl. Reifner 1981; Rüthers 1991.

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Raisch beantwortet die Frage, ob die aus heutiger Sicht ungerechten NS-Urteile durch methodengerechte Anwendung der tradierten Auslegungskanones vermieden worden wären, mit einem eindeutigen „Nein!“222. Auf dem Feld der Theorie wurde vom Nationalsozialismus eine nicht nur modifizierte oder korrigierte Rechtsfindung gefordert und angestrebt, sondern eine radikal neue. Zwar buhlten Vertreter vieler Richtungen um die Anerkennung durch das neue System, indem sie ihre Methode als adäquat darzustellen versuchten,223 aber Interessenjurisprudenz oder Freirechtslehre erschienen nationalsozialistischen Rechtsvordenkern wenig geeignet. Ein ganz neuer Typ Jurist sei notwendig, hieß es.224 Die Methodenfrage sei neu aufzuwerfen, da nicht einzelne Rechtssätze und -institutionen überdacht werden müssten, sondern Sinn und Funktion des Rechts überhaupt.225 Die Konsequenz war für Carl Schmitt (1888–1985), der in den ersten Jahren einer der profiliertesten Rechtstheoretiker des Nationalsozialismus war, die Forderung nach einer permanenten Revolutionierung des Rechts einerseits,226 nach einem „konkreten Ordnungsdenken“ anderseits.227 Gegen die Rechtswissenschaft als Regel- und Gesetzesdenken oder als Entscheidungsdenken postuliert er das konkrete Ordnungs- und Gestaltungsdenken,228 eine „Theorie des konkret-allgemeinen Begriffs“229. Solch ein Denken habe im germanischen Recht des Mittelalters geherrscht, sei jedoch bei der Rezeption des römischen Rechts durch einen abstrakten Normativismus verdrängt worden. „Die im nationalsozialistischen Rechtsdenken verbreitete Kritik am normativistischen Verfahren, die Rechtsregel gegenüber dem Einzelfall und der konkreten Situation zu verabsolutieren und eine ‚Gespensterwelt von (abstrakten) Allgemeinbegriffen über der konkreten Wirklichkeit aufzurichten‘, weist auf eine grundsätzliche Umstellung juris-

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Raisch 1995, 123. So etwa Heck 1936. Vgl. Schmitt 1934, 228. So Karl Larenz (in Larenz 1938), den Ingeborg Maus mit dem in diesem Zusammenhang bitteren Lob bedenkt, er sei „stets [der] führende Vertreter juristischer Methodenlehre“ gewesen (Maus 1983, 180). Vgl. dazu Maus 1976. Auch Schmitt verwarf die klassische Auslegung: „Wortlaut und Wortsinn, Entstehungsgeschichte, Rechtsgefühl und Verkehrsbedürfnisse wirken bei der Feststellung des ‚zweifellosen‘ Inhalts des Gesetzestextes, Fragen der Beweiswürdigung und der Qualifikation der ‚Tatsachen‘ bei der ‚rein juristischen‘ Feststellung des Tatbestandes in der verschiedenartigsten Weise durcheinander.“ (Schmitt 1934a, 34.) Vgl. ebd., 11–24. Maus 1983, 183.

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tischer Methodik hin. Indem sie die Rechtsbegriffe situativ dynamisiert, passt sie sich einem Staatshandeln an, das sich zum Zweck individueller Interventionen von allgemeinen gesetzlichen Regelungen emanzipiert […].“230

Allerdings war diese versuchte Neuorientierung der Rechtstheorie weniger wichtig als der Einsatz der traditionellen Auslegungsmethoden im Sinne der Machthaber oder die geschickte Nutzung von Widersprüchen im Durcheinander der Rechtstheorien. So ist beispielsweise die Möglichkeit, zwischen subjektiver und objektiver Auslegung wählen zu können, äußerst hilfreich. Die alten, demokratisch erlassenen Gesetze werden im Hinblick auf die veränderten Rahmenbedingungen objektiv ausgelegt und damit den Verhältnissen angepasst, die neuen nationalsozialistischen Gesetze hingegen subjektiv, um den rücksichtslosen Willen des Gesetzgebers ungeschmälert zur Geltung zu bringen.

3. Rechtstheorie in der Gegenwart Die Erfahrungen mit einer willfährigen Justiz führten nach dem Ende des Nationalsozialismus zu kritischer Selbstbesinnung. Vor allem der Rechtspositivismus mit seiner strikten Trennung von geltender Rechtsnorm einerseits und Gerechtigkeit oder Moral andererseits – wodurch jeder beliebige Inhalt Recht sein konnte –231 geriet in die Kritik. „Der Positivismus hat in der Tat mit seiner Überzeugung ‚Gesetz ist Gesetz‘ den deutschen Juristenstand wehrlos gemacht gegen Gesetze willkürlichen und verbrecherischen Inhalts“, schrieb Gustav Radbruch (1878–1949) 1946 in einem viel beachteten Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht.232 Gegen den Rechtspositivismus brachte er erneut das Natur- oder Vernunftrecht in Stellung und fachte so die alte Debatte wieder an. Dadurch wurde die seit Jahrhunderten stetig fortschreitende Bewegung vom Naturrecht zum Rechtspositivismus abgebremst – eine aus moralischer Sicht aufgrund der jüngsten Erfahrungen naheliegende, aber aus erkenntnistheoretischer Sicht problematische Reaktion. Konkrete Auswirkung dieser Neubewertung des ehedem positiven Rechts aufgrund übergesetzlicher Maßstäbe war die Annullierung bzw. Revision von Urteilen aus der nationalsozialistischen Zeit. Zu einem Urteil aus dem Jahr 1941 stellte das Bundesverfassungsgericht 27 Jahre später fest:

230 Ebd. 231 Vgl. Kelsen 1985, 201. 232 Radbruch 1977, 43.

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„In der Elften Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 hat der Widerspruch zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass sie von Anfang an als nichtig erachtet werden muss.“233

Angestoßen durch die juristische Auseinandersetzung mit DDR-Unrecht nach 1989 wurden allerdings heftige Zweifel an der inzwischen so genannten „Radbruch-Formel“ angemeldet: „Der Rechtspositivismus war weder in den Weimarer Jahren noch im Nationalsozialismus die in Theorie und Praxis unangefochten herrschende Strömung, sondern eine aus dem 19. Jahrhundert überkommene Doktrin, deren Bedeutungskraft schon in den zwanziger Jahren beständig nachließ. Rechtsdenken wie praktische Rechtsanwendung waren vollends im Nationalsozialismus vom Formalitäts- und Rationalitätsideal des Positivismus weit entfernt.“234

Gerade Kelsen hatte alles andere als blinden Gesetzesgehorsam gepredigt, sondern den Sinn seiner Reinen Rechtslehre vielmehr darin gesehen, dass uns kein Recht und kein Gott die ganz persönliche Gewissensentscheidung darüber abnehmen könne, was gerecht sei und wie wir demgemäß handeln müssten.235 Dass sich nichtsdestoweniger unterhalb der lichten Höhen der Theoriediskussion die dumpfe Herrschaftspraxis des „Dritten Reiches“ wie der DDR eines positivistischen Vulgärlegalismus bediente, wird sich trotz allem nicht bestreiten lassen.236 Eine ähnliche Entwicklung wie bei der Frage nach Naturrecht oder Rechtspositivismus ist auch bei der rechtstheoretischen Debatte um die korrekte Auslegung zu beobachten. Zwar ändert sich für die Auslegung äußerlich wenig – trotz der Erfahrung, dass traditionell geschulte Juristen mithilfe der traditionellen Auslegungskanones aufgrund von demokratisch erlassenen und „gerechten“ Gesetzen „ungerechte“ Urteile gefällt haben, womit sich die Auslegung im klassischen Sinn als ziemlich beliebig und ganz den politischen Positionen der Zeit und der urteilenden Richter unterworfen erwiesen hat. In der Praxis werden nach dem Ende des Nationalsozialismus die traditi233 BVerfG 1968, 98f. Das ist insofern (Selbst-)Betrug, als dieses Urteil ja nicht von Anfang an, sondern erst nach dem Untergang des Nationalsozialismus für Juristen als ungerecht gelten konnte. Das Dilemma liegt ja eben darin, dass es offensichtlich keinen juristischen Maßstab gibt für ein nicht bloß handwerklich korrektes, sondern auch „richtiges“ und gerechtes Urteil. Diese Erfahrungen sind nicht auf den Nationalsozialismus beschränkt, sondern lassen sich auch in anderen totalitären Staaten finden, vor allem in der Rechtsprechung der UdSSR in der Stalin-Ära. 234 Dreier 1991, 127. 235 Vgl. Dreier 2007, 114. 236 Vgl. Reinhard 2002, 476–479.

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onellen Methoden beibehalten, freilich angewendet nach einer anderen herrschenden moralischen Überzeugung. In der Theorie versucht man dennoch weiter zu kommen. Denn obwohl der alte Glaube an die Neutralität der Auslegung verflogen ist, wird nicht akzeptiert, dass die Auslegungsregeln beliebig einsetzbare Instrumente sein sollen. Als Mittelweg entwickelt man nun neue Theorien: Hermeneutik, Topik, Diskurstheorie, postmoderne Theorien usw. Innerhalb der theoretischen Rechtswissenschaft bestehen diese Systeme nebeneinander, doch wenn man ihren Einfluss auf die Praxis, auf das Fundament der praktischen Jurisprudenz betrachtet, lässt sich die Fortentwicklung eines älteren Ansatzes als die wichtigste Strömung und in gewisser Weise als die Grundlage für die meisten der anderen Richtungen erkennen: die Wertungsjurisprudenz, die im Grunde nur eine modernisierte Variante der im 19. Jahrhundert wurzelnden Interessenjurisprudenz darstellt.237

3.1 Wertungsjurisprudenz Nach dieser Ansicht dienen die Gesetze (besonders im Privatrecht) zur Regelung von möglichen und typischen Interessenkonflikten zwischen Einzelnen oder gesellschaftlichen Gruppen, wobei bis zu einem gewissen Grad die einen Interessen den anderen vorgezogen werden.238 Diese Anordnung ist das Resultat einer Bewertung durch den Gesetzgeber, die sich aus verschiedenen Quellen speist. Neben den verschiedenen Einzel- oder Gruppeninteressen spielen dabei auch allgemeine Ordnungsgesichtspunkte, Erfordernisse des Verkehrs und das Bedürfnis nach Rechtssicherheit eine Rolle. Die Vertreter der Wertungsjurisprudenz nehmen als Tatsache, „dass der Richter die Entscheidung in vielen Fällen nicht allein dem Gesetz, auch nicht den aus ihm zu erkennenden Wertungen des Gesetzgebers, zu entnehmen vermag“239. Dies sei beispielsweise der Fall bei Generalklauseln oder unbestimmten Begriffen im Gesetzestext, bei Problemen, zu denen der Gesetzgeber noch nicht Stellung genommen hat, wenn die Grundlage für ein Gesetz weggefallen ist oder wenn Normen oder Regelungen kollidieren. Hier – und darin liegt die Neuerung gegenüber der traditionellen Interessenjurisprudenz, gewissermaßen der freirechtliche Einschlag – sei der Richter auf sein „persönliches Wertempfinden“ angewiesen; die Urteilsfindung sei also ein 237 „Tatsächlich hat sich die Juristische Methodenlehre der Interessen- und Wertungsjurisprudenz in der Praktischen Rechtswissenschaft wie in der Rechtspraxis inzwischen längst durchgesetzt […].“ (Krawietz 1979, 125.) 238 Vgl. Larenz 1991, 119ff. 239 Ebd., 120.

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„Akt persönlicher Stellungnahme“.240 „Man verschließt sich der Tatsache nicht mehr, dass außer dem Gesetz andere Rechtsquellen bestimmend sind und dass die aus ihnen gewonnenen Ergebnisse nur noch durch allerlei Konstruktionsbrücken vage mit dem Gesetz in Beziehung gebracht werden.“241 Danach hat es den Anschein, als stünde die Rechtswissenschaft traditioneller Auffassung mit ihrer Aufgabe, Hilfestellung bei der rationalen und begründeten Auslegung zu leisten und zu „richtigen“ Entscheidungen hinzuleiten, vor einem „Scherbenhaufen“242. Man müsste dann zu dem Ergebnis kommen, der Richter bestimme von Fall zu Fall den Inhalt des Gesetzes, denn die in unserer Rechtstradition verankerte Bindung des Richters an das Gesetz ließe sich gar nicht realisieren und die vermeintliche Herrschaft des Gesetzes wäre Illusion. Die methodologische Diskussion erhielte damit verfassungsrechtliche Brisanz.243 Allerdings, so radikal ist die Wertungsjurisprudenz dann doch nicht. Um einen „Scherbenhaufen“ würde es sich nämlich nur unter der Voraussetzung handeln, dass die unumgängliche Wertung in keiner Weise rational begründbar und überprüfbar wäre,244 was aber nicht Ansicht der Wertungsjurisprudenz ist. Diese zielt vielmehr darauf ab, die Unschärfe der eigentlichen Auslegung und den Rückgriff auf außergesetzliche Bewertungen als unvermeidbar hinzunehmen und letztendlich, also nach einer vorhergehenden handwerklichen Beurteilung, die Frage nach der Haltbarkeit/ Korrektheit eines Urteils auf die Frage nach der Haltbarkeit/Korrektheit der außergesetzlichen Bewertung zu verlagern. Dabei gehen die meisten Autoren von einem Reigen bestimmter „übergesetzlicher“ oder „vorpositiver“ Werte aus, die den Gesetzen zugrunde lägen und deshalb zu deren Auslegung bzw. Ergänzung herangezogen werden müssten: so etwa die im Grundgesetz, besonders in den Artikeln 1–3 positivierten Werte, eine lange rechtsphilosophische Tradition, sprachliche Argumente oder das Selbstverständnis der meisten Richter, dass es ihres Amtes sei, eine „gerechte“ Entscheidung zu finden. „Fast alle an der neueren Methodendiskussion beteiligten Autoren sind der Auffassung, dass ‚Recht‘ etwas mit ‚Gerechtigkeit‘ […] zu tun habe.“245

240 Ebd. 241 Kriele 1965, 99. Hier liegt auch die entscheidende Wendung für die meisten modernen Theorien: Die Auslegung ist nicht objektiv und keine bloße Subsumtion, sondern es fließen auch außergesetzliche Momente mit ein – mit diesen gilt es sich folglich zu beschäftigen. 242 Larenz 1991, 121. 243 Vgl. ebd. 244 Vgl. ebd. 245 Ebd., 122.

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Auch wenn viele Richter vermutlich zwecks Urteilsfindung nach wie vor zunächst die klassischen Kanones abarbeiten dürften, so läuft doch die theoretische Deutung ihres Tuns darauf hinaus, „dass sich der Richter dann, wenn die in Betracht kommende Gesetzesregel auslegungsbedürftig ist, zunächst auf einem anderen Wege als dem der ‚schulgerechten‘ Anwendung des Gesetzes eine Überzeugung davon bildet, welche Entscheidung hier ‚gerecht‘ sei, um erst danach, zum Zwecke der Kontrolle, zu versuchen, das schon gefundene Ergebnis aus dem Gesetz zu begründen. Hierbei bestimme das vorweg gefundene Ergebnis die Methodenwahl und die geforderten Einzelwertungen.“246

Das Problem der richtigen Auslegung stellt sich auf theoretischer Ebene also kaum noch, höchstens insofern, als der Richter die weitreichenden „papierenen Zäune“ nicht umreißen sollte. Stattdessen wird das Problem auf die Ebene des richterlichen Rechtsgefühls oder der Frage, was gerecht ist, verlegt. „Es wäre ein Fehlschluss, wenn man schon daraus, dass die Jurisprudenz nicht ohne Wertungen auskommt, folgern würde, dass im Umfang der Erforderlichkeit solcher Wertungen der Raum für die subjektiven moralischen Überzeugungen des oder der Rechtsanwender frei ist. Ein solcher Schluss wäre nur dann zwingend, wenn es überhaupt keine Möglichkeit zur Objektivierung dieser Wertungen gäbe.“247

Das bringt natürlich wissenschaftstheoretische Probleme mit sich: Welche Möglichkeiten zur Objektivierung jener Wertungen bestehen überhaupt? Wie lässt sich das Rechtsgefühl und damit das Urteil begründen? Denn begründet werden muss es, zum einen wegen der gesetzlichen Bestimmungen, zum anderen, um den Eindruck der Voreingenommenheit oder Willkür zu vermeiden. Vielerlei Möglichkeiten zur Begründung der richterlichen Bewertung werden genannt. Robert Alexy (*1945) unterscheidet drei übliche Wege:248 1. Der Entscheidende hält sich an die „Wertungen der Allgemeinheit oder bestimmter Kreise“ (Karl Engisch); denn immerhin entscheide der Richter ja auch „im Namen des Volkes“. 2. Der Entscheidende rekurriert auf den „innere[n] Wertungszusammenhang“ (Franz Wieacker) oder das „Sinnganze“ (Karl Larenz) der Rechtsordnung. 3. „Eine dritte Möglichkeit bestünde darin, sich auf eine, sei es unabhängig vom Gesetz überhaupt existierende, sei es im Grundgesetz oder in der gesamten Rechtsordnung zum Aus246 Ebd., 122f. Das erinnert stark an eine verschleierte Freirechtsposition. 247 Alexy 1978, 26f. Vgl. Alexy 1995. 248 Vgl. Alexy 1978, 27–30.

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druck kommende objektive Wertordnung oder auf objektiv erkennbare Naturrechtssätze zu berufen, wie es das Bundesverfassungsgericht und der Bundesgerichtshof getan haben.“249 Wenn – wie bei Reinhold Zippelius (*1928) –250 das in der Gemeinschaft herrschende Rechtsethos und die herrschenden Gerechtigkeitsvorstellungen angeführt werden, dann soll das herrschende Rechtsethos nicht bloß die Summe von Bewusstseinsvorgängen sein, sondern der Inhalt des Bewusstseins vieler Menschen, das heißt also objektiver Geist. Als Erkenntnisquellen kommen dafür Grundrechtsartikel, Rechtsnormen, Grundsätze der Rechtsprechung, Verkehrssitten oder hergebrachte Gepflogenheiten infrage, wobei es immer auf einen breitestmöglichen Konsens ankommt. Dennoch bleibt dem Richter in vielen Fällen letztendlich nichts anderes übrig, als nach „seiner persönlichen Gerechtigkeitsvorstellung“251 zu urteilen. Heinrich Hubmann (1915–1989) ist dagegen der Auffassung, dass Werte objektiv im Sinn von allgemeingültig seien, wenn sie nicht nur für Einzelne wertvoll erscheinen, sondern wenn sie allen, also dem Menschen seinem Wesen nach, Befriedigung und Erfüllung bringen können.252 Von überzeitlichen Wertinhalten, die sich in Rechtsgrundsätzen manifestieren, und demgemäß von einem Naturrecht als einer Summe von Sätzen der Gerechtigkeit spricht Helmut Coing (1912–2000),253 während Martin Kriele (*1931) sozialethische Erwägungen als entscheidenden Orientierungsmaßstab für die Rechtsprechung annimmt.254 Wie man die Bewertungsmaßstäbe gewinnt, die zur Geltung gebracht werden, wenn solche Maßstäbe dem gesetzten Recht nicht mit hinreichender Deutlichkeit entnommen werden können, das ist offensichtlich das Grundproblem der Wertungsjurisprudenz.255 Die Erkenntnis der Wertungsjurisprudenz, dass Gesetze nicht ohne außergesetzliche Urteilsgründe ausgelegt werden können, lässt jedoch auch andere Konsequenzen zu als solche Versuche, diese außergesetzlichen Entscheidungsgründe wieder auf irgendeine Weise selbst zu legitimieren. Solche Alternativen werden vor allem von Topik und Argumentationstheorie vorgeschlagen.

249 250 251 252 253 254

Ebd., 29. Vgl. Zippelius 1962, 131ff.; Zippelius 1997, 123ff.; Zippelius 1999, 12f., 21. Zippelius 1962, 196. Vgl. Hubmann 1977, 8, 14, 112ff. Vgl. Coing 1993, 214. „Damit ist der letzte Schleier gefallen: Die Rechtsprechung orientiert sich an sozialethischen Erwägungen.“ (Kriele 1965, 112.) Vgl. auch Kriele 1967. 255 Vgl. Bydlinski 1991, 128. Vgl. dazu Hart 1971, nach dem der Urteilende sich durch beliebige Gründe leiten lassen und diese moralisch nennen kann.

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3.2 Topik Theodor Viehweg (1907–1988) zieht aus den Problemen mit den logisch-deduktiven Rechtssystemen samt ihrem Glauben an die „Auslegung“ die Konsequenz, sich früheren Modellen zuzuwenden, und entwickelt in Anlehnung an Aristoteles und die Rhetorik, insbesondere an Cicero, sein viel beachtetes Topik-Modell als ein „Verfahren der Problemerörterung“256. Es zeichnet sich aus durch den Rückgriff auf „vielseitig verwendbare, überall annehmbare Gesichtspunkte, die im Für und Wider des Meinungsmäßigen gebraucht werden und zum Wahren hinführen können“257. Wichtig ist ihm die Betonung des situationsbezogen-pragmatischen Denkens. Die topische Rechtsfindung könne nicht zu einem umfassenden System führen, sondern nur zu einer Pluralität von Systemen, ohne deren Verträglichkeit aus einem umfassenden System zu beweisen.258 Was Viehweg nun genau unter den Topoi versteht, „lässt sich [allerdings] nicht exakt angeben […]. Anscheinend sieht er jeden Gedanken oder Gesichtspunkt, der in rechtlichen Erörterungen überhaupt eine Rolle spielen kann, gleich welcher Art, als einen ‚Topos‘ an.“259

3.3 Argumentations- und Diskurstheorie In eine ähnliche Richtung wie die Topik zielt die Argumentations- bzw. Diskurstheorie; auch ihr geht es weniger um Auslegung im traditionellen Sinn als um ein Verfahren der Problemerörterung. Für ihre Vertreter ist das Ziel eines juristischen Verfahrens nicht mehr der Streit um den wahren Inhalt eines Rechtssatzes, sondern – nach einem „Stilbruch in den traditionellen Argumentationsformen“260 – um die diskursive Auseinandersetzung mittels dogmatischer oder rhetorischer Argumente. Auf diese Ebene verlegen sie denn auch ihr Erkenntnisinteresse. Sie wollen für diesen rhetorischen Streit die Regeln festsetzen und begründen. Das Theorieziel verschiebt sich also vom Festlegen von Wahrheit hin zum Festlegen von Umständen, unter denen man sich auf eine „Wahrheit“ oder zumindest eine Lösung einigen kann. Als Sprössling von John Rawls’ (1921–2002) „Theorie der Gerechtigkeit“ und einer allgemeinen Diskurstheorie, wie sie vor allem von Jürgen Habermas (*1929) geprägt wurde, geht die juristische Argumentationstheorie dabei jedoch weniger von einem 256 Viehweg 1974, 14. 257 Ebd., 24. Viehweg führt als Beispiele unter anderen die von Ihering eingeführte Kategorie „Interesse“ auf, ferner Begriffe wie „Willenserklärung“, „wesentlicher Bestandteil“, „Vertrauensschutz“. Für eine Viehweg folgende Darstellung inklusive eines Topoi-Katalogs vgl. Struck 1971. 258 Vgl. Viehweg 1974, 33, 87. 259 Larenz 1991, 147 (Hervorhebung ebd.). 260 Esser 1979, 5.

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Rechtsstreit aus als von einer idealen Sprechsituation ohne Zwänge und Ungleichheiten, in der über Wahrheit oder Richtigkeit einer Aussage durch den Konsens der Teilnehmer entschieden wird.261 Robert Alexy, der Hauptvertreter der juristischen Diskurstheorie, versucht die Spielregeln für die juristischen „Sprachspiele“ festzulegen.262 Zu den Grundregeln des allgemeinen Diskurses (Widerspruchsfreiheit eines Sprechers, Wahrhaftigkeit von Behauptungen etc.) kommen dabei die spezifischen Regeln für den Sonderfall des juristischen Diskurses, der ja im Unterschied zum allgemeinen an das geltende Recht gebunden sei. Urteile seien also einer doppelten Begründungspflicht – intern wie extern – ausgesetzt.263 Das Ergebnis von Alexys Überlegungen sind fünf Gruppen (1. Grundregeln, 2. Vernunftregeln, 3. Argumentationslastregeln, 4. Begründungsregeln, 5. Übergangsregeln) mit insgesamt 22 explizit formulierten Regeln sowie eine Tafel mit sechs Argumentformen.264

3.4 Hermeneutik „Die juristische Hermeneutik ist ein vergleichsweise spät geborenes Kind der allgemeinen hermeneutischen Theorie.“265 Dabei war den juristischen Methodenlehren der Begriff hermeneutica iuris durchaus geläufig; „sie verwendeten ihn aber, betrachtet aus dem Blickwinkel der heutigen juristischen Hermeneutik, in einem unspezifischen Sinn, indem sie unter ihm nicht viel mehr fassten als die Auslegungslehren, die schon Savigny in seiner Methodenvorlesung 1802/03 systematisch präsentiert hatte und die 261 Grundlage ist die Sprachtheorie Wittgensteins und die durch sie erreichte Überwindung der aristotelischen Theorie von der Korrespondenztheorie der Wahrheit. Für die juristische Diskurstheorie vorbereitet wurde die Wittgenstein’sche Sprachphilosophie nicht zuletzt durch Karl-Otto Apel (*1922), der in den Sprachspielen eine „Letztvoraussetzung“ aller Erkenntnis sah, deren „höchsten Punkt“ er „in der ‚intersubjektiven Einheit der Interpretation‘ qua Sinnverständnis und qua Wahrheitskonsens“ erblickte (Apel 1973, 348, 411). Vgl. auch Hänni 2009. 262 Vgl. Alexy 1978, 233–257. 263 Vgl. ebd., 273. Zu Zweifeln an der Diskurstheorie vgl. Hösle 1993, 125, 248, 257f., sowie Weinberger 1994. 264 Vgl. Alexy 1978, 361–364. Die einzelnen Regeln sind hierbei weniger wichtig als das Grundprinzip. Interessant ist jedoch die Rolle, die bei Alexy die klassischen vier Auslegungskanones einnehmen: „Als Argumentformen kennzeichnen die canones die Struktur juristischen Argumentierens.“ (Ebd., 301.) Die canones sind mehr „als bloße Instrumente der sekundären Legitimation einer auf andere Weise gefundenen und begründbaren Entscheidung. Sie sind Formen, deren sich die juristische Argumentation zu bedienen hat, wenn sie den in ihr erhobenen Anspruch auf Richtigkeit, der anders als der des allgemeinen praktischen Diskurses insbesondere auch auf die Bindung an das Gesetz bezogen ist, erfüllen will.“ (Ebd., 307.) 265 Hassemer 1986, 197.

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– mit wechselnden Bezeichnungen – die Methodenlehre des vorigen Jahrhunderts beherrschten.“266 Mit diesen klassischen juristischen Hermeneutiken hat die sogenannte „Neue Hermeneutik“, die in den 1960er-Jahren Eingang in die Jurisprudenz fand, nur noch wenig zu tun; bei ihr handelt es sich vielmehr um eine „Strukturtheorie des Verstehens“267. In dieser Form wird sie in die Jurisprudenz eingeführt durch HansGeorg Gadamers (1900–2002) Schrift Wahrheit und Methode268 aus dem Jahr 1960. Gadamer setzt sich allerdings auch von der klassischen Tradition der philosophischen Hermeneutik ab, wie sie sich im Werk Schleiermachers manifestiert und durch Emilio Bettis (1890–1968) Allgemeine Auslegungslehre (1967) einen Abschluss gefunden hat in Form einer „imposanten Systematisierungsleistung, […] steril und museal“269. Gadamers Fundament ist vor allem die Existenzialphilosophie Heideggers. Es geht ihm also explizit nicht um eine „Kunstlehre des Verstehens“, sondern um den Nachweis, „wieviel Geschehen in allem Verstehen wirksam ist“270. Innerhalb seiner Theorie weist Gadamer der juristischen Auslegung eine „exemplarische Bedeutung“271 für die gesamte Hermeneutik zu, was durchaus auch ein Grund für seinen Erfolg bei Juristen gewesen sein mag.272 Denn die „Spannung zwischen dem ursprünglichen und dem gegenwärtigen juristischen Sinn“273 werfe ein Schlaglicht auf jede Hermeneutik. Dadurch vermöge die juristische Hermeneutik „das wirkliche Verfahren der Geisteswissenschaften an sich selbst zu erinnern“274. Diese Mustergültigkeit der juristischen Hermeneutik sieht Gadamer vor allem durch zwei Momente gegeben: die Vermittlung von Vergangenheit und Gegenwart275 und die Verbindlich266 Ebd. 267 Alexy 1995, 75. 268 Gadamer 1990. Vgl. Pöggeler 1972. – Zu Gadamer sowie den im Folgenden genannten Schleiermacher und Heidegger s. auch Kapp. IV.1, IV.3 u. IV.5 des Beitrags „Philosophie“ in diesem Band, zu Betti ferner Kap. IV.4.2 des Beitrags „Dichtung“. 269 Rottleuthner 1976, 7. Zu einem Vergleich der Werke Bettis und Gadamers vgl. ebd. Zu Betti vgl. Eßmann 1992. 270 Gadamer 1990, 3 (dort teilw. hervorgehoben). 271 Ebd., 330 (Überschrift). 272 Vgl. Gizbert-Studnicki 1987, 346. Neben der besonderen Hervorhebung der Jurisprudenz kann ein weiterer Grund die starke Betonung der Tradition gewesen sein, die den Juristen entgegenkommt. Die Hermeneutik erreichte in der Jurisprudenz zeitweilig den Grad einer Mode (vgl. Rottleuthner 1976, 7). Anregend kann auch die Rezeption der Hermeneutik durch Jürgen Habermas im Positivismusstreit mit Karl Popper gewirkt haben. 273 Gadamer 1990, 332. Diese Spannung habe Savigny übersehen. 274 Ebd., 333. 275 „Ein Gesetz will nicht historisch verstanden werden, sondern soll sich in seiner Rechtsgeltung durch die Auslegung konkretisieren. […] Hier haben wir das Modell für das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart, das wir suchen. Der Richter, welcher das überlieferte Gesetz den Bedürfnissen der

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keit, die Autorität des Textes.276 Die Aufgabe des Richters bestehe darin, angesichts der Spannung zwischen ursprünglichem und gegenwärtigem Sinn eines Gesetzes – zu der parallel die Spannung zwischen allgemeinem Gesetz und besonderem Fall verlaufe – zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu vermitteln. In dem Streit zwischen subjektiver und objektiver Auslegung nimmt Gadamer also eine vermittelnde Position ein, da auch zwischen dem Gesetz und dem Auslegenden trotz der zeitlichen Differenz eine Verbindung durch den Traditionszusammenhang gegeben sei. Wichtig ist hierbei, dass die Gesetzesanwendung, „Applikation“ in Gadamers Worten, immer in einer Wesensbeziehung zwischen Hermeneutik und Rechtsdogmatik entstehe, in der jedoch die Hermeneutik den Vorrang habe. „Die Idee einer vollkommenen Rechtsdogmatik, durch die jedes Urteil ein bloßer Subsumtionsakt würde, ist unhaltbar.“277 Gesetzesauslegung sei also immer ein produktiver Akt, ein Prozess, in dem Einfühlung, Kongenialität und Vorverständnis eine große Rolle spielen. Die Auslegung sei niemals rein deduktiv, sondern habe immer Züge eines künstlerischen, intuitiven Einfühlens. Zudem sei der Auslegende niemals objektiv, sondern immer geprägt durch sein Vorverständnis – sein „Vorurteil“, wobei dieses Wort in einem positiven Sinn verwendet wird – und bewege sich in einem hermeneutischen Zirkel.278 Gadamers Theorie fiel in der Rechtstheorie auf fruchtbaren Boden, aber dieser Boden war schon vorbereitet. Bereits 1943 hatte Karl Engisch (1899–1990) in seinem gern zitierten Bild vom „Hin- und Herwandern des Blickes zwischen Obersatz [also Gesetzesnorm; W.R.] und Lebenssachverhalt“279 aufgezeigt, worum es der Hermeneutik in der Anwendung geht: „Norm und Fall (die sich für die herkömmliche Methodenlehre erst nach der deduktiven Subsumtion der Norm auf den Fall zusammenfügten) müssen im Akt der Rechtsfindung schrittweise zueinander in eine Beziehung gebracht werden, sind konkretisierend aufeinander hin zu entwickeln und setzen einander insofern voraus. Damit dynamisiert sich das Verhältnis von Norm und Sachverhalt.“280

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Gegenwart anpasst, will gewiss eine praktische Aufgabe lösen. Aber seine Auslegung des Gesetzes ist deshalb noch lange nicht eine willkürliche Umdeutung. Auch in seinem Fall heißt Verstehen und Auslegen: einen geltenden Sinn Erkennen und Anerkennen. Er sucht dem ‚Rechtsgedanken‘ des Gesetzes zu entsprechen, indem er es mit der Gegenwart vermittelt.“ (Ebd., 314, 333.) „Die Aufgabe des Verstehens und Auslegens besteht eben nur dort, wo etwas so gesetzt ist, dass es als das Gesetzte unaufhebbar und verbindlich ist.“ (Ebd., 335.) Ebd. Vgl. Gadamer 1978. Vgl. dazu Gadamer 1993b, ferner Kaufmann 1984c und Gizbert-Studnicki 1987a. K. Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung (3. Aufl. 1963), 15, zitiert nach Hassemer 1986, 201. Ebd. Zusätzlich weist die juristische Hermeneutik auch darauf hin, dass es sich schon beim Sachver-

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Dieses neu verstandene, dynamische und zirkuläre Verhältnis von Norm und Sachverhalt wird zum rege bearbeiteten Thema für die diversen Vertreter der Hermeneutik, wobei vor allem die Namen Arthur Kaufmann (1923–2001)281, Josef Esser (1910– 1999)282, Karl Larenz (1903–1993)283, Martin Kriele284, Friedrich Müller (*1938)285 und Winfried Hassemer (*1940)286 zu nennen sind. Hassemer ändert das Bild vom hermeneutischen Zirkel in das einer Spirale: Tatbestand und Sachverhalt bestimmten sich gegenseitig „nicht einmal und auf derselben hermeneutischen Ebene, sondern mehrmals und jeweils auf anderen, ‚höheren‘ hermeneutischen Ebenen […]. In der Sache ist es ein ‚Zugleich‘, es ist eine Entfaltung von Tatbestand und Sachverhalt aneinander in der Kategorie der Gleichzeitigkeit […].“287 Kaufmann beschreibt die Rechtsfindung als „Assimilation von Lebenssachverhalt und Norm“288, bei der die „Rohmaterialien“ Norm und Fall aufbereitet, ihr „Sinn zum Sprechen“ gebracht werden müssten:289 „Das aber kann nicht in isolierten Akten geschehen, sondern nur in einem zirkelhaften Hinüber- und Herüberwechseln vom Gesetz zum Fall und vom Fall zum Gesetz: ob der Gesetzessinn auf den Fall zutrifft, hängt von dem vorgängigen Verständnis des Falles ab, wie andererseits sich der Sinn des Falles nicht ohne Vorverständnis des Gesetzes erschließt.“

Wie bei den meisten Abhandlungen der rechtshermeneutischen Strömung scheinen diese Äußerungen im Abstrakten hängen zu bleiben. Griffiger und spannender ist demgegenüber das erstmals 1970 veröffentlichte Werk Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung von Josef Esser, der überdies die meisten der gängigen Auslegungstheorien mit einem Federstrich beiseitewischt: „Der Jurist begreift den vorgegebenen Text weder in seiner historischen Relevanz noch soziologisch als Produkt bestimmter Kräfte, er interessiert ihn nicht als Meinungszeug-

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halt um nichts Gegebenes, schlicht Vorfindbares handelt, sondern um das Ergebnis eines konstruktiven Verfahrens. Vgl. hierzu Hruschka 1965. S. die unten genannten Werke. Esser 1972; Esser 1974; Esser 1979. Vor allem der systematische Teil von Larenz 1991 sowie Larenz 1973. Kriele 1965; Kriele 1967. Müller 1966; Müller 1984. Hassemer 1968. Ebd., 107f. (dort teilw. hervorgehoben). Kaufmann 1982, 38 (dort teilw. hervorgehoben). Kaufmann 1984a, 93. Das folgende Zitat ebd.

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nis, sondern als ein für seine Entscheidung sinnvolles Weisungsmuster. Er will nichts anderes, als den Text daraufhin verstehen, ob er anhand seiner ratio eine ‚befriedigende‘ Entscheidung fällen kann oder nicht. In diesem Sinn ist der Anwendungsakt von der Verständnismöglichkeit abhängig und die Verständnismöglichkeit von der Anwendungsvorstellung.“290

Dieser Zirkel ist anders gelagert als üblich. „Es werden mögliche Ergebnisse vorweg ins Auge gefasst, und an ihnen wird die Verstehbarkeit des Textes ausgemacht.“291 Dies geschehe nicht mit Methode, sondern nach dem Vorverständnis. „Die Urteilsbegründungen, selbst die nicht zur Veröffentlichung gelangenden Teile, spiegeln den Argumentationsweg kaum wider“292, weil „der Pluralismus von Interpretationsregeln Präferenzen des Interpreten in der Auswahl oder Kumulierung von Auslegungsmethoden herausfordert und voraussetzt, die sich zum Teil unbewusst auf ein vorweg konzipiertes Auslegungsziel des Gerechten und Vernünftigen formieren“293.

Eine etwas andere Stoßrichtung innerhalb der juristischen Hermeneutik verfolgt die Theorie der „Fallnorm“, mit der Wolfgang Fikentscher (*1928) die Rationalität und Kontrollierbarkeit der Auslegung zu retten versucht. Da das Gesetz in den allermeisten Fällen für eine direkte Subsumtion zu weit und unscharf sei, ziehe der Richter zwischen Gesetz und Fall eine weitere Ebene ein: die „Fallnorm“, die die eigentliche Entscheidungsnorm, den „Rechtssatz im technischen Sinne“ darstellt.294 Diese werde gebildet durch den Richter, aber aufgrund der Gesetzesregel und in einem rational kontrollierbaren und schrittweisen Verfahren, das Fikentscher „hermeneutisch“ nennt. Darunter versteht er die wechselseitige Annäherung und Erhellung von Norm und Sachverhalt, die Konkretisierung und Spezifizierung der durch das Gesetz, aber auch das Richterrecht vorgegebenen Richtlinien und Wertungsgesichtspunkte im Hinblick auf den zu beurteilenden Sachverhalt einerseits, Vervollständigung und Präzisierung des Sachverhalts im Hinblick auf die rechtlichen Aspekte andererseits, bis dieser Prozess an seinem „hermeneutischen Umkehrpunkt“ nichts mehr hergibt und abgebrochen wird.295 Die Richtschnur für dieses „hermeneutische Vorgehen“ muss laut Fikentscher klar geregelt sein: Mit Nachdruck besteht er darauf, „dass innerhalb der 290 291 292 293 294 295

Esser 1972, 139. Ebd. Esser 1979, 9. Ebd., Anm. 3. Vgl. Fikentscher 1977, 202. Vgl. ebd., 194–202 (Zitat ebd., 197 [Überschrift]).

IV. Neuzeit und Gegenwart (19.–21. Jahrhundert)

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Wortsinngrenze Gesetzesbindung, außerhalb ihrer Präjudizienbindung herrscht und herrschen muss“296. Auf einer zweiten Ebene der juristischen Hermeneutik, die der Rechtsphilosophie näher liegt als der Auslegungspraxis, werden vor allem die spannungsgeladenen Relationen von „Sein“ und „Sollen“ sowie von Recht und Gesetz thematisiert.297 Entsprechend der Auflösung der starren Verbindung von Norm und Sachverhalt in der Methodologie zielt die philosophische Variante auf die Auflösung der starren Ableitungsverbindung zwischen Naturrecht und positivem Recht oder Gesetz. „Recht ist die Entsprechung von Sollen und Sein.“298 Dies ist die Kernthese der Schrift von Arthur Kaufmann, die in der deutschen juristischen Literatur die methodologische und die rechtsphilosophische Variante der juristischen Hermeneutik wieder zu einandergeführt hat.299 Rechtsfindung sei ein „In-die-Entsprechung-bringen“300 von Lebenssachverhalt und Norm. Das Aufkommen der Hermeneutik in der Rechtstheorie fällt zusammen mit dem Abflauen der nach dem Zweiten Weltkrieg geführten Debatte über den Rechtspositivismus, die der Rechtswissenschaft in gewisser Weise den „Boden entzogen“ hatte. „Der Rechtspositivismus stieß weitgehend auf Ablehnung, gleichzeitig konnte sich aber auch keine Version der Naturrechtslehre durchsetzen.“301 In dieser Zwangslage scheint die Hermeneutik einen Mittelweg als Ausweg zu bieten.302 Man könnte durchaus in dieser Fähigkeit der Hermeneutik, die verschiedenen Pole auf jeder Ebene der Rechtstheorie zueinander in Beziehung zu setzen – gewissermaßen das eine zu stützen, ohne das andere fallen zu lassen –, den Schlüssel zu ihrem Erfolg vermuten. Oft genug läuft ein „hermeneutischer“ Ansatz in der Rechtswissenschaft auf den Ratschlag hinaus, doch alle Auslegungskanones zu beachten,303 oder auf die Forderung, dass die Entscheidung „sachgerecht“ sein müsse,304 oder auf vage Formeln wie bei Kaufmann, der die Rechtsfindung als „Assimilation von Lebenssachverhalt und Norm“305 charakterisiert.

296 297 298 299 300 301 302

Ebd., 296. Auch hier spielt Arthur Kaufmann eine zentrale Rolle, vgl. Kaufmann 1984; Kaufmann 1984b. Kaufmann 1982, 18 (dort hervorgehoben). Vgl. Hassemer 1986, 206. Kaufmann 1982, 38 (dort hervorgehoben). Gizbert-Studnicki 1987, 344f. „In Wahrheit müssen vielmehr beide, positives Recht und Naturrecht, in eins gesehen werden.“ (Coing 1993, 214.) 303 Vgl. Coing 1976, 309. 304 Vgl. Esser 1972, 139. 305 Kaufmann 1982, 38 (dort teilw. hervorgehoben). S. auch Kaufmann 1984a, 89ff. Vgl. auch Fikentscher 1976, 198f.; Schroth 1994, 344ff.

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Recht

Demnach könnte man die Anziehungskraft der Hermeneutik auf die Juristen damit erklären, dass sie zwar die theoretischen Dilemmata der Rechtsprechung nach dem Ende der Subsumtion aufzuheben verspricht, dabei jedoch „keine Reform vorschlägt und die Juristen nicht zu einer Änderung ihrer Denkweise zwingt“306. Nicht zuletzt bietet die Hermeneutik den Vorteil, dass sie „ein ruhiges Gewissen gegenüber angeblich unaufhebbaren Vorurteilen verschaffen“307 kann. In der Bedrängnis, dass die Juristen sich zwar einerseits darüber im Klaren sind, dass das Ergebnis der Auslegung von der Auslegungsmethode abhängt, sie andererseits aber nicht imstande sind, die Methodenwahl rational zu begründen, bietet die Hermeneutik Zuflucht, indem sie die grundsätzliche Unmöglichkeit einer objektiven, neutralen Auslegung durch die Theorie vom Vorverständnis philosophisch ins Positive verkehrt.

306 Gizbert-Studnicki 1987, 345. 307 Rottleuthner 1976, 12.

Martin Corzillius 1

Geschichte Es empfiehlt sich, zwischen „Geschichte“ als Geschehenem, „Geschichtswissenschaft“ oder „Historie“ als dessen Erforschung und „Geschichtsschreibung“ oder „Historiographie“ als dessen Darstellung zu unterscheiden, auch wenn nach üblichem Sprachgebrauch im Begriff „Geschichte“ alle drei Bedeutungen enthalten sind. Heute gilt zwar Geschichtsschreibung als Teil der Geschichtswissenschaft (freilich nicht mehr unwidersprochen). Die längste Zeit gab es aber überhaupt nur Geschichtsschreibung, denn Geschichtswissenschaft als hermeneutische Textbearbeitung entstand erst in der Neuzeit. Zuerst seit dem Renaissance-Humanismus als antiquarische eruditio zur kritischen Sicherung historischer Dokumente mit einem ersten Höhepunkt im 17. Jahrhundert, dann, nach einer skeptischen Phase, seit dem 18. Jahrhundert als methodisch kontrollierte hermeneutische Auslegung solcher Quellentexte, auf der dann die Geschichtsschreibung, wenn sie wissenschaftlich sein wollte, aufzubauen hatte. Der deutsche Historismus stilisierte schließlich dieses hermeneutische Verstehen zum Kriterium der Trennung methodologisch autonomer Geschichts- und Geisteswissenschaften von den Naturwissenschaften. Demgegenüber hatte es von den Griechen bis zum Renaissance-Humanismus ein ziemlich einheitliches Paradigma von „unmittelbarer“ Geschichtsschreibung gegeben; unmittelbar, weil sie in erster Linie nicht Quellenverarbeitung, sondern Zeitgeschichtsschreibung aus eigener Erfahrung zum politischen und moralischen Nutzen der Zeitgenossen wie der Nachwelt sein wollte, nach dem Motto historia magistra vitae. Für weiter ausholende Annalen, Chroniken oder Biographien längst verstorbener Helden galt grundsätzlich das Gleiche. Soweit auf ältere Texte zurückgegriffen wurde, schrieb man ihnen kraft Autorität ihres Alters einen hohen Wahrheitswert 1

Einleitung und Überarbeitung von Kap. IV.3.2 von Wolfgang Reinhard. Redigiert von Meinrad Böhl.

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Geschichte

zu. Das Christentum ergänzte nur die Perspektive, denn die Heilsgeschichte brachte hinfort für jede Geschichte einen verbindlichen Anfang und ein Ende sowie einen spezifischen Ort in der Zeit mit sich. Selbstverständlich gab es methodologische Erörterungen, die sich aber hauptsächlich auf die Sicherung einer historischen Wahrheit bezogen, die moralisch und nicht wissenschaftlich verstanden wurde. Das ließ den Autoren aus heutiger Sicht einen breiten Spielraum. In diesem Sinn waren auch die beliebten erfundenen Reden in ihren Werken historisch „wahr“. Implizit liefen diese basalen Theorie- und Methodenfragen natürlich bereits auf hermeneutische Probleme hinaus. Vor allem aber betrieb bereits die älteste Historiographie mit ihren Texten Auslegung der Welt, die auch unter den Bedingungen moderner Quellenkritik, sogar wo es sich um quantifizierende Analyse handelt, das Zielgeschäft der Geschichtswissenschaft geblieben ist.

I. Antike Wie so viele Errungenschaften in der Kultur des Abendlandes wurzelt auch dessen Geschichtsbewusstsein in der Antike. Griechen wie Römer waren „historiographische Völker“2, und Geschichtsbewusstsein in einem weiten Sinn lässt sich sogar bis in die Anfänge von Überlieferung überhaupt, bis hin zu Homer, dem „Ahn der griechischen Geschichtsschreibung“3, zurückverfolgen. Der „Vater der Geschichtsschreibung“4 jedoch ist Herodot (ca. 485–424 v. Chr.), wobei die zeitliche Differenz von mehreren Jahrhunderten zu Homer verdeutlicht, dass die Historiographie als methodisch reflektierte Berichterstattung über Geschehenes selbst das Ergebnis eines historischen Prozesses ist. Innerhalb der Polis-Kultur stellt sie sogar ein relativ spätes Phänomen dar. Dafür wurde sie in bereits voll entwickelter Form geboren: Die Historien des Herodot weisen bereits so gut wie alle charakteristischen Eigenschaften der griechischen Historiographie auf 5 und stellen zusammen mit dem Werk, das Thukydides (ca. 460–um 400 v. Chr.) über den Peleponnesischen Krieg verfasste, nicht nur die Pionierleistung, sondern zugleich auch bereits den Höhepunkt der griechischen, ja der antiken Geschichtsschreibung überhaupt dar. 2 3 4 5

Bloch 1980, 26. Schadewaldt 1991, 67. Zu den Anfängen der griechischen Geschichtsschreibung vgl. Strasburger 1966; Meier 1973; Meier 1975; Finley 1981; Cartledge 1997. Luce 1998, 53 (Überschrift). Zur Diskussion über die Angemessenheit dieser Bezeichnung, die zuerst von Cicero benutzt wurde, vgl. ebd., 53–84. Vgl. Deininger 1998, 217.

I. Antike

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An weiteren herausragenden Geschichtsschreibern Griechenlands neben den beiden Gründerfiguren sind vor allem Xenophon (ca. 430–355 v. Chr.) und Polybios (ca. 200–118 v. Chr.) zu nennen. Etwa seit dem 2. Punischen Krieg (218–201 v. Chr.) wurde diese griechische Errungenschaft der Historiographie dann auch von Rom übernommen, wobei die aus dieser Zeit stammende Römische Geschichte des Senators6 Quintus Fabius Pictor (um 254–um 201 v. Chr.) den Beginn markiert. Während sich diese römische Annalistik zunächst noch der griechischen Sprache bediente, verfasste Cato der Ältere (234–149 v. Chr.) das erste historiographische Werk in lateinischer Sprache. Im Wortlaut erhalten sind jedoch nur Werke aus der Zeit der späten Republik.7 Als die wichtigsten dieser Werke sind zu nennen: die Kommentare Julius Caesars (um 101–44 v. Chr.) Über den Bürgerkrieg und Über den Gallischen Krieg, die zwischen 43 und 40 v. Chr. entstandenen Monographien Sallusts (ca. 86–35 v. Chr.) Über die Verschwörung des Catilina und Über den Jugurthinischen Krieg, Ab urbe condita von Livius (59 v. Chr.–17 n. Chr.) sowie die Schriften des Tacitus (ca. 56–118), darunter die Biographie seines Schwiegervaters Gnaeus Julius Agricola (40–93), die Annales und die Historiae. Zu erwähnen sind ferner Der Jüdische Krieg und Die jüdischen Altertümer von Flavius Josephus (37–100), der für das interessante Phänomen einer regen griechischsprachigen Geschichtsschreibung im Römischen Reich steht. In der weiteren Entwicklung (2./3. Jh. n. Chr.) traten dann wieder Griechen als Historiker hervor, allen voran Arrian (ca. 85–145), Appian (ca. 95–165) und Cassius Dio (ca. 155–235). Interessant ist auch Lukian von Samosata (um 120–180), von dem das einzige erhaltene Werk mit „theoretischen“ Erwägungen über die Geschichtsschreibung stammt.8 In der letzten Phase der Antike vollzog sich ein bedeutender Wandel: Neben die traditionelle Historiographie und zeittypische Überblicksdarstellungen trat eine Geschichtsschreibung aus christlicher Perspektive, wodurch ein neues Paradigma begründet wurde, in dem die Sicht der Geschichte als christliche Heilsgeschichte den Schwerpunkt bildete.9 An seinem Anfang stand im frühen 4. Jahrhundert Eusebius (ca. 260–339), Bischof von Caesarea, mit seiner griechischen Kirchengeschichte in zehn Bänden. Die wohl wichtigsten Vertreter dieser christlichen Geschichtsschreibung in der Antike waren Augustinus (354–430), der als „Geschichtstheologe“10 von entscheidender Bedeutung für die nachantike Geschichtsschreibung werden sollte, sowie sein 6 7 8 9 10

Die Ausübung eines hohen politischen Amtes war für die römischen Geschichtsschreiber fast die Regel. Zu den Formen der römischen Geschichtsschreibung vgl. Meister 1964; McDonald 1975. Titel: Wie man Geschichte schreiben soll. Vgl. Deininger 1998, 228f. Alonso-Núñez 1991, 6. Zur „Geschichte bei Augustin“ vgl. Flasch 1999.

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Schüler Paulus Orosius (um 380–nach 418), dessen Geschichtskonzept von den sieben Perioden und vier Weltreichen ebenfalls große Prägekraft ausübte.11 Der Gebrauch solcher Begriffe wie „Geschichte“ oder „Geschichtsschreibung“ darf allerdings nicht dazu verleiten, diese Begriffe mit modernen Vorstellungen zu füllen. Zwischen dem Geschichtsverständnis, das uns heute selbstverständlich erscheint, das aber ein historisches und dabei relativ junges Phänomen darstellt, und demjenigen, das in der Antike vorherrschte, aber auch das Mittelalter und den Humanismus prägte, gibt es einige wesentliche Unterschiede. Diese Differenzen sind sogar so weitreichend, dass in Bezug auf das antike Geschichtsbewusstsein solche Begriffe wie „die Geschichte“ oder „die Geschichte an sich“ gar keinen Sinn ergeben. Dieser Kollektivsingular mit allen seinen Konnotationen ist eine Erfindung der Neuzeit. Dem antiken Geschichtsverständnis waren Kategorien wie „das unwiederholbar Individuelle und umfassend Universale“ genauso fremd wie ein „Gefühl für die treibende Dynamik der unendlichen Zeit“.12 Die Vorstellung von einem geschichtlichen Kontinuum, in welchem der Betrachter seinen eigenen Platz im Wandel der Zeiten suchen kann, fehlte. Ein verbindendes und vereinheitlichendes Moment kannte die antike Auffassung des Geschichtsverlaufs kaum, es setzte sich vielmehr aus disparaten, zyklisch oder linear empfundenen Zeitläuften zusammen. Wenn also die Rückprojektion des Geschichtsbegriffs der Moderne auf die Antike schon in Bezug auf die konnotierten Zeitvorstellungen problematisch ist, so gilt dies ebenso sehr in Bezug auf die „Geschichte“ als Gegenstand der Historien, der Geschichtsschreibung. Als schon „fast paradox“ kann es hier anmuten, „dass das Wort, das später ‚Geschichte‘ bezeichnen sollte, in seiner ursprünglichen spezifischen Bedeutung auf die Erforschung der größten Teile der Geschichte nicht angewandt werden [kann]“13. Die antiken Historiographen sahen es nämlich als ihre Aufgabe an, einzig von den Ereignissen ihrer eigenen Zeit, also ihrer Gegenwart oder der jüngsten Vergangenheit, zu berichten. Historia bedeutete im Ursprung nichts anderes als ‚Bericht‘, ‚Kunde‘, ohne die heute selbstverständliche Fixierung auf die Vergangenheit, ja gerade – als Augenzeugenbericht – unter Ausschluss zumindest der mehr als ein Menschenalter zurückliegenden Ereignisse.14 Im Verlauf der Antike gewann der Begriff historia dann als weitere Bedeutung 11

12 13 14

Aber auch in dieser Zeit gab es noch Geschichtsschreibung aus einer nicht-christlichen Perspektive. Das bedeutendste Werk der traditionellen lateinischen Historiographie im 4. Jahrhundert waren die Res gestae des Ammianus Marcellinus (ca. 330–395). Für die späte Antike vgl. Deininger 1998, 229ff. Schadewaldt 1991, 63. Meier 1975, 596. Zur Wortgeschichte von „Historie“, „Geschichte“ etc. vgl. ebd., 595–601. Zur ursprünglichen Bedeutung von historia als „eyewitness, judgement and enquiry“ vgl. Cartledge

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auch die der Gattungsbezeichnung der Geschichtsschreibung, der Wiedergabe dessen, „was wirklich geschehen ist“15, wobei dieser Begriff primär für die Form galt und erst sekundär für das Bündel an Handlungen und Geschehnissen, das darin enthalten ist und das, nebenbei gesagt, auf militärische und politische Ereignisse beschränkt blieb. Die Beschäftigung mit länger zurückliegenden Ereignissen erfolgte nicht in den Historien, sondern in den Annalen.16 Dieser inhaltlichen Unterscheidung „zwischen historia als dem Bericht nur zeitgenössischer Ereignisse und annales als der Darstellung weit zurückliegenden Geschehens“17 korrespondierten noch andere Differenzierungskriterien. So beschränkten sich die Annalen im Normalfall auf eine chronologische Auflistung von Ereignissen, also auf ein reines Datengerüst ohne darüber hinausgehende Informationsansprüche, während die Historien anderen Regeln gehorchten und weiter reichenden Zielen dienten. Wesentlich für die historia war nämlich, dass sie keine eigenständige Gattung darstellte, sondern im antiken Fächerkanon der Rhetorik und der Literatur zugeordnet war. Die historia war eine literarische Gattung, die mit denselben sprachlichen Mitteln wie das antike Drama, die Komödie oder die Epik einen Handlungszusammenhang schilderte. Es ist bezeichnend für den antiken Geschichtsbegriff, dass in ihm zwei Elemente vereint waren, die später in der Moderne auseinanderfallen sollten: die Ereignisse und ihre Darstellung. Historia meinte immer die geschriebene Geschichte, oder anders ausgedrückt: „Die Geschichte konnte sich nicht von der Bestimmung als Inhalt der Form Historie lösen.“18

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1997a, 3. Zu der interessanten und lehrreichen Begriffsgeschichte vgl. Meier 1975, 601–610. Aristoteles, Poetik, 1451a (Aristoteles 1982, 29). Nur hingewiesen sei auf die weitere Unterscheidung zwischen „Historien“ als rhetorisch ausgeschmückten unterhaltenden Erzählungen und dem, was seit dem Humanismus als „Antiquitäten“ bezeichnet wurde. Von der Frühzeit an bewegte sich die Geschichtswissenschaft hier zweigleisig. Zum einen wurden Quellen gesammelt, deren Urtext man kritisch zu erforschen suchte, die aber nicht auf die dahinter stehenden geschichtlichen Tatsachen hin interpretiert wurden – dies war der „Antiquitäten“-Ansatz. Zum anderen, und das war etwas ganz anderes, bot die historia rerum gestarum die Erzählung einzelner Begebenheiten. Erst um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert wurden beide Typen des Schreibens über Geschichte in Form einer wissenschaftlichen Historie zusammengeführt. Engels 1975, 614. Diese Unterscheidung findet sich – neben der Differenzierung in historia als Oberbegriff und annales als nach Jahren ordnende Sonderform – bspw. bei Gellius, ferner bei Servius und Isidor (vgl. Kierdorf 1996; Hose 1998). Aber auch wo Darstellungen tatsächlich weiter zurückreichende Ereignisse behandeln, unterscheiden sie sich von historischen Untersuchungen nach modernem Verständnis, insofern sie es bei einer kritiklosen Übernahme bzw. Kompilation bestehender Überlieferungen belassen. Als Begründer der Tradition, Texte aus Texten zu gewinnen, kann Ephoros von Kyme (4. Jh. v. Chr.) gelten. Meier 1975, 600. Eine Ausnahme bildet Augustinus, der zwischen narratio historica und historia ipsa unterschied (vgl. Augustinus, De doctrina christiana II, 28, 44).

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In überaus enger Beziehung stand die historia zur Rhetorik, die sie durch die Beschreibung militärischer und politischer Ereignisse sowie durch die Bereitstellung großer menschlicher exempla für politische und moralische Prinzipien zu unterstützen hatte. Die Geschichte wurde als magistra vitae gesehen, das einzelne Geschichtswerk diente im Grunde als „ein gigantisch ins Breite und Tiefe gewachsenes ‚Memorandum‘ für den künftigen Staatsmann“19. Durch dieses Vorbilddenken, das die auctoritas des geschichtlichen Exempels betonte, bestimmte sich die antike Historiographie ebenso wie durch ihren eminent praktischen und politischen Zweck. Die Historie wollte „nicht nur Geschichte darstellen, sondern Geschichte machen, zum richtigen Handeln aufrufen“20. Eine ähnliche Hilfsfunktion erfüllte die Geschichtsschreibung für die Philosophie, insofern sie deren Aufgabe, allgemeine Prinzipien zu entdecken, ebenfalls durch die Bereitstellung von Beispielen zu unterstützen hatte. Thema der Philosophie war das Nachdenken über den Ereigniszusammenhang, den großen Rahmen oder sich durchziehende Grundlinien, während sich die historia auf die Darstellung von Einzelereignissen beschränkte. Das Wissen um die Geschichte diente somit vor allem als „Baumaterial“21 für die Philosophie, weshalb diese im System der antiken artes auch meist höher eingestuft wurde als die Historie.22 Aus demselben Grund stellte Aristoteles (384–322 v. Chr.) in seiner Poetik auch die Dichtung über die Geschichte. Der Unterschied zwischen dem Geschichtsschreiber und dem Dichter besteht nach seiner grundlegenden Auffassung darin, „dass der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte. Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit.“23 Entsprechend dieser Einbindung der Geschichte in die weiteren Bereiche der Philosophie, Literatur und vor allem Rhetorik kam der antiken Geschichtsschreibung – zuvörderst den Historien, die darum auch von Autoren wie Cicero (106–43 v. Chr.)

19 20 21

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Schadewaldt 1991, 89. Pöschl 1956, 191. Cicero, De oratore I, 201 (Cicero 1989, 58). Zu dem antiken Gedanken, „das Studium der Geschichte unter dem Gesichtspunkt der Gewinnung von Beispielen ethischen und politischen Handelns zu betreiben und pädagogisch und paränetisch fruchtbar zu machen“, vgl. Landfester 1972, 58 (dort der Hinweis auf Isokrates, Antidosis, 306–307). Eine Ausnahme bildet Quintilian, der die Historie gerade wegen ihres paradigmatischen Wertes über die Philosophie, die der Aneignung bloß abstrakter Regelkenntnisse diene, stellte (vgl. Quintilian, Institutio oratoria XII, 2, 29–30). Aristoteles, Poetik, 1451b (Aristoteles 1982, 29). Vgl. Châtelet 1962, 339, Anm. 1.

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oder Quintilian (ca. 35–96) den simplen Annalen vorgezogen wurden –24 die dreifache Aufgabe des docere, delectare und movere zu. Die Lösung der drei Teilaufgaben war nach antikem Verständnis aber nur in ihrer Verschränkung und Verknüpfung möglich.

1. Wahrheit Der Auffassung, dass Geschichtsschreibung vor allem rhetorischen Zielen diene, korrespondierte ein Konzept von historischer Wahrheit und Objektivität, das sich nicht mit dem Wahrheitskonzept der modernen Geschichtswissenschaft deckt. Die Verschiebungen sind durchaus beträchtlich und veranlassen manchen modernen Geschichtsdenker zu der Frage, als was die antiken Historiographen denn aus heutiger Sicht gesehen werden müssen: Als die Väter der Geschichte und der Wahrheit oder als die Väter der Lügen, Fiktion und Rhetorik?25 Zunächst ist festzustellen, dass das Wahrheitspostulat auch für die antike Geschichtsschreibung konstitutiv war. Ja gerade dieser für alle antiken Geschichtswerke charakteristische Wahrheitsanspruch war es, durch den sich die geschichtliche Erkenntnis – „die Zeugin der Vergangenheit, das Licht der Wahrheit, die lebendige Erinnerung“26 – bewusst gegen den Mythos und gegen alle Arten von bloßer Fiktion abgrenzte.27 Dementsprechend häufig und deutlich (vielfach explizit in speziellen Reflexionen über Methodenfragen in Proömien, Detailfragen oder speziellen Texten) wurde in den historiographischen Texten beteuert, die Ereignisse wahrheitsgemäß und objektiv – „sine ira et studio“28 – zu schildern. Nun stand dieser hehre Anspruch allerdings in einem irritierenden Kontrast zu seiner Umsetzung, wobei dieses „eigentümliche Verhältnis“ nicht nur zwischen antiken und modernen Maßstäben bestand, sondern auch „zwischen der von den antiken Autoren selbst anerkannten Tendenziosität […] und der ebenfalls von ihnen betonten Objektivität“.29 Die Geschichtsschreiber erlaubten es sich, bestimmte Ereignisse stark hervorzuheben und andere mit Schweigen zu übergehen, Reden und Dialoge mit weitgehender 24 25 26 27 28

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Vgl. Cicero, De oratore II, 51ff. Vgl. Cartledge 1997a, 7. Cicero, De oratore II, 36 (Cicero 1989, 88). Vgl. Deininger 1998, 215. Tacitus, Annalen 1,1. In ähnlicher Weise hatte schon Herodot die beiden großen Gefahren bezeichnet: „die eunoia, das Wohlwollen einer gewissen Partei gegenüber (was offenbar die kakonoia, den bösen Willen, einer anderen gegenüber impliziert), und die mneme, das mangelhafte Gedächtnis“ (Hahn 1991, 390 [mit Quellennachweis]). Ebd., 396 (Hervorhebungen ebd.).

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Freiheit zu konstruieren, die Zeitfolge der Ereignisse umzugestalten und die Motive der einzelnen Taten nach eigenem Ermessen zu beurteilen. All das galt nicht als Verfälschung der Geschichte, solange keine Ereignisse frei erfunden wurden.30 Doch selbst diese Grenze scheint überschritten im Fall der häufig eingesetzten und an die Nähe der Historien zum antiken Drama erinnernden wörtlichen Reden und Dialoge, „bei denen, um das mindeste zu sagen, die Authentizität des Wortlauts grundsätzlich nicht gegeben ist“31. Die Darstellungen der antiken Historiographen waren also nicht unproblematisch und gaben häufig Anlass zu scharfer Kritik. Bereits in der Antike „gehörte es zu den Gepflogenheiten fast jedes Historikers, seine Vorgänger entweder der Ungenauigkeit in den Tatsachen oder der ‚Parteilichkeit‘ in der Schilderung zu bezichtigen“32. Und aus moderner Sicht mögen sie geradezu als „art de la déformation historique“33, als „derbe Verzerrung der historischen Wahrheit“34 erscheinen. Dieser aus heutiger Sicht irritierende Kontrast zwischen dem Anspruch der antiken Historiographen auf wahrheitsgemäße und objektive Berichterstattung einerseits und dem Charakter ihrer Werke andererseits, d. h. zwischen Ethos und Praxis35, beinhaltet mehrere Aspekte. Zunächst ist hier auf den vielleicht universalen, übergeschichtlichen Konflikt zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Programm und Umsetzung, Theorie und Praxis etc. zu verweisen. Sodann könnte die immer wiederkehrende Beteuerung, die Wahrheit darzustellen, auch weniger eine entsprechende Überzeugung ausdrücken als vielmehr auf besondere Probleme in diesem Bereich hinweisen oder eine bewusste und bewusst getarnte Tendenziosität anzeigen. Schließlich beruht ja die Effektivität selbst einer „propagandistisch“ instrumentalisierten Geschichtsschreibung nicht zuletzt darauf, dass sie mit dem Anspruch auf Objektivität und Wahrheitstreue auftritt. Ferner darf natürlich auch nicht vergessen werden, dass sich die Historiographie noch in einer frühen Phase befand und mit Mängeln bei der theoretischen Selbstvergewisserung sowie der Überprüfbarkeit von Überlieferungen, Quellen etc. zu kämpfen hatte. Die Geschichtsschreibung dieser Zeit war gewissermaßen ein „ungelernter

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35

Vgl. ebd., 395. Deininger 1998, 215. Hahn 1991, 391. Rambaud 1966, Titel. So das über die Res gestae divi Augusti gefällte Urteil István Hahns: „In diesem ‚Tatsachenbericht‘ stimmt einzeln fast jede Tatsache – nur das Ganze ist eine derbe Verzerrung der historischen Wahrheit.“ (Hahn 1991, 397 [Hervorhebung ebd.].) Vgl. Momigliano 1981, 309.

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Beruf “ und es fehlte an genauen Regeln für die Sammlung und Auswahl von Angaben, was zur „Verwirrung sowohl der Verfasser als auch der Leser“ führte.36 Man besaß nur einige grobe Prinzipien, um mit den praktischen Schwierigkeiten umgehen zu können. Ein Weg, um vielen dieser Probleme von vornherein aus dem Weg zu gehen, war übrigens die aus heutiger Sicht „paradoxe“ Beschränkung der Historiographen auf gegenwärtige oder gerade erst vergangene Ereignisse. Schließlich lässt sich Arnaldo Momiglianos lapidare Einsicht, „Tatsachen vor Augen zu haben erleichtert es sehr, sie zu untersuchen“37, kaum bestreiten. Demzufolge rangierte in der Rangfolge der zuverlässigen Erkenntniswege die Augenzeugenschaft vor den mündlichen Aussagen und diese wiederum vor den schriftlichen Zeugnissen.38 Bei konkurrierenden Überlieferungen ohne die Möglichkeit zu einer Entscheidung behalfen sich die Historiker teilweise dadurch, dass sie dann sämtliche Darstellungen einfach nebeneinanderstellten, ohne die verschiedenen Wahrheiten zu hierarchisieren. Alles in allem lag in dem fehlenden Maßstab zur Ermittlung der Tatsachen die „offensichtlichste Schwäche“39 der antiken Historiker. Allerdings ist hier auf den einleitenden Hinweis zurückzukommen, dass die antiken Vorstellungen von historischer Wahrheit und Objektivität nicht deckungsgleich mit denjenigen moderner Historiker sind. Gerade im Hinblick auf die erwähnten methodischen Schwierigkeiten der antiken Historiographie darf deren Wahrheitsbegriff nicht als „Fakten-Wahrheit“ (miss-)verstanden werden. Natürlich galt auch in der Antike „die Wahrheit als oberstes Gesetz der historia, doch Wahrheit bedeutete hier Objektivität im Gegensatz zu Parteilichkeit, nicht aber Verpflichtung zu einem 36 37 38

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Ebd., 313. Ebd., 308. Thukydides nannte „das, was er als Historiker treibt, ‚Wahrheitssuche‘, zetesis tes aletheias, und er hat zunächst im Streben nach strengster Wahrheit alle Vergangenheitsgeschichte, die auf Erzähltem und Weitererzähltem beruht und mithin die Subjektivität menschlicher Köpfe passiert haben muss, von sich gewiesen und selbsterlebte, zum mindesten mitgelebte Geschichte verfasst. Herodot schreibt Vergangenheitsgeschichte und bleibt auf Erzähltes angewiesen, das er weitererzählt. Um so bedeutsamer, dass er das Wort ‚Wahrheit‘, aletheia, kaum je […] für das unanfechtbar überlieferte Faktum gebraucht. Er spricht von aletheia bei Dingen, die noch gegenwärtig seiend sind, mit Augen zu sehen und mit Händen zu greifen, jederzeit der unmittelbaren Kontrolle der Sinne habhaft: also bei Dingen der Natur und Kultur, einer Insel im Nil, einer Statue des Sesostris. Für die historische Wahrheit, die nur im Logos, nicht im gegenwärtigen Raum existiert, bevorzugt Herodot ein anderes Wort, das nur soviel besagt, das erzählte Faktum sei unverfälscht, unverdreht erzählbar: atrekes. […] In aletheia und atrekeia scheidet er also eine Weise des Seins und Sehens von einer Weise des Sagens und Weitersagens. ‚Historische Wahrheit‘ ist ihm – und das gibt zu denken – Richtigkeit, Geradheit, Unanfechtbarkeit des Logos, der in Wort oder Schrift zu uns von dem Gewesenen sagt.“ (Schadewaldt 1991, 83.) Momigliano 1981, 313.

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Ranke’schen ‚Erzählen, wie es gewesen‘“40. Es ging also weniger um eine methodisch begründete Unterscheidung von wahren und falschen Fakten bzw. Interpretationen, sondern um Wahrheit im Sinne einer moralischen Haltung des Historikers. Entscheidend war – um den Begriff aus der römischen Geschichtsschreibung zu verwenden – die fides: durch sie war der Historiker zur „Wahrheit“ verpflichtet und haftete mit dem Ansehen und der Ehre seiner Person für das, was er sagte und schrieb.41 Nun ist auch der hinter dieser Vorstellung von historiographischer Wahrheit verborgene Begriff der Unparteilichkeit nicht unproblematisch, denn es gab ein durchaus „eigentümliches Verhältnis zwischen der von den antiken Autoren selbst anerkannten Tendenziosität (im Sinne einer zu erweisenden historischen oder politischen These) und der ebenfalls von ihnen betonten Objektivität (im Sinne des glaubwürdigen Tatsachenberichtes)“42. Selbst bei Tacitus, der ja immerhin die berühmte Wendung sine ira et studio schuf, waren die Darstellungen sehr persönlich gefärbt.43 Doch aus der Sicht des antiken Historiographen lag hierin kein Widerspruch: Jenes sine ira et studio sprach dem Geschichtsschreiber nicht das Recht auf einen „ausgeprägten Standpunkt über den Sinn der dargestellten Ereignisse und über Schuld und Tugend der historischen Persönlichkeiten“44 ab. Zwar durfte er in seinem Urteil nicht von persönlichem Hass oder persönlicher Gunst motiviert, also weder durch amicitia noch durch inimicitia befangen sein, und insofern besaß jene so häufig zitierte Maxime des Tacitus durchaus große Relevanz. „Aber die subjektive, tendenziöse Gruppierung und Auswahl der darzustellenden Ereignisse, die persönliche Motivierung derselben, die persönliche Meinung über den Charakter der dramatis personae – das alles mindert[e] nicht den Anspruch auf Objektivität.“45 Es gab also zwei Grenzen. Die erste verlief zwischen der legitimen Behandlung der gegebenen Fakten (einschließlich deren eklektischer und einseitiger Auswahl) und der Verfälschung und Erfindung: „Nil falsi audeat dicere historia.“46 Die zweite Grenze war (theoretisch) durch die moralische Einstellung des Geschichtsschreibers gesichert. 40 Hofmann 1997, 403f. 41 Pöschl sieht in der fides auch einen Grund für die nur kümmerliche Ausbildung der historischen Kritik. Diese Kritik hätte einen so gravierenden Vorwurf impliziert, dass z. B. Livius es oft vorgezogen habe, Urteile früherer Autoren auch dann wiederzugeben, wenn er an ihrer Richtigkeit begründete Zweifel hegte. Ähnlich Tacitus: „[V]olgatis traditisque demere fidem non ausim.“ (Zitiert nach Pöschl 1956, 184.) 42 Hahn 1991, 396 (Hervorhebungen ebd.). 43 Vgl. Deininger 1998, 226. 44 Hahn 1991, 394. 45 Ebd., 394f. 46 Cicero, De oratore II, 62.

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Die tendenziöse Darstellung von Geschichte durfte nicht durch Hass oder persönliche Gunst motiviert sein – aber durchaus aus anderen Gründen. Diese ergaben sich aus dem dargestellten Charakter der Historie als Untergattung und „Hilfsdisziplin“ von Literatur, Philosophie und vor allem Rhetorik: docere, delectare, movere – alle drei Funktionen musste die Geschichtsschreibung erfüllen. Dadurch war gerechtfertigt, dass „das Wahrheitskriterium gegenüber der ästhetischen Gestaltung des Textes, aber auch seinem ethischen Gehalt“ stets an zweiter Stelle rangierte.47

2. Christliche Geschichtsschreibung Ein wesentlich neues Element innerhalb der antiken Historiographie trat mit der spätantiken christlichen Geschichtsschreibung auf. Erst die nun entstehende Verbindung der griechischen Wurzeln mit den christlichen Elementen formte das Geschichtsdenken, das so bestimmend für die abendländische Kultur werden sollte. Diese überaus enge Beziehung von Christentum und historischem Denken hat Marc Bloch auf den Nenner gebracht: „Das Christentum ist eine Religion der Geschichtsschreiber.“48 Elementar für den christlichen Glauben ist, dass Gott sich in der Geschichte offenbart hat, und zwar nicht in Form unbestimmter Sagen und Mythen, sondern als konkrete, datierbare, funktionale Geschichte. Dabei handelt es sich sowohl um Wissen im Sinn von Tatsachenwissen als auch um Glauben.49 Es ist „geradezu ein Kernpunkt solch wissenden Glaubens, dass Gott dieser ‚geschichtliche‘ Gott“50 ist. Das Christentum ist eine „historische Religion“, d. h. eine Religion, deren grundlegende Dogmen auf bestimmten Ereignissen und somit auf der Echtheit der Überlieferung beruhen; die heiligen Bücher der Christen sind Geschichtsbücher.51 Wenn somit die Bedeutung des historischen Denkens für das Christentum plausibel ist, stellt sich andererseits die Frage, inwiefern sich das Aufkommen dieser neuen 47 48 49

50 51

Vgl. Hofmann 1997, 404 (Zitat ebd.). Das gilt, wie Hofmann betont, für die christlichen Historiker der Antike ebenso wie für ihre griechischen Lehrmeister. Bloch 1980, 26. „[T]o religious man, every moment of human activity is a revelation of divine workings. That is, religious man lives in an unbroken world, in which the appearance of gods and the appearance of human beings both occur in history without a differentiation in their sphere of action.“ (Den Boer 1991, 408 [Hervorhebungen ebd.].) Schmale 1985, 40. Vgl. Bloch 1980, 26. Bloch verweist auf das Credo: „,Ich glaube an Jesus Christus … gekreuzigt unter Pontius Pilatus … und am dritten Tag wieder auferstanden von den Toten‘. Hier sind die Anfänge des Glaubens auch seine Grundlagen.“ (Ebd., 49.) In Bezug auf die geschichtlichen Fakten als Basis der Religion gilt Ähnliches allerdings auch für das Judentum und den Islam (vgl. Momigliano 1981, 329).

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Geschichte

Religion auf das Geschichtsdenken und die Geschichtsschreibung der Antike auswirkte. Dabei waren weniger die kurzfristigen und praktischen Veränderungen der Geschichtsschreibung von Bedeutung – in Bezug auf die zuvor dargestellte Wahrheitsproblematik und den Charakter der Geschichtsschreibung als Teil von Rhetorik und Literatur änderte sich wenig –52 als die langfristigen mentalitätsgeschichtlichen Konsequenzen. Hier ist in allererster Linie das Aufkommen eines neuen Zeitverständnisses zu nennen, das als absolut, linear und aufsteigend gekennzeichnet werden kann. Waren ansonsten Zeitrechnungen bekannt, die mit einem relativen Maßstab operierten und ein für die jeweilige Gemeinschaft wichtiges Ereignis (Herrschaftsbeginn, Stadtgründung etc.) zum Nullpunkt hatten, so gab es für die (jüdisch-)christliche Religion einen absoluten Maßstab: Gott und die Erschaffung der Welt bzw. des ersten Menschen.53 Vor allem Eusebius und – wichtiger noch für das abendländische Denken – sein Übersetzer Hieronymus (ca. 340–420) waren es, die „die relativen Zeitsysteme der ehemals selbständigen politischen Gemeinschaften des Mittelmeerraums, einschließlich Roms, in einen diachronen und synchronen Zusammenhang mit dem ‚absoluten‘ jüdisch-christlichen System“54 brachten. Dadurch existierte erstmals ein universales und die gesamte Menschheit umfassendes Zeitsystem, in das alle erinnerten Ereignisse eingegliedert werden konnten. Den Maßstab dafür lieferte die Bibel, wodurch die Geschichtsschreibung und die Bibelexegese eng aneinanderrückten.55 Von zentraler Bedeutung war auch die christliche Auffassung von der Geschichte als Heilsgeschichte.56 Deren eschatologischer Charakter verlieh der christlichen Zeitauffassung einen linearen und aufsteigenden, fortschreitenden Charakter.57 Durch diese absoluten, einheitlichen, linearen und aufsteigenden Züge gewann das Zeitempfinden neue Züge, die die Bedeutung der Geschichte und der Geschichtsschreibung vergrößerten.

52 53 54 55 56 57

Vgl. Hofmann 1997, 404. Natürlich wurde das Wahrheitspostulat nun auch mit Bibel-Zitaten begründet, so etwa mit Hiob 13, 7: Gott bedürfe der Lüge nicht. Vgl. Schmale 1985, 31ff. Ebd., 32. Vgl. Seters 1983. Für die „Bedeutung des Begriffes Heilsgeschichte“ vgl. Alonso-Núñez 1991, 6. Ähnliche Tendenzen hatte es auch im Römischen Reich gegeben, das von seinen Bürgern als ein zuvor nicht gekannter Höhepunkt der Geschichte gesehen worden war.

II. Mittelalter

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II. Mittelalter Die mittelalterliche lateinische Geschichtsschreibung baute direkt auf dem Erbe der großen antiken Vorbilder auf. In der Tat war die Kontinuität zwischen der spätantiken und der mittelalterlichen Historiographie dermaßen groß, dass „die Frage, ob Cassiodor, Jordanes, Gregor, Isidor von Sevilla oder gar Paulus Diaconus antike oder mittelalterliche Historiographen sind, […] kaum präzise zu beantworten [ist]“58. Diese Geschichtsschreiber, vor allem Isidor von Sevilla (um 560–636) mit seinem Hauptwerk Etymologiae, übten eine Brückenfunktion aus, indem sie das antike Erbe zum Fundament für die Geschichtsschreibung des Mittelalters machten. Wesentlich war dabei erstens die Übernahme der traditionellen Anbindung der Geschichtsschreibung an die Rhetorik mit allen hieraus resultierenden Konsequenzen für Aufgabenstellung, Kompositionsregeln und Wahrheitsverständnis, aber auch ganz praktisch für die Professionalität und Institutionalisierung: Als eigenständige Wissenschaft gab es die Geschichtsschreibung eben gar nicht, sie hatte keinen eigenen Platz in den septem artes liberales, an Schulen und Universitäten wurde sie nicht gelehrt.59 Der zweite zentrale Charakterzug war – im Unterschied zur griechischen und römischen Antike bis zur Zeitenwende, aber in Fortführung der Spätantike – die überaus enge Anlehnung an die christliche Religion. Auch für das Mittelalter gilt die Feststellung, „dass das Verhältnis zur Geschichte geradezu ein Bestandteil der christlichen Religion dieser Epoche“60 war. Die enge Beziehung von Geschichte und Christentum galt nicht nur auf der inhaltlichen oder „mentalen“, sondern auch auf der personellen

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Schmale 1985, 17. Vgl. Grundmann 1957, 1273. Eine weitere Kontinuität zwischen der spätantiken und der mittelalterlichen (gelehrten) Geschichtsschreibung lag in der lateinischen Sprache. Franz-Josef Schmale weist daraufhin, dass es dadurch zu einer Differenz kam zwischen der Sprache, in der „gehandelt und erlebt oder auch zunächst sogar erinnert“ wurde, und der Sprache, in der die Erinnerungen fixiert wurden. Dadurch habe die Geschichtsschreibung von vornherein ein „Übersetzungsproblem“ erhalten (Schmale 1985, 16). 60 Ebd., 38. Ein solcher Zusammenhang ist für Schmale keineswegs selbstverständlich, selbst wenn man den Terminus „Religion“ durch „Weltverständnis“ oder „Weltanschauung“ ersetze. „Andererseits ist aber die mittelalterliche Situation auch kein Sonderfall. Ein solcher Bezug ist im Grunde überall dort geradezu selbstverständlich, wo Menschen und die sie umgebende Wirklichkeit, auch in der Dimension des Geschehens, in einer geglaubten, d. h. für real gehaltenen und in diesem Sinn gewussten Beziehung zu einem Gott oder den Göttern stehen. In dem Maße, in dem dies für das Mittelalter gilt, scheint dies allerdings nur im (jüdisch-)christlichen Kulturbereich möglich, und nur in ihm hat daher wohl auch die Geschichte als erinnerte Vergangenheit die Bedeutung erlangen können, die sie tatsächlich in der abendländischen Kultur – und durch sie heute allgemein – erhalten hat.“ (Ebd.)

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Geschichte

und institutionellen Ebene. So waren im Grunde alle wichtigen Geschichtsschreiber des Früh- und Hochmittelalters Kleriker, zumeist Mönche. Darüber hinaus diente die historia in dieser Zeit nicht mehr bloß der Rhetorik oder der Philosophie als Hilfsdisziplin, sondern ebenso sehr der Bibelexegese: als wörtliches Schriftverständnis, als sensus literalis, und somit als Basis für allegoria, tropologia und anagogia, die „geistige“ Schriftdeutung. „Historiae veritas […] fundamentum est intelligentiae spiritualis.“61 Auch die wichtigsten anderen Facetten der antiken Historiographie wurden von Isidor an die mittelalterliche Geschichtsschreibung vermittelt. Dazu gehörte beispielsweise, dass „der Geschichtsschreiber nur dann kreativ ist, wenn er auf Grund der eigenen Erfahrung schreibt, während er sich für die Beschreibung vergangener Ereignisse mit der Kompilation und dem Abschreiben älterer Werke begnügen musste“62. Die alten Texte besaßen eine Autorität, die von späteren Historikern im Prinzip nicht mehr hinterfragt werden konnte. Ihre Aufgabe lag also weniger in der kritischen Prüfung des Überlieferten als vielmehr in der neuen Anordnung des Stoffes und der sprachlichen Darstellung.63 Überhaupt herrschte „ein ungeheueres Vertrauen gegenüber allem Geschriebenen“64. Dies galt selbstverständlich für die Bibel, deren Aussagen ebenso wie die der Kirchenväter über jeden Zweifel erhaben waren; aber auch über die heiligen Schriften hinaus war „die Bereitschaft, etwas als plausibel gelten zu lassen, weitaus größer als unsere heutige, die durch den modernen Wissenschaftsbegriff eingeschränkt ist“65. Offenbar erschien jede schon früher gemachte und schriftlich überlieferte Aussage als wahr. Was man geschrieben fand, galt als richtig.66 Das verhinderte jedoch nicht einen völlig sorglosen und äußerst freien Umgang mit ebendiesen Texten. Die Geschichtsschreiber entstellten geradezu die Schriften ihrer Vorgänger und bauten neue Erzählungen und vom Aberglauben geprägte Märchen in fremde Berichte ein. Die Sorge um den richtigen Text, also um denjenigen, der dem Original am ähnlichsten war, beschränkte sich mehr oder weniger auf die Bibel.67

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62 63 64 65

66 67

Hieronymus, Epistula 129, zitiert nach Grundmann 1957, 1273. Zu der aktuellen geschichtswissenschaftlichen Debatte, ob die historia nun ein Zweig der Rhetorik oder der Theologie war, vgl. Schmale 1985, 76. Gross 1998, 35. Vgl. Kessler 1978, 83f. Schmale 1985, 74. Ebd., 73. S. auch Ehlers 1981, 433: „Über Anfänge der Quellenkritik stieß indes niemand hinaus, denn es gelang auch dialektisch geschulten Köpfen nicht, die Methode zur Unterscheidung von Wahr und Falsch auf die besonderen Bedingungen des Geschichtlichen umzusetzen.“ Vgl. Schmale 1985, 73f. Vgl. Gross 1998, 46.

II. Mittelalter

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Damit ist bereits die Frage nach dem Wahrheitsverständnis der mittelalterlichen Geschichtsschreibung berührt. Eine knappe Antwort auf diese Frage wäre der Verweis auf die im Grunde kontinuierliche Fortführung der antiken Tradition der rhetorischen Geschichtsschreibung. So galt auch im Mittelalter „die erste und selbstverständliche Forderung an die Geschichte, die Wahrheit über vergangenes Geschehen zu berichten“68. Über diesen Aspekt wurde auch bei dem Begründer der mittelalterlichen Historiographie die Geschichte definiert: „Historiae sunt res verae, quae factae sunt.“69 Solche „theoretischen“ Aussagen bezeugen den hohen Stellenwert des Wahrheitspostulats, zumindest aber „die Bemühungen fast aller mittelalterlichen Historiker, dem Leser eine möglichst hohe Meinung von ihrer Wahrheitsliebe beizubringen. Es gibt fast kein Geschichtswerk jener Zeit – die allerunpersönlichsten Annalen ausgenommen –, das nicht eine Beteuerung oder Versicherung dieser Art enthielte.“70 Die Aufgabenstellung der mittelalterlichen Historiographie folgte aus der von der Antike ererbten Tradition und besteht, miteinander verknüpft, im Bereitstellen von exempla und in der rhetorischen Dreifachfunktion des docere – delectare – movere. Inhalt, Zweck und Ziel für diese Funktionen waren nun zwar durch die christliche Überlieferung vorgegeben, an der rhetorischen Grundausrichtung und dem damit verknüpften Wahrheitskonzept änderte sich aber nichts. Die typische mittelalterliche Geschichte war „eine Reihe von Beispielen (exempla) für die christliche Auffassung des weltlichen Lebens und Gottes Eingreifen darin“71. Geschichtliche Situationen und Ereignisse, die zumeist die Kirchenväter, Päpste oder Kaiser betrafen, stellten deshalb weniger etwas zeitgebundenes und vergangenes Einmaliges dar als vielmehr die Konkretion und Explikation zeitloser Strukturen.72 Dadurch gewann die Geschichte, vor allem auf kirchlichem Gebiet, einen „Modell- und Rechtfertigungscharakter“, dem die Geschichtsschreibung zu dienen hatte.73 68

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73

Kessler 1978, 83. Marie Schulz überschreibt nicht umsonst das erste Kapitels ihres Buches über Die Lehre von der historischen Methode bei den Geschichtsschreibern des Mittelalters mit „Die Wahrheit als oberste Forderung der Geschichtsschreibung“ (Schulz 1909, 5). Isidor, Etymologien I, 44, zitiert nach Schulz 1909, 7. Ebd., 10. Für ein ganzes Arsenal an Beispielen vgl. ebd., 10f. Gross 1998, 36f. „Man ist versucht zu sagen: paradoxerweise war das Verhältnis zur Vergangenheit dadurch charakterisiert und so geartet, dass es die Zeitlichkeit der Geschichte im Sinne von Vorläufigkeit und Veränderbarkeit geradezu aufhob.“ (Schmale 1985, 62.) Vgl. ebd., 62f. (Zitat ebd., 62). In manchen Fällen allerdings war dieser „Modell- und Rechtfertigungscharakter“ der Geschichtsschreibung so mächtig, dass Geschichte sogar „erfunden“, fingiert wurde: „Bestimmte Verhältnisse der Gegenwart, deren Ursprung man nicht kennt, Institutionen, von deren Einrichtung man nichts weiß und deren Existenzberechtigung daher durch andere bestritten werden könnte, werden so durch die nachträgliche Schaffung von Vergangenheit legiti-

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Geschichte

Festzuhalten ist auf jeden Fall, dass es sich bei dieser „rhetorischen“ Geschichtsschreibung mit all ihren Methoden und Strategien nicht um eine bewusste Fälschung handelte, dass es also keine Diskrepanz zwischen der geschriebenen und der geglaubten Geschichte gab. Die „Geschichte“ wurde von den Historikern des Mittelalters „als Abbild der Wirklichkeit aufgefasst“74. Dies gilt auch und gerade für die Anlehnung der Geschichte an die Bibel und die anderen Überlieferungen. Historische Wahrheit war „das Spiegelbild der Kenntnis der Bibel, der Kirchenväter und der Autoren der Antike“75. Alles in allem, so schreibt Joachim Ehlers, war die Historiographie in der Geisteswelt des Mittelalters „ein diffuses Wesen: nicht Wissenschaft, eher Literatur, aber ohne Anrecht auf Fiktion; nicht Philosophie, eher Theologie, aber nur für ein nicht näher definiertes Feld zwischen Heilsgeschichte und alltäglicher Moral“76. Insofern sei die große Anziehungskraft der Historiographie auf viele führende Köpfe des Mittelalters zwar zunächst „kurios“, aber vielleicht auch gerade durch all diese Ambivalenzen und Unschärfen zu erklären, denn eben darin, im scheinbaren Chaos der Erscheinungen, müsse ein großer Reiz für denjenigen verborgen gelegen haben, der im gesicherten Stand christlicher Aufklärung sinndeutend und -vermittelnd wirken wollte.

III. Frühe Neuzeit (16.–18. Jahrhundert) 1. Humanismus Der Humanismus brachte – wie auf so vielen anderen Feldern der Kultur – auch eine Blüte der Geschichtsschreibung hervor. Ihre wichtigsten Träger waren Italiener, unter denen besonders hervorgehoben werden können: Leonardo Bruni (1369–1444), Kanzler von Florenz und Autor einer 1476 erstmals im Druck erschienenen Geschichte des florentinischen Volkes, Niccolò Machiavelli (1469–1527), der auch bedeutende historische Werke wie eine Geschichte von Florenz (1532) oder eine Biographie Castruccio Castracanis (1281–1328), zu seiner Zeit Herzog von Lucca, verfasste, sowie Francesco Guicciardini (1438–1540), der insofern seiner Zeit voraus war, als er die Geschichte

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miert.“ (Ebd., 63.) Als Beleg dafür, dass es sich dabei um ein „weitverbreitetes und für das Mittelalter typisches Verhalten“ (ebd.) gehandelt habe, führt Schmale zahlreiche Beispiele an, von denen hier nur eines wiedergegeben werden soll: die Bekräftigung des besonderen Rangs der Christengemeinde in der Hauptstadt Rom durch den Verweis auf die unbeweisbare Anwesenheit Petri in Rom (vgl. ebd.). Schulz 1909, 12. Gross 1998, 37. Ehlers 1981, 433.

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Geschichte

Festzuhalten ist auf jeden Fall, dass es sich bei dieser „rhetorischen“ Geschichtsschreibung mit all ihren Methoden und Strategien nicht um eine bewusste Fälschung handelte, dass es also keine Diskrepanz zwischen der geschriebenen und der geglaubten Geschichte gab. Die „Geschichte“ wurde von den Historikern des Mittelalters „als Abbild der Wirklichkeit aufgefasst“74. Dies gilt auch und gerade für die Anlehnung der Geschichte an die Bibel und die anderen Überlieferungen. Historische Wahrheit war „das Spiegelbild der Kenntnis der Bibel, der Kirchenväter und der Autoren der Antike“75. Alles in allem, so schreibt Joachim Ehlers, war die Historiographie in der Geisteswelt des Mittelalters „ein diffuses Wesen: nicht Wissenschaft, eher Literatur, aber ohne Anrecht auf Fiktion; nicht Philosophie, eher Theologie, aber nur für ein nicht näher definiertes Feld zwischen Heilsgeschichte und alltäglicher Moral“76. Insofern sei die große Anziehungskraft der Historiographie auf viele führende Köpfe des Mittelalters zwar zunächst „kurios“, aber vielleicht auch gerade durch all diese Ambivalenzen und Unschärfen zu erklären, denn eben darin, im scheinbaren Chaos der Erscheinungen, müsse ein großer Reiz für denjenigen verborgen gelegen haben, der im gesicherten Stand christlicher Aufklärung sinndeutend und -vermittelnd wirken wollte.

III. Frühe Neuzeit (16.–18. Jahrhundert) 1. Humanismus Der Humanismus brachte – wie auf so vielen anderen Feldern der Kultur – auch eine Blüte der Geschichtsschreibung hervor. Ihre wichtigsten Träger waren Italiener, unter denen besonders hervorgehoben werden können: Leonardo Bruni (1369–1444), Kanzler von Florenz und Autor einer 1476 erstmals im Druck erschienenen Geschichte des florentinischen Volkes, Niccolò Machiavelli (1469–1527), der auch bedeutende historische Werke wie eine Geschichte von Florenz (1532) oder eine Biographie Castruccio Castracanis (1281–1328), zu seiner Zeit Herzog von Lucca, verfasste, sowie Francesco Guicciardini (1438–1540), der insofern seiner Zeit voraus war, als er die Geschichte

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miert.“ (Ebd., 63.) Als Beleg dafür, dass es sich dabei um ein „weitverbreitetes und für das Mittelalter typisches Verhalten“ (ebd.) gehandelt habe, führt Schmale zahlreiche Beispiele an, von denen hier nur eines wiedergegeben werden soll: die Bekräftigung des besonderen Rangs der Christengemeinde in der Hauptstadt Rom durch den Verweis auf die unbeweisbare Anwesenheit Petri in Rom (vgl. ebd.). Schulz 1909, 12. Gross 1998, 37. Ehlers 1981, 433.

III. Frühe Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

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nicht mehr um der Philosophie, Politik oder Theologie, sondern um ihrer selbst willen untersuchen wollte. Deshalb kann seine Storia d’Italia (1561/64) als zugleich „letztes großes Werk des humanistischen Schemas […] und […] erstes großes modernes Geschichtswerk“77 gelten. Die Geschichtsschreibung dieser Zeit ist – analog zu den Renaissance-Bestrebungen des Humanismus im Allgemeinen – „im Wesentlichen als eine Erneuerung der rhetorischen Bildungstradition des Altertums anzusehen und in ihrer pädagogischen ebenso wie in ihrer literarisch-oratorischen und philosophischen Interessensrichtung auf diesem Hintergrund zu interpretieren“78. Aus der Tradition übernommen wurde also nicht zuletzt die Stellung der Geschichtsschreibung im Bildungskanon als formale Untergattung von Rhetorik und Literatur und als Komplementär- oder Hilfsdisziplin der Philosophie, deren theoretischen Gehalt sie durch historische Beispiele exemplarisch belegen sollte, um ihr so zu Anschaulichkeit und Glaubwürdigkeit zu verhelfen. Den praecepta der Philosophie hatte die Geschichtsschreibung auch im Humanismus die exempla gegenüberzustellen.79 Auch hielten die Humanisten weiter an der Lehre des Aristoteles fest, dass die Geschichtsschreibung eine notitia imperfecta sei, weil sie sich auf einzelne Tatsachen und Personen beschränke und daher keinen theoretischen Wert habe. Die historia ermögliche nur Empirie und keine rationale Erkenntnis und könne daher nur Beispiele für die Lebenspraxis der Zeitgenossen des Autors liefern. Auch die humanistische Geschichtsschreibung war also nicht so sehr auf die geschichtlichen Tatsachen als solche ausgerichtet als vielmehr auf ihre Funktion „als literarisches Medium und thematisch wie sprachästhetisch differenzierteren Ansprüchen genügende Quelle der historischen Information und Belehrung“80. Die Geschichte diente weiterhin vor allem als magistra vitae. Ferner konzentrierten sich die humanistischen Historiographen wie eh und je darauf, über ihre eigene Zeit zu berichten. Eine Aufarbeitung der ferneren Vergangenheit, die über eine Wiederholung oder Kompilation der klassischen Geschichtstexte hinausginge, verbot schon der große Respekt vor den antiken Vorbildern.81 77 78 79 80 81

Gross 1998, 69. Landfester 1972, 27. Vgl. ebd., 58. Zu Bildung und Erziehung im Humanismus vgl. Müller 1969. Landfester 1972, 79. Beibehalten wurde auch die Trennung der Arbeitsfelder: die Antiquare waren weiterhin die Sammler der Zeugnisse, die Historiographen die Erzähler der Begebenheiten. Hier sind besonders Flavio Biondo (1388–1463) und Lorenzo Valla (1405/07–1457) zu nennen, wobei Letzterer die philologische Kritik auf die mittelalterlichen Quellen anwandte und so etwa die „Konstantinische Schenkung“ als Fälschung entlarvte. Ein letzter wichtiger Punkt ist der – zunächst noch auf die Antiquitäten beschränkte – neue Umgang mit den antiken Quellen und Überlieferungen, der den alten Opti-

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Geschichte

Es gab aber auch einige neue Gedanken und Ansätze, die einen grundsätzlichen Kurswechsel der Historiographie in der Zeit nach dem Humanismus vorbereiteten: so etwa die Forderung des Francesco Guicciardini, die Historiographie nicht mehr als „Baumaterial“82 für Philosophie, Moral oder Politik zu benutzen, sondern die Geschichte um ihrer selbst willen zu erforschen. Auffällig ist ferner der Rückgang des kirchlichen Einflusses; zum einen verloren Mönche und Kleriker ihr Monopol auf die Geschichtsschreibung, zum anderen wurde die Geschichte nun nicht mehr im gleichen Maß wie zuvor „als das Handeln Gottes in der Welt, sondern als das Werk des Menschen im Vollzug seines Werdens verstanden“83. Die Geschichte war nicht mehr „nur empirische Erfüllung einer vorher bestimmten und geoffenbarten allgemeinen Gesetzlichkeit, sondern […] die Offenbarung selbst, in der erst der Mensch sich selbst handelnd erfährt und in seiner Objektivität bestimmt“84. Diese Einstellung wies auch der Geschichtsschreibung eine neue Funktion zu. Darüber hinaus dehnte sich „Geschichte“ zu einem universalen Begriff aus, der zunehmend die gesamte menschliche Lebenswelt umfasste, womit nun auch die engen historiographischen Grenzen des Politischen und Militärischen gesprengt wurden.85

1.1 Theorie Im Humanismus – aber erst in seiner Spätphase, als die Geschichtsschreibung dieser Epoche ihren Höhepunkt bereits überschritten hatte –86 trat noch eine weitere

82 83 84 85

86

mismus in Bezug auf deren korrekten Inhalt überwand. „Die äußerst schlechte Überlieferung der klassischen Texte, die man kontinuierlich entstellt und gefälscht hatte, die aber auch wegen des Wandels der Begriffe unverständlich waren, veranlasste die Humanisten, nach einem Verfahren zu suchen, welches den ursprünglichen Text oder wenigstens seine älteste Überlieferung wiederherstellen könnte. Neben der Feststellung der Form und des Sinnes eines bestimmten Urtextes finden wir auch methodische Reflexionen über das Idealbild der von späteren Verzerrungen ungetrübten ‚reinen‘ Quelle.“ (Gross 1998, 61.) Somit entwickelte sich – wenn auch zunächst noch außerhalb der Historiographie – die Quellenkritik, die Philologie als historisch-kritische Disziplin. Cicero, De oratore I, 201 (Cicero 1989, 58). Kessler 1971, 7. Ebd. Eckhard Kessler erläutert den Umgang mit der Vergangenheit – der auch jenes neue Element einschließt, dass die Humanisten ihre Zeit als eine von der Vergangenheit getrennte und somit eigenständige Epoche ansahen – in Worten, die sehr an die Hermeneutik Gadamers erinnern: „Der Humanismus sprach seit Petrarca von einem Dialog mit der Vergangenheit, der Antike, von einem Dialog, in dem beide Partner, Gegenwart und Vergangenheit, Fragen stellten und sich in Frage stellen ließen, von einem Dialog, der nicht unpersönlich-wissenschaftlich geführt wurde, sondern die beteiligten Personen in ihrer Individualität und historischen Bedingtheit zutage treten ließ.“ (Ebd., 16.) Die wichtige Ausnahme stellt Giovanni Pontano (1429–1503) mit seinem Actius dialogus (Ende 15. Jh.) dar (vgl. ebd., 8).

III. Frühe Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

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Neuerung auf: „[N]ach mehr als 2000 Jahren abendländischer Geschichtsschreibung wird – wenn man von einzelnen und vereinzelt gebliebenen Ansätzen absieht – im 16. Jahrhundert zum ersten Mal intensiv und in öffentlicher Diskussion versucht, das Wesen der Geschichtsschreibung und mit ihm die Situation des Menschen gegenüber seiner Geschichte theoretisch zu klären.“87 Den Anstoß zu dieser regen theoretischen Debatte, die auf ihre Weise einen Schritt zu einer Verwissenschaftlichung bedeutete, gab Mitte des 16. Jahrhunderts der unvollendete Dialogo della istoria von Sperone Speroni (1500–1588). Weitere wichtige Beiträge lieferten der wie Speroni zum „Paduaner Kreis“ gehörende Francesco Robortello (1516–1567), Francesco Patrizi (1529–1597), Giovanni Antonio Viperano (ca. 1530–1610) sowie Alessandro Sardi (1520–1588), dessen De i precetti historici (1586) auch den Abschluss des lebhaften Teils der Debatte bildeten. Außerhalb Italiens sind vor allem François Baudoin (1520–1573), dessen Entwurf einer historia universa von 1561 „im Bewusstsein des Ganzen antike und biblische, sakrale und profane Geschichte versöhnt“88, sowie Jean Bodin (1530–1596) mit seinem berühmten Methodus ad facilem historiarum cognitionem (1566) zu nennen. Diese beiden Franzosen stehen auch für den Aufschwung der Jurisprudenz zur neuen Führungswissenschaft, für welche die Historie nun wie früher für die Philosophie oder die Theologie eine propädeutische Funktion wahrzunehmen hatte. Die Ergebnisse der geschichtstheoretischen Erörterungen dieser Zeit waren durch weitgehende Kongruenz mit der historiographischen Praxis gekennzeichnet und im Grunde nur systematischer und ausführlicher als die methodischen Reflexionen in den Vor- und Randbemerkungen der antiken und mittelalterlichen Geschichtswerke. Charakteristisch für diese Geschichtstheorie – aber eben in enger Anlehnung an die antike Historiographie – war „die enge Verbindung und gegenseitige Durchdringung von Reflexionen über Methode, Gegenstand und ‚Nutzen‘ der historischen Erkenntnis“89. Auch in der Geschichtstheorie standen moralisch-utilitaristische Gedanken im Vordergrund. Entsprechend dem Verständnis von Historie als Literaturgattung drehten sich „die Fragen nach Wesen und Funktion der historischen Erkenntnis hauptsächlich um das sachlich und stilistisch einwandfreie Schreiben und das korrekte Lesen eines Werkes“90, während auf der methodologischen Ebene die Probleme bei der Auswahl unter den Geschehnissen, der Organisation des Materials oder der Prüfung der Quellen und Überlieferungen erörtert wurden.

87 88 89 90

Ebd., 11. Zum Folgenden vgl. ebd., 8–10. Günther 1980, 61. Landfester 1972, 79. Gross 1998, 60.

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1.2 „Wahrheit“ Wie in der Antike und im Mittelalter wurde das Wahrheitspostulat als zentral für die Geschichtsschreibung angesehen, wurde der Anspruch, wahres Geschehen zu schildern, immer wieder betont.91 Die Historie sollte narratio vera sein, die ihre Stilmittel im Einklang mit der historischen Realität einsetzt. Wie in der gesamten Historiographiegeschichte bis dahin war Wahrheit in allererster Linie an die Persönlichkeit des Historiographen gebunden und nicht an technische Methoden zur Behandlung der Quellen und Überlieferungen. In Bezug auf eine „wissenschaftliche Wahrheit“ äußerte man sogar ausdrücklich Skepsis. Diese Bedenken waren einerseits empirischer Natur, d. h., sie resultierten aus der Erfahrung, dass Augenzeugenberichte zu ein und demselben Geschehen genauso widersprüchlich und unvollständig waren wie die historischen Überlieferungen. Andererseits beruhten sie auf grundsätzlicher Skepsis: Die Geschichte, so die Überzeugung, zeige die Dinge notwendigerweise im Zerrspiegel der subjektiven Beteiligung, der leidenschaftlichen Parteinahme, denn Fakten könne man nur erfahren von Personen, die beteiligt waren, der Zeuge aber – ob als Historiker oder Informant – sei notwendigerweise parteiisch.92 Die Konsequenz aus dieser Unerfüllbarkeit der Wahrheitsforderung lautete: „Wahrheit als alleiniges und absolutes Kriterium macht Geschichte unmöglich.“ 93 Oder wie es der humanistische Geschichtsdenker Uberto Foglietta (1518–1581) ausdrückte: „Wenn Geschichte nur die wahre Geschichte ist, dann dürfte es wohl keine Geschichte geben.“94 Geschichte wurde nicht als überindividuelle, zeitlose Wissenschaft, sondern als das Werk menschlicher Praxis verstanden. Im Bereich der res gestae als den menschlichen Dingen – im Unterschied erstens zu den übernatürlichen Dingen, die geglaubt werden müssen, und zweitens zu den natürlichen Dingen, die prinzipiell beweisbar und objektiv sind – wurde dabei eine kategoriale Trennung vorgenommen, die parallel zu der alten Grenze zwischen Annalen und Historien verläuft. Auf der einen Seite standen die reinen Fakten, die Ergebnisse menschlichen Tuns, wie eine gegründete Stadt oder ein verwüstetes Land; diese seien (zumindest zeitweise) Gegenstand von Erfahrung und rückten somit in die Nähe von Objektivität und Wahrheit, weshalb auch die Annalen als Darstellung reiner Fakten „eine praxisfreie, wissenschaftliche Objektivität“ beanspruchen könnten.95 Aber die Annalen – und das wurde als ihr entscheidender 91 92 93 94 95

Vgl. Landfester 1972, 94–96 (dort zahlreiche Quellennachweise). Vgl. Kessler 1971, 24, der sich auf Francesco Patrizi, Della historia diece dialoghi (1560), beruft. Ebd. U. Foglietta, De similitudine normae Polybianae (1574), 114, zitiert nach Kessler 1971, 24. Vgl. ebd., 29f. (Zitat ebd., 30).

III. Frühe Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

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Mangel gesehen – erfassten nicht das Wesen der Geschichte: die Ursachen der Fakten, i. e. menschliche Handlungen, produziert durch menschliche Pläne, Leidenschaften, Hoffnungen. Das Erstellen und Erforschen von Annalen habe daher keine andere Bedeutung als „das Blasen der Bälge für das Tönen der Orgel“96. Das wahre Wesen der Geschichte offenbare sich erst in der Praxis: Erst wenn sie die Richtigkeit der Deutung der res gestae und der Verknüpfung der Fakten mit ihren Ursachen bestätige, wenn also diese Deutung die Praxis ermögliche, erst dann sei die Objektivität der Geschichte als Objektivität der menschlichen Praxis gefunden.97 Als Kriterium der Objektivität wurde somit der Anspruch auf faktische Wahrheit dem Nutzen untergeordnet, denn nur um des Nutzens willen sei die Wahrheit der Fakten anzustreben: „Wahrheit ist in der Geschichte nicht als ‚wissenschaftliche‘ Wahrheit zu finden und darum als Kriterium der Geschichte untauglich. An ihre Stelle setzen unsere Theoretiker die der menschlichen Praxis eigene Objektivität, die sich in Gelingen und Versagen, in Treffen und Verfehlen unserer Ziele offenbart.“98

Insofern widersprach es auch nicht dem Wahrheitsanspruch der humanistischen Geschichtsschreiber, wenn sie kompromisslos rhetorische Mittel einsetzten oder Hervorhebungen und Auslassungen vornahmen. Auch ein Vorgehen wie das von Machiavelli in seiner Vita di Castruccio Castracani da Lucca (1520), der „seinen Helden in Legenden verstrickte, sich Begebenheiten ausdachte, Zitate, Anekdoten und Personenbeschreibungen von klassischen Autoren übernahm und Ereignisse verwechselte“99, erscheint dann in einem anderen Licht; von hier aus nämlich könnten „diese ‚Verfälschungen‘ im Allgemeinen als Absicht des Verfassers gebilligt [werden], die Geschichte nicht als Chronologie zu betrachten, sondern als logisches Ergebnis, aus dem man eine Lehre ziehen sollte“100. Ganz „in Umkehrung unserer nachcartesianischen Vorstellungen“ wurde also den Annalen, der bloßen Darstellung der faktischen Wahrheit, die Bedeutung abgesprochen. „Erst wenn das nackte Faktum den Schmuck und die Pflege der Rhetorik genießt, wenn im Licht der menschlichen Ursachen die tote Wahrheit vermenschlicht und zum Leben zurückgerufen worden ist, hat Geschichte ihr Wesen als Lehrmeisterin des Menschen, hat sie ihre Verbindlichkeit und Objektivität gefunden.“101 Giacomo Aconcio, Delle osservationi et avvertimenti che aver si debbono nel legger delle historie, ed. Giorgio Radetti (1944), 313, zitiert nach Kessler 1971, 30. 97 So Kessler ebd. 98 Ebd., 31. 99 Gross 1998, 67. Vgl. Machiavelli 1969, 30–89. 100 Calani 1969, 15. 101 Kessler 1971, 32.

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Diese Beobachtungen treffen auf die praktische Historiographie und auf die Erörterungen in den theoretischen Werken gleichermaßen zu. Auch die Theoretiker sahen „in der Erforschung der Wahrheit des Geschehenen nicht das letzte und einzige Ziel des Historikers“102. Wenn sie sich also nicht mit der Verbesserung der historiographischen Methoden beschäftigten, sondern stattdessen andere, unwissenschaftliche Kriterien der Geschichte erörterten, so geschah dies „nicht aus Nachlässigkeit und Undifferenziertheit, wie man sie im Frühstadium einer Wissenschaft wohl beobachten kann, sondern beruht[e] auf einem prinzipiellen Zweifel an der Erfüllbarkeit und Sachlichkeit der Wahrheitsforderung für die Geschichte“103.

2. 17./18. Jahrhundert „In den Tiefen des Bewusstseins der Menschen“, so schreibt Paul Hazard in seinem Buch über Die Krise des europäischen Geistes zwischen 1680 und 1715, „machte die Geschichte bankrott; das eigentliche Gefühl für das Geschichtliche war im Schwinden. Man wandte sich von der Vergangenheit ab, weil sie schwankend, unmöglich zu erfassen und immer falsch erschien. Man verlor das Vertrauen zu denen, die sie zu kennen behaupteten; entweder irrten sie sich oder sie logen. Etwas wie ein großer Erdrutsch vollzog sich, und danach gab es nichts Gewisses mehr als die Gegenwart; und alle Wunschbilder mussten sich fortan in die Zukunft flüchten.“104 Für diese Dürre auf dem Feld der historischen Erkenntnis, die so sehr im Gegensatz zum 16. Jahrhundert steht, als mit Machiavelli und Guicciardini die Historie und mit Patrizi, Baudoin und Bodin die Theorie der Geschichte eine Blütezeit erlebt hatte, gab es mehrere Ursachen. An erster Stelle kann hier genannt werden, dass mit Cartesianismus, Mathematik und Naturwissenschaften ein neues Wissenschaftsverständnis die Vorherrschaft errang, dem die Historie nicht mehr gerecht wurde.105 Mit dem Namen René Descartes (1596–1650) ist ein Konzept rationaler Wissenschaftlichkeit verknüpft, dessen Wahrheitskriterium das Logische und Distinktive ist und in dessen Mittelpunkt die Mathematik steht. Der Cartesianismus interessierte sich vor allem für das Dauerhafte, das Beständige, während der geschichtliche Wandel, der sich nicht mit der Mathematik begründen ließ, für ihn nur eine zufällige, unerklärliche Folge von Ereignissen darstellte. Dieser „ahistorische Rationalismus“ meinte, dass die Geschichtsschreibung die beständigen göttlichen Prinzipien nicht entdecken könne und ihr daher nur ein bescheidener 102 103 104 105

Ebd., 23. Ebd. Hazard 1939, 57. Vgl. zur „Geburt der modernen Wissenschaft in Europa“ Rossi 1997.

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Platz innerhalb der Hierarchie des Wissens zukomme. Weil die Geschichte nicht als eine Wissenschaft in diesem neuen Sinn zu behandeln war, musste sie zwangsläufig „zu einer unsicheren Grenzprovinz in der Gelehrtenrepublik werden“106. Daneben geriet die traditionelle Praxis der rhetorischen Geschichtsschreibung auch unter politisch-weltanschaulich begründeten Beschuss, weil zunehmend klar wurde, dass sie eben auch ganz anderen Zwecken als dem der magistra vitae diente. Die Historiker schrieben zwar, so der Vorwurf, „wunderschöne Vorworte, sie erklärten, ihre lebhafteste Sorge sei, unparteiisch zu sein“, aber weil sie vor allem „ihren König, ihr Land, ihre Religion zu verteidigen“ hätten, nähmen sie bei jeder Gelegenheit Partei und „suchten nicht mehr, die Wahrheit zu finden, sondern ihre Thesen zu verteidigen“.107 Dementsprechend lautete die Kritik der Freigeister, dass die Geschichte unzuverlässig, falsch und käuflich sei.108 Eine parteiische Geschichtsschreibung sei ja auch grundsätzlich kaum zu verhindern, denn: „Es wäre sehr schwer, ja fast unmöglich, ein vollkommener Geschichtschreiber zu seyn. Wer ein solcher seyn solte, müsse, wenn es angehen könnte, weder einen Orden, noch eine Parthey, noch eine Landsmannschafft noch eine Religion haben.“109

Neben diesen Angriffen von außen war auch die Entwicklung innerhalb der Geschichte durch Kritik und Zweifel geprägt, was in einem Wort zum Ausdruck gebracht wurde, „das immer wieder auf die Lippen tritt, in einem Wort, das man verdammt, aber doch nicht fähig ist zu vermeiden“110: Pyrrhonismus. Der Pyrrhonismus zog unter Berufung auf die antike Skepsis die Möglichkeit von 106 Günther 1975, 636. Zur Geschichte als „Ruine“, als „geborstene Säule“ s. ebd. Ein illustres Beispiel für die durch Descartes, Newton und das Aufkommen der modernen Naturwissenschaften verursachten Veränderungen im Wissenschaftsgefüge und gerade die Auswirkungen auf die Historie bildet John Craigs (1663–1731) Schrift Theologiae Christianae Principia Mathematica (1699), in welcher er den Versuch unternahm, mithilfe komplizierter mathematischer Formeln die Überzeugungskraft mündlicher und schriftlicher Überlieferungen zu berechnen (s. Craig 1964). Dabei kam Craig zu einer im Quadrat der Zeit abnehmenden und schließlich erlöschenden Glaubwürdigkeit historischer Fakten, womit nun sowohl die traditionell negative Einschätzung der „alten Geschichte“ als auch der damaligen Gerichtspraxis in England wissenschaftlich bestätigt schien. 107 Hazard 1939, 59. Dieses Phänomen trat zum ersten Mal in aller Deutlichkeit im Zuge der konfessionellen Spaltung vor Augen, als die damaligen Monopolisten der Geschichtsschreibung, die Kleriker, plötzlich in verschiedenen, ja feindlichen Lagern standen (vgl. Koselleck 1977, 36). 108 Das führte auch zu dem sprichwörtlichen Vorwurf: „Aus der Geschichte kann man alles beweisen.“ (Wander 1964, 1593.) Oder, bildhafter ausgedrückt: „Die Geschichte ist der unversiegbare Dorfbrunnen, aus dem jeder das Wasser des Beispiels schöpft, um seinen Unflat abzuwaschen.“ (Ebd.) 109 Johann Heinrich Zedler, Großes vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste XIII (1735), 286, zitiert nach Koselleck 1977, 25. 110 Hazard 1939, 61.

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Erkenntnisgewinn generell in Zweifel, wobei er auch vor den Evangelien nicht haltmachte. Ebenso stellte er die Würde der Geschichte in Frage und betrachtete sie lediglich als Rumpelkammer, der man beliebige Informationen entnehmen könne. Man erwartete von der Historie grundsätzlich nicht mehr die Wahrheit, sondern allenfalls eine bestimmte Wahrscheinlichkeit oder eine teilweise Gewissheit.111 Dieser absolute Skeptizismus112 manifestierte sich beispielsweise in dem vielfach übersetzten und einflussreichen Historischen und Critischen Wörterbuch113 von Pierre Bayle (1647–1706), einem Wegbereiter der Aufklärung und vor allem der Encyclopédie. Komplementär zu dieser Skepsis gehörte Bayle auch zu den führenden Köpfen der „Erudition“, einer Frühform der quellenkritischen Geschichtsforschung. Die Beschäftigung mit der Geschichte war in dieser Zeit, gegen Ende des 17. Jahrhunderts, nämlich nicht nur durch den Pyrrhonismus, sondern auch durch die Entstehung der Quellenkritik und der historischen Hilfswissenschaften wie der Diplomatik, der Paläographie oder der Chronologie geprägt. Genannt sei hier vor allem Jean Mabillon (1632–1707), dessen Werk De re diplomatica eine derart bahnbrechende Wirkung hatte, dass Marc Bloch seine Veröffentlichung im Jahr 1681 nicht nur als den „entscheidende[n] Augenblick in der Geschichte der kritischen Methode“, sondern sogar als „ein bedeutendes Datum der menschlichen Geistesgeschichte“ als solcher bezeichnet hat.114 Nun führten Quellenkritik und Erudition mit ihren Entlarvungen von Geschichtsfälschungen und mit all ihren Wörterbüchern, Repertorien und Quellensammlungen zwar zu einem weiteren Bruch mit den humanistischen, literarisch-rhetorisch erzählenden Historien, doch kam es einstweilen kaum zu positiven Auswirkungen auf die Geschichtsschreibung. Erudition und Historie blieben bis zum späten 18. Jahrhundert zwei getrennte Disziplinen.115 Der Wahrheitsgehalt, der der historischen Erkenntnis 111 So neben Chladenius und dem Abbé de Saint-Pierre (1658–1743) etwa Johann Matthias Schroeckh (1733–1808): „Doch wenn man wegen des Mangels oder Widerspruchs der Nachrichten nicht immer zu einer völligen Gewissheit in der Geschichte gelangen kann; so kann man sich auch oft an einer starken Wahrscheinlichkeit begnügen.“ (J. M. Schroeckh, Lehrbuch der allgemeinen Weltgeschichte [1774], 4, zitiert nach Witschi-Bernz 1972, 68, Anm. 60.) Dieser Trend wurde durch Constantin François de Volney (1757–1820) zum Ausdruck gebracht: „[B]ecause this name, to me, does not appear applicable except to demonstrable knowledge, such as mathematics, physics, geography” – but as a „systematic art of calculations which are only probable, such as is the art of medicine.“ (C. F. de Volney, Leçons d’histoire [1800], 140f., zitiert nach Witschi-Bernz 1972, 68.) 112 „New Philosophy calls all in doubt.“ (John Donne, An Anatomie of the Worlde, First Anniversary [1611], in: ders., Poems with Elegies on the Author’s Death, ed. John Marriot [1633], 241, zitiert nach Günther 1975, 635.) 113 Bayle 1974–1978, auf Deutsch zuerst erschienen 1741–1744. 114 Bloch 1980, 96. 115 Vgl. Gross 1998, 83f.

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zugewiesen wurde, sank also: War in der bisherigen Tradition zumeist die Wahrheit des historischen Einzelnen unter dem poetischen Allgemeinen eingestuft worden, so verlor das historische Wissen nun auch noch die „bloße Wahrheit faktischer Gewissheit“116: „Von abwesenden Dingen können wir niemahlen unstreitige Wahrheiten vermittels einer klaren und deutlichen Erkäntnüß begreifen/sondern alles/was wir davon bejahen/ ist entweder nur wahrscheinlich oder doch sehr dunckel und confus.“117

Die Historie als „explicatio et notitia rerum singularium, sive individuorum“ müsse – schon allein wegen der grenzenlosen und immer weiter anschwellenden Masse der Fakten und deren Unbestimmtheit – eine „notitia imperfecta“ bleiben.118 Die Geschichtsschreibung befand sich also zu Beginn des 18. Jahrhunderts in einer schweren Krise; der Pyrrhonismus als „typisches Schwellenphänomen“119 im Innern und die Angriffe von außen führten dazu, dass das traditionelle, rhetorische Modell der Historiographie als überlebt und unmodern fallen gelassen wurde. Dadurch ergab sich die Notwendigkeit, aber auch die Möglichkeit, auf dieser Brache nun eine neue Geschichtsschreibung zu entwickeln – mit angepassten Inhalten und Methoden, vor allem aber mit der Fähigkeit, sich in den Zeiten der modernen Wissenschaftlichkeit behaupten zu können. Dieser Zwang zu einer (wie auch immer gearteten) Wissenschaftlichkeit bildet das zentrale Moment in der weiteren Entwicklung der Historiographie.120 Dabei gab es grundsätzlich zwei mögliche Wege: zum einen den Versuch, die in ihrer Klarheit und Sicherheit als vorbildlich geltenden Methoden der Naturwissenschaften und der Mathematik auf die Geschichtsschreibung zu übertragen, zum anderen die Begründung einer eigenen Wissenschaftlichkeit der Historiographie.121 116 Günther 1975, 638. Zu den verschiedenen Weisen, in denen historia den scientiae und ihrem Inbegriff, der Philosophie, in der frühen Neuzeit (von der Renaissance bis an die Schwelle des 18. Jahrhunderts) dichotomisch entgegengestellt wurde, vgl. Seifert 1976. 117 Christian Thomasius, Einleitung zu der Vernunfft-Lehre II (1691), 243 (§ 6), zitiert nach Günther 1975, 638. 118 So Bartholomäus Keckermann (um 1572–1608) in seinem De natura et proprietatibus historiae commentarius von 1610 (zitiert nach Günther 1975, 637). Diese Einschätzung galt auch noch für die folgende Zeit, wie Günther betont. 119 Völkel 1987, 340. 120 Manche versuchten sogar, die Geschichte als die wissenschaftlichste aller Wissenschaften zu inthronisieren, so etwa Friedrich Schlegel: „Da überhaupt alle Wissenschaft genetisch ist, so folgt, dass die Geschichte die universellste, allgemeinste und höchste aller Wissenschaften sein müsse […].“ (Schlegel 1960, 3.) 121 „One of the legacies of the seventeenth century was a faith in the admirable clarity and certainty of mathematics. The early eighteenth century, with its growing interest in history, could not help

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2.1 Vico Wohl der erste wichtige Versuch überhaupt, die Wissenschaftlichkeit der Historie und ähnlicher Forschungsrichtungen gegenüber der Mathematik und den „Naturwissenschaften“ zu retten, war die Ausrufung der „Geisteswissenschaften“ durch Giambattista Vico (1668–1744). Er entwickelte eine „neue Wissenschaft“ (Scienza nuova, so der Titel seines 1725 veröffentlichten Hauptwerkes), „eine Erkenntnistheorie [...], die erstmalig das Kernproblem des geisteswissenschaftlichen Verstehens herausstellte“122. Der „Welt der Natur“, für die Denker wie Galilei, Bacon und Descartes die Erkenntnisregeln festgelegt hatten, setzte Vico die „Welt der Geschichte“ entgegen. Im Unterschied zu der von Gott geschaffenen und für den Menschen nicht einfach zu begreifenden Natur sei die Welt der Geschichte für den Menschen zu verstehen, „da doch, nach unserm ersten unbezweifelbaren Prinzip, die historische Welt ganz gewiss von den Menschen gemacht worden ist und darum ihr Wesen in den Modifikationen unseres eigenen Geistes zu finden sein muss; denn es kann nirgends größere Gewissheit für die Geschichte geben als da, wo der, der die Dinge schafft, sie auch erzählt“123.

Im Hinblick auf diese Welt sei der Mensch gewissermaßen ein kleiner Gott, „denn in Gott ist Erkennen und Tun dasselbe Ding“124. Der Mensch erschaffe die Geschichte und sei deshalb – und nur deshalb – in der Lage, sie zu verstehen.125

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but hope to transfer to history the methods of mathematics and the natural sciences in general. It sustained a hope that the facts, because they held the truth, would speak for themselves.“ (WitschiBernz 1972, 65.) Für einen solchen Versuch, die Geschichte an die Naturwissenschaften zu koppeln, s. Thomas-Jean Pichon, La Physique de l’histoire (1765) (vgl. Witschi-Bernz 1972, 66 [mit Anm. 54]). Apel 1955, 153. Vgl. im Zusammenhang mit dem Hermeneutikproblem auch Texte, in denen Vico mit Wilhelm Dilthey in Zusammenhang gebracht wird: Hodges 1969; Rickman 1969. Vico 1924, 139. Ebd. Das Bild vom „kleinen Gott“ stammt von Karl-Otto Apel (Apel 1955, 155). Durch die hier angesprochene Verbindung zwischen göttlicher Vorsehung und menschlichem Geschichtswirken ist es laut Vico dem Historiker prinzipiell möglich, alle Völker und Epochen zu verstehen: „Nach diesem allen müssen wir von irgend einer Erkenntnis Gottes ausgehen, in der Überzeugung, dass auch die wildesten, rohesten und grausamsten Menschen ihrer nicht entbehren.“ (Vico 1924, 131.) Zu diesem Punkt und zu der Vorgeschichte, dem auf Nikolaus von Kues (1401–1464) zurückgehenden Topos, dass der Mensch nur das präzise verstehe, was er selbst gemacht habe, vgl. Apel 1955, 149–155. „Die bei Cusanus im Zeichen des alter deus-Motivs begonnene Linie des repräsentativen Nachverstehens der göttlichen Schöpfung durch die Mathematik“ (ebd., 150) bezog sich damals noch auf die Naturwissenschaften bzw. die Mathematik und setzte sich bei Leonardo da Vinci, Kepler und Descartes bis hin zu Kant fort: „Wir verstehen aber nichts recht als das, was wir zugleich machen können, wenn uns der Stoff dazu gegeben würde.“ (Immanuel Kant, Reflexionen, Nr. 395, zitiert nach Apel 1955, 152.)

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Die Geschichte ähnele also weniger der Natur als der Geometrie, die ebenfalls Erfindung und Beobachtungsinstrument zugleich sei. Und ähnlich der Geometrie sei auch die Geschichte an bestimmte Regeln und feste Formen gebunden, die eine „ewige ideale Geschichte“ hervorbrächten und die „Geschichten aller Völker mit ihrem Aufstieg, Fortschritt, Zustand, Verfall und Ende“ einer wissenschaftlichen Betrachtung zugänglich machten. Allen Völkern gemeinsam sei nämlich, dass aufgrund der göttlichen Vorsehung „der allgemeine Sinn des menschlichen Geschlechts“ von einer „notwendigen Harmonie der menschlichen Dinge“ bestimmt werde, einer Harmonie, „die die ganze Schönheit der historischen Welt ausmacht“. Dadurch erlange die Wissenschaft die Möglichkeit des Beweises, „dass die Dinge so, wie sie es darstellt, geschehen mussten, geschehen müssen und werden geschehen müssen, nachdem einmal die göttliche Vorsehung diese Ordnungen eingesetzt hat“.126 Im Grunde waren in diesem Entwurf Vicos beide Konzepte zur Verwissenschaftlichung der Historiographie enthalten. Zum einen erlaubte der Glaube an die eine „ewige ideale Geschichte“, deren Verlauf an bestimmte Gesetzlichkeiten gebunden ist, eine Anbindung an die Erkenntnismöglichkeiten von Mathematik und Naturwissenschaften. Zum anderen aber wurde hier erstmals konkret eine eigenständige Erkenntnisweise der Historie behauptet, die die Erforschung der geschichtlichen Welt von der der Natur unterscheidet und sich auf das „Verstehen“ gründet. Mit der Begründung dieser Fähigkeit in der Identität von Schaffendem und Beobachtendem wurde ein Topos geschaffen, der für die gesamte weitere Entwicklung der historischen Hermeneutik bestimmend werden sollte. Allerdings setzte diese Wirkung erst mit Verzögerung ein; zu Lebzeiten blieb Vico so gut wie unbeachtet.

2.2 Chladenius Weitaus mehr Aufmerksamkeit – gerade im Bereich der praktischen Geschichtsschreibung – gewann Johann Martin Chladenius (1710–1759), der hier eine geradezu „wegweisende Rolle“127 spielte. Die Erkenntnistheorie, die er in den beiden Werken Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften (1742) und Allgemeine Geschichtswissenschaft (1752) entwickelte, stellt einen Meilenstein in der Entwicklung der Geschichtsschreibung und gleichzeitig ein „Übergangsphänomen“128 dar: Einerseits lieferte Chladenius die Erkenntnistheorie der vormodernen historia und brachte 126 Alle Zitate dieses Absatzes aus Vico 1924, 138f. 127 Koselleck 1985, VII. Zur Biographie Chladenius’ sowie zu Entstehung, Inhalt und Aufnahme der Allgemeinen Geschichtswissenschaft vgl. Friedrich 1985. 128 Friedrich 1985, XXV.

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sie auf den Begriff,129 andererseits kann er als „Begründer der neueren Historik“130 gelten. Chladenius’ Verwurzelung in der traditionellen Geschichtsschreibung zeigt sich in einer Reihe von Merkmalen, so etwa im Fehlen der Singularform „Geschichte“ oder in der Auffassung vom Historiker als Augenzeugen.131 Die „Alte Geschichte“ begann für ihn dann, wenn keine Augenzeugen mehr leben und direkt vermittelnde Ohrenzeugen nicht mehr zu befragen sind. Chladenius war auch noch vom Pyrrhonismus geprägt, weshalb er der historischen Erkenntnis nur den Rang der Wahrscheinlichkeit einräumte und sie auf einer Mittelposition zwischen Wissen und Nichtwissen ansiedelte. Als einer „der letzten beachtenswerten Wortführer der Pyrrhonismusdebatte“132 nahm er jedoch eine gemäßigte Position ein, weil er den methodischen Einsatz der Skepsis billigte, ihre Fixierung als erkenntnistheoretischen Endpunkt aber nicht akzeptierte. Eine ähnliche Zwischenposition nahm Chladenius ein, wenn er zwar einerseits davon ausging, dass die reale Geschichte und die Vorstellung von ihr normalerweise zusammenfallen, er andererseits aber deren methodische Trennung bei der historiographischen Auslegung für unerlässlich hielt: „Die Geschichte ist einerlei, die Vorstellung davon aber ist verschieden und mannigfaltig.“133 Hatten Lukian und mit ihm die gesamte rhetorische Geschichtstradition einst den vaterlandslosen Geschichtsschreiber gefordert und war dann später mit dem Aufkommen des Pyrrhonismus kritisiert worden, dass die Historiker aus patriotischer Gesinnung und im Dienst von Königen und Fürsten schrieben, so stellte Chladenius nun fest: Es „irren die sehr, die verlangt haben, dass ein Geschicht[s]schreiber sich wie ein Mensch ohne Religion, ohne Vaterland, ohne Familie anstellen soll; und haben nicht bedacht, dass sie unmögliche Dinge fordern.“134

Für Chladenius war die Relativität aller Anschauungsurteile, aller Erfahrung, die Möglichkeit einander widersprechender und doch wahrer Berichte genauso unausweichlich wie die Perspektivität auch der späteren Forschung. Er relativierte somit den Wahrheitsaspekt der Geschichtsschreibung, historisierte ihn gewissermaßen selbst. 129 Vgl. Koselleck 1977, 26. 130 Wach 1966, Teil III, 21f. (dort hervorgehoben). Zu einer harschen Kritik dieser Ansicht vgl. jedoch Gadamer 1990, 186f. 131 Vgl. Chladenius 1985, Kap. XI. 132 Völkel 1987, 343. 133 Zitiert nach Koselleck 1979, 26 (dort ohne Nachweis). Vgl. Chladenius 1969, 185ff., 188f.; Chladenius 1985, 74f., 100ff., 126f. (Urbild der Geschichte wird schon bei der Erzeugung verwandelt), 152f. 134 Ebd., 151.

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Der alte Glaube an eine objektive Wahrheit der Geschichte wich der Wahrscheinlichkeit und dem „Sehepunkt“. Die Lehre vom Sehepunkt stellte eine entscheidende Neuerung dar. „Der Sehepunkt“, so lautet Chladenius’ Definition, „ist der innerliche und äußerliche Zustand eines Zuschauers, insofern daraus eine gewisse und besondere Art, die vorkommenden Dinge anzuschauen und zu betrachten, fl[ieß]et.“135 Chladenius erkannte damit die Standortgebundenheit des Historikers und dessen Verwurzelung in einem „Traditionszusammenhang“ (mit den dadurch zwangsläufigen Konsequenzen) als ein unüberwindbares Charakteristikum der Geschichtsschreibung, das sich in den Bewertungen einer historischen Tat natürlich widerspiegeln müsse. Die historische Erkenntnis folge den moralischen Perspektiven des Betrachters: „Bey moralischen Dingen kommen die Seiten lediglich vom Zuschauer her. […] Wenn also dem moralischen Wesen, mithin auch den Geschäften, Händeln und Taten Seiten beigelegt werden, so kann dieses ohne Voraussetzung eines Zuschauers nicht gedacht werden.“136

Damit überwand Chladenius den Glauben an die Möglichkeit einer objektiven Geschichtsschreibung – „ein Durchbruch, denn die Relativität historischer Urteilsbildung war seitdem kein Einwand mehr gegen historische Wahrheitsfindung, sondern deren Voraussetzung“137. Chladenius war auch insofern wegweisend für die spätere Geschichtsschreibung, als er die Hermeneutik in den Dienst der Historie stellte. Während er in seiner Einleitung versucht hatte, durch die Differenzierung zwischen den Regeln des richtigen Denkens und denen des richtigen Auslegens die Hermeneutik als selbständige, aus der Logik gelöste Wissenschaft zu begründen,138 unternahm er in seinem zweiten Haupt135 Ebd., 100. 136 Ebd., 101. 137 Koselleck 1985, VIII. An diesem Lob der Relativität der historischen Urteilsbildung wird ein Dilemma deutlich, das die Geschichtsschreibung bis in die Gegenwart beschäftigt: Einerseits kann sie keine Objektivität für sich in Anspruch nehmen, andererseits darf sie aber auch nicht in den Ruf der Subjektivität oder Parteilichkeit geraten. Diesen Spagat vollführt auch Joachim Wach in seiner großen Geschichte der Hermeneutik im 19. Jahrhundert, wenn er über Chladenius schreibt: „Auf seine Lehre vom Sehepunkt gestützt, meint Chladenius, dass es unmöglich und deshalb unbillig sei vom Erzähler zu verlangen, dass er die Geschichte ohne solchen ansehe und daher erzähle. Nur wer den Unterschied zwischen Geschichte und Erzählung übersieht, kann erwarten, dass ein Geschichtsschreiber sich wie ‚ein Mensch ohne Religion, ohne Vaterland, ohne Familie anstellen soll‘. Dass nach dem Sehepunkt berichtet wird, kann auch nicht parteiisch heißen, sonst wären alle Erzählungen ‚parteiisch‘.“ (Wach 1966, Teil III, 30f. [Hervorhebung ebd.].) 138 Vgl. Friedrich 1982, 45.

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werk, der Allgemeinen Geschichtswissenschaft, „erste Schritte zu einer Integration der Hermeneutik in die Historik“139. Verstehen bedeutet für Chladenius die Reproduktion der Gedanken eines Autors durch die Vermittlung der Worte.140 Sein Ausgangspunkt ist, „dass wir einen, der redet, alsdann verstehen, wenn wir aus seinen Worten erkennen, was er gedacht hat. Hierzu aber wird allemal erfordert, dass der Zuhörer teils die Bedeutung der einzeln[en] Wörter, die in der Rede vorkommen, wisse; teils dass ihm auch die Art, die Wörter zu verbinden, die in der Rede gebraucht w[e]rden, bekannt sei.“141

An anderer Stelle drückt Chladenius es so aus: „Man verstehet eine Rede oder Schrift vollkommen, wenn man alles dasjenige dabei gedenkt, was die Worte nach der Vernunft und denen Regeln unserer Seele in uns vor Gedanken erwecken können.“142

In einigen Fällen jedoch – bei dunklen oder schweren Stellen, bei einem Mangel an Kontextwissen etc. – ergebe sich solch ein vollkommenes Verständnis nicht automatisch und mache ein besonderes Verfahren erforderlich, das bei Chladenius die eigentliche Auslegung darstellt. Dieses Verfahren – bei dem wir „aus dem, was wir wissen, das, was wir noch nicht wissen, gleichsam herauswickeln“143 – sei gelegentlich, aber nicht prinzipiell, auch bei historischen Stellen anzuwenden.144 Das hängt damit zusammen, dass „historisch“ bei Chladenius nicht notwendig Fremdheit und Abstand impliziert. Er sah noch keinen prinzipiellen Bedarf für einen argumentativen Zirkel zwischen Vergangenheit und Gegenwart.145

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Friedrich 1985, XV. Vgl. Friedrich 1982, 51. Chladenius 1969, 2 (§ 2). Ebd., 86 (§ 155). Hier erscheint die Identität zwischen den Worten eines Auslegers und ihrem Verständnis bei einem Leser völlig unproblematisch, weil sie durch die logischen und psychischen Regeln garantiert wird. Aber Chladenius hat selbst erkannt, dass es nicht so einfach ist: „Allein weil die Menschen nicht alles übersehen können, so können ihre Worte, Reden und Schrifften etwas bedeuten, was sie selbst nicht willens gewesen zu reden oder zu schreiben: und folglich kan man, indem man ihre Schrifften zu verstehen sucht, Dinge, und zwar mit Grund dabey gedencken, die denen Verfassern nicht in Sinn kommen sind. […] Daher ist bey allen Reden und Schrifften des Menschen zweyerley, den Sinn des Verfassers, oder den Verfasser vollkommen verstehen, und die Rede oder Schrifft an sich betrachtet, vollkommen verstehen.“ (Ebd., 87 [§ 156].) 143 Ebd., 517 (§ 673). 144 Vgl. ebd., 98f. (§ 179). 145 Vgl. Geldsetzer 1974, 74.

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2.3 Aufklärungshistorie Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelte sich auf dem wenige Jahrzehnte zuvor noch brachliegenden Feld der Geschichte eine neue und überaus rege Blüte: die Aufklärungshistorie. Das erste Zentrum der Aufklärung und ihrer historiographischen Spielart war Frankreich. Hier zeigte sich auch das große Interesse der führenden Köpfe der Aufklärung an der Geschichte. Dieses manifestierte sich beispielsweise bei Charles Louis de Secondat de Montesquieu (1689–1755) in dessen frühen Persischen Briefen (1722), in den Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer (1734), aber auch in Über den Geist der Gesetze (1748). Eine eminent wichtige Rolle für die Entwicklung der Geschichtsschreibung spielte auch François-Marie Arouet Voltaire (1694–1778). Sein bedeutendstes historisches Werk war Das Jahrhundert Ludwigs XIV. (1751), und mit seinem Essay Über den Geist und die Sitten der Nationen (1756) wurde erstmals der Versuch unternommen, über alle großen Kulturen der Welt zu informieren. Das zweite Zentrum der Aufklärungshistorie lag in Schottland. An erster Stelle ist hierbei David Hume (1711–1777) zu nennen, der neben seiner Abhandlung über die menschliche Natur (1739) auch eine achtbändige Geschichte Englands (1754–1762) schrieb. Wichtig, gerade im Hinblick auf die zwei großen Errungenschaften der Aufklärungshistorie, den universalhistorischen Zugang und den Rückgriff auf die Erudition, waren ferner William Robertson (1721–1795) und Edward Gibbon (1737–1794), der als Erster die Erudition konsequent auf die philosophischen Überlegungen zur Geschichte übertrug. In seiner sechsbändigen Geschichte des Verfalls und Niedergangs des römischen Reiches (1776–1778) behandelte er erstmals die Frage nach Ursprung und Leistung des Christentums als geschichtlicher Erscheinung. Die deutschen Denker der Aufklärung knüpften an die Ideen aus Frankreich und Schottland an, doch bildete sich hier bald eine eigenständige Entwicklung aus, die weniger philosophisch und mehr geschichtswissenschaftlich orientiert war. Sie trat an die Spitze der Erneuerung der Geschichtsschreibung und sorgte für einen Verwissenschaftlichungsschub.146 Ihr Mittelpunkt war die 1737 gegründete Universität 146 Für eine Untersuchung historiographischer Zeitschriften als Indikator der Verwissenschaftlichung vgl. Blanke 1998. – Interessant ist die Bewertung der Aufklärungshistoriographie durch spätere Historiker: Die Historiker des 19. Jahrhunderts hielten ihre Vorgänger für unwissenschaftlich und sahen sie lediglich als eine Vorstufe der eigentlichen Geschichtswissenschaft an. Diese Sichtweise reichte bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und wurde erst nach dem Aufkommen der Historischen Sozialwissenschaft revidiert, die sich selbst in der Tradition der Aufklärung sah (bspw. in

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Göttingen, wo vor allem Johann Christoph Gatterer (1727–1788) und August Ludwig Schlözer (1735–1809) lehrten, „die beiden wohl verdienstvollsten Historiker für die Entwicklung der Historie zu einer wissenschaftlichen Disziplin“147. Die Gründung des Historischen Instituts an der Universität Göttingen 1764–1766 kann als Symbol für die Vereinigung von Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung gesehen werden148 und verdeutlicht zudem die Emanzipation der Historiographie von propädeutischen Funktionen für die Jurisprudenz oder die Theologie. Die Aufklärungshistorie entwickelte eine Geschichtsschreibung, die in einigen Punkten den Weg zur modernen Geschichtswissenschaft wies. Als zentrales Moment kann dabei gelten, dass in der Aufklärung überhaupt erst der moderne, auch heute noch gültige Begriff von Geschichte entstand.149 Bei der Entstehung dieses Begriffs – und des damit zusammenhängenden, zuvor nicht formulierbaren Erfahrungsraums –150 wirkten zwei langfristige Vorgänge zusammen: Zum einen handelte es sich dabei um die Durchsetzung von „Geschichte“ als Kollektivsingular, worin sich ein neues Verständnis der Einheit allen historischen Verstehens zeigt. „Es gibt also, eigentlich zu reden, nur eine Historie, die Völkergeschichte“, schrieb Gatterer und formulierte als Ziel: „Der höchste Grad des Pragmatischen in der Geschichte wäre die Vorstellung des allgemeinen Zusammenhanges der Dinge in der Welt (Nexus rerum universalis). Denn keine Begebenheit in der Welt ist, sozusagen, insularisch.“151

Das zweite Element im neuen Geschichtsbegriff war die Verknüpfung von „Geschichte“ als Ereigniszusammenhang und von „Historie“ als Geschichtskunde, Geschichtserzählung und Geschichtswissenschaft. „Geschichte“ gewann so eine doppelte Bedeutung und wurde zu einem abstrakten Begriff.

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Bezug auf den universalgeschichtlichen, nicht auf Deutschland und die Politikgeschichte fixierten Zugang oder in Bezug auf die sozialgeschichtliche Fragestellung). Nun wurde die Aufklärungshistorie nicht bloß als Vorstufe, sondern als Anfang der Geschichtswissenschaft gesehen. Diese Aufwertung der Aufklärungshistorie (bei gleichzeitiger Abwertung des Historismus) wurde sogar auf den Bereich der historiographischen Methoden ausgedehnt, also auf ein Feld, auf dem der Historismus gemeinhin als ganz besonders wichtig und fortschrittlich gilt (vgl. Blanke 1984, 169). Gross 1998, 119. Vgl. Witschi-Bernz 1972, 51f. „‚Die Geschichte‘ ist ein moderner Begriff, der trotz seiner Fortführung alter Wortbedeutungen fast einer Neuprägung [des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts] gleichkommt.“ (Koselleck 1975, 647.) Vgl. ebd. J. Chr. Gatterer, Vom historischen Plan und der darauf sich gründenden Zusammenfügung der Erzählungen (1767), o. S., zitiert nach Koselleck 1975, 641.

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Damit verbunden war auch, dass das traditionelle Konzept der „Historie(n)“ an Bedeutung verlor. Da die Geschichte als einmalige Begebenheit oder als universaler Ereigniszusammenhang offensichtlich nicht in gleicher Weise belehren konnte wie eine Historie als exemplarischer Bericht, büßte sie ihre Funktion als magistra vitae ein.152 „Dass die Geschichte eine Lehrmeisterin des Lebens sei, ist ein Satz, der gewiss von vielen ununtersucht nachgebetet wird“, kritisierte Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799).153 Und der Abbé Sieyès (1748–1836) wunderte sich: „Das, was geschieht, nach dem beurteilen, was geschehen ist, heißt, wie mir scheint, das Bekannte nach dem Unbekannten zu beurteilen.“154 Vor allem nach der Französischen Revolution machte sich die allgemeine Ernüchterung über die einstmals erhoffte pädagogische Wirkung der Geschichte breit. Das gilt zumindest für die reine Vorbildfunktion, während nun über die Erkenntnis von Kausalität eine andere Art, Schlüsse aus der Geschichte zu ziehen, aktuell wurde. „Aus der Geschichte lernt man eben nur Geschichte.“155 Im Zusammenhang mit dem Erkennen der „Geschichte als solcher“ stand eine weitere Neuerung: die Geburt der „Geschichtsphilosophie“ als dem Nachdenken über die Einheit der Geschichte, ihren Zusammenhang und ihre Entwicklung. Ein neues Fortschrittsbewusstsein ließ die Geschichte als einen einheitlichen, gradlinigen Prozess in Richtung eines bestimmten Zieles erscheinen. Wichtig jedoch war den Geschichtsdenkern der Aufklärung, dass diese Geschichtsphilosophie „keine eigentliche und besondere Wissenschaft sei, wie man bei dem ersten Anblick dieses Ausdrucks leicht glauben möchte. Denn es ist, wofern ein ganzer Teil der Historie oder eine ganze historische Wissenschaft so abgehandelt wird, weiter nichts als Historie an sich selbst.“156

Es handelte sich um ein der Geschichtsschreibung immanentes Nachdenken über die „Logik der Geschichte“ oder die „Theorie der Historie“.157 Durch den Verlust des Glau152 Vgl. Koselleck 1979, 48. 153 Lichtenberg 1949, 279. 154 So zitiert Otto Brandt in seiner Einleitung zu Was ist der dritte Stand? (Brandt 1924, 13) aus dem Nachlass des Abbé Sieyès. 155 So bringt – mit einem Hegel-Zitat – später Joseph Maria von Radowitz (1797–1853) die neue Einstellung gegenüber der Geschichte als magistra vitae auf den Punkt (Radowitz 1911, 394). Vgl. auch Hegel 1955, 19: „Was die Erfahrung aber und die Geschichte lehren, ist dies, dass Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt […] haben.“ 156 H. M. G. Köster, Art. „Historie“, in: Deutsche Enzyklopädie (1790), 666, zitiert nach Koselleck 1975, 658. 157 Es ist wichtig zu betonen, dass es sich hierbei um eine kritische oder analytische Geschichtsphilosophie handelte, nicht um jene spekulative, die dann im 19. Jahrhundert in Deutschland alleinherrschend werden und die den Sinn des Geschichtsverlaufs in einem allgemeinen oder kosmischen Plan mit einem Endziel suchen sollte.

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bens an einen göttlichen Plan der Geschichte war es nötig geworden, die Zusammenhänge aus Faktoren zu entwickeln, die sich aus der Geschichte selbst ergeben. Diese Zusammenhänge offenzulegen und deutlich zu machen, war nun eben die Aufgabe des Historikers, und er löste sie durch die Konstruktion einer historischen Erzählung. „Die Geschichte an und vor sich selbst ist eine Reihe von Begebenheiten, sie hat keine allgemeinen Grundsätze und ist demnach als keine Wissenschaft zu betrachten. Allein der Geschichtsschreiber muss die Kunst verstehen, ihr die systematische Einkleidung zu erteilen. Diese muss er als seine vorzügliche Absicht bei mündlichem und schriftlichem Vortrage der Geschichte zu erfüllen suchen. Er kann sie erreichen, sobald er die Theorie der Geschichte versteht.“158

Erst durch die „Theorie“ und die narrative Konstruktion wird demnach aus den bloßen Fakten wirklich Geschichte. Es kam zu einer doppelten Bewegung innerhalb der Geschichtsschreibung: Einerseits wurde – analog zu der Trennung von Wissenschaft und Kunst, durch die die bisherige Stellung der Historie als Zweig der Rhetorik in Gegensatz zu ihrer neuen, wissenschaftlichen Aufgabe geriet – eine Grenze gezogen zwischen der Forschung und der kunstvollen Darstellung, wobei Erstere die Bedingung für Letztere wurde. Andererseits wurden Geschichtsschreibung und Roman eng aneinandergekoppelt. So wie die neue Gattung des bürgerlichen Romans dem Postulat einer geschichtlichen Tatsachentreue unterworfen wurde, übertrug man auch die literarischen Kompositionsmuster und das poetologische Gebot, sinnstiftende Einheiten zu schaffen, bewusst auf die Geschichte. Sie sollte sich nicht auf eine chronologische Aufreihung beschränken, sondern geheime Motive eruieren und dem zufälligen Geschehen eine innere Ordnung abgewinnen. „La principale perfection d’une histoire consiste dans l’ordre et dans l’arrangement.“159 Diese von François Fénelon (1651–1715) frühzeitig geäußerte Erkenntnis findet sich 1767 dann auch bei Gatterer wieder, der vom „historischen Plan und der darauf sich gründenden Zusammenfügung der Erzählungen“160 sprach. Die Überzeugung, dass sich historische Wirklichkeit nur in der Reflexion erkennen lasse, 158 Carl Renatus Hausen, Rede von der Theorie der Geschichte (1766), 131f., zitiert nach Rüsen 1984a, 33. 159 F. Fénelon, Lettre à M. Dacier sur les occupations de l’Academie (1714), in: ders., Œuvres completes VI (1850), 639, zitiert nach Koselleck 1975, 662. 160 So der Titel der bereits zitierten Schrift Gatterers (s. o. Anm. 151). Humboldt löste das später auf: „Mit der nackten Absonderung des wirklich Geschehenen ist aber noch kaum das Gerippe der Begebenheit gewonnen. Was man durch sie erhält, ist die notwendige Grundlage der Geschichte, der Stoff zu derselben, aber nicht die Geschichte selbst.“ (Humboldt 1821, 6.)

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führte zu einer „Art gegenseitiger Osmose“161 von Geschichtsschreibung und (historischem) Roman. Die endgültige und abschließende Hinwendung zur Erzählung hätte sich ohnehin als notwendige Folge aus der „Explosion des historischen Wissens“162 im 18. Jahrhundert ergeben, welche die traditionellen Chroniken zu sprengen drohte. Der historische Pragmatismus akzeptierte denn auch die Selektivität als notwendige Voraussetzung und brach mit den polyhistorischen Gelehrsamkeitsidealen. Als beste Darstellung galt nun nicht mehr diejenige, die möglichst viele Ereignisse nannte, sondern die einen Sinn bereitstellte. In den Worten Schlözers von 1772: „Einzelne Facta oder Begebenheiten sind in der Geschichtswissenschaft, was die kleinen farbichten Steinchen in der mosaischen Malerei. Der Künstler durch geschickte Austheilung vermischt und ordnet sie, schließt sie genau an einander, und bringt dadurch dem Auge ein fertiges Gemählde auf einer schnurgleichen und ununterbrochnen Fläche entgegen.“163

Für die Aufklärungshistoriker war die Methode der Geschichtsschreibung nicht zuletzt eine Geschmacksfrage. Die narrative Synthesis wurde der rhetorischen Regel unterworfen, „dass Dinge, die gut erzählet werden, leichter ins Herz dringen und große Wirkungen in dem Willen des Menschen erzeugen“164. Die Aufklärungshistorie knüpfte somit in diesem Punkt an die Tradition der rhetorischen Geschichtsschreibung an. Ihre „Theorie der Geschichte“ war ganz traditionell vor allem ein Kompositionskonzept, ein „Ensemble von Regeln, deren Befolgung dem Geschichtsschreiber garantieren soll, dass seine Geschichtsschreibung den Adressaten erreicht“165. Doch gerade in der Komposition historiographischer Texte – also dort, wo auch die rhetorische Tradition die über den historischen Charakter einer Wissensform entscheidende Operation angesiedelt hatte – vollzog die Aufklärung die wissenschaftskonstitutive Rationalisierung. Es war die Komposition der Darstellung, die letztlich über die Wissenschaftlichkeit des historischen Diskurses entschied, doch die didakti161 Koselleck 1975, 662. 162 Pandel 1984a, 157. Zu den Ursachen vgl. ebd., 157f. 163 Schlözer 1990, Bd. 1, 44 (§ 17). In diesem Zusammenhang macht Schlözer auch die Einstellung der deutschen Aufklärungshistoriker gegenüber den französischen Denkern deutlich, indem er zu den „Facta“ anmerkt: „Die Kritik gräbt diese Facta aus Annalen und Denkmälern einzeln aus, (die Voltaires machen sie selbst, oder färben sie wenigstens) […].“ (Ebd., 45.) 164 J. Chr. Gatterer, Vom historischen Plan und der darauf sich gründenden Zusammenfügung der Erzählungen (1767), 27, zitiert nach Rüsen 1984a, 37. 165 Ebd., 34f.

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sche Zweckmäßigkeit erfuhr eine „unübersteigbare Grenze am Informationsgehalt der Quellen […]: Die Quellen [erhielten] ihr wissenschaftsspezifisches Vetorecht.“166 Das Wissen von der Geschichte wurde im Einzelnen der quellenkritischen Sicherung des Tatsachengehalts unterworfen und im Allgemeinen nicht mehr nach dem Gesichtspunkt der rhetorischen Brauchbarkeit, sondern nach dem sachlichen Gewicht im Verhältnis der historischen Tatsachen zueinander organisiert.167 Die historische Erzählung wurde also an die historische Wahrheit, verstanden als quellenkritische Evidenz, gebunden, „und diese Bindung ist es letztlich, die zur Preisgabe der rhetorischen Tradition in der Reflexionsarbeit der Historiker“168 führte. Der durch die Aufklärungshistorie erreichte Verwissenschaftlichungsschub brachte Veränderungen auf mehreren Ebenen mit sich: eine Rationalisierung des Orientierungsbedürfnisses, ein Streben nach besserer Historienerzählung und einem Regelsystem für die historische Forschung, eine Theoretisierung und Methodisierung und nicht zuletzt Verbesserungen auf dem Gebiet der Quellenkritik.169 Nun wurden Geschichtsschreibung und Erudition zusammengeführt, es kam zu einer Standardisierung der Quellensammlungen und einer Systematisierung der Hilfswissenschaften (Diplomatik, Paläographie, Heraldik etc.). Die ethische Unparteilichkeit als Maxime wurde ersetzt durch methodische Objektivität und fachliche Kompetenz für ein methodisch reguliertes Verfahren der Argumentation. Historische Wahrheit beruhte nun auf Quellenkritik und intersubjektiver Nachprüfbarkeit. Die Gestaltung und Anordnung diente nicht mehr rhetorischen Zwecken, sondern wurde durch das aus den Quellen gewonnene Wissen über die Zusammenhänge der geschichtlichen Tatsachen vorgegeben. Die Freiheit zum Fabulieren wurde durch Quellenangaben eingeschränkt und die methodischen Verfahren einer Systematisierung unterzogen. Der Historiker musste eine professionelle Ausbildung haben; er war nun Geschichtsforscher und Geschichtsschreiber.170

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Ebd., 37, dabei Bezug nehmend auf die bekannte Formulierung Kosellecks in Koselleck 1977, 45. Vgl. Rüsen 1984a, 35. Ebd., 41. All das führte auch dazu, dass sich das Verhältnis von Augenzeugenschaft und „alter“ Geschichte umkehrte. So vertrat Gottlieb Jacob Planck (1751–1833) 1781 und 1795 als einer der Ersten die These, dass mit der wachsenden zeitlichen Distanz die Erkenntnischancen nicht ab-, sondern zunähmen (vgl. Koselleck 1977, 31f.). 170 Dieser Prozess ging in der Praxis allerdings langsamer vonstatten als in der Theorie. „Die Wende entstand eigentlich in der Aufklärungsstimmung, nämlich im theoretischen Streben, welches der historiographischen Praxis vorausging. Das ist der Grund dafür, warum die hervorragendsten deutschen Historiker der Aufklärung keine Werke verfasst haben, die ihren theoretischen Gedankengängen entsprechen würden.“ (Gross 1998, 116.)

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IV. Neuzeit und Gegenwart (19.–21. Jahrhundert) 1. 19. Jahrhundert Das Paradigma, das die Historiographie des „langen“ 19. Jahrhunderts ganz entscheidend prägte, war das der Geschichtswissenschaft. Die Historiker wollten – wie die neuen historiographischen Zeitschriften in ihren programmatischen Gründungserklärungen verkündeten – „auf den wissenschaftlichen Geist vertrauen“171 und erklärten „eine strenge wissenschaftliche Darstellungsweise“172 zu ihrem Ziel. Oder in den Worten der Historischen Zeitschrift, der Mutter aller geschichtswissenschaftlichen Publikationsorgane: „Die Zeitschrift soll vor allem eine wissenschaftliche sein. Ihre erste Aufgabe wäre also, die wahre Methode der historischen Forschung zu vertreten und die Abweichungen davon zu kennzeichnen.“173 Die Historiographie besaß zwar eine jahrtausendealte Tradition, doch im 19. Jahrhundert erreichte sie ein neues Niveau. Es fand eine „Verwissenschaftlichung der Geschichtsforschung im Rahmen der Professionalisierung“174 statt, die sich einerseits in äußeren Elementen wie der Einrichtung historischer Lehrstühle und Seminare, der Etablierung von Berufshistorikern und Geschichtsprofessoren sowie eben der Gründung geschichtswissenschaftlicher Zeitschriften manifestierte, andererseits aber auch in den Ansichten der Historiker über das Wesen ihrer Profession. Die Geschichtsschreibung teilte „die damalige Zuversicht der professionalisierten Wissenschaften allgemein, dass methodisch geregelte Forschung objektive Erkenntnis ermögliche“175, und richtete sich an diesem Maßstab der Wissenschaftlichkeit aus. Kaum ein professioneller, „zünftiger“ Historiker zweifelte an dieser neuen Grundausrichtung und an dem Ziel, „sich immer weiter der objektiven Wahrheit über die Geschichte anzunähern“176. Diese Idee der objektiven, wissenschaftlich gesicherten Erkenntnis über die Vergangenheit besteht, wie Peter Novick in seinem Buch über die „Objektivitäts-Frage“ in der (amerikanischen) Geschichtswissenschaft schreibt, aus einem ganzen Bündel von Annahmen, Einstellungen, Erwartungen und Antipathien. Dessen zentrale Elemente seien der Glaube an eine Realität der Vergangenheit, der Glaube an eine dazu 171 Vorwort zur ersten Ausgabe der English Historical Review (1886), zitiert nach Stern 1966, 178–181, hier: 180. 172 Vorwort zur ersten Ausgabe der Revue Historique (1876), zitiert nach Stern 1966, 176–178, hier: 177. 173 Vorwort zur ersten Ausgabe der Historischen Zeitschrift (1859), zitiert nach Stern 1966, 175f., hier: 175. 174 Iggers 1993, 7. 175 Ebd., 8. 176 „It has been the key term in defining progress in historical scholarship: moving ever closer to the objective truth about the past.“ (Novick 1988, 1.)

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korrespondierende Wahrheit sowie die Überzeugung, dass es eine Grenze zwischen Erkennendem und Erkanntem gibt, eine Grenze zwischen Fakten und Wertungen und vor allem eine Grenze zwischen Wahrheit und Fiktion. Die historischen Fakten werden in Bezug auf die Interpretation als vorgängig und unabhängig gesehen, wobei der Maßstab für den Wert einer Interpretation zuvörderst in der Entsprechung zu den historischen Tatsachen liegen müsse.177 Dieses Grundkonzept von Wissenschaftlichkeit war verbindlich für die Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert, unabhängig von der Trennung in zwei grundsätzlich unterschiedliche Strömungen: den Historismus und den Positivismus. Beide waren geprägt durch ihren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, doch versuchten sie ihn auf entgegengesetzten Wegen zu erfüllen – durch die Behauptung einer eigenen Wissenschaftlichkeit der Historismus, durch die Übernahme des physikalisch-mathematischen Wissenschaftsverständnisses der Positivismus.

1.1 Historismus 1.1.1 Leopold von Ranke Entscheidend für die Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung war der Historismus, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem durch Leopold von Ranke (1795–1886) entwickelt wurde und dann in der zweiten Jahrhunderthälfte das eindeutig beherrschende Paradigma darstellte.178 Wichtige Wegmarken auf dem Weg dorthin waren die Zusammenführung von Erudition und Historie bei den Aufklärungshistorikern bzw. endgültig dann bei Barthold Georg Niebuhr (1776–1834), die Gewinnung der Kategorien Individualität und Entwicklung in der „Deutschen Bewegung“, die idealistische Geschichtsphilosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770–1851) und die hermeneutische Geschichtsauffassung Wilhelm von Humboldts (1767–1835). Maßgeblich geprägt wurde der Historismus durch Leopold von Ranke, dessen Werke – Die römischen Päpste (1834–1836), die Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation (1839–1847), die Französische Geschichte (1852–1861) und die Englische Geschichte (1859–1868), um nur die wichtigsten zu nennen – zu den Klassikern nicht nur der deutschen Geschichtsschreibung zählen.179 Der Kern des Historismus Ranke’scher Prägung bestand „in der Ersetzung einer generalisierenden Betrachtung 177 Vgl. ebd., 1f. 178 Die Literatur zum Historismus ist immens. Vgl. bspw. Iggers 1971; Oexle 1996. 179 Zu Ranke vgl. Berding 1971; Iggers 1971, 86–119; Vierhaus 1977; Iggers 1978, 27–34; Metz 1979, 14–236; Mommsen 1988; Muhlack 1988; Iggers/Powell 1990.

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geschichtlich-menschlicher Kräfte durch eine individualisierende Betrachtung“ 180, in der Ausrichtung auf das Besondere: „Das Real-Geistige, welches in ungeahnter Originalität dir plötzlich vor den Augen steht, lässt sich von keinem höheren Prinzip ableiten. Aus dem Besonderen kannst du wohl bedachtsam und kühn zu dem Allgemeinen aufsteigen; aus der allgemeinen Theorie gibt es keinen Weg zur Anschauung des Besonderen.“181

Allerdings war dieser Glaube an das Individuelle bei Ranke nicht total. Sein Ziel war die Verbindung der Einzelforschung (wie sie etwa Niebuhr betrieben hatte) mit der Idee eines Allgemeinen (wie sie in Hegels Begriff des Geistes formuliert war), denn: „Nur wer jenes Empirische mit der Idee vermählt, kann den Geist wirklich anziehen.“182 So sah Ranke – um ein Beispiel für diese Elemente impliziter idealistischer Geschichtsphilosophie zu nennen – in der Abfolge der Epochen eine „innere Notwendigkeit der Aufeinanderfolge“, die sich „nach Gesetzen“ richte, „die uns unbekannt sind, geheimnisvoller und größer, als man denkt“.183 Das individuelle Leben in seinem universalhistorischen Zusammenhang ist es also, das Ranke zu erforschen suchte – und das er erforschen zu können glaubte durch das „Mitgefühl“, durch die „Mitwissenschaft des Alls“. Auf diese Weise sei auch „völlig wahre Geschichte“ möglich: „Man muss von der Erzählung gleichsam ihre Phraseologie abstreifen; man muss sie auf ihren Kern und Inhalt zurückbringen. Ob eine völlig wahre Geschichte möglich ist? 1. Exakte Kenntnis der einzelnen Momente; 2. ihrer persönlichen Motive; 3. ihres Zusammenwirkens, des ganzen Getriebes der Persönlichkeiten und wechselseitigen Einwirkungen; 4. des universalen Zusammenhanges. – Das letzte Resultat ist Mitgefühl, Mitwissenschaft des Alls.“184

180 So heißt es in der klassischen Historismus-Definition Friedrich Meineckes (Meinecke 1936, 2). 181 Ranke 1887, 325. 182 So Ranke in einer Notiz zum Lutherfragment, zitiert nach Hinrichs 1954, 107 (dort teilw. hervorgehoben). 183 Ranke 1971, 62, 67. Rankes Werk ist, wie etwa Georg Iggers anmerkt (vgl. Iggers 1993, 21), durch eine ganze Reihe von Spannungen und Widersprüchen gekennzeichnet. So steht etwa die Betonung, dass jede Ordnung in ihrem historischen Kontext zu verstehen und jede Epoche unmittelbar zu Gott sei, im Konflikt mit der Annahme einer im Grunde ahistorischen, hierarchischen Ordnung als Normalzustand in allen Gesellschaften und in ähnlicher Weise mit der Zuversicht, dass die protestantische, monarchische Welt der Neuzeit den Höhepunkt darstelle (sowie mit der Überzeugung, den nichteuropäischen Völkern die Geschichtlichkeit absprechen zu können). 184 Ranke 1890, 569.

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In diesem Zitat werden einige Elemente deutlich, die den Historismus insgesamt prägten. Dabei handelt es sich erstens um den Anspruch auf eine „wahre Geschichte“, zweitens um die Rückstufung der narrativen Darstellung und drittens um die Betonung des Mitfühlens, worin sich die Aufwertung der Hermeneutik zur erkenntnistheoretischen Grundmethode der Geschichtsschreibung ausdrückt. Nach der Überzeugung Rankes und, ihm nachfolgend, der allermeisten Historiker des 19. Jahrhunderts musste die Geschichtswissenschaft – wollte sie sich als eigenständige, von der Philosophie wie vom positivistischen Empirismus abgehobene Wissenschaft behaupten – als hermeneutische Wissenschaft auftreten.185 Dabei ging diese Hermeneutik weit über das bloße Verstehen von Texten als quellenkritische Grundlage für die eigentliche Geschichtsschreibung hinaus; sie war als „Verstehen“ die Operation zur Durchdringung der Geschichte schlechthin. Dieser Punkt ist so bedeutsam, dass die Entwicklung von der Aufklärungshistorie zum Historismus „methodologisch als Bedeutungswandel der Hermeneutik von einer hilfswissenschaftlichen Technik zum Paradigma der historischen Methode“186 auf einen Nenner gebracht werden kann. Von einer vorbereitenden Operation für die eigentliche historiographische Leistung, die Komposition geschichtlicher Darstellungen, wurde die Hermeneutik zur wesentlichen Basis der Geschichtswissenschaft. „Hermeneutik, historische Ideenlehre und Historismus [wurden] zu Beginn des 19. Jahrhunderts so eng verknüpft, dass es den Anschein hat, als ob Geschichtswissenschaft jetzt erst entstanden sei.“187 Durch diese im Historismus erfolgte Aufwertung der Hermeneutik als Kern der historischen Forschung verringerte sich im Gegenzug die Bedeutung der Darstellung, die noch für die Aufklärungshistorie eine große Rolle gespielt hatte. Während diese die Geschichte als „eine Reihe von Begebenheiten“ ohne allgemeine Grundsätze betrachtet hatte, der der Historiker in seiner Darstellung unter Rückgriff auf eine „Theorie“ eine systematische Einkleidung und somit einen Sinn verleihe, verlagerte der Historismus das Problem der (narrativen) Kohärenz von der Darstellungspraxis des Historikers in die Bewegung der Geschichte selbst. „Die Konzeption des Zusammenhangs der Begebenheiten, der die narrative Kohärenz der historischen Erkenntnis und damit natürlich die Plausibilität jeder Geschichtsschreibung verbürgt, wurde nicht mehr vornehmlich als ‚Planungs‘-Problem des Historikers 185 Vgl. Berding 1971, 7. 186 Rüsen 1984, 195. 187 Pandel 1984, 193 (wobei Pandel auch „einige Differenzierungen“ [ebd.] an diesem Bild anbringen möchte).

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angesehen, als dessen Verpflichtung auf Regeln der Darstellung, die den Zusammenhang der dargestellten Begebenheiten diskursiv einsichtig machen, sondern als Problem des inneren, oder wie man auch sagen könnte: des ‚objektiven‘ Zusammenhangs der Begebenheiten.“188

Geschichtstheorien stellten nur noch den Bezugsrahmen der historischen Forschung dar, sie dienten nicht mehr als Instrument kompositorischer Planung. Die Frage der rhetorischen oder narrativen Komposition einer Geschichtsdarstellung war für den Historismus ein Scheinproblem. Gegen eine Geschichtsschreibung, die bewusst rhetorische oder narrative Mittel einsetzt, wandte Ranke ein: „Wir unseres Ortes haben einen anderen Begriff von Geschichte. Nackte Wahrheit ohne allen Schmuck, gründliche Erforschung des Einzelnen, das Übrige Gott befohlen; nur kein Erdichten, auch nicht im Kleinsten, nur kein Hirngespinst.“189

Die „Entrhetorisierung“190 wurde zu einem wesentlichen Merkmal der mit Ranke entstehenden modernen Geschichtswissenschaft, der Historiker wandelte sich vom Geschichtsschreiber zum Forscher.191 Allerdings ist anzumerken, dass sich auch Ranke und mit ihm die späteren historistisch gesinnten Geschichtswissenschaftler in der Praxis sehr wohl um eine literarisch gelungene Darstellung bemühten.192 Da das Verstehen „auf einer Geistigkeit [beruht], die in jedem gegenwärtig ist“193, wurde eine theoretische Grundlegung der Geschichtswissenschaft zwar weder als hilf188 Rüsen 1984a, 33. Rüsen deutet dies als positiv zu wertenden „entscheidenden Schritt“ (ebd.): „Die rhetorische Unparteilichkeit befähigte den Historiker zum moralischen Urteil über die Geschichte; seine zugleich forschungs-methodische und lebenspraktische Objektivität befähigt ihn nun dazu, die Geschichte selber als historisches Urteil über die Gegenwart zur Sprache zu bringen.“ (Ebd., 30.) Dabei definiert Rüsen „lebenspraktische Objektivität“ wie folgt: „Die Geschichtsschreibung wird ‚objektiv‘ in dem Sinne, dass sie genau die Tatsachen und Tatsachenzusammenhänge der Vergangenheit erinnernd vergegenwärtigt, die zum Verständnis der aktuellen zeitlichen Veränderungen der Gegenwart notwendig sind.“ (Ebd.) 189 Ranke 1884, 24. Vgl. dazu Dunk 1988. 190 Blanke/Rüsen 1984, passim, bes. 38, 40–43, 59–72. 191 Vgl. Hardtwig 1991, 20. 192 Georg Iggers warnt insgesamt davor, die Wissenschaftlichkeit des Historismus zu überschätzen. In Anspielung auf die positive Einschätzung des Historismus durch Wolfgang Jaeger und Jörn Rüsen (in Jaeger/Rüsen 1992) schreibt Iggers: „Der Historismus wird als Teil eines Modernisierungsprozesses gesehen, in dem ‚‚modern‘ historisch denken‘ ‚rational-wissenschaftlich‘ denken bedeutet.“ (Iggers 1997, 459.) Iggers geht hingegen davon aus, dass die Geschichte als Disziplin noch weitgehend in das allgemeine Geschichtsdenken des 19. Jahrhunderts eingebettet ist und dass die Grenze zwischen Wissenschaft und Literatur trotz des Wissenschaftsanspruches relativ fließend bleibt (vgl. ebd., 459f.). 193 Iggers 1971, 106.

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reich noch als notwendig angesehen. Dennoch glaubte man durch diesen allgemeinmenschlichen Erfahrungshorizont und vor allem durch den universalhistorischen Zusammenhang in seinem jeweiligen Bezug zum Göttlichen die Objektivität und Wahrheit historiographischer Aussagen grundsätzlich abgesichert. Überhaupt galt „die reine Wahrheitsliebe“ als das „erste Prinzip“ des Historikers, das durch methodisch abgesicherten, kritischen Umgang mit den Quellen umzusetzen sei, um auf diese Weise zu den historischen Fakten zu gelangen: „Strenge Darstellung der Tatsache, wie bedingt und unschön sie auch sei, ist ohne Zweifel das oberste Gesetz.“194 Dieses „Streben nach einer von subjektiven Einflüssen freien Sachlichkeit und Allgemeingültigkeit der Aussage gilt als der eigenste Zug der Ranke’schen Geschichtsschreibung“195. Objektivität war für Ranke – der von späteren Historikern häufig als der „Vater der objektiven Geschichtsschreibung“ oder als der „Begründer der Geschichtswissenschaft“ bezeichnet wird –196 der höchste Wert eines Historikers; um sie zu erreichen, wünschte er sein „Selbst“ auszulöschen und die Vergangenheit durch die Quellen sprechen zu lassen.197 Oder wie es in einem seiner berühmten Zitate heißt: „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen: so hoher Ämter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will bloß zeigen, wie es eigentlich gewesen.“198

Als Basis dafür und als Herz der Geschichtswissenschaft sah Ranke eben den methodisch-kritischen Umgang mit den Quellen – direkt mit den Quellen und nicht wie zuvor mit den Darstellungen anderer Geschichtsschreiber – zur Erlangung der historischen Fakten. Dabei ist jedoch anzumerken, dass Rankes Streben nach einer „Vermählung des Empirischen mit der Idee“ einen reinen Faktenpositivismus ausschloss: Für Ranke war die Tatsache als Ausdruck menschlichen Lebens vielmehr geistiger Natur und daher nur im Sinnzusammenhang zu verstehen.199 Diese kritische Methode, die Ranke in der neu entwickelten Unterrichtsform des historischen Seminars lehrte, wurde Kern der historischen Wissenschaftspraxis. Aber trotz dieser methodischen Neuerungen kann nicht übersehen werden, dass es 194 195 196 197

Ranke 1885, VII. Berding 1971, 12. Vgl. ebd., 7. „Ich wünschte mein Selbst gleichsam auszulöschen, und nur die Dinge reden, die mächtigen Kräfte erscheinen zu lassen.“ (L. Ranke, Englische Geschichte, SW 15 [1877], 103, zitiert nach Berding 1971, 13.) 198 Ranke 1885, VII. 199 Vgl. Iggers 1993, 20.

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im Historismus Ranke’scher Prägung eine große Kluft gab „zwischen der expliziten Forderung nach sachlicher Forschung, die alle Werturteile und metaphysischen Spekulationen strikt ablehnt, und den impliziten philosophischen und politischen Grundannahmen, die die Forschung tatsächlich bestimmen“200. Dass Ranke seine konservativen Überzeugungen nicht als Parteilichkeit, sondern als das Ergebnis seiner objektiven Wissenschaft ansah, ändert nichts an der Tatsache, dass sich hinter der Berufung auf Objektivität „nicht nur eine ganze Metaphysik“ verbarg, „sondern auch eine Gesellschaft, Staat und Kultur umfassende Ideologie, die eben einen ‚objektiven‘, d. h. wertfreien Zugang zur Geschichte gerade verhinderte“.201

1.1.2 Droysen Der Historismus, wie er vor allem von Ranke entwickelt und praktisch betrieben wurde, favorisierte also die „Anschauung des Besonderen“ gegenüber der Suche nach einer allgemeinen Theorie und überhöhte zu diesem Zweck die in der Geschichtsschreibung seit Vico, Chladenius und Humboldt eingesetzte Methode des hermeneutischen Verstehens zum Wesen der Geisteswissenschaften. Die erkenntnistheoretische Ausarbeitung dieser Ansicht wurde dann in den nächsten Generationen des Historismus geleistet, namentlich durch Johann Gustav Droysen (1808–1884) und Wilhelm Dilthey (1833–1911), die den traditionellen Geisteswissenschaften durch eine wissenschaftsphilosophische Fundierung des Verstehens-Konzeptes zu einem starken erkenntnistheoretischen Selbstbewusstsein und zu einer Abgrenzung gegenüber den Naturwissenschaften zu verhelfen suchten. Dazu führte Droysen, vor allem in seiner 1857 gehaltenen Historik-Vorlesung, den Humboldt’schen Ansatz konsequent weiter, indem er die dualistische Begrifflichkeit der hermeneutischen Diskussion erstmals in einem strikt dichotomischen Sinn benutzte: „Die historische Forschung will nicht erklären, d. h. in der Form des Schlusses ableiten, sondern verstehen.“202 Für Droysen existierten verschiedene, voneinander absolut getrennte Erkenntnisfelder, die dementsprechend einer jeweils eigenen Methode bedurften: 200 Ebd. 201 Ebd., 23. 202 Droysen 1977, 403. Vgl. auch: „[D]as Wesen der geschichtlichen Methode ist forschend zu verstehen, ist die Interpretation.“ (Ebd., 22 [Hervorhebung ebd.].) Dabei will Droysen für die (eigentlich) spezifische Erkenntnisweise des Verstehens nicht die (eigentlich) spezifische Erkenntnisweise des Erklärens opfern: „Der Einzelne wird verstanden in dem Ganzen, und das Ganze aus dem Einzelnen. Der Verstehende, weil er ein Ich, eine Totalität in sich ist wie der, den er zu verstehen hat, ergänzt sich dessen Totalität aus der einzelnen Äußerung und die einzelne Äußerung aus dessen Totalität. Das Verstehen ist ebenso synthetisch wie analytisch, ebenso Induktion wie Deduktion.“ (Ebd., 423.)

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„Nach den Objekten und nach der Natur des menschlichen Denkens sind die drei möglichen wissenschaftlichen Methoden: die (philosophisch oder theologisch) spekulative, die physikalische, die historische. Ihr Wesen ist: zu erkennen, zu erklären, zu verstehen.“203

Dadurch versuchte Droysen Übergriffe der streng logischen, induktiven Wissenschaften auf das Terrain der Geschichtsschreibung zu verhindern. Dass ein Historiker „das, was ist, aus dem, was war, zu erklären, d. h. in Form des Schlusses abzuleiten habe“204, wäre für Droysen eine völlige Verkennung der Eigentümlichkeit der historischen Welt. „Wir erklären nicht“, stellte er kategorisch klar: „Interpretation ist nicht Erklärung des Späteren aus dem Früheren, des Gewordenen als ein notwendiges Resultat der historischen Bedingungen, sondern ist die Deutung dessen, was vorliegt, gleichsam ein Lockermachen und Auseinanderlegen dieses unscheinbaren Materials nach der ganzen Fülle seiner Momente, der zahllosen Fäden, die sich zu einem Knoten verschürzt haben, das durch die Kunst der Interpretation gleichsam wieder rege wird und Sprache gewinnt.“205

Die historische Welt gewinne Sprache, werde in Text übersetzt. Die terminologische Gegenüberstellung von Verstehen und Erklären sollte demonstrieren, dass beide Erkenntnisweisen sich ausschließen. Hinter dem Ansatz, auf diese Weise „die Fundamente unserer Wissenschaft“206 zu legen, stand nicht zuletzt der Versuch, die der Theologie und der Philosophie entwachsene Historie auf eine Stufe mit den Naturwissenschaften zu heben und ihre faktische Selbständigkeit wissenschaftstheoretisch zu begründen. So ist das Begriffspaar „Verstehen“ und „Erklären“ nicht zuletzt aus diesem geschichtstheoretischen Bedürfnis nach Autonomie hervorgegangen.207 Die Grundlage für die Möglichkeit, überhaupt vergangene Ereignisse und Personen verstehen zu können, bildeten für Droysen wie schon für die Hermeneutiker vor ihm die „Postulate der Identitätsphilosophie hinsichtlich der wesentlichen Gleichartigkeit der Menschennatur“, die dem Historiker den Zugang zum Verständnis menschlichen Handelns ermöglichen.208 203 204 205 206 207

Ebd., 424. Ebd., 162. Ebd., 163 (Hervorhebung ebd.). Ebd., 454. Vgl. Muhlack 1998, 111. Zwar hatte auch Humboldt den Begriff des Verstehens benutzt, doch keineswegs exklusiv, vielmehr hatte er – ohne unterscheidende Definition – Begriffe wie Erkennen, Begreifen oder Erforschen nebeneinandergestellt. 208 Vgl. Mommsen 1988a, 202 (Zitat ebd.).

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„Den Menschen, menschlichen Äußerungen und Gestaltungen gegenüber sind wir und fühlen wir uns in wesentlicher Gleichartigkeit und Gegenseitigkeit, – jedes Ich geschlossen in sich, jedes jedem anderen in seinen Äußerungen sich erschließend.“209

Nur dadurch ergab sich für Droysen die wesentliche Voraussetzung des Verstehens: „Die Möglichkeit des Verstehens besteht in der uns kongenialen Art der Äußerungen, die als historisches Material vorliegen. Sie ist dadurch bedingt, dass die sinnlich-geistige Natur des Menschen jeden inneren Vorgang zu sinnlicher Wahrnehmbarkeit äußert, in jeder Äußerung innere Vorgänge spiegelt. Wahrgenommen erregt die Äußerung, sich in das Innere des Wahrnehmenden projizierend, den gleichen inneren Vorgang. Den Schrei der Angst vernehmend, empfinden wir die Angst des Schreienden usw.“210

Interessant ist dabei, dass die so festgesetzte Kategorie des Verstehens weit über eine an Texten orientierte Hermeneutik hinausging, obwohl die Methode der Textinterpretation als Modell für die Arbeitsweise des Historikers fungierte. So wie der Textinterpret die Bedeutung eines Textes bestimmt, indem er – über die Betrachtung des Kontextes – die Intention des Verfassers untersucht, so bestimmt der Historiker laut Droysen die Bedeutung einer Handlung, indem er – ebenfalls über die Betrachtung des Kontextes – untersucht, was der Akteur damit gemeint haben könnte.211 Das letzte Ziel dieses hermeneutischen Erfassens von Geschichte aber war für Droysen das Verstehen der geschichtlichen Ideen. Insgesamt unterschied Droysen vier übereinander gelagerte Ebenen:212 1. Pragmatische Interpretation: Hier wird aufgrund von Quellensammlung und -kritik festgestellt, „was eigentlich geschehen ist“. 2. Interpretation der Bedingungen: Damit sind all jene geographischen, technischen, materiellen und mentalen Umstände gemeint, die das Handeln von Individuen beeinflussen. 3. Psychologische Interpretation: Bei dieser versucht der Historiker, sich in den Geist und in die Motive der untersuchten Person hineinzuversetzen. 4. Die Interpretation von Ideen: Bei dieser versucht der Historiker, den Zeitgeist zu ergründen und die Beziehung zwischen diesem und den handelnden Individuen festzustellen.

209 210 211 212

Droysen 1977, 423. Ebd. Vgl. Lorenz 1997, 93. Vgl. ebd., 92f. S. dazu Droysen 1977, 159–216.

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Wichtig für das Verständnis Droysens und des Historismus sind zwei geschichtsphilosophische Annahmen: erstens, dass alle Einzelgeschichten in der Totalität des Geschichtsprozesses in harmonischer Weise aufgehoben sind, und zweitens, dass die historischen Ideen dem geschichtlichen Prozess selbst immanent sind.213 Erst jenseits der Erlangung der reinen Fakten beginnt für Droysen die eigentliche Tätigkeit des Historikers, das Streben nach historischer Wahrheit: „Eine Sammlung von Kenntnissen ist nicht Wissenschaft; und die tote Masse historischer Gelehrsamkeit empfängt erst Leben durch die historische Wahrheit, d. h. durch die Zurückführung auf den höheren Zusammenhang, in dem das Besondere wurde, für den und durch den es wurde.“214

Dieses Hinausgehen über die Faktenebene sei dann aber kein Problem der Methode mehr, sondern das Verstehen, das Suchen nach der Idee der Geschichte: „Wir haben die Zuversicht, dass jede historische Erscheinung ihre Wahrheit hat und gehabt hat, jede Wirklichkeit der Ausdruck eines Gedankeninhaltes ist, durch den eben äußerlich sonst zusammenhanglose Stoffe und Existenzen zusammengehalten, durch den und für den sie ausgeprägt sind. Diese Wahrheiten finden und erfassen heißt verstehen. Die Methode konnte wohl den Mechanismus zeigen, wie man forschend verstehen und das Verstandene darlegen lerne, aber den eigentlichen Akt des Verständnisses, dies kongeniale Zusammenklingen unseres Geistes mit dem Geist, der in den Formen der Wirklichkeit sich ausspricht, konnte die Methode nicht lehren.“215

Dementsprechend strebte Droysen nicht bloß ein nüchternes Erfassen, Rekonstruieren oder Erklären geschichtlicher Ereignisse an, sondern einen „Akt des Verständnisses“, eine „unmittelbare Intuition, als tauche sich Seele in Seele, schöpferisch wie die Empfängnis in der Begattung“216. In diesen Zitaten wird auch ein Unterschied zu der Position Rankes deutlich: Droysen widersetzte sich dem vom frühen Historismus verkündeten, wenn auch nicht umgesetzten Streben nach Neutralität und Objektivität, stellte sich gegen „diese Art von eunuchischer Objektivität“217. 213 214 215 216

Vgl. Mommsen 1988a, 203. Droysen 1977, 60 (Hervorhebungen ebd.). Ebd., 283. Ebd., 424. Diesen „Akt des Verständnisses“ setzt Droysen an dieser Stelle von dem „logischen Mechanismus des Verstehens“ ab. 217 Unter direkter Anspielung auf ein Zitat Wilhelm Wachsmuths (1784–1866), der 1820 in seinem Entwurf einer Theorie der Geschichte den alten Topos vom objektiven Historiker beschworen hatte – „Entwunden allen Banden der Nationalität, allen Lockungen und Ansichten der Partei, des Standes,

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Indem Droysen die historische Erzählung nicht als unmittelbare Wiederholung des äußeren Verlaufs der Dinge charakterisierte, sondern als „eine subjektive Form, die auf ganz andere Weise als durch die Kontinuität der tatsächlichen Dinge, nämlich durch den Gedanken, d. h. durch die historische Wahrheit der Dinge zusammengehalten wird“218, wird auch die Ambivalenz des Wahrheitsbegriffs deutlich, wie er sich nach der Einführung des „Sehepunktes“ durch Chladenius entwickelt hatte. Demzufolge musste Droysen auch den Begriff der historischen Wahrheit vom Wahrheitsbegriff der Naturwissenschaften absetzen und für die Geisteswissenschaften ein eigenes Reich erkämpfen, das unter eigenen Gesetzen steht, die in der Natur des Erlebbaren, Ausdrückbaren und Erkennbaren gegründet sind. Vehement setzte er sich gegen die Anwendung des Wissenschaftsverständnisses und der Methoden der Naturwissenschaften auf die Geschichte zur Wehr: „Wir haben schon früher bemerkt, dass wenn es eine Wissenschaft der Geschichte geben soll, diese ihre eigene Erkenntnisart, ihren eigenen Erkenntnisbereich haben muss; wenn anderweitig die Induktion oder die Deduktion vortreffliche Resultate ergeben hat, so kann das nicht die Folge haben, dass die Wissenschaft der Geschichte sich entweder des einen oder des anderen Verfahrens bedienen müsse; und glücklicherweise gibt es zwischen Himmel und Erde Dinge, die sich zur Deduktion ebenso irrational verhalten wie zur Induktion, die mit der Induktion und dem analytischen Verfahren zugleich die Deduktion und die Synthese fordern, um in der alternativen Betätigung beider nicht ganz, aber mehr und mehr, nicht vollständig, aber annährend und in gewisser Weise erfasst zu werden, die nicht entwickelt, nicht erklärt, sondern verstanden werden wollen.“219 aller Befangenheit durch Glauben, frei von Vorurteilen und von Affekten außer dem für die Wahrheit und Tugend, von Leidenschaften, sine ira et studio, bildet er ein Werk für die Ewigkeit“ (zitiert nach Droysen 1977, 236) –, merkte Droysen lakonisch an, dass er für „diese Art von eunuchischer Objektivität“ danke. „Ich will nicht mehr, aber auch nicht weniger zu haben scheinen als die relative Wahrheit meines Standpunktes, wie mein Vaterland, meine religiöse, meine politische Überzeugung, meine Zeit mir zu haben gestattet.“ (Ebd. [Hervorhebung ebd.].) – In ähnlicher Weise hat zur selben Zeit auch Heinrich von Sybel (1817–1895), der Begründer der Historischen Zeitschrift, voller Freude festgestellt, dass es „keine objektiven, unparteiischen, blut- und nervenlosen Historiker“ mehr gebe: „Ein höchst erheblicher Fortschritt!“ (Sybel 1869, 349.) 218 Droysen 1977, 232. 219 Droysen 1863, 12f. Allerdings musste auch Droysen zugeben, dass sich die Historie angesichts der Erfolge und der Popularität der Naturwissenschaften in der Defensive befand: „Es sind nicht bloß die staunenswürdigen Leistungen und Erfolge der naturwissenschaftlichen Arbeiten, welche die Überzeugung verbreiten, ihre Methode sei die in vorzüglichem Maß wissenschaftliche, die allein wissenschaftliche. Es liegt in der Bildungsweise unseres Zeitalters, in dem Entwicklungsstadium, in das unsere sozialen und sittlichen Zustände eingetreten sind, der tiefere Grund für die Popularität

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1.1.3 Dilthey220 Weiterentwickelt und zu einem „vorläufigen Höhepunkt“ gebracht wurde dieses Geschichtsverständnis durch Wilhelm Dilthey,221 wobei der Historismus in dieser späten Phase durchaus nicht ganz deckungsgleich mit demjenigen in Rankes Epoche war. Ausgehend von der „Versenkung in das Einzelne, durch die Vergleichung dieses Einzelnen mit Anderem“ wollte Dilthey „das Geschäft des Verstehens in immer größere Tiefen der geistigen Welt“ führen.222 An die Stelle des bloßen „Verstehens“ trat bei ihm das Prinzip des „Nacherlebens“, der geistige Nachvollzug des historisch erfahrbaren Denkens und Handelns anderer, ungeachtet des zeitlichen Abstands. Im Zentrum stand bei Dilthey „die Frage nach der wissenschaftlichen Erkenntnis der Einzelpersonen, ja der großen Formen singulären menschlichen Daseins überhaupt“223. Diese Frage war für ihn entscheidend, denn: „Unser Handeln setzt das Verstehen anderer Personen überall voraus; ein großer Teil menschlichen Glückes entspringt aus dem Nachfühlen fremder Seelenzustände; die ganze philologische und geschichtliche Wissenschaft ist auf die Voraussetzung gegründet, dass dies Nachverständnis des Singulären zur Objektivität erhoben werden könne.“224

Dabei ging es Dilthey (wie dem Historismus insgesamt) jedoch nicht um irgendwelche beliebigen Personen aus der historischen Masse. Diese waren für ihn von geringerem Interesse, zumal man sich in normalen Menschen und ihren Äußerungen leicht irren könne. „Aber das Werk eines großen Dichters oder Entdeckers, eines religiösen Genius oder eines echten Philosophen kann immer nur der wahre Ausdruck seines Seelenlebens sein;

220

221 222 223 224

einer Betrachtungsweise, welche für die Welt der quantitativen Erscheinungen die entsprechende ist.“ (Ebd., 2.) Auch zu Dilthey existiert eine sehr umfangreiche Forschung. Vgl. dazu v. a. Rodi 1983; Rickman 1988; Makkreel 1991, bes. 292–318 (Kap. „Hermeneutik und historisches Verstehen“); Thielen 1999. Vgl. auch Owensby 1994, der Dilthey mit postmodernen Denkern wie Derrida und der narrativistischen Strömung der Hermeneutik zusammenbringt (ebd., 128ff.). Vor allem zu nennen sind hier Dilthey 1990a und Dilthey 1992. Die Einschätzung als „vorläufige[r] Höhepunkt“ stammt von Ulrich Muhlack (Muhlack 1998, 114). Dilthey 1992, 213. „Wir verstehen aber die Individuen vermöge ihrer Verwandtschaft untereinander, der Gemeinsamkeiten in ihnen.“ (Ebd.) Dilthey 1990, 317 (dort teilw. hervorgehoben). Ebd. Auch hier betont Dilthey den Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaften: Letztere sind „in ihrer Sicherheit davon abhängig, ob das Verständnis des Singulären zur Allgemeingültigkeit erhoben werden kann. So tritt uns an der Pforte der Geisteswissenschaften ein Problem entgegen, das ihnen im Unterschiede von allem Naturerkennen eigen ist.“ (Ebd. [Hervorhebung ebd.].)

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in dieser von Lüge erfüllten menschlichen Gesellschaft ist ein solches Werk immer wahr, und es ist im Unterschied von jeder anderen Äußerung in fixierten Zeichen für sich einer vollständigen und objektiven Interpretation fähig […].“225

Ziel dieser Interpretation sei die „höchste Art, in welcher die Totalität des Seelenlebens im Verstehen wirksam ist – das Nachbilden oder Nacherleben“226. Das Verstehen oder Nacherleben als Kern dieser psychologisierenden und individualisierenden Interpretation wurde auch von Dilthey – ganz in der Tradition Humboldts und Droysens – eindeutig gegen das Erklären abgegrenzt: „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir.“227 Indem sich die „Bilder, welche die Sinne darbieten, oder die Gedanken, welche sich an sie anschließen, mit Vorstellungen und Gefühlen von Befriedigung, Lebenserfüllung und Glück“, aber auch von „Hemmung und Schmerz“ verknüpften, entstehe aus dem Spiel der Wahrnehmungen und willkürlichen Handlungen ein „Strukturzusammenhang“.228 Entscheidend dabei sei: „Der Strukturzusammenhang wird erlebt. Weil wir […] diesen Strukturzusammenhang, welcher alle Leidenschaften, Schmerzen und Schicksale des Menschenlebens in sich fasst, inne werden, darum verstehen wir Menschenleben, Historie, alle Tiefen und Abgründe des Menschlichen.“229

Voraussetzung sei die Eingebundenheit in einen Zusammenhang: „Der einzelne Vorgang ist von der ganzen Totalität des Seelenlebens im Erlebnis getragen, und der Zusammenhang, in welchem er in sich und mit dem Ganzen des Seelenlebens steht, gehört der unmittelbaren Erfahrung an. Dies bestimmt schon die Natur des Verstehens unserer selbst und anderer. Wir erklären durch rein intellektuelle Prozesse, aber wir verstehen durch das Zusammenwirken aller Gemütskräfte in der Auffassung. Und wir gehen im Verstehen vom Zusammenhang des Ganzen, der uns lebendig 225 Ebd., 320. 226 Dilthey 1992, 214. 227 Dilthey 1990a, 144. Joachim Thielen gibt zu bedenken, dass diese und ähnlich dichotomisch wirkende Äußerungen Diltheys bei genauerer Untersuchung weniger eindeutig sind (vgl. Thielen 1999, 84). Vgl. auch folgende Äußerungen Diltheys zum Thema Verstehen und Interpretation: „Wir nennen den Vorgang, in welchem wir aus Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind, ein Inneres erkennen: Verstehen.“ (Dilthey 1990, 318 [Hervorhebung ebd.].) Das „kunstmäßige Verstehen von dauernd fixierten Lebensäußerungen nennen wir Auslegung oder Interpretation.“ (Ebd., 319 [dort hervorgehoben].) 228 Dilthey 1990a, 205f. 229 Ebd., 206 (dort teilw. hervorgehoben).

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gegeben ist, aus, um aus diesem das Einzelne uns fassbar zu machen. Eben dass wir im Bewusstsein von dem Zusammenhang des Ganzen leben, macht uns möglich, einen einzelnen Satz, eine einzelne Gebärde oder eine einzelne Handlung zu verstehen.“230

Das gegenseitige Verstehen versichere uns der Gemeinsamkeit, die zwischen den Individuen bestehe. Diese seien miteinander durch eine Gemeinsamkeit verbunden, in welcher Zusammengehören oder Zusammenhang, Gleichartigkeit oder Verwandtschaft miteinander verknüpft seien. „Dieselbe Beziehung von Zusammenhang und Gleichartigkeit geht durch alle Kreise der Menschenwelt hindurch.“231 Ohne die Grundlinie seiner Erkenntnistheorie zu ändern, rückt Dilthey später ein wenig von dieser psychologisierenden Position ab. So schreibt er in Bezug auf den Geist des römischen Rechts: „Das Verstehen dieses Geistes ist nicht psychologische Erkenntnis. Es ist der Rückgang auf ein geistiges Gebilde von einer ihm eigenen Struktur und Gesetzmäßigkeit.“232 In diesem Fall, aber beispielsweise auch bei dem Werk eines Dichters, liege der Gegenstand der Geisteswissenschaft „nicht in den Eindrücken, wie sie in den Erlebnissen auftreten, sondern in den Objekten, welche das Erkennen schafft, um diese Eindrücke sich konstruierbar zu machen. Hier wie dort wird der Gegenstand geschaffen aus dem Gesetz der Tatbestände selber.“233 Diese Objektivation des Lebens sei entscheidend für die Geisteswissenschaften: „Ihr Umfang reicht so weit wie das Verstehen, und das Verstehen hat nun seinen einheitlichen Gegenstand in der Objektivation des Lebens. […] Nur was der Geist geschaffen hat, versteht er.“234

1.2 Zwischenfazit Der Historismus, wie er sich im 19. Jahrhundert in Deutschland entwickelte, war vor allem durch zwei Charakterzüge gekennzeichnet: zum einen durch die Überzeugung, dass die Historie als Wissenschaft mithilfe strenger methodischer Regeln und strikter Faktentreue zur Erkenntnis der „objektiven“ geschichtlichen Wirklichkeit gelangen könne; zum anderen durch die „Überzeugung vom wesentlichen Sinn des Geschichtsverlaufs“235, durch die die Fokussierung auf das Individuelle geschichtsphilosophisch zurückgebunden und über einen reinen Faktenpositivismus hinausgeführt wurde. 230 231 232 233 234 235

Ebd., 172 (dort teilw. hervorgehoben). Dilthey 1992, 141. Zu diesem Punkt vgl. ebd., 259. Ebd., 85. Ebd., 85f. Ebd., 148. Gross 1998, 257.

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Dabei folgten die meisten deutschen Historiker den theoretischen Überlegungen eines Droysen oder Dilthey nicht in der ganzen Radikalität ihrer Psychologisierung, sondern waren damit zufrieden, wenn so die methodische Eigenständigkeit der Geschichtswissenschaft philosophisch untermauert wurde. „Ansonsten aber herrschte eher eine entgegengesetzte Tendenz vor, nämlich der ‚verstehenden Methode‘ eine zunehmend pragmatische Wendung zu geben.“236 Als Muster dieser pragmatischen Variante der Hermeneutik kann das Lehrbuch der historischen Methode (1889 u. ö.) von Ernst Bernheim (1850–1942) gelten.237 Darin wird „die subjektive Möglichkeit sicheren historischen Wissens“ auf „die unmittelbare Beziehung unseres Geistes zu den Objekten des historischen Erkennens“ gegründet, dieser jedoch „die objektive Möglichkeit sicheren historischen Wissens“ in Gestalt eines geschlossenen Zusammenhangs gesicherter historischer Tatsachen zur Seite gestellt.238 Hier wird unter „Verstehen“ also nicht ein methodischer Zugang zur Erschließung der geistigen Welt überhaupt gefasst, sondern pragmatisch reduziert auf ein sozialpsychologisch verkürztes Verständnis von Handlungen und über diese von Motiven.239 Der Historismus hatte maßgeblichen Anteil am Verwissenschaftlichungs- und Professionalisierungsprozess der Geschichtsschreibung überhaupt.240 Ausgehend von der 1810 gegründeten Universität Berlin, dem Muster der Reformuniversität schlechthin, trieb der Historismus die Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft voran. Die Gründung von historischen Lehrstühlen mit staatlich bezahlten, aber wissenschaftlich freien Professoren, die Einführung des „historischen Seminars“ als Schule machender Verbindung von Wissenschaft und Ausbildung, die Einrichtung von Bibliotheken und auch die Gründung der Historischen Zeitschrift im Jahr 1859 waren Schritte einer Verwissenschaftlichung, die in Deutschland Jahrzehnte eher erfolgte als in allen anderen Ländern. Daneben verschaffte der Historismus der deutschen Geschichtswissenschaft aber auch eine Identität. Die Historiker wurden zu einer „scientific community“, die zudem hohes Ansehen in Politik, Kultur und Gesellschaft genoss.241

236 237 238 239

Mommsen 1988a, 205. Vgl. ebd. Vgl. ebd. (dort auch Nachweis der angeführten Stellen aus Bernheims Lehrbuch). Den bedeutendsten Beitrag in der weiteren Diskussion über den Unterschied zwischen den Methoden der Naturwissenschaften und der Historie lieferte Wilhelm Windelband (1848–1915). 240 Vgl. Fuchs 1997, 396. 241 Vgl. dazu Simon 1996, 107ff. Dort (100ff.) finden sich auch Informationen über die Rahmenbedingungen der Entwicklung des Historismus. Zur sozialen Herkunft etc. der deutschen Historiker im 19. Jahrhundert vgl. Weber 1984.

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1.3 Kritiker des Historismus Als Weltanschauung hoch angesehen, behauptete der Historismus als Wissenschaftskonzeption für die Historiographie in Deutschland nahezu ein Monopol. Die deutschen (bzw. deutschsprachigen) Kritiker des Historismus waren im 19. Jahrhundert fast ausschließlich „Eindringlinge“ von außen, Literaten wie Heinrich Heine (1797– 1856), der die Universitätshistoriker beschuldigte, unter der Maske der „objektiven“ Forschung das repressive Regime zu unterstützen,242 oder Philosophen wie Friedrich Nietzsche (1844–1900), der der Geschichtsschreibung jeglichen Anspruch auf Wahrheit, Objektivität und damit Wissenschaftlichkeit rundherum absprach: „Die Historie, sofern sie im Dienste des Lebens steht, steht im Dienste einer unhistorischen Macht und wird deshalb nie, in dieser Unterordnung, reine Wissenschaft, etwa wie die Mathematik es ist, werden können und sollen.“243

Er wandte sich gegen den Gedanken, dass es eine objektive Wahrheit gebe, die nicht an die Subjektivität des Denkers und seine kulturelle Zugehörigkeit gebunden sei. „Was ist also Wahrheit?“, fragte er und gab die Antwort: „Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken […].“244

Die Wahrheit bestehe aus Illusionen, von denen man vergessen habe, dass sie Illusionen sind. Für Nietzsche war Wissen immer auch eine Form von Macht. Zudem kritisierte er die „Übersättigung“ und die „Ausschweifungen des historischen Sinnes“, die schädlich und lähmend auf die Gegenwart wirkten. Die Historie müsse vielmehr Mittel gegen die blinde Macht der Wirklichkeit, gegen die „Krankheit der Geschichte“ werden. Einer der wenigen professionellen Historiker von Rang, die sich gegen den Historismus stellten, war Jacob Burckhardt (1818–1897). Seine Opposition gegen das „kecke Antizipieren eines Weltplans“245 durch die Geschichtsphilosophen und seine Gesellschafts- und Kulturkritik der Industriegesellschaft, die zu der historistischen Gleichsetzung des modernen Machtstaates mit dem Prinzip der Sittlichkeit schlecht242 243 244 245

Vgl. Gross 1998, 162. Nietzsche 1977, 219. Nietzsche 1956, 314. J. Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, GW IV (1956), 2, zitiert nach Mommsen 1972, 12.

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hin in krassem Widerspruch stand, verschafften ihm seine „heute so beeindruckende Außenseiterstellung innerhalb der historischen Tradition“246.

1.4 Positivismus Während also der Historismus mit aller Kraft versuchte, die Geschichtswissenschaft durch die Methode des hermeneutischen Verstehens von den Naturwissenschaften abzugrenzen und ihr eine eigenständige Wissenschaftlichkeit zu erkämpfen, beschritten die Anhänger des Positivismus den entgegengesetzten Weg. Sie wollten die Geschichtsschreibung – die sie weniger als Geistes- und mehr als Sozialwissenschaft verstanden – erkenntnistheoretisch an die Naturwissenschaften angliedern bzw. sie mit diesen in ein einheitliches Wissenschaftskonzept überführen. Im Zentrum dieser neu ausgerichteten Historiographie sollte die Suche nach den die Geschichte bestimmenden Gesetzen stehen, wodurch man die Historiographie auch vor den Gefahren des Relativismus und der Vagheit und Unwissenschaftlichkeit eines bloß intuitiven Verstehens retten wollte. Zwar gab es eine „zunehmend erbitterte Schlacht“247 zwischen diesen beiden Strömungen, aber im Grunde blieb die positivistische Sichtweise in ihrer streng nomothetischen, auf die Auffindung von Gesetzmäßigkeiten zielenden Form immer auf der erkenntnistheoretischen Ebene stecken und fand außer in wenigen Versuchen nie Eingang in die praktische Geschichtsschreibung. Der Ursprung dieser Auffassung von Historiographie war die Wissenschaftsphilosophie Auguste Comtes (1798–1857), wie er sie vor allem in seinem zwischen 1830 und 1842 veröffentlichtem Cours de la philosophie positive entwickelte. Ziel einer Geschichtsschreibung im positiven oder wissenschaftlichen Stadium – der obersten Stufe in Comtes Dreistadiengesetz (über dem fiktiven bzw. theologischen und dem abstrakten bzw. metaphysischen Stadium) – müsse sein, ohne jegliche metaphysische Spekulation wie „Idee“, „Geist“ oder „Gott“, nur aufgrund der aus empirischer Forschung gewonnenen historischen Fakten zu Verallgemeinerungen über den Geschichtsverlauf zu gelangen.248 Bislang hätten die Historiker, so Comte, nur einen „unförmigen Haufen Fakten“ produziert, „der völlig zu Unrecht Geschichte genannt wird“.249 „Allein der positive Geist kann […] alle großen Geschichtsepochen als ebensoviele bestimmte Phasen einer gleichen grundlegenden Entwicklung darstellen, wobei jede aus 246 247 248 249

Ebd., 13. Breisach 1983, 269: „[…] increasingly fierce battle […].“ Vgl. Fuchs 1997, 400f. „[…] the shapeless heap of facts improperly called history.“ (The Essential Comte [1974], 204, zitiert nach Breisach 1983, 274.)

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der vorangehenden hervorgeht und die folgende auf Grund unwandelbarer Gesetze vorbereitet […].“250

Comtes philosophischer Entwurf zielte allerdings eher auf eine neu zu gründende Soziologie als auf die Historiographie. Da deren Gegenstand per definitionem immer vergangen und damit keiner direkten, empirischen Beobachtung zugänglich sei, billigte Comte ihr nur den Rang einer Hilfsdisziplin zu. Entsprechend wenig Resonanz fand er unter den zeitgenössischen Historikern.251

1.4.1 Ansätze positivistischer Geschichtsschreibung

Als „entscheidender Transformator“252 zwischen der positivistischen Philosophie Comtes und der Geschichtsschreibung wirkte der Engländer Henry Thomas Buckle (1821–1862), der als Amateurhistoriker, als englischer Privatgelehrter par excellence, dennoch eine sehr große Bekanntheit bei der europäischen Intelligenz erreichte. Mit seiner zweibändigen History of Civilization in England von 1857 bzw. 1861 unternahm er den Versuch einer positivistischen Geschichtsschreibung. „Es ist ein eigentümlich unglücklicher Umstand“, stellte Buckle fest, „dass die Geschichte des Menschengeschlechts wohl in ihren gesonderten Teilen mit bedeutendem Talent untersucht worden, dass aber kaum irgendwer es unternommen hat, sie zu einem Ganzen zusammenzufügen und ausfindig zu machen, wie sie mit einander verbunden sind. […] Da nun bei all der Masse des Stoffs unsere Kenntnis der Geschichte so unvollkommen ist, so scheint es wünschenswert, nach einem weit umfassenderen Plane als bisher etwas zu unternehmen […], um dieses große Gebiet der Forschung mit anderen auf gleiche Höhe zu bringen und das Gleichgewicht und die Harmonie unseres Wissens zu bewahren. […] In der Natur sind die scheinbar unregelmäßigsten und widersinnigsten Vorgänge erklärt und als im Einklange mit gewissen unwandelbaren und allgemeinen Gesetzen nachgewiesen worden. Dies ist gelungen, weil Männer von Talent und vor allem von geduldigem und unermüdlichem Geist die Phänomene der Natur studiert haben mit der Absicht, ihr Gesetz zu entdecken; wenn wir nun die Vorgänge der Menschenwelt einer ähnlichen Behandlung unterwerfen, haben wir sicher alle Aussicht auf einen ähnlichen Erfolg.“253 250 Comte 1956, 127. 251 In eine ähnliche Richtung wie Comte zielte das System of Logic von John Stuart Mill (1804–1873) von 1843, und der Philosoph Louis Bourdeau (1824–1900) entwickelte eine Geschichtstheorie, die auf den Überlegungen Comtes beruhte. 252 Fuchs 1997, 404. 253 Buckle 1901, Bd. 1, Abt. I, 3, 5.

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Anstatt dem Glauben anzuhängen, dass die menschliche Geschichte zwangsläufig mysteriös oder durch Vorhersehung gelenkt sein müsse, sollten sich die Historiker auf die Suche nach den Gesetzen machen, die die menschlichen Geschicke bestimmen. Da „die Geschichte mit den Handlungen der Menschen zu tun hat, ihre Handlungen aber nur das Erzeugnis eines Zusammentreffens innerer und äußerer Erscheinungen sind“, sei es nötig und möglich, die „unnatürliche Trennung dieser zwei großen Wissenszweige […], die Trennung des Studiums der Innenwelt von dem der Außenwelt“ aufzuheben und die Geschichte mithilfe naturwissenschaftlicher Methoden zu untersuchen.254 Als die entscheidenden äußeren Elemente betrachtete Buckle natürliche Faktoren wie Klima, Boden, Nahrung etc.; zu ihrer Untersuchung zog er bereits statistische Daten heran. Auf der Grundlage dieser natürlichen Faktoren sollte dann die geistige Entwicklung der Menschheit als der entscheidende Faktor der historischen Entwicklung untersucht werden, wobei Buckle vor allem einen Zusammenhang zwischen den klimatischen Bedingungen in Europa, besonders in England, und dem geschichtlichen Fortschritt vermutete. Insofern diese Geschichtsschreibung über die Politik und die Taten großer Männer hinaus die sozialen und ökonomischen Bedingungen gesellschaftlicher Massen sowie deren natürliche Grundlagen in den Blick nahm, unterschied sie sich in ihrem Untersuchungsgebiet auf modern anmutende Weise vom Historismus. Der entscheidende Unterschied aber lag in der erkenntnistheoretischen Ausrichtung auf grundlegende Gesetze mit all ihren Konsequenzen für die Methodik der Geschichtswissenschaft. Dieser nomothetische Positivismus, wie er von Buckle in seiner reinsten Form, aber immer noch explizit als ein erster Versuch in die praktische Geschichtsschreibung eingebracht wurde, löste heftige Debatten aus. In seinem Heimatland fand Buckle nur wenige Unterstützer wie William Edward Lecky (1838–1903) und später John Bagnell Bury (1861– 1927). In Deutschland stand er gar einer Phalanx des Historismus gegenüber,255 während sein Werk in den USA auf „enthusiastische“256 Zustimmung stieß. Das Gegenstück zu Buckle in Frankreich, dem Heimatland Comtes, war Hippolyte Taine (1828–1892), der zwar die deutschen Historiker für ihren strengen Umgang mit den Fakten bewunderte, aber deren Glauben an eine transzendentale Idee hinter der 254 Ebd., 31. 255 Die maßgebende Antwort des Historismus stammt von Droysen (Droysen 1863). Zur Debatte in England vgl. Fuchs 1997, 404ff. Die deutsche Ausgabe von Buckle erschien erstmals 1860, 1881 dann bereits in der sechsten Auflage. Unter den Laien und in den Nachbardisziplinen war die Haltung Buckle gegenüber freundlicher als in der Historikerzunft. 256 Breisach 1983, 275.

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Geschichte und ihre Ausrichtung auf das Einzelne ablehnte. Stattdessen versuchte er zu zeigen, wie sehr die menschliche Geschichte von langfristigen Kräften wie geographischen Umständen oder der „Rasse“ determiniert ist, und hoffte auf die Aufdeckung der geschichtsbestimmenden Gesetze. Eine wichtige Wegmarke des Positivismus in den Sozialwissenschaften war – bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts – der Versuch Emile Durkheims (1858–1917), die Überlegungen Comtes für die Soziologie zu nutzen, wobei er wie dieser der Historiographie nur eine Funktion als Hilfswissenschaft zubilligte. Dennoch sollte dieses Konzept mit der Betonung der sozialen Kräfte gegenüber den Einzelereignissen großen Einfluss auf die nach dem Ersten Weltkrieg zunächst in Frankreich, dann international entstehende Sozial- und Strukturgeschichte ausüben. Ebenfalls von großer Bedeutung für die französische Geschichtsschreibung war die 1900 erfolgte Gründung der Revue de synthèse historique durch Henri Berr (1863– 1954). Der programmatische Titel der Zeitschrift zielte zum einen auf eine Verschmelzung der soziologischen mit der historischen Methode: Es ging nicht um absolute und deterministische Gesetze, aber es ging um Generalisierungen und Strukturen. Zum anderen wurde eine Kooperation vieler verschiedener Disziplinen wie der traditionellen Geschichtsschreibung, der Ökonomie, der Geographie, der Volkskunde etc. angestrebt. Somit waren in dieser „synthèse historique“ bereits Elemente angelegt, die der späteren Annales-Schule den Weg bereiteten. Gegen Ende des Jahrhunderts gab es dann auch in Deutschland einen positivistischen Vorstoß gegen die bislang fest geschlossene Einheitsfront des Historismus. Über Jahrzehnte hinweg hatte es nur sehr wenig Kritik an diesem Geschichtsverständnis und an dessen absoluter Dominanz in der Historikerzunft gegeben und wenn, dann zumeist von Außenseitern (s. die oben angeführten Äußerungen Heines und Nietzsches). Auch als sich um die Jahrhundertwende bereits eine Krise des Historismus anbahnte, wurden die Zweifel vor allem von Nicht-Historikern wie dem Philosophen Heinrich Rickert (1863–1936), dem Theologen Ernst Troeltsch (1865–1923) und dem Soziologen Max Weber (1864–1920) geäußert. Die Historiker blieben überzeugte Historisten – mit Ausnahme Karl Lamprechts (1856–1915), der einen positivistischen Vorstoß wagte und damit eine wissenschaftliche Auseinandersetzung auslöste, die sogleich Züge eines Glaubenskrieges annahm.257 257 Zum Charakter des Historismus als Geschichtsreligion vgl. Hardtwig 1991. Für eine Demonstration, wie heftig und persönlich dieser Streit ausgefochten wurde, vgl. Friedrich Meineckes (1862–1954) Nachruf auf Lamprecht, der nach dessen Tod 1915 in der Historischen Zeitschrift veröffentlicht wurde und für den das Motto „de mortuis nil nisi bene“ offensichtlich nicht gilt (Meinecke 1915). Zu Lamprecht vgl. Metz 1979, 424–645; Schorn-Schütte 1984.

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Lamprecht kritisierte die Ranke’sche Tradition der individualisierenden und beschreibenden Politikgeschichte als unwissenschaftlich und ideologisch und forderte stattdessen eine Ausrichtung auf das Allgemeine und Typische. Die Historiker müssten die Formulierung allgemeiner Entwicklungsgesetze anstreben und dafür den Geschichtsverlauf als Folge kollektiver geistiger Zustände und unter Einbeziehung der ökonomischen Grundlagen interpretieren. Das Ziel war somit, in Lamprechts eigenen Worten, „eine einseitige, die politische Seite der Geschichte ausschließlich oder doch ganz vornehmlich ins Auge fassende Geschichtsschreibung durch eine allseitige, dem Ganzen des geschichtlichen Lebens gerecht werdende Geschichtsauffassung zu ersetzen und für diese die richtige wissenschaftliche Methode zu finden“258. Als vom Historismus nicht geleistete Grundbedingung von Wissenschaftlichkeit sah Lamprecht den Ausschluss jeglicher Wertbeziehung aus dem Bereich der Historiographie. Zwar ging auch er davon aus, dass das erkennende Subjekt durch sein Interesse den Gegenstand historischer Erkenntnis konstituiere, doch hielt er im folgenden Erkenntnisschritt eine objektive, nomothetische Wissenschaft von der Geschichte für möglich.259 In der Praxis blieb Lamprecht jedoch bei einem sehr soziologischen Schema hängen, zudem musste er ab und zu Gewalt anwenden, um die Fakten in sein Schema eingliedern zu können – zwei Punkte, die den Verteidigern des klassischen Historismus so viel Munition in die Hand gaben, dass sie sich dieses Widersachers mit einer „regelrechten Abschlachtung“ in der Historischen Zeitschrift entledigen konnten.260 Im Ergebnis führte dieser Streit für lange Zeit zum „totalen Ausschluss der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte von der deutschen Universität“261.

1.4.2 Marx und Engels Als eine Sonderform der positivistischen Geschichtsauffassung kann der Historische Materialismus gesehen werden, den Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels 258 Lamprecht 1897, 195. 259 Vgl. Schorn-Schütte 1984, 141. 260 S. Below 1898. Die Charakterisierung dieses Artikels als „Abschlachtung“ stammt von Hans-Josef Steinberg (Steinberg 1971, 60). 261 Kehr 1970, 265. – In der English Historical Review erschienen 1892 (ein Jahr nach der Veröffentlichung des ersten Bandes von Lamprechts Deutscher Geschichte) sowie in den Folgejahren (nach den weiteren Bänden) positive Rezensionen. Aber die Resonanz blieb gering, das Werk wurde zwar positiv, aber eher beiläufig aufgenommen. Es wurde auch nicht weiter auf den Methodenstreit verwiesen. Das lag einerseits daran, dass die britische Wissenschaft den Vorgängen auf dem Kontinent ohnehin wenig Beachtung schenkte, andererseits aber auch daran, dass die im Methodenstreit diskutierten Themen – die Stellung der Geschichte im Wissenschaftssystem, ihre Methode, vor allem Kausalerklärung und Gesetzeserkenntnis – in Großbritannien bereits seit Jahrzehnten diskutiert wurden.

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(1820–1893) entwickelten und der, nicht zuletzt durch die politischen Umstände, zu einer wichtigen Strömung der Historiographie im nächsten, dem 20. Jahrhundert werden sollte.262 Mit ihrer materialistischen Sicht der Geschichte wollten Marx und Engels die übliche Betrachtung durch Idealismus und Historismus vom Kopf wieder auf die Füße stellen. „Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte: die bisher unter ideologischen Überwucherungen verdeckte einfache Tatsache, dass die Menschen vor allen Dingen zuerst essen, trinken, wohnen und sich kleiden müssen, ehe sie Politik, Wissenschaft, Kunst, Religion usw. treiben können […].“263

Dabei knüpften sie an Elemente an, die in der Aufklärungshistorie wurzelten, im deutschen Historismus aber negiert oder jedenfalls marginalisiert worden waren – etwa der möglichst enzyklopädische Einsatz aller Wissensbereiche, auch der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, sowie die Verbindung von Natur- und Menschengeschichte –, und setzten sich das positivistische Ziel einer nomothetischen Sozialwissenschaft.264 Die Geschichte war für Marx und Engels „ein gesetzmäßiger Prozess von Veränderungen im Gefüge der gesellschaftlichen Verhältnisse“265, was Marx vor allem im Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie (1859) entwickelt und in späteren Arbeiten, nicht zuletzt im Kapital (1867), fortgeführt hat. Wiederholt – zuerst bereits 1844 – sprach Marx von der Geschichte als „Naturgeschichte des Menschen“ und betrachtet sie als einen „objektiven Ablauf “266. Die einzelnen Menschen hingegen sah er häufig nur als „Personifikationen ökonomischer Kategorien, als Rollenträger bestimmter Klassenverhältnisse und Interessen“267. So heißt es im Vorwort zum Kapital: „Weniger als jeder andere kann mein Standpunkt, der die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozess auffasst, den Ein-

262 Zur marxistischen Geschichtstheorie gab es im Laufe der Zeit mehr Kontroversen als Übereinstimmung. Insofern ist der hier gewählte Ansatzpunkt zu dessen Einordnung nur einer von vielen möglichen. Zu Marx als Historiker vgl. bspw. Groh 1972. 263 Engels 1962, 335. 264 Vgl. Küttler 1997, 384f. 265 Fleischer 1969, 34 (dort teilw. hervorgehoben). Fleischer unterscheidet drei Antworten, die Marx/ Engels auf die Frage nach dem Wesen von Geschichte gegeben hätten: 1. Geschichte (in Bezug auf ihren Sinn) als „Menschwerdung“, 2. Geschichte als Praxis und 3. eben (in Bezug auf die objektive Struktur- und Prozesslogik) Geschichte als naturgeschichtlicher Prozess (vgl. ebd., 11–43). 266 Korsch 1967, 136 (dort hervorgehoben). 267 Fleischer 1969, 37.

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zelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, so sehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag.“268

Dass auf dem geschichtlichen Gebiet ein Zustand herrscht, „der ganz dem in der bewusstlosen Natur herrschenden analog ist“269 und in dem die Individuen mitsamt ihren Vorstellungen und Motivationen eine untergeordnete Rolle spielen, lag für Marx und Engels darin begründet, dass zwar die Zwecke der menschlichen Handlungen gewollt seien, nicht aber die Resultate: Die Absichten durchkreuzten sich, die Mittel seien unzulänglich und die Ziele nicht zu erreichen. „Die geschichtlichen Ereignisse erscheinen so im Ganzen und Großen ebenfalls als von der Zufälligkeit beherrscht. Wo aber auf der Oberfläche der Zufall sein Spiel treibt, da wird er stets durch innere verborgene Gesetze beherrscht, und es kommt nur darauf an, diese Gesetze zu entdecken.“270

1.5 Mischformen In der Praxis mieden die meisten professionellen Historiker des 19. Jahrhunderts eine Festlegung auf eine der beiden geschichtswissenschaftlichen Reinformen: den streng nomothetisch ausgerichteten Positivismus in der Nachfolge Comtes auf der einen Seite oder den geschichtsphilosophisch und psychologistisch aufgeladenen Historismus eines Droysen oder Dilthey auf der anderen. Stattdessen herrschten pragmatisch zurechtgestutzte Varianten oder auch Mischformen vor. Gerade in Frankreich war eine Geschichtsschreibung weit verbreitet und einflussreich, die (nicht zuletzt von ihren Kritikern) mit dem Etikett „positivistisch“ versehen wurde, die jedoch nicht die Suche nach Gesetzen zu ihrem Ziel erklärte. Ihr Positivismus war vielmehr ein „Positivismus des Dokuments“, worunter ihre Anhänger eine faktengetreue, empirische Wissenschaftlichkeit ohne jede Anlehnung an eine Geschichtsphilosophie und auch ohne jeden Patriotismus verstanden. Ein wichtiges Beispiel für diese Strömung war Numa-Denis Fustel de Coulanges (1830–1889), der dem Applaus nach seinen Vorlesungen gerne mit dem tadelnden Hinweis begegnete, dass ja nicht er selbst gesprochen habe, sondern die Geschichte durch ihn.271 Doch damit der Historiker zum Sprachrohr der Geschichte werden könne, sei die überaus 268 269 270 271

Marx 1962, 16. Engels 1962a, 297. Ebd. Vgl. Becker 1935, 250.

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genaue und mühselige Arbeit mit den Quellen unerlässlich. Nur so könne er sich in die untersuchte Vergangenheit zurückversetzen: „Für einen Menschen unserer Zeit ist es schwierig, sich in den Strom von Ideen und Ereignissen zu begeben, aus denen sie entstanden sind. Nur durch ein geduldiges Studium der Schriften und Dokumente, die jedes Jahrhundert hinterlassen hat, darf man auf Erfolg hoffen. Es ist unserem Geist auf keinem anderen Weg möglich, sich von den gegenwärtigen Problemen hinreichend zu lösen und jeder Voreingenommenheit soweit zu entrinnen, dass er sich mit einiger Genauigkeit in das Leben der Menschen von einst versetzen kann.“272

Dieser Glaube, dass die geschriebene Quelle für sich selbst spreche, dass sie auf klare Forschungsfragen eines unparteiischen Historikers antworte und dass die Dokumente die geschichtlichen Tatsachen enthielten, war genauso repräsentativ für die „positive“ Strömung der französischen Geschichtswissenschaft wie Fustels Anspruch, den Patriotismus als Tugend strikt von der Geschichte als Wissenschaft zu trennen:273 Die Geschichte „ist eine Wissenschaft und muss es sein“274. Sie war für ihn durch eine gewissenhafte Quellenkritik begründet, deren Regeln der Historiker unerschütterlich befolgen müsse. Apriorische Ideen verwarf er als Übel, womit er vor allem die deutsche Geschichtsphilosophie meinte. Als der beste Historiker galt ihm derjenige, der den Quellen am nächsten stehe, sie genau interpretiere und nur auf ihrer Grundlage schreibe.275 Weitere wichtige Vertreter dieser Strömung waren neben Ernest Lavisse (1842– 1922) vor allem Charles Seignobos (1854–1942)276 und Charles-Victoire Langlois (1862–1929), deren Introduction aux études historiques (1898) als die Kanonisierung der „positiven“ historischen Methode gelten kann. Die Einführung ging von dem Modell der Naturwissenschaften als Maßstab für die Wissenschaftlichkeit einer Disziplin aus, doch betonte sie, dass den Historikern eine unmittelbare Beobachtung verwehrt sei, weil sie in allererster Linie auf geschriebene Dokumente angewiesen seien. Zum Ausgleich müssten sie über die Fakten zu rationalen Analysen bzw. zu theoretischen Spekulationen gelangen. Diese könnten zunächst zwar immer nur „Annahmen 272 N.-D. Fustel de Coulanges, Geschichte der politischen Institutionen im alten Frankreich (1875), Einleitung, zitiert nach Stern 1966, 192–194, hier: 192f. 273 Vgl. ebd., 182. 274 N.-D. Fustel de Coulanges, Eröffnungsvorlesung des Studienjahres 1862, zitiert nach Stern 1966, 183– 192, hier: 183. 275 Vgl. Carbonell 1981, 99. 276 Seignobos 1901.

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einer Wahrheit“ bieten, doch wenn mehrere dieser Vermutungen zusammenwirkten, verstärkten sie einander und führten letztendlich zu Sicherheit.277 Für die Historiker besteht dabei die Notwendigkeit, aber auch die Möglichkeit, ihre Person „auszulöschen“, um so die Ereignisse „objektiv“ beschreiben zu können. Ähnliche Mischformen wie in Frankreich gab es auch in anderen Ländern. Hier folgten viele Historiker einer Geschichtsschreibung Ranke’scher Prägung, die sie jedoch von dessen immanenter Geschichtsphilosophie und – gerade in den USA – von den konservativen und antidemokratischen Einflüssen zu befreien gedachten. Erleichtert wurde dies durch das Missverständnis, dass man den Ranke’schen Anspruch, „nur zu zeigen, wie es eigentlich gewesen“, und seine Fixierung auf die historischen Tatsachen als schlichten Faktenpositivismus verstand und die für einen deutschen, an Kant geschulten Denker unweigerlich mitschwingenden philosophischen Implikationen schlicht übersah.278 In der englischen Geschichtsschreibung fand eine ähnliche Entwicklung wie in Frankreich statt. Nach Abflauen der ersten hitzigen Debatten zwischen den Anhängern des Positivismus und seinen zahlreichen Gegnern, zu welchen unter anderen Lord Acton (1834–1902) zählte, gewann die positivistisch genannte Geschichtsschreibung zwar immer mehr Anhänger, doch stand diese Bezeichnung nun nicht mehr für die Suche nach geschichtsdeterminierenden Gesetzen, sondern für eine allgemeine

277 Langlois/Seignobos 1898. Vgl. Keylor 1975, 79. – Die Frage nach der Konkurrenzfähigkeit der Geschichtsschreibung mit den Naturwissenschaften wurde in Frankreich durchaus rege diskutiert. Als Beispiele sollen hier Paul Lacombe, De l’histoire considérée comme science (1894), Alexandre Xénopol, Les principes fondamentaux de l’histoire (1899) sowie Gabriel Monod (1844–1912) genannt werden. Monod bspw. glaubte weder an die Möglichkeit, das Vergangene so darstellen zu können, „wie es eigentlich gewesen ist“, noch an die Fähigkeit der Historiographie, die Sicherheit der Naturwissenschaften zu erreichen. „The modern historian was therefore condemned to a vain quest for the ‘[general] laws that seem to be the very condition of a true science.’” (Keylor 1975, 86, mit einem Zitat aus Gabriel Monod, La méthode en histoire [o. J.].) Nur kurze Zeit nach der Einführung meldete sich Seignobos ferner mit einem weiteren Buch zu Wort, in dem er noch weitaus deutlicher für eine nomothetische Geschichtsschreibung eintrat. 278 Vgl. Iggers 1993, 25. Gerade in den USA genoss Ranke großes Ansehen, die American Historical Association wählte ihn sogar zu ihrem ersten Ehrenmitglied. – Eine wichtige Verschiebung bei der Rezeption des deutschen Historismus im Ausland betraf das Wissenschaftsverständnis: „Das ‚deutsche Modell‘ fußte auf einem bestimmten Wissenschaftsbegriff, der die konzeptionelle Trennung zwischen Geist/Kultur und Natur implizierte. Dieser Aspekt wurde in der Regel nicht übernommen, so wenig wie die impliziten Ansichten des Historismus über Gesellschaft und Politik. In Westeuropa und Übersee erfolgte die Rezeption des ‚deutschen Modells‘ vielmehr geradezu gegen den deutschen Wissenschaftsbegriff, indem die mit der Professionalisierung einhergehende, erwünschte Verwissenschaftlichung der Historie an einem science-Begriff festgemacht wurde, der für positivistisches Denken (im engeren wie im weiteren Wortsinn) durchaus offen blieb.“ (Simon 1996, 130.)

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Wissenschaftlichkeit und einen Faktenpositivismus.279 Die verbindende Maxime lautete zwar: „The extension of the methods of physical science to the whole domain of knowledge.“280 Doch wurden die vorbildlichen Elemente der Naturwissenschaften nun eben nicht in einer nomothetischen Ausrichtung, sondern in einer systematischen, spezialisierten und empirischen Forschung gesehen, die sich auch von Literatur und Geschichtsphilosophie lösen sollte. Während in Deutschland weiter der Historismus vorherrschte, ist dieses starke Aufkommen des „Positivismus des Dokuments“ charakteristisch für die außerdeutsche Entwicklung. Deren weiteres gemeinsames Merkmal ist die große Bandbreite an historiographischen Strömungen. So gab es beispielsweise in England neben den Vertretern der gemäßigten Strömungen, die entweder einen Positivismus ohne Gesetze oder eine Ranke-Geschichtsschreibung ohne idealistischen Überbau anstrebten, und den reinen Positivisten auch überzeugte Historisten wie William Stubbs (1825–1891) oder John Richard Green (1837–1885). Und es gab Anhänger einer traditionellen Geschichtsschreibung – allen voran George M. Trevelyan (1876–1962) –, die jegliche Wissenschaftlichkeit ablehnten und die Historie im alten Sinn als Literatur sowie als erzieherische und moralische Aufgabe ansahen. Insgesamt kann man sagen, dass in der englischen Geschichtsschreibung des späten 19. Jahrhunderts kein vorherrschendes Paradigma existierte und somit – anders als im Lamprecht-Streit – auch keines infrage gestellt werden konnte.281 Auch in der französischen Geschichtsschreibung spielte die literarische Komponente eine wichtige Rolle. Einerseits wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Gegensatz literarisch – wissenschaftlich als Unterscheidungsmerkmal und als Grenze zwischen einer früheren und einer nun begonnenen Phase in der Historiographie gewertet und somit die literarische Geschichtsschreibung als nicht mehr zeitgemäß angesehen: „La littérature historique a fleuri abondamment pendant les trois premiers quarts du siècle qui finit.“282 Andererseits wurde damit aber auch die große Tradition ebendieser literarischen Geschichtsschreibung und die Brillanz beispielsweise eines Jules Michelet anerkannt.283 Die strenge Einstellung wird deutlich in dem programmatischen Vorwort zur ersten Ausgabe der Revue Historique (1876).284 Dort fordern die Herausgeber 279 Vgl. Fuchs 1993, 243ff. 280 So der britische Historiker John Seeley (1834–1895), zitiert nach Fuchs 1993, 245 (dort teilw. hervorgehoben). 281 Vgl. ebd., 251. 282 Langlois 1900, 234. 283 Vgl. Becher 1986, 31. Zu Michelet s. u. den letzten Absatz dieses Kapitels. 284 Die folgenden Zitate nach Stern 1966, 177.

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von den Mitarbeitern „eine strenge wissenschaftliche Darstellungsweise, in der jede Behauptung durch Beweise, Verweise aus Quellen und Zitate belegt ist“. Sie „schließen Verallgemeinerungen und rhetorische Ausführungen strikt aus“, um „der Revue Historique [dadurch] jenen literarischen Charakter [zu bewahren], dem die Gelehrten ebenso wie die französischen Leser zu Recht einen so hohen Wert beimessen“. Ein weiteres gemeinsames Merkmal der außerdeutschen Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert war die relativ späte Professionalisierung, die hier erst Generationen später als in Deutschland einsetzte.285 Ein Indikator dafür sind die Gründungsdaten der großen nationalen historischen Zeitschriften: Während die Historische Zeitschrift bereits 1859 entstanden war, folgten die Revue Historique (1876), die Rivista storica italiana (1884), die English Historical Review (1886) und die American Historical Review (1896) erst Jahrzehnte später. Um Frankreich als Beispiel zu nehmen: Hier bildete die Historiographie ihren eigentlichen Charakter als Wissenschaft erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts aus.286 Der großen Blüte der humanistischen Geschichtsschreibung, der Erudition des 17. Jahrhunderts und der Aufklärungshistorie war nach der Französischen Revolution zunächst eine schwere Krise gefolgt. Nach einer erneuten Phase großer Geschichtsschreiber wie Jules Michelet (1798–1874) und Alexis de Tocqueville (1805–1859) setzte dann im letzten Drittel des Jahrhunderts die Verwissenschaftlichung ein. Das Paradigma der historischen Wissenschaften errang allgemeine Akzeptanz, die historische Methode konnte kanonisiert und die Professionalisierung als eigenständige Universitätsdisziplin vorangetrieben werden. Die moderne akademische Ausbildung wurde eingeführt, und insgesamt gewannen die professionellen Historiker in Frankreich mehr und mehr die Oberhand über die Amateure und Literaten.

1.6 Schluss Zusammenfassend kann man also sagen, dass es am Ende des „langen“ 19. Jahrhunderts, bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges, grundsätzlich zwei Antworten auf die Frage nach der richtigen Geschichtswissenschaft gab. Die eine sah die korrekte Rekonstruktion der Vergangenheit abhängig von der Nachahmung der Naturwissenschaften, die andere verlangte nach einer autonomen Geisteswissenschaft.287 In Deutschland regierte eindeutig 285 Vgl. Iggers 1993, 24. 286 Vgl. Becher 1986, 26. 287 „What is the proper ‘scientific‘ history? By 1914 there had been two answers to that question. One saw the correct reconstruction of the past as dependent on the imitation of the natural sciences; the other called for an autonomous science of the humanities.” (Breisach 1983, 322 [dort teilw. hervorgehoben].)

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der Historismus mit dem hermeneutischen Verstehen als Kern seiner Erkenntnismethode, mit seiner Ausrichtung auf politische Geschichte, auf den Staat und die Taten großer Männer sowie einer impliziten Geschichtsphilosophie über die Idee der Geschichte. Der Historismus fand – nicht zuletzt wegen seiner Erfolge bei der Verwissenschaftlichung der Historiographie und seiner empiristischen Elemente – auch in anderen Ländern viele Nachahmer. Doch war seine Vorbildrolle in Ländern wie Frankreich, England oder den USA geringer als vielfach angenommen. „Hier griffen Historiker häufig Theoriekonzepte und Untersuchungsgegenstände auf, die sie den naturoder sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen entlehnten. Die nomothetischen Geschichtsauffassungen einer scientific history haben so stets neben einer hermeneutischen Geschichtskonzeption bestanden.“288 Diese positivistische Geschichtswissenschaft unterschied sich vom Historismus zum einen eben durch die nomothetische Ausrichtung, zum anderen aber auch durch die Fokussierung auf die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte statt auf die Politik- und Diplomatiegeschichte, auf die breiten Massen statt auf die großen Männer. Der Unterschied in den Untersuchungsgebieten steht dabei freilich in einem gewissen Zusammenhang mit den Differenzen in den erkenntnistheoretischen Zielen, was ein Zitat von Heinrich von Treitschke (1834–1896) auf knappe Weise illustriert: „Dem Historiker“, so Treitschke in seiner Deutschen Geschichte, „ist nicht gestattet, nach der Weise der Naturforscher das Spätere aus dem Früheren einfach abzuleiten. Männer machen die Geschichte.“289 Andererseits darf man bei allen Differenzen zwischen Historismus und Positivismus nicht die großen Gemeinsamkeiten der professionellen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts insgesamt verkennen. Denn alle, Historisten wie Positivisten und auch Marxisten, „huldigten der Wissenschaft“290. Beide, Positivismus wie Historismus, beanspruchten gleichermaßen für sich, eine objektive und wahrheitsgemäße, eben eine wissenschaftliche Rekonstruktion der Vergangenheit zu leisten, ohne die Absicht bloßer Unterhaltung oder Belehrung, andächtiger Ergebenheit oder Propaganda. „Tatsachen, Tatsachen, Tatsachen, die in sich selbst ihre Lehre und ihre Philosophie bergen. Die Wahrheit, die ganze Wahrheit, nichts als die Wahrheit.“291 Beide einte der Glaube an die Möglichkeit objektiver Erkenntnis durch rational geregelte methodische Verfahren, betrieben von professionellen Wissenschaftlern. 288 289 290 291

Fuchs 1997, 397. Treitschke 1879, 28. Iggers 1997, 465. So der emphatische Aufruf von Henry Houssaye (1848–1911), dem Präsidenten der Sektion für allgemeine und diplomatische Geschichte auf dem I. Internationalen Historikerkongress in Paris 1900, zitiert nach Erdmann 1987, 31.

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Darüber hinaus verband sie der Glaube nicht nur an die Existenz von festen Strukturen und Entwicklungen in der Geschichte, die die Vergangenheit über Zufall und Chaos erheben und überhaupt erst einen Untersuchungsgegenstand schaffen, sondern auch daran, dass die Grundtendenz in der Geschichte positiv, aufstrebend, also ein ständiger Fortschritt ist, dass es einen Sinn der Geschichte gibt. Im Grunde waren alle zünftigen Historiker, auch Geschichtsdenker wie Ranke oder Droysen, die eine schematische Geschichtsphilosophie vermeiden wollten und davon sprachen, dass jede Epoche unmittelbar zu Gott sei, vom historischen Fortschritt überzeugt – zumindest in Bezug auf die europäische Geschichte; denn auch in der Geringschätzung der außereuropäischen Völker und deren Geschichte stimmten Historisten, Positivisten und Marxisten (im Gegensatz zu den Aufklärungshistorikern) überein.292 Wenn somit der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit als der charakteristische Zug der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts herausgestellt werden kann, so muss aber doch auch klar gesagt werden, dass dieser Anspruch nicht gänzlich mit der Praxis übereinstimmte. Zwar wurden große Fortschritte im Umgang mit den Quellen und in der Feststellung der historischen Fakten erzielt, doch die daraus gewonnenen Interpretationen konnten sich nicht – und vielleicht sogar weniger als zuvor – von den nationalen, religiösen oder sozialen Interessen der Historiker lösen. Objektivität und erkenntnisleitende Maßstäbe, die wie in den Naturwissenschaften für die gesamte Wissenschaftlergemeinde verbindlich gewesen wären, wurden zwar in der Theorie und in den Vorworten beschworen, in den Darstellungen war davon aber wenig zu finden. Ganz im Gegenteil: „Paradoxerweise [war] die Verwissenschaftlichung im 19. Jahrhundert überall (nicht nur in Deutschland) eng mit einer Ideologisierung der Geschichte verbunden.“293 Ähnliches gilt auch für die „Entrhetorisierung“ als Kriterium der historiographischen Verwissenschaftlichung. Auch hier muss man stark „zwischen der Selbstdarstellung der Historie, die wenigstens an den Universitäten auf Entrhetorisierung und Versachlichung Wert legt, und ihrer Praxis, die stark rhetorische Züge aufweist, unterscheiden“294. Dies gilt umso mehr, wenn man den Blick über die universitätsgebundene Geschichtswissenschaft hinaus lenkt; denn viel populärer als die professionellen Historiker – auch dies gilt für Historisten wie Positivisten gleichermaßen – waren beim breiten Publikum ohnehin die literarischen Geschichtserzählungen ohne höheren wissenschaftlichen Anspruch.295 Die Auflagen von Trevelyans History of England (1926) wurden in England von den Geschichtswissenschaftlern nie erreicht, 292 293 294 295

Vgl. Iggers 1997, 465. Iggers 1993, 25. Iggers 1997, 460. Vgl. für England Breisach 1983, 286, für Deutschland Iggers 1997, 460f.

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genauso wie in Deutschland wohl „unendlich mehr Menschen“296 Dahn und Freytag als Ranke oder die anderen Historisten gelesen haben: Gustav Freytag (1816–1895), Kulturkritiker und Schriftsteller, schilderte in dem sechsbändigen Romanzyklus Die Ahnen (1872–1880) das Schicksal einer deutschen Familie von der germanischen Vorzeit bis in die Gegenwart, und Felix Dahn (1834–1912) war Autor volkstümlich-historischer Darstellungen wie Der Kampf um Rom (1878) oder der Kleinen Romane aus der Völkerwanderung (1882–1901) in 13 Bänden.

2. 20. Jahrhundert An der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts fällt auf, dass der große gemeinsame Nenner, auf den die Disziplin insgesamt gebracht werden könnte, fehlt. Stattdessen gliedert sie sich in eine Vielzahl unterschiedlicher Strömungen auf. In dieser Pluralität von sehr unterschiedlichen Forschungsansätzen „kann man geradezu das Signum der Geschichtswissenschaft“297 im 20. Jahrhundert sehen. Ausgehend von den beiden großen Ansätzen des 19. Jahrhunderts, Historismus und Positivismus, wuchs die Geschichtsschreibung in Form vielfacher Triebe und Verästelungen weiter. Eine klare Richtung ist dabei nicht erkennbar, weder in Bezug auf die Untersuchungsgegenstände noch auf die angewandten Methoden oder die erkenntnistheoretischen Grundlagen: Politik-, Sozial-, Mentalitäts- oder Strukturgeschichte, Historische Anthropologie, Mikrohistorie und „histoire totale“ – alles ist möglich. Genauso wird auf der methodischen Ebene das gesamte Spektrum zwischen der „Ökonometrie“ und der „Wiederbelebung des Erzählens“ abgedeckt. Die Historiker sind sogar uneins darüber, ob sie sich nun als „Realisten“ sehen und an die Realität und Rekonstruierbarkeit der Vergangenheit glauben oder ob sie nicht doch eher einen „nominalistischen“ Standpunkt vertreten sollen, nach dem sich die Geschichte zu einer Serie von Diskursen über die Vergangenheit reduziert. „Kein Punkt also, von dem aus eine entschwundene Wirklichkeit dem Vergessen entrissen werden könnte: ein unermesslicher Abgrund von Diskursen.“298 „Geschichte“, so Georges Duby (1919– 1996), ist „im Grunde der Traum eines Historikers“299.

296 Ebd., 461. 297 Raphael 1997, 52. 298 Diese Unterscheidung wird von Georges Duby und Guy Lardreau getroffen (Duby/Lardreau 1982, 37), steht also nicht im Verdacht einer rein philosophischen und praxisfernen Oktroyierung durch die „Postmoderne“. 299 Ebd., 48.

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2.1 Sozialgeschichte Zweifellos eine der wichtigsten Strömungen in der Geschichtswissenschaft des 20. Jahrhunderts war die Sozial- und Kulturgeschichte in ihren verschiedenen, auch national unterschiedlichen Ausprägungen der Social Science History, histoire science sociale oder der „historischen Sozialwissenschaft“, als die sie in der Bundesrepublik Deutschland betrieben wurde. Diese verschiedenen Spielarten waren sich einig in dem Anspruch, den Verwissenschaftlichungsprozess der Geschichtsschreibung noch weiter voranzutreiben. Zwar konstatierte man einige Fortschritte durch die ältere Geschichtswissenschaft, doch kritisierte man an dieser, „dass sie nicht genügend wissenschaftlich gewesen sei, ihr Ziel immer noch zu sehr die Erzählung und nicht die streng wissenschaftliche Analyse gewesen sei“300. Die neueren Strömungen der Sozialgeschichte bekräftigten somit noch einmal den Anspruch, „dass die Geschichte eine streng methodisch verfahrende, auf eine objektive Wirklichkeit gerichtete Wissenschaft sei“301. Dieses Ziel einer modernen Sozialwissenschaft versuchte man auf verschiedenen Wegen zu erreichen: durch eine Übertragung der herkömmlichen Methoden der Textkritik auf die Sozialgeschichte, durch die Umwandlung der Geschichte in eine historische Soziologie oder auch durch die Übernahme abstrakter Modelle der Ökonomie als Muster für eine quantifizierende, theorieorientierte Geschichtswissenschaft (wobei diese Richtung erst nach dem Zweiten Weltkrieg wichtig wurde).302

2.2 Annales Die wohl wichtigste der verschiedenen Spielarten der Sozial- und Kulturgeschichte und vielleicht die wichtigste Strömung in der Historiographie des 20. Jahrhunderts überhaupt war die französische Annales-Gruppe, die sich in der Zwischenkriegszeit gründete und dann mit neuartigen Ideen und Konzepten, aber auch mit „Organisationskraft, Korpsgeist und staatlicher Unterstützung“303 gegen die traditionellen Richtungen durchsetzte. Den Höhepunkt ihres Einflusses erreichte die Annales-Schule in den 1950er- und 1960er-Jahren, bevor auch sie sich dann zunehmend zerfaserte und an Anziehungs- und Prägekraft verlor. Diese verschiedenen Epochen der Annales müssen auch im Hinblick auf ihre wissenschaftlichen Leitthemen unterschieden werden.304 300 301 302 303 304

Iggers 1993, 10. Ebd., 29. Vgl. ebd., 30. Schulin 1987, 19. Zur Annales-Schule gibt es eine Fülle von Literatur; exemplarisch seien genannt: Carbonell/Livet 1983; Burguière 1986; Le Goff/Chartier/Revel 1990; Raphael 1992.

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Die Gründergeneration der Annales-Schule um Marc Bloch (1896–1944)305 und Lucien Febvre (1878–1956) arbeitete an einer Ausweitung des Themenspektrums weit über die Ereignisgeschichte hinaus auf Felder wie die materielle Produktion, soziale Mobilität, Technik, mentale Vorstellungen etc.306 Sie wollte eine Abkehr von der Ereignisgeschichte zugunsten einer Geschichte der sozialen, natürlichen und wirtschaftlichen Grundlagen, wobei sie auf Anregungen aus der Geographie und der Wirtschaftsgeschichte, aber auch der Demographie oder der Linguistik zurückgriff. Durch diese Kooperationen hoffte man auch eine Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung zu erreichen. Als Forum für die so ausgerichtete Forschung diente die seit 1929 erscheinende Zeitschrift Annales d’histoire économique et sociale. Die Gründerväter der Annales kritisierten auch die traditionelle Sichtweise, dass die Vergangenheit vom Historiker lediglich vorgefunden und zum Sprechen gebracht werde, dass es also die Historie selbst sei, die durch den Historiker spreche: „Woher soll man sie denn nehmen, die Tatsache an sich, das vermeintliche Atom der Geschichte? […] Gegeben? Nein, vom Historiker gemacht, und weiß Gott wie oft umgemodelt. Erfunden und erzeugt, mit Hilfe von Hypothesen und Vermutungen, in einer heiklen und spannenden Arbeit.“307

In der folgenden Phase der Institutionalisierung nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Annales-Schule vor allem von der „monumentale[n] Gestalt“308 Fernand Braudel (1902–1985) geprägt. Diese zweite Generation favorisierte nicht einen bestimmten Ansatz zur Erforschung der Vergangenheit, sondern strebte eine „histoire totale“, die enge Verbindung der Geschichte mit den anderen Wissenschaften, an.309 In diesem Punkt führte sie also die Interdisziplinariät der Gründergeneration weiter und radikalisierte sie. Ähnlich war es bei der Konzentration auf Gruppen und Sozialverbände (anstatt auf Persönlichkeiten) und auf die Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte. Zur Erforschung von Prozessen langer Dauer wurden die Kategorien der Struktur und der Konjunktur eingeführt.310 Durch diese Kategorien und die Unterteilung der Geschichte in die drei Ebenen der Natur, der Wirtschaft und der Politik sprengte Braudel auch die in der neuzeitlichen Geschichtsschrei305 306 307 308 309 310

Zum Einfluss von Lamprecht auf Marc Bloch vgl. Sammler 1993. Zur frühen Phase vgl. Stoianovich 1976; Le Goff 1990; Burke 1991, 17–35. Febvre 1933, 12f. Schulin 1987, 22. Zur zweiten Phase vgl. Raphael 1994. Eingebracht hatte sie Ernest Labrousse (1895–1986), durchgesetzt wurden sie dann durch Braudels berühmtes Mittelmeer-Buch von 1949.

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bung üblich gewordene Vorstellung eines gleichförmigen und einheitlichen Zeitablaufs. Die dritte Annales-Generation, die ab 1968 das Ruder übernahm, war vor allem durch das Zerbröckeln in verschiedene – jeweils aber wichtige und Schule machende – Richtungen gekennzeichnet. Eine dieser Unterströmungen war die Mentalitätsgeschichte, die sich der Erforschung der kollektiven, dem Bewusstsein der betreffenden Zeit entzogenen, tatsächlich aber wirksamen Denkmuster widmete.311 Die Hauptthemen waren die Vorstellungen von Religiosität, Sexualität, Tod, Arbeit etc. Methodisch gab es durchaus verschiedene Strategien, die zwischen eher impressionistischer Historischer Psychologie und computergestützter quantitativer Auswertung von Testamenten und Rekrutierungslisten schwankten. Die wichtigsten Vertreter dieser Richtung waren Philippe Ariès (1914–1984), Emmanuel Le Roy Ladurie (*1929) und Michel Vovelle (*1933). Die Untersuchung Piété baroque et déchristianisation (1973) von Vovelle, für die er 30.000 Testamente im Hinblick auf die „Dechristianisierung“ in der Provence des 18. Jahrhunderts ausgewertet hatte, oder auch die 1977 unter dem Titel Lire et écrire vorgelegte Kulturgeschichte des Lesens von François Furet (1927–1997) und Jacques Ozouf (1928–2006) stellen auch die Verbindung zu der zweiten wichtigen Strömung innerhalb der dritten Annales-Generation her, zur sogenannten Seriellen Geschichte. Diese beschäftigte sich mit der Untersuchung von Strukturen oder von Prozessen langer Dauer anhand umfangreicher, homogener Serien von Daten. Untersuchungsgegenstand konnten etwa – um das Schlüsselwerk dieser Richtung, das monumentale Werk Seville et l’Atlantique (12 Bde., 1955–1960), das Pierre Chaunu (1923–2009) zusammen mit seiner Ehefrau verfasste, als Beispiel zu nehmen – der Handel zwischen Sevilla und der Neuen Welt zwischen 1504 und 1650 und weiter gehend die allgemeinen Handelskonjunkturen und die wirtschaftliche Orientierung dieses Zeitraums sein. In anderen Fällen wurden mithilfe der quantitativen, computergestützten Methode große Mengen an Daten über die wirtschaftliche und demographische Entwicklung ausgewertet, um beispielsweise die Bewegung der Getreidepreise mit der Mortalitätsrate und den Heirats- und Geburtenzahlen zusammenzuführen und auf diese Weise das Sozialverhalten in Zeiten des Wohlstands wie der Not zu erforschen.

2.3 New Economic History Nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass sie sich ganz auf die „harten Fakten“ und „nackten Zahlen“ als Basis ihrer Untersuchungen stützten, waren die Vertreter der 311 Vgl. Dinzelbacher 1993.

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quantitativen Geschichtsschreibung der Meinung, dass diese einen höheren Grad an Wissenschaftlichkeit und Objektivität erreiche als die von ihnen als willkürlich und unwissenschaftlich kritisierte traditionelle Geschichtsschreibung.312 Die radikalste Variante dieser quantitativen Geschichtsschreibung bildeten die „Cliometrics“, die zumeist in der amerikanischen New Economic History der 1960er- und 1970-Jahre zu finden waren; ihr Ziel war es, die Geschichtsschreibung auf die Höhe der Zeit – die Zeit der technologischen Triumphe – und auf den Stand der wissenschaftlichen Möglichkeiten zu bringen.313 Unter Anleihen bei den Natur- und Wirtschaftswissenschaften gingen sie von hochkomplexen, vernetzten Wirtschaftssystemen mit einer hohen Interdependenz der Einzelfaktoren aus. Als Hauptwerkzeug zu deren (strikt quantitativ betriebener) Analyse dienten ihnen ökonometrische Modelle, mit denen Wirtschaftsphänomene als mathematische Formeln dargestellt und geprüft werden sollten. Eine beliebte Strategie zur Überprüfung der Hypothesen war die kontrafaktische Vorgehensweise, so etwa in Robert Fogels (*1926) Studie314 zur Bedeutung der Eisenbahnen für die wirtschaftliche Entwicklung der USA im 19. Jahrhundert. Fogel – der bezeichnenderweise später den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhalten sollte – war der wohl wichtigste Vertreter dieser New Economic History, wobei mehr noch als das erwähnte Buch Railroads and American Economic Growth seine zusammen mit Stanley Engerman (*1936) veröffentlichte Studie über The Economics of American Negro Slavery315 Aufmerksamkeit erregte und Debatten über den Wert dieser rein quantitativen Geschichtsschreibung auslöste – generell, aber auch im Hinblick auf die politischen und moralischen Aspekte der Sklavereigeschichte.

2.4 Historische Sozialwissenschaft In den 1960er-Jahren entwickelte sich dann auch in Deutschland eine „Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus“316, die sogenannte „historische Sozialwissenschaft“, als deren bekannteste Vertreter Hans-Ulrich Wehler (*1931) und Jürgen Kocka (*1941) gelten dürfen. Das vom Neohistorismus nach dem Zweiten Weltkrieg weiter betriebene „Verstehen“ mit seiner Beschränkung auf die Motivationen, Taten und Erfahrungen

312 Vgl. Gross 1998, 292. 313 Ernst Breisach sagt von der New Economic History, dass sie „in essence wished to make economic history a science in the natural science manner“ (Breisach 1983, 358). 314 Fogel 1964. 315 So der Untertitel von Time on the Cross (= Fogel/Engerman 1974). 316 Mommsen 1972, Titel.

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der Menschen sollte nun ersetzt werden durch die historiographische Erklärung mithilfe von analytischen Methoden und generalisierenden Vorgehensweisen. Auf diese Weise sollte die Geschichtsschreibung zur Sozialwissenschaft weiterentwickelt werden. Eine starke eigene Prägung erhielt die deutsche Form der Sozialgeschichte durch den Rückgriff auf die Wissenschaftskonzeption Max Webers, der zwar schon vor dem Ersten Weltkrieg zu den Kritikern des Historismus gehört hatte, aber erst jetzt größeren Einfluss auf die Historiographie gewann. Weber hatte sich gegen die historistische Annahme eines objektiven, sich dem Historiker erschließenden Sinns und gegen die Vorstellung einer die Vergangenheit abbildenden oder hermeneutisch verstehenden Geschichtsschreibung gewandt. Der Glaube, die Vergangenheit nach Gesichtspunkten untersuchen zu können, die dem Stoff selbst entnommen werden, beruhte für Weber auf der „naiven Selbsttäuschung des Fachgelehrten, der nicht beachtet, dass er von vornherein kraft der Wertideen, mit denen er unbewusst an den Stoff herangetreten ist, aus einer absoluten Unendlichkeit einen winzigen Bestandteil als das herausgehoben hat, auf dessen Betrachtung es ihm allein ankommt“317. Die Geschichtsschreibung sei unüberwindbar an „subjektive“ Voraussetzungen gebunden, weil sie nur diejenigen Aspekte der historischen Wirklichkeit betrachte, die in einer Beziehung zu denjenigen Vorgängen in der Gegenwart des untersuchenden Historikers stehen, denen eine Kulturbedeutung zugeschrieben wird. Es handle sich dabei aber trotzdem um kausale Erkenntnis: „Die objektive Gültigkeit alles Erfahrungswissens beruht darauf und nur darauf, dass die gegebene Wirklichkeit nach Kategorien geordnet wird, welche in einem spezifischen Sinn subjektiv, nämlich die Voraussetzung unserer Erkenntnis darstellend, und an die Voraussetzung des Wertes derjenigen Wahrheit gebunden sind, die das Erfahrungswissen allein uns zu geben vermag.“318

Die Begriffe und Urteile, die der Historiker zu finden habe, könnten also die empirische Wirklichkeit nicht abbilden, aber „in gültiger Weise denkend ordnen“319. Das wichtigste Instrument für diese ordnende Erforschung der empirischen Realität war für Weber der „Idealtypus“, das als rein logisch und theoretisch konstruiertes Hilfsmittel ohne Wirklichkeitscharakter oder normative Kraft eine Reihe von diffusen Einzelerscheinungen zu einem geschlossenen Gesamtbild zusammenfügen und zu einem „konsequente[n] Zu-Ende-Denken der darin angelegten Probleme“320 führen sollte.

317 318 319 320

Weber 1973, 181 (Hervorhebungen ebd.). Ebd., 212f. (dort teilw. hervorgehoben). Ebd., 213 (dort teilw. hervorgehoben). Mommsen 1972a, 73. Zur Anwendung des Idealtypus vgl. Weber 1972.

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Durch seine Wissenschaftslehre, die auf den bewussten Einsatz von Begriffen, Urteilen und Idealtypen setzte, wollte Weber „die oft haarfeine Linie, welche Wissenschaften und Glauben scheidet“321, hervortreten lassen und so zum einen die Kulturwissenschaft von dem Einfluss von Werturteilen so weit wie möglich reinigen bzw. deren Einfluss kenntlich machen, zum anderen aber auch die Objektivität wissenschaftlicher Forschung ermöglichen. „Denn es ist und bleibt wahr, dass eine methodisch korrekte wissenschaftliche Beweisführung auf dem Gebiete der Sozialwissenschaften, wenn sie ihren Zweck erreicht haben will, auch von einem Chinesen als richtig anerkannt werden muss […], – während ihm für unsere ethischen Imperative das ‚Gehör‘ fehlen kann […].“322

Aus diesem Grund sahen auch die sich auf Weber berufenden Vertreter der „historischen Sozialwissenschaft“ ihre Art der Geschichtsschreibung als wissenschaftlicher und moderner an als den konkurrierenden Neohistorismus. Im Gegensatz zur Annales-Schule, die zumeist die vorindustriellen Gesellschaften und dort die Prozesse langer Dauer erforschte, beschäftigten sie sich inhaltlich vor allem mit dem raschen Wandel während der Modernisierungsprozesse im Deutschland der Industrialisierung.323 Durch diese Ausrichtung auf Prozesse mittlerer Reichweite und durch die Gleichgewichtung von Kultur, Politik und Wirtschaft verfolgte die von Wehler und Kocka begründete „Bielefelder Schule“ eine Richtung, die Elemente des Verstehens und des Erklärens, hermeneutische und analytische Verfahrensweisen kombinierte.324 Das Fundament dieser Richtung war die Überzeugung, dass „die historische Wirklichkeit nur dann angemessen erfasst und erforscht werden kann, wenn Theorien, Fragestellungen und Methoden aus den Sozialwissenschaften in die geschichtswissenschaftliche Arbeit einbezogen und zur Grundlage einer eigenen kritisch-reflektierten Begrifflichkeit und Theoriebildung gemacht werden“325. So heißt es im programmatischen Vorwort zur ersten Ausgabe der Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft, mit der sich die historische Sozialwissenschaft ebenso wie mit einer eigenen Fakultät an der 1971 gegründeten Universität Bielefeld eine institutionelle Basis schuf. 321 Weber 1973, 212. 322 Ebd., 155. 323 Wobei allerdings gerade die großen und populären Werke einen eher allgemein-historischen Charakter aufweisen und sich nicht radikal von der Politikgeschichte abwenden, so etwa Wehlers fünfbändige Deutsche Gesellschaftsgeschichte (1987–2008). 324 Auch Weber hatte durchaus von „Verstehen“ gesprochen, dies jedoch nicht im alten, historistischen Sinn als Gegensatz zum Erklären aufgrund kausaler Zurechnung gemeint (vgl. Mommsen 1972a, 72). 325 GeGe 1975, 5.

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2.5 Die philosophische bzw. erkenntnistheoretische Debatte Paul Feyerabend (1924–1994) und mit ihm das, was gemeinhin als die „Postmoderne“ bezeichnet wird, markieren einen Endpunkt der Entwicklung der Geschichtsschreibung im 20. Jahrhundert. An ihrem Beginn stand der Erste Weltkrieg, dem andere apokalyptische Erfahrungen folgten: die Weltwirtschaftskrise, der Nationalsozialismus mit dem Holocaust, der Stalinismus und der Zweite Weltkrieg mit den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki. All das erschütterte auch die Geschichtsschreibung. Der von quasi allen Historikern des 19. Jahrhunderts geteilte Glaube an einen Sinn der Geschichte und an den ungebrochenen Fortschritt der Menschheit erwies sich als Irrglaube.326 Auch war die positive Einschätzung des Staates, der Politik und der „großen Männer“ – allesamt zentrale Ansichten des Historismus – desavouiert. Zudem gerieten dessen Ideenlehre und Erkenntnistheorie immer mehr in die Mühlen der Metaphysikkritik. Aber auch die Anhänger des Positivismus mussten erkennen, dass die als Vorbilder angesehenen Naturwissenschaften durch Denker wie Albert Einstein (1879– 1955), Max Planck (1858–1947) oder Werner Heisenberg (1901–1976) Wandlungsprozessen ausgesetzt waren, die sich mit der bei Comte und seinen Nachfolgern doch eher simpel gestrickten Suche nach Gesetzen kaum vereinbaren ließen. Die heftigste Reaktion auf all diese Entwicklungen bestand in einem grundsätzlichen Verdammen der Geschichtsschreibung, ja der Geschichte selbst. Dem Geschichtsoptimismus des 19. Jahrhunderts trat nun die Überzeugung entgegen, dass es sich bei der Geschichte um ein sinnloses Chaos handle: „Was denn nun sind […] die Inhalte der Geschichte? Sinnlose Lebenstragödien eines Ameisenhaufens, der, von Hunger, Brunft, Eitelkeit getrieben, dahinlebt, bis er, sei es durch die Erkaltung der Erde, sei es durch eine andere kosmische Katastrophe spurlos zugrundegehen wird, wie alles verging.“327

Für Theodor Lessing (1872–1935), von dem dieses Zitat stammt, gibt es in der Geschichte keine innere Ordnung, und die Geschichtsschreibung dient in seinen Augen nur der „Sinngebung des Sinnlosen“. Sie schaffe lediglich Mythen, um Vertrauen und Hoffnung für die Zukunft zu wecken, wobei sie die Idee einer „wissenschaft326 Wobei die genannten Ereignisse gewissermaßen ihre Schatten vorausgeworfen hatten. Die Umbrüche in der Geschichtsschreibung setzten nicht schlagartig 1914 ein, sondern hatten – wie im Fall Nietzsches oder im Beginn der Kritik am Historismus – schon zuvor begonnen. Als (idealtypische) Epochengrenze aber ist der Erste Weltkrieg gleichwohl von überragender Bedeutung. 327 Lessing 1921, 17f. Zu Lessing vgl. Marwedel 1987.

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lichen“ und damit glaubwürdigen Geschichtsschreibung als einen weiteren Mythos gleich mit in die Welt setze. Im Gegensatz zu den Historisten verteidigte Lessing die Geschichtsschreibung also nicht mehr gegen den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit; aber im Gegensatz zu den Positivisten versuchte er auch nicht mehr, sie auf das Niveau der Naturwissenschaften zu heben. Stattdessen vertrat er die resignative Auffassung, „dass ‚Wirklichkeit‘ (die einzige, die wir besitzen) nur von Naturwissenschaften übermittelt wird, während Geschichte, aus Wunsch und Wille, Bedürfnis und Absicht entsteigend, Traumdichtungen des Menschengeschlechtes verwirklicht“328. Ein ebenfalls pessimistisches Geschichtsbild, das die Gegenwart in einem Verfallsstadium sieht, entwarf Oswald Spengler (1880–1936) in seinem berühmten Werk Der Untergang des Abendlandes (1918). Auch für ihn verläuft die Geschichte in irrationaler Weise, wachsen die menschlichen Kulturen „in einer erhabenen Zwecklosigkeit auf, wie die Blumen auf dem Felde“, so dass er die Historie dem Bereich der Dichter zuweisen konnte.329 Viele Denker der Zwischenkriegszeit sprachen (wie Julius Kraft [1898–1960] in einem Buchtitel 1934) von der „Unmöglichkeit der Geisteswissenschaft“, zumindest der traditionellen Geisteswissenschaften mit ihrem Anspruch auf objektive Erkenntnis. Zu nennen ist hier etwa Karl Mannheim (1893–1947), dessen Wissenssoziologie von einem „totalen Ideologiebegriff “ ausging und jeglichen Erkenntnisprozess als Ergebnis ökonomischer, sozialer und politischer Determinanten ansah. Speziell das in Deutschland vorherrschende Paradigma des Historismus geriet in den Sog dieser Wissenschaftsskepsis und in eine ernste und viel diskutierte Krise (wobei die Debatte bereits in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ihren Anfang genommen hatte). Allerdings blieb es auch weiterhin so, dass die „Krise des Historismus“ insbesondere von der Philosophie und geschichtswissenschaftlichen Nachbardisziplinen wie der Theologie oder der Soziologie thematisiert wurde, während die professionellen Historiker an ihrer Strategie festhielten, die grundsätzliche erkenntnistheoretische Skepsis gegenüber ihrer Tätigkeit nicht zur Kenntnis zu nehmen. „Mit einigen wenigen Ausnahmen zeigte sich die Forschungs- und Lehrpraxis und damit das ‚Studium der Geschichte‘ von ihr wenig berührt.“330 In anderen Ländern war das teilweise anders, dort sprachen auch praktisch tätige Historiker die Grundsatzprobleme mit ihrem Metier an. Die beiden wohl wichtigsten Beispiele dafür sind die amerikanischen Historiker Carl Becker (1873–1945) und Charles Beard (1874–1948). In einem Aufsatz, der immerhin in der American Historical 328 Lessing 1921, 10. 329 Spengler 1920, Bd. 1, 29, wobei er allerdings ein sehr biologistisches Geschichtsbild vertrat. 330 Hardtwig 1990, 36f. Dieses Phänomen, dass die Fachwissenschaft sich zu dem komplexen und theoretisch nicht zu leugnenden Problem ausschwieg, wertet Hardtwig als weiteres Symptom der Krise.

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Review erschien, nannte Beard die „Theorie, dass Geschichte, ‚wie es eigentlich gewesen ist‘, durch kritisches Studium erschlossen, als objektive Wahrheit erkannt und als solche festgestellt werden kann“, einen „edlen Traum“331. Diese Theorie der Geschichte – „eines der schwungvollsten Dogmen in der überlieferten Theoriengeschichte“ – sei in ihrer Verknüpfung aus Historismus, Empirismus, Positivismus und Rationalismus „zwar gesund und anziehend, aber nichtsdestoweniger eine alles umschlingende Philosophie der Geschichtsschreibung, selbst wenn sie die Philosophie leugnet“. Und obwohl es einer „unsühnbaren Schuld“ gleichkomme, in akademischen Kreisen zuzugeben, dass man kein Wissenschaftler sei und nicht in wissenschaftlicher Manier arbeite, so müsse man nun gerade das tun und tapfer dem „Scheitern des Unternehmens“ und dem „Einstürzen von Welten“ ins Gesicht sehen.332 In eine ähnliche Richtung ging auch Becker. Er kritisierte den uneingeschränkten Glauben an die historischen, für sich selbst sprechenden Fakten; dies sei der Glaube derjenigen Historiker des 19. Jahrhunderts, die eine besondere Magie im Wort „wissenschaftlich“ gefunden hätten.333 Stattdessen müsse man sehen, dass schon die Auswahl und Darstellung auch nur des einfachsten Datenkomplexes diesem einen Ort in einem bestimmten Ideenraster und somit eine besondere Bedeutung verleihe. Everyman his own historian – der Titel des Essays war wörtlich gemeint, denn für Becker gab es keine verbindliche, objektive Geschichtsschreibung und war der Berufshistoriker, all seiner „Professionalität“ und „Wissenschaftlichkeit“ zum Trotz, in Bezug auf die Objektivität und die Wahrheit seiner Arbeit nicht anders einzuschätzen als „Mr. Everyman“ mit seinem privaten, subjektiven Gedächtnis. Auch Becker brachte für das Schaffen der Geschichtswissenschaft das Wort „Mythos“ ins Spiel.334

331 So der Titel von Beard 1935. Das vorige Zitat ebd., 325, die beiden folgenden ebd., 326. 332 So Beard in einem ebenfalls in der American Historical Review veröffentlichten Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel Written History as an Act of Faith (Beard 1934 [Zitate ebd., 221f.]). Beard ging auch auf den Spagat ein, in dem sich die Historiker seit der Entdeckung des „Sehepunktes“ immer wieder geübt haben: auf der einen Seite das Eingeständnis, dass ihre Aussagen immer an Zeit, Nationalität, Religion, Klasse etc. gebunden sind, auf der anderen Seite das Beharren darauf, objektive und wahre Aussagen zu liefern. – Auch Vertreter der modernen Geschichtswissenschaft müssen das „Dilemma“ zugeben, dass die moderne Geschichtswissenschaft „unter zwei einander sich ausschließenden Forderungen“ steht: „wahre Aussagen zu machen und doch die Relativität ihrer Aussagen zuzugeben und zu berücksichtigen“ (Koselleck 1977, 17). 333 „[…] to suppose that the facts, once established in all their fullness, will ‘speak for themselves’ is an illusion. It was perhaps peculiarly the illusion of those historians of the last century who found some special magic in the word ‘scientific’.“ (Becker 1935, 249.) 334 Ebd., 247. Später untersuchte Becker die Schwierigkeiten der Geschichtsschreibung mit ihrem Gegenstand, wobei er darauf hinwies, dass der Historiker niemals an das Ereignis selbst herankomme, sondern immer auf Äußerungen über diese Ereignisse angewiesen sei (vgl. Becker 1955, 330).

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Solche Äußerungen grundsätzlichen Zweifels bildeten den radikalsten Strang der regen und weitgefächerten erkenntnistheoretischen Debatte nach dem Ersten Weltkrieg, in der es aber zumeist nicht darum ging, die Historiographie in Bausch und Bogen zu verdammen, sondern ihre Grundlagen, Möglichkeiten und Grenzen sowie ihr Verhältnis zu den anderen Wissenschaften auszuloten. An dieser Debatte beteiligten sich Anhänger so gut wie jeder philosophischen Strömung jener Zeit, wobei das Spektrum vom Neukantianismus über die Phänomenologie bis zum Neopositivismus reichte.335 Letzterer war besonders wichtig und löste mit seinen Aussagen zum Verhältnis zwischen Historiographie und Naturwissenschaften eine Debatte aus, die bis in die 1960er-Jahre hinein geführt wurde. Der Neopositivismus um Ludwig Wittgenstein (1889–1951) und den „Wiener Kreis“ war angetreten mit dem Ziel, eine von allen kulturbedingten Widersprüchen und Mehrdeutigkeiten freie Wissenschaftssprache durchzusetzen und nur solche Erkenntnisse als wissenschaftlich anzuerkennen, die auf einer strikt empirischen und logischen Basis verifizierbar sind.336 Für die Historiographie bedeutete dies, dass sie wieder am Maßstab der Wissenschaftlichkeit der Naturwissenschaften gemessen wurde, aber in einer Weise, die auch der alte Positivismus (bzw. die Ansätze zu seiner praktischen Umsetzung) nicht hätte erfüllen können. Die strengen Kriterien für die Hypothesenbildung und die Verifizierung führten sogar zu dem generellen Zweifel, „whether we have sufficient ground for accepting any statement at all about the past, whether we are even justified in our belief that there has been a past“337. Doch bald wurde dieser „Objektivitäts-Rigorismus“ gelockert und in eine Debatte über Kausalerklärungen überführt, in deren Verlauf sich zwei Lager bildeten: „Idealisten“ und „Positivisten“ bzw. „Autonomisten“ und „Assimilationisten“.338 Im Zentrum der Debatte stand die maßgeblich von Carl G. Hempel (1905–1997) entwickelte Frage nach der „Funktion von allgemeinen Gesetzen in der Geschichte“339. Als sogenannter Assimilationist forderte Hempel die Angleichung der Geschichtsschreibung an das Modell der Naturwissenschaften bzw. einer Einheitswissenschaft. Dazu müsse sie über die reine Beschreibung von Einzelereignissen hinausgelangen und Kausalverbindungen zwischen Ereignissen bzw. Ereignistypen herstellen.

335 Gunter Scholz unterscheidet für die Zeit bis 1945 acht verschiedene Theorieströmungen, die sich mit der Grundlegung der Geisteswissenschaften beschäftigen (vgl. Scholz 1997). 336 Dazu vgl. Stegmüller 1978, 346–696. 337 Ayer 1963, 168. 338 Vgl. Breisach 1983, 331. 339 Hempel 1959, Titel.

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„Historical explanation, too, aims at showing that the event in question was not ‘a matter of chance’, but was to be expected in view of certain antecedent or simultaneous conditions. The expectation referred to is not prophecy or divination, but rational scientific anticipation which rests on the assumption of general laws.“340

Unter diesen „allgemeinen Gesetzen“ verstand Hempel keine tatsächlich existierenden Gesetze im Sinne des Positivismus des 19. Jahrhunderts, sondern „a statement of universal conditional form which is capable of being confirmed or disconfirmed by suitable empirical findings“341. Hempels Ziel war die Übertragung der hypothetischdeduktiven Denkweise der Naturwissenschaften auf die Historiographie, also die Etablierung einer geschichtswissenschaftlichen Covering Law-Theorie, nach welcher die Erklärung eines historischen Ereignisses die Beschreibung der Ausgangsbedingungen mit der Deduktion aus allgemeinen Gesetzen verknüpfen muss. So wurde das Streben des alten Positivismus nach einer Einheit der Wissenschaften durch den Neopositivismus auf den sprachlich-methodischen Bereich übertragen.342 Diese neue Variante der Forderung nach einer Annäherung der Historiographie an die Naturwissenschaft stand lange Zeit im Zentrum einer heftigen Debatte, an der sich aufseiten der Gegner zahlreiche und im Laufe der Zeit wechselnde Diskutanten beteiligten. Da gab es zum einen die historistisch orientierten Vertreter einer autonomen Geschichtswissenschaft wie etwa Robin Collingwood (1889–1943), Benedetto Croce (1886–1952) oder Michael Oakeshott (1901–1990).343 Weitere Gegner Hempels und seiner Mitstreiter, deren prominentester Karl Popper (1902–1994) gewesen sein dürfte, waren von der analytischen Philosophie ausgehende Denker wie Patrick Gardiner (1922–1997) und William H. Dray (1921–2009), die den Wandel vom frühen Wittgenstein des Tractatus (1922) mit seinem Streben nach einer logischen Wissenschaftssprache zum Wittgenstein der Philosophischen Untersuchungen (1953) und der Analyse von Sprachspielen als Lebensformen auf die historiographische Erkenntnistheorie übertrugen.344 Schließlich gab es Wissenschaftsphilosophen wie John Dewey (1859–1952), Walter Bryce Gallie (1912–1998) und Arthur C. Danto (*1924), die die Erzählung als erkenntnistheoretisch sinnvolle und der Historiographie angemessene Erkenntnisform diskutierten.345 340 Ebd., 348f. 341 Ebd., 345. Es ging also nicht mehr um das Aufdecken tatsächlich vorhandener Gesetze, wie auch Karl Poppers heftiger Widerstand gegen jegliche Form von Historizismus deutlich machte (vgl. Popper 1965). 342 Vgl. Rossi 1987, 8. 343 Vgl. etwa Oakeshott 1978. 344 Vgl. Gardiner 1952; Dray 1957. 345 Dewey hatte bereits 1938 (= Dewey 1986) einen Vorstoß zur erkenntnistheoretischen Einordnung

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3. Postmoderne Die Historiographie war in der erkenntnistheoretischen Debatte, die von den 1930erbis zu den 1960er-Jahren über sie geführt wurde, regelmäßig als unwissenschaftlich kritisiert worden. Die neopositivistische Kritik hatte sich jedoch stets auf den IstZustand der Geschichtsschreibung bezogen und ihr nicht grundsätzlich die Möglichkeit der Wissenschaftlichkeit abgestritten; vielmehr hatten die „Assimilationisten“ die Historiographie ja gerade gedrängt, sich mehr in Richtung der Naturwissenschaften zu entwickeln. Die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Erforschung der Vergangenheit war also nicht grundsätzlich verworfen worden. Dies geschah erst durch die Vertreter der sogenannten Postmoderne. Für Hayden White (*1928) etwa sind die „historische[n] Erzählungen“ der Historiker – der positivistischen wie der historistischen, der theoriegeleiteten wie der literarischen – „sprachliche Fiktionen (verbal fictions), deren Inhalt ebenso erfunden wie vorgefunden ist und deren Formen mit ihren Gegenstücken in der Literatur mehr gemeinsam haben als mit denen in den Wissenschaften“346. White zieht jedoch eine wichtige Grenze, die Grenze nämlich zwischen der Erforschung von Einzelfakten und deren Synthese zu einer kohärenten Geschichtsdarstellung. Er bestreitet also weder das Geschehen von Ereignissen in der Gegenwart noch die grundsätzliche Feststellbarkeit der historischen Einzelfakten aus den Quellen. Diese grundlegende Ebene – wie sie in Chroniken und Annalen repräsentiert sei, welche die Ereignisse und Daten ohne den Versuch einer sinnvollen Verknüpfung nur auflisteten – trennt er aber von der eigentlichen Geschichtsschreibung. Deren Wesen bestehe darin, „eine bestimmte Menge von ‚Daten‘, theoretische Begriffe zu deren ‚Erklärung‘ sowie eine narrative Struktur [zu kombinieren], um ein Abbild eines Ensembles von Ereignissen herzustellen, die sich in der Vergangenheit zugetragen haben sollen“347. Während die Chronologien und Annalen keine „Bedeutung“ hätten, sei es gerade die wesentliche Funktion der Geschichtswissender Historiographie als Narration unternommen, der aber lange Zeit unbeachtet blieb. S. ferner Gallie 1968 und Danto 1974. 346 White 1986, 102 (Hervorhebungen ebd.). Was die praktischen Historiker teilweise als „Wiederbelebung des Erzählens“ feierten, war für die Kritiker auf der erkenntnistheoretischen Ebene also nichts anderes als die „Rache der Literatur“ (so der Titel von Orr 1986): „There was a time when historians thought they had escaped the ‚merely literary‘, when they thought they had established historical studies on the solid foundation of objective method and rational argument. But recent developments in literary criticism and the philosophy of language have undermined that confidence.” (Harlan 1989, 581.) 347 White 1991, 9.

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schaft, über diese bedeutungslose Anhäufung von Daten und Ereignissen hinauszugelangen: „Die Ereignisse müssen nicht nur im chronologischen Rahmen ihres ursprünglichen Erscheinens registriert sein, sondern auch erzählt (narrated) werden, das heißt, es muss gezeigt werden, dass sie eine Struktur, eine Sinnordnung besitzen, über die sie als bloße Aufeinanderfolge nicht verfügen.“348

Die Narration wird hierbei als ein allem historischen Denken zugrunde liegender Prozess sprachlicher Weltdeutung verstanden, wobei aber betont wird, dass sie keine neutrale diskursive Form darstelle, sondern „ontologische und epistemologische Wahlmöglichkeiten mit eindeutig ideologischen und sogar spezifisch politischen Implikationen“349 beinhalte. Bei diesen Wahlmöglichkeiten, die gleichzeitig auch Wahlzwänge bedeuteten, gehe es um die verschiedenen grundlegenden Interpretationsstrategien. White unterscheidet vier narrative Modellierungen: Romanze, Tragödie, Komödie und Satire, denen er jeweils bestimmte formale Vorgehensweisen, rhetorische Figuren und ideologische Tendenzen zuordnet. Diese möglichen Formen der Geschichtsschreibung sind für White aber lediglich „Formalisierungen poetischer Einsichten, die ihnen analytisch voraufgehen und die besonderen Theorien rechtfertigen, auf die man sich stützt, um historischen Darstellungen den Anschein einer ‚Erklärung‘ zu geben“350. Da es aber keinerlei apodiktisch gewisse Gründe für eine bestimmte Form gebe, seien die Historiker auf eine Wahl zwischen den verschiedenen Interpretationsstrategien angewiesen – eine Wahl, für die letztendlich ästhetische oder ideologische, nicht aber erkenntnistheoretische Gründe entscheidend seien.351 Während also die erste Ebene der Geschichtstheorie Hayden Whites – die der Einzelereignisse bzw. -fakten – an einem „Element positivistischer Stabilität“ festhält, ist die zweite Ebene – die des konzeptionellen Rahmens der Geschichtsschreibung – von einer erkenntnistheoretischen Arbitrarität geprägt.352 348 White 1990a, 15. 349 White 1990, 7. Wichtig ist dabei, dass White den Terminus „Ideologie“ in seiner nicht wertenden Bedeutung benutzt. Zur Bedeutung des Terminus „Erzählen“ bei Hayden White als „eine Struktur von Aussagen oder ein[..] Prozess der sprachlichen Weltdeutung, die allem historischen Denken bestimmend zugrunde liegt“, der somit einen Über- und keinen Gegenbegriff zu der „untersuchenden“, „didaktischen“ oder „diskussiven“ Form, wie sie beispielsweise Droysen von der „erzählenden Form“ trennt, darstellt, vgl. Rüsen 1987, 230f. (Zitate ebd., dort teilw. hervorgehoben). 350 White 1991, 13 (dort teilw. hervorgehoben). 351 Vgl. ebd. Auch die Forderung nach einer Verwissenschaftlichung der Historie drückt für White lediglich eine Präferenz für eine dieser Interpretationsstrategien aus, genauso wie die Entrhetorisierung der Geschichtsschreibung nichts anderes als ein weiteres rhetorisches Mittel sei. 352 Vgl. Kantsteiner 1993, 281ff.

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Nun deckt sich Whites Schlussfolgerung, dass jede historische Darstellung Erfindung und Literatur bzw. Geschichtsphilosophie sei, in keiner Weise mit dem Selbstbild moderner Historiker (selbst wenn diese sich zu den Anhängern einer erzählenden Historiographie zählen). Vielmehr erinnert Whites Theorie an die vormoderne Geschichtsschreibung, sowohl in der Trennung von Einzelfaktum und Verknüpfung, die der jahrhundertelang gültigen Abgrenzung von Annalen und Historien nahekommt, als auch in der Betonung des rhetorischen und unwissenschaftlichen Elements.353 White kritisiert jedoch nicht nur den Weg, auf dem die Historiographie zu angeblich objektiven Erkenntnissen über die Vergangenheit gelangen will; in seinen Augen ist schon die Bedeutung, die der Geschichte und der wissenschaftlichen Beschäftigung mit ihr überhaupt zugemessenen wird, ideologisch begründet. So ist für ihn „die historische Erkenntnis, auf die das Abendland seit Beginn des 19. Jahrhunderts so stolz war, wenig mehr als das theoretische Gerüst einer ideologischen Position, von der aus die westliche Zivilisation nicht lediglich ihr Verhältnis zu früheren Kulturen und Zivilisationen bestimmte, sondern auch zu den räumlich und zeitlich benachbarten“, und in der Rede vom historischen Bewusstsein sieht er denn auch bloß den Ausdruck eines Vorurteils, „das die angebliche Überlegenheit der modernen Industriegesellschaft rückwirkend glaubhaft und plausibel machen soll“.354 Eine andere Strömung der Postmoderne geht noch weiter als Hayden White und bestreitet jede Referenzialität zwischen dem historiographischen Diskurs und der historischen Realität. Denker wie Roland Barthes (1915–1980) oder Jacques Derrida (1930–2004) wollen die Überzeugung konventioneller Historiker zerstören, sie könnten aufgrund der Quellen Rückschlüsse über die Vergangenheit ziehen und darüber einen wissenschaftlichen Diskurs mit Wahrheitsanspruch führen. Tatsächlich gebe es keine Verbindung zwischen dem historischen Text und der historischen Realität, weshalb letzten Endes jeglicher Unterschied zwischen Wahrheit und Dichtung entfalle: „Man kommt so zu jenem Paradox, das die ganze Relevanz des historischen Diskurses (im Hinblick auf andere Typen des Diskurses) ausmacht: Das Faktum ist immer nur linguistisch existent (als Terminus eines Diskurses), und doch spielt sich alles so ab, als

353 Als Konsequenz hieraus wurde auch die Rückkehr zu einem annalistischen Konzept von Geschichtsschreibung wieder ins Spiel gebracht (vgl. Hölscher 1997). 354 White 1991, 16. Vgl. dazu Fuglestad 1992, 310, der darauf hinweist, dass nicht nur die alte Behauptung von der Geschichtslosigkeit Afrikas, sondern genauso auch die Reaktionen auf diese These und die Versuche, die Geschichtlichkeit Afrikas zu „beweisen“, Ausdruck eines an westlichen Maßstäben orientierten Geschichtsverständnisses seien.

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wäre seine Existenz lediglich die einfache und genaue ‚Kopie‘ einer anderen Existenz, die in einem extrastrukturalen Bereich liegt, dem ‚Realen‘.“355

Die Geschichtswissenschaft ist demnach nichts anderes als ein selbstreferenzieller Diskurs ohne Bezug zur Außenwelt, ein, wie Roland Barthes sagt, „verfälschter performativer Diskurs […], in dem nämlich das scheinbar Konstatierende (Deskriptive) tatsächlich nur das Bedeutende des Sprechaktes als eines Autoritätsaktes ist“356. In dieser Spielart der Postmoderne oder des Poststrukturalismus wird das alte Streben der Historiker, die Geschichte als einen Text, als einen „Roman Gottes“357 zu lesen, radikalisiert und gegen die Geschichte selbst gewendet. Nun gibt es nur noch den Text und nichts mehr jenseits davon: „Il n’y a pas de hors-texte.“358 Dabei ersetzt Derrida die alte hermeneutische Überzeugung, dass die Einheit der Bedeutung (eines Textes oder der menschlichen Vorstellungen) die vernünftige Interpretation ermögliche, durch „die Annahme, dass bei jedem Text eine prinzipielle Unbegrenztheit von Bedeutungen (Dissemination) vorhanden ist, zwischen denen prinzipiell eine unentscheidbare Beziehung besteht. Das Ziel der traditionellen Hermeneutik – die ‚richtige‘ Interpretation des Textes zu erstellen – ist bei ihm also prinzipiell nicht zu erreichen. Von Objektivität könne also bei Interpretationen niemals die Rede sein.“359

3.1 Michel Foucault Der für die Historiographie wohl wichtigste Vertreter der Postmoderne war Michel Foucault (1926–1984). Seine bedeutendsten Werke lassen sich – im Gegensatz zu denen eines Jacques Derrida oder Hayden White – durchaus auch als Versuche eines ernsthaften Historikers lesen, die historische Realität zu untersuchen und sie den Menschen seiner Zeit verständlich zu machen. Zwar setzte die Rezeption Foucaults unter Historikern (zumindest außerhalb seines Heimatlandes) nur verzögert und dann zumeist in Form heftiger Kritik ein,360 doch änderte sich dies im Laufe der 355 Barthes 1968, 179. 356 Ebd. 357 Bereits Leibniz deutete die Geschichte des Menschengeschlechts als einen Roman Gottes, dessen Ausgang in der Schöpfung enthalten sei (vgl. Koselleck 1975, 663, unter Bezug auf Leibniz, Theodizee [1710], § 149); ähnlich Kant (vgl. Koselleck 1975, 664, mit den Hinweisen auf Kants Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht [1784] und seinem Mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte [1786]). 358 Derrida 1967, 227. 359 Lorenz 1997, 165. 360 Vgl. z. B. Roger Hahn, der eine Rezension mit dem Satz beginnt: „Michel Foucault’s Naissance de la clinique is a terrible book.“ (Hahn 1975, 1503.)

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1970er- und 1980er-Jahre. Nun errangen Foucaults Werke immer größere Bedeutung für die Geschichtsschreibung und galten als „some of the most powerful and detailed works in intellectual history of the past twenty years“361. Die kritischen Reaktionen in den 1960er- und frühen 1970er-Jahren waren in erster Linie durch die Irritationen begründet, die Foucaults ungewöhnlicher Stil und seine damals neuen Untersuchungsmethoden auslösten. Vor allem die von ihm „Archäologie“ genannte strenge Diskursanalyse war den Historikern verdächtig, in erster Linie wegen der mit ihr verbundenen Betonung der Brüche und Diskontinuitäten und ihrer vermeintlichen oder tatsächlichen Nähe zu einem „anti-humanistischen“ Strukturalismus. Die „Genealogie“, die Untersuchung der Diskurse als spezifische Praktiken, wurde dagegen schneller akzeptiert. Mit zunehmender Gewöhnung und der Erkenntnis, dass die Methode der Diskursanalyse gerade für die „intellectual history“ von großem Nutzen sein kann, gewann der Historiker Foucault an Bedeutung und Beliebtheit. Ebenfalls positiv für die Stellung Foucaults in der Geschichtswissenschaft wirkte sich der wachsende Einfluss der französischen Annales-Geschichtsschreibung auch in den USA und Deutschland aus, da die Historiker und Historikerinnen um Fernand Braudel und Emmanuel Le Roy Ladurie ähnlich arbeiteten. So kann man Parallelen sowohl im – verglichen zum Beispiel mit den geschichtswissenschaftlichen Werken aus Deutschland geradezu literarischen – Stil wie auch in den zugrunde liegenden Konzepten erkennen.362 Diese Integration Foucaults in die Geschichtswissenschaft ist allerdings auch nicht weiter überraschend, da er in seinen Büchern einige Anstrengungen unternahm, um als Historiker zu gelten. Das beginnt mit der Themenauswahl: Ob es sich um die Veränderungen der Straf- und Kontrollpraktiken im 18. und 19. Jahrhundert, um Diskurse in bestimmten Wissenschaften in der frühen Neuzeit oder um die Sexualethik bei den Griechen und Römern handelt – fast immer steht die Behandlung historischer Themen im Mittelpunkt seiner Untersuchungen. Ebenso erfüllen sie auch formal die Kriterien wissenschaftlicher Geschichtsforschung. Wie in den Lehrbüchern der Geschichtswissenschaft gefordert, „ist der Stil Foucaults positivistisch, werden die Entwicklung der Begriffe und des Denkens in den Dokumenten gesucht, die die verschiedenen Zustände der verschiedenen Wissen darstellen“363. Er arbeitet mit Zitaten, genauesten Referenzen, und seine Bücher sind mit umfangreichen Anmerkungsapparaten ausgestattet, um die wissenschaftliche Verankerung zu gewährleisten. 361 Sprinker 1980, 4. Vgl. Megill 1987. 362 Zu diesen Parallelen vgl. Honegger 1982. 363 Descombes 1981, 138.

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Aber dennoch war Foucault kein „normaler Historiker“, der so einfach von der Möglichkeit eines verlässlichen Erkenntnisgewinns über die Vergangenheit überzeugt gewesen wäre. Er stimmte mit Barthes’ Charakterisierung der Geschichtsschreibung als „verfälschtem performativem Diskurs“ ebenso überein wie mit Nietzsches Ansichten zur Wahrheit als geronnenem Irrtum und zur Beziehung von Wissen und Macht. Und Foucault war auch insofern ein Denker der Postmoderne, als er in seinem Werk gewissermaßen die Dekonstruktion praktizierte und fast spielerisch die Geschichtsschreibung unterhöhlte, indem er seine Werke strategisch an den Schnittstellen zwischen moderner Geschichtswissenschaft und postmoderner Philosophie platzierte. Den Effekt dieser Strategie beschreibt Vincent Descombes wie folgt: „Dieses Zusammentreffen von Positivismus und Nihilismus im selben Kopf schafft eine überraschende Mischung: einerseits umgibt sich jede Behauptung Foucaults mit einem enormen kritischen Apparat (Dokumente, Zitate, genaueste Referenzen), andererseits könnte man mit denselben Angaben andere Erzählungen konstruieren, und Foucault zögert nicht, mit diesen Möglichkeiten zu spielen. Wie manche Historiker gesagt haben, gehört das Werk Foucaults in Wirklichkeit zum Bereich der Fiktion (‚Es war einmal…‘, ‚Wenn ich König wäre …‘). Ein recht unangenehmer Schluss – der für die Historiker um so peinlicher ist, als ihre eigenen Arbeiten dieselbe Außenansicht bieten wie die Foucaults: eine verführerische Konstruktion, die sich durch das Spiel gelehrter Verweise einen Anschein von Wahrhaftigkeit gibt.“364

Tatsächlich waren Foucaults Geschichtswerke so angelegt, dass sie in ganz verschiedener Weise gelesen werden können: einerseits beispielsweise als empirische, positive Untersuchungen der Vergangenheit, „als powerful and detailed works in intellectual history“, d. h. als „normale“ Geschichtsdarstellungen. Andererseits kann Foucault aber auch als „antihistorischer Historiker“ gesehen werden, der die Werke der Fachhistoriker mit derselben „Haltung der Verachtung“ betrachtet habe, mit der Antonin Artaud (1896– 1948) die Werke aller modernen Dramatiker oder Alain Robbe-Grillet (1922–2008) die Werke aller modernen Romanautoren betrachtet hätten, und der „Geschichte“ schreibe, „um sie zu zerstören, als Disziplin, als Bewusstseinsform und als (gesellschaftliche) Seinsweise“365. Foucault – und mit ihm Jacques Lacan (1901–1981) und Claude Lévi364 Ebd., 139. 365 So etwa der bereits angesprochene Hayden White (White 1986, 272). Vgl. auch die Ausführungen Whites zu den Konsequenzen dieser Einstellung für den Stil Foucaults: „Wenn es das Ziel des Historikers ist, statt etwas wieder vertraut zu machen, eben diesem die Vertrautheit zu nehmen, dann muss seine Haltung gegenüber seinem Publikum eine grundlegend andere sein als die, die er gegenüber seinem Gegenstand einnehmen wird. Gegenüber letzterem wird er voller Sympathie und Tole-

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Strauss (1908–2009) – gehe es nicht um Klärung und Erklärung, sondern um Zergliederung, Zersetzung, um das Streuen von Brüchen und Unsicherheiten, insofern ihre Art der Geschichtsschreibung „das Denken in das Innere einer bestimmten Bewusstseinsform führt, wo ihr ganzes wesentliches Geheimnis, ihre Intransparenz und Eigentümlichkeit als Beweis der irreduziblen Vielfalt der menschlichen Natur gefeiert wird“366. Aber Foucaults Einstellung gegenüber der Geschichtswissenschaft kann auch als ironische verstanden werden. Dann würde er ihre „wissenschaftlichen“ Methoden der Erklärung und Beweisführung für das Ziel einer dispersiven (zersetzenden) Anti-Historie benutzen, welche die wissenschaftliche Geschichtsschreibung mit ihren eigenen Mitteln und Methoden unterläuft und sie so gegen sich selber ausspielt. So schreibt Alan Megill zur Archäologie des Wissens (1969): „The ironism of L’ Archéologie du savoir resides most especially in the fact that whereas it appears to be a rigorously objective attempt to articulate a new scientific methodology it is actually an attempt to demolish everything that has hitherto gone under the name of science. On an overt level, the book has all the trappings of a dicourse on method. [...] But when one looks more closely at the book, its supposed ‘method’ and ‘theory’ turn out to be disturbingly elusive. [...] And L’ Archéologie du savoir […] is more than ironical; it is, in fact, a parodistic imitation of what it seeks to destroy, an attempt to outmethodologize Descartes himself. Most of the book’s contradictions and obscurities can be linked to its ironical and parodistic intentions.“367

In diesem Sinn sei Foucaults Werk auf doppelte Weise gegen die Geschichtswissenschaft gerichtet: zum einen, indem es gegen ihre Ziel arbeite und ihrem Versuch der Einsicht in die historische Realität ein uferloses Änigmatisieren (Verrätseln) entgegensetze; und zum zweiten, indem es durch seinen ironischen Charakter, durch seine „parodistische Imitation“ geschichtswissenschaftlicher Methoden die konventionelle Historiographie unterlaufe: „Die Genealogie ist die Historie als Karneval großen Stils.“368 Eine wichtige Interpretation der Foucault’schen Geschichtsschreibung (und damit auch seiner Interpretation von Geschichtsschreibung) ist die der Geschichte als ranz sein, der Empfänger von Botschaften, der eher auf ihren symbolischen als auf ihren signifikativen Gehalt eingestellt ist; er wird ein Kenner der Geheimnisse und Dunkelheiten sein, jener Aspekte ihres dichterischen Gehalts, die in der Übersetzung verloren gehen. Seinem Publikum gegenüber jedoch wird er als der boshafte Kritiker des common sense erscheinen, als einer, der Wissenschaft und Vernunft unterminiert, als der arrogante Vermittler einer ‚geheimen Weisheit‘, die die Ängste der gegenwärtigen gesellschaftlichen Existenz verstärkt, statt sie zu beseitigen.“ (Ebd., 299.) 366 Ebd., 301. 367 Megill 1979, 487, 489. 368 Foucault 1974, 106.

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„Kampf-Wissen“. Foucault selbst spricht von der Notwendigkeit, „dass die historische Analyse einen Teil des politischen Kampfes bildet“369. Weiter heißt es: „Das Schreiben interessiert mich nur, sofern es sich als Instrument, Taktik, Erhellung in einen wirklichen Kampf einfügt.“370 Als solches Kampf-Wissen hat man vor allem die „Genealogie“ aufgefasst, die zwei Wesenszüge in sich vereine: „Sie kritisiert lokale Zustände heute, indem sie historisch genealogisch auf ihre Entstehungskampfplätze, Praktiken und Absichten aufmerksam macht. Sie ist damit zugleich praktische Kampftaktik, sie ist Entstehungsherd jetzt, sie will die gültigen Spielregeln umkehren, die Umwertung der Werte praktizieren.“371

Die Interpreten schwanken allerdings, ob Foucaults Ziel nun eine Untersuchung der Frage war, warum die Historie zu bestimmten Strukturen, Diskursen oder Konflikten in der Gegenwart führen musste, oder ob er nicht doch eher zeigen wollte, dass die scheinbar unerlässlichen Fundamente unseres Denkens und Handelns lediglich das „Resultat des zufälligen Auftauchens erfolgreich durchgesetzter Interpretationen“ 372 sind. Bei dieser zweiten Strategie würde es sich um eine „nominalistische“ (Rajchman) Geschichtsschreibung handeln, die im Ergebnis zu einer radikalen, an Nihilismus grenzenden Freiheit führt.373 „Das tröstliche Spiel der Wiedererkennungen“, schrieb Foucault, „ist zu sprengen.“374 Alle diese verschiedenen Auffassungen über das Wesen und den Sinn der Geschichtsschreibung sind in Foucaults Werk angelegt. Man kann dies als Unschärfe und Widersprüchlichkeit kritisieren,375 man kann dahinter aber auch eine bestimmte, dekonstruktivistische Strategie sehen. Diese Strategie ist vor allem in der doppelten Stoßrichtung des Foucault’schen Werkes begründet, das gleichermaßen theoretischen wie praktischen, oder anders ausgedrückt: wissenschaftlichen wie politischen Zielen diente. Diese doppelte Stoßrichtung hat immer wieder für Irritationen gesorgt, da eine tatsächliche und eindeutige Verbindung nicht gegeben und nicht möglich zu sein scheint. Ein Kritiker Foucaults schreibt dazu: 369 370 371 372 373

Foucault 1976, 111f. Ebd., 112. Dauk 1989, 101. Dreyfus/Rabinow 1987, 136. Vgl. Rajchman 1985, 51. „In de-realizing objects, or showing with what consequence we assume them to be real, Foucault would try to open up a discussion of alternatives which his history would not itself predetermine. He uses history to make the ‘realities’ of our current practices seem arbitrary or contingent […].“ (Ebd., 58.) 374 Foucault 1974, 97. 375 Vgl. z. B. Habermas 1985, Kap. X; Honneth 1985, Kapp. 4–6.

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„Aber es gab eine praktizierte und akzeptierte Mystifikation. Foucaults scharfes und vielfaches, aber auch parteilich-ideologisch ungebundenes Engagement fiel gerade in die Bereiche, denen er auch seine Bücher gewidmet hatte: Strafjustiz, Psychiatrie und andere gesellschaftliche Randbereiche, die von den Diskursen Ausgesperrten sozusagen. Die optische Illusion ist perfekt: der politische Horizont, in den seine Texte hineinsprechen, scheint unabweisbar evident zu sein. Mit dem kleinen Nachteil, dass seine Analysen ihre politische Unoperationalisierbarkeit festschreiben.“376

Mit einem Buch wie Überwachen und Strafen (1975) historische Argumente in die aktuelle Debatte um Strafjustiz und Gefängnis einzubringen und gleichzeitig Zweifel am Sinn von Geschichtswissenschaft generell zu säen, zeugt tatsächlich von einer gewissen Verwegenheit. Der Grund für diese sonderbare Strategie mag darin gesehen werden, dass Foucault die Konsequenzen aus seiner Überzeugung zu ziehen versuchte, dass die Sozialwissenschaften in den modernen Gesellschaften ganz grundsätzlich eine bestimmte Funktion, nämlich die des Macht-Wissens, ausüben. „Die wissenschaftliche Praxis gründet gleichsam in einen Diskurs, der besagt: ‚Nicht alles ist wahr; aber an jedem Punkt und zu jeder Zeit gibt es eine erkennbare und ausdrückbare Wahrheit. Diese Wahrheit mag schlummern, doch wartet sie nur darauf, vor unserem Blick zu erscheinen, von unserer Hand enthüllt zu werden. Die Wahrheit ist überall; es liegt nur an uns, die richtige Perspektive, den passenden Winkel, die notwendigen Instrumente zu ihrer Erleuchtung zu finden.‘“377

Dieser Glaube an die Wahrheit und an die Fähigkeit der Sozialwissenschaften, sie erfassen zu können, stellte für Foucault nichts weiter dar als ein Produkt der abendländischen Zivilisation. Dieser Glaube war es, den Foucault einerseits dekonstruierte – ganz praktisch als Verfasser von (wie auch immer) geschichtlich ausgerichteten Werken, nicht bloß durch wissenschaftstheoretische Erörterungen –, den er andererseits aber zugleich für seine politischen Kämpfe benutzte.

3.2 „Kulturgeschichtliche Wenden“ Auch die deutsche „Gesellschaftsgeschichte“ war entschieden politisch. Sie hatte deshalb nicht weniger, sondern eher mehr als die ältere Geschichtswissenschaft an der Interdependenz der historischen Phänomene und der Einheit der Geschichte festgehalten. Seither hat eine neue Generation von aufstrebenden Historikerinnen und 376 Rossum 1985, 280f. 377 Foucault 1980, 63.

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Historikern sie im Zeichen postmoderner Fragestellungen massiv herausgefordert, obwohl viele neue Forschungsrichtungen ohne die vorangegangene sozialgeschichtliche Wende nicht zu begreifen sind. Dieser neue Wandel der Wissenschaft mag ein Generationenkonflikt sein wie der vorangegangene, entspricht aber nicht anders als jener auch einem Wandel des allgemeinen gesellschaftlichen Diskurses. Die historische Sozialwissenschaft gehörte zu einer Generation, die nicht nur an den systematischen Zusammenhang aller sozialen Phänomene, sondern demgemäß auch an die Machbarkeit von Gesellschaft glaubte und daher die gelungene oder gescheiterte Produktion von sozialem Wandel in den Mittelpunkt ihres historischen Interesses stellte. Die angestrebte Ablösung dieser Makro- durch verschiedene Arten von Mikroperspektive bei gleichzeitiger Auflösung aller unterstellten Einheiten durch konsequente Pluralisierung von Gegenständen und Methoden bis zur Beliebigkeit hingegen ist die Historie einer Generation, die erfahren hat, dass im großen Rahmen nichts mehr zu „machen“ ist, sondern der Einzelne stattdessen unkontrollierbaren Abläufen und anonymen Machtprozessen ausgeliefert bleibt, so dass er nur noch versuchen kann, seine persönliche kleine Lebenswelt zu behaupten. Die Kultivierung postmoderner Pluralität, die hinsichtlich der historischen Gegenstände an die Stelle des Strebens nach Synthese getreten ist, gilt konsequenterweise auch für die Vielfalt der neuen Richtungen der Historie selber. Sie entspricht einer weitreichenden und offensichtlich gewollten Unschärfe und Variabilität von Leitvorstellungen. Es ist schwer möglich, verbindlich anzugeben, was z. B. „dichte Beschreibung“, „Diskurs“, „historische Anthropologie“ sein und tun wollen. Man könnte sogar von einer regelrechten „Flucht aus der Kategorie“ sprechen. Manche Richtungen, besonders [1] die italienische „microstoria“, verleugnen ihre marxistische Herkunft nicht. Auch für sie steht der Gegensatz zwischen Herrschenden und Beherrschten im Mittelpunkt, aber nicht mehr unter dem makrohistorischen Aspekt anonymer ökonomischer Verhältnisse, sondern aus der Sicht des Bewusstseins und der Kultur des wiederentdeckten Subjekts,378 das vielleicht als repräsentatives, aber keineswegs mehr als statistisch-durchschnittliches angesehen wird. [2] Die deutsche „Alltagsgeschichte“ ist ebenfalls ein Abkömmling der Gesellschaftsgeschichte und rechnet sich zum linken oder zum „grünen“ politischen Spektrum, obwohl sie die „kalten“ Theorien und Begriffe der Sozialhistoriker ablehnt und in neo-hermeneutischer Weise Erfahrungen und Bewusstsein einfacher Menschen gleichsam „von innen heraus“ rekonstruieren möchte. Nicht selten geht es ihr um den erfolgreichen Widerstand „kleiner Lebenswelten“ gegen ihre „Kolonisierung“ durch die anonymen 378 Vgl. Iggers 1993, 68.

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Mächte von Wirtschaft und Gesellschaft, Staat und Kirche.379 Zunehmend ist „Kultur“ anstelle von „Gesellschaft“ zur Leitkategorie geworden. Dabei definiert [3] die „neue Kulturgeschichte“380 Kultur aber nicht mehr im Sinne der in Deutschland traditionellen Fixierung auf die geistige hohe „Kultur“ der Eliten im Gegensatz zur materiellen „Zivilisation“ und auch nicht im Sinne der Sachkulturforschung der älteren Volkskunde und ihr nahestehender historischer Arbeiten, sondern durchaus als geistige Größe, aber als Vorstellungen und Praktiken einfacher Leute, als „Volkskultur“, die nicht selten in unzutreffender Weise als kontradiktorischer Gegensatz zur Elitenkultur stilisiert wurde. Statt der Soziologie wurde die Ethnologie zum Vorbild der Historie, ein Weg, den die methodologisch unbefangeneren und pluralistischeren französischen Forscher der Annales längst vorangegangen waren, insbesondere [4] mit ihrer dem Zusammenhang von mentaler Disposition und sozialem Handeln gewidmeten, begrifflich eher unscharfen „Mentalitätsgeschichte“.381 [5] Die von der ethnologischen Kulturanthropologie inspirierte „Historische Anthropologie“ befasst sich inzwischen nicht mehr nur mit der vergleichenden Untersuchung der kulturellen Bewältigung menschlicher Elementarerfahrungen (z. B. Körper, Geschlecht, Fremdheit, Tod, Familie, politische Ordnung) wie das 1975 gegründete Freiburger Institut für Historische Anthropologie,382 sondern versucht stattdessen mittels der „dichten Beschreibung“ des Clifford Geertz (1926–2006)383 Worte, Bilder, Institutionen, Verhaltensweisen als Symbole menschlicher Kommunikation zu entschlüsseln und zu verstehen.384 Dessen ethnologische Hermeneutik unterscheidet sich von derjenigen des Historismus erstens dadurch, dass es sich nicht um mehr oder weniger bewusste Hervorbringungen historischer Subjekte im selben historischen Kontext handelt, dem auch der Historiker angehört, so dass er sich leicht „einfühlen“ kann. Stattdessen geht es um die radikale Alterität der Fremde, deren weitgehend unbewusst vorhandene innere Logik unter strikter Kontrolle der Vorurteile des Forschers nach ihren eigenen Bedingungen zu entschlüsseln ist. Das ist allerdings nur unter der Voraussetzung möglich, dass die fremde Kultur so weit ein homogenes Ganzes darstellt, als ihre Bestandteile sinnvoll aufeinander bezogen sind, was aus postmoderner Perspektive eigentlich bezweifelt werden muss.385 Zweitens wird von 379 380 381 382 383 384 385

Vgl. Schulze 1994. Vgl. Hardtwig 1996; Daniel 2006; Tschopp/Weber 2007. Vgl. Dinzelbacher 1993. Vgl. die Buchreihe Historische Anthropologie (1978ff.). Geertz 1983. Vgl. Dressel 1996, bes. 168. Vgl. Iggers 1993, 77, 84.

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vornherein mit Mehrdeutigkeit des Interpretandum gerechnet: Augenzwinkern kann Nervosität bedeuten, ein diskretes Signal sein oder die Nervosität durch Nachäffen verspotten wollen. Allerdings lässt sich vor allem die Sachkultur beim besten Willen nicht durchgängig auf Symbolik reduzieren. Die symbolische Perspektive der Historischen Anthropologie mag insofern bisweilen in die Nähe einer modifizierten Wiederherstellung des traditionellen „Königswegs“ geistesgeschichtlicher Geschichtswissenschaft geraten. Das erscheint nur konsequent, wenn man die erneuerte Zentralität von Texten in der Postmoderne bedenkt. Nachdem [6] bereits zu Zeiten der historischen Sozialwissenschaft die Logik der historischen Erklärung als narrativ definiert worden war,386 wurde 1979 von Lawrence Stone (1919–1999) ausgerechnet in Past and Present mit der „Wiederbelebung des Erzählens“387 (revival of narrative) das Ende einer Ära postuliert. „Von jeher haben Historiker Geschichten erzählt“, so Stone, und „[v]on jeher wurde die Geschichtsschreibung als ein Zweig der Rhetorik betrachtet“.388 Zu dieser Auffassung kehrten nun immer mehr Historiker zurück. Damit befreie sich die Geschichtsschreibung aus jener Zwickmühle, in die sie durch den Siegeszug der quantitativen und anti-anthropozentrischen Wissenschaften gebracht worden sei: entweder schwache Wissenschaftsstandards zu akzeptieren, um signifikante Ergebnisse zu erreichen, oder strenge wissenschaftliche Maßstäbe anzulegen, die jedoch nur noch Ergebnisse von geringer Bedeutung hervorbrächten.389 Lawrence Stone nahm für sich in Anspruch, mit seiner Formel der „Wiederbelebung des Erzählens“ eine breite Strömung innerhalb der Geschichtswissenschaft auf einen Nenner gebracht zu haben. Diese bestand zum einen aus Historikern, die der eher analytischen und theoriegebundenen Geschichtswissenschaft gegenüber immer skeptisch geblieben waren, aber mit ihrer traditionellen Geschichtsschreibung lange Zeit im Schatten jenes lautstarken Paradigmas gestanden hatten. Ein typisches Beispiel dafür war die Diskussion in Deutschland, wo Vertreter eines Neohistorismus wie Golo Mann (1909–1994) mit seinem „Plädoyer für die historische Erzählung“ die 386 387 388 389

Vgl. Danto 1974. Stone 1979, Titel. Stone 1986, 88. Damit bezog sich Stone auf ein Zitat von Carlo Ginzburg (*1939) – „The quantitative and antianthropocentric approach of the sciences of nature from Galileo on has placed human sciences in an unpleasant dilemma; they must either adopt a weak scientific standard so as to be able to attain significant results, or adopt a strong scientific standard to attain results of no great importance.“ (Ginzburg 1979, 276) – und auf die Enttäuschung über das Missverhältnis von Anspruch und Ergebnissen der quantitativen Geschichte (auch auf das Verhältnis von Input und Output bei den millionenteuren, computergestützten Massenuntersuchungen der seriellen Geschichte).

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inzwischen einflussreiche historische Sozialwissenschaft angriffen.390 Zum anderen gab es aber auch Historiker, nicht zuletzt in Frankreich, die einst selbst eine streng analytische Historie betrieben hatten und nun zum Erzählen von Geschichte übergingen. Emmanuel Le Roy Ladurie hatte einst alle Historiker zu Programmierern machen wollen.391 Später schuf er in seinem Buch Montaillou (1975) „ein einzigartiges und unvergessliches Gemälde von Leben und Sterben, Arbeit und Sexualität, Religion und Brauchtum“ in einem mittelalterlichen Dorf, indem er „einfach durch die Köpfe der Leute streift[e]“.392 Hayden White hatte ja behauptet, dass Geschichtsschreibung nichts anderes als Dichtung sei, ja wegen der notwendigen Bestimmung des Inhalts durch die Form gar nichts anderes sein könne.393 [7] Diese literaturwissenschaftliche Historik steht unter dem offensichtlichen Einfluss der „sprachwissenschaftlichen Wende“ (linguistic turn), der wohl wichtigsten der zahlreichen cultural turns um die Jahrtausendwende,394 die freilich weniger mit Sprachwissenschaft als mit Sprachphilosophie zu tun hat. Für ihre radikalen Vertreter gibt es nur noch Texte – die Welt selbst wird zum Text –, hinter denen entweder keine Wirklichkeit mehr steht oder allenfalls eine, die nicht zugänglich ist. Die Parallele zur Reduzierung der Anthropologie auf Symbolik ist nicht zu übersehen. Danach hat Sprache keinen Bezug zu irgendeiner Realität und ist kein Mittel, Sinn mitzuteilen, sondern ein in sich geschlossenes Zeichensystem, das seinerseits Sinn hervorbringt. Der Mensch benutzt nicht etwa die Sprache, um seine Gedanken mitzuteilen, sondern was er denkt, ist bereits durch die Sprache bedingt. Der Text wird aber nicht nur unabhängig von der Außenwelt gesehen, sondern auch von seinem Autor.395 Menschliche Intentionalität ist irrelevant für die durch anonyme Machtprozesse etablierten Diskurse. Die Subjekte, die die Mikrogeschichte liebevoll rekonstruiert, verschwinden auf diese Weise erneut aus der Geschichte. Die Herausforderung durch derartige Überlegungen hat der Historie eine erhebliche Bereicherung ihres Methodenarsenals beschert. Wir wissen jetzt genauer, wie nicht nur nach Marx das Sein das Bewusstsein prägt, sondern umgekehrt auch das Sein vom Bewusstsein bestimmt wird, etwa die Rolle der Frauen in der Geschichte 390 Vgl. hierzu die Beiträge von Golo Mann (Plädoyer für die historische Erzählung) und Hermann Lübbe (Wieso es keine Theorie der Geschichte gibt) einerseits sowie von Hans-Ulrich Wehler (Anwendung von Theorien in der Geschichtswissenschaft) andererseits in dem Sammelband Theorie und Erzählung (= Kocka/Nipperdey 1979); ferner: Mann 1979; Kocka 1984. 391 Le Roy Ladurie 1973, 14: „[…] l’historien de demain sera programmeur ou il ne sera plus.“ 392 Stone 1986, 100. 393 Vgl. White 1986. 394 Vgl. Bachmann-Medick 2010. 395 Vgl. Iggers 1993, 88–92.

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durch das Denken und Reden über das weibliche Geschlecht. Zu Recht hat infolgedessen eine Verschiebung des historischen Interesses von der Feststellung von Tatsachen zur Untersuchung von Bewusstseinszuständen stattgefunden. Es scheint aber dennoch eine unübersteigbare Grenze zu geben: „Wenn alles nur ‚Text‘ ist und die Differenz von Faktum und Fiktion aufgehoben wird, kollabiert die Geschichte als Wissenschaft.“396 Die rationalistischen Prinzipien der westlichen Wissenschaft lassen sich zwar letztlich nicht zwingend theoretisch begründen, sie gelten aber kraft praktischer Bewährung: Realität existiert unabhängig von ihrer Darstellung, denn Sprache hat nicht nur kommunikativen Charakter, sondern auch einen Wirklichkeitsbezug. Wahrheit ist daher eine Frage der Genauigkeit, denn eine Aussage ist nur wahr, wenn sie mit Tatsachen außerhalb ihrer selbst übereinstimmt.397 Dass diese Grundsätze in der wissenschaftlichen Lebenswirklichkeit nur eingeschränkt zu verwirklichen sind, versteht sich von selbst; ihren Charakter als „regulative Ideen“ behalten sie gerade deswegen. Der Gegensatz der gesellschaftsgeschichtlichen Makro- und der postmodernen Mikrohistorie erscheint außerdem nur aus der Perspektive des wissenschaftlichen Generationenkonflikts als kontradiktorisch. In Wirklichkeit handelt es sich um ein dialektisches Komplementärverhältnis, ist der Gegenstand der Mikrohistorie doch nicht selten gerade die Auseinandersetzung des Menschen mit den makrohistorischen Zwängen. Man kann Volksreligion nur auf dem Hintergrund offizieller Kirchlichkeit vollständig verstehen und Gemeinderepublikanismus nur auf dem Hintergrund des werdenden modernen Staates.

3.3 Schluss Die Geschichtsschreibung des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts und die philosophische bzw. erkenntnistheoretische Debatte können also nicht mehr auf einen Nenner gebracht, auf ein herrschendes Paradigma zurückgeführt werden. Weniger die Vielzahl von Themenfeldern und Untersuchungsstrategien ist das Problem als das völlige Fehlen eines Konsenses über den Status der Geschichtsschreibung, ihre Möglichkeiten, Aufgaben und Grenzen. Hier wurden und werden nahezu alle möglichen Positionen vertreten: die eine Extremposition erkennt in der Geschichtsschreibung nichts anderes als bloße Literatur, Geschichtsphilosophie oder auch Machtwissen, ohne Anspruch auf Wahrheitsgeltung und Wissenschaftlichkeit, während ganz am anderen Ende des Spektrums die Geschichtsschreibung nunmehr, am Ende des 20. Jahrhunderts, nicht bloß als 396 Hanisch 1996, 217. 397 Vgl. ebd., 219 (mit Bezug auf J. R. Searle, Rationalität und Realismus, in: Merkur 48 [1994], 377–391).

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gleichwertig mit den Naturwissenschaften, sondern sogar als Vorbild für diese gesehen wird. „History, once a hopelessly inexact laggard among the sciences, might even become something of a model for other disciplines, since it deals with the most complex levels of reality we are aware of, that is, the world of agreed-upon meanings that guides our interaction with one another and with the biological, chemical, and physical worlds around us.“398

Die Geschichtswissenschaft habe schon immer mit Problemen umgehen müssen (und umzugehen gelernt), die sich für die einstmals so harten Naturwissenschaften erst seit Neuestem, durch die Chaostheorie, durch die „fuzzy logic“ und auch durch die mit Namen wie Thomas S. Kuhn oder Paul Feyerabend verbundene Skepsis ergäben. „Physics and chemistry, in short, have joined the rest of the sciences, navigating a changeable world in the face of serious uncertainties about the role of the observer in affecting what is observed, even if Newtonian laws of physics still hold for nearly all practical human purposes.“399

In Bezug auf die Vorstellungen über die Wissenschaftlichkeit und die Objektivität der Geschichtsschreibung des letzten Jahrhunderts kann man mit Peter Novick eine zyklische Bewegung ausmachen: auf die Phase der „Inthronisierung der Objektivität“ durch die sich professionalisierende Geschichtswissenschaft folgte nach dem Ersten Weltkrieg die „Belagerung der Objektivität“, gekennzeichnet durch grundlegende Zweifel an den epistemologischen Grundlagen der Historiographie, und auf die Rekonstruktion des auf Objektivität, Empirismus und Unparteilichkeit basierenden Konsenses nach dem Zweiten Weltkrieg folgte eine vierte Phase, die durch eine schwere Krise des Objektivitätsgedankens gekennzeichnet war. „Auch wenn der antitheoretische und antiphilosophische objektivistische Empirismus bis zur Gegenwart im akademischen Diskurs dominiert, […] ist das Objektivitätsideal als epistemologischer Grundpfeiler der wissenschaftlichen Forschung endgültig zusammengebrochen.“400

Ein weiteres Charakteristikum der Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert ist jedoch die deutliche Trennung der eigentlichen Geschichtsschreibung von der philosophischen bzw. erkenntnistheoretischen Ebene. Die praktische Geschichtsschreibung 398 McNeill 1998, 1. 399 Ebd., 9. 400 So fasst Eckhardt Fuchs (Fuchs 1992, 138) die Ergebnisse Peter Novicks zusammen.

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ließ sich jedenfalls durch jenen vermeintlichen „epistemologischen Zusammenbruch“ nicht weiter beeinflussen. „At the level of everyday practice“, so Peter Novick zur Situation am Ende des 20. Jahrhunderts, „things had never been better.“401

401 Novick 1988, 592.

Matthias Jung, Arne Moritz und Magnus Schlette 1

Philosophie Die philosophische Beschäftigung mit Hermeneutik reicht zurück bis in die Antike. Sie existiert damit noch vor dem Begriff, der als Bezeichnung einer systematisch betriebenen philosophischen Teildisziplin erst in der frühen Neuzeit entsteht. Vor dieser Zeit werden die entsprechenden Fragen in verschiedenen Kontexten behandelt, in der Regel auch eher nebenbei. Dabei geht es vor allem um Fragen der Textauslegung. Allerdings war bereits in der Antike, genauer bei Aristoteles, eine weitere Fragestellung angelegt, nämlich die nach dem Verstehen der Welt, wie sie im genuinen sprachlichen Ausdruck geschieht. Gegenüber diesem primären Verstehen erscheint das Verstehen fremder sprachlicher Äußerungen als sekundär. Die Neuzeit greift die alte Fragestellung wieder auf und versucht sie in ihre Verstehenskonzeptionen zu integrieren, wobei mal mehr der eine, mal mehr der andere Aspekt des Verstehens zum Tragen kommt. Generell treten die Hermeneutikentwürfe seit dem 17. Jahrhundert zunehmend mit universalem Geltungsanspruch auf. Wo früher die Autorität der Tradition das Verstehen orientierte, herrschen nun Regeln, die von Philosophen und Kognitionswissenschaftlern auf Basis rationaler Untersuchungen formuliert werden.

1

Arne Moritz: Kap. I u. II; Magnus Schlette: Kap. III; Matthias Jung: Kap. IV. Einleitung und Redaktion von Meinrad Böhl.

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I. Antike Verstehen als sympatheia – Zur aristotelischen Schrift Peri hermeneias und dem klassischen Paradigma philosophischer Hermeneutik im Abendland Rede ist ein großer Bewirker; mit dem kleinsten und unscheinbarsten Körper vollbringt sie göttlichste Taten: vermag sie doch Schrecken zu stillen, Schmerz zu beheben, Freude einzugeben und Rührung zu mehren.2

Die kurze aristotelische Schrift Peri hermeneias hat man sowohl als „most influential text in the history of semantics“3 bezeichnet wie als „Geburt der abendländischen Semiotik“4. Nicht nur in Ergänzung zu diesen Urteilen, sondern in deren Konsequenz lässt sie sich als wichtigster Beitrag zur Etablierung eines Paradigmas philosophischer Hermeneutik lesen, das man aufgrund seiner anhaltenden Wirkung als das klassische der philosophischen Hermeneutik im Abendland bezeichnen kann.5 Dabei spricht zunächst nicht viel dafür, dass der Text des Aristoteles mit philosophischer Hermeneutik im Sinn der Neuzeit überhaupt etwas zu tun hat. Denn außer im Titel wird von hermeneia oder hermeneuein in ihm kein einziges Mal gesprochen. Der Titel aber stammt mit großer Sicherheit gar nicht von Aristoteles (384–322 v. Chr.), sondern aus späterer Zeit.6 Auch bestimmt Aristoteles zu Beginn des Textes eindeutig als „Gegenstand der jetzt anzustellenden Betrachtung“ den logos apophantikos, die aussagende Rede.7 2 3 4

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6 7

Gorgias von Leontinoi, Lobpreis der Helena (ca. 430 v. Chr.), zitiert nach Buchheim 1989, 9 (Nr. 8). Kretzmann 1974, 3. Todorov 1995, 6–11. Genau genommen ist der aristotelische Traktat für Todorov erst die Vorgeburt der abendländischen Semiotik, die er lieber erst bei Augustinus das Licht der Welt erblicken lassen will, insofern dieser den Begriff des Zeichens befreit von einer Einschränkung auf sprachliche Entitäten. Allerdings zeigt Todorovs Text selbst, dass diese Eingeschränktheit des Zeichenbegriffs keineswegs ein Charakteristikum des aristotelischen Gesamtwerks darstellt, sondern eigentlich nur für Peri hermeneias gilt. Dort aber wird diese Einschränkung nicht positiv gesetzt, sondern ergibt sich gewissermaßen nebenbei aus dem Gegenstand des Textes, insofern es sich bei diesem eben um den logos handelt. (Vgl. ebd., 48–51.) Das Folgende ist in Orientierung an der Bemerkung Todorovs geschrieben, dass die verschiedenen mit der Sprache befassten Zweige abendländischer Theoriebildung in der antiken Semiotik eine gemeinsame Wurzel haben: „Die Auseinandersetzung mit dem Zeichen hat in verschiedenen Traditionen und oft unabhängig voneinander stattgefunden – etwa in der Sprachphilosophie, Logik, Linguistik, Semantik, Hermeneutik, Rhetorik, Ästhetik, Poetik. Die Trennung der Disziplinen und die begriffliche Vielfalt haben uns die Einheit einer Tradition vergessen lassen, die zu den reichsten der abendländischen Geschichte zählt.“ (Ebd., 1.) Vgl. Maier 1900, 72. Peri hermeneias 4, 17a (Aristoteles 1994, 6). Zitiert wird nach der im Akademieverlag erschienen Übersetzung von Hermann Weidemann, deren Einleitung und ausführlicher Kommentierung, die

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Wahrheitsfähigen Aussagesätzen und deren logischen Beziehungen gilt entsprechend die Aufmerksamkeit seiner Untersuchung, und so scheint es auch der Sache nach in Peri hermeneias um nichts weniger als um Probleme philosophischer Hermeneutik zu gehen. Wird der Text also nur fälschlich und verlegenheitshalber bis in die Gegenwart in deutschen Übersetzungen als „Hermeneutik“ feilgeboten?8 Bereits spätantike und mittelalterliche Kommentatoren des Aristoteles fanden den Titel der Schrift im Hinblick auf deren Inhalt merkwürdig, jedoch noch nicht ganz unverständlich.9 Denn sie konnten ihn gemäß dem ihnen noch bekannten antiken Sprachgebrauch auffassen, der als hermeneuein erst in zweiter Linie die Anwendung einer techne des Verstehens oder Interpretierens bezeichnete, das Dolmetschen eines Fremden, etwa der Götter oder der Barbaren, viel häufiger aber ganz allgemein das Aussagen von etwas.10 Auch Aristoteles gebrauchte hermeneuein in der Regel auf diese Weise.11 Und auch bei Platon (428/27–348/47 v. Chr.) und anderen Autoren der antiken Philosophie dominierte der entsprechende Sprachgebrauch. Was den Erfindern der philosophischen Hermeneutiken der Neuzeit hinsichtlich der scharfen Abgrenzung von ihrer Vorgeschichte recht zu geben scheint, bedeutet zunächst einmal allerdings nur, dass die systematisch abgeschlossene philosophische Disziplin, die sie erfanden, unter diesem Namen in der Antike nicht existierte – eben aufgrund der Tatsache, dass man unter hermeneuein und hermeneia in der Regel etwas ganz anderes verstand. Dass es eine solche Disziplin auch unter einem anderen Namen nicht gab, wie man sich im Allgemeinen einig ist, heißt nun allerdings nicht, dass ihr zugehörige Probleme bei verschiedenen anderen Gelegenheiten nicht doch traktiert worden wären, auch mit entsprechender Wirkung auf die spätere Geschichte philosophischer Hermeneutik. Das Erbe, das die Hermeneutiken der Neuzeit im Hinblick auf antike Philosophie antraten, umfasste sicherlich kein System und keine Disziplin. Aber es bestand in mehr als der Übernahme eines Begriffs, dessen Erfindung man

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auch die einschlägige Literatur diskutiert, die nachfolgende Darstellung wichtige Einsichten verdankt. Für die übrigen im Folgenden angeführten Schriften des Aristoteles sei auf die leicht zugängliche Meiner-Ausgabe (Aristoteles 1995) verwiesen, für die darin nicht enthaltene Poetik auf die neue Ausgabe von Arbogast Schmitt (Aristoteles 2008). So das Urteil Gadamers in Gadamer 1974, 1062, das in merkwürdiger Spannung steht zu dem immer wieder von ihm geäußerten Vorwurf, in der Nachfolge dieses Textes habe sich eine verhängnisvolle Beschränkung der Hermeneutik auf eine Logik der Aussage ergeben. Vgl. Ammonius 1897, 4,27–5,23. „Car l’herméneia désigne le plus souvent l’acte d’exprimer, dont le caractère d’extraversion est, on va le voir, fortement souligné.“ (Pépin 1975, 291.) Zu hermeneuein als Kunst des Interpretierens, etwa im Zusammenhang der Septuaginta-Anfertigung, als das Dolmetschen Fremder, vgl. ebd., 294f.; zu beidem vgl. auch Weidemanns Einleitung in Aristoteles 1994, 42–44. Etwa in der Poetik oder in De anima.

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der Antike im Allgemeinen lediglich zugestehen will. Die Geschichte philosophischer Hermeneutik umfasst, was ihre Anfänge betrifft, mehr und auch gerade anderes als ihre Begriffsgeschichte.12 Peri hermeneias etwa ist für sie gar nicht aufgrund der Tatsache von Interesse, dass der Text das bedeutsame Wort in seinem Titel führt, sondern aufgrund gerade jener berühmten Sätze im ersten Kapitel der Schrift, an denen auch deren Bedeutung für die Geschichte der abendländischen Semiotik und Semantik geknüpft wurde.

1. Peri hermeneias – „Geburt“ der Semiotik, Semantik und der Auffassung des Verstehens als sympatheia Die angesprochene Passage enthält in einigen wenigen Sätzen eine komplette Theorie der Sprache: „Nun sind die (sprachlichen) Äußerungen unserer Stimme ein Symbol für das, was (beim Sprechen) unserer Seele widerfährt, und das, was wir schriftlich äußern, (ist wiederum ein Symbol) für die (sprachlichen) Äußerungen unserer Stimme. Und wie nicht alle (Menschen) mit denselben Buchstaben schreiben, so sprechen sie auch nicht alle dieselbe Sprache. Die seelischen Widerfahrnisse aber, für welche dieses (Gesprochene und Geschriebene) an erster Stelle ein Zeichen ist, sind bei allen (Menschen) dieselben; und überdies sind auch schon die Dinge, von denen diese (seelischen Widerfahrnisse) Abbildungen sind, (für alle) dieselben.“13

Als Erklärung für den merkwürdigen Titel der aristotelischen Schrift ließen sich diese Sätze lesen, insofern Aristoteles hier die Sprache, den logos bzw. das legein, ganz allgemein als ein Aussagen auffasst, nämlich als ein Aussagen dessen, was der Seele eines Sprechers geschieht, für andere. Das Wort hermeneia fällt in diesem Zusammenhang 12

13

Dabei ist die Etymologie des Begriffs, die immer wieder mit Hermes, dem Götterboten, in Verbindung gebracht wurde, weiter umstritten – so dass auch die daran geknüpften Aussagen über das Wesen der Hermeneutik (vgl. Gadamer 1974) auf nicht ganz sicheren Grund gebaut sind (vgl. Pépin/ Hoheisel 1988; Sijakovic 1996). Die für die Antike eher zweitrangige Bedeutung von „Interpretieren“ und „Dolmetschen“ war es jedenfalls, mit der dieser Begriff das lateinische Mittelalter überlebte, um sich dann als Name für eine neue philosophische Disziplin anzubieten: Hermeneumata nannte man für die Tätigkeit des Übersetzens gedachte griechisch-lateinische Wörterbücher, Glossare, die seit dem 3. Jahrhundert n. Chr. infolge der zunehmenden Entfremdung der griechischen von der lateinischen Bildungswelt benötigt wurden (vgl. Bormann 1986; Copeland 1991, 38). Daneben wurde auch über die Möglichkeit spekuliert, ob die Überlieferung des Wortes im römischen Privatrecht möglicherweise ebenfalls bedeutsam war für die Namensgebung der in der Neuzeit formierten Wissenschaftsdisziplin (vgl. Jaeger 1974). Peri hermeneias 1, 16a (Aristoteles 1994, 3).

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nicht; dass es im Titel der Schrift vorkommt, wurde so aber immerhin plausibel. Die für Semiotik, Semantik und, wie hier gezeigt werden soll, auch für die Hermeneutik bedeutsame Theorie der Sprache indessen, die die wenigen Sätze enthalten, deren äußerst knapper Stil charakteristisch ist für Peri hermeneias, lässt sich wie folgt rekonstruieren: 1. Sprache (logos, legein) ist Ausdruck, Äußerung von Psychischem, insofern Worte und Sätze Zeichen (symbola) für Psychisches sind. Insofern ist Peri hermeneias „Geburt der Semiotik“: Erstmals werden hier sprachliche Äußerungen als Zeichen aufgefasst – und nicht mehr wie zuvor, etwa bei Platon, als Namen für Dinge.14 Dass sie Zeichen für Psychisches sein sollen, macht zugleich die „Geburt“ der Semantik aus: Peri hermeneias erweitert die zuvor auf Ding und Name beschränkte Theorie der Sprache um die Dimension der Bedeutung, die als das Psychische bestimmt wird, das die Sprachzeichen bezeichnen. 2. Die Bedeutung ist nun nicht mehr gleichzusetzen mit den Sachen oder Sachverhalten (pragmata), von denen gesprochen wird, sondern etwas Psychisches, das sich auf diese Sachen oder Sachverhalte bezieht. Es besteht in dem, was der Seele im Hinblick auf diese Sachen oder Sachverhalte widerfährt, in pathemata der Seele. Die aristotelische Schrift De anima legt nahe, dass diese Rede von Widerfahrnissen der Seele nicht bloß im Sinn passiv empfangener Sinneseindrücke zu verstehen ist, sondern durchaus auch das einschließt, was der Seele durch eigene Aktivität, also erinnernd, vorstellend und denkend widerfährt.15 Dementsprechend sind die pragmata, von denen Aristoteles spricht, nicht einfach nur Gegenstände sinnlicher Wahrnehmung, sondern auch solche des Erinnerns, Vorstellens und Denkens. Deshalb ist die Rede von pathemata der Seele auch weniger mit der modernen Konnotation von Pathos und Gefühl zu lesen als in der Allgemeinheit der Kategorie des Erleidens der Kategorienschrift.16 3. Schriftzeichen (grammata) bilden eine zweite Ebene des Zeichensystems Sprache. Sie sind Zeichen (semeia) für Zeichen, nämlich für die selbst zeichenhafte Lautsprache. In gewisser Weise jedoch besteht bereits diese selbst aus Zeichen zweiter Ordnung, insofern es sich bei den pathemata der Seele, die sie zum Ausdruck bringt, um Abbilder (homoiomata) der pragmata handelt, wie Aristoteles sagt. Die 14 15

16

Aristoteles unterscheidet im Folgenden nicht terminologisch zwischen symbola und semeia (vgl. Arens 1984, 27). Vgl. De anima I, 1, 403a–403b. Die genannten Tätigkeiten der Seele zählt Aristoteles in der Zweiten Analytik neben der sinnlichen Wahrnehmung als weitere Teile des Erkenntnisprozesses auf (vgl. Zweite Analytik II, 19, 99b–100b). Vgl. Kategorien 4, 1b–2a; 9, 11b.

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Metaphorik des Bildes markiert allerdings den Unterschied zwischen dem Bereich sprachlicher Zeichen, deren Bedeutsamkeit, wie Aristoteles später ausführen wird, auf Konvention beruht, und dem einer nichtsprachlichen Ebene der Angleichung der Seele an die pragmata, über die ebenfalls De anima nähere Auskunft gibt und deren Bedeutsamkeit quasi-natürlich in ihrer Ähnlichkeit mit den pragmata liegt.17 4. Auf der Ebene des Ausdrucks, der gesprochenen Sprache und der Schrift gibt es, so Aristoteles, Unterschiede zwischen den Menschen. Diese Feststellung bezieht sich offenbar ebenfalls auf die später gemachte Feststellung, dass es verschiedene konventionelle Festlegungen der Bedeutung von Sprachzeichen gibt, also verschiedene Festlegungen der semantischen Beziehung zwischen sprachlichen Zeichen und seelischen Widerfahrnissen.18 Kurz: Es gibt, was die Ebene des Ausdrucks betrifft, nicht nur eine, sondern verschiedene Sprachen. 5. Die seelischen pathemata sollen dagegen, so Aristoteles weiter, für alle Menschen dieselben sein. Damit wird sicherlich nicht die wenig plausible Behauptung aufgestellt, dass alle, und womöglich immer, dasselbe wahrnehmen, erinnern, vorstellen oder denken. Man muss Aristoteles also keine so große erkenntnistheoretische Naivität unterstellen, dass er glaubt, alle nähmen dieselbe Sache auf dieselbe Weise wahr oder dächten über dieselben Sachverhalte dasselbe.19 Eine schwächere Behauptung ist gemeint: Sie geht offenbar zurück auf die oben erwähnte Charakterisierung der pathemata als Bilder oder Ähnlichkeiten (homoiomata) der pragmata. Sie sind insofern für alle Menschen dieselben, als sie für alle jeweils dasselbe Bild darstellen: Das heißt ihre Identität liegt in der Selbigkeit einer Funktion, darin, dass dasselbe Widerfahrnis der Seele einen Sachverhalt nicht für den einen so, für den anderen so abbildet. Dessen ungeachtet können Menschen natürlich immer noch über denselben Sachverhalt Verschiedenes denken oder eine Sache verschieden wahrnehmen, so dass ihren Seelen dann Verschiedenes widerfährt. Durch dieselben Widerfahrnisse der Seele, so Aristoteles, werden Sachen oder Sachverhalte aber für alle Menschen auf dieselbe Weise abgebildet. Denn die Abbildbeziehung zwischen pathemata und pragmata ist eben nicht durch Konvention festgelegt wie die semantische Beziehung von sprachlichen und seelischen Zeichen. Sie ist für Aristoteles für alle Menschen gleich, wohl durch die Naturausstattung mit Seelen, die auf dieselbe Weise tätig sind und leiden. Die voneinander 17 18 19

Vgl. De anima II, 6, 418a. Vgl. Peri hermeneias 2, 16a. Vgl. etwa Ackrill 1963, 113. Vgl. zu dieser Diskussion Weidemann in Aristoteles 1994, 146–148.

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verschiedenen Sprachen der Menschen verleihen demnach, wenn man so will, einer natürlichen und so für alle Menschen identischen „Sprache“ seelischer Bilder Ausdruck. 6. Dass schließlich, wie Aristoteles fortfährt, auch die pragmata für alle Menschen dieselben sein sollen, heißt wohl ebenfalls nur, dass alle in einer Welt derselben Sachen und Sachverhalte leben. Natürlich können verschiedene Menschen von dieser Welt dennoch verschiedene Wahrnehmungen, Erinnerungen, Vorstellungen und Gedanken und damit verschiedene seelische Widerfahrnisse haben, aber angesichts der Identität einer Welt für alle besteht daneben immerhin auch die Möglichkeit einer Übereinstimmung jener seelischen Widerfahrnisse. Für Aristoteles hat diese in aller Kürze vorgetragene Sprachtheorie die Bedeutung, die Behandlung seines eigentlichen Gegenstands zu fundieren. Am Beginn des Textes über den apophantischen logos legt er fest, was Sprache, was der logos überhaupt ist – auch im Falle des Bittens etwa, das Aristoteles als Beispiel für einen nicht apophantischen logos anführt.20 Innerhalb dieser Festlegung ist insbesondere die Annahme der Identität von pathemata und pragmata für alle Menschen unverzichtbar im Hinblick auf die dem gesamten Text zugrunde liegende Auffassung von Wahrheit als Übereinstimmung von Sätzen mit Sachverhalten: Läge in den seelischen Widerfahrnissen, die Sätze ausdrücken, nicht für alle natürlicherweise dasselbe Bild von den pragmata, könnte die Übereinstimmung von Sätzen mit Sachverhalten nicht allgemein, sondern nur noch jeweils für einzelne Sprecher festgelegt werden. Dasselbe Problem bestünde, wenn nicht alle Sprecher in einer Welt derselben pragmata lebten. Die Allgemeinheit der Philosophie des logos apophantikos zerfiele noch vor ihrem Anfang in eine Vielzahl individueller Gegenstände.21 Die Bedeutung der Sprachtheorie des ersten Kapitels von Peri hermeneias für die Geschichte philosophischer Hermeneutik hat damit jedoch nichts zu tun. Sie hängt vielmehr zusammen mit der angesprochenen Bedeutung der kurzen Passage für Semiotik und Semantik, befindet sich gewissermaßen auf deren Rückseite. Sie resultiert aus der naheliegenden Möglichkeit, die aristotelische Theorie des logos als einem Bezeichnen psychischer Bedeutungen einer Inversion zu unterziehen, durch die sich ein elementarer Baustein für eine hermeneutische Theorie ergibt, nämlich eine einfache Klärung der Frage, was Verstehen überhaupt ist. Verstehen, so lautet das Ergebnis dieser Inversion, findet dann statt, wenn der verstehenden Seele dasselbe widerfährt, was der 20 21

Vgl. Peri hermeneias 4, 17. Vgl. Scholz 1998, der die Bedeutung der Stelle ähnlich einschätzt.

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Seele des Sprechers widerfuhr. Was bei der Seele des einen hinsichtlich der pragmata geschah, sollen beim anderen die Sprachzeichen wiederholen. Kürzer: Verstehen ist sympatheia, die durch Sprache bewirkt wird, ist die Übereinstimmung in jenem seelischen Erleiden, das mit Peri hermeneias zum ersten Mal allgemein als die Bedeutung sprachlicher Zeichen definiert wird. Aristoteles deutet die Möglichkeit einer solchen Inversion nur ein einziges Mal an, im dritten Kapitel von Peri hermeneias, im Zusammenhang der Behandlung der Aussageworte: „[J]emand, der (ein solches Wort) ausspricht, bringt sein Denken (bei der mit ihm gemeinten Sache) zum Stehen, und jemand, der (es) hört, kommt (in seinem Denken bei dieser Sache) zum Stillstand.“22

Hinzu kam die breite Rezeption eines der meistkommentierten Texte der Geschichte der Philosophie.23 Die Bedeutung, die das klassische Paradigma philosophischer Hermeneutik erlangte, ist von dieser Rezeption nicht zu trennen. Darauf wird in den späteren Kapiteln einzugehen sein. Man würde den aristotelischen Text allerdings überschätzen, wenn man die historische Bedeutung dieser Konzeption des Verstehens an der prominenten Rezeptionsgeschichte von Peri hermeneias allein festmachte. Ganz im Gegensatz dazu war die Auffassung von Verstehen als sympatheia eher ein Gemeinplatz antiker Philosophie – vor wie nach Aristoteles. Die Zahl der Autoren und Schulen, von bzw. in denen sie in jeweils charakteristischer Abweichung von den aristotelischen Festlegungen doch in prinzipieller Konvergenz formuliert wurde, ist entsprechend groß. Die Unterschiede in der Art und Weise dieser Formulierungen führen, wie im Folgenden gezeigt werden soll, auf einige Gesichtspunkte, die sich allein aus den knappen Festlegungen in Peri hermeneias nicht ergeben. Durch sie wird außerdem die Annahme völliger Abstinenz der philosophischen Antike von hermeneutisch bedeutsamen Reflexionen weiter widerlegt.

2. Platon (Kratylos, Ion), Demokrit: Unmöglichkeit des guten hermeneus vs. sympatheia aus gemeinsamem Wissen der Bedeutung Bereits Platon formulierte im einzigen bekannten Text, der ausschließlich sprachphilosophische Fragen behandelt, dem Dialog Kratylos, das Paradigma verstehender sympatheia, jedoch ebenfalls eher en passant. Charakteristisch für die platonische 22 23

Peri hermeneias 3, 16b (Aristoteles 1994, 5). Vgl. Arens 1984; s. u. Kap. II.2.

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Formulierung ist, dass Verstehen nicht einfach nur Gleichheit irgendeines seelischen Widerfahrnisses sein soll, sondern spezieller Wissen (episteme) dessen, was der andere denkt, seiner dianoia: „Oder meinst du […] etwas anderes, als dass ich, wenn ich dieses Wort ausspreche, jenes denke, und dass du erkennst, dass ich jenes denke.“24 Ebenso verhält es sich im Frühdialog Ion, Platons umfangreichster Auseinandersetzung mit hermeneutischen Fragestellungen. Ein Rhapsode wie Ion, so lässt sich die Argumentation des Sokrates zusammenfassen, ist dann ein guter hermeneus, wenn er, eben so wie im Kratylos formuliert, die dianoia seines Dichters erkennt, um sie seinen Zuhörern nebst einem Urteil über ihre Richtigkeit mitzuteilen.25 Wenn er aber, wie der enthusiastische Ion, durch den Text bloß emotional und vorstellungsmäßig affiziert wird und diese Affektion in einer Kette des Enthusiasmus an seine Zuhörer überträgt, verfehlt er jene Erkenntnis und Beurteilung von Denkgehalten, in der für Platon das Verstehen von logoi besteht.26 Im Ion belässt es Platon im Übrigen nicht wie im Kratylos bei der knappen Behauptung der Möglichkeit von Verstehen aufgrund von sympatheia. Er problematisiert seine Auffassung verstehender sympatheia auf eine Weise, die nahelegt, dass es jene unmöglich geben kann: Scheint doch die Erkenntnis der dianoia eines Autors, aber auch deren Beurteilung, das logon didonai, die vom guten hermeneus zu leisten sind, bei diesem ein mindestens ebenso großes Wissen um die Sache vorauszusetzen, die Inhalt dieser dianoia ist, wie beim Autor selbst. Der gute Hermeneut müsste also am besten zunächst einmal Wissen von allem haben, um sich nicht wie Ion von Sokrates vorwerfen lassen zu müssen, jeder in der jeweiligen Sache Kundige sei ein besserer Interpret als er selbst, der aufgrund seines Unwissens in der Sache weder zu erkennen noch zu beurteilen vermöge, was die dianoia des Dichters war: „Also wer irgendeine Kunst nicht besitzt, der wird auch, was vermöge dieser Kunst geredet oder getan wird, nicht richtig zu beurteilen vermögen.“27 Diese aporetische Engführung der Konzeption verstehender sympatheia läuft auf die Frage hinaus, wie Ion verstehen kann, was sein Dichter sagte, also wissen, welches Wissen dieser zum Ausdruck brachte, und es beurteilen, wenn er selbst solches Wissen nicht bereits besitzt. Im Ion wird diese Aporie nicht aufgelöst, sondern ist Mittel der Diskriminierung 24 25 26 27

Kratylos 434e1–435a4. Alle Zitate nach Platon 2001, hier: Bd. 3, 557. Vgl. Ion 530b–c (Platon 2001, Bd. 1, 3–5). Vgl. Ion 534e–535e (ebd., 17–21). Ion 538a (ebd., 27). Vgl. insgesamt Ion 537d–542b (ebd., 25–39) und zu weiteren Gesichtspunkten dieser „praktischen Unmöglichkeit“ der platonischen Variante des klassischen Paradigmas philosophischer Hermeneutik eine der wenigen Arbeiten, die sich überhaupt mit dem Beitrag antiker Philosophie zur Hermeneutik auseinandersetzen: Westermann 2002.

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der rhapsodischen Kunst als Kunst der Täuschung. Im Kratylos dagegen stellt sich das entsprechende Problem erst gar nicht. Denn dort teilen die Gesprächspartner eine Voraussetzung, über deren Begründung sie zwar im Streit liegen, von der aus jedoch die Verstehensskepsis des Ion nicht akzeptiert werden muss, wie es der im philosophischen Gespräch zu ungeübte Ion tut: Alle Beteiligten im Kratylos fassen die Worte als Namen, als onomata auf, und als solche, so ist man sich einig, sind sie mit einem Wissen um die Sachen verbunden. Ob von Natur aus (physei) oder aufgrund menschlicher Setzung (thesei), ob in Form von Ähnlichkeit mit dem Wesen (ousia) der Sachen oder bloß aufgrund von Konvention, nur darüber wird gestritten.28 Unberührt von der Entscheidung dieses Streits und von den Gesprächspartnern des Dialogs, unbestritten bleibt die Möglichkeit der platonischen Variante verstehender sympatheia, die übereinstimmend als Zweck des Gebrauchs der onomata in der Rede bestimmt wird: Mittels eines Worts als Werkzeug (organon) lehren wir einander etwas.29 Seien die onomata nun natürlich (physei) oder durch Konvention (thesei) zustande gekommen, im einen wie im anderen Fall wird man aufgrund des aus den onomata zusammengesetzten logos seines Gegenübers auch dessen dianoia erkennen können. Denn es handelt sich genau genommen dabei nicht nur um dessen, sondern um ein in der Sprache vorhandenes Wissen, das „die unähnlichen Buchstaben nicht weniger als die ähnlichen kundmachen, sobald sie Gewohnheit und Verabredung für sich haben“30. Die Frage, ob dabei Sinn oder Unsinn verstanden wird, hängt zwar noch von der übergeordneten und im Dialog selbst nicht entschiedenen Fragestellung ab, ob die Sprachzeichen „richtig“ sind, ob mit ihnen also ein richtiges Wissen um die Sachen verbunden ist31 – etwas verstanden wird jedenfalls. Die Problematisierung im Ion macht auf eine wichtige Grenze aufmerksam, deren Überschreitung die Konzeption verstehender sympatheia ad absurdum führt. Aus einer plausiblen Minimalkonzeption des Verstehens wird eine Infragestellung jeglicher hermeneutischer Bemühung, wenn das Psychische bzw., mit Platon, das Wissen, das gemäß ihren Voraussetzungen innerhalb sprachlicher Äußerungen zum Ausdruck gebracht wird, nicht schon zuvor in der Sprache, die die verstehende sympatheia bewirken soll, auf irgendeine Weise bestimmten Zeichen entspricht, so dass die semantische Relation erst durch den individuellen Akt der Äußerung entsteht. Positiv formuliert heißt das, dass bei Voraussetzung des klassischen Paradigmas Sprache nur innerhalb von Sprachgemeinschaften Verständigungsmittel sein kann. Deren wie auch 28 29 30 31

Vgl. Kratylos 383a–b (Platon 2001, Bd. 3, 396–399). Vgl. Kratylos 388b (ebd., 412f.). Kratylos 435a (ebd., 557). Vgl. zum Kratylos Borsche 1991.

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immer begründete Gemeinschaftlichkeit besteht aber gerade in dem allen Sprechern – natürlicher- oder konventionellerweise – gemeinsamen Wissen um die Semantik, also darin, dass die semantischen Relationen nicht erst im individuellen Akt der Äußerung ent-, sondern schon vor diesem bestehen – in einem gemeinsamen Wissen der Bedeutung der Sprachzeichen, oder der Namen, wie Platon sagt. Ion muss also demnach „nur“ die Sprache Homers beherrschen, und nicht bereits wissen, was Homer wusste, um diesen per sympatheia zu verstehen. Allerdings kann er dann noch kein Urteil über die Wahrheit des Verstandenen fällen, wie Platon es zusätzlich vom guten Hermeneuten fordert. Um zu diesem logon didonai in der Lage zu sein, müsste der gute Hermeneut denn tatsächlich über ein größeres Wissen verfügen, als es der Sprachgemeinschaft als Wissen um die Bedeutung gemeinsam ist. Platonisch gesprochen: Verstehende sympatheia ist möglich, aber sie muss im Bereich der Meinung (doxa) verbeiben, wenn zum Wissen um die Bedeutung der Worte nicht noch ein Wissen um die Dinge hinzukommt, die durch diese benannt werden. Der Vorsokratiker Demokrit von Abdera (um 460–um 370 v. Chr.) hat noch vor Platon und Aristoteles auf seine Weise die Konzeption verstehender sympatheia formuliert, das gemeinsame Wissen um die Bedeutung als deren Voraussetzung deutlich gemacht und die Entstehung eines solchen Wissens mit der Entstehung von Gesellschaftlichkeit überhaupt gleichgesetzt: „Und als sie [= die ersten noch vereinzelt lebenden Menschen], von wilden Tieren bedroht, einander zu Hilfe kamen, wurden sie durch den [gemeinsamen] Vorteil belehrt, und [einmal] aufgrund von Furcht zusammengekommen, lernten sie allmählich gegenseitig ihre Art kennen. Da aber ihre Laute undeutlich und verworren waren, verbesserten sie alsbald ihre Artikulation, setzten untereinander Zeichen (symbola) fest für jedes Ding und schufen [damit] ein ihnen allen vertrautes Verständigungsmittel (hermeneia). Weil derartige Vereinigungen auf der gesamten bewohnten Erde stattfanden, hatten nicht alle eine gleichlautende (homophonon) Sprache (dialektos), da die einzelnen [Menschengruppen] ihre sprachlichen Ausdrücke (lexeis) festsetzten, wie es sich gerade traf.“32

Nicht nur die mythische Gleichsetzung von Gesellschaftlichkeit mit einer Übereinkunft zur sprachlichen Verständigung, die sich ähnlich auch bei Aristoteles findet,33 interessiert daran, sondern die Annahme einer damit einhergehenden Sprachgemein32 33

Fr. 68 B 5 (Diels/Kranz 1964, Bd. 2, 135f.); dt. Übers. nach Matthias Gatzemeier in Gatzemeier 1992, 12. Vgl. Politik I, 2, 1253a.

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schaft. Diese entkräftet die Vorhaltungen, die Sokrates dem Ion hinsichtlich seines Unvermögens zu verstehen macht, wirkungsvoll – mit der genannten Einschränkung, dass das damit wiedergewonnene Verstehen zunächst einmal für Platon nur doxa sein kann: Wissen, gewonnen aus dem unüberprüften Wissen um die Bedeutung.

3. Sophistik und Skepsis: Klassische Infragestellungen des klassischen Paradigmas Eine Sprachgemeinschaft wie die des Vorsokratikers Demokrit war damit auch immun gegen das skeptische Argument, mit dem noch früher der Sophist Gorgias von Leontinoi (um 480–um 380 v. Chr.) die dritte seiner drei berühmten Thesen begründet haben soll, welche sich im gegebenen Zusammenhang als radikale Infragestellung der Möglichkeit verstehender sympatheia darstellt. Dafür, dass nichts von dem, was entgegen der zweiten These Gorgias’ möglicherweise doch erkannt wird, mitgeteilt werden kann, soll dieser unter anderem das Argument angeführt haben, dass die Mitteilung weder aus den Dingen selbst noch aus den Erkenntnissen von diesen bestehen könne, sondern aus logoi, die verschieden sind von diesen: „Wenn die Dinge aber auch erkennbar wären, wie könnte sie einer […] einem anderen verdeutlichen? Denn was man sah, wie sollte man dies durch Rede aussprechen? Bzw. wie könnte jenes dem Hörer deutlich werden, wo er’s nicht sieht? Wie nämlich auch das Sehen nicht Laute erkennt, so auch hört das Gehör keine Farben[,] sondern Laute. Und es spricht, wer spricht – aber nicht eine Farbe und auch kein Ding.“34

Sprachgemeinschaften, denen ein Wissen um die Bedeutung gemeinsam ist, könnten dagegen ebenso leicht wie die Gesprächspartner des platonischen Kratylos einwenden, dass in der gemeinsamen Sprache ein Mittel besteht, mittels dessen man gerade von den logoi zurück zu der ihnen – natürlicher- oder konventionellerweise – entsprechenden Bedeutung und so zurück zu den Dingen gelangt. Allerdings hat Gorgias, will man der Überlieferung glauben, seine These mit einem weiteren Argument gegen diesen Einwand abgesichert, indem er im Hinblick auf die grundsätzliche Verschiedenheit der Sprecher die Möglichkeit einer Sprachgemeinschaft, der das Wissen um die Bedeutung gemeinsam sein könnte, in Zweifel zog. Wie sollte, so lautet dieses Argument, aus dem logos verstanden werden können, was es für denjenigen, der versteht, gar nicht gibt und geben kann, nämlich etwa eine Wahrnehmung, die aufgrund 34

Pseudo-Aristoteles, De Melisso Xenophane Gorgia, 980a19–b3 (Buchheim 1989, 51 [Nr. 21] [Hervorhebungen ebd.]). Vgl. auch Sextus Empiricus, Adversus mathematicos 7, 84 (ebd., 63 [Nr. 84]).

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der Individualität des Sprechers nur diesem allein zukommt: „Auf diese Weise also könnte, wenn etwas erkennbar ist, keiner es einem andern verdeutlichen, sowohl weil die Dinge keine Reden sind, als auch weil keiner mit einem andern dasselbe auffasst.“35 Die auf die gemeinsame Sprache gegründete Verständigungsgemeinschaft erscheint so allenfalls als konventionelle Übereinkunft zur Täuschung über die eigene Verschiedenheit. Unter so Verschiedenen, wie Gorgias sie denkt, kann es verstehende sympatheia nicht geben. Hier zeigt sich, dass die beiden aristotelischen Identitätssetzungen hinsichtlich der pragmata und der Widerfahrnisse der Seele nicht nur fundierend sind für die Untersuchung in Peri hermeneias, sondern auch für die Konzeption verstehender sympatheia insgesamt. Von den späteren skeptischen Schulen, der pyrrhonischen und der akademischen, ist nicht bekannt, dass sie diese verstehensskeptischen Argumente des Gorgias, die sie mitüberliefert haben, um andere ergänzt hätten. Sextus Empiricus (2./3. Jh.) hat allerdings ein Argument eingeführt, das zwar nicht die verstehende sympatheia als solche infrage stellt, jedoch kritisch darauf aufmerksam macht, dass die sich verstehende Sprachgemeinschaft eigentlich immer nur versteht, was ihr als gemeinschaftliches Wissen der Bedeutung schon bekannt ist. Was oben als Argument dafür angeführt wurde, dass Ion den Homer verstehen kann, wird durch das Argument von Sextus dahin gehend einer Revision unterzogen, dass Ion dann von Homer immer nur das erfahren kann, was er schon weiß. Die sich verstehende Sprachgemeinschaft lernt verstehend nichts hinzu: „Nun aber wird etwas auch nicht durch Rede gelehrt. Denn diese bedeutet entweder etwas, oder sie bedeutet nichts. Aber, wenn sie nichts bedeutet, so wird sie auch nicht jemand zu belehren fähig sein. Wenn sie aber etwas bedeutet, so bedeutet sie etwas entweder von Natur oder durch Setzung. Und von Natur nun bedeutet sie (etwas) nicht, weil nicht alle alle beim Hören verstehen, wie z. B. die Hellenen die Fremdländischen und die Fremdländischen die Hellenen. Wenn sie aber durch Setzung (etwas) bedeutet, so ist offenbar, dass zwar diejenigen, welche vorher die (Dinge) aufgefasst haben, für welche die Wörter angeordnet sind, diese (Dinge) erfassen werden, nicht als ob sie von ihnen (den Wörtern) gelehrt würden, was sie doch nicht wussten, sondern, indem sie sich wieder erinnern und wieder in sich erneuern das, was sie doch wussten; dass aber diejenigen, welche des Lernens der unbekannten (Dinge) bedürfen, wenn sie auch (die Dinge), für welche die Wörter angeordnet sind, nicht wissen, von nichts eine Erfassung haben werden.“36 35 36

Pseudo-Aristoteles, De Melisso Xenophane Gorgia, 980b17–19 (ebd., 53 [Nr. 26]). Sextus Empiricus, Pyrrhoneïsche Grundzüge III, 30 (Pappenheim 1877, 235f. [Nr. 267–268]).

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Obwohl dieses Argument die verstehende sympatheia nicht grundsätzlich in Zweifel zieht, stellt es doch einen schweren Angriff gegen die entsprechende Konzeption dar. Sextus zeigt, dass eine Konsequenz dieser Konzeption ist, dass man, wenn man per sympatheia versteht, eine immer schon bekannte, durch die Grenzen der Sprache längst bestimmte Welt versteht. Er hinterließ die Frage, ob sich Lernen durch sympatheia, die über Sprache vermittelt wird, überhaupt erklären lässt, und schränkte so, indem er zeigte, dass sie für ein wichtiges Phänomen keine Erklärung bot, die Plausibilität der Konzeption verstehender sympatheia erheblich ein. Dieser Angriff auf eine dogmatische Theorie lag wohl auch eher in Sextus’ Absicht, als die pragmatische Möglichkeit des Lernens durch Sprache in Zweifel zu ziehen. Entsprechend begnügte sich die Skepsis ansonsten offenbar damit, Verstehen einfach als praktisch gegeben vorauszusetzen. Es zählte zu denjenigen Dingen, für oder gegen die es eine Theorie nicht brauchte – wohl nicht zuletzt auch deshalb, weil die Skeptiker sich sonst dem Einwand ausgesetzt hätten, der gegen keine Form von Verstehensskepsis ausbleiben kann: dass doch auch sie verstanden werden will.37 Auch Gorgias selbst hat seine skeptischen Argumente gegen die verstehende sympatheia sonst keineswegs immer vertreten. Er setzte die entsprechende Konzeption vielmehr, wie auch die eingangs zitierte Passage zeigt, in der Regel unhinterfragt voraus, bezeichnete den logos als Bekehrer38 der Seele und verglich seine Wirkungen im Hinblick auf die Psyche der von Drogen auf den Organismus: „Im selben Verhältnis steht die Wirkkraft der Rede zur Ordnung der Seele wie das Arrangement von Drogen zur körperlichen Konstitution: Denn wie andere Drogen andere Säfte aus dem Körper austreiben, und die einen Krankheit, die anderen aber das Leben beenden, so auch erregen unter den Reden die einen Leid, die andern Genuss, und dritte Furcht, und wieder andere versetzen die Hörer in zuversichtliche Stimmung, und noch andere berauschen und bezaubern die Seele mit einer üblen Bekehrung.“39

Keinen Zweifel ließ Gorgias auch darüber bestehen, dass dem logos neben den genannten auch entsprechende Opiate hinsichtlich des „Glaubens der Ansicht (doxa)“ zur Verfügung stehen, wie er vor Gericht oder in der Philosophie eine Rolle spielt.40 Allerdings ist das Verstehen, das die Redner des Gorgias auslösen, insofern nicht ebenso reine sympatheia wie die aristotelische, als ihre listigen Seelen auch von etwas ganz 37 38 39 40

Vgl. dazu Cauchy 1986; Caujoll-Zaslawsky 1986. Gorgias von Leontinoi, Lobpreis der Helena (Buchheim 1989, 11 [Nr. 12]). Ebd. (ebd., 11–13 [Nr. 14]). Ebd. (ebd., 11 [Nr. 13]).

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anderem bewegt sein können, als sie es mit den Drogen des logos bei ihren Zuhörern oder Lesern auszulösen vermögen. Dass wir reden, wenn wir reden, und nicht direkt Seelisches in Seelen transportieren, bleibt so eine Quelle skeptischen Vorbehalts gegen die verstehende sympatheia – nur ist dieser Vorbehalt keiner mehr, der die Möglichkeit des Verstehens prinzipiell anzweifelt.

4. Epikureer und Stoiker: Das Problem der Geschichte und die Fixierung von Innen und Außen des Verstehens Was Stoiker und Epikureer betrifft, würde man bei der Stoa, die überhaupt als Wiege abendländischer Sprachtheorie und Sprachphilosophie gilt, die größere Kompetenz hinsichtlich hermeneutischer Überlegungen erwarten. Sie transformiert den bisher abgesteckten Rahmen des klassischen Paradigmas, wie sich zeigen wird, denn auch in gewisser Weise. Die eher marginale Auseinandersetzung mit Fragen der Sprachphilosophie innerhalb der Schule Epikurs (342/41–271/70 v. Chr.) führt indessen ebenfalls auf einen interessanten neuen Gesichtspunkt. Sie bringt das Ideal einer sich per sympatheia verstehenden Sprachgemeinschaft erneut ins Wanken, indem sie es mit der Möglichkeit geschichtlich bedingter Heterogenität dieser Gemeinschaft konfrontiert. Der Brief an Herodot gilt als „wichtigstes Zeugnis für Epikurs Sprachtheorie“41 und beschreibt zunächst nicht anders, als Demokrit es getan hat, die Entstehung der sich nach dem aristotelischen Modell per sympatheia verstehenden Sprachgemeinschaft. Die Gemeinschaftlichkeit des Wissens der Bedeutung sowie die aus ihr resultierende Möglichkeit verstehender sympatheia werden bei Epikur durch eine Mischung von natürlicher und konventioneller Begründung der Sprachen garantiert: „Ferner muss man annehmen, dass auch unsere Natur in vieler und vielfältiger Hinsicht von den Sachen selbst belehrt und genötigt worden ist und dass das Denken das von ihr Dargebotene später präzisiert und erweitert hat […]. Daher sind auch die Namen ursprünglich nicht durch Satzung entstanden, sondern die Natur der Menschen, die bei jedem Volk eigentümliche Affekte erleidet und eigentümliche Vorstellungen empfängt, stößt selbst auf eigentümliche Weise die Luft hervor, die von den jeweiligen Affekten und Vorstellungen in Bewegung gesetzt wird, so wie eben die regionale Verschiedenheit der Völker ist. Später wurden die Eigentümlichkeiten in den einzelnen Völkern gemeinschaftlich festgesetzt, damit die gegenseitigen Äußerungen weniger zweideutig würden und kürzer im Ausdruck.“42 41 42

Hossenfelder 1991, 218. Epikur, Brief an Herodot (Usener 1966, 26f. [Nr. 75]; dt. Übers.: Hossenfelder 1991, 218f.).

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Mit dem interessanten Problem einer prinzipiellen Unmöglichkeit der Verständigung per sympatheia zwischen Bewohnern verschiedener Erdteile, die sich als Implikation aus der angeblich landschaftlich bedingten Verschiedenheit der Seelen ergibt, einer Negation der aristotelischen Identitätssetzung hinsichtlich der seelischen Widerfahrnisse, setzt sich Epikur im Folgenden leider nicht weiter auseinander. Aber er weist auf eine Hürde hin, die die verstehende sympatheia innerhalb der einzelnen Sprachgemeinschaften selbst zu überspringen hat. Denn Epikur bezieht die Geschichtlichkeit solcher Verstehensgemeinschaften in die Betrachtung mit ein. Konkret nennt er die Möglichkeit, dass es durch einen Teil dieser Gemeinschaften zu einer sprachlichen Innovation kommen kann, die den übrigen Sprechern zunächst das gemeinschaftliche Wissen um die Bedeutung vorenthalten muss, die der verstehenden sympatheia zugrunde liegt. Allerdings scheint Epikur diese Barriere nicht unüberwindbar. Er verweist auf ein Mittel, sie zu überspringen, und damit auf das eigentliche Feld der Hermeneutik, auf das noch einzugehen sein wird: auf die Herstellung der verstehenden sympatheia aus techne. Das Mittel, auf das Epikur verweist, wird in der späteren Geschichte philosophischer Hermeneutik, als die Konfrontation mit dem Problem der Geschichtlichkeit zur zentralen Frage der Hermeneutik überhaupt wird, nochmals umfangreiche Würdigung erlangen. Es ist die Fähigkeit, Bedeutung zu raten, wo sie unbekannt ist: „Ferner brachten Fachleute, die bestimmte unbekannte Dinge einführten, Wörter in Umlauf, sofern sie gezwungen waren, sich mitzuteilen, und die anderen fassten sie mit Hilfe des Denkens gemäß der meisten Veranlassung auf und deuteten sie auf diese Weise.“43

Die Antwort auf die naheliegende Frage, worin sich das Raten „gemäß der meisten Veranlassung“, später Divination genannt, vom rein willkürlichen unterscheidet, bleibt im Rahmen dieses frühen Präludierens der historistischen Problematisierung des Verstehens durch sympatheia allerdings leider unbeleuchtet. In der Stoa stellen sich dergleichen Probleme erst gar nicht. Denn die ahistorische stoische Überzeugung von der kosmischen Omnipräsenz eines unveränderlichen logos lässt die Gemeinschaften sympathetischen Verstehens zu gleichewigen werden. Der logos zerfällt für die Stoa, sofern die Menschen, abgesehen von möglicher ethischer Perfektion, dem homologen Leben, im Bereich der Sprache an ihm teilhaben, in ein Innen und ein Außen: Die mit dem logos Ausgestatteten verfügen über eine innere Sprache, den logos endiathetos, und eine, die nach außen dringt, den logos prophorikos. Beide die43

Ebd. (Usener 1966, 27 [Nr. 76]; Hossenfelder 1991, 219).

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nen dazu, die Vorstellung (phantasia), die sie von einer Sache oder einem Sachverhalt haben, zu „präsentieren“44, also als logike phantasia gegenwärtig zu machen, innen für sich, außen für andere. Als logos endiathetos geht diese Vergegenwärtigung im Selbst vor sich, als logos prophorikos wird sie mithilfe der Stimme (phone) nach außen getragen: „Die Rede (logos) aber gleicht in ihrer einen Form einer Quelle und in ihrer anderen Form einem Abfluss; einer Quelle gleicht die Rede im Verstand und die durch Mund und Zunge durchgehende Äußerung einem Abfluss.“45

Durch innere wie äußere Rede wird etwas Drittes bezeichnet, was die Stoiker lekton nennen – wörtlich also das, was gesagt wird. Anders als bei Aristoteles sind damit sprachliche Äußerungen nicht Zeichen für Psychisches und über dieses vermittelt für eine Sache oder einen Sachverhalt. Stattdessen ist der logos für die Stoiker in beiden Formen Bezeichnendes (semainon), wie sie ihn auch in beiden Formen gleichermaßen als Körper (soma) auffassen, als Erschütterung der Luft außen, als physische Modifikation des obersten seelischen Organs (hegemonikon) innen. Bezeichnetes (semeinomenon) sind stattdessen eben die lekta, die verschieden sind von der körperlichen Welt der Dinge, überhaupt als unkörperlich vorgestellt werden und wohl als Ausschnitte aus der vom logos bestimmten Struktur der Welt aufzufassen sind, die durch die mit dem logos ausgestatteten Menschen erfasst werden. Auch für die Stoa ist Verstehen demnach Wirkung der äußeren Rede, ist sympatheia, insofern beim Verstehenden durch den logos prophorikos, eben als logos endiathetos, derselbe Ausblick auf die vom logos durchwirkte Welt eröffnet wird, den der andere hatte: das lekton als das Bezeichnete der Rede. Dass der logos prophorikos solcherlei Sympathie zu bewirken vermag, war wohl sogar der Grund dafür, dass die Stoa ihn als körperlich betrachtete: „Auch ist nach den Stoikern die Stimme ein Körper […]. Denn alles, was tätig wirkt, ist Körper; dies tut aber die Stimme, indem sie von dem, der sie von sich gibt, sich dem Hörenden mitteilt.“46 Die Kraft, derart zu wirken, besitzen die Worte, aus denen der logos prophorikos besteht, nach Überzeugung der Stoiker nicht durch Konvention, sondern von Natur aus – daher auch die Wichtigkeit, die sie etymologischer Forschung beimaßen. Zweierlei ist außerdem an der stoischen Variante der Konzeption verstehender sympatheia beachtenswert: erstens die terminologische Fixierung der schon bei Aristoteles

44 45 46

Hülser 1987, 835 (Fr. 699). Ebd., 585 (Fr. 530); vgl. auch ebd., 585–587 (Fr. 529A u. 531). Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen (3. Jh.) VII, 55–56 (Reich 1990, Bd. 2, 34 = Hülser 1987, 523 [Fr. 476]).

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zugrunde liegenden Aufteilung der Elemente des Verstehensprozesses auf die Raumvorstellung von Innen und Außen, und zweitens die Versprachlichung des Inneren, die mit der Rede vom inneren logos einhergeht und noch schärfer als bei Aristoteles, der nur von seelischen Widerfahrnissen und homoiomata der pragmata sprach, den äußeren Sprachen eine innere, grundlegend von diesen verschiedene Sprache des Denkens gegenüberstellt. Am anderen Ende der Geschichte philosophischer Hermeneutik hat, worauf noch zurückzukommen sein wird, Hans-Georg Gadamer davon gesprochen, dass die diese beiden Aspekte umfassende stoische Lehre vom inneren und äußeren Wort in gewisser Hinsicht als gemeinsame Voraussetzung aller Theorien philosophischer Hermeneutik im Abendland gelten könne.47

5. Die Geburt der Hermeneutik aus dem Geist der Rhetorik – Ein Nachtrag Der Blick auf so verschiedene Autoren und Schulen der antiken Philosophie wie Demokrit, Platon, Epikur, Sophistik, Skepsis und Stoa hat bereits gezeigt, dass Aristoteles die Konzeption verstehender sympatheia und die ihr zugrunde liegende Sprachtheorie nicht als Solitär erfunden hat. Davon ist auch aus dem Grund auszugehen, dass der Autor von Peri hermeneias für keine von beiden eine Begründung anführt; er scheint sie zum bereits gesicherten theoretischen Bestand gezählt zu haben. Das wirft die Frage nach der Ursache solcher Plausibilität auf. In diesem Zusammenhang ist nicht ohne Bedeutung, dass sich die Konzeption verstehender sympatheia leicht als philosophische Verallgemeinerung einer Auffassung der Sprache erkennen lässt, die man aufgrund einer gemeinsamen Voraussetzung aller rhetorischen Theoriebildung die rhetorische Auffassung der Sprache nennen könnte: „Gegenstand der Rhetorik ist die Beredsamkeit; darunter wird ein zweckgerichtetes Reden verstanden, das es ermöglicht, auf andere zu wirken. […] Die Rhetorik studiert die Mittel, welche die Erlangung des gesteckten Zieles ermöglichen.“48 Nichts anderes als jene Möglichkeit, durch Sprache zu wirken, von der die Rhetorik bei ihrer Untersuchung spezieller Umstände und Zwecke des Sprechens ausgeht, wird in der antiken Sprachphilosophie über alle speziellen Umstände und Zwecke hinweg generalisiert und als Verstehen aufgefasst. Die rhetorische Voraussetzung dieser Möglichkeit der Wirkung durch Sprache ist vermutlich älter als alle geschriebene Theorie. Bereits in mythischer Zeit findet sie ihre Darstellung.49 Aber erst als Grundannahme, von der eine der kanonischen Lehren des antiken Bildungswesens ausging, konnte ihr 47 48 49

Vgl. Grondin 2012, 10, 11, 166. Vgl. auch Gadamer 1990, 422ff. – S. ferner u. Kap. IV.5. Todorov 1995, 53. Vgl. Homer, Ilias XV, 393; Homer, Odyssee XIV, 361ff.

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Akzeptanz auch im Bereich der Theorie zuwachsen. An der Bildung einer Theorie der Rhetorik hatten jedoch nicht nur als Erste die Sophisten, der oben erwähnte Gorgias unter anderem, sondern hatte auch Aristoteles selbst entscheidenden Anteil. Von ihm über Cicero zu Quintilian läuft als roter Faden innerhalb der klassischen Grundlegung abendländischer Rhetorik genau jene Annahme, die in der Konzeption verstehender sympatheia generalisiert wird: dass Seelen auf Seelen durch Sprache zu wirken vermögen.50 Dass Hermeneutik in der rhetorischen Tradition wurzelt, insofern sie traditionell in der rhetorischen Ausbildung als inverse Rhetorik gelehrt wurde, ist seit Längerem unumstritten: Hermeneutische Praktiken wie die der Allegorese oder der Deutung aus dem historischen bzw. textuellen Kontext verdankten ihre Selbstverständlichkeit der Tatsache, dass sie sich als Inversion des rhetorischen Vorgangs von elocutio und inventio darstellten und so potenziell bereits Allgemeingut antiker Bildung waren.51 Darüber hinaus scheint es so, als ob die Bedeutung der Rhetorik für die Hermeneutik weiter reicht als nur bis zur Hermeneutik antiker Dichterauslegung, nämlich auch die Frühgeschichte philosophischer Theoriebildung zur Hermeneutik umfasst, die für Jahrhunderte einflussreichste Klärung der Frage, was Verstehen überhaupt ist.

6. Der abwesende Autor und der Andere als der Selbe: Grundlegende Implikationen des klassischen Paradigmas Die mit der aristotelisch geprägten „Geburt“ von Semiotik und Semantik zusammenfallende Geburt des klassischen Paradigmas philosophischer Hermeneutik im Abendland gibt dieser ganz offensichtlich einen metaphysischen Rahmen vor. Verstehen ist nun ein Erleiden von Bedeutungen, die außerhalb der Welt der Körper im Bereich psychischer Widerfahrnisse liegen, oder, nach der einflussreichen Fixierung der Stoa: innen statt außen. In gleichem Maße wird im klassischen Paradigma der auctor zur hermeneutischen auctoritas. Er respektive sein Inneres ist es, das verstanden wird. Hermeneutik ist im Rahmen des klassischen Paradigmas also notwendig Intentionshermeneutik, wenn dieser Begriff auch erst in der scholastischen Philosophie entstehen wird. Ihre Orientierung hat Hermeneutik nach der platonischen Formulierung in der patriarchalen Autorität des Autors als „Vater“ des Textes.52 50

51 52

Vgl. etwa nochmals Gorgias von Leontinoi, Lobpreis der Helena (wie eingangs zitiert); Aristoteles, Rhetorik II, 1–11; Cicero, De oratore I, 12, 53, u. II, 44, 186–II, 53, 216; Quintilian, Institutio oratoria V, 10, 17. Vgl. dazu Kap. I.3 des Beitrags „Dichtung“ in diesem Band sowie Eden 1997 und Gadamer 1993a. Vgl. die Schriftkritik Platons im Phaidros, vor allem 275d–e (Platon 2001, Bd. 5, 178–181).

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Beides wäre unproblematisch, wenn die sympatheia den Verstehenden stets einfach in den Schoß fiele, wie es die Rede vom Widerfahrnis suggeriert. Dass das auch anders sein kann, war den Autoren der Antike jedoch durchaus bewusst. Gerade Aristoteles problematisiert in anderen Schriften gelegentlich Fälle, in denen die sympatheia des Verstehens eben nicht einfach erlitten wird, sondern hergestellt werden muss, Produkt einer techne ist. Dabei kommt der Autor von Peri hermeneias zu einer durch die Grundannahmen des klassischen Paradigmas geprägten Systematisierung derjenigen Fälle, in denen das gemeinsame Wissen der Bedeutung nicht ausreicht, damit in Sprachgemeinschaften Verstehen garantiert ist. Es kommt derart zu einem systematisch bedeutenden Umriss der Hermeneutik als techne der Herstellung verstehender sympatheia. Die beiden wichtigsten Ursachen solchen erst herzustellenden Verstehens sieht Aristoteles, wie er in seiner Rhetorik und seiner Poetik ausführt, in der Möglichkeit der Mehrdeutigkeit sprachlicher Zeichen und der des uneigentlichen sprachlichen Ausdrucks, welchen er noch wenig differenzierend generell als metaphorische Rede (metaphora) bezeichnet. In beiden Fällen begreift er die Notwendigkeit, die nicht widerfahrende sympatheia erst herzustellen, so, dass das sprachliche Zeichen dem Verstehenden eine Freiheit der Wahl zwischen verschiedenen Bedeutungen lässt: im einen Fall, weil für dasselbe Zeichen generell per Konvention verschiedene Bedeutungen existieren, im anderen, weil durch den Akt der metaphorischen Rede okkasionell und gegen die Konvention verstoßend eine eigentliche durch eine uneigentliche Bedeutung ersetzt wird, was im Akt des Verstehens rückgängig gemacht werden muss.53 Anders verhält es sich bei einem Grundproblem juristischer Hermeneutik, auf das Aristoteles innerhalb der Nikomachischen Ethik hinweist: die Tatsache, dass notwendigerweise allgemein formulierte Gesetze stets auf einen konkreten Sachverhalt hin anzuwenden sind, so dass die Verstehenden, wie Aristoteles es sieht, in die Verlegenheit kommen, darüber zu spekulieren, was der Autor des Gesetzes wohl im Hinblick auf den jeweiligen Sachverhalt gedacht haben würde, ohne dass er dies gedacht haben kann – also eine Bedeutung erschließen müssen, die sich, wenn überhaupt, auf keinen Fall ohne Vermittlung der Reflexion des Interpreten als das Bezeichnete der Zeichen erkennen lässt.54 Aufgrund der metaphysischen Situierung der zu verstehenden Bedeutung ins Innere von Autoren, die das klassische Paradigma mit sich bringt, muss es nun aber so 53 54

Vgl. dazu etwa Kategorien 1, 1a, und Poetik 25, 1461a33–b9. Vgl. Nikomachische Ethik V, 14, 1137b20–27. Im Hinblick auf diese Stelle hat Gadamer eine hermeneutische Aktualität des Aristoteles festgestellt (vgl. Gadamer 1990, 317–329).

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scheinen, dass nur die Autoren selbst in den genannten Fällen erst herzustellenden Verstehens über das Gelingen desselben entscheiden können. Die Möglichkeit, dass Autoren, aus welchen Gründen auch immer, abwesend sind, wird so notwendig von Anfang an zu einem Grundproblem hermeneutischer Reflexion innerhalb des klassischen Paradigmas. Für Aristoteles ist genau dies Anlass für methodische Ratschläge, die die gelingende sympatheia auch in Abwesenheit des Autors sicherstellen sollen.55 Sie betreffen die erwähnten Fälle von Mehrdeutigkeit und uneigentlicher Rede und empfehlen als Entscheidungshilfe bei der Herstellung der Bedeutung unter anderem eine Konsultation des Kontextes sowie die Rekonstruktion der ursprünglichen Redesituation. Am bekanntesten ist allerdings wohl der im Zusammenhang des juristischen Problems geäußerte Rat, eine Anwesenheit des abwesenden Autors zu fingieren, genauer die Forderung, den von ihm hinterlassenen und notwendig allgemeinen Text auf die konkrete Situation hin „billig“, der epieikeia, nämlich der Erwägung gemäß zu verstehen, was der Gesetzgeber im konkreten Fall gewollt haben würde, „wenn er dabei gewesen wäre“.56 Auf der Ebene der philosophischen Theorie stellt die aristotelische Problematisierung des abwesenden Autors eine unmittelbare Implikation des metaphysischen und an die Autorität des Autors gebundenen Charakters dar, der die klassische Konzeption verstehender sympatheia auszeichnet. Aber Aristoteles’ Überlegungen verweisen auch auf eine politische Dimension, die Hermeneutik als Praxis schon lange vor der aristotelischen Zeit besaß – und bis heute besitzt –, als auf verschiedene Weise motivierte Kunst, „aus einem Text herauszukriegen, was nicht drinsteht“57. Aristoteles’ Systematisierung relevanter Fälle wie Mehrdeutigkeit oder Metapher sowie die wohlmeinenden Ratschläge zur gelingenden Herstellung von sympatheia sind vor diesem Hintergrund auch zu verstehen als Reflexion faktischer Hermeneutik, innerhalb derer die Herstellung der Bedeutung gerade nicht als sympatheia angestrebt wurde oder gar widerfuhr, sondern in einer, warum im Einzelnen auch immer, gerade opportunen Bestimmung der Bedeutung resultierte. Die aristotelische Problematisierung des abwesenden Autors ist so, wie andere antike Regelungsversuche eher philologischer Herkunft ebenfalls, zu deuten als Reaktion auf einen real schon seit vorsokratischer Zeit existieren55 56

57

Vgl. Poetik 25; Eden 1997, 21–26. Vgl. Nikomachische Ethik V, 14, 1137b20–27. Zur weiteren Geschichte der Theorie der hermeneutischen Billigkeitserwägung in der lateinischen rhetorischen Tradition bei Cicero und Quintilian und später bei Erasmus vgl. Eden 1997, 7–19, wo deutlich wird, dass die Theorie der Billigkeit (aequitas) zunehmend verschmilzt bzw. sich rechtfertigt mit der Unterscheidung von littera und sensus eines Textes. Marquard 1981, 117.

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den Kampf um die Bedeutung etwa der homerischen Mythen58 bzw. auf die Erfahrung dessen, was Platon im Phaidros als Wehrlosigkeit des von seinem Autor abgelösten geschriebenen Worts bezeichnet hatte.59 Die Ratschläge, die Aristoteles gibt, um die gelingende sympatheia mit dem abwesenden Autor sicherzustellen, erscheinen dabei allerdings höchst ambivalent. Könnten doch, nach den Grundannahmen des klassischen Paradigmas, die Konsultation des Kontextes, die Rekonstruktion der ursprünglichen Redesituation und die Fiktion des anwesenden Autors auf ihre Richtigkeit wiederum offenbar nur durch einen Rückgang auf den abwesenden Autor selbst überprüft werden – so dass das aus der Charakteristik der klassischen Konzeption des Verstehens resultierende Problem nur auf einer anderen Ebene erneut erscheint. Tatsächlich kann ja der abwesende Autor, den Aristoteles als Kriterium gelingenden Verstehens in Anspruch nimmt, solange er nur in Form seines Textes anwesend ist, problemlos auch von einem weniger wohlmeinenden Interpreten als Nachweis für die Richtigkeit seiner Interpretation in Anspruch genommen werden. Die Konzeption verstehender sympatheia hat neben dieser methodologischen Problematik des abwesenden Autors noch eine weitere wichtige Implikation im Hinblick auf die Weise, wie sie die jeder hermeneutischen Theorie inhärierende Ebene von Identität und Alterität konzipiert. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, was sich bei der Beschäftigung mit Sophistik und Skepsis feststellen ließ: dass die beiden Identitätsfestlegungen, die Aristoteles hinsichtlich der Gemeinsamkeit der Sachen und der seelischen Widerfahrnisse für alle Menschen treffen musste, auch für die Konzeption verstehender sympatheia fundierend sind. Zu diesen aristotelischen Identitätssetzungen hinzu kommt die Voraussetzung des gemeinschaftlichen Wissens der Bedeutung in einer Sprachgemeinschaft, die im Verlauf der Auseinandersetzung mit Platon Gestalt gewann und sich bei dem Vorsokratiker Demokrit bereits fand. Der Vorgang des Verstehens setzt innerhalb des klassischen Paradigmas also an ihm Beteiligte voraus, die in dreifacher Hinsicht identisch sein müssen: hinsichtlich ihrer Seele, ihrer Welt und der ihnen gemeinsamen Sprache. In diesen Hinsichten gibt es unter ihnen keine anderen. Und ohne diese dreifache Identität kann es, wie sich etwa bei Gorgias zeigte, kein Verstehen gemäß dem klassischen Paradigma der Hermeneutik geben.

58 59

Vgl. Gatzemeier 1985. Vgl. Phaidros, 275d–e (Platon 2001, Bd. 5, 178–181). Vgl. dazu auch Westermann 2002, 91–94.

II. Mittelalter

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II. Mittelalter Christianisierter logos und christianisierte sympatheia – Philosophische Hermeneutik innerhalb der christlichen Philosophie des Mittelalters

1. Mittelalterliche Philosophie als rationalisierende Hermeneutik des Christentums und christianisierende Hermeneutik antiker Philosophie Sed quia auctoritas cereum habet nasum, id est in diversum potest flecti sensum.60

Das „philosophische Denken“61 besaß im Mittelalter innerhalb der Wissenschaftswelt keine Ausnahmestellung, insofern es wie diese insgesamt geprägt war von der auctoritas des Geschriebenen als Bezugspunkt jeder Erkenntnisbewegung und von Lektüre und Kommentar der auctoritates als bevorzugten Erkenntnisweisen bzw. Darstellungsformen.62 Erst im 15. Jahrhundert, mit dem Spott des protoempiristischen Idiota des Nikolaus von Kues (1401–1464) über eine Vernunft, die, „an die Autorität der Bücherschreiber“ gebunden, die Wahrheit nicht hört, die „auf Straßen und Plätzen schreit“, begann eine allmähliche Selbstkritik dieses bis dahin kaum hinterfragten Charakters mittelalterlichen Philosophierens.63 Wie wenig diese Kritik zunächst vermochte, mag man daran ermessen, dass noch Montaigne (1533–1592) resignierend feststellte: „[E]s gibt mehr Bücher über Bücher als über irgendeinen anderen Gegenstand sonst. Wir tun nichts anderes, als uns gegenseitig zu glossieren. Alles wimmelt von Kommentaren, an Autoren aber herrscht große Not.“64 Christliches Philosophieren im Mittelalter in engerem Sinn – in weiterem Sinn bezeichnete man bisweilen jede Form von Wissenschaft als philosophia – muss wohl insgesamt als hermeneutische Bemühung verstanden werden. Es konnte – als christliches Philosophieren – von Anfang an nicht auf ein voraussetzungsfreies Denken aus reiner Vernunft zielen, sondern ging seit dem 10. Jahrhundert65 aus dem Kampf für die Legitimität des Versuchs hervor, die christlichen auctoritates im Licht eben derjenigen 60 Alanus ab Insulis, De fide catholica (12. Jh.) I, 30, in: PL 210 (1855), 333(A), zitiert nach Schulthess/ Imbach 1996, 116. Übersetzt lautet der Satz in etwa: „Weshalb aber die Autoritäten eine weiche Nase haben, das ist, weil sich ihr Sinn in verschiedene Richtungen verbiegen lässt.“ Das Wortspiel mit sensum (Richtung/Sinn) lässt sich kaum übersetzen. 61 Flasch 1986, Titel. 62 Vgl. Brinkmann 1980, 154; Minnis 1988, 10–12. 63 Nikolaus von Kues, Idiota de sapientia I, 2–3 (Steiger 1988, 4/5). Vgl. dazu Blumenberg 1981, 58–67. 64 Montaigne 1998, 539. 65 Wichtige Namen sind: Alkuin, Johannes Eriugena, Gottschalk, Berengar von Tours, Lanfrank.

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heidnisch-philosophischen ratio zu verstehen, die innerhalb der artes liberales im Trivium von Grammatik, Rhetorik und Dialektik, in den Texten minderer auctoritates also, für Jahrhunderte aufbewahrt worden war. Dem so einsetzenden Denken ging es zunächst also um nichts anderes als um die Legitimität einer Form hermeneutischer Aneignung, die sich über alle Differenzen hinweg unter die bekannte Formel fassen lässt, in die sie dann im 11. Jahrhundert bei Anselm von Canterbury (1033–1109) mündet, die Rede vom Glauben, der die Vernunft befragt (fides quaerens intellectum), bzw. von der Einsicht in das Geglaubte (ratio fidei).66 Motor der Anfänge christlichen Philosophierens im Mittelalter war insofern die hermeneutische Lösung eines Binnenkonflikts, der letztlich aus der Heterogenität der mittelalterlichen auctoritates resultierte, der biblisch-patristischen und der heidnischantiken Bestandteile des mittelalterlichen Kanons. Als ein solches Projekt praktischer Hermeneutik hat das christliche Philosophieren im Mittelalter durchaus Ähnlichkeit mit der jüdischen oder islamischen Philosophie der Epoche. Auch jene versuchten eine Aneignung der religiös institutionalisierten auctoritates aus antik-philosophischer ratio. Niemals wurde dieses Programm indessen nochmals so radikal formuliert wie im Falle von Anselms strengem Rationalismus, der die Autorität der Schrift und der Glaubenssätze so lange aussetzen wollte, bis er sie rational wieder bewiesen hatte, wobei rational hieß: mit den Mitteln von Grammatik und Dialektik und gerade ohne den Rückgriff auf auctoritates des Glaubens. Die philosophische Aneignung des Christentums blieb jedoch auch in den Kathedralschulen des 12. Jahrhunderts, in einer Fülle von mehr oder weniger eng an Texte der Schrift und Glaubenssätze gebundenen Kommentaren, der Motor der weiteren philosophischen Entwicklung.67 Im Gegenzug setzte, ebenfalls in Form einer Fülle von Kommentaren, eine christianisierende Hermeneutik der heidnischen auctoritates ein, die man durch Kontakt mit der arabischen Textüberlieferung (AristotelesRezeption) bis 1200 immer besser kennenlernte. Selbst noch die frühe „Geschichte der scholastischen Methode“ im engeren Sinn begann exakt im Rahmen dieser hermeneutischen Aneignung christlicher auctoritas durch heidnische ratio und der mit ihr einhergehenden christianisierenden Hermeneutik antiker Philosophie, wie sie etwa Peter Abaelard (1079–1142) vornahm. Und noch in den entwickelteren literarischen Formen der Scholastik an den Universitäten des 13. und 14. Jahrhunderts68 blieb dieser praktisch-hermeneutische Ursprung der scholastischen Philosophie sichtbar. Obwohl 66 67 68

Vgl. Madec 1984. Wichtige Namen sind hier: Wilhelm von Conches, Thierry von Chartres, Peter Abaelard, Gilbert von Poitiers. Wichtige Namen hier: Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Bonaventura.

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sich dann in Form des radikalen Aristotelismus eine sich nicht mehr als rationalisierende Verständigung über das Christentum auffassende, zunehmend von den christlichen auctoritates autonome Philosophie herausbildete, bestimmte diese keineswegs das Feld, sondern ihr standen bis zum Ende des Mittelalters eine Mehrheit von Autoren gegenüber, die weiterhin das Programm einer Rationalisierung des Christentums und einer Christianisierung der heidnischen auctoritates zu verwirklichen suchten, allerdings mit allmählich wachsendem Vertrauen in die übergeordnete Bedeutung des Lichtes der ratio gegenüber der Autorität.69 Im Zusammenhang der dargestellten Entwicklung ist man überrascht, mit welcher Einmütigkeit einschlägige Einführungen in die philosophische Hermeneutik urteilen, eine solche habe es während des christlichen Mittelalters auch nicht ansatzweise gegeben.70 Vermutet man doch, dass der geschilderte hermeneutische Charakter christlichen Philosophierens im Mittelalter mindestens gelegentlich zu philosophischen Reflexionen hermeneutischer Fragen geführt haben müsste. Dies umso mehr, als der Begriff der Hermeneutik, zusammen mit dem der Interpretation als seiner lateinischen Übersetzung, wohl im Mittelalter seine für die Neuzeit so entscheidende Bedeutungsveränderung erfahren haben muss: den Umschlag von der Dominanz der antiken Bedeutung des Aussagens zu der von Verstehen, Auslegung, Exegese.71 Die herrschende Meinung der entsprechenden Historiographie dagegen entspricht immer noch dem bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts artikulierten Vorwurf generell vorherrschender Bewusstlosigkeit: „Die mittelalterlichen Theologen gaben sich viel mit der Hl. Schrift ab, aber weniger mit den Grundsätzen und der Methode der Erforschung ihres Sinnes.“72 Grundlegend für die so artikulierte Verengung des historischen Blicks war wohl in nicht geringem Ausmaß die Selbststilisierung der philosophischen Hermeneutiken der Neuzeit zum absoluten Ursprung.73 Die ironische Kommentierung der kommentierenden Wissenschaftswelt durch den eingangs zitierten Alain de Lille (um 1125/30–1203), aber auch die Metaphorik des Bauwerks (aedificatio), die Kommentatoren seit dem 12. Jahrhundert ausgesprochen oft zur Kennzeichnung ihrer Tätigkeit verwendeten, sprechen allein schon gegen diesen Vorwurf vorphilosophischer Bewusstlosigkeit, insofern der Kommentar in ihnen 69 70 71 72 73

Beispiele sind: Meister Eckhart, Raimundus Lullus, Dietrich von Freiberg, Wilhelm von Ockham, Nikolaus von Kues. Vgl. Seiffert 1992, 22f.; Grondin 2012, 59. Vgl. Pépin 1975. Fleig 1927, 1. Vgl. exemplarisch Schleiermachers einschlägige Behauptung: „Die Hermeneutik als Kunst des Verstehens existiert noch nicht allgemein, sondern nur mehrere spezielle Hermeneutiken.“ (Schleiermacher 1977, 75 [Hervorhebungen ebd.].)

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in bewusster Distanz als Akt freien Willens und Konstruktion thematisiert und problematisiert wird.74 Im Folgenden kann diese Vernachlässigung der hermeneutischen Reflexion der christlichen Philosophie des Mittelalters natürlich nicht wettgemacht werden. Immerhin sollen jedoch zwei Felder markiert werden, in denen vermutlich die Bedeutung der mittelalterlichen Reflexionen für die nachfolgende Geschichte der Hermeneutik liegt. Zunächst handelt es sich um einen bereits genannten Ort hermeneutischer Reflexion: die frühe, aus der Tradition der artes liberales sich entwickelnde Philosophie, die dann in die Frühgeschichte der scholastischen Methodenentwicklung mündet (s. u. Kap. II.3). Für die spätere Geschichte philosophischer Hermeneutik ist darüber hinaus bedeutsam, dass das gesamte christliche Mittelalter die im vorigen Kapitel umrissenen klassischen Paradigmen von Semiotik, Semantik und das an sie gebundene hermeneutische Paradigma verstehender sympatheia einerseits tradiert, andererseits weiterentwickelt hat. Auch hier spielt der hermeneutische Charakter mittelalterlichen Philosophierens eine Rolle, insofern er letztlich die Fortführung der klassischen Konzeption nahelegte. Nicht nur Aristoteles als herausragende auctoritas spielte hier eine Rolle, sondern auch die Kirchenväter, allen voran Augustinus, die deshalb in die folgende Betrachtung (Kap. II.2) miteinbezogen werden. Die folgende Darstellung ist also zweigeteilt: Zunächst beschreibt ein erster Abschnitt die Wiederaufnahme und Transformierung der klassischen Paradigmen von Semiotik, Semantik und Hermeneutik in der christlichen Philosophie des Mittelalters; er reicht historisch von der Patristik bis ins 15. Jahrhundert. Der zweite Abschnitt konzentriert sich auf die Anfänge christlichen Philosophierens vom 10. bis zum 12. Jahrhundert und weist auf gelegentliche hermeneutische Reflexionen innerhalb derselben hin.

2. Die Wiederaufnahme und Transformierung des klassischen Paradigmas in der christlichen Philosophie des Mittelalters Die aristotelische Schrift Peri hermeneias war eine der meistkommentierten auctoritates, die das lateinische Mittelalter kannte. Zusammen mit der Kategorienschrift gehörte sie von Anfang an zum verbindlichen Lehrstoff des Logikunterrichts in den Schulen, und auch noch nach Abschluss der Aristoteles-Rezeption um 1200 war die Kenntnis und Auseinandersetzung mit der Logica vetus, wie man die beiden aristotelischen Schriften nun bezeichnete, integraler Bestandteil jeglicher wissenschaftlicher 74

Vgl. Brinkmann 1980, 132–140; Valente 1995, 15f.

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Bildung. Man rezipierte den Text in der lateinischen Übersetzung des Boethius (ca. 475/80–524) und kommentierte ihn meist unter Berücksichtigung der beiden Kommentare, die dieser zu seiner Übersetzung verfasst hatte. Die Sprachtheorie des ersten Kapitels von Peri hermeneias erlangte vermutlich erst durch diese Rezeption und Kommentierung ihren überragenden Einfluss auf die abendländische Theoriegeschichte. Vor allem aber hat das lateinische Mittelalter die Erkenntnis der Möglichkeit einer Inversion dieser Theorie zu einer Theorie des Verstehens fest in der Geschichte der abendländischen Sprachtheorie verankert. Was in Peri hermeneias nur beiläufig angedeutet wird, allerdings dennoch zu den Standards antiker Sprachphilosophie gehörte: die Auffassung von Verstehen als durch Sprachzeichen ermöglichte sympatheia menschlicher Seelen, wurde durch die mittelalterliche Aristoteles-Kommentierung endgültig zu einer kaum noch hinterfragten und durch die Autorität des Philosophen verbürgten communis opinio. So greift in den wohl bedeutendsten mittelalterlichen Kommentaren zu Peri hermeneias, jenen Peter Abaelards, Alberts des Großen (um 1200–1280) und Thomas von Aquins (1225–1274), wie übrigens schon bei Ammonius Hermiae (vor 445–um 526) und Boethius in der Spätantike, die Kommentierung des ersten Kapitels von Peri hermeneias von der aristotelischen Beschränkung auf die Sprecherperspektive auf die Perspektive der Hörer bzw. Leser aus und kommt so zu einer grundlegenden Bestimmung dessen, was Verstehen bzw. sprachliches Kommunizieren ist, die mit der klassischen Vorstellung einer sympatheia menschlicher Seelen prinzipiell übereinstimmt.75 Aber die Kommentierung von Peri hermeneias hatte dabei immer auch den Charakter einer transformierenden Aneignung dessen, was in der klassischen Konzeption zugrunde gelegt war. So war man sich seit Boethius darüber einig, dass es sich bei den seelischen Widerfahrnissen, deren Gleichheit sprachlichem Verstehen zugrunde liege, nicht um rein passiv empfangene Sinneseindrücke oder auf deren Synthetisierung basierende Vorstellungen handeln konnte, welche als identisch bei allen Menschen vorauszusetzen den mittelalterlichen Autoren wohl problematisch schien, sondern um Allgemeinbegriffe (species, notiones, conceptus) des Geistes (intellectus, mens), die aufgrund einer bei allen Menschen identischen Aktivität dessen zustande kämen, was Aristoteles als nous poietikos vom nous pathetikos unterschieden hatte – unabhängig von dem durch die ungenaue Sinnlichkeit empfangenen, nur prinzipiell für alle identischen Material.76 Die Rechtfertigung der beiden aristotelischen Identitätssetzungen, auf deren Bedeutung für die hermeneutische Reflexion im vorangegangenen Kapitel 75 76

Vgl. Arens 1984, 74, 165f., 172, 232, 346, 402. Vgl. ebd., 168f., 174, 233, 248, 343, 404.

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hingewiesen wurde, war überhaupt ein bevorzugtes Thema der mittelalterlichen Kommentatoren. Neben dem eben angesprochenen Argument eines identisch funktionierenden intellectus agens brachte man in diesem Zusammenhang in der Regel das von Sprechern und Hörern unabhängige Bestehen der res ins Spiel, dem in der Herstellung identischer und somit kommunikabler geistiger Gehalte eine Art Korrektivfunktion zugemessen wurde.77 Außerdem vermischte sich in der Kommentierung seit Ammonius die aristotelische mit der stoischen Auffassung vom inneren und äußeren Wort bzw. wurde mit dieser identifiziert.78 Eine solche Vermischung ist auch in der mittelalterlichen Doktrin über das sprachliche Zeichen festzustellen, die entscheidend bereits durch Augustinus (354–430) geprägt wurde. Genau genommen hat Augustinus wohl überhaupt erst den Begriff des sprachlichen Zeichens für die Nachwelt terminologisch fixiert, während seine klassischen Vorgänger, die im vorigen Kapitel betrachtet wurden, mit noch relativ provisorischen Begrifflichkeiten gearbeitet hatten, wie etwa der stoischen Unterscheidung von Bezeichnendem und Bezeichnetem (semeion/semeinomenon), und überhaupt von Zeichen (semeia) bevorzugt nicht in sprachphilosophischen, sondern in medizinisch-mantischen Zusammenhängen gesprochen hatten, Aristoteles beispielsweise im Zusammenhang der Darstellung des Enthymems, desjenigen Arguments, das entweder aufgrund von Wahrscheinlichkeit oder eben aufgrund von Zeichen formuliert wird.79 Augustinus, der wohl in dieser Hinsicht der stoischen Tradition näher stand als der aristotelischen, keine der beiden jedoch aus direkter Überlieferung kannte, sprach dann schon in der frühen Schrift De dialectica von den Worten (verba) als Zeichen (signa) für Sachen (res), mit deren Hilfe bzw. aufgrund deren Kraft (vis) ein Sprecher eine Sache einem Hörer in den Geist rufen könne.80 In der späteren Schrift De trinitate verband er diese Auffassung des Zeichens mit der stoischen Lehre vom inneren und äußeren Wort und bestimmte die äußere Rede als Zeichen der inneren Sprache des Denkens, das bei Hörern zu bewirken vermag, was zunächst nur in den Seelen der Sprecher ist.81 Entscheidend beeinflusst wurde der mittelalterliche Begriff des Zeichens und mit ihm die Auffassung des Verstehens jedoch durch die nach De trinitate geschriebene Schrift De doctrina christiana.82 77 78 79 80 81 82

Vgl. etwa ebd., 351f. Vgl. ebd., 77, 165f. Vgl. Zweite Analytik I, 1, 71a. Vgl. De dialectica V, VII. Vgl. De trinitate IX, 7, 12; XV, 10, 17; XV, 10, 19. Im Folgenden zitiert als „DDC“. Ausgabe: Augustinus 1997a. Zur Bedeutung dieser Schrift für die Bibelexegese und für ihre grundlegenden Einteilungen vgl. Kap. I.4 des Beitrags „Bibel“ in diesem Band.

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In mancherlei Hinsicht verblieb zwar auch diese Schrift innerhalb der Grenzen, die durch die antike Sprachphilosophie grundgelegt worden waren, und kann als wichtiger Beitrag zu deren Tradierung verstanden werden. So werden auch in De doctrina christiana die signa als res definiert, die eine andere Sache in den Geist zu rufen vermögen,83 und wird der Zweck ihres Gebrauchs darin gesehen, eine sympatheia menschlicher Seelen herzustellen: „Der einzige Grund, etwas anzudeuten, d. h. ein Zeichen zu geben, liegt darin, das, was derjenige, der das Zeichen gibt, in seiner Seele trägt, hervorzunehmen und in die Seele eines anderen überzuleiten.“84

Interessant ist die Subjektivität des Sinns, der dabei zwischen den Seelen fluktuiert. Die Menschen kommunizieren bzw. verstehen, wie es einmal heißt, sua sensa85. Die prinzipielle Klassifizierung von Verstehensproblemen als verursacht durch Unkenntnis der Zeichen (signa ignota), vor allem aber durch Mehrdeutigkeit und uneigentliche Rede (signa ambigua und signa translata), und die von Augustinus gegebenen Vorschriften, zu ihrer Auflösung Sprachkenntnisse, d. h. Kenntnisse möglicher Bedeutungen der signa, die Bestimmung der Kontextbedeutung sowie Sachkenntnis – im Sinne der Kenntnis von Ähnlichkeiten zwischen den res, die die uneigentliche Rede ermöglichen – anzuwenden, gehen jedenfalls nicht über das hinaus, was bereits im klassischen Paradigma über grundlegende Probleme des Verstehens und die Möglichkeiten der Rechtfertigung seiner hermeneutischen Herstellung gesagt worden war.86 Neu war jedoch die Auffassung, dass im Falle der Heiligen Schrift anders als bei profanen Texten davon ausgegangen werden könne, dass die durch die signa bezeichneten res, da auch sie durch den göttlichen Autor der Schrift bewirkt wurden, selbst wiederum Zeichencharakter haben und nochmals auf andere res verweisen können.87 Das war einerseits eine Erweiterung der klassischen Lehre von der uneigentlichen Rede als Gebrauch eines Zeichens mit einer abweichenden Bedeutung, andererseits aber vor allem eine neuartige und in der späteren Geschichte äußerst erfolgreiche Möglichkeit der Rechtfertigung der allegorisierenden Hermeneutik des mehrfachen Schriftsinns, die Augustin nicht erfand,88 jedoch in seiner Aneignung der heidnischen sprachphilosophischen auctoritates theoretisch neu zu rechtfertigen verstand. 83 84 85 86 87 88

DDC II, I, 1. DDC II, II, 3 (dt. Übers.: Todorov 1995, 32). DDC II, III, 4. Vgl. DDC II, X, 15; II, XI, 16; II, XVI, 23–24; I, XXXVII, 41. Vgl. DDC I, II; II, I; III, V. Zu ihren antiken Quellen und ihrer spezifisch christlichen Ausprägung vgl. Pépin 1958.

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Interessant im Hinblick auf die spätere Orientierung der neuzeitlichen Hermeneutik an Regeln ist die Tatsache, dass Augustinus sich der Offenheit der allegorischen Lektüre der Schrift durchaus bewusst ist. Er gibt sogar ausdrücklich an, dass sie durch Vorschriften (praescripta) nicht zu bestimmen sei, da zwischen den res in vielerlei Hinsicht Ähnlichkeiten bestehen (quoniam multis modis res similes rebus apparent), die eine allegorische Lektüre rechtfertigen, wenn diese nur innerhalb dessen verbleibt, was Ziel jeglicher Lektüre der Schrift ist, die Bewirkung der Liebe zu Gott und zum Nächsten.89 Im 12. Jahrhundert fasste man die hermeneutisch bedeutsame semiotische Innovation Augustins dann in der terminologischen Gegenüberstellung von allegoria in verbis, der uneigentlichen Rede im klassischen Sinn, und allegoria in factis.90 Und Thomas von Aquin rechtfertigte in der bekannten Stelle zu Beginn der Summa theologica die Hermeneutik des mehrfachen Schriftsinns immer noch auf die durch Augustin vorgezeichnete Weise mit dem Hinweis auf die beiden Dimensionen der Bezeichnung einerseits von res durch verba, andererseits der neuerlichen Bezeichnung anderer res durch die zunächst bezeichneten.91 Die klassische Doktrin der Semiotik und die ihr komplementäre Auffassung des Verstehens als eines Erleidens von Bedeutungen wurde dabei nicht revidiert, sondern lediglich ergänzt und in dieser erweiterten Form weiter durch die gesamte Epoche tradiert. Nicht nur an den Schulen des 12. Jahrhunderts und an den mittelalterlichen Universitäten der folgenden Jahrhunderte wurden sie weitervermittelt, sogar noch die wenig schulmäßige, den gesamten biblischen Text allegorisch, nämlich als parabola lesende Hermeneutik des Meister Eckhart (um 1260–1328) steht in der augustinischen Tradition und mit dieser in der Tradition der klassischen Lehre vom sprachlichen Zeichen und Verstehen desselben.92 Die Integriertheit der augustinisch inspirierten Lehre von der mehrfachen Bedeutung in die klassische Konzeption der für das mittelalterliche Bildungswesen maßgeblichen heidnischen auctoritates der Sprachphilosophie mag auch die Ursache dafür gewesen sein, dass sie sich letztlich gegenüber konkurrierenden Konzeptionen wie der platonisierenden Bedeutungsmetaphysik des biblischen Textes von Origenes durchsetzte.93 Neben der auf Augustinus zurückgehenden Lehre über das sprachliche Zeichen und sein Verstehen auf der einen, der Kommentarliteratur zu Peri hermeneias auf der anderen Seite lassen sich noch zumindest drei weitere wichtige Orte der transfor89 90 91 92 93

Vgl. DDC III, XXV, 34. Vgl. Valente 1995, 18–22. Vgl. S. th. I, q. 1, a. 10. Vgl. Fleig 1927 und Kap. II.3 des Beitrags „Bibel“ in diesem Band. Vgl. Weiss 1967. Zu Origenes vgl. Kap. I.3.1 des Beitrags „Bibel“ in diesem Band.

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mierenden Tradierung des klassischen Paradigmas durch das Mittelalter benennen. Zunächst ist die Wiederaufnahme der im vorigen Kapitel dargestellten Infragestellung des klassischen Paradigmas durch die skeptische Frage nach der Möglichkeit des Lehrens und Lernens mittels des in seiner Bedeutung konventionell festgelegten Zeichens zu nennen. Der frühe, skeptisch beeinflusste Augustin griff diese Problematik in der Schrift De magistro wieder auf, Thomas von Aquin verfolgte sie, auf dem Höhepunkt der scholastischen Philosophie, in den Quaestiones disputatae de veritate weiter. Auch bestimmte theologische Themen wie die biblische Schöpfung der Welt aus dem Wort oder die Identifizierung von Christus und logos im Prolog des Johannesevangeliums wurden regelmäßig mithilfe der heidnischen sprachphilosophischen auctoritates reflektiert und waren derart Medien der Tradierung des klassischen Paradigmas.94 So bot den Anlass für die oben angesprochene Stelle aus De trinitate, die charakteristisch ist für die mittelalterliche Vermengung von stoischer und aristotelischer Zeichentheorie, die Frage nach einer adäquaten Auffassung des als logos inkarnierten Gottes. Aber auch bei so verschiedenen und zeitlich weit auseinanderliegenden Autoren wie Anselm von Canterbury, Thomas von Aquin, Meister Eckhart und Nikolaus von Kues sprach der dreieine Gott, sofern er die Welt schuf oder sich inkarnierte, nach dem Modell der heidnischen Sprachphilosophen und deren Auffassung über Sprechen als Bezeichnen.95 Auch bot die Auseinandersetzung mit den mit dem Christentum konkurrierenden Religionen regelmäßig Anlass für sprachphilosophische und hermeneutische Überlegungen, die in der Regel innerhalb dessen stattfanden, was die klassischen auctoritates vorgegeben hatten, diesen ursprünglichen Theoriebestand bisweilen jedoch auf interessante Weise erweiterten.96 Bei dem auf Mallorca beständig mit der islamischen Glaubenswelt konfrontierten Raimundus Lullus (um 1232/33–um 1315/16) führte die Auseinandersetzung mit den Andersgläubigen etwa zu der Absicht, das weltbeste Buch (liber melior de mundo) zu schreiben, nämlich ein Buch, das, direkt in der inneren Sprache der Vernunft formuliert, mit anderen als den geläufigen Zeichen der natürlichen Sprachen, mit neuen, künstlichen Zeichen die Ungläubigen zu Verständnis und Anerkennung des christlichen Glaubens zwingen sollte. Die ars Lulliana sollte das Glaubensgespräch und letztlich die sympatheia im christlichen Glauben ermöglichen, die sonst nach Ansicht Lulls an der Ungenauigkeit der bestehenden äußeren Sprachen scheiterten, und weist voraus auf die Idee einer Universalgrammatik und 94 95 96

Vgl. Brinkmann 1980, 21–44. Vgl. Anselm von Canterbury, Monologion, Kap. X; Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate, q. 4; Meister Eckhart, Expositio sancti evangelii secundum Iohannem. Vgl. Sapir Abulafia 1984, bes. 512.

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eines logischen Kalküls: „So wird Lull der einzige Gelehrte im Mittelalter bleiben, der in seiner Rede über Gott auf die heiligen Bücher der Religionen verzichtet.“97 Auch in Peter Abaelards Collationes inter Philosophum, Iudaeum et Christianum wird der Glaubensstreit zum Anlass einer Rekapitulierung des klassischen Theoriebestandes über Sprechen und Verstehen. Dies führt zu äußerst interessanten Überlegungen zur Kontextabhängigkeit der Bedeutung der verba, die im Zusammenhang mit der sprachphilosophischen Wende zu einem contextual approach (De Rijk) im 12. Jahrhundert zu sehen sind.98 Mit den Bewegungen von Terminismus, Modismus und Suppositionstheorie und der bis ins 14. Jahrhundert weiterentwickelten logica moderna begann „die eigentlich schöpferische Phase der Sprachphilosophie der Mittelzeit“99. Sie brachte nicht nur den sogenannten Universalienstreit mit sich, sondern stellt wohl schließlich die wichtigste Ursache dafür dar, dass die klassische Auffassung des Sprechens als Bezeichnen und des Verstehens als psychisches Widerfahrnis der Bedeutung von Zeichen in die Neuzeit überliefert wurde. Denn trotz aller origineller Neuerungen der logica moderna blieben jene Annahmen des klassischen Paradigmas prinzipiell auch für die neue Logik verbindlich. Somit führen verschiedene mittelalterliche Wege zu der Wiederaufnahme des klassischen Paradigmas bei den ersten philosophischen Hermeneutikern der Neuzeit, die nach einem Blick auf die protestantische Bibelexegese in Kapitel III zu behandeln sein wird. Zuvor sollen jedoch die folgenden Abschnitte einen Eindruck davon vermitteln, dass die neuzeitliche Hermeneutik nicht nur im Hinblick auf eine allgemeine Konzeption des Verstehens an ihre Vorgeschichte anknüpfte, sondern auch auf eine Tradition detaillierter hermeneutischer Reflexion zurückblicken konnte, die im Mittelalter vor allem im Zusammenhang mit der eingangs erwähnten Auseinandersetzung um die Legitimität einer rationalisierenden Hermeneutik des Christentums und einer christianisierenden Hermeneutik der heidnischen ratio entstand.

97 98 99

Dominguez 1999, 281. Vgl. Abaelard 1995, 264–271; Schulthess/Imbach 1996, 218f. Gombocz 1992, 58.

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3. Hermeneutische Reflexion innerhalb der in der Tradition der artes liberales entstehenden christlichen Philosophie des Mittelalters Man soll also nicht so viel Wasser der Philosophie in den Wein der Hl. Schrift mischen, so dass aus Wein Wasser würde. Das wäre das schlechteste Wunder. Und wir lesen doch, dass Christus aus Wasser Wein machte, nicht umgekehrt.100

Die in den vorigen Abschnitten gebrauchte Rede vom hermeneutischen Charakter christlichen Philosophierens im Mittelalter behauptet nicht eine immer gleiche Interpretation christlicher Glaubensinhalte auf der Basis eines festen antiken Philosophiebestandes, die immun gegen Geschichte und Gesellschaft und deren Entwicklungen gewesen wäre. Der hermeneutische Charakter christlichen Philosophierens im Mittelalter bestand vielmehr gerade darin, dass die Autoren versuchten bzw. versuchen mussten, den kanonischen Bestand christlicher auctoritates durch die Konfrontation mit einem stets neu interpretierten und zudem mit der Zeit erheblich erweiterten Kanon antiker Autoritäten über einen Zeitraum von Jahrhunderten jeweils veränderten historischen Verhältnissen interpretierend anzupassen: „Dass im Mittelalter das Buch wichtiger war als in Antike und Neuzeit, bedeutete nicht, konkrete Welterfahrungen aus dem Umgang mit der Natur und mit geschichtlichen Konflikten hätten der Philosophie des Mittelalters gefehlt. […] Dennoch bestand im Mittelalter die gedankliche Deutung einer neuen Erfahrung fast immer auch darin, sie auf die überlieferten Texte zu beziehen oder die Tradition im Hinblick auf neue Erfahrungen und neue Wertungen umzudeuten.“101

Der Vorrang, den solch kommentierendes Philosophieren genoss, war letztlich ein Erbe, das die christliche Philosophie des Mittelalters mit der angesprochenen Herausbildung aus der antiken artes-Tradition antrat. Bei der Institutionalisierung der sieben freien Künste (artes liberales) hatte das Mittelalter außer auf Boethius und Augustinus vor allem auf Martianus Capellas (5. Jh.) Schrift De nuptiis Philologiae et Mercuri zurückgegriffen. Aufgrund seiner allegorisierenden Darstellung der artes als Brautjungfern bei der Hochzeit von Philologie und Merkur war das Bildungswesen seit karolingischer Zeit im Sinne des Vorrangs des Wissenserwerbs aus sprachlich überlie100 Bonaventura, Collationes in Hexaemeron (1273) XIX, 14, zitiert nach Flasch 1982, 354. 101 Flasch 1986, 145.

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ferter Autorität geprägt und das Bildungsgut der artes, vor allem des Triviums, als universell anwendbares Mittel solchen Wissenserwerbs verstanden worden. Dabei stand dieser Auffassung stets auch eine auf Augustin zurückgehende Skepsis gegenüber den bloß weltlichen und menschlichen Wissenschaften gegenüber.102 Christliches Philosophieren im Mittelalter setzte ein, indem das vor allem in Grammatik und Dialektik gelehrte Wissen der antiken Logik, das man zunächst hauptsächlich in Form der von Boethius übersetzten Schriften des aristotelischen Organon kannte (Kategorien und De interpretatione), auf die christlichen auctoritates Anwendung fand. Leider gilt noch immer, dass die Geschichte der dabei entstandenen Kommentarliteratur noch zu schreiben wäre: „A history of commentaries in the Middle Ages is still to be written, though partial studies of excellent quality have become available.“103 So lässt sich im Moment eher spekulieren über die Häufigkeit philosophischer Reflexionen auf das eigene Tun innerhalb des frühen, aus den artes hervorgehenden christlichen Philosophierens, das im 12. Jahrhundert, gemessen an der Zahl der Kommentare, einen quantitativen Höhepunkt und gegenüber den genannten Anfängen der wechselseitigen Ausdeutung von christlichen und heidnischen auctoritates eine erhebliche formale und institutionelle Verfestigung erreichte.104 Teil dieser Verfestigung war die Erstellung leicht handhabbarer Vereinheitlichungen der christlichen auctoritates wie die Sentenzen des Petrus Lombardus (ca. 1100– 1160), die zu kommentieren bald verbindlicher Bestandteil der Ausbildung an den Schulen und entstehenden Universitäten wurde.105 Auch entstand ein differenziertes technisches Vokabular für die Kommentierung, mit dessen Hilfe etwa, wie bei Wilhelm von Conches (um 1080–um 1154) und anderen Autoren zu lesen ist, die Unterscheidung von glossa als enger an Wortlaut und Darstellungsweise des kommentierten Textes gebundene und commentum als freiere Form der Kommentierung möglich wurde. Über den Grad der Verbindlichkeit derartiger Unterscheidungen, wie etwa auch der von verschiedenen Bedeutungsebenen von Texten nach littera, sensus, sensus spiritualis bzw. sententia, herrscht allerdings in der Forschung Uneinigkeit.106 Und oftmals wird zwar darauf hingewiesen, dass gerade dieser Höhepunkt in der Herausbildung christlichen Philosophierens aus den artes auch ein Höhepunkt allgemeiner her102 Vgl. Schulthes/Imbach 1996 und Flasch 1986 (weitere Literatur ebd., 613f.). 103 Häring 1982, 199. 104 Die Fülle solcher philosophischen Kommentarliteratur aus der Tradition der artes dokumentiert Häring 1982 für das 12. Jahrhundert, das wohl in dieser Hinsicht auch als Höhepunkt gelten kann. 105 Vgl. Häring 1982, 190; Flasch 1986, 238f., 258f. 106 Zur Darstellung dieses Vokabulars vgl. Brinkmann 1980, 154–162; Jeauneau 1982. Zur Infragestellung seiner Einheitlichkeit vgl. Häring 1982, 174–178.

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meneutischer Reflexion war.107 Der Versuch einer zusammenfassenden Darstellung dieser Reflexion, die mutmaßlich verstreut ist in viele entlegene Widmungstexte und Vorworte, bleibt jedoch noch vorzulegen. An dieser Stelle kann einstweilen nur auf vier wichtige Themen eingegangen werden, bei denen der Forschungsstand besser ist als im Allgemeinen: Zunächst bietet sich, erstens, die Betrachtung der Institution der accessus ad auctores und, zweitens, der Lehre vom integumentum an. Drittens liegt eine exemplarische Betrachtung der wohl bedeutendsten Wissenschaftslehre aus dem frühen 12. Jahrhundert nahe, weil diese den Prozess des Lesens ins Zentrum stellt, das Didascalicon des Hugo von St. Viktor, das den Untertitel De studio legendi (Vom Studium des Lesens) trägt. Und viertens schließlich bietet sich eine Diskussion einer Textsammlung an, die von ihrem Autor mit einer expliziten Einlassung auf Probleme der Hermeneutik versehen wurde, Peter Abaelards Sic et non, welchem man oftmals die Erfindung der scholastischen Methode zuschreiben wollte.

3.1 Standardisierte Annäherung an den „abwesenden Autor“: Die accessus ad auctores Die erstmals von Richard W. Hunt und Edwin A. Quain vorgelegten Skizzen einer Geschichte der accessus ad auctores hat Alistair J. Minnis im Rahmen einer weit ausführlicheren Untersuchung ergänzt, wobei er die Institution des accessus innerhalb der in der Tradition der artes stehenden Kommentare jedoch aus der eingeschränkten Perspektive einer Frühgeschichte der abendländischen Literaturwissenschaft betrachtete.108 Der accessus, wörtlich: die ‚Annäherung‘ an den Autor des zu kommentierenden Textes, stand als eine Art Prolog in der Regel einleitend vor dem Korpus des Kommentars. Dieser selbst war oft verwoben mit einem sukzessiven Zitat des kommentierten Textes, was man als glossa continua von der glossatura parva unterschied, bei der der Text getrennt blieb von einem meist weniger umfangreichen, in der Regel nur Wortund Sacherklärungen umfassenden marginalen Kommentar.109 Die accessus beinhalteten die Beantwortung einer Reihe von Fragen, die sich historisch allmählich veränderten. Bereits Hunt hatte eine historische Einteilung vier verschiedener, sich nacheinander ablösender accessus-Sorten vorgeschlagen, die durch Minnis bestätigt wurde. Demnach existierten zunächst gleichberechtigt zwei verschiedene Frageschemata, von denen das eine wohl auf die spätantike Dichterauslegung 107 Vgl. Valente 1995, 17. 108 Vgl. Quain 1945; Hunt 1948; Minnis 1988. 109 Vgl. Häring 1982, 180f.

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zurückging (Servius [um 400] u. a.) und die Fragen nach Biographie des Autors (vita poetae), Titel (titulus operis), Intention (intentio scribentis) sowie nach Einteilung und innerer Ordnung des Textes umfasste (numerus librorum und ordo librorum). Das andere, dessen Einführung in der Regel Remigius von Auxerre (10. Jh.) zugeschrieben wird, beinhaltete die Fragen nach den circumstantiae im Sinne der klassischen Rhetorik Ciceros (wer/quis, was/quid, warum/cur, in welcher Weise/quomodo, wann/ quando, wo/ubi, mit welchen Mitteln/unde). Daneben trat dann ab dem 11. Jahrhundert ein Frageschema, das nach dem Muster der spätantiken Aristoteles-Auslegung etwa bei Boethius die Fragen nach dem Titel (nomen libri), dem Autor (nomen auctoris), dessen Absicht (intentio auctoris), dem Gegenstand (materia libri), der Darstellungsweise (modus agendi), dem Nutzen (utilitas) und dem Wissenschaftsbereich, zu dem der Text gehört (cui parti philosophiae supponitur), umfasste. Schließlich setzte sich im 13. Jahrhundert infolge der Aristoteles-Rezeption ein kürzeres Schema durch, das den accessus in die Form der aristotelischen Fragen nach den vier Ursachen (causa materialis, causa formalis, causa efficiens, causa finalis) brachte. Im Falle der Bibel beantwortete man die Frage nach der causa efficiens des Textes nun in der Regel nach dem Vorbild von Thomas von Aquin und dessen Lehrer Albertus Magnus im Sinne einer doppelten Autorschaft, der des menschlichen und des göttlichen Autors (causa efficiens mota und movens). Minnis, der sich inhaltlich vor allem auf Bibelkommentare konzentrierte, vertrat die Ansicht, dass dieser Wandel in den Prologsorten zusammenfalle mit einer allmählichen Aufwertung der menschlichen Autoren der Schrift gegenüber dem göttlichen Autor, eine Aufwertung, die sich in jener Bevorzugung des (menschlichen) Literalsinns zulasten des (göttlichen) Spiritualsinns ausgewirkt habe, die Beryl Smalley im Bereich der Exegese110 festgestellt hatte: „My main objective in writing was to demonstrate the considerable importance of scholasticism for the development of literary theory […]. In particular, scholastic Scriptural exegesis was a central force in the re-shaping of literary values in the later Middle Ages. The central event, from my point of view, was the emergence (in Bible commentaries) of the view that the human author possessed a high status and respected didactic/stylistic strategies of his very own – in short, auctoritas moved from the divine realm to the human.“111

Die Feststellung, dass die accessus ad auctores als früher Beitrag zur Entstehung einer auf Autoren zentrierten abendländischen Literaturtheorie gelten können, ist philoso110 S. Kapp. II.1 u. II.2 des Beitrags „Bibel“ in diesem Band. 111 Minnis 1988, vii.

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phisch allerdings von untergeordneter Bedeutung. Bedeutsamer erscheint die Frage, ob und wie die genannten Kommentatoren die verschiedenen Varianten des accessus problematisierten oder begründeten und welche hermeneutischen Prämissen diesen jeweils zugrunde lagen.112 Darüber geben jedoch leider weder Hunt, Quain noch Minnis genauer Auskunft.113 Rita Copeland hat innerhalb ihrer umfangreichen Darstellung zur Wechselwirkung von Rhetorik und Hermeneutik immerhin die circumstantiaeVariante des accessus auf mögliche Gründe ihrer Rechtfertigung untersucht. Sie wies auf den engen Zusammenhang von Rhetorik und Hermeneutik hin, durch den diese Form des accessus gerechtfertigt würde, insofern die Kommentatoren ihren Kommentar offenbar als Argument auffassten, dessen inventio von denselben topoi auszugehen hatte wie diejenige inventio, die nach der Lehre der klassischen Rhetorik der Äußerung des zu kommentierenden Textes vorausgegangen sein musste: „When this inventional structure is placed before a text and commentary, as in the case of the circumstantial accessus, it would seem to make of the text an act delimited by circumstances, and to make of the commentary an argument to be invented out of those circumstances. […] To construct authorial intentio out of the circumstances of the text is to rehearse the process of invention out of the circumstances of the case.“114

Copeland machte zu Recht darauf aufmerksam, dass eine derartige Hermeneutik eine Frühform historisierenden Verstehens darstellt, insofern sie die Umstände der Äußerung zu Kriterien der Rechtfertigung von Verstehen machte: „Exegetical practice treats the text, not as a universal principle, but as an action situated in particular historical circumstances.“115 Dass die Annäherung an die auctores innerhalb der accessus faktisch auch ein Instrument gänzlich unhistorischer hermeneutischer Aneignung war, insofern die Kommentatoren im accessus den kommentierten auctor auch so fingieren konnten, wie es der jeweils gewünschten Interpretation entsprach, muss zu Copelands Einschätzung relativierend hinzugefügt werden.116 Dennoch erscheint 112 Almut Suerbaum behauptet zwar, eine solche Problematisierung der accessus-Varianten habe stattgefunden (vgl. Suerbaum 1998, 30), gibt jedoch in ihrer weiteren Abhandlung keine wirklichen Beispiele dafür, sondern beschränkt sich auf eine exemplarische Darstellung von Hunts Schema anhand der Fabelsammlung des Avian (4./5. Jh.). 113 Quain behauptet zumindest, dass es, im Falle des aristotelisierenden accessus, Begründungen gab. 114 Copeland 1991, 69, 77. 115 Ebd., 70. 116 Vgl. Suerbaums exemplarische Darstellung moralisierender Dichterinterpretation nach dem Muster der Unterstellung, der auctor habe mit der Abfassung seines Textes eine moralische Absicht verfolgt (Suerbaum 1998). In dieser Hinsicht auch von Interesse ist der spätmittelalterliche Ovide moralisée (vgl. Quain 1945, 222).

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generell plausibel, was Copeland exemplarisch für den rhetorischen accessus festgestellt hat: Die Beantwortung der accessus-Fragen hat die Funktion, ein Wissen herbzw. vorzustellen, das als Kriterium bzw. Rechtfertigungsinstrument der Richtigkeit einer Interpretation zu dienen vermag. Dies lässt sich exemplarisch am Dialogus super auctores des Konrad von Hirsau (um 1070–1150) aus dem 12. Jahrhundert zeigen, dessen theoretische Passagen lange Zeit als „the only theoretical discussion of the technique of the accessus that has come down to us from medieval times“117 galten. Allerdings hat R. B. C. Huygens, der Herausgeber des Dialogus, vor einiger Zeit nachgewiesen, dass es sich bei wesentlichen Teilen dieses Lehrdialogs zwischen einem Meister und einem Schüler einer Klosterschule um Zitate aus der Einleitung eines Kommentars des Bernhard von Utrecht (um 1100) aus dem späten 11. Jahrhundert handelt, so dass die theoretische Grundlegung der accessus keine einmalige Ausnahmeleistung des Benediktinermönches aus Hirsau war.118 Die Gesprächspartner des Dialogus diskutieren in der Reihenfolge eines vom Meister vorgeschlagenen, idealen Curriculums eine Reihe von accessus, die hauptsächlich antike Dichter betreffen. Im Rahmen dieser Diskussionen wird deutlich, dass die Beantwortung der accessus-Fragen, die Konrad in der Form des modernen accessus des 12. Jahrhunderts formuliert, für den Meister sowohl ein Instrument der Gewinnung wie der Rechtfertigung von Interpretationen darstellt. Dabei begreift er Interpretationen, gemäß der Tradition des klassischen Paradigmas, als die Bestimmung von Bedeutungen (significationes), welche sich insbesondere vor die Probleme von Mehrdeutigkeit und uneigentlicher Rede gestellt sieht. Gleichwohl wird im Dialogus praktisch keine Hermeneutik durchgeführt, welche die historisierend-psychologisierende Annäherung an Autoren als hermeneutisches Instrument zur Bestimmung und Rechtfertigung der Bedeutungen von Zeichen gebraucht. Eher im Gegenteil: Konrad von Hirsaus Meister weiß die accessus-Fragen so zu beantworten, dass ihm die Antworten als Rechtfertigung dafür zu dienen vermögen, die heidnischen Dichter christlich, nämlich ihre Zeichen als allegorische Reden zu deuten, die einen moralischen sensus spiritualis bezeichnen und nicht in der Bedeutung der littera aufgehen.119 Dem entspricht, was Konrads Vorbild Bernhard als Funktion der accessus-Fragen nach der vita bzw. dem Namen des Autors nennt: keineswegs, wie moderne Leser meinen könnten, eine für das Verständnis relevante Einfühlung in dessen Person, sondern die moralische Empfehlung der Lektüre des Werkes aus der 117 Ebd., 217. 118 Vgl. Huygens 1954. Seine Ausgabe des Dialogus: Huygens 1955. 119 Vgl. Tunberg 1987, 76f.

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vorbildhaften Biographie seines Autors (ut ex ea opus commendetur).120 Nur äußerst selten und stets innerhalb des durch die jeweiligen accessus bereits gänzlich ahistorisch definierten, moralisierenden Rahmens greifen die Interpretationen von Konrads Meister auf die historischen Umstände zurück, in denen die kommentierten auctores standen, etwa um mögliche Überlieferungsfehler zu korrigieren – dann aber durchaus im modernen Sinn einer historischen Textkritik.121 Obgleich man also eher nicht davon ausgehen kann, dass die Annäherung an die auctores in den accessus praktisch immer in einer Frühform historisierender oder psychologisierender Hermeneutik bestanden habe, so ist die philosophische Bedeutung der accessus-Literatur doch beträchtlich. Denn Autoren wie Konrad von Hirsau begnügten sich nicht mit der Allgemeinheit des klassischen Vorbilds, das den „abwesenden Autor“ zum Problem und zum Kriterium von Verstehen gemacht hatte. Sie suchten vielmehr eine Antwort darauf, ob sich eine verbindliche Form des Wissens um den „abwesenden Autor“ festlegen ließ, mittels derer man das Verstehen der Bedeutung seiner Zeichen allgemein rechtfertigen bzw. rational begründen konnte. Insofern kann man die accessus ad auctores als Ausdruck einer frühen methodologischen Orientierung philosophischer Hermeneutik auffassen, die danach fragte, wie der „abwesende Autor“, der mit dem klassischen Paradigma verstehender sympatheia Kriterium gelingenden Verstehens geblieben war, als solches Kriterium in gewisser Weise standardisiert und der Praxis des Verstehens wie auch der Praxis der rationalen Rechtfertigung von Verstehen verfügbar gemacht werden könnte. Da das ursprüngliche Motiv für diese methodologisch orientierte hermeneutische Reflexion vorwiegend aber nicht das sympathetischer Einfühlung in die auctores war, sondern die Auflösung jenes eingangs dargestellten Binnenkonflikts innerhalb des mittelalterlichen Kanons, ist es nicht verwunderlich, dass die faktische Anwendung der accessus wie bei Konrad meist eher diesem als jenem Ziel diente: „It was precisely this desire to preserve the auctoritas of auctores and to make authority speak with one voice that stimulated such striking developments in logic and hermeneutics during the twelfth century.“122 Die Reflexion, die innerhalb der accessus-Literatur geleistet wurde, darf allein aufgrund dieser historischen Bedingtheit ihrer praktischen Anwendung aber nicht unterschätzt werden. Kommentatoren wie Konrad von Hirsau machten sich zwar innerhalb ihrer praktischen Hermeneutik die Tatsache zunutze, dass die methodologische Stan120 Vgl. Huygens 1954, 423f. 121 Vgl. Tunberg 1987, 77f. 122 Tunberg 1987, 78. Vgl. auch Quain 1945, 222, 225f.

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dardisierung der Weise, wie sich Wissen um den „abwesenden Autor“ als Instrument der Bestimmung der Bedeutungen von Zeichen und als Argument der Rechtfertigung von Verstehen gebrauchen ließ, diesen natürlich weiter abwesend oder, mit den Worten Platons, „wehrlos“ sein ließ. Das schmälert aber nicht die Leistung, dass sie den „abwesenden Autor“ in einer Reihe methodologischer Standardisierungen als Instrument der Bedeutungsbestimmung und als Rechtfertigungskriterium im hermeneutischen Streit um die Bedeutung auf neuartige Weise verfügbar machten.123

3.2 Ein philosophischer Beitrag zur Erweiterung hermeneutischer Möglichkeiten: Die Theorie des integumentum Die Theorie des integumentum bzw. involucrum schließt in gewisser Weise unmittelbar an die Praxis der accessus ad auctores an.124 Bei ihrer Formulierung wiederholte sich, was durch die Institution der accessus bereits zu einem Bestandteil mittelalterlicher Hermeneutik geworden war: der Gebrauch eines, wie zu sehen war, oft recht absichtsvoll hergestellten Wissens um die intentio auctoris oder materia eines Textes sowohl als Instrument der Herstellung seiner Bedeutung wie als rationale Rechtfertigung seiner Interpretation. Obwohl bereits in der Spätantike zum ersten Mal formuliert, etwa bei Macrobius (5. Jh.), erlebte die Theorie des integumentum bzw. involucrum ihre eigentliche Blüte im 12. Jahrhundert bei Autoren wie Abaelard, Bernardus Silvestris (um 1100–um 1160) oder Wilhelm von Conches. Ihr Gegenstand waren die profanen auctoritates, also Texte antiker Dichter und Philosophen. Durch die Theorie des integumentum wurde diesen zweierlei unterstellt: einmal, dass ihre materia, sofern sie zu Recht auctoritates waren, in derselben Wahrheit bestehe, die den Christen als Offenbarung zuteilwurde, oder zumindest in einer eingeschränkten Annäherung an diese Wahrheit, und zum anderen, dass es die intentio der heidnischen Autoren gewesen sei, diese Wahrheit zu verhüllen, indem sie sie nicht in eigentlicher Rede, sondern unter einer falschen, nämlich fiktiven narratio ausdrück123 Zur Bedeutung des accessus in der Auslegung des römischen und des kanonischen Rechts s. Quain 1945, 228–242, und Kap. II des Beitrags „Recht“ in diesem Band. Vgl. auch die etwas pathetische Gesamtwürdigung der accessus durch Quain 1945, 263f.: „We see men who set about their task of explaining the learning of the past in serious and systematic fashion. Perhaps, from our viewpoint, they are picayune in their love for detail and schematismus. However, the elaborate structure they erected is testimony to their vigor of mind and inventiveness. The man who invented this comprehensive technique of the accessus was undoubtedly a trail-blazer in his day and he must have dreamed, as has every serious scholar, of marking a lasting contribution to the store of learning and to the science and art of teaching. He has done his work well.“ 124 Zur integumentum-Lehre vgl. Brinkmann 1980, 168–185; Jeauneau 1982, 124–126; Bernt 1991 (Lit.); Valente 1995, 24f.

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ten. Das Motiv für solcherlei Verhüllung sah man in den historischen Umständen, unter denen die antiken Vorwegnahmen der Darstellung der Wahrheit zustande gekommen waren: In der noch vor der allgemeinen Offenbarung der Wahrheit befindlichen antiken Welt hätten die dichtenden und philosophierenden auctoritates die Wahrheit deshalb bloß verhüllt aussprechen können, weil sie anders von ihren Lesern nicht verstanden werden konnte. Die Begründung der Hermeneutik des integumentum geht insofern auf eine historische Reflexion zurück, die allerdings deutlich einer heilsgeschichtlichen Auffassung des Historischen verpflichtet ist. Eine weitere Theorie über das Motiv der Verhüllung der Wahrheit ging auf Augustin zurück: Die antiken Autoren hätten beabsichtigt, durch die Schwierigkeit der Interpretation den Eifer der Lesenden anzuspornen. Durch die Theorie des integumentum wurde jedenfalls für den mittlerweile erreichten Stand der Heilsgeschichte nicht nur die Möglichkeit gerechtfertigt, sondern geradezu die Forderung erhoben, die heidnischen auctoritates auf die in ihnen umhüllte Wahrheit hin zu interpretieren. Auch die hermeneutische Innovation, die mit der Lehre vom integumentum verbunden war, war also motiviert durch die Absicht, den erwähnten Binnenkonflikt zwischen christlichen und antiken auctoritates im mittelalterlichen Lektürekanon aufzulösen: Die integumentum-Lehre war ein Mittel „de concilier l’enseignement des philosophes païens avec le dogme chrétien“125 und entstand gerade deshalb im 12. Jahrhundert, „als es wichtig wurde, den Wahrheitswert der Antike von einem christlichen Standpunkt aus zu begründen“126, d. h. in der eingangs angesprochenen Auseinandersetzung um die Legitimität einer rationalisierenden Hermeneutik des Christentums. Praktisch hatte die integumentum-Lehre die Bedeutung, dass sie den Kommentatoren ermöglichte, die angesprochenen Texte in ihrer Ganzheit allegorisierend zu interpretieren, das heißt der eigentlichen, literalen Bedeutung der verba eine uneigentliche Bedeutung, einen sensus spiritualis, gegenüberstellen zu können. Innovativ war das insofern, als in den Texten der antiken auctoritates aufgrund ihrer bloß menschlichen Autoren keine allegoriae in factis vorausgesetzt werden konnten wie im Falle der Heiligen Schrift, ferner auch kaum durchweg allegoriae in verbis, deren Behauptung zur Begründung jeweils im Einzelnen hätte plausibel machen müssen, dass der Autor auch tatsächlich allegorisch gesprochen hat, was gemäß dem klassischen Paradigma wiederum mit der Verneinung der eigentlichen, in der Regel keineswegs unsinnigen Bedeutung der verba einhergegangen sein müsste.127 Durch die integumentum-Lehre wur125 Jeauneau 1982, 125. 126 Brinkmann 1980, 176. 127 Vgl. Valente 1995, 15f.

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de die Möglichkeit der Ausweitung der Hermeneutik des mehrfachen Sinns von der Bibelexegese auf profane Texte geschaffen, was in der Praxis zu einer Unmenge von christianisierenden Kommentaren zu den antiken Dichtern, vor allem aber zu Texten wie dem platonischen Timaios oder der boethianischen Consolatio führte. In diesem philosophischen Beitrag zu einer Erweiterung der Lehre von der mehrfachen Bedeutung und der damit verbundenen Ausweitung praktischer Hermeneutik ist die historische Bedeutung der Theorie vom integumentum zu sehen. Sie stand nicht nur am Anfang der Einebnung der immer noch bestehenden grundlegenden Unterscheidung von göttlichen und säkularen Texten hinsichtlich ihrer hermeneutischen Handhabbarkeit, sondern führte vor allem in den hermeneutischen Streit um die Bedeutung ein neues Instrument der Herstellung und Rechtfertigung von Interpretationen ein, dessen Bestehen nicht unwesentlich zur weiteren Entwicklung der praktischen Kunst des Interpretierens im Abendland beigetragen haben dürfte.

3.3 Hermeneutik als Theorie idealer Lektüre: Das Didascalicon des Hugo von St. Viktor Das Didascalicon128 des Hugo von St. Viktor (1095–1141), „die bekannteste und wichtigste Wissenschaftssystematik der Frühscholastik“129, geschrieben um 1127, steht in exemplarischer Weise für einen allgemeinen Charakterzug hermeneutischer Reflexion in der mittelalterlichen Tradition der artes: für die Tatsache, dass diese sich als Reflexion von Lektüre, gar als Theorie idealer Lektüre verstand, so dass ihre wichtigsten Kategorien rückgekoppelt waren an eine Reflexion der Praxis des Lesens in den Kloster- und Kathedralschulen, in denen sie entstand.130 Die Schule von St. Viktor, nahe Paris gelegen und von Wilhelm von Champeaux (um 1070–1122), Abaelards Lehrer, gegründet, war eine der erfolgreichsten Schulen des 12. Jahrhunderts. Ihre Besonderheit bestand darin, dass sie sowohl traditionell monastisch organisiert wie, was ihre wissenschaftliche Ausrichtung betraf, offen war für die neue, rationalisierende Wissenschaftlichkeit und so eine Art Reformmodell für die überkommene Klosterschule darstellte, die traditionell, jedenfalls bis zu einem gewissen Grad, eher die Kontemplation in den Vordergrund gestellt hatte.131

128 Offergeld 1997. Vgl. Grabmann 1961, 235–249. 129 Offergeld 1997, 7; ähnlich Grabmann 1961, 235. 130 Entsprechend könnte auch der Dialogus super auctores herangezogen werden. Auch bei Konrad von Hirsau ist die enge Rückkopplung hermeneutischer Kategorien mit tatsächlicher Lektürepraxis klar erkennbar. 131 Vgl. Offergeld 1997, 31.

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Das Didascalicon trägt den Untertitel De studio legendi, und dementsprechend entwirft Hugo im Vorwort als Programm der Schrift eine Reflexion idealer Lektüre: „Zwei Dinge sind es vor allem, durch die jeder Wissen erlangt, nämlich Lesen (lectio) und Meditation (meditatio). Von diesen beiden steht das Lesen an erster Stelle in der Unterweisung, und davon handelt auch dieses Buch, indem es Regeln zum richtigen Lesen (praecepta legendi) gibt. Drei Regeln sind in besonderem Maße für das Lesen notwendig: Erstens soll jeder wissen, was er lesen soll (quid legere debeat), zweitens, in welcher Reihenfolge er lesen soll (quo ordine legere debeat), also welches früher und welches später, und drittens, in welcher Weise er lesen soll (quomodo legere debeat). Diese drei Punkte werden, jeder für sich, in diesem Buch behandelt.“132

Damit sind die wesentlichen Aspekte der an der Reflexion idealer Lektüre orientierten Hermeneutik benannt, die im Didascalicon entworfen wird. In ihrem Anspruch ist diese Reflexion insofern allgemein, als sie das gesamte vorhandene Textspektrum umfassen will, also sowohl die Lektüre profaner wie heiliger Texte, allerdings in zwei voneinander getrennten Teilen:133 „Das Buch unterweist aber sowohl den Leser weltlicher wie auch den heiliger Schriften (Instruit autem tam saecularium quam divinarum scripturarum lectorem).“134 Überschriftartig wird Hugos Hermeneutik am besten durch die zweite der im Vorwort genannten Fragen nach einer verbindlichen und besten Ordnung (ordo) der Lektüre zusammengefasst. Strukturell wird seine Hermeneutik jedoch eindeutig durch die Beantwortung der dritten Frage dominiert, wie (quomodo) man lesen soll. Hugo gibt hierzu drei miteinander zusammenhängende Antworten: Er bestimmt das Ziel jeglicher Lektüre als dasselbe und erklärt dann einerseits, wie ein Leser sein muss, andererseits, wie er lesen muss, um dieses Ziel zu erreichen. Das eine Ziel jeglichen Lesens bestimmt Hugo als eine Art Wiederherstellung der vernünftigen Natur des Menschen, als deren Verlust er den Sündenfall auffasst. Diese reparatio integritatis besteht in einer Wiederannäherung an die göttliche sapientia bzw. den als Christus inkarnierten Gott, den Hugo in traditioneller Weise als logos 132 Ebd., 106/107. 133 Man hat die aufeinanderfolgende Behandlung der Lektüre beider Textsorten bisweilen so aufgefasst, als ob Hugo eine propädeutische Funktion des weltlichen artes-Studiums für die Bibelexegese vertrete. Allerdings lässt sich diese Annahme wohl nur durch den Hinweis auf andere Texte Hugos belegen und nicht aus der Systematik des Didascalicon selbst, in dem die beiden Studienbereiche gleichberechtigt nebeneinanderstehen bzw. vereint sind durch das eine und identische Ziel jeglicher Lektüre (vgl. u. sowie Offergeld 1997, 93–95). 134 Ebd., 106/107–108/109.

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auffasst.135 Diese Zielbestimmung steht wie manch anderes im Didascalicon in augustinischer Tradition, insofern auch der Autor von De doctrina christiana beim Entwurf seiner christlichen Hermeneutik als einheitliches Ziel allen Lesens die liebende Vereinigung mit Gott auf dem Weg der Erlangung der Liebe zum Nächsten ausgezeichnet hatte – und zwar so sehr, dass er jegliche weitere Lektüre der Schrift oder gar säkularer Bücher nach Erlangung solcher caritas für prinzipiell überflüssig erklären konnte.136 Das eine Ziel aller Lektüre begründet offenbar die beiden anderen im Vorwort genannten Aspekte von Hugos Reflexion idealer Lektüre, bei denen es sich um Realitäten des Unterrichts in den Schulen seiner Zeit handelte, denn das Kanonprinzip als Festlegung dessen, was gelesen werden muss, und das Prinzip der Hierarchisierung dieses Kanons in Form einer verbindlichen Ordnung des Nacheinanders des Lesens stellen sich nun als Versuche einer normativen Vereinheitlichung von Lektüre auf ihr eines, verbindliches Ziel hin dar.137 Tatsächlich ist dieses einheitliche Ziel aller Lektüre der konstante Bezugspunkt für die systematische Einteilung der Lektüre säkularer Wissenschaft (philosophia), die der erste Teil des Didascalicon enthält, aber auch der Systematik der Lektüre christlicher Literatur, die im zweiten Teil folgt.138 Herausragendes Kennzeichen dieser Systematik ist, dass das Studium der logischen Wissenschaften (logica), worunter Hugo die Disziplinen des Triviums versteht, gegenüber den anderen Wissenschaften (theorica, practica, mechanica) als unverzichtbare Voraussetzung jeglichen lesenden Studiums von seinem Anfang bis hin zur möglichen Erreichung seines Ziels ausgezeichnet wird.139 Auch das steht in der Tradition der christlichen Hermeneutik von De doctrina christiana, wo die ratio disputandi die einzige weltliche Wissenschaft war, die mehr als propädeutische Funktionen zu erfüllen vermochte.140 Hugo begründet die herausragende Stellung des Triviums im Übrigen aber auch damit, dass innerhalb der logica die für jede Lektüre unabdingbaren Kenntnisse über Worte und Argumente, die Bestandteile alles Geschriebenen, erworben werden. Im Zentrum von Hugos Reflexion idealer Lektüre steht dann wie gesagt die Klärung der Frage, welche Leser dieses einheitliche Ziel der Lektüre zu erreichen vermö-

135 Vgl. ebd., 44f., bzw. Didascalicon I, v. a. Kap. 8. 136 Vgl. DDC I, XXXIX, 43. 137 Zur konkreten Realisierung der Festlegung des quid legere und der ordo legendi vgl. die Bücher III und IV des Didascalicon. 138 Bücher I–III systematisieren die säkulare Lektüre, Bücher IV–VI die Lektüre der Bibel und der Väterliteratur. 139 Vgl. insbes. Didascalicon I, 11. 140 Vgl. DDC II, XXXIX, 59; auch: DDC II, XXXI, 48.

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gen und auf welche Weise. Das Didascalicon nennt in diesem Zusammenhang drei notwendige Bedingungen der idealen Lektüre: Begabung (natura), Übung (exercitium) und Disziplin (disciplina).141 Zur Begabung gehören Geist (ingenium) und Gedächtniskraft (memoria), wobei das der Seele von Natur aus gegebene Vermögen des ingenium in der Kraft besteht, jene sapientia zu finden, die Ziel aller Lektüre ist, die memoria wiederum darin, das Gefundene zu behalten.142 Die disciplina dagegen besteht unter anderem darin, die vorgeschriebene Ordnung der Lektüre auf die sapientia hin einzuhalten, somit auch in einer unbedingten Anerkennung des Kanons, die keinen Text gering achtet im Hinblick auf die Möglichkeit der Erschließung der sapientia durch ihn, so dass die hermeneutische Regel gilt, dass die Ursache von Unverständnis immer eher beim Leser als beim Text zu suchen ist. Vor allem umfasst die disciplina des idealen Lesers aber eine ethische Tadellosigkeit, welche dem einheitlichen Ziel jeglicher Lektüre nicht entgegensteht.143 Die notwendige Übung des exercitium schließlich wird einerseits einfach durch wiederholtes Lesen in der richtigen Weise erreicht, andererseits durch die meditatio des Gelesenen, die auf die Lektüre folgen soll.144 Auch für die richtige Weise des Lesens gibt Hugo eine ideale Ordnung an: Es soll nämlich, wenn immer dies möglich ist, vom Wortlaut (littera) über den sensus als der offenbaren Bedeutung der Worte (aperta significatio) zur sententia aufsteigen, der tieferen Bedeutung (profundior intelligentia), die, wie Hugo anmerkt, stets durch Auslegung erst hergestellt werden muss (quae nisi expositione vel interpretatione non invenitur).145 Das soll zwar für beide Arten des Lesens gelten, die Hugo prinzipiell unterscheidet, die öffentliche und die private Lektüre, ist aber eindeutig orientiert am Aufbau der öffentlichen Lektüre in den Schulen seiner Zeit und an deren schriftlichen Erzeugnissen.146 Zwischen profaner und nicht-profaner Lektüre besteht hinsichtlich der Verbindlichkeit dieses ordo legendi zunächst einmal kein Unterschied.147 Allerdings scheint Hugo, was die weltlichen Bücher betrifft, unter dem Aufstieg vom sensus zur sententia eher die zusammenfassende Extraktion von Regeln und Vorschriften (regulae et praeceptae) zu verstehen,148 bei den heiligen Schriften dagegen in traditioneller WeiVgl. Didascalicon III, 6. Vgl. Didascalicon III, 6, 7, 11. Vgl. Didascalicon III, 12–13. Vgl. Didascalicon III, 7. Vgl. Didascalicon III, 8. Vgl. Didascalicon III, 7. Zum Aufbau von Kommentaren vgl. Brinkmann 1980; Häring 1982; Jeauneau 1982. 147 Vgl. Didascalicon VI, 8. 148 Vgl. Didascalicon III, 7; auch: Didascalicon III, 11. 141 142 143 144 145 146

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se den Aufstieg vom literalen Schriftsinn, der historia, zu allegoria und tropologia.149 Jedenfalls dient der ordo legendi in beiden Fällen demselben Ziel, der Vorbereitung einer meditatio, für die sowohl die Lektüre der profanen wie der heiligen Schriften dasselbe bereitstellen soll: das Wissen um die göttlichen Werke und die gute Lebensführung.150 Insofern ist auch die Reflexion des Wie (quomodo) des idealen Lesens wie die anderen Teile der Reflexion im Didascalicon dem einen Ziel aller Lektüre untergeordnet, der Wiedererlangung der Einheit mit der göttlichen sapientia. Historisch bedeutsam und charakteristisch für Hugos Zwischenstellung zwischen der kontemplativen Orientierung der traditionellen Klosterschulen und der rational-wissenschaftlichen Orientierung der neu entstandenen städtischen Kathedralschulen, wie überhaupt für das intellektuelle Klima innerhalb der in der Tradition der artes entstehenden Philosophie des 12. Jahrhunderts ist allerdings, dass er stets darum bemüht ist, dass der Aufstieg vom sensus zur sententia nicht in einer Praxis allegorisierender Willkür besteht.151 Er bemüht sich stattdessen in auffälliger Weise um Kriterien und Grenzbestimmungen für gelingendes Verstehen. Wichtig in dieser Hinsicht ist die grundlegende Annahme, dass nicht jeder Text, auch nicht jeder biblische Text, mehr als den literalen sensus besitzt,152 vor allem aber die Betonung der fundamentalen Bedeutung einer korrekten Interpretation dieses Literalsinns, insofern nur von dieser eine gelingende aedificatio tieferer Bedeutung ausgehen könne. Hugo, der dabei wiederum eindeutig auf die augustinische Tradition zurückgreift, bringt in diesem Zusammenhang allerdings keineswegs völlig neue Kriterien der Rechtfertigung gelingenden Verstehens in Anwendung, sondern verbleibt in den Grenzen, die von der Betrachtung des klassischen Paradigmas bereits bekannt sind, also bei den Kriterien der intentio des Autors, des Kontexts dessen, was verstanden werden soll, sowie der historischen Umstände der Verfassung eines Textes.153 Vor allem aber hat diese Bemühung um Kriterien des Verstehens niemals zur Folge, jenes einheitliche Ziel der reparatio integritatis infrage zu stellen, dem jegliche Lektüre dienen soll und das den gesamten Aufbau der Reflexion idealen Lesens im Didascalicon bestimmt. Offenbar folgte auch Hugos Reflexion idealer Lektüre zu sehr dem Wunsch, jenen Binnenkonflikt zwischen christlichen und heidnischen auctoritates in eine Einheit aufzulösen, deren Inhalt er vorweg christlich-religiös bestimmte. Anders verhielt es sich bereits bei seinem Zeitgenossen Abaelard, auf den im folgenden, letzten Abschnitt eingegangen wird. Auch seine hermeneutische Reflexion ist 149 150 151 152 153

Vgl. Didascalicon VI, 3–5; auch: Didascalicon V, 2. Vgl. Didascalicon III, 10; V, 6. Vgl. Häring 1982. Vgl. Didascalicon VI, 8. Vgl. etwa Didascalicon VI, 2–4, 9–11.

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zwar durchaus der Suche nach einer Einheit der auctoritates verpflichtet, jedoch ist diese Einheit nicht mehr inhaltlich bestimmt, sondern sie muss mittels einer rationalisierenden Hermeneutik erst noch gefunden werden. Dennoch sollte man den theoretischen Ertrag des Didascalicon nicht gering schätzen, immerhin thematisiert und rechtfertigt die Reflexion idealer Lektüre auf das eine Ziel der göttlichen sapientia hin wesentliche Elemente hermeneutischer Praxis im Mittelalter, so das Kanonprinzip, die festgeschriebene Ordnung der Curricula und die Praxis allegorisierender Vereinnahmung der heidnischen auctoritates.

3.4 Einheit der ratio und der veritas der auctoritates als Auslegungsprinzip: Abaelards Prolog zu Sic et non Abaelards Sic et non ist zunächst einmal eine umfangreiche Textsammlung mit mehr als 1.800 Zitaten der Kirchenväter, daneben einigen Zitaten aus der Bibel. Die Pointe dieser Zusammenstellung besteht darin, dass die zitierten auctoritates 158 Glaubensfragen, unter die Abaelard sie gruppiert, einander widersprechend zu beantworten scheinen – eben mit Ja (sic) bzw. Nein (non). In einem viel beachteten Prolog gibt Abaelard dem Leser eine Anleitung, wie mit seinem Textkompendium umzugehen ist. Dieser Prolog ist ein vehementes Plädoyer für die Notwendigkeit von Hermeneutik und entwirft zugleich die Grundbegriffe einer solchen: Er macht die Voraussetzung einer Einheit der ratio in den auctoritates und der Einheit der veritas, die in ihnen ausgedrückt wird, zum Auslegungsprinzip, geht also davon aus, dass die Antworten der Väter zwar gegensätzlich sind, aber doch nicht voneinander abweichen, sofern sie mithilfe der ratio richtig ausgelegt werden. Peter Schulthess und Ruedi Imbach haben Abaelards Hermeneutik in Sic et non insofern mit einem zutreffenden Begriff als die Bemühung um die Aufstellung rationaler „Konkordanzregeln“154 charakterisiert, Abaelard selbst spricht an einer Stelle von „Heilmitteln“155. Auch Sic et non gehört insofern zu jener hermeneutischen Reflexion, die sich aus der Auseinandersetzung um die Legitimität einer rationalisierenden Hermeneutik des Christentums ergibt, durch welche die Anfänge christlichen Philosophierens im Mittelalter gekennzeichnet waren.156 Abaelard beansprucht jedoch eigentlich nicht nur Legitimität, sondern, radikaler, Notwendigkeit für die rationalisierende Aneignung des Glaubens. Am Ende des Prologs stellt er klar, was die Grundannahme ist, von der 154 Schulthess/Imbach 1996, 114; zum Zusammenhang vgl. ebd., 113–117. 155 Flasch 1982, 266. 156 Vgl. dazu auch das Kontrastprogramm einer verrätselnden Hermeneutik bei Abaelards Kontrahenten Bernhard von Clairveaux (1090–1153): Morrison 1988.

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er ausgeht: Die Wahrheit ist in den Schriften der auctoritates nur insofern geoffenbart, als sie sich durch rationale Untersuchung in ihnen auffinden lässt; sie ist nicht einfach vorhanden, man benötigt den Schlüssel der rationalen Untersuchung, um sie zu erschließen, sonst muss man innerhalb jener Widersprüchlichkeit verbleiben, die in den nachfolgenden quaestiones eindrucksvoll inszeniert wird: „Denn dies wird ja als der erste Schlüssel zur Weisheit bestimmt: das beständige und häufige Fragen. […] Durch Zweifeln kommen wir nämlich zur Untersuchung; in der Untersuchung erfassen wir die Wahrheit, gemäß dem, was die Wahrheit selbst sagt: ‚Suchet, und ihr werdet finden; klopft, und es wird euch aufgetan‘ (Mt. 7,7).“157

Der Prolog beginnt entsprechend mit einer möglichst allgemeinen Formulierung der prinzipiellen Voraussetzung einer Einheit der ratio in den auctoritates und der Annahme der Notwendigkeit, diese durch Auslegung mithilfe der ratio zu finden: Sofern die auctoritates widersprüchlich und unverständlich bleiben, hat der Interpret dies, analog zur Festlegung Hugos von St. Viktor, sich selbst zuzuschreiben und nicht den auctores, die er liest, er muss also folglich seine interpretatorischen Anstrengungen weiter fortsetzen, statt Vernunft und Wahrheit der auctoritates infrage zu stellen: „Wir dürfen uns […] nicht anmaßen, die als Lügner anzuklagen oder als Irrende zu verachten, denen vom Herrn gesagt ist: ‚Wer euch hört, hört mich; wer euch verachtet, verachtet mich‘ (Lk. 10,16). Wir sollen daher unsere eigene Schwachheit bedenken und eher glauben, dass uns die Gnade beim Verstehen fehle, als ihnen beim Schreiben […].“158

Der übrige Prolog fragt nach möglichen Ursachen des Unverständnisses bei den Lesern und versucht zugleich, Instrumente aufzuzeigen, wie diese zu einem gelingenden Verständnis der aucoritates gelangen können. Die Antworten, die Abaelard in diesem Zusammenhang gibt, sind keineswegs revolutionär neu. Historisch herausragend ist allerdings die systematische Präzision, mit der er sie nacheinander abhandelt, wie auch die Bemühung um ihre Begründung. Eindeutig steht Abaelard dabei in der Tradition des klassischen Paradigmas. Er formuliert, in anderer Begrifflichkeit, sogar das Problem, dass seine Theorie rationaler Auslegung der auctoritates auf eine Hermeneutik des „abwesenden Autors“ herauslaufen muss – und stellt als Konsequenz dieser Einsicht die grundlegende Regel auf, das hermeneutische Urteil, sofern ein Text unwahr oder unverständlich erscheint, stets als hypothetisches zu begreifen und mit der nötigen Zurückhaltung zu vertreten: 157 Flasch 1982, 269. 158 Ebd., 262.

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„Wer sähe nicht, wie anmaßend es auch wäre, über Sinn und Einsicht eines anderen zu urteilen? Denn allein vor Gott liegen die Herzen und die Gedanken offen, der uns auch vor dieser Anmaßung warnend sagt: ‚Richtet nicht, und ihr werdet nicht gerichtet werden‘ (Mt. 7,1) […], d. h., wenn es etwas in den göttlichen Mysterien gibt, was wir nicht begreifen können, überlassen wir es lieber dem Geist, durch den es geschrieben ist, dass er es lehre, als dass wir es vorschnell entscheiden.“159

Der Prolog behandelt nacheinander vier verschiedene Ursachen möglichen Missverstehens der auctoritates und die diesen entsprechenden Instrumente zur Herstellung angemessenen Verstehens: die sprachlichen Zeichen, mittels derer die auctoritates sprachen, deren Überlieferung, die auctores selbst und schließlich den Differenzierungsbedarf hinsichtlich des Status der auctoritas. Hinsichtlich der verba als den Zeichen, mittels derer die auctoritates sich ausdrückten, verweist Abaelard ganz traditionell auf die Probleme von Mehrdeutigkeit und uneigentlicher Rede, auf die „verschiedene Bedeutung derselben Wörter“ und die „ungebräuchliche Rede“. Ebenso traditionell stellt er die Vorschrift auf, dass die gelingende Auslegung die möglichen Bedeutungen der verba zu analysieren und sich dann für eine zu entscheiden habe bzw. das verbum proprium des uneigentlichen Ausdrucks auffinden müsse und damit dessen eigentliche Bedeutung.160 Das Kriterium für die Notwendigkeit, diese Vorschrift anzuwenden, ist das Grundproblem, auf das Sic et non hinweist und das unmittelbar vor ihrer Formulierung eingeführt wurde: die Divergenz der auctoritates und infolgedessen der Anschein ihrer Unwahrheit. Auf die Angabe von Kriterien für die Richtigkeit der Anwendung seiner ersten hermeneutischen Regel verzichtet Abaelard allerdings – woran das getreue Auslegen (fideliter interpretari) erkannt wird, bleibt so im Dunkeln. Dasselbe gilt übrigens auch für die anderen hermeneutischen Vorschriften, die Abaelard im prologus gibt. Die nächste geht zurück auf die Überlieferung als mögliche Ursache dessen, dass die auctoritates Widersprüchliches zu vertreten scheinen. Abaelard nennt hier zwei Beispiele: 1. ein Text wurde möglicherweise gar nicht von dem Autor geschrieben, unter dessen Namen er kursiert; 2. im Prozess der schriftlichen Weitergabe könnten sich Schreibfehler eingeschlichen haben. Die hermeneutische Vorschrift, die daraus folgt, verpflichtet die Leser dazu, zu prüfen, ob die Autorschaft eines Textes überhaupt 159 Ebd., 263f. Man könnte das als „principle of charity“ bezeichnen, sollte jedoch nicht übersehen, dass es in dieser Formulierung nicht prinzipiell als Voraussetzung für das Gelingen von Verstehen überhaupt angesehen wird, sondern sich als Konsequenz aus der Annahme ergibt, die auctoritates hätten mit der Zunge der einen, identischen ratio auch die eine, identische Wahrheit zum Ausdruck gebracht. 160 Vgl. ebd., 263.

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authentisch ist und ob der Text an den problematischen Stellen nicht verbessert werden muss. Verliert der Text im einen Fall möglicherweise seine Autorität, so ist es im anderen Fall gegebenenfalls möglich, diese zu retten, indem die Auslegung ihn mit der Einheit der Wahrheit in Übereinstimmung bringt.161 Eine Reihe von weiteren hermeneutischen Vorschriften macht in ähnlicher Weise wie die accessus ad auctores das Wissen um den „abwesenden Autor“ zum Instrument der Auslegung. So kann sich ein Autor bezüglich seiner Aussagen später korrigiert haben, wie Augustinus es in den Retractiones getan hat. Das müssen die Leser prüfen, wenn sie durch eine bestimmte Stelle die Einheit der veritas in den auctoritates infrage gestellt sehen; sie dürfen die Verbesserung, falls es eine gibt, nicht ignorieren. Geprüft werden muss auch, ob ein Autor eine problematische Ansicht in eigener Sache oder nur zitierend vertritt, also Form und Aufbau des auszulegenden Textes. Sodann ist zu prüfen, ob die auctoritas an der problematischen Stelle überhaupt „nach der Wahrheit (secundum veritatem)“ formuliert oder eventuell „entsprechend der Meinung und Sitte des Volkes (iuxta opinionem hominum, mores et vulgi)“. Die Auslegung hat hier, etwa wenn im Evangelium Joseph als Vater Christi bezeichnet wird, wohl ähnlich wie bei der uneigentlichen Rede eine eigentliche Bedeutung der Stelle gemäß der Einheit der Wahrheit zu suchen. Genauso verhält es sich, wenn die Autoren ungenau, nämlich „entsprechend dem Urteil der Körpersinne“ formuliert haben. Sagen sie etwa, „dass der Himmel bald gestirnt sei, bald nicht“, so hat die rationale Auslegung das darauf zurückzuführen, dass es ihnen so erschien, so dass die gleich bleibende Wahrheit der geschaffenen Sterne nicht mehr infrage steht. Insbesondere für das kanonische Recht gibt es darüber hinaus noch die Möglichkeit zu prüfen, ob der Autor an der problematischen Stelle sich „generell auf alle [Menschen] oder speziell auf einige bezieht“ und ob er ein Verbot oder Gebot nur für bestimmte Umstände ausgesprochen hat.162 Schließlich gibt Abaelard noch eine vierte hermeneutische Regel an, unter dem ausdrücklichen Hinweis darauf, dass sie nur anzuwenden sei, wenn die vorstehenden „Heilmittel“ nicht bereits dazu geführt haben, die Konkordanz der auctoritates herzustellen. Dabei bringt er eine ungleiche Wertigkeit der auctoritates hinsichtlich der in ihnen zu vermutenden Wahrheit ins Spiel. Die Leser können sich bei ihrer rationalen Interpretation letztlich auch auf geläufige Hierarchisierungen innerhalb des Kanons der auctoritates beziehen: Was in der Schrift steht, haben sie für die Wahrheit zu halten, bei den Vätern können sie aber bisweilen bei kollidierenden Aussagen zweier auc161 Vgl. ebd., 264. 162 Der ganze Absatz und alle Zitate darin nach ebd., 264–266.

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toritates die Wahrheit bei demjenigen Autor voraussetzen, der „die stärkere Bezeugung und die größere Bestätigung“ hat.163 Die historische Bedeutung von Sic et non wurde und wird bisweilen als sehr groß angesehen. Man sah und sieht in Abaelard den Erfinder der scholastischen quaestio, überhaupt der scholastischen Disputationsmethode. Außerdem sprach man ihm hohe Wichtigkeit für die Methodenentwicklung des juristischen Kommentars zu, insofern etwa das Decretum Gratiani (ca. 1140) einerseits dem dialektischen Aufbau, andererseits der Methode vereinheitlichender Auslegung aus Sic et non folgt.164 Das scheint schon allein deshalb übertrieben, weil seit Martin Grabmanns Geschichte der scholastischen Methode bekannt ist, dass die Konfrontation sich widersprechender auctoritates in quaestiones nebst des Versuchs der Konkordanzherstellung von Abaelard nicht erfunden wurde, sondern schon bei vorgratianischen Dekretisten, etwa bei Ivo von Chartres (ca. 1040–1115/16), und auch in der Auslegung des römischen Rechts praktiziert wurde – so dass in dieser Hinsicht eher Abaelard von der juristischen Kommentartradition abhängig zu sein scheint als diese von ihm.165 Grabmann wies außerdem darauf hin, welch entscheidenden Einfluss die Rezeption der aristotelischen Topik für die Entwicklung der scholastischen Methode an den Universitäten des 13. und 14. Jahrhunderts hatte.166 Dabei schloss er nicht aus, dass auch Sic et non einen gewissen Beitrag sowohl für die nachgratianische Kanonesauslegung wie für die scholastische Disputations- und Wissenschaftskultur hatte – aber eben nicht in der einmaligen Weise, wie man es Abaelard ursprünglich zuschreiben wollte.167 Grabmanns eigene Einschätzung, dass Abaelard den Stand der durch das Trivium geprägten Wissenschaftlichkeit der Schulen seiner Zeit mit didaktischen Absichten auf hervorragende Weise zusammengefasst und systematisiert habe, dass diese Wissenschaft sich aber vor und nach ihm auf eigenständige, nicht an einzelne Autoren gebundene Weise als Praxis weiterentwickelt habe,168 scheint nach wie vor plausibel. Das lässt sich wohl übertragen auf die Frage nach der Bedeutung, die der Prolog zu Sic et non für die Geschichte philosophischer Hermeneutik hat. Er stellt, auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung um die rationalisierende Hermeneutik des Christentums, als welche sich philosophisches Denken im christlichen Mittelalter formierte, selbst einen Höhepunkt der Systematisierung hermeneutischer Reflexion dar, ist aber 163 164 165 166 167 168

Vgl. ebd., 266–268 (dort auch die Zitate). Vgl. die Literatur bei Grabmann 1961, 213–215, außerdem Fransen 1982, 141f., und Häring 1982, 184. Vgl. Grabmann 1961, 216. Vgl. ebd., 218. Vgl. ebd., 217, 220. Vgl. ebd., 220f.

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wohl ebenso wenig eine solitäre Leistung Abaelards wie von seiner Wirkung her zu überschätzen. Er systematisierte und begründete auf anschauliche Weise den hermeneutischen Reflexionsstand in den Schulen des 12. Jahrhunderts, war aber wohl für dessen Weitergabe und Erweiterung nicht stärker verantwortlich als die fortlaufende Praxis derjenigen logisch geprägten Hermeneutik, die er beschreibt und die auch noch in den folgenden Jahrhunderten gepflegt wurde, auch noch in einem veränderten Bildungssystem, das schließlich durch die Universität dominiert wurde. Allerdings brachten diese Jahrhunderte keinen nur annähernd ähnlich umfangreichen Systematisierungsversuch hermeneutischer Reflexion hervor, wie man ihn in Sic et non vorfindet. Das mag damit zusammenhängen, dass die Frage nach der adäquaten Auslegung der auctoritates, die die geschilderte hermeneutische Reflexion Abaelards, aber auch die Hugos von St. Viktor und der Theoretiker des integumentum und der accessus ad auctores motiviert hatte, umso weniger drängend wurde, je weniger sich die Autoren der folgenden Jahrhunderte im Zusammenhang mit einer zunehmenden Institutionalisierung einer autonomen Philosophie bzw. Theologie für ihren Versuch der rationalisierenden Hermeneutik des Christentums noch durch den Nachweis hermeneutischer Adäquatheit zu rechtfertigen hatten.

III. Frühe Neuzeit (16.–18. Jahrhundert) Die Hermeneutik, sofern man von ihr als einer genuin philosophischen Disziplin sprechen will, ist ein Kind des 17. Jahrhunderts, obgleich sie auf eine Vielzahl von Anregungen durch die hermeneutische Tradition zurückgegriffen hat.169 Das Geschäft der Hermeneutik, nämlich im weitesten Sinne die Lehre von den Bedingungen, der Eigenart und Vollzugsweise des Verstehens, geht geistesgeschichtlich der Sache nach auf Platons Erörterung der Kriterien gelungener Rhapsodik in seinem Frühdialog Ion zurück und hat seit Aristoteles’ Peri hermeneias grundsätzlich zwei mögliche und durch die Sprache vermittelte Gegenstandsbereiche: einerseits den (in engerem Sinne aussagenden) Ausdruck „seelischer Widerfahrnisse“, wie es bei Aristoteles heißt, andererseits die Auslegung ihrer (in engerem Sinne sprachlichen oder sogar nur aussageförmigen) Ausdrucksgestalten.170 Ausdruck und Auslegung sind gleichermaßen Verstehensleistungen, die sich eines Instrumentariums anerkannter Zeichen bedienen und festgelegten Regeln folgen.

169 Vgl. dazu neuerdings auch Frank/Meier-Oeser 2011, vor allem die Beiträge von Thouard, Frank, Bollbuck, Matthias, Meier-Oeser, Neumann, Spahn und Scholtz. 170 Vgl. Peri hermeneias 1, 16a (Aristoteles 1994, 3), im Wortlaut zitiert oben, Kap. I.1.

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wohl ebenso wenig eine solitäre Leistung Abaelards wie von seiner Wirkung her zu überschätzen. Er systematisierte und begründete auf anschauliche Weise den hermeneutischen Reflexionsstand in den Schulen des 12. Jahrhunderts, war aber wohl für dessen Weitergabe und Erweiterung nicht stärker verantwortlich als die fortlaufende Praxis derjenigen logisch geprägten Hermeneutik, die er beschreibt und die auch noch in den folgenden Jahrhunderten gepflegt wurde, auch noch in einem veränderten Bildungssystem, das schließlich durch die Universität dominiert wurde. Allerdings brachten diese Jahrhunderte keinen nur annähernd ähnlich umfangreichen Systematisierungsversuch hermeneutischer Reflexion hervor, wie man ihn in Sic et non vorfindet. Das mag damit zusammenhängen, dass die Frage nach der adäquaten Auslegung der auctoritates, die die geschilderte hermeneutische Reflexion Abaelards, aber auch die Hugos von St. Viktor und der Theoretiker des integumentum und der accessus ad auctores motiviert hatte, umso weniger drängend wurde, je weniger sich die Autoren der folgenden Jahrhunderte im Zusammenhang mit einer zunehmenden Institutionalisierung einer autonomen Philosophie bzw. Theologie für ihren Versuch der rationalisierenden Hermeneutik des Christentums noch durch den Nachweis hermeneutischer Adäquatheit zu rechtfertigen hatten.

III. Frühe Neuzeit (16.–18. Jahrhundert) Die Hermeneutik, sofern man von ihr als einer genuin philosophischen Disziplin sprechen will, ist ein Kind des 17. Jahrhunderts, obgleich sie auf eine Vielzahl von Anregungen durch die hermeneutische Tradition zurückgegriffen hat.169 Das Geschäft der Hermeneutik, nämlich im weitesten Sinne die Lehre von den Bedingungen, der Eigenart und Vollzugsweise des Verstehens, geht geistesgeschichtlich der Sache nach auf Platons Erörterung der Kriterien gelungener Rhapsodik in seinem Frühdialog Ion zurück und hat seit Aristoteles’ Peri hermeneias grundsätzlich zwei mögliche und durch die Sprache vermittelte Gegenstandsbereiche: einerseits den (in engerem Sinne aussagenden) Ausdruck „seelischer Widerfahrnisse“, wie es bei Aristoteles heißt, andererseits die Auslegung ihrer (in engerem Sinne sprachlichen oder sogar nur aussageförmigen) Ausdrucksgestalten.170 Ausdruck und Auslegung sind gleichermaßen Verstehensleistungen, die sich eines Instrumentariums anerkannter Zeichen bedienen und festgelegten Regeln folgen.

169 Vgl. dazu neuerdings auch Frank/Meier-Oeser 2011, vor allem die Beiträge von Thouard, Frank, Bollbuck, Matthias, Meier-Oeser, Neumann, Spahn und Scholtz. 170 Vgl. Peri hermeneias 1, 16a (Aristoteles 1994, 3), im Wortlaut zitiert oben, Kap. I.1.

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Allerdings hat sich die hermeneutische Tradition aufgrund der Orientierung der europäischen Schriftkultur an autoritativen Texten kirchlicher, juristischer und wissenschaftlicher Provenienz vor allem dem zweiten Gegenstandsbereich gewidmet: der Auslegung von sprachlichen, textförmig objektivierten Ausdrucksgestalten, und zwar in einer Vielzahl von Spezialhermeneutiken, die sich auf die Eigenart der jeweiligen auszulegenden Texte einzustellen und an ihnen zu bewähren hatten; der Aristoteliker Michael Piccart (1574–1620) trägt zu Beginn des 17. Jahrhunderts die traditionellen, in einer Vielzahl von Werken verstreuten Auslegungsregeln in seinem Buch Oratio de ratione interpretandi (1605) zusammen – dazu zählen unter anderem die Textkritik, die Berücksichtigung des Sprachgebrauchs der Autoren, der Zielsetzung ihrer Werke sowie des werkimmanenten Zusammenhanges der auszulegenden Texte – und überliefert ihren Kernbestand den Initiatoren der neuzeitlichen philosophischen Hermeneutik.171 Es gibt im Wesentlichen drei Gründe, die es zusammengenommen rechtfertigen, in der Neuzeit von der Entwicklung philosophischer Hermeneutiken zu sprechen. Diese Gründe sind 1. der Universalitätsanspruch, den die besagten Hermeneutiken für die von ihnen aufgestellten Regeln der Textauslegung erheben; 2. ihr Systematisierungsanspruch, demzufolge diese Regeln in einen methodisch kontrollierten Begründungszusammenhang gebracht werden sollen, dessen Geltung durch die Vernunft einsichtig ist und daher nicht mehr in der Autorität der Tradition fundiert werden muss – ein Begründungszusammenhang, der es rechtfertigt, von der Hermeneutik als einer Wissenschaft zu sprechen –; 3. schließlich die enge Verknüpfung der beiden genannten Gegenstandsbereiche der Hermeneutik: So werden die Logik der Erzeugung von sprachlichen Ausdrucksgestalten „seelischer Widerfahrnisse“ bzw. qualitativer Eindrücke durch den Autor und die Logik der Deutung dieser Ausdrucksgestalten durch den Ausleger in dem Prinzip der hermeneutischen Billigkeit aufeinander bezogen, das in den philosophischen Hermeneutiken des 17. und 18. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielt. Aus diesen drei Gründen kann die Entwicklung der vorromantischen philosophischen Hermeneutik als wissenschaftstheoretische Professionalisierung des verstehenden Umgangs mit Texten bezeichnet werden. 171 Zur jeweiligen Gewichtung der Verstehensleistungen von Ausdruck und Auslegung in der Geschichte der Hermeneutik vgl. die Unterscheidung zwischen „primärem“ und „sekundärem“ Verstehen, die Matthias Jung in Kap. IV dieses Beitrags vorschlägt: Das primäre Verstehen vollziehe sich im Übergang von vorsprachlichen, qualitativen Eindrücken zu symbolisch geformten Ausdrücken, das sekundäre als Auslegung bereits sinnhaft strukturierter Ausdrucksgestalten. Die Geschichte der Hermeneutik ist laut Jung durch eine Verschiebung des hermeneutischen Fokus vom sekundären zum primären Verstehen charakterisiert.

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1. Die Entstehung der philosophischen Hermeneutik zwischen humanistischprotestantischer Schriftkultur und rationalistischer Verstandeskultur Johannes Clauberg vermerkt in seiner Logica vetus et nova (1654), weit mehr Gelehrte gäben sich mit Schriften berühmter Autoren als mit der Erforschung der Dinge selbst ab.172 Knapp einhundert Jahre später schreibt Johann Martin Chladenius in seiner Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften (1742): „In der Philosophie brauchen wir nunmehro die Auslege-Kunst so sehr nicht, nachdem ieder seine eigene Krafft zu gedencken brauchen soll, und ein solcher Lehr-Satz, den man durch vieles Auslegen aus einer philosophischen Schrift heraus kriegen muß, uns nicht sonderliche Dienste thun kann, weil es hernach erst die Frage seyn wird, ob er wahr ist, und wie man ihn beweisen solle, worinnen die eigentliche Kunst der Philosophie bestehet.“173

Clauberg und Chladenius belegen die zwei Seiten eines geistesgeschichtlichen Entwicklungsprozesses, der von einer Spannung zwischen der tradierten Schriftkultur und der entstehenden Verstandeskultur bestimmt ist. Dieser Spannung verdankt die sich im 17. Jahrhundert entwickelnde philosophische Hermeneutik ihre Kontur. Einerseits gewinnen durch die Wiederentdeckung antiker Schriften im Humanismus und durch die Verbreitung des Buchdrucks Philologie und Textkritik immer mehr Bedeutung und wird die Sicherung des anwachsenden Textbestandes zu einer Quelle möglichen Wissensfortschritts, andererseits fordern die Erfolge der mathematischnaturwissenschaftlichen Erkenntnis die Methodisierung rationaler Verfahren des Denkens heraus, die sich von der Autorität der Tradition lösen und der Überlieferung des Gedachten mit dem Anspruch des „Selbstdenkens“ gegenübertreten. Die entstehende philosophische Hermeneutik ist beiden Kulturen verpflichtet: Sie verbindet die Orientierung des Erkenntnisfortschritts an der Überlieferung mit deren Erschließung durch universale, systematisch begründete Standards der Auslegung, denen grundsätzlich alle Interpreten gleichermaßen sollen folgen können: Als Ausleger, so befindet Johann Conrad Dannhauer in seiner Hermeneutik Idea boni interpretis et malitiosi calumniatoris (1630), komme jeder vernünftige Mensch infrage, sofern er nur die Regeln befolgt und sich die der angemessenen Auslegung entsprechenden Tugenden aneignet.174 „In einer idealtypischen Zuspitzung könnte man sagen, dass zwischen 172 Vgl. Beetz 2000, 591. 173 Chladenius 1969, § 187. 174 Vgl. Dannhauer 1630, § 15.

III. Frühe Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

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der Epoche des Lernens von der Tradition, die alles Wissen in der Bibel findet, und der Epoche vernunftbestimmter Erkenntniskritik, die alles Wissen als durch das Subjekt konstituiert betrachtet, vermittelnd die Epoche der hermeneutica universalis steht […].“175 Eine wichtige geistesgeschichtliche Schützenhilfe erfährt die Entwicklung der philosophischen Hermeneutik des 17. Jahrhunderts durch die protestantische Bibelexegese und deren Abkehr von der Allegorese. Das Verfahren der Allegorese diente der mittelalterlichen Bibelhermeneutik zur Differenzierung verschiedener Sinnschichten in der Heiligen Schrift. Die Allegorese, auch die Lehre vom mehrfachen Schriftsinn genannt, geht auf Philo von Alexandria (um 15/10 v. Chr.–nach 40 n. Chr.) und Origenes (ca. 185–254) zurück und wurde von Johannes Cassianus (um 360–435) zu einem Viererschema ausgebaut: „Der Wortsinn lehrt das Geschehene, der allegorische, was du glauben sollst, der moralische, was du tun sollst, der anagogische, wohin du streben sollst“, wie es in einem mittelalterlichen Merkspruch heißt.176 Das Verfahren der Allegorese galt aber nicht nur der Differenzierung objektiv bestehender Sinnschichten. So ließ sich die Heilige Schrift unter Berufung auf den mehrfachen Schriftsinn auch dann deuten, wenn deren Wortlaut als dunkel, das heißt unverständlich, sinnwidrig oder unwürdig beurteilt wurde. Aber die Allegorese leistete auch der Willkür und den jeweiligen Interessen der Ausleger Vorschub, sich ihre dogmatischen Prämissen vom Text bestätigen zu lassen. Diese Art von Deutungspraxis schwebt jedenfalls Martin Luther (1483–1546) vor, wenn er die Klarheit und Verständlichkeit der Bibel gegen das „Gaukelwerk“ ihrer allegorischen Auslegung verteidigt. Luther, der keine hermeneutische Theoriebildung betrieben hat, sondern seine Auslegungsprinzipien durch den Vollzug der Bibelexegese vorführt, streitet keineswegs einen über den Wortlaut hinausgehenden höheren Sinn ab. Seine Hinwendung zum Literalsinn der Schrift beruht allerdings auf der Überzeugung, dem recht verstandenen, das heißt für den Sinngehalt der Heiligen Schrift gläubig empfänglichen Vollzug ihrer Auslegung werde der höhere Sinn im wörtlichen evident.177 Luthers Grundsatz, dass sich die Bibel selbst auslege (scriptura est sui ipsius interpres), stellt die ihm folgende protestantische Bibelhermeneutik allerdings vor die Aufgabe, die vermeinte Klarheit und Verständlichkeit der Schrift in einer methodisch kontrollierten Weise an ihren doch zumindest vordergründig dunklen Stellen zu 175 Spahn 2009, 124. 176 „Littera gesta docet; quid credas allegoria; moralis quid agas; quo tendas anagogia“, zitiert nach Jung 2001, 38. Vgl. hierzu auch Kap. II.3 des Beitrags „Bibel“ in diesem Band. 177 Vgl. zu Luthers impliziter Hermeneutik die grundlegenden Arbeiten von Gerhard Ebeling, v. a. Ebeling 1991.

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bewähren. Dazu bedarf es eines hermeneutischen Schlüssels, den der MelanchthonSchüler Matthias Flacius Illyricus (1520–1575) ausdrücklich in dem Titel seiner Hermeneutik, der Clavis scripturae sacrae (1567), ankündigt. Die Clavis besteht aus zwei Teilen, deren erster nach der grundsätzlichen Bekräftigung des Vorworts, die Bibel sei klar und verständlich, ein Wörterbuch mit den wichtigsten biblischen Begriffen und deren Parallelstellen bietet. Auf der Basis dieser propädeutischen Grundlegung der Bibelauslegung durch eine Übersicht über den buchstäblichen Zusammenhang der Schrift führt der zweite Teil etwaige Dunkelheiten auf grammatische und sprachliche Unkenntnisse zurück und offeriert dem Leser unter anderem eine Reihe exegetischer Regeln, deren Beachtung die Schrift in ihrer Einheit soll erschließen können. Auch Flacius betont, dass die Auslegung Vollzugscharakter habe und die qualitative Beschaffenheit des Auslegungsvollzugs über den Erfolg der Verstehensbemühung entscheide.178 So müsse der fromme Mensch die Bibel mit „Hingabe“ (89) kennenlernen und dürfe sich von keinen „Sorgen und Bedenklichkeiten“ (ebd.), schon gar nicht von „verkehrten Gedanken und perversen Leidenschaften“ (ebd.), ablenken lassen. Wer einen Satz verstanden habe, solle so darüber nachdenken, dass er ihn „in einen frommen praktischen Glaubensgebrauch“ (91) verwandle. Diese Einstellung vorausgesetzt, führt Flacius zufolge eine Auslegung zum rechten Verständnis, die den maßgeblichen Gesichtspunkt der auszulegenden Schrift berücksichtigt, ihren Argumentationsgang nachvollzieht und vor allem ihre Gliederung überblickt. Denn die Gliederung helfe dabei, so Flacius mit Bezugnahme auf den antiken rhetorischen Topos vom Haupt und seinen Gliedern, „die einzelnen Teile mit jenem Gesichtspunkt besser in Übereinstimmung [zu] bringen“ (93), was von zweifachem Nutzen sei: „Einmal nämlich erhältst du eine nützliche Einführung in die einzelnen Sätze, zum anderen wirst du durchschauen, wie der jeweilige Teil den Hauptgesichtspunkt bestätigt und unterstützt“ (ebd.). Die bloß vordergründige Dunkelheit einzelner Textstellen löst sich Flacius zufolge daher auf, wenn die nötigen grammatischen Kenntnisse des Sprachgebrauchs der Heiligen Schrift erworben werden und wenn in einem Wechselverhältnis von Teil und Ganzem der Zusammenhang der Sätze durch den Gesichtspunkt der Schrift erkannt, dieser aber wiederum allein in dem Korpus der Sätze aufgesucht wird. Der recht verstandene, d. h. gläubige Vollzug der Auslegung gewährleistet die Stabilität dieses Wechselverhältnisses. Der Leser solle daher „nicht Schemen nachjagen oder Träumen von Allegorien oder Himmelsgleichnissen anhangen“ (89–91), so Flacius, nun aber mit der bezeichnenden Einschränkung: „wenn es sich nicht offensichtlich um eine Allego178 Vgl. für das Folgende den zweiten Teil der Clavis unter dem Titel „Über den Erkenntnisgrund der Heiligen Schrift“. Zitate und Seitenzahlen im Text nach Flacius 1968.

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rie handelt und der buchstäbliche Sinn anderswie untauglich oder absurd ist“ (91). Das war auch schon die Auffassung Augustins in dessen hermeneutischem Werk De doctrina christiana,179 dem Flacius viele Anregungen verdankt. In sachlichem Einklang mit dem Kirchenvater kehrt Flacius sich gegen den Missbrauch der allegorischen Deutung, der dann vorliegt, wenn eine Textstelle zu dogmatischem Gebrauch aus ihrem Zusammenhang gerissen und ihr Literalsinn willkürlich übergangen wird. Wilhelm Dilthey hat betont, Flacius’ Hermeneutik belebe die Grundsätze der humanistischen Philologenkunst, die ihm durch Philipp Melanchthons (1497–1560) Arbeiten zur Rhetorik und seiner in der Rhetoriktradition fundierten Bibelexegese vertraut gewesen sind, mit dem Geist der protestantischen Religiosität.180 Die humanistischprotestantische Schriftkultur hat aber mit der entstehenden Verstandeskultur des „Selbstdenkens“ etwas gemeinsam: Beide teilen die Kritik an der Autorisierung von Erkenntnis und Wissen durch die Tradition und betonen die grundsätzliche Auslegungskompetenz des Subjekts. Offensichtlich konnten sich Protestantismus und Rationalismus in der Entwicklungsgeschichte der Hermeneutik auch wechselseitig befruchten, wie die Hallenser Wechselwirkung zwischen Pietismus und Wolffianismus im 18. Jahrhundert besonders nachdrücklich zeigt.181 Ob die philosophische Hermeneutik allerdings aus dem Geist des Protestantismus entstanden ist, wie das Dilthey behauptet hat,182 kann bezweifelt werden. Johann Conrad Dannhauer, der in der Hermeneutikgeschichtsschreibung mittlerweile als erster Vertreter einer Universalhermeneutik anerkannt ist, war zwar lutherischer Theologe, aber seine allgemeine Hermeneutik erschien vor seiner Bibelhermeneutik – laut Oliver Scholz „ein bloßer, methodisch nachgeordneter, Ableger der ein Vierteljahrhundert zuvor vorgelegten Gründungsschrift“183.

2. Die Forderung einer allgemeinen Hermeneutik im 17. Jahrhundert Der Name des Straßburger Theologen und Philosophen Johann Conrad Dannhauer (1603–1666) steht für „die Unterscheidung zwischen Vorgeschichte und Geschichte der Hermeneutik“184, aber keineswegs deshalb, weil er der Erste war, der den Begriff der Hermeneutik in einem Buchtitel führte (nämlich seiner Hermeneutica sacra aus dem Jahr 1654). Wichtiger ist, dass er die Hermeneutik lange vor seiner Bibelhermeneutik in seinen Idea boni interpretis et malitiosi calumniatoris (1630) als eine Wissen179 180 181 182 183 184

Vgl. dazu Kap. I.4 des Beitrags „Bibel“ in diesem Band. Vgl. Dilthey 1991, 123. Vgl. u. Kap. III.3. Vgl. Dilthey 1991, 115. Scholz 2001a, 40. Ebd., 37.

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schaft von den disziplinübergreifenden Grundlagen des Verstehens einführt. Dabei bedient er sich in rationalistischer Manier eines syllogistischen Beweises: Alles Wissbare habe eine Wissenschaft, die Verfahrensweise des Interpretierens sei wissbar, also gebe es auch eine Wissenschaft vom Interpretieren.185 Auffällig ist, dass Dannhauer hier implizit zwischen dem transdisziplinären modus interpretandi und den disziplingebundenen Interpretationen unterscheidet. Die Beobachtung ihrer Regeln, die nun als das Geschäft einer allgemeinen Hermeneutik als Wissenschaft ausgewiesen wird, ist demnach, kantianisch gesprochen, die Bedingung der Möglichkeit gelingender Verstehensprozesse, wie sie sich in der Auseinandersetzung mit theologischen, juristischen und anderen wissenschaftlichen Texten faktisch vollziehen bzw. idealerweise vollziehen sollten. Die Hermeneutik institutionalisiert demnach die methodische Reflexion dieser Verstehensbedingungen in einer neuen wissenschaftlichen Disziplin, der hermeneutica generalis. Dannhauer führt den Allgemeinheitscharakter der Hermeneutik in Analogie zur Grammatik ein. Keinesfalls gebe es eine juristische, theologische und medizinische, sondern nur eine diesen Disziplinen gemeinsame Grammatik, und ebenso gelte: „[…] Una generalis est hermeneutica, quamvis in obiectis particularibus sit diversitas.“186 Da nun die wissenschaftlichen Verfahrensweisen Teil der Logik seien, und die Verfahrensweise des Interpretierens zu den in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen praktizierten Verfahrensweisen gehöre, so gilt für Dannhauer, wie er in einem weiteren Syllogismus dartut, dass auch die Verfahrensweise des Interpretierens Teil der Logik sei. Die Hermeneutik soll auf diese Weise in den Stand einer Ergänzung zum aristotelischen Organon erhoben werden.187 Diese Zuordnung wird etwa hundert Jahre Bestand haben, bis die Hermeneutik schließlich unter dem Einfluss der Entstehung und Begründung der „schönen Wissenschaften“ aus ihrer engen Bindung an die Logik wieder befreit wird.188 Der Anspruch einer Ergänzung des aristotelischen Organon richtet sich an dessen Aussagenlehre in Peri hermeneias. Die Analyse der logischen Form der Aussage hat unter anderem den Sinn, diese von anderen Wortgefügen zu unterscheiden und ihren Wahrheitswert zu bestimmen. Geht es in Peri hermeneias um die logischen

185 „Omne scibile habet aliquam sibi respondentem scientiam philosophicam, / Modus interpretandi est aliquod scibile. Ergo / Modus interpretandi habet aliquam sibi respondentem scientiam philosophicam.“ (Dannhauer 1630, 5 [dort kursiv].) 186 Ebd., 11 (Hervorhebung: M.S.). 187 „Hermeneuticam […] organi Aristotelici adjectione novae civitatis aucturi.“ (Ebd., 4 [dort teilw. hervorgehoben].) 188 Vgl. u. Kap. III.5. Zum historischen Diskurs über die Verhältnisbestimmung von Logik und Hermeneutik vgl. Danneberg 2001.

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Bedingungen der sachlichen Wahrheit von Zeichengebilden, insofern also durch deren Gebrauch Erkenntnis und der Zuwachs von Wissen über die Welt möglich ist, so soll die Hermeneutik sich Fragen der logischen und sachlichen Wahrheit enthalten und stattdessen Regeln zu der Erkenntnis dessen bereitstellen, was der Autor eines Textes mit ihm hat sagen wollen, also des gedachten Sinns der jeweiligen Ausdrucksgestalt eines Autors bzw. der „hermeneutischen Wahrheit“, wie es terminologisch seit Siegmund Jacob Baumgarten (1706–1757) heißt,189 der Sache nach aber bereits in den meisten der maßgeblichen philosophischen Hermeneutiken seit Dannhauer beachtet wird. Dabei beschränkt Dannhauer unter Rekurs auf die grundlegenden zeichentheoretischen Unterscheidungen Augustins in De doctrina christiana den Gegenstandsbereich der Hermeneutik auf denselben Materialbereich wie Aristoteles’ Peri hermeneias, das heißt auf den Bereich der signa doctrinalia, der willkürlichen (im Unterschied zu den natürlichen) sprachlichen Zeichen, die in Lehrbildung und Beweisführung eingehen können. Formal umreißt er das Verstehensobjekt als „omnis oratio foras prolata, quatenus obscura sed exponibilis est“190. Die notorischen „dunklen Stellen“ sind, wie schon in der protestantischen Bibelhermeneutik von Flacius, Gegenstand und Grund der hermeneutischen Anstrengung, die Dannhauer allerdings unter die Bedingung ihrer prinzipiellen Verständlichkeit stellt. Dass sie exponibel sein müssen, heißt nämlich, dass sie eine „versteckte logische Form“191 besitzen, die exponiert, d. h. herausgearbeitet werden kann. Der Ausleger bzw. Interpret ist demnach ein „analyticus orationum omnium quatenus sunt obscurae, sed exponibiles, ad discernendum verum sensum a falso“192. Exponibel soll die Wahrheit einer Rede oder eines Textes sein, aber nicht die sachliche, mit welcher der Ausleger gar nicht befasst ist, sondern die hermeneutische, d. h. die korrekte Erfassung der Textaussage. Was er dabei zu beachten habe, ist inhaltlich nicht neu: neben grammatischen Kenntnissen, der Beachtung des Zusammenhangs der jeweils auszulegenden Sinneinheit des Textes und des Sprachgebrauchs des Autors vor allem dessen Absicht und Zielsetzung des Werkes; sie sei die „certissima clavis“ der Interpretation. Dagegen wird die Lehre vom mehrfachen Schriftsinn zurückgewiesen. Andere Sinnebenen als der „sensus literalis ab auctore intentus“ seien nur im Falle seiner Widersprüchlichkeit und Absurdität zu erwägen. 189 „Folglich ist die hermeneutische Wahrheit mit der historischen, dogmatischen und moralischen, oder die Richtigkeit der Auslegung mit der Richtigkeit der Erzählungen, Lehrsätze und Versicherungen nicht zu verwechseln; indem sie weder einerley, noch auch allezeit und nothwendig verbunden sind.“ (Baumgarten 1769, § 6.) 190 Dannhauer 1630, 29. 191 Jung 2001, 46. 192 Dannhauer 1630, 33.

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Schon bei Dannhauer zeichnet sich die enge Verknüpfung zwischen dem Universalisierungs- und dem Systematisierungsanspruch der philosophischen Hermeneutik ab. Ihre Universalisierung, das heißt der Aufweis eines allgemeinen, den Spezialhermeneutiken gemeinsamen Grundes erfolgreichen Interpretierens von Texten, führt zwangsläufig zu einer Loslösung von den traditionellen Autoritäten, die in den jeweiligen Disziplinen die Auslegung orientierten. Der Sache nach liegt in der Zuordnung der Hermeneutik zur Logik die im Einzelfalle der jeweiligen Hermeneutiken mehr oder minder aus- und nachdrücklich verfochtene Konsequenz, dass zum Beispiel der theologische Dogmatiker als solcher keineswegs kompetenter ist festzulegen, wie die Bibel zu interpretieren sei, als der Nichttheologe, weil die Grundlagen ihrer Auslegung keine genuin theologischen sind. So erklärt sich auch Dannhauers Mahnung, der Interpret müsse sich von Vorurteilen seiner Lehrer und der Textkommentare durch die anerkannten Autoritäten frei machen. Das hindert ihn weder, Spezialprobleme der Auslegung zu konzedieren, mit denen derjenige konfrontiert werde, der sich beispielsweise an die Auslegung der Heiligen Schrift macht, noch hält es ihn davon ab, die Grundsätze richtigen Auslegens aus der antiken und im Mittelalter überlieferten Tradition zu gewinnen. Denn die Pointe der Absage an die Geltung tradierter Auslegungsautoritäten ist nicht die abstrakte Negation überlieferter Zeugnisse regelgeleiteter Textdeutung, sondern das hermeneutische Projekt einer transdisziplinär zugänglichen Methodologie der Auslegung, das die rationale Systematisierung der sie bestimmenden media interpretandi verfolgt.193 Deren Frucht ist bei Dannhauer ein dreiteiliger Aufbau seiner hermeneutica generalis, die sich zunächst der Natur und den Bedingungen gelingenden Verstehens zuwendet, dann den Ursachen des Missverstehens und schließlich den Techniken zur Korrektur des Missverstehens. Aus dem Universalisierungs- und Systematisierungsanspruch der philosophischen Hermeneutik ergibt sich aber ein Problem: Die Auslegung soll ihre Verbindlichkeit nicht einer autoritativen Auslegungstradition verdanken, sondern der Ermittlung der Autorabsicht. Das ist nur deshalb möglich, und zwar idealerweise geradezu mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit,194 weil der Sinngehalt der auszulegenden Schriften durch die grundsätzliche Konventionalität der Begriffsverwendung, die logische Form der Sprache und deren wiederum logisch verbürgte Referenz auf eine Autor und Ausleger grundsätzlich gemeinsame Welt bestimmt wird, modern formuliert: weil der Gedankenausdruck durch vorgegebene Verbindlichkeiten der inten193 Vgl. zu der These von der Entstehung der Hermeneutik aus dem Anspruch der Methodisierung des Verstehens die grundlegende Studie Jaeger 1974, v. a. 50f. 194 Vgl. dazu Danneberg 1994.

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sionalen und extensionalen Begriffsverwendung vermittelt wird, von denen abzuweichen nur im Einzelfall möglich ist, will man nicht die vollständige Absurdität der Äußerung in Kauf nehmen. Dann aber hängen Gelingen und Misslingen der Auslegung von der Kompetenz und Bereitschaft des Autors ab, sich an die allgemeinen und intersubjektiv zugänglichen Strukturen der Sprachverwendung auch zu halten. Die Auslegung, will sie methodisch verfahren, muss so lange, bis das Gegenteil erwiesen ist, die Vernünftigkeit und Aufrichtigkeit des Autors unterstellen. Diese Unterstellung wird in der Entwicklung der vorromantischen philosophischen Hermeneutik immer mehr an Bedeutung gewinnen und schließlich in der Auslegungslehre von Georg Friedrich Meier den Status des grundlegenden Auslegungsprinzips annehmen. Auch Dannhauer ist sich ihrer Bedeutung schon bewusst. So setzt er voraus, dass der Autor die Sprache beherrsche und keine trügerischen Absichten hege. Die Bereitschaft zur vorurteilsfreien Auslegung und die Erwartung der Rationalität des Autors ergänzen einander.

3. Logik und Hermeneutik im Rationalismus der Aufklärung Unter den ersten Nachfolgern des dannhauerschen Programms einer Universalisierung und Systematisierung der Hermeneutik wird zumeist der Cartesianer Johannes Clauberg (1622–1665) genannt, der Gründungsrektor der Duisburger Universität, an der er Theologie und Philosophie unterrichtete. Wie Dannhauer so vertritt auch Clauberg in seiner Logica vetus et nova (1654) die Zuordnung der Hermeneutik zur Logik. Zwar würden sich Theologen mit der Auslegung der Heiligen Schrift, Juristen mit der Auslegung von Gesetzestexten befassen, aber es sei falsch, daraus zu folgern, die richtige Auslegungsmethode sei eher eine Sache der Disziplinen als der Logik. „Nam verum sensum investigandi regulae multae sunt, eademque utilissimae, Theologo, Jureconsulto et aliis omnibus communes. Ergo generaliter sunt tradendae […].“195 Zog Dannhauer die Analogie der Grammatik heran, um für die Allgemeinheit der Hermeneutik zu argumentieren, so verweist Clauberg auf die Rhetorik: Redner und Dichter fänden ihre Vorschriften schließlich auch in einer für beide verbindlichen Rhetorik. Die zentrale Aufgabe der Auslegung besteht Clauberg zufolge in der Untersuchung des wahren Sinnes dunkler Rede; ihr widmet er den dritten Teil seiner Logik. Der Anspruch einer Systematisierung der universal verstandenen Hermeneutik begegnet bei ihm in einer hierarchischen Strukturierung des Auslegungsverfahrens, das allgemeinste Auslegungsprinzipien vor spezielle Regeln stellt. 195 Clauberg 1968, 782.

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„Die allgemeinsten und höchsten Regeln der Interpretation sind: in Zweifelsfällen die gütigeren (benigniora) wählen; alle Auslegungsgründe berücksichtigen; mehrere Bedeutungen gelten lassen, wenn sie gleich wahrscheinlich sind; nicht ohne triftigen Grund verurteilen und nicht den geringfügigeren Irrtum durch eine überscharfe Zurückweisung ahnden.“196

Diesen formalen Anweisungen stehen inhaltliche gegenüber, die unter anderem mit dem Autor als „causa efficiens orationis suae“197 befasst sind. Sie betreffen die Kenntnis seiner Person, seiner Absicht und Gemütsverfassung, seines Stils und der historischen Umstände.198 Claubergs Erörterung der Auslegung des wahren Sinns dunkler Rede basiert auf der Einteilung seiner Logik in einen genetischen und einen analytischen Teil. Der genetische behandelt die sprachliche Formung der Gedanken, der analytische die Rückführung der sprachlichen Äußerungen anderer auf ihren gedachten Sinn sowie dessen Überprüfung auf seine sachliche Wahrheit. Die Anlage der Schrift betont die durch Sprache vermittelte Komplementarität von Selbstdenken und Auslegen fremder Gedanken, deren Feststellung bereits den Auftakt von Aristoteles’ Schrift Peri hermeneias bildete.199 Diese Komplementarität wird von Clauberg mit dem Gedanken kommentiert, wenn es nur einen einzigen Menschen gäbe, der sich folglich niemandem mitteilen könne, so würde sich die Zweiteilung seiner Logik erübrigen, weil sie sich dann nur noch mit der richtigen Bildung von Gedanken, aber nicht mehr mit deren richtigem Nachvollzug zu befassen hätte. Die Komplementarität der Kunst des sprachlichen Gedankenausdrucks und derjenigen der Auslegung der ausgedrückten Gedanken ist also ein Spezifikum der – modern ausgedrückt – gemeinschaftlichen Lebensform des Menschen. Sie weist, wie Wolfgang Hübener betont hat, auf Schleiermachers Diktum voraus, dass „jeder Akt des Verstehens die Umkehrung eines Aktes des Redens ist“200; dies „hätte auch Clauberg sagen können“201. Die Komplementarität von genetischer und analytischer Hermeneutik legt nun auch die Komplementarität des Anspruchs einer möglichst kompetenten Auslegung und der Unterstellung eines möglichst kompetenten Autors nahe. Tatsächlich gründet Clauberg wie vor ihm Dannhauer die Auslegung in der Annahme, dass der Autor kundig ist und seinen Ausleger nicht täuschen will.202 Was aber, wenn der Sinn der Rede zweifelhaft bleibt? 196 197 198 199 200 201 202

Ebd., 862; dt. Übers.: Scholz 2001a, 41f. Clauberg 1968, 846. Vgl. Sdzuj 1997, 99. Vgl. o. Kap. I.1 sowie die Einleitung zu Kap. III. Schleiermacher 1977, 77. Hübener 1985, 573. Vgl. Clauberg 1968, 853.

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Dann sei gemäß den Gesetzen der Menschlichkeit, der Rechtsklugheit und der christlichen caritas derjenige Sinn vorzuziehen, der keinerlei Absurdität beinhaltet, und derjenige nachzustellen, der für den Autor weniger ehrenvoll (honorificus) ist.203 Die benignitas der Auslegung, dem Autor Kundigkeit und Aufrichtigkeit zu unterstellen, hat bereits bei Clauberg den Status „allgemeinster und höchster Interpretationsregeln“. Sie wird in den philosophischen Hermeneutiken, die auf ihn folgen, eine immer größere Rolle spielen. Der Hallenser Jurist und Philosoph Christian Thomasius (1655–1728) bemüht sich in seiner deutschsprachigen Logik Ausübung der Vernunftlehre (1691) – zugleich der ersten deutschsprachigen Publikation, die sich der philosophischen Hermeneutik widmet – um eine systematisierende Reduktion der Auslegungsregeln auf fünf Grundprinzipien. „Die Auslegung (interpretatio)“, so Thomasius’ Definition, „ist hier nichts anderes als eine deutliche und in wahrscheinlichen Muthmassungen gegründete Erklährung desjenigen, was ein anderer in seinen Schrifften hat verstehen wollen, und welches zu verstehen etwas schwer oder dunckel ist.“204 Um bloß wahrscheinliche „Muthmassungen“ handle es sich deshalb, weil – „gleichwie in andern Dingen die Muthmassungen aus vielfältigen und fast unzehligen Umbständen pflegen hergenommen zu werden“ – die jederzeit mögliche Veränderung der Umstände für die Interpretation in Betracht gezogen werden müsse.205 Die fünf Grundregeln sind daher wichtig, um eine Rede oder Schrift überhaupt interpretieren zu können. So habe man sich erstens mit den persönlichen Umständen des Autors vertraut zu machen und zweitens die Zielsetzung des Textes zu berücksichtigen. Nun folgen drei weitere Auslegungsprinzipien, die im weitesten Sinne als Rationalitätsunterstellung zu verstehen sind und in die Entwicklungsgeschichte des Prinzips der hermeneutischen Billigkeit gehören. Als dritte Grundregel wird angegeben: „Betrachte das vorhergehende und nachfolgende, oder was ein Autor anderswo geschrieben mit Fleiß, so wirstu seine Meinung desto besser verstehen. Denn man muthmasset nicht unbillig, daß ein Autor dasjenige, von dem er einmahl zu reden angefangen, allezeit in seinen folgenden Reden für Augen habe, und selbiges also stillschweigend auch in denen folgenden Reden darunter müsse begriffen werden. So muthmasset man auch nicht leichte, daß ein Autor seiner vorigen Meinung werde widersprechen und sich contradicieren.“206

203 204 205 206

Ebd., 862. Thomasius 1998, 163f. Vgl. ebd., 174ff., 180f. (Zitat ebd., 180 [Hervorhebung ebd.]). Vgl. Cataldi Madonna 1989. Thomasius 1998, 184f. (dort teilw. hervorgehoben).

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Während die Forderung der Berücksichtigung des Zusammenhangs und der Parallelstellen für sich genommen nicht neu ist, geht Thomasius mit seiner Begründung über das Gewohnte hinaus. Die Aufforderung zur Kontextualisierung wird nämlich in der Unterstellung fundiert, die Äußerungen des Autors seien kohärent und konsistent. Die vierte Regel lautet: „Unter zweyen Verstanden und Auslegungen einer Schrifft ist allezeit diejenige der andern vorzuziehen, die mit der gesunden Vernunfft überein kömmt, und daraus in dem Menschlichen Thun und Lassen eine Würckung entstehet, wenn die andere unvernünfftig wäre, oder wenn dadurch das negotium, das gehandelt wird, keine Würckung erlangete.“207

Fünftens „muß man derjenigen Auslegung folgen, die mit denen Grund-Regeln, die ein Autor in seinen Schriften gegeben hat, oder mit der Ursache, warum er ein Gesetze gegeben hat oder mit andern einen Contract geschlossen oder sonst etwas gethan hat, übereinkömmt“, der zufolge also das Handeln des Autors begründet erscheint. „Denn die gesunde Vernunfft erfordert, daß die conclusiones mit denen Grund-Regeln verknüpfft seyn, und wer in seinem Thun und Lassen die Mittel nicht erkieset, die sich zu seinem Vorhaben schicken, der wird nicht für klug gehalten.“208 Die vierte und fünfte Grundregel laufen also auf die Unterstellung geeigneter Mittel für begründete Zwecke hinaus. Thomasius differenziert die Rationalitätsunterstellung, die jede Auslegung voraussetzen muss, in Mutmaßungen über die Konsistenz-, Kohärenz- und Zweckrationalität des Autors. In der Tradition von Thomasius wird Christian August Crusius (1715–1775) in dem Kapitel „Von der Auslegung oder Interpretation“ im II. Teil seiner Schrift Weg zur Gewissheit und Zuverlässigkeit der menschlichen Erkenntnis (1747) die Rationalitätsunterstellung unter dem Begriff der hermeneutischen Präsumtionen weiter differenzieren. „Ein allgemeiner wahrscheinlicher Satz“, so Crusius, „aus welchem sich andere subsumieren lassen, wird eine Präsumtion genennet.“209 Aus den allgemeinen, „logikalischen“ Präsumtionen lassen sich die „specialern“ ableiten, wenn Erstere „auf allerhand Materien“ angewendet werden. An der Spitze stehen vier „allgemeinste Präsumtionen der hermeneutischen Wahrscheinlichkeit“. Neben die Konsistenz- und Zweckrationalitätspräsumtion treten die Präsumtion der Deutlichkeit und der Verständlichkeitsabsicht, um derentwillen Deutlichkeit angestrebt wird, sowie die 207 Ebd., 188. 208 Ebd., 191. 209 Crusius 1965, § 397.

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Präsumtion der Zustandsgemäßheit der Autorrede. Vor allem der Unterstellung einer Verständlichkeitsabsicht ist attestiert worden, eine hermeneutische Einsicht von großer Tragweite zu sein, die in der Gegenwart eine wichtige Rolle spielt: „Verstehen und Verständigung beruhen auf wechselseitigen Unterstellungen, die höherstufige propositionale Einstellungen involvieren.“210 Die Fragen, um welche Einstellungen es sich dabei handelt und wie sie aufeinander bezogen sind, zählen zu den zentralen Themen der modernen analytischen Rationalitäts- und Verstehenstheorien. Wenn das Ziel der Auslegung die Ermittlung dessen ist, „was ein anderer in seinen Schriften hat verstehen wollen“ (Thomasius), und dieses Ziel nur mit der unterschiedlich sicheren Wahrscheinlichkeit erreicht werden kann, dass die Relation zwischen sprachlichem Zeichen und Begriff der Vernunft entspricht, dann erfasst die Auslegung auch nicht mehr als die hermeneutische Wahrheit. Folgerichtig erklärt Thomasius – wie vor ihm sinngemäß bereits Dannhauer –, man sei bei der Auslegung „nicht so wohl besorgt, die Wahrheit von eines andern seiner Meinung, als nur die Meinung an und vor sich selbst zu erklähren, sie mag nun wahr seyn oder nicht“211. Das Auslegungsziel der Ermittlung dessen, „was ein anderer in seinen Schriften hat verstehen wollen“, bedeutet in Verbindung mit dem Status der möglichen Erkenntnis als einer probabilitas hermeneutica einen weiteren Schub der Entautorisierung des Überlieferungsbestandes. „Lege den Zaum und den Lauffwagen beyseite“, rät Thomasius daher den Lesern seiner Einleitung zur Vernunftlehre, „das ist: verlasse dich auff die Hülffe anderer Leute nicht mehr und lege einmahl die Bücher aus welchen du bißher gewohnet gewesen neue Wahrheiten zusammeln beyseit.“212 Mit den neuen Wahrheiten ist hier allerdings gerade nicht die hermeneutische Wahrheit gemeint, auf deren Erkenntnis sich das Studium der Überlieferung beschränkt. Auf welchen Rationalitätsunterstellungen die hermeneutischen Anweisungen basieren, welche Rolle die Rationalitätsunterstellungen für die Sicherung der Wahrscheinlichkeit (und der unterschiedlichen Grade der Wahrscheinlichkeit) einer Auslegung spielen, ferner ob und wie die Wahrscheinlichkeit mit der Gewissheit der Auslegung vereinbar ist, sind Fragen, die fortan den hermeneutischen Diskurs der Aufklärung charakterisieren.213 Auch in der Hermeneutik des Hallenser Philosophen und Univer210 Scholz 2001a, 50. Scholz hat sich eingehend mit den systematischen Konsequenzen dieser hermeneutischen Einsicht in den modernen Verstehenstheorien befasst. 211 Thomasius 1998, 165. 212 Chr. Thomasius, Einleitung zur Vernunftlehre (1691/1997), 275, zitiert nach Spahn 2009, 136 (Hervorhebung ebd.). 213 Vgl. Danneberg 1994. Vgl. zum Feld der aufklärerischen Hermeneutikforschung auch Scholz’ Untersuchung zu den Hermeneutikartikeln in zeitgenössischen Nachschlagewerken: Scholz 1994.

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salgelehrten Christian Wolff (1679–1754) spielt dieser Fragenkreis eine wichtige Rolle. Sie ist, wie bei seinen rationalistischen Vorgängern, fester Bestandteil der Logik. Wolff reserviert den Begriff des Wissens für die demonstrierbare Erkenntnis. Historische Erkenntnis, weil nicht demonstrierbar, ist daher nur mehr oder minder wahrscheinlich. Daraus ergibt sich für ihn die Notwendigkeit der methodisch gesicherten Glaubwürdigkeitsprüfung des Überlieferten. Dazu sei erforderlich, „1) daß wir den Urheber recht verstehen, 2) daß wir die vorgetragenen Sachen wohl fassen“214, wie Wolff in seiner deutschsprachigen Logik Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkenntnis der Wahrheit (1713) notiert. Ähnlich wie Thomasius definiert auch Wolff das Auslegen (interpretari) als Schlussfolgerung von Worten oder anderen Zeichen auf die Gedanken, die der Autor durch sie zu verstehen hat geben wollen.215 Wolff räumt also bereits ein, dass der Gegenstandsbereich der Hermeneutik nicht auf menschliche Rede und Schrift beschränkt sein muss. Von diesen gilt nun aber: „Wenn also zwey Personen mit einander reden, und einer den andern verstehen soll; so wird erfordert, 1. daß der, so da redet, bey einem jeden Worte sich etwas gedencken könne; 2. daß der, so ihn reden höret, eben dasjenige sich bey einem jeden Worte gedencken kann, was der andere dencket.“216

Das Ziel ist die Erkenntnis dessen, „was einer wahrscheinlicher Weise gedacht hat“217, nicht, ob das Gedachte den Tatsachen entspricht oder nicht. Dazu wird vorausgesetzt, dass der Autor sich „mit Urteil“ äußert. Das ist dann nicht der Fall, wenn er Worte verknüpft, deren Sinnzusammenhang unerklärlich ist oder deren Begriffsinhalt sich widerspricht. „Mit Urteil geschrieben zu sein wird […] zur Bedingung der Möglichkeit des Verstehens eines Textes.“218 Die Beschränkung der Auslegung auf das Ziel, die hermeneutische Wahrheit zu erkennen, bewegt Thomasius in Verbindung mit der gängigen Überzeugung, jeder habe einen privilegierten Zugang zu seinen eigenen Gedanken, zu der Auffassung, dass „jeder […] seiner Worte bester Ausleger“219 ist und folglich die authentische Auslegung, die Erläuterung der fraglichen Rede oder Schrift durch ihren Autor, Vorrang vor der doktrinalen Auslegung, das heißt ihrer Deutung durch Dritte, besitzt. Chris214 215 216 217 218 219

Wolff 1978, Kap. XI, § 1. Vgl. Wolff 1980, § 794. Wolff 1978, Kap. II, § 1f. Wolff 1980, § 810. Cataldi Madonna 1994, 40. Thomasius 1998, 165.

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tian Wolff räumt dagegen ein, dass auch der umgekehrte Fall möglich ist. Sein Argument basiert der Sache nach auf der Unterscheidung zwischen Umfang und Inhalt des Begriffs, der durch ein von dem Autor verwendetes Wort bezeichnet wird. Denn es sei möglich, dass sich beide, Ausleger und Autor, sprachlich auf dieselbe Sache beziehen, der Autor davon aber nur eine undeutliche, das heißt intensional undifferenzierte Vorstellung besitze, der Ausleger dagegen über den deutlicheren Begriff verfüge.220 Mit Wolffs Abweichung von der gängigen Auffassung vom Vorrang der authentischen vor der doktrinalen Auslegung beginnt der lang anhaltende Diskurs über das Besserverstehen.221 Wolffs Orientierung der Auslegung an der hermeneutischen Wahrheit bestätigt das Potenzial einer traditionskritischen Egalisierung der Überlieferung. Denn die Beschränkung auf die hermeneutische Wahrheit betrifft die gesamte historische Überlieferung. Wolff unterscheidet zwischen historischen und dogmatischen Büchern, von denen die historischen sich mit einzelnen Sachverhalten befassen, die dogmatischen mit allgemeinen. Dieser Unterscheidung werden alle Schriften, gleich welchen Ansehens, unterworfen. So entfällt mithin auch die Trennung zwischen hermeneutica sacra und hermeneutica profana: „Es können aber auch die in der Schrift vorgetragenen Lehren [gemeint ist die Heilige Schrift; M.S.] in eben die Classen der Wahrheiten vertheilet werden, in welche die weltlichen sich zertheilen.“222 Die Universität von Halle an der Saale, an der Thomasius und Wolff lehrten, entwickelt sich im 18. Jahrhundert zu einem Zentrum der deutschen Aufklärung, in dem es zu fruchtbaren Wechselwirkungen zwischen der philosophischen und der theologischen Hermeneutik kommt.223 Die Charakteristika der philosophischen Hermeneutik werden auch für die Auslegung der Bibel verbindlich, die Vorrangstellung allgemeiner Auslegungsregeln, die den Unterschied zwischen der hermeneutica sacra und der hemeneutica profana einebnen, vor speziellen, disziplinär gebundenen Regeln anerkannt. Grundsätze der systematischen Anordnung und Begründung der Auslegungsregeln in einem idealiter einheitlichen Zusammenhang, der Ausdifferenzierung von Rationalitätsunterstellungen, die für die Regelanwendung konstitutiv sein sollen, ferner der Orientierung an der mens auctoris und der Beschränkung auf die hermeneutische Wahrheit, vor allem die Warnung vor der Verwechslung der Richtigkeit mit der Fruchtbarkeit der Auslegung, schließlich die Forderung der Rechenschaftsgabe des sensus mysticus der Heiligen Schrift gegenüber dem sensus literalis und die Mahnung 220 221 222 223

Vgl. Wolff 1983, § 929. Vgl. Danneberg 2003. Wolff 1978, Kap. XII, § 8. Vgl. Kap. IV.2.1.1 des Beitrags „Bibel“ in diesem Band.

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zur Hinterfragung der dogmatischen Schriftauslegung werden von den führenden Hallenser Theologen Siegmund Jacob Baumgarten (1706–1757) und Johann Salomo Semler (1725–1791) grundsätzlich, jeweils mit unterschiedlicher Gewichtung und Konsequenz, formuliert und exegetisch angewendet. „Baumgartens Hermeneutik kann als Versuch gesehen werden, wolffianische Ideen in der von den Pietisten verwendeten Terminologie umzuformulieren und so in Halle akzeptabel zu machen.“224 Semler wird attestiert, die Hermeneutik „zu einer durch und durch historischen Disziplin umgebaut“ zu haben: „Hermeneutik ist mehr als eine bloße Kunstlehre des historischen Verstehens. Ihr obliegt auch die historische Darstellung der Genese des Verstehensobjekts und des Gangs der Auslegungsgeschichte. Den Einsatzpunkt bilden Textgeschichte und Textkritik, die beide eine ungeheure Aufwertung erfahren.“225 Dabei wird von Semler bereits der Sache nach der Horizontcharakter aller sprachlichen Gedankenbildung erkannt, der folglich auch von der Auslegung berücksichtigt werden müsse: „[D]ie sogenannten historischen Umstände einer jeden Schrift gehören […] zu dem eigentlichen völligen Grunde der richtigen Auslegung derselben. Da diese historischen Umstände sowohl des Verfassers als auch seiner nächsten Leser, für welche er schreibt, die wirkliche Veranlassung und Absicht seiner Schrift ausmachen, so sind sie nicht allemal, ja nur selten, nach besonderen Beschreibungen und Anzeigen in seiner Schrift befindlich oder völlig und ganz ausführlich bestimmt, sondern werden gemeiniglich ganz vorausgesetzt als ohnehin bekannt auf beiden Seiten.“226

Darin steckt bereits der in den Verstehenstheorien des 20. Jahrhunderts virulente Gedanke, dass Verstehensleistungen auf ein „tacit knowledge“ rekurrieren, das in den jeweiligen Verstehensakten niemals thematisch wird, sondern den Hintergrund der symbolischen Ausdrucksbildung abgibt. Rationalisierung und Historisierung der Bibelhermeneutik in der Aufklärung verbinden sich vor allem mit den Namen Baumgarten und Semler.

4. Die Entdeckung des Perspektivenpluralismus der sachlichen Wahrheit Die Orientierung der philosophischen Hermeneutik des 17. und 18. Jahrhunderts an der mens auctoris wird mit der Zeit immer feinkörniger, was die Berücksichtigung der 224 Bühler/Cataldi Madonna 1994a, 62. 225 Barth 2000, 86. 226 Semler, Geschichte der christlichen Glaubenslehren, in: Baumgarten, Untersuchung theologischer Streitigkeiten I (1772), 16, zitiert nach Hornig 1994, 199f., Anm. 23.

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zur Ermittlung der Autorabsicht maßgeblichen „historischen Umstände“ anbelangt. Dabei setzte sich die Auffassung durch, dass die hermeneutische Wahrheit auszulegender Reden und Texte streng von der sachlichen Wahrheit der in ihnen ausgedrückten Sachverhalte geschieden werden müsse. Johann Martin Chladenius (1710–1759) bringt in seiner Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften (1742), der ersten eigenständigen deutschsprachigen Publikation zur Hermeneutik (die also die Hermeneutik nicht als Teil der Logik abhandelt), die Erkenntnis hermeneutischer und sachlicher Wahrheit in ein produktives Wechselverhältnis. Sein innovativer Beitrag zur Hermeneutikgeschichte verdankt sich dem pädagogisch-didaktischen Anliegen des Chladenius. Er wollte Lehrern eine Hilfe an die Hand geben, Texte für ihre Schüler auszulegen – daher auch die Beschränkung des Gegenstandsbereichs seiner Auslegungslehre auf schriftsprachliche Zeugnisse – und eine hermeneutische Begründung dafür zu geben, dass diese in bestimmten Fällen durch den Nachvollzug der jeweiligen mens auctoris zugleich über die Welt belehrt würden. Auch Chladenius setzt der Auslegung das oberste Ziel, die Autorintention zu erkennen: Verstehen heißt, aus den Worten, die einer redet, „erkennen, was er gedacht hat“227. Gegenstand der Auslegekunst sind gemäß der Vorrede seiner Hermeneutik vor allem die notorischen „dunckeln Stellen“. Chladenius unterscheidet vier Ursachen möglicher Schriftdunkelheiten: editorisch bedingte Dunkelheiten, Dunkelheiten aufgrund fehlender Sprachkompetenz, Dunkelheiten, die aus Zweideutigkeiten im Text entstehen, und schließlich solche, die auf fehlenden Hintergrundkenntnissen beruhen, und nur die letzten umreißen den Aufgabenbereich der Hermeneutik: „Ein Gedancke, der durch die Worte bey dem Leser hervorgebracht werden soll, setzet offters schon andere Begriffe voraus, ohne welchen er nicht begreifflich ist: Daher, wenn der Leser dieselben Begriffe nicht schon hat, so können die Worte nicht die Wirckung bey ihn thun, noch die Begriffe veranlassen, welche bey einem andern Leser, der gehörig unterrichtet ist, gewiß erfolgen werden.“228

Die Auslegung sei daher nichts anderes, als dem Leser diejenigen Begriffe beizubringen, die nötig sind, um die Absicht des Autors zu verstehen. Dabei handelt es sich Chladenius zufolge um Begriffe des jeweiligen „Sehepunkts“, den der Autor einnimmt: „Diejenigen Umstände unserer Seele, Leibes und unserer ganzen Person, welche machen, oder Ursach[e] sind, dass wir uns eine Sache so, und nicht anders vorstellen, wollen wir den

227 Chladenius 1969, § 2. 228 Ebd., Vorrede.

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Sehe-Punckt nennen.“229 Um diese Begriffe zu erwerben, seien neben den Rückschlüssen, die man aus der Schriftgattung ziehen könne, auch Kenntnisse über die persönlichen Umstände des Autors von Nutzen. Der Sehepunkt spielt bei Chladenius nun eine wichtige Rolle bei der Vermittlung zwischen hermeneutischer und sachlicher Wahrheit. Chladenius unterscheidet in rationalistischer Manier zwischen Vernunft- und Tatsachenwahrheiten. Von den Tatsachenwahrheiten gilt, dass diese – im Unterschied zu den Vernunftwahrheiten – nicht durch einen „Blick von Nirgendwo“, das heißt unter völliger Absehung von den persönlichen Umständen des Erkennenden zugänglich sind. Diese Einsicht soll vor allem für das Studium der Geschichte fruchtbar sein, zu dessen Grundlegung Chladenius seine Allgemeine Geschichtswissenschaft (1752) verfasst hat.230 Der Kerngedanke lautet, dass es objektive geschichtliche Tatsachen gibt, diese aber nur aus einer Pluralität von Standpunkten erfasst werden: „Nun kann die Geschichte freilich nichts Widersprechendes in sich enthalten, allein sie kann den Zuschauern so verschieden vorgestellt werden, dass die Berichte davon etwas Widersprechendes in sich enthalten.“231 Die besagten Widersprüche können sich als Scheinwidersprüche herausstellen, wenn man die unterschiedlichen Sehepunkte der jeweiligen historischen Berichte berücksichtigt. Hans-Georg Gadamer hat zu Recht betont, die Leistung der Hermeneutik von Chladenius bestehe darin, „den metaphysischen Perspektivismus der Leibniz’schen Monadologie auf die Theorie des geschichtlichen Erkennens angewandt zu haben“232. Metaphysisch ist dieser Perspektivismus deshalb, weil er die Harmonie der verschiedenen Sehepunkte voraussetzt, die den Bedeutungszusammenhang einer objektiven Welt in verschiedenen subjektiven Brechungen widerspiegelt. Mit seinem metaphysischen Perspektivismus leibnizscher Provenienz hat Chladenius eine Position bezogen, „die zwischen radikalem Perspektivismus à la Nietzsche (‚Es gibt nur viele Interpretationen und keine Tatsachen‘) einerseits und radikalem Objektivismus (‚Es gibt nur Tatsachen und jeweils eine einzige wahre Darstellung von ihnen‘) die Mitte hält“233. Der Gedanke, dass die Pluralität der Perspektiven auf die historische Wirklichkeit einen harmonischen Zusammenhang bildet und eine Approximation an die Geschichte durch die sukzessive Integration möglichst vieler Sehepunkte erzielt werden kann, impliziert die Möglichkeit, dass der Ausleger, je nach dem Stand seines Wissens, sich 229 230 231 232 233

Ebd., § 309. Vgl. Kap. III.2.2 des Beitrags „Geschichte“ in diesem Band. Chladenius 1969, § 313. Gadamer 1976, 28. Jung 2001, 48.

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mehr oder weniger bei einer Schrift denkt, als von ihrem Autor beabsichtigt wurde. Denn gerade weil die Menschen von ihrem Sehepunkt aus nicht alles übersehen können, „so können ihre Worte, Reden und Schriften etwas bedeuten, was sie selbst nicht willens gewesen zu reden oder zu schreiben: und folglich kann man, indem man ihre Schrifften zu verstehen sucht, Dinge, und zwar mit Grund dabey gedencken, die deren Verfassern nicht in Sinn gekommen sind“234. Das Feingespür der richtigen Auslegung besteht mithin darin, den Sehepunkt des jeweiligen Autors in seiner zwangsläufigen Beschränktheit getreu zu erfassen und zugleich auf das Ganze hin, das darin in perspektivischer Abschattung durchscheint, zu transzendieren.

5. Die semiotische Wende der philosophischen Hermeneutik Auch der Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst (1757) des Hallenser Professors für Philosophie Georg Friedrich Meier (1718–1777), ein Vorlesungsleitfaden, der die skizzierten Entwicklungen der philosophischen Hermeneutik in konziser und systematisch durchdachter Formulierung bündelt, beerbt die Metaphysik von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716). Bereits die Einordnung der Auslegungskunst in eine allgemeine Charakteristik schließt an Leibniz’ Theorie einer characteristica universalis an, die dieser in seiner Dissertatio de arte combinatoria (1666) vorgestellt hatte und der zufolge die Welt ein Korpus von Zeichen ist, die in einem umfassenden, durch den göttlichen Urheber intendierten Zusammenhang stehen. Die allgemeine Charakteristik gliedert sich Meier zufolge in eine erfindende, der es darum geht, wie die Dinge bezeichnet werden sollen, und eine auslegende, die danach fragt, wie „die Bedeutungen aus ihren Zeichen können erkannt werden“235. Die Bedeutung des Zeichens ist laut Meiers Definition die durch das Zeichen bezeichnete Sache, das Zeichen also ein Mittel, „wodurch die Würklichkeit eines anderen Dinges erkannt werden kann“236. Zu den Relationen, die solche einer Zeichenbeziehung sind, zählt Meier UrsacheWirkungs-, Ähnlichkeits-, Mittel-Zweck- und Muster-Abbild-Relationen, und der in dieser Weise qualifizierte Zeichenzusammenhang umfasst alles vom Rauch, der Zeichen des Feuers ist, über den Körper des Tieres als Zeichen seiner Seele bis zu den Gedanken, laut Meier „Zeichen des Kopfs“237. Ferner klassifiziert Meier die Zeichen gemäß der temporalen Relation zwischen signum und signatum.238 Und er bettet sie 234 235 236 237 238

Chladenius 1969, § 156. Meier 1996a, § 1. Ebd., § 7. Ebd., § 76. Vgl. ebd., §§ 68–80. Unterschieden werden Erinnerungszeichen, die auf Vergangenes, vorbedeutende Zeichen, die auf Zukünftiges verweisen, und solche, die mit dem signatum gleichzeitig auftreten (wie beispielsweise

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in einen menschlichen Verwendungskontext ein: „Das Leben der natürlichen Zeichen (vita signorum naturalium) ist diejenige Vollkommenheit derselben, vermöge welcher sie etwas bedeuten, dessen Erkenntnis den Menschen brauchbar ist“239, sei es, um ihre Zwecke zu erreichen, sei es, um ihre Wohlfahrt oder Tugend zu befördern. Die Zeichenbeziehung ist eine dreistellige Relation zwischen dem Zeichen, dem Bezeichneten und dem Zeichenverwender, dem die Relation von signum und signatum von Nutzen ist. Die Kunst der Auslegung ist mithin eine Kunst, den größtmöglichen Nutzen aus der Zeichenbeziehung zu ziehen, der in ihr angelegt ist. Meier nennt sie die Wissenschaft von den Regeln, durch deren Beobachtung die Bedeutungen aus ihren Zeichen erkannt werden können, und sie betrifft im weiteren Sinn, was vormals das liber naturae genannt wurde: die Welt als Text natürlicher Zeichen, dagegen im engeren Sinn die vom Menschen willkürlich gesetzten Zeichen. Meiers Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst enthält zwei Hauptteile, deren erster die hauptsächliche Textmasse der Schrift ausmacht, während der zweite, ungleich kürzere, eher den Charakter eines Anhangs hat. Der Grund für diese Gewichtung liegt darin, dass der erste Teil sich unter dem Titel „Die theoretische Auslegungskunst“ den Grundsätzen der Auslegungskunst widmet, während der zweite, den Meier mit „Die praktische Auslegungskunst“ überschrieben hat, nur mehr mit der Anwendung der Theorie auf besondere Gegenstände befasst ist. In dem besagten ersten Teil des Versuchs entwickelt Meier im ersten Kapitel im Rahmen eines allgemeinen Begriffs der Auslegung die grundlegende Unterscheidung zwischen natürlichen und willkürlichen Zeichen, bevor er sich dann im zweiten Kapitel auf Fragen der Auslegung willkürlicher Zeichen beschränkt, und zwar auf solche der Auslegung von Reden und Schriften. Die Schrift folgt dem Strukturierungsprinzip des systematisch-deduktiven Übergangs vom Allgemeinen zum Besonderen, und das bedeutet eine Darstellung more geometrico, „die im Sinne des Wissenschaftsparadigmas von Wolff aus Definitionen und Axiomen in stringenter Paragraphenfolge Theoreme ableitet“240. „In dieser Welt ist“, so Meier unter Bezugnahme auf das Theorem der besten aller möglichen Welten in Leibniz’ Theodicee (1710) und den Begriff einer qualitativen Totalität, den Leibniz in der Monadologie (1720) entwickelt hatte, „weil sie die beste ist, der allergrößte, allgemeine bezeichnende Zusammenhang, der in einer Welt möglich ist. Folglich kann ein jedweder wirklicher Teil in dieser Welt ein unmittelbares oder mittelbares, entfernteres oder näheres natürliches Zeichen eines jedweden andern tierische und menschliche Ausdrucksgebärden) und von Meier „weisende Zeichen“ genannt werden (vgl. ebd., § 27). 239 Ebd., § 65. 240 Beetz 2000, 20.

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wirklichen Teils der Welt sein.“241 Jeder Teil ist also durch die Spezifik seiner Relationen, in denen er zu den anderen Teilen steht, ein partieller Repräsentant des Ganzen, Teil und Ganzes sind durch einen intrinsischen semiotischen Bedeutungszusammenhang vermittelt. Der Aufbau der Schrift, dem zufolge die Bestimmungen der Auslegung menschlicher Rede und Schrift in einer allgemeinen Zeichentheorie fundiert sind, spiegelt also die metaphysischen Grundannahmen Meiers wider. Die Auslegung menschlicher Reden und Schriften nimmt sich in diesem metaphysischen Setting als ein Derivat der Naturauslegung aus, das deren Grundsätzen folgt. Wie die meisten der skizzierten philosophischen Hermeneutiken orientiert sich auch diejenige von Meier an der mens auctoris und formuliert als Ziel der Auslegung die hermeneutische Wahrheit des Textes. Nun sei der Urheber der Zeichen, das heißt derjenige, der sich mit Absicht der Zeichen bedient, um etwas zu bezeichnen, das vermittels der Zeichen erkannt werden kann, „um so viel vollkommener, je besser die Zeichen sind, die er erwählt“242. Darum kann man ebenso von der Vollkommenheit der Zeichen auf diejenige ihres Urhebers wie von der Vollkommenheit des Urhebers auf diejenige der von ihm erwählten Zeichen schließen. Der Zeichenzusammenhang der Welt hat nun laut Meier seinerseits einen Urheber, nämlich Gott. Also ist das natürliche Zeichen „in Absicht auf Gott“ ebenfalls ein willkürliches Zeichen, von dem wir darüber hinaus wissen, dass es, da Gott sich seiner bedient, „eine Folge der weisesten Wahl und des besten Willens“243 sein muss. Daraus folgt für Meier der Grundsatz der hermeneutischen Billigkeit (aequitas hermeneutica) für die Auslegung der natürlichen Zeichen. Er definiert sie als „die Neigung eines Auslegers, diejenigen Bedeutungen für hermeneutisch wahr zu halten, welche mit den Vollkommenheiten des Urhebers der Zeichen am besten übereinstimmen, bis das Gegenteil erwiesen wird. Diese Billigkeit, wenn sie in Absicht auf GOtt beobachtet wird, kann die hermeneutische Ehrerbietigkeit gegen GOtt (reverentia erga deum hermeneutica) genannt werden.“244 Für die hermeneutische Ehrerbietigkeit erübrigt sich die Kautel „bis das Gegenteil erwiesen wird“ ebenso wie die Differenzierung zwischen hermeneutischer und sachlicher Wahrheit. Gott als Zeichenurheber steht für die Übereinstimmung von hermeneutischer und sachlicher Wahrheit, die wir begrifflich voraussetzen müssen, um überhaupt von Wahrheit sprechen zu können. Denn dass Autorabsichten verständlich sind, setzt grundsätzlich voraus, dass der Zeichenurheber sich mit geeigneten Mitteln auf eine ihm und dem Ausleger in Grundzügen gemeinsame Welt bezieht. Abweichung ist 241 242 243 244

Meier 1996a, § 35. Ebd., § 16. Ebd., § 38. Ebd., § 39 (Hervorhebung ebd.).

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daher nur im Einzelnen möglich, niemals in toto, soll ein Laut- oder Textgebilde überhaupt als Sprache identifiziert werden können. In Gott wird von Meier also als realisiert gedacht, was im Falle des Menschen immer den Charakter einer Unterstellung behalten wird: die Vollkommenheit der mens auctoris und seines Bezeichnungsvermögens. Korrespondiert der tatsächlichen Vollkommenheit Gottes die Ehrerbietung, so der den endlichen Zeichenurhebern unterstellten Rationalität die hermeneutische Billigkeit; sie ist die Conditio sine qua non jeder erfolgreichen Auslegung und „die Seele aller hermeneutischen Regeln“245. Obwohl die Fundierung des Billigkeitsprinzips in einer Metaphysik des vollkommenen Zeichenzusammenhangs es nahelegt, dass Meier sich der logischen Gründe für die Bedeutung der hermeneutischen Billigkeit bewusst gewesen ist, dass es sich dabei nämlich um eine notwendige Bedingung der Möglichkeit handelt, überhaupt etwas auslegen zu können, werden diese Gründe nicht explizit genannt. Ausdrücklich führt er – wie seine Vorgänger zur Begründung der hermeneutischen Rationalitätsunterstellungen auch – nur moralische Gründe an.246 Aber der Sache nach weisen seine Überlegungen auf logische Begründungsversuche des „principle of charity“ in den modernen analytischen Verstehenstheorien der Gegenwart voraus.247 Als Vollkommenheiten des menschlichen Zeichenurhebers nennt Meier: „1) die Fruchtbarkeit seines Kopfes […]; 2) die Größe seines Gemüts […]; 3) die Wahrhaftigkeit desselben […]; 4) die Verständlichkeit desselben […]; 5) die Gründlichkeit desselben […], und 6) diejenige Vollkommenheit desselben, vermöge welcher die Zeichen, deren er sich bedient, praktisch sind […]. Ein Ausleger also, welcher willkürliche Zeichen auslegen will, muss solche Bedeutungen annehmen, welche mit der Fruchtbarkeit, Größe, Wahrhaftigkeit des Auslegers u.s.w. am besten übereinstimmen, bis das Gegentheil erhellet […].“248

Weil die Rationalitätsunterstellung immer im Einzelnen falsifiziert werden kann, gilt für die Hermeneutik der willkürlichen (menschlichen) Zeichen ihre Beschränkung auf die hermeneutische Wahrheit.249 Und weil der menschliche Zeichenurheber ein 245 Ebd., § 238. 246 Vgl. ebd., §§ 89, 91. Immerhin betont Meier, nicht klüglich gewählte Zeichen hätten keine (oder eine schlechte) Bedeutung (§ 84) und könnten mithin nicht Gegenstand einer Auslegung sein (§ 85). 247 Vgl. zum Zusammenhang von philosophischer Aufklärungshermeneutik und analytischer Verstehenstheorie Scholz 2001a; ferner: Bühler/Cataldi Madonna 1996, LXXVII–LXXXVIII. 248 Meier 1996a, § 96 (Hervorhebungen ebd.). 249 „Da nun ein endlicher Autor betrügen und betrogen werden kann: so kann man von der hermeneutischen Wahrheit eines Sinnes nicht auf seine logische, metaphysische oder moralische Wahrheit allemal schließen; und ebensowenig umgekehrt.“ (Ebd., § 118.) Vgl. ebd., § 126.

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endlicher ist, der nicht die Allmacht, Allweisheit und Allgüte Gottes besitzt, droht der faktischen Ausübung des Prinzips hermeneutischer Billigkeit immer auch die Gefahr der Scheinbilligkeit. Sie liegt dann vor, „wenn man nicht einmal mit Wahrscheinlichkeit eine Bedeutung für hermeneutisch wahr hält, bloß deswegen, weil sie gut ist“250. Unbillig ist dagegen derjenige Ausleger, der „ohne überwiegende Beweisgründe eine Bedeutung für hermeneutisch wahr hält, welche ein Beweis der Unvollkommenheiten des Urhebers der Zeichen ist“251. Um Schein- und Unbilligkeit zu vermeiden, muss der Ausleger also den Anspruch der Billigkeit mit der Kenntnis der Umstände des Autors verbinden – das auch von früheren Hermeneutikern für wichtig befundene Wissen über die Hintergründe von Rede und Schrift wird auch von Meier berücksichtigt. Den Sinn der Rede gründet Meier in der hermeneutisch maßgeblichen, weil aufgrund von Sprachkonventionen methodisch kontrollierbaren buchstäblichen Wortbedeutung (sensus litterae), und fächert sie dann in den eigentlichen (sensus proprius) und uneigentlichen (also allegorischen, ironischen usw.), den unmittelbaren (sensus literalis) und mittelbaren (das heißt entfernteren) Sinn auf. Dabei gilt, dass die Auslegung, solange nur ohne Widerspruch und Ungereimtheiten möglich, den eigentlichen dem vermeintlichen uneigentlichen, den unmittelbaren dem vermeintlichen mittelbaren Sinn vorzuziehen habe.252 Diese Unterscheidungen sind der Sache nach keine Novitäten, aber bemerkenswert ist, dass Meier zufolge der Sinn der Rede durch parasprachliche Zeichen wie „die Handgebärden, die Bewegungen der Augen, die Mienen, die Gebärden und Stellungen des Körpers und die Abänderungen der Stimme“253 mit ausgedrückt wird.254 Meier fasst den sprachlichen Ausdruck von Gedanken also als eine verkörperte, expressive Handlung auf.255 Durch die Erweiterung der Ausdrucksdimensionen menschlicher Rede zeichnet sich daher die Herauslösung der Hermeneutik aus dem logischen Organon ab, dem sie im 17. Jahrhundert seit Dannhauer 250 251 252 253 254

Ebd., § 90. Ebd., § 91. Vgl. ebd., §§ 114–117. Ebd., § 133. Daraus folgt dann auch, dass die Auslegung von Texten schwieriger ist als die der mündlichen Rede (vgl. ebd.). 255 So fordert Meier „eine Wissenschaft der Zeichen unserer Leidenschaften. Zu diesen Zeichen der Gemüthsbewegungen gehören die Veränderungen des Körpers, als da sind die Veränderung der Farbe des Gesichts, und der Minen desselben, nebst tausend ausserordentlichen Bewegungen in dem Körper. Es müssen ferner dahin die Worte gerechnet werden, die Figuren der Rede und die Veränderungen der Stimme, in so fern die Leidenschaften dadurch bezeichnet werden. Man kan sagen, daß eine jede Leidenschaft ihre besondere Sprache habe. […] Alle Glieder sind die Werckzeuge dieser Sprache […].“ (G. Fr. Meier, Theoretische Lehre von den Gemütsbewegungen überhaupt [1744/1971], 9, zitiert nach Beetz 2000, 28.)

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zugeordnet worden war. So wird eine Hermeneutik der darstellenden Kunst und des Theaters möglich.256 Obwohl Meier der authentischen Auslegung Vorrang vor der Auslegung durch Dritte einräumt, mag es mit seiner Sensibilität für die sinnlich-expressiven Dimensionen der Gedankenbildung zusammenhängen, dass er wie Wolff vor ihm die Möglichkeit einräumt, ein Autor möge durch seinen Ausleger in gewisser Weise besser verstanden werden, als er sich selbst verstanden hat. Denn der Nachvollzug der mens auctoris impliziert laut Meier nicht, „dass der Ausleger dasjenige, was der Autor gedacht hat, auch ebenso denke, wie es von dem Autor gedacht worden […]. Folglich kann der Ausleger eine weitläufigere, größere, richtigere, klarere, gewissere und praktischere Erkenntnis des Sinnes haben als der Autor, und umgekehrt.“257 Das ist wohl so zu verstehen, dass die andere Art und Weise, in welcher der Ausleger den Sinn der Autorrede erkennt, gleichwohl im Sinne des Autors ist, das heißt von ihm als Erkenntnis des von ihm Gemeinten anerkannt werden kann.

6. Vergessen und Erinnern der vorromantischen philosophischen Hermeneutik Die romantische und nachromantische philosophische Hermeneutik unterscheiden sich darin grundlegend von der skizzierten Hermeneutikentwicklung des 16.–18. Jahrhunderts, dass sie sich bevorzugt mit der Individualisierung (Schleiermacher), Anthropologisierung (Dilthey) und Existenzialisierung (Heidegger, Gadamer) hermeneutischer Vollzüge befassen. So wurde die in der Aufklärungshermeneutik beherrschende Orientierung an der mens auctoris und den Rationalitätsunterstellungen ihrer wahrscheinlichen Auslegung von den neuen Entwicklungen und Fragestellungen verdrängt. Im 19. Jahrhundert gerieten die vorromantischen philosophischen Anstrengungen um eine wissenschaftlich-rationale Begründung der Hermeneutik in Vergessenheit oder wurden vielleicht auch wissenschaftspolitisch der Vergessenheit überantwortet. Die großen Vertreter der philosophischen Hermeneutik, von Schleiermacher über Dilthey bis zu Heidegger und Gadamer, hatten für sie keinen Sinn. Schleiermachers Diktum, „[d]ie Hermeneutik als Kunst des Verstehens existiert noch nicht allgemein, sondern nur mehrere spezielle Hermeneutiken“258, ist jedenfalls nicht nur falsch, sondern auch unverständlich, wenn man berücksichtigt, dass er sich in einer Vielzahl von Nachschlagewerken der damaligen Zeit vom Gegenteil hätte überzeugen können, wie Oliver Scholz nach-

256 Vgl. ebd., 27. 257 Meier 1996a, § 129. 258 Schleiermacher 1977, 75 (Hervorhebungen ebd.).

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gewiesen hat.259 Diltheys Bemühung in seiner wirkungsgeschichtlich überaus einflussreichen Schrift Die Entstehung der Hermeneutik (1900), einen gesetzmäßigen Gang der Hermeneutikgeschichte nachzuweisen, mag zu der Marginalisierung der Aufklärungshermeneutik beigetragen haben, weil diese ja gerade nicht mit grundlegenden hermeneutischen Tendenzen der protestantischen Schriftkultur – für Dilthey die Wiege der Hermeneutik – und später der romantischen Hermeneutik in einen kontinuierlichen Zusammenhang gebracht werden kann. Durch die Dominanz von Ansätzen diltheyscher und gadamerscher Provenienz blieben die philosophischen Hermeneutiker des 17. und frühen 18. Jahrhunderts auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts trotz vieler Nachdrucke relevanter Texte in den 1960er-Jahren lange Zeit von der Hermeneutikforschung wenig beachtet. Diese Situation hat sich spätestens seit den 1990er-Jahren geändert, und zwar wohl auch durch die erneute Aktualität, die zentrale Aspekte der Aufklärungshermeneutik durch ihre sachliche Nähe zu Theoremen moderner sprachanalytischer Verstehenstheorien gewonnen haben.

IV. Neuzeit und Gegenwart (19.–21. Jahrhundert) Im antiken Sprachgebrauch stand das Verb hermeneuein nur abgeleitet für eine Technik oder Methode des Verstehens/Interpretierens von bereits geäußerter Rede, primär aber für den Prozess des Aussagens, allgemeiner des Ausdrückens von etwas überhaupt.260 Von dieser Doppeldeutigkeit wurde schon die Wirkungsgeschichte der aristotelischen Schrift Peri hermeneias erheblich geprägt. Ist eine Kultur wesentlich durch den Bezug auf vorgegebene, autoritative Texte geprägt, dann dominiert die speziellere Bedeutung, fällt hingegen ein stärkerer Akzent auf die Individuen und ihre Expressivität, dann rückt die weitere ins Zentrum. Es scheint sinnvoll, die beiden Aspekte des Begriffs terminologisch als primäres und sekundäres Verstehen zu fassen: Das primäre Verstehen vollzieht sich im praktischen Tun und im Übergang von vorsprachlichen, qualitativen Eindrücken zu symbolisch geformten Ausdrücken. Sekundär geht es, mit der Formel von August Boeckh, um die „Erkenntnis des Erkannten“261 – also um die Deutung bereits sinnhaft strukturierter Ausdrucksgestalten. Die Entwicklung der modernen philosophischen Hermeneutik lässt sich am besten von diesen beiden Polen her fassen. Sie ist von verschiedenen Syntheseversuchen (Dilthey, Gadamer) 259 Vgl. Scholz 1994. 260 Vgl. o. Kap. I. 261 Die genaue Formulierung lautet, in der Philologie gehe es um das „Erkennen des vom menschlichen Geist Producirten, d. h. des Erkannten“ (Boeckh 1877, 10).

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gewiesen hat.259 Diltheys Bemühung in seiner wirkungsgeschichtlich überaus einflussreichen Schrift Die Entstehung der Hermeneutik (1900), einen gesetzmäßigen Gang der Hermeneutikgeschichte nachzuweisen, mag zu der Marginalisierung der Aufklärungshermeneutik beigetragen haben, weil diese ja gerade nicht mit grundlegenden hermeneutischen Tendenzen der protestantischen Schriftkultur – für Dilthey die Wiege der Hermeneutik – und später der romantischen Hermeneutik in einen kontinuierlichen Zusammenhang gebracht werden kann. Durch die Dominanz von Ansätzen diltheyscher und gadamerscher Provenienz blieben die philosophischen Hermeneutiker des 17. und frühen 18. Jahrhunderts auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts trotz vieler Nachdrucke relevanter Texte in den 1960er-Jahren lange Zeit von der Hermeneutikforschung wenig beachtet. Diese Situation hat sich spätestens seit den 1990er-Jahren geändert, und zwar wohl auch durch die erneute Aktualität, die zentrale Aspekte der Aufklärungshermeneutik durch ihre sachliche Nähe zu Theoremen moderner sprachanalytischer Verstehenstheorien gewonnen haben.

IV. Neuzeit und Gegenwart (19.–21. Jahrhundert) Im antiken Sprachgebrauch stand das Verb hermeneuein nur abgeleitet für eine Technik oder Methode des Verstehens/Interpretierens von bereits geäußerter Rede, primär aber für den Prozess des Aussagens, allgemeiner des Ausdrückens von etwas überhaupt.260 Von dieser Doppeldeutigkeit wurde schon die Wirkungsgeschichte der aristotelischen Schrift Peri hermeneias erheblich geprägt. Ist eine Kultur wesentlich durch den Bezug auf vorgegebene, autoritative Texte geprägt, dann dominiert die speziellere Bedeutung, fällt hingegen ein stärkerer Akzent auf die Individuen und ihre Expressivität, dann rückt die weitere ins Zentrum. Es scheint sinnvoll, die beiden Aspekte des Begriffs terminologisch als primäres und sekundäres Verstehen zu fassen: Das primäre Verstehen vollzieht sich im praktischen Tun und im Übergang von vorsprachlichen, qualitativen Eindrücken zu symbolisch geformten Ausdrücken. Sekundär geht es, mit der Formel von August Boeckh, um die „Erkenntnis des Erkannten“261 – also um die Deutung bereits sinnhaft strukturierter Ausdrucksgestalten. Die Entwicklung der modernen philosophischen Hermeneutik lässt sich am besten von diesen beiden Polen her fassen. Sie ist von verschiedenen Syntheseversuchen (Dilthey, Gadamer) 259 Vgl. Scholz 1994. 260 Vgl. o. Kap. I. 261 Die genaue Formulierung lautet, in der Philologie gehe es um das „Erkennen des vom menschlichen Geist Producirten, d. h. des Erkannten“ (Boeckh 1877, 10).

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ebenso wie von radikalen Neuansätzen (Heidegger) geprägt, in denen sehr unterschiedliche Auffassungen von Geschichte und Kultur ihren Niederschlag finden. Geprägt sind all diese Ansätze vom Autoritätsverlust der biblischen Texte angesichts der Pluralisierung und Individualisierung von Erfahrung sowie des Siegeszugs der Naturwissenschaften. Unter dem Druck dieses Prozesses transformiert sich die philosophische Hermeneutik in sehr verschiedene Richtungen, die freilich eines gemein haben: den Universalitätsanspruch, mit dem sie radikalisierend auf den Autoritätsverlust der Tradition reagieren. Drei idealtypische Hauptformen lassen sich unterscheiden, in denen dieser Universalitätsanspruch erhoben und gerechtfertigt werden kann: erstens die Universalisierung des philologischen Weltverhältnisses, also die Erhebung des sekundären Verstehens zum primären. Dies ist der Weg Hans-Georg Gadamers in seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode. Zweitens die Universalisierung des primären Verstehens zum Fundament aller, auch der naturwissenschaftlichen Weltbeziehung des Menschen. Dies geschieht in Martin Heideggers Hauptwerk Sein und Zeit. Der dritte Weg schließlich besteht in einer Naturalisierung des Verstehens und führt von Wilhelm Dilthey262 über die pragmatistische Philosophie bis hin zu den hermeneutisch inspirierten kognitionswissenschaftlichen Ansätzen der Gegenwart. Sich auszudrücken wird hier als eine basale Eigenschaft aller Organismen betrachtet, die sich beim Menschen in artikulierter Rede äußert und in den Schöpfungen des „objektiven Geistes“ ihren Niederschlag findet, aber an den biologischen Lebensprozess immer rückgebunden bleibt. Neben der traditionalistischen, der fundamentalontologischen und der naturalistischen Variante finden sich zahlreiche Zwischenformen. Eine weitere interne Differenzierung legt sich schon von der Grundbedeutung des Verbs hermeneuein aus nahe: Wird das Aussagen nämlich im engeren Sinn als behauptende Rede verstanden, dann ergibt sich eine von der Aussagenlogik geprägte Linie der Hermeneutik, die von Aristoteles bis in die Gegenwartsphilosophie hineinreicht.263 Wird der hermeneutische Grundakt aber weniger vom Bezug auf außersprachliche Gegenstände als von individueller und kollektiver Expressivität her gedacht, rückt das Verständnis sozialer

262 In den Standarddarstellungen wird Dilthey häufig als Vertreter einer dualistischen Position behandelt, die das Verstehen dem Erklären dichotomisch entgegenstellt und den Geisteswissenschaften einen Bereich sichert, der gegen naturwissenschaftliche Ansätze gleichsam immun ist. Diese Deutung hat im Blick auf den späten Dilthey eine begrenzte Berechtigung, ist aber für den Dilthey der mittleren Phase schlicht falsch und insgesamt sehr einseitig. Für eine genauere Begründung dieser Einschätzung vgl. Jung 1996 sowie Jung 2008. 263 Repräsentativ hierfür: Scholz 2001a.

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Werte und Wirklichkeitsdeutungen ins Zentrum.264 Hat man diese interne Vielfalt im Blick, wird deutlich, dass eine teleologische Geschichte einer einzigen philosophischen Hermeneutik in der Moderne nicht geschrieben werden kann. Darzustellen sind die prägenden Positionen, wie sie sich seit Schleiermachers Neuansatz in Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Texten für kulturelle Identität, mit der Entdeckung des vorprädikativen Verstehens im Handeln, aber auch mit dem evolutionären Naturalisierungsdruck seit Darwin entwickelt haben.

1. Die romantische Hermeneutik der Individualität Schon in den Hermeneutiken der Aufklärungszeit universalisiert sich der Auslegungsbegriff. Georg Friedrich Meiers „allgemeine Auslegungskunst“265 stellt in dieser Hinsicht einen Höhepunkt dar, weil ihr Gegenstand zeichentheoretisch bestimmt wird, es also nicht nur um Texte, sondern um Zeichen überhaupt, mit Einschluss natürlicher Zeichen, geht. Demgegenüber stellt die wirkmächtigste Hermeneutik der Romantik, nämlich diejenige Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers (1768–1834), sogar einen Rückschritt dar, insofern sie sich auf die Rede beschränkt. Dennoch ist es gerechtfertigt, an Schleiermacher (zusammen mit den Philologen Friedrich Ast [1778–1841] und Friedrich Schlegel [1772–1829]) den Übergang zur modernen Hermeneutik festzumachen, wie sich das seit Wilhelm Diltheys Entstehung der Hermeneutik266 von 1900 eingebürgert hat. Systematisch entscheidend ist hierfür, dass die romantische Hermeneutik, im Unterschied zum ahistorischen Rationalismus etwa Meiers, die Geschichtlichkeit, Intersubjektivität und Individualität von Zeichengebilden ins Zentrum rückt. Damit verschiebt sich der Akzent von der richtigen Auslegung als Erschließung des ein für alle Mal feststehenden intentionalen Gegenstands der Rede auf das Verstehen als Rekonstruktion von wechselnden Ausdrucksgestalten. Diese sind wesentlich bestimmt durch die Weise, wie sie die historisch gewachsenen Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache mit der Entwicklung des individuellen Denkens verbinden, denn das „Reden ist die Vermittlung für die Gemeinschaftlichkeit des Denkens“267. Historizität und individuelle Kreativität bedingen sich in der romantischen Hermeneutik gegenseitig, an die Stelle einer selbstverständlich vorausgesetzten Konstanz der menschlichen Natur tritt die rekonstruktionsbedürftige Selbst- und Welterfahrung kultureller Lebensformen. 264 265 266 267

Hierfür repräsentativ sind die Schriften Charles Taylors (*1931). Vgl. bes. Taylor 1975. S. o. Kap. III.5. Vgl. Dilthey 1990, 326ff. Schleiermacher 1977, 76.

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Diese Tendenz verbindet sich aber mit dem philologischen Methodenpathos der Allgemeingültigkeit, mit dem eine Engführung auf Texte einhergeht – bei dem Theologen Schleiermacher steht das Neue Testament im Zentrum. Texte sind nämlich nicht, wie mündlicher Ausdruck, situativ gebunden, und es ist erst diese Engführung, die den Aufstieg der Hermeneutik zu der geisteswissenschaftlichen Methode möglich macht. Das geschieht in den Jahrzehnten um die Wende zum 20. Jahrhundert, nicht zuletzt in Reaktion auf den Rechtfertigungsdruck, den die immensen Erfolge der Naturwissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erzeugen. Gegen diese Vorrangstellung des sekundären Verstehens opponiert dann im 20. Jahrhundert Heidegger. Er bricht radikal mit der Rückbindung an die philologische Tradition (was sein Schüler Gadamer wieder rückgängig macht) und entwickelt eine „Hermeneutik der Faktizität“ kontingenter, individueller Erfahrung, die sich zwar von Schleiermacher absetzt und sich eher auf Luther und Kierkegaard beruft, ohne die romantische Entdeckung der Expressivität aber nicht denkbar gewesen wäre. Schleiermachers gewaltige Wirkung vollzieht sich auf der schmalen Basis von Nachschriften einer Reihe von Vorlesungen unter dem Titel Hermeneutik und Kritik sowie handschriftlichen Zusätzen, die Friedrich Lücke 1838 herausgegeben hat (Neuedition durch Manfred Frank 1977). („Kritik“ meint bei Schleiermacher Textkritik, also die philologische Frage nach der Echtheit bzw. dem Entstehungszusammenhang – vornehmlich biblischer – Texte, nicht etwa die geltungsorientierte Analyse des im Text Ausgedrückten.) Während nun die früheren Hermeneutiken auf der Unterscheidung klarer und dunkler Stellen basierten und nur für Letztere hermeneutische Verfahren vorsahen, geht Schleiermacher davon aus, dass „sich das Missverstehen von selbst ergibt und das Verstehen auf jedem Punkt muss gewollt und gesucht werden“268. Dabei betont er selbst, dass erst diese Einsicht den Übergang von den Spezialhermeneutiken zur allgemeinen Hermeneutik möglich mache. Schleiermacher verbindet hier eine Radikalisierung der philologischen Praxis mit einer philosophischen Tieferlegung des Verstehensprozesses. Beides wird verklammert durch die Einsicht in dessen rekonstruktiven Charakter. Alles Verstehen rekonstruiert eine bestimmte einmalige Situation, in der intersubjektiv verfügbare sprachliche Mittel „einen hervorbrechenden Lebensmoment“269 zum Ausdruck bringen. Individuelle Erfahrung und sprachliche Allgemeinheit verbinden sich im Ausdrucksakt, der als Knotenpunkt zweier Entwicklungsreihen verstanden werden muss: der Entwicklung von Sprache und kollektivem Wissen einer-, des erlebenden Selbst andererseits. Daraus ergibt 268 Ebd., 92. 269 Schleiermacher 1974, 131.

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sich dann Schleiermachers „positive[.] Formel“ für die Kunst des Verstehens: Diese ist das „geschichtliche und divinatorische (profetische) objektive und subjektive Nachkonstruieren der gegebenen Rede“270. Aus den Kombinationen zwischen den zwei genannten Polaritäten ergeben sich dann vier Dimensionen des Verstehensprozesses, deren Nichtbeachtung nach Schleiermacher unausweichlich zu Missverständnissen führt: „Objektiv geschichtlich heißt einsehen, wie sich die Rede in der Gesamtheit der Sprache und das in ihr eingeschlossene Wissen als ein Erzeugnis der Sprache verhält.“271 Der zu verstehende Text wird hier also als etwas betrachtet, das von der sprachlichen Lebensform des Verfassers ermöglicht und hervorgebracht wird. So wichtig diese Rolle der Vergangenheit ist, so wenig darf sie aber verabsolutiert werden, und deshalb geht es beim objektiv divinatorischen Verstehen zukunftsbezogen darum, wie die „Rede selbst ein Entwicklungspunkt für die Sprache“272 werden kann. Schleiermacher ist hier sehr nahe an dem Sprachforscher Wilhelm von Humboldt (1767–1835), der zwischen Sprache als Werk (ergon) und als Tätigkeit (energeia) unterschied und gleichzeitig betonte, dass Ersteres nur von Letzterem her gedacht werden kann.273 Im objektiv divinatorischen Verstehen soll sprachliche Kreativität sichtbar und damit ein Gegengewicht zu der Betonung der Tradition im objektiv geschichtlichen Verstehen geltend gemacht werden. Dieselbe Polarität von Prägung durch die Vergangenheit und Eröffnung eines neuen Möglichkeitshorizontes findet sich auch im Bewusstsein des/der Redenden. Dem subjektiv geschichtlichen Verstehen geht es demzufolge darum, die Rede als Ausdruck einer „Tatsache im Gemüt“274 – modern gesprochen: eines phänomenalen Erlebens – verständlich zu machen, wohingegen in der subjektiven Divination rekonstruiert wird, wie der Ausdrucksakt den Bewusstseinshorizont des entsprechenden Selbst verändert. Verstehen rekonstruiert also den Sinn der Rede, indem es diese als kreative Verbindung zwischen zwei zeitlichen Verlaufsformen erfasst, nämlich dem Strom der Überlieferung und dem des Bewusstseins. Sein Rekonstruktionscharakter ist also nicht im Sinne einer Einfühlung in mentale Zustände zu verstehen. Vielmehr geht es darum, den „ganzen inneren Verlauf der componirenden Thätigkeit des Schriftstellers auf das 270 271 272 273

Schleiermacher 1977, 93 (Hervorhebungen ebd.). Ebd., 94 (Hervorhebung ebd.). Ebd. Vgl. Humboldt 1998, 174: „Die Sprache, in ihrem wirklichen Wesen aufgefasst, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes. […] Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia). Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische sein: Sie ist nämlich die sich ständig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulierten Laut zu Ausdruck des Gedanken [sic!] fähig zu machen.“ 274 Schleiermacher 1977, 94.

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vollkommenste nachzubilden“275. Diese Rekonstruktionsarbeit verwandelt einen weithin unbewussten Schaffensprozess in eine explizite Darstellung der sprachlichen und psychischen Zusammenhänge, aus denen er hervorgegangen ist. Und genau deshalb kann Schleiermacher davon sprechen, es sei die Aufgabe der Hermeneutik, „die Rede zuerst ebenso gut und dann besser zu verstehen als ihr Urheber“276. Anders als der Redner/Schreiber ist der Interpret nicht unmittelbar mit dem qualitativen Erleben vertraut, von dem die Äußerung ausging, und muss dieses gerade deshalb explizit rekonstruieren. Soweit der hermeneutische Prozess also die unbewusste Erzeugungslogik der Äußerung sichtbar und uns bewusst machen kann, geht er tatsächlich über das intuitive Selbstverständnis des Autors hinaus. Zwei weitere fundamentale Aspekte von Schleiermachers Hermeneutik lassen sich von der gerade geschilderten Vierermatrix her gut verständlich machen: die Unterscheidung von grammatischer und psychologischer Auslegung sowie der Gedanke des hermeneutischen Zirkels. Erstere, für die Schleiermacher berühmt geworden ist, stellt im Grunde nur eine vereinfachte Variante der Vierermatrix dar, die deren objektive bzw. subjektive Komponenten bündelt: Die grammatische Interpretation versteht einen Text aus der Gesamtheit eines relativ umgrenzten Sprachgebrauchs (einer „Lebenswelt“ im Sinne Wittgensteins) heraus, die psychologische aus der Rekonstruktion der Verlaufsdynamik eines individuellen Bewusstseins. In beiden Fällen aber wird die Logik der Rekonstruktion von Teil-Ganzes-Beziehungen gesteuert. So formuliert Schleiermacher mit Blick auf die objektive Seite, also die grammatische Interpretation: „Der Sprachschatz und die Geschichte des Zeitalters eines Verfassers verhalten sich wie das Ganze, aus welchem seine Schriften als das Einzelne müssen verstanden werden, und jenes wieder aus ihm.“277 Und von der Einheit des Bewusstseins lässt sich ganz analog sagen, dass sie erst das Erleben verständlich macht, das die Ausdrucksbildung des Verfassers angeregt hat, umgekehrt aber dieses Erleben den Zusammenhang des Bewusstseins andauernd verändert und neu bestimmt. Für Schleiermacher ist die Einsicht in diese wechselseitige Implikation von Teil und Ganzem die Grundvoraussetzung einer wissenschaftlichen Hermeneutik. Berühmt geworden – und in aller Klarheit parallel zu Schleiermacher auch schon von Friedrich Ast beschrieben –278 ist sie unter dem Titel des hermeneutischen Zirkels: Verstehen kommt nicht umhin, immer mit der probeweisen Vorwegnahme eines „Totalblick[s]“279 zu beginnen, der 275 276 277 278 279

Schleiermacher 1974, 135. Schleiermacher 1977, 94. Ebd., 95 (dort hervorgehoben). Vgl. Ast 1808, 178–181. Schleiermacher 1977, 104.

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die Erschließung einzelner Äußerungen anleitet, aber eben nur provisorisch ist, weil sich vom erschlossenen Detail aus auch das Ganze neu bestimmen lassen muss. So entsteht ein verbesserter neuer Gesamteindruck, der einen neuen Blick aufs Detail ermöglicht. Der Zirkel ist eigentlich gar keiner und es wäre sachlich angemessener, von einer offenen Spirale zu sprechen. Die romantische Entdeckung von Historizität und Individualität, domestiziert durch den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und Allgemeingültigkeit – dieses Erbe Schleiermachers wird die weitere Entwicklung prägen. Zwei für die Philologie und Geschichtswissenschaften, die Schlüsselfächer im geisteswissenschaftlichen Kanon des 19. Jahrhunderts, entscheidende Figuren sind der Altertumswissenschaftler August Boeckh (1785–1867) und der Historiker Gustav Droysen (1808–1884). Über ein halbes Jahrhundert hinweg, zwischen 1809 und 1865, hat Boeckh Vorlesungen über Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften gehalten, die mehreren Generationen einen unauflöslichen Zusammenhang zwischen Geisteswissenschaft im Allgemeinen, Philologie und Hermeneutik plausibel machten. Boeckhs bekannte Formel vom Erkennen des Erkannten hat ihren Teil dazu beigetragen, das sekundäre Verstehen zuungunsten des primären als Gegenstand der Wissenschaft auszuzeichnen. Eine wirkungsgeschichtlich bedeutende Figur ist auch Boeckhs Schüler Droysen, der in seiner äußerst einflussreichen Historik280 den Unterschied zwischen dem Erklären durch Ursachen und dem Verstehen/Interpretieren von Sinn herausarbeitete und das Verstehen des geschichtlichen Gewordenseins als Dreh- und Angelpunkt der Geisteswissenschaften geltend machte. Ein systematischer Neuansatz in der Hermeneutik, der zwar dem philologischen Denken verpflichtet bleibt, aber gleichzeitig das primäre Verstehen wiederentdeckt, erfolgte dann aber erst in dem Riesenwerk Wilhelm Diltheys (1833–1911).

2. Diltheys handlungstheoretische Fundierung der Hermeneutik Dilthey ist ein oft missverstandener Denker mit unglücklich verlaufener Rezeptionsgeschichte. Dem Philologischen zugeneigt, hat er seine systematischen Einsichten in der Regel in Auslegungen und historische Darstellungen so gut eingepackt, dass deren Originalität nicht leicht sichtbar werden konnte. Erschwerend kommt hinzu, dass systematisch zentrale Arbeiten Diltheys erst in den 1980er-Jahren des 20. Jahrhunderts veröffentlicht werden konnten,281 lange nach seinem Tod und der Etablierung vereinfachter Standarddarstellungen. Zudem hat Dilthey nur einen kleinen Bruchteil seines Schaffens 280 Droysen 1977. 281 Vgl. bes. Bd. XIX der Gesammelten Schriften.

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explizit unter den Titel Hermeneutik gestellt – im Wesentlichen den schon erwähnten kurzen Text über deren Entstehung. Dennoch kreist sein Lebenswerk so beharrlich um den inneren Zusammenhang zwischen phänomenalem Erleben, historisch-kulturellen Ausdrucksgestalten und dem Problem des Sinnverstehens, dass man ihn als den eigentlichen Begründer einer philosophischen Hermeneutik auffassen kann. Es geht ihm nicht mehr nur um das Verstehen von Texten, sondern, vor dem Hintergrund eines um sich greifenden Szientismus, um die Grundform des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses als solcher. Dabei möchte Dilthey zwei Motive gleichzeitig festhalten, von denen nur eines in seiner Wirkungsgeschichte aufgenommen worden ist: Ihm geht es zwar, in klarer Abgrenzung zu den Naturwissenschaften, um die Grundlegung einer hermeneutischen Methode in den Geisteswissenschaften – das ist der breit rezipierte Aspekt –, aber eben genauso sehr um die Integration von Verstehensprozessen in den Naturprozess. Mit dem zweiten Motiv wird er zum anonymen Ahnherrn einer naturalistischen Richtung in der Hermeneutik, wie sie in der pragmatistischen Philosophie weitergeführt und in der aktuellen Philosophie und Kognitionswissenschaft aufgriffen wird. Es bietet sich an, Diltheys weitgespanntes Denken zu Darstellungszwecken vereinfachend in drei Phasen zu zergliedern: eine stark bewusstseinsphilosophisch orientierte frühe, eine handlungstheoretisch und lebensphilosophisch orientierte mittlere und eine am objektiven Geist und intersubjektiven Strukturen orientierte spätere. Der frühe Dilthey bis zum ersten (und einzig erschienenen) Band seines Riesenwerkes Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883)282 ist von dem Motiv geprägt, innere Erfahrung ins Zentrum zu rücken, und zwar eben nicht mehr eingeschränkt auf kognitive Prozesse im engeren Sinn, sondern alles einschließend, vor allem auch Affekte und Willensimpulse. Die geschichtliche Wirklichkeit erscheint als Ausdruck innerer Erfahrung und soll im Verstehen wieder auf diese hin transparent gemacht werden. Noch unterentwickelt ist dabei die später zentrale Einsicht, dass es gar kein direktes Verstehen von Geist zu Geist gibt, sondern nur die verstehende Rekonstruktion von Ausdrucksgestalten. Diltheys frühes hermeneutisches Schema ist zweigliedrig: Durch die sprachlichen Gestalten hindurch erschließt sich der Interpret einfühlend das zugrunde liegende Erleben. Diese sogenannte Empathiehermeneutik spielt zwar in der Einleitung gar keine wichtige Rolle, dominiert aber Diltheys erfolgreichstes Buch, eine Sammlung früher Texte, die unter dem Titel Das Erlebnis und die Dichtung 1905 erschien und seine Wirkung stark geprägt hat. Es ist, modern ausgedrückt, die Eigenständigkeit der Erste-Person-Perspektive, die Unmöglichkeit, sie auf den Standpunkt des neutralen Beobachters zu reduzieren, von der schon der frühe Dilthey ausgeht. Die Konzentration auf die Innenperspekti282 Dilthey 1959.

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ve des Erlebens führt aber auch dazu, dass psychologisierend und in der Sprache der Bewusstseinsphilosophie der Reichtum der geschichtlich-kulturellen Welt einseitig vom Erleben her gesehen wird. Seit Ende der 80er-Jahre des 19. Jahrhunderts ändert sich dies. Dilthey beschäftigt sich mit Evolutionstheorie und entwickelt überhaupt ein starkes Interesse an den biologischen Grundlagen des menschlichen Lebens. Der hermeneutische Zusammenhang zwischen dem Erleben und den kulturellen Ausdrucksformen wird nun als die spezifisch menschliche Weise gedeutet, in der Organismen mit ihrer Umwelt interagieren. Man muss in diesem Zusammenhang tatsächlich von einer pragmatistischen Wende Diltheys sprechen. „Pragmatistisch“ meint hier: Das Erkennen der Welt geht dem Handeln nicht voraus, es geschieht vielmehr im und für das Handeln. (Heidegger wird später von diesem neuen Denkansatz, ohne dies wirklich einzugestehen, ungeheuer profitieren und ihn – in „ent-biologisierter“ Form – in die Daseinsanalyse von Sein und Zeit einbauen.) Diltheys Ethik-Vorlesung von 1890, die der amerikanische Pragmatist George Herbert Mead (1863–1931) gehört hat,283 beginnt mit folgenden programmatischen Worten: „Im Strukturzusammenhang des Seelenlebens ist das Denken gleichsam eine Einschaltung zwischen Reiz und Reaktion. Es muss in Handlung umgesetzt werden. Darauf beruht das Spiel des Kindes wie die gesamte Kultur. Denken und Erkennen stehen in dem lebendigen Wesen innerhalb eines teleologischen Strukturzusammenhangs, der von der Perzeption der Außenwelt hinüberreicht zu der gegenseitigen Anpassung zwischen der Außenwelt und sich selbst. So hat auch das philosophische Begreifen der Welt sein Ziel in dem Handeln.“284

Kognitive Prozesse dürfen nicht als Betrachtung der Realität aus der Beobachterperspektive heraus missverstanden werden, sie stehen im Gesamtzusammenhang des Lebensprozesses, der sich nur durch Handeln aufrechterhalten kann. Dieses Motiv ist ebenso sehr lebensphilosophisch wie pragmatistisch und darüber hinaus genuin hermeneutisch. Verstehen bedeutet für den mittleren Dilthey nicht mehr die empathische Erschließung von Bewusstseinsphänomenen über ihre Ausdrucksgestalten, sondern zuerst den Weltzugang des Lebewesens Mensch. Sinn kann etwas nur haben, weil es in der Teilnehmerperspektive eines Wesens auftaucht, dessen Interaktionen mit der Umwelt über sein Wohl und Wehe entscheiden. Damit wird die primäre Bedeutung 283 Das Wissen um diese Zusammenhänge verdanken wir Hans Joas. Vgl. Joas 1989, 45–48 et passim. In John Deweys wichtigem Aufsatz The Reflex Arc Concept in Psychology (= Dewey 1972), der wenige Jahre nach Diltheys Vorlesung entstanden ist, wird die Psychologie des Reiz-Reaktions-Schemas ganz ähnlich im Sinne eines vorgängigen Strukturzusammenhangs der Handlung umgedeutet. 284 Dilthey 1981, 13.

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des Verstehens wiederentdeckt.285 Sie liegt vor der sprachlichen Gestaltung des Weltverhältnisses, die aber ihrerseits auf es zurückwirkt. Wenn das vorsprachlich, im Handeln schon Verstandene auch sprachlich expliziert wird, dann entstehen die Gegenstände der traditionellen, philologisch orientierten Hermeneutik. Diltheys „Pragmatismus“ ist die eigentliche Gelenkstelle in der Entwicklung der modernen Hermeneutik. Nur dann nämlich, wenn Texte oder allgemeiner sprachliche Äußerungen als – wenn auch exemplarische – Realisierungen einer Grundstruktur des menschlichen Handelns verstanden werden, hat der Versuch, Hermeneutik von der Philologie in die Philosophie zu importieren, einen sachlichen Grund. Und nur dann, wenn menschliches Handeln in Kontinuität mit dem Verhalten anderer Organismen gesehen wird, kann ein dualistisches Verständnis der Hermeneutik vermieden werden. Auch hier ist Dilthey deutlich, allerdings in einem Text, der erst 1982 erschienen ist, Leben und Erkennen: „Die Struktur und Artikulation des Lebens ist überall, wo psychisches Innen auftritt, sonach in der ganzen Tier- und Menschenwelt dieselbe.“286 Es ist die Tragik von Diltheys Wirkungsgeschichte, dass diese Einsicht ausgeblendet und die hermeneutische Methode im Sinne eines schiedlich-friedlichen Dualismus von Geistes- und Naturwissenschaften verstanden wurde. Ein zweiter Aspekt ist gleichermaßen entscheidend, und in ihm bleibt Dilthey selbst sein ganzes Leben lang charakteristisch ambivalent: Wenn Verstehen die Grundaktivität der menschlichen Kognition und die Teilnehmerperspektive der ersten Person basal ist, gibt es offenbar einen sachlichen Vorrang dieses basalen Verstehens vor der Unterscheidung in Natur- und Geisteswissenschaften. Heidegger hat dies am konsequentesten durchgeführt und in den §§ 3 und 4 von Sein und Zeit seine ontologische Hermeneutik als Grundlegung aller Wissenschaften einschließlich der Naturwissenschaften angelegt.287 Bei Dilthey selbst steht das deutlich bescheidenere Ziel im Vordergrund, die Eigenständigkeit der Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften mit ihrer verstehenden Methode zu begründen. Und doch ist er es, in dessen pragmatischer Wende das Radikalisierungspotenzial gründet, das die philosophische Hermeneutik nach ihm entfaltet hat, sei es in die Heidegger’sche Richtung einer transzendentalhermeneuti285 Man darf hier nicht aus dem Auge verlieren, dass diese sachliche Entwicklung hin zum Verstehen als primärem Weltverhältnis von Dilthey zwar klar vollzogen, aber eben nicht terminologisch unter dem Begriff des Hermeneutischen gefasst wird. Als Terminus technicus reserviert Dilthey lebenslang den Begriff ganz traditionell für die kunstmäßige Auslegung von schriftlichen Zeugnissen. Die Radikalisierung von einer philologischen Hermeneutik des Textes hin zu einer philosophischen Hermeneutik des menschlichen Weltverhältnisses ist also wohl der Sache, nicht aber dem Begriff nach auf Dilthey zurückzuführen. 286 Dilthey 1982, 345. 287 Vgl. Heidegger 1979, 8–15.

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schen Fundierung aller Wissenschaften im vorprädikativen Seinsverständnis, sei es in die kognitionswissenschaftliche Richtung eines naturalisierten Verstehensbegriffs. Im Spätwerk Diltheys ab ca. 1900 kommt es zu einer Abschwächung des Ansatzes bei der Lebenspraxis,288 man könnte auch sagen: zu einer Rückkehr zu den früheren Motiven historischen Verstehens, allerdings mit einer entscheidenden Differenz: Dilthey geht nun von der Dreigliedrigkeit des Verstehens aus. Verstehen ist nicht der empathische Blick ins eigene und fremde Selbst, sondern die Rekonstruktion von symbolischen Gebilden als Ausdrucksgestalten individueller und kollektiver Erfahrung. Das Individuum mit seinem Erleben erscheint beim späten Dilthey nicht mehr als primäre Sinnquelle, sondern eher als Element von Strukturzusammenhängen. Entscheidend werden die objektiven, intersubjektiv zugänglichen Ausdrucksgestalten: „[N]ur seine Handlungen, seine fixierten Lebensäußerungen, die Wirkungen derselben auf andere belehren den Menschen über sich selbst; so lernt er sich nur über den Umweg des Verstehens selber kennen“289. Dementsprechend ist „überall der Zusammenhang von Erleben, Ausdruck und Verstehen das eigene Verfahren, durch das die Menschheit als geisteswissenschaftlicher Gegenstand für uns da ist“290. Das Erleben, Zentrum des Frühwerks, hat also keineswegs abgedankt. Aber es gilt dem späten Dilthey als unverständlich, solange es nicht objektiviert, also ausgedrückt worden ist. Dafür steht der beim späten Dilthey wichtige Begriff des objektiven Geistes. Er zielt darauf, dass kulturell produzierter Sinn zwar von seinen Produzenten abgelöst werden kann – ein Gedicht kann man verstehen, ohne nachzufühlen, wie es dem Dichter beim Verfassen zumute war –, aber dennoch Ausdruck eines Lebensprozesses bleibt und auf ihn wieder rückbezogen werden muss. Der hermeneutische Dreischritt vom Erleben zum Ausdruck zum Verstehen verbindet, so verstanden, primäres und sekundäres Verstehen. Indem ein Interpret z. B. einen autobiographischen Text in seinen objektiven Bedeutungsgehalten erschließt, betreibt er sekundäres Verstehen im Sinne der traditionellen Hermeneutik. Das ist der Schritt vom Ausdruck zum Verstehen. Indem aber gleichzeitig die im objektiven Geist zirkulierenden Bedeutungen als Ausdrucksleistungen lebendiger Erfahrung begriffen werden, vollzieht die sekundäre Hermeneutik das primäre Verstehen nach. Das ist der Schritt vom Erleben zum Ausdruck. Dilthey bezeichnet daher das Verstehen explizit als eine „dem Wirkungsverlauf selber inverse Operation“291. 288 Die Ursachen hierfür sind weniger sachlogischer, sondern rezeptionsgeschichtlicher und persönlicher Art (vgl. Jung 1996, 137). 289 Dilthey 1992, 87. 290 Ebd. 291 Ebd., 214.

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Als solche rekonstruiert es nicht fixe Bedeutungen, sondern dynamische, unabgeschlossene Verläufe. Diltheys Leistung für die philosophische Hermeneutik besteht nicht zuletzt darin, die Prozessualität der Geschichte auf den zeitlichen Charakter des Lebenszusammenhangs zurückgeführt zu haben. Leben besteht aus andauernden, sich auseinanderentwickelnden Interaktionen des Organismus mit seiner Umgebung, und menschliches Leben fasst diese Interaktionen als die Bedeutungen auf, welche die erlebten und zum Ausdruck gebrachten Situationen für das nie fertige Ganze haben: „So ist die Gegenwart von Vergangenheiten erfüllt und trägt die Zukunft in sich. […] Bedeutung ist die umfassende Kategorie, unter der das Leben auffassbar wird.“292 Damit werden Geschichte und Kultur einerseits auf ein anthropologisches Strukturmerkmal bezogen – die Fähigkeit und Bedürftigkeit des Menschen, sich zu artikulieren, also sich verständlich zu machen, worin die Bedeutung des gelebten Lebens besteht –293 und andererseits als Binnendifferenzierung einer Struktur verstanden, die über den Menschen hinaus alles Organische einschließt: „Das Leben“, so schreibt Dilthey in einer spekulativen Formulierung, „artikuliert sich“294 – und zwar als zeitliche Entwicklung einer Teil-Ganzes-Beziehung, die mit naturwissenschaftlichen, kausal-nomologischen Erklärungen nicht adäquat beschrieben werden kann. Auch hierin hat Dilthey den hermeneutischen Ansatz der philosophischen Anthropologie als methodisches Grundmuster eingeschrieben.

3. Zurück zum primären Verstehen: Heideggers Hermeneutik der Faktizität Philosophische Hermeneutik seit Dilthey ist ein tief ambivalentes Projekt: Als philosophische Vertiefung des sekundären, philologischen Verstehens hat sie einen strukturell traditionalistischen Zug; konzentriert sie sich hingegen auf die primären Verstehensleistungen im Handeln und Artikulieren, rücken Kreativität und Zukunftsoffenheit in den Blick. Bei Martin Heidegger (1889–1976) tritt das sekundäre Verstehen weithin zurück; das primäre hingegen verbindet sich mit zwei Denklinien, die Dilthey völlig fremd waren: der existenzphilosophischen und der ontologischen.295 Ontologie war 292 Ebd., 232. 293 Hieran knüpft seit den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts die philosophische Anthropologie Helmuth Plessners (1892–1985) an (vgl. Plessner 1975). 294 Dilthey 1982, 345. 295 Wichtig ist natürlich auch, dass Heidegger die Husserl’sche Phänomenologie mit der Hermeneutik verbindet. Der Ansatz beim phänomenalen Erleben spielt aber auch schon bei Dilthey eine wichtige Rolle, dessen Begriff der inneren Erfahrung proto-phänomenologische Züge trägt. Deshalb werden hier nur die Züge herausgehoben, mit denen Heideggers Hermeneutik grundsätzlich Neues gegenüber Dilthey ins Spiel bringt.

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für Dilthey als metaphysisches Projekt diskreditiert; Heidegger revitalisiert sie unter Rückgriff auf Aristoteles, wobei er allerdings den entscheidenden Transfer von der Ontologie des menschlichen Daseins zur Ontologie der gesamten Wirklichkeit nicht leisten kann, weshalb das Projekt von Sein und Zeit ein Torso bleibt. Der zweite entscheidende Punkt ist die Radikalisierung des Lebens zur Existenz: Für Dilthey, der in dieser Hinsicht Philologe blieb, war die Vertiefung in den Reichtum kultureller Produktionen eine unerschöpfliche Quelle von Sinn. Für die durch den sozialen und industriellen Umbruch zur Wende zum 20. Jahrhundert sowie vor allem den Ersten Weltkrieg geprägte Lebenserfahrung der Generation nach ihm verliert die Tradition jedoch ihren bergenden Charakter. Die Kontingenz, Gefährdetheit und Zukunftsoffenheit des Daseins, die Not des unvertretbar Existieren-Müssens treten hervor; Zeitlichkeit wird als Endlichkeit und Sterblichkeit erfahren. Die außerordentliche Wirkung Heideggers hat viele Gründe, aber zu den wichtigsten zählt sicherlich, dass er Diltheys Wiederentdeckung des primären Verstehens doppelt radikalisiert – was, wie man heute weiß, in zwei Schritten geschieht: In seinen frühen Freiburger Vorlesungen zu Beginn der 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts entwickelt er eine radikale und von der Kontinuität mit den biologischen Prozessen wieder abgelöste Version des pragmatischen, in vorprädikativen Handlungszusammenhängen verwirklichten Verstehens, um dieses dann in seinem Hauptwerk Sein und Zeit (1927) in den Wissenschaftsbetrieb wieder zu reintegrieren und in den Dienst einer ontologischen Fundierung der Wissenschaften zu stellen. Das Dasein – wie Heidegger den Menschen nennt –, wird damit in seinem Grundverhältnis zur Wirklichkeit als hermeneutisch gedacht (wie auch in der philosophischen Anthropologie); aber nicht nur das: Dieser hermeneutische Charakter soll auch die Wissenschaften begründen können, indem er ontologische Einsichten ermöglicht. Radikaler geht es nicht. Gadamer hat dann diese ontologische Wende Heideggers aufgenommen, ihren kontingenzverschärfenden Charakter aber rückgängig gemacht, indem er wieder auf das philologisch-sekundäre Verstehen zurückgreift, dem immer schon Sinnhaftes vorgegeben ist. Heideggers frühe Freiburger Vorlesungen296 gehen mit Dilthey vom „Korrelatverhältnis von Selbst und Milieu“297 aus und haben einen pragmatistischen Zug, wenden sich aber entschieden gegen Dilthey, insoweit dieser, „bestimmt durch das

296 Die Vorlesungen finden sich gesammelt in den Bänden 56/57–63 der Heidegger-Gesamtausgabe. Die wichtigsten Quellen sind die Bände 59 (= Heidegger 1993), 61 (= Heidegger 1985) sowie vor allem 63 (= Heidegger 1988). 297 Heidegger 1993, 158.

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Humanitätsideal Goethes und Humboldts“298, von einer „Tendenz auf gestalthafte Harmonie“299 geprägt sei. Das ist Heidegger viel zu konventionell und ästhetisch gedacht; ihm geht es um die ungesicherte Kontingenz des Existierens, das „unum necessarium[.] des aktuellen Daseins“300. Die Lebenserfahrung des Urchristentums – die Heidegger als eine Form der Zeitlichkeit deutet, die sich an nichts Vorhandenem mehr festhalten kann –301, der frühe Luther, Kierkegaard302: Von diesen Quellen her wird der Hermeneutik die Philologie gründlich ausgetrieben. Es geht nicht mehr darum, sich in ästhetischer Kontemplation und philologischer Akribie eine bestimmte Sinngestalt in ihrem Reichtum anzueignen, sondern um „das existenzielle Erkennen“303. Hermeneutik soll „Wachsein für die Faktizität […] zeitigen“304, denn zum Verständnis steht „je unser eigenes Dasein“305. Und so entwickelt Heidegger ein wirklich neues Verständnis der Sache, das radikal von der Perspektive der ersten Person Singular ausgeht. Es ist ihm um die Überwindung jedes Denkens zu tun, dessen Ausgangspunkt die Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt bildet. Verstehen wird nun vom Vollzug aus gedacht, in dem das Selbst immer schon in einer Welt ist, in der es von Situationen angesprochen oder abgestoßen wird. Was verstehend erschlossen ist, sind nicht mehr Sachverhalte in einer vom Verstehenden unterschiedenen Wirklichkeit, sondern die Möglichkeiten des eigenen Existierens. Die Rede von einer Hermeneutik der Faktizität weist also in einem Zug zwei philosophische Positionen zurück: alle Formen von Mentalismus bzw. Phänomenalismus, für die das Gegebene der Erfahrung in Bewusstseinszuständen besteht, aber ebenso alle Formen der Orientierung an einem objektiv Gegebenen, den Fakten im herkömmlichen Sinn. Heideggers „Faktizität“ steht dafür, dass sich das Selbst in einer von ihm nicht gemachten Welt von geöffneten (und verschlossenen) Handlungsmöglichkeiten je schon vorfindet. Diese Möglichkeiten erschließen sich nur im Hier und Jetzt einer bestimmten Situation, die aber nie als ganze kognitiv transparent gemacht werden kann. Für diese Doppelstruktur findet Heidegger die prägnante Metapher der „Diesigkeit“306 (Haecceitas und Undurchsichtigkeit des Daseins in einem). Von Anfang an bringt er dabei auch, radikal über Dilthey hinaus, die Endlichkeit dieses Existierens 298 299 300 301 302 303 304 305 306

Ebd., 161. Ebd., 167. Ebd., 169. Vgl. Heidegger 1995. Vgl. Heidegger 1988, 5. Ebd., 18. Ebd., 20. Ebd., 29 (Hervorhebung ebd.). Heidegger 1993, 88 u. 109.

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ins Spiel. Möglichkeiten gibt es nur, und wir können sie nur als solche verstehen, weil es jederzeit möglich ist, dass es sie nicht mehr gibt – wir können jederzeit sterben. Mit charakteristischer Vorliebe für paradoxe Formulierungen ist dann in Sein und Zeit von dem Tod als der „Möglichkeit der schlechthinnigen Daseinsunmöglichkeit“307 die Rede. Schon in den frühen Freiburger Vorlesungen wird dieser Zusammenhang von Möglichkeit und Endlichkeit durch eine Fülle von Vokabeln wie „Angst“, „Labilität“, „Unruhe“ unterstrichen.308 Soweit sich das Verstehen von Bedeutungen im praktischen Weltumgang vollzieht, liegt es der Sprache und ihren Aussagemöglichkeiten voraus. Ähnlich wie Dilthey in seiner pragmatistischen Phase betont aber auch schon der frühe Heidegger, dass es zur „Vollzugscharakteristik“309 des Daseins gehört, das vorprädikative Verstehen zu artikulieren, es also sprachlich auszulegen. Leben ist Erleben und Objektivation des Erlebten zugleich. Streng genommen müsste man daher im Heidegger’schen Bezugsrahmen drei Dimensionen des Verstehens unterscheiden: Im praktischen, vorprädikativen Verstehen sind Möglichkeiten in einem Handlungszusammenhang erschlossen, aber nicht expliziert (Beispiel: Ein erfahrener Kletterer versteht sich darauf, diese Spalte oder jenen Vorsprung der jeweiligen Wand als Griffe zur Fortsetzung seiner Route zu nutzen); in sprachlicher Artikulation sind vorprädikative Handlungsmöglichkeiten explizit gemacht (Beispiel: Ein Roman erkundet die Veränderungen des Möglichkeitshorizontes nach einschneidenden gesellschaftlichen Veränderungen); im philologischen Verstehen wird der primäre Explikationsakt Gegenstand einer sekundären Explikation, die diesen als historisch situierte Ausdrucksbemühung verständlich machen will. Schon in den frühen Freiburger Vorlesungen taucht dann auch der Begriff auf, mit dessen Hilfe Heidegger die pragmatische mit der existenzphilosophischen Dimension seines Verstehensbegriffs verklammert: die Sorge. „Leben, im verbalen Sinn genommen, ist […] zu interpretieren als Sorgen, sorgen für und um etwas, sorgend von etwas leben. Mit diesem Charakter ist nicht gemeint, dass das Leben immer mit einer Leichenbittermine umginge. Im ausgelassenen Taumel, in der Gleichgültigkeit, in der Stagnation – wie immer ist ‚leben‘ charakterisiert als sorgen. Worauf und warum das Sorgen ist, woran es sich hält, ist zu bestimmen als Bedeutsamkeit.“310

307 308 309 310

Heidegger 1979, 250. Alle diese Begriffe finden sich in Heidegger 1988, 16f. Heidegger 1993, § 10. Heidegger 1985, 90 (Hervorhebungen ebd.).

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Handlungsbezug und Kontingenz sind die entscheidenden Aspekte zum Verständnis dieser Konzeption. Verständliche Bedeutungen gibt es nur, weil der Handlungszusammenhang des Selbst mit seinem Milieu auf Aspekte dieses Milieus stößt, um deren Aneignung es sich praktisch kümmern muss. Ganz elementar ist Sorge daher zunächst diejenige um das „tägliche Brot“311. Dass dieser Handlungszusammenhang aber als „Sorge“ erlebt wird, gründet in der doppelten Kontingenz des Handelns: Dem Handelnden können nicht nur seine eigenen Möglichkeiten entgleiten (am radikalsten kraft seiner Sterblichkeit; erste Kontingenz), auch die Mithandelnden und das im Handeln Erstrebte können durch ihre Widerständigkeit das Handeln vereiteln (zweite Kontingenz). Ihre Intensität gewinnen Heideggers Analysen nun nicht zuletzt dadurch, dass sie die handlungstheoretische Vertiefung des Verstehensbegriffs (Verstehen als Erschließung von Möglichkeiten des Sorgens) mit einer existenzphilosophischen Hermeneutik des Lebens verschmelzen, in der das Aufgehen in den Handlungsbezügen als Zerstreuung, Geneigtheit, „Ruinanz“312, letztlich als Verlust des eigentlichen Selbst beschrieben wird. So nahe Heidegger einerseits dem pragmatistischen Denken seiner Zeit auch kommt, wenn er Selbst und Welt als Interaktionseinheit fasst, aus der sich erst nachträglich Subjekt und Objekt ausdifferenzieren, so deutlich entfernt er sich auf der Traditionslinie Paulus – Augustinus – Luther – Kierkegaard auch andererseits von ihm, indem er zwischen Selbstverstehen und Weltverstehen doch wieder ein normatives Gefälle einzieht: Das Selbst ist zwar in der Welt, aber die Hingabe an diese führt zu Selbstverlust. 1927 erscheint dann Heideggers Hauptwerk Sein und Zeit, der Torso gebliebene Versuch, Phänomenologie, Hermeneutik, pragmatistische, lebensphilosophische und existenzphilosophische Einflüsse zu einem einheitlichen Ansatz zu verbinden, der es erlaubt, die Frage nach dem Sein neu zu stellen. Da es die Wissenschaften offensichtlich mit (unterschiedlichen Formen von) Seiendem zu tun haben, verbindet sich dieser Ansatz mit dem Versuch, alle Wissenschaften fundamentalontologisch zu begründen.313 Kern dieser Begründung ist Heideggers Versuch, das wissenschaftliche Gegenstandsverhältnis und den epistemischen Wahrheitsbegriff als abgeleitete Modifikationen eines ursprünglich verstehenden Charakters des Daseins begreiflich zu machen. Hermeneutik greift also über die Geisteswissenschaften hinaus und wird tatsächlich radikal universell gedacht: 311 Ebd. 312 Ebd., 131. 313 Vgl. Heidegger 1979, §§ 3, 4, 69b.

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„Philosophie ist universale phänomenologische Ontologie, ausgehend von der Hermeneutik des Daseins, die als Analytik der Existenz das Ende des Leitfaden alles philosophischen Fragens dort festgemacht hat, woraus es entspringt und wohin es zurückschlägt.“314

Die zentrale Phrase, „Hermeneutik des Daseins“, ist natürlich als Genitivus subjektivus und objektivus zu denken: Das Dasein ist nicht nur Gegenstand der Auslegung, es legt sich immer schon selbst aus, und auf die Ausarbeitung dieses primären Verstehens richtet sich die philosophische Hermeneutik. Um Verstehen geht es also in Sein und Zeit überall, nicht nur in den §§ 31ff., in denen es explizit zum Thema gemacht wird. In Heideggers sogenannter Fundamentalanalyse des Daseins wird das „In-der-Welt-sein“315 als die Grundverfassung des Menschen herausgestellt. In der Welt (im Unterschied zu: den Gegenständen als betrachtende Subjekte entgegengestellt) sind wir nur deshalb, weil wir „besorgend“ in sie verstrickt sind. Und etwas zu besorgen zu haben, bedeutet, die umgebende Wirklichkeit als „zuhanden“ für unsere Lebensinteressen deuten zu können. Das ist die eigentliche hermeneutische Pointe: Die Dinge sind nicht zuerst da und werden dann im Lichte unserer Sorgen (im weitesten Sinn) gedeutet, sie sind vielmehr für uns zuerst innerhalb eines Netzes von Verweisungen verstanden, das Heidegger als „Zeugganzheit“316 bestimmt. Schreibtisch, Schreibzeug, Lampe, Möbel, Zimmer (Heideggers eigenes Beispiel) sind von ihrer Verwendbarkeit für menschliche Zwecke her erschlossen, und das gilt nach Heidegger sogar für die von uns unabhängige Natur: „Der Wald ist Forst, der Berg Steinbruch, der Fluss Wasserkraft, der Wind ist Wind ‚in den Segeln‘.“317 Die Konstitution naturwissenschaftlicher Objekte samt den gesetzesförmigen Beziehungen zwischen ihnen wird dann (ausführlich behandelt im § 69b von Sein und Zeit) als eine Modifikation des ursprünglich Zuhandenen zu bloß Vorhandenem aufgefasst, die den Rahmen der hermeneutischen Ontologie keineswegs verlässt.318 Deshalb kann der Ansatz von Sein und Zeit mit Blick auf die empirische Wissenschaft nur als eine hermeneutische Konstitutionstheorie ihrer Gegenstandsbereiche verstanden werden. Der epistemische Weltzugang („Vorhandenheit“) gilt als 314 315 316 317 318

Ebd., 38 (Hervorhebungen ebd.). Ebd., Kap. 2 (Überschrift) et passim. Ebd., 68. Ebd., 70. Damit steuert Heidegger auf eine Lösung der Frage nach der Beziehung zwischen dem sinnstrukturierten alltäglichen Weltverhältnis und dem kausal-nomologischen Denken der Wissenschaften zu, das erstaunliche, bislang kaum bemerkte Parallelen zu dem pragmatistischen Ansatz John Deweys aufweist, wie er in dessen Logik von 1938 (= Dewey 1986) entwickelt wird.

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abgeleitet und setzt den hermeneutischen immer schon voraus. „Zuhandenheit“, so kann Heidegger ohne Scheu vor paradoxalen Zuspitzungen formulieren, „ist die ontologisch-kategoriale Bestimmung von Seiendem, wie es ‚an sich‘ ist.“319 Damit ist der sachlogische Endpunkt der Universalisierung des hermeneutischen Programms erreicht. Sogar die natürliche Welt wird auch noch Korrelat des hermeneutischen Apriori. Heideggers berühmte Lehre von der Vorgängigkeit des hermeneutischen „als“ vor dem apophantischen zielt im Übrigen auf denselben Sachverhalt. Gemeint ist zunächst, dass im alltäglichen Umgang mit der Welt die Dinge als Korrelate menschlicher Handlungsinteressen erschlossen sind: Dem Autofahrer ist sein Pkw erschlossen als Möglichkeit des individuellen Reisens usw. Prädikative Aussagen (das sogenannte apophantische „als“) setzen diese praktische Vorerschlossenheit voraus, aus der sie bestimmte Aspekte selektiv herausgreifen – und zwar, gut pragmatisch, meistens dann, wenn die eingespielten Funktionszusammenhänge gestört sind. So erschließt dem Autofahrer die Aussage „Der Tank ist leer.“ seinen Pkw als etwas, dessen Funktionalität gestört ist und von ihm wieder hergestellt werden muss. Heidegger spricht in diesem Zusammenhang sehr prägnant von der „Aufsässigkeit“320 des Zuhandenen. In diesem Kontext entwickelt er dann auch seine Konzeption der Sprache (§ 34), die hier von ihrem Vollzug, der Rede aus gedacht wird. Dabei kommt ein weiterer, schon vorher (§ 29) entwickelter und charakteristischer Zug der existenzialen Hermeneutik ins Spiel: die „Befindlichkeit“321, Heidegger zufolge eine Grundstruktur des menschlichen In-der-Welt-Seins, ohne die es kein Verstehen geben könnte. Gemeint sind Stimmungen, die alles in ein bestimmtes Licht tauchen, uns Möglichkeiten eröffnen und verschließen. Die Welt kann sich z. B. heimatlich oder fremd anfühlen, offen oder verschlossen, freudig bejaht oder ängstlich auf Distanz gehalten usw.322 Heidegger stellt nun heraus, dass wir immer irgendwie gestimmt sind, und zwar deshalb, weil wir existieren müssen und unser Leben nicht aus der Beobachterperspektive heraus führen können. Im Gestimmtsein geht es also nicht wie bei einzelnen Gefühlen um diesen oder jenen Gegenstand des Begehrens, der Abscheu oder der Freude, sondern um das Handeln-Müssen und den in ihm erschlossenen Bezug zur Welt im Ganzen, was Heidegger als den „Lastcharakter des Daseins“323 bezeichnet. In dieselbe Richtung zielt die drastische Metapher von der 319 320 321 322

Heidegger 1979, 71 (Hervorhebung ebd.). Ebd., 74. Ebd., 134. In der Philosophie und Psychiatrie der Gegenwart gibt es eine lebendige Diskussion um sogenannte „existential feelings“ (vgl. Ratcliffe 2008), die sich unmittelbar auf Heidegger bezieht. 323 Heidegger 1979, 134.

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„Geworfenheit“324. Sie verleiht dem pragmatischen Apriori des Verstehens – der Tatsache, dass wir in einer widerständigen Umwelt handeln müssen – ihr existenzphilosophisches Aroma. Mit der komplementären Struktur von Befindlichkeit und Verstehen ist es nun möglich, das daseinshermeneutische Verständnis der Rede zu erläutern: Wir bewegen uns verstehend in einer zuhandenen Welt und sind durch Stimmungen auf die Wirklichkeit im Ganzen bezogen. Die Rede macht diese impliziten Strukturen explizit. In Heideggers eigenwilliger Sprache heißt das: „Die Rede ist die bedeutungsmäßige Gliederung der befindlichen Verständlichkeit des In-der-Welt-seins.“325 Hier zeigt sich nun besonders klar die Grundspannung von Heideggers hermeneutischem Konzept. Der eine Pol ist die existenzphilosophische, bei Heidegger durch die Abarbeitung an seiner religiösen Herkunft noch zugespitzte Betonung von Faktizität und Geworfenheit. Dem Individuum sind die Grundtatsachen seiner Existenz, die Traditionen, aus denen es herkommt, vorgegeben. Aber diese Vorgegebenheit hat nicht den Charakter eines unerschöpflichen Überlieferungszusammenhangs, in den es sich hineinzustellen gilt, wie später bei Gadamer. Für Heidegger ist sie eher – das ist der andere Pol – ein Rahmen, der Möglichkeiten umgrenzt – Möglichkeiten, die sich das Dasein erschließen kann, wobei es über seine Herkunft auch genuin hinausgeht. Dieses Existenzial bezeichnet er als „Entwurf “326. In ihm wird der „Spielraum[.] des faktischen Seinkönnens“327 erschlossen. Um ihn herum – hier greife ich die frühe Metapher wieder auf – ist es „diesig“, aber das ändert nichts daran, dass es hier um neue Möglichkeiten geht. Das Dasein ist zwar nicht sein eigener Schöpfer, aber es ist „in die Seinsart des Entwerfens geworfen“328. Heideggers Auffassung des Verstehens verkehrt das modale Gefälle von der Wirklichkeit zur Möglichkeit ins Gegenteil: „Höher als die Wirklichkeit steht die Möglichkeit.“329 Die Faktizität des Daseins, die kontingenten Umstände, in denen es gelebt werden muss, die Traditionen seiner Vergangenheit – all das stellt keinen Eigenwert dar (weshalb Heidegger auch im Unterschied zu Dilthey an einer ästhetischen Betrachtung von geschichtlicher und kultureller Vielfalt nicht interessiert ist), es wird vielmehr als Eröffnung (und ebenso sehr Verschließung) von Möglichkeiten betrachtet. Dieser Aufgabe ist auch die Rede verpflichtet. Sie soll die „befindliche Verständlichkeit“ in ihren Bedeutungen zergliedern und sie damit dem Dasein als dessen eige324 325 326 327 328 329

Ebd., 135. Ebd., 162. Ebd., 145 (dort kursiv). Ebd. Ebd. Ebd., 38 (Hervorhebung ebd.).

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ne Seinsmöglichkeit erschließen, also verfügbar/ergreifbar machen. Genau an dieser Stelle kommt nun wieder die existenzphilosophische Annahme ins Spiel, dass wirkliches Verstehen immer eigentliches sein muss, also nicht den öffentlichen Auslegungen entnommen sein darf (wie „man“ das so versteht und tut), sondern in der Perspektive der ersten Person Singular, und zwar in bewusster Übernahme der je eigenen Sterblichkeit, erfolgen muss. Die einschlägigen Analysen Heideggers zum „Gerede“ (§ 35), zu „Neugier“ (§ 36) und „Zweideutigkeit“ (§ 37) sind Meisterwerke sprachlicher Ambiguität, in denen zwar betont wird, die fraglichen Phänomene seien „nicht in einer herabziehenden Bedeutung“330 Gegenstand der Analyse, die aber dennoch unverkennbar von einem existenziell aufgeladenen und wertenden Gegensatz zwischen Uneigentlichkeit und eigentlicher Existenz durchzogen sind. Als normativer Horizont der Hermeneutik von Sein und Zeit zeigt sich das im „Sein zum Tode als Vorlaufen in die Möglichkeit […] eigentlicher Existenz“331 vereinzelte Dasein, das sich weder von der Tradition noch von den zuhandenen Dingen, noch vom Gerede des „man“ bestimmen lässt – aber gerade deswegen in ein freies Verhältnis zu all diesem treten kann. Zusammenfassend wird man sagen müssen, dass Heideggers radikale Rückkehr zum primären Verstehen dezisionistische Züge trägt und einen heroischen, normativ entleerten Existenzbegriff transportiert, der bei allem Pragmatismus weit davon entfernt ist, Verstehen als ein kooperatives und intersubjektives Projekt zu begreifen. Gadamers „Urbanisierung der Heidegger’schen Provinz“332 wird später darauf abzielen, die Radikalität der ontologischen Hermeneutik beizubehalten, ihre dezisionistische Erhebung der Möglichkeit über die Wirklichkeit aber durch Restauration des sekundären Verstehens wieder rückgängig zu machen. Zuvor ist jedoch noch auf einen Entwurf philosophischer Hermeneutik im 20. Jahrhundert einzugehen, der gegen Heidegger Diltheys Konzeption wieder aufgreift, wirkungsgeschichtlich aber wenig erfolgreich war: Georg Mischs Entwurf einer lebensphilosophischen Neubegründung bzw. (je nach Lesart) Erweiterung der Logik.

4. Die hermeneutische Logik Georg Mischs Die Universalisierung des hermeneutischen Gedankens über die Philologie hinaus hat – so wurde zu Beginn dieses Kapitels behauptet – im späten 19. und im 20. Jahrhundert drei verschiedene Richtungen eingeschlagen: beim „mittleren“ Dilthey die – nicht reduktionistisch zu verstehende – Naturalisierung durch Einbettung in den 330 Ebd., 167. 331 Ebd., 262f. (dort teilw. hervorgehoben). 332 Habermas 1981, Titel.

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Interaktionszusammenhang von Organismus und Umwelt,333 bei Heidegger die Radikalisierung des primären Verstehens in den Bereich des Vorprädikativen hinein, bei Gadamer schließlich die Rückbindung des Verstehens an die Kontinuität eines Überlieferungszusammenhangs. Weitgehend unbeachtet blieben die Versuche zu einem hermeneutischen Neuansatz, der von Diltheys Lebensphilosophie ausgeht und dabei zwischen Heidegger und Gadamer gleichsam die Mitte hält. Otto Friedrich Bollnow hat dafür den Ausdruck „hermeneutische Logik“334 populär gemacht, den ursprünglich Hans Lipps geprägt hatte. Repräsentativ werden hier die Göttinger Vorlesungen des Dilthey-Schülers (und -Schwiegersohns) Georg Misch (1878–1965) über Logik und Einleitung in die Theorie des Wissens herausgegriffen, die dieser vom Ende der 20erJahre des 20. Jahrhunderts bis zum Beginn der Nazi-Herrschaft gehalten hat.335 Hier steht der Versuch im Zentrum, vom hermeneutischen Denken aus ein neues Verhältnis zum Zusammenhang von Sprache, Welterschließung und propositionalem, das heißt Aussagen-Wissen zu gewinnen. Hermeneuein wurde ja schon seit Aristoteles in einer eher logisch orientierten Tradition von der Aussage her gedacht,336 und der Siegeszug der modernen Logik seit Gottlob Frege (1848–1925) hatte eine noch stärkere Orientierung des Bedeutungsbegriffs an dem der Wahrheit zur Folge. Darauf reagiert nun Georg Misch, indem er zeigen will, dass prädikative Sätze, überhaupt die propositionalen, gegenstandsbezogenen Funktionen von Sprache, wie sie die Aussagenlogik analysiert,337 nur Teilaspekte des sprachlichen Weltverhältnisses erfassen, denen komplementär die hermeneutische Funktion entspricht, in der es um Ausdrucksgestalten und ihr Verstehen geht. Bei Heidegger soll ja das vorprädikative „als“ der Lebenspraxis transzendentalhermeneutisch die Begründung auch noch des prädikativen Weltverhältnisses (und damit der Logik der Wissenschaften) leisten. Bei Gadamer ist es hingegen das sekundäre Verstehen eines schon geschichtlich-kulturell vorgegebenen Sinns, das eine ontologische Wendung der Hermeneutik tragen soll. Hier nimmt Misch eine 333 Um es noch einmal zu betonen: Natürlich hat Dilthey auch zu einem traditionelleren Hermeneutikverständnis und zur Vertiefung der methodischen Differenz von Natur- und Geisteswissenschaften Wesentliches beigetragen. Diese unleugbar wichtigen Aspekte seines Werks sind in der Rezeptionsgeschichte ausführlich und einseitig gewürdigt worden. Dass Dilthey aber auch einer antidualistischen Hermeneutik vorgearbeitet hat, die das Verstehen in Kontinuität mit Strukturmerkmalen alles Lebendigen sieht, ist sicher der systematisch originellste und in der gegenwärtigen Debatte aktuellste Zug seines Denkens. 334 Vgl. Bollnow 1983. 335 Zitiert wird die Ausgabe Misch 1994. 336 Vgl. o. Kap. I. 337 Misch selbst orientierte sich an der traditionellen Logik in ihrer aristotelischen Gestalt, während sein Schüler Josef König (1893–1974) auch die moderne Junktoren- und Quantorenlogik seit Frege einbezieht. Vgl. dazu Gabriel 1998, 31ff.

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originelle, wenngleich nahezu folgenlos gebliebene Mittelposition ein. Er erkennt die Bedeutung und Geltung der Aussagenlogik an, kritisiert aber den logizistischen Fehlschluss, alle Formen des Wissens und Verstehens gründeten in der Wahrheit von Aussagen. Damit ähnelt seine Position dem pragmatistischen Ansatz von John Dewey (1859–1952), wie ihn dieser in seiner Logik338 entwickelt. Generell geht es Misch darum, den „Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens“339 sichtbar zu machen, also zu zeigen, wie das verstehende Weltverhältnis aus dem Lebensbezug von Organismus und Umwelt hervorgeht und sich dann intern so differenzieren kann, dass es zur Ausbildung einer eigenständigen Sphäre logischer Geltungen kommt, die sich von der Abhängigkeit des expressiven Verhaltens von seinem Kontext lösen kann. Genetisch ist also nach Misch – wie auch bereits für Dilthey – der sinnverstehende Wirklichkeitsbezug primär. Sachlogisch stehen sich aber, wenn sich die propositionale Sprachfunktion einmal ausdifferenziert hat, diese und der hermeneutische Zugang komplementär und gleichberechtigt gegenüber. Unter verschiedenen Titeln entfaltet Misch dasjenige, was seiner Ansicht nach in der traditionellen Logik seit Aristoteles zu kurz gekommen ist: So spricht er von der „produktiv-objektivierende[n] Artikulation“, vom „evozierenden Ausdruck“ und von den „hermeneutischen […] Gestaltungen“.340 Im Unterschied zum propositionalen Ausdruck wird bei diesen Leistungen der Sprache kein bereits außersprachlich individuierter Gegenstand oder abstrakter Sachverhalt identifizierend herausgegriffen, sondern mit sprachlichen Mitteln eine nur erstpersonal vollziehbare Erfahrung ermöglicht. Dies unterscheidet den prägnanten Ausdruck vom präzisen Begriff. Es geht hier also nicht wie bei Heidegger um ein vorprädikatives, sondern gerade um ein postprädikatives „als“: um die Leistung von Sprache, unvertretbar individuell zu machende, leiblich verankerte und emotional getönte Erfahrung zu ermöglichen. Diese Erfahrung darf keinesfalls mit einer Wende nach innen verwechselt werden, denn Mischs Pointe besteht darin, dass auch die evozierende Rede den Lebenszusammenhang von Organismus und Umwelt interpretiert, eben indem sie „Gegenstände“ der objektiven Wirklichkeit nicht wie die wahrheitskonditionale Aussage designativ heraushebt, sondern überhaupt erst erfahrbar macht. Deshalb hat die Artikulation des Bedeutungszusammenhangs in der evozierenden Rede einen „produktiv-objektivierenden“ Charakter. In ihr zeigt sich „die Macht der Rede, die Dinge hervorzurufen“341.

338 339 340 341

Dewey 1986. Misch 1994, Titel. Ebd., 263, 502, 511 et passim. Ebd., 511.

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Mischs Lieblingsbeispiel ist Goethes Ballade Der Fischer.342 In ihr geht es ihm zufolge um die Evokation eines nur im Lebensbezug erschlossenen „Gegenstands“ mit Gestaltcharakter – nämlich Wasser: um „das Wissen von etwas Objektivem, einem so etwas, das uns begegnet, um eben das Ding, was als Stoff genommen, in der Chemie durch die Formel H2O chemisch bestimmt wird, aber nun hier […] vom Lebensvollzug aus“343. Man erkennt, wie hier eine eigenständige Position vertreten wird: Der Akzent liegt auf der primären Verstehensleistung und ihrer Kreativität, nicht auf der vorsprachlichen Erschlossenheit der Welt und genauso wenig auf dem sekundären Verstehen. Misch ist derjenige Autor innerhalb der hermeneutischen Tradition, der den engsten Bezug zwischen dem qualitativ-phänomenalen Erleben und der evozierend-deutenden Kraft der Sprache herstellt. In diesem Zusammenhang spricht er von dem „Anmutungscharakter […], den das uns Begegnende für uns hat“344, aber eben nicht im Sinn einer passiven Hinnahme erlebter Qualitäten, sondern kraft einer kreativen sprachlichen Erschließung.

5. Gadamers Hermeneutik der geschichtlichen Überlieferung Nach dem Erscheinen von Wahrheit und Methode im Jahr 1960 konnte sich HansGeorg Gadamer (1900–2002) als die Stimme der philosophischen Hermeneutik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts etablieren. Dies hängt sicherlich damit zusammen, dass er Heideggers Universalitätsanspruch weiterführte, aber dessen radikale Wende zum praktischen Weltverhältnis und die damit einhergehende Auszeichnung der Möglichkeit über die Wirklichkeit wieder zurücknahm. Stattdessen setzt Gadamer auf das sprachliche Weltverhältnis in der Form, die es als Überlieferungs- und Wirkungszusammenhang angenommen hat. Einer seiner berühmtesten Sätze lautet: „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache.“345 Der Zusammenhang mit dem organischen Lebensprozess, den Dilthey entdeckt hatte, spielt keine systematisch wichtige Rolle, ebenso wenig wie Heideggers vorsprachliche Welterschlossenheit im Zeugzusammenhang. Insoweit wird man Gadamers hermeneutischer Synthese nicht unrecht tun, wenn man sie als eine Re-Philologisierung bei gleichzeitiger Universalisierung versteht und darin den Hauptfaktor ihrer Wirkungskraft erblickt. Die hermeneutische Erfahrung

342 343 344 345

Vgl. ebd., 511–517. Ebd., 513. Ebd., 514 (Hervorhebung ebd.). Gadamer 1990, 478 (Hervorhebung ebd.).

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vollendet sich in ihr im „wirkungsgeschichtlichen Bewusstsein“346, im Einrücken in den Zusammenhang einer Überlieferung. In dieser Hinsicht ist es aufschlussreich, dass Gadamer immer wieder die Modellfunktion der juristischen Hermeneutik hervorgehoben hat.347 In ihr geht es nämlich darum, zu verstehen, ob und wie ein normativ bereits feststehender Sinn (ein bestimmtes, kodifiziertes Gesetz) durch Urteilskraft auf eine Situation, einen Fall angewendet werden kann: Handelt es sich z. B. beim Zündeln in einem Gehölz um (Wald-)Brandstiftung im Sinne des Strafgesetzbuchs? Hier geht es offenkundig allein um sekundäres Verstehen, denn die juristische Hermeneutik hat ja ein autoritatives Textkorpus immer schon im Rücken. Wenn die Rechtsauslegung des Richters zum Paradigma des historischen Verstehens wird, wie Gadamer nahelegt,348 hat dies zur Folge, dass Hermeneutik von der situativen Kreativität der primären Ausdrucksbildung absehen muss. Dies hängt damit zusammen, dass Gadamers hermeneutische Synthese ein bewusstes Gegengewicht zum Subjektivismus und zur Methodenorientierung des modernen Denkens schaffen möchte. Der Titel Wahrheit und Methode ist methodenskeptisch zu verstehen: Hermeneutische Wahrheit definiert sich geradezu dadurch, dass sie nicht als Resultat einer vom wissenschaftlichen Subjekt konzipierten methodischen und/oder experimentellen Herangehensweise verstanden werden kann, sondern nur als SichHineinstellen in den Zusammenhang der Überlieferung. Verstehen und Auslegung heißt: „einen geltenden Sinn [e]rkennen und [a]nerkennen“349. Dabei ist sich Gadamer klar dessen bewusst, dass dies keine rein rezeptive Angelegenheit ist, sondern eine eigenständige Leistung des hermeneutischen Subjekts voraussetzt, die er Applikation, Anwendung, nennt und die durchaus kreative Sinnerweiterungen kennt. Der springende Punkt ist aber, dass „wir jedem Text gegenüber in einer unmittelbaren Sinnerwartung leben“350 und das im Verstehen entstehende Neue deshalb stets ein neues Verstehen des Alten ist. In Heideggers Hermeneutik der Faktizität bleibt es eine offene Frage, ob die Sinnressourcen der Tradition den Situationen der Gegenwart gewachsen sein werden – dieser Aspekt war oben als Kontingenzverschärfung charakterisiert worden. In Gadamers Hermeneutik der Tradition hingegen ist Verstehen per definitionem die Einsicht in sinnstiftende Kontinuität. Verstehen ist also „nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu denken,

346 347 348 349 350

Ebd., 476. Vgl. ebd., 330–346. Dazu auch Jung (im Erscheinen). Vgl. Gadamer 1990, 333. Ebd. Ebd., 332.

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sondern als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen […]“351. Diese Konzeption hat Gadamer durch die berühmten Metaphern des hermeneutischen Horizonts und der Horizontverschmelzung erläutert. Der Horizontbegriff wird hierbei von der Sprache her verstanden: Sprache eröffnet uns, wie Gadamer in Anknüpfung an Wilhelm von Humboldt erläutert, jeweils eine Welt, einen unabschließbaren, sich der Vergegenständlichung entziehenden Sinnhorizont, aus dem einzelne Sinngestalten herausgehoben werden können, der aber nie als ganzer überschaubar ist. Vergangenheit und Gegenwart haben infolge des Zeitenabstands verschiedene Sinnhorizonte, sind aber durch die Kontinuität eines Wirkungszusammenhangs verbunden. Dieser Singular ist entscheidend, denn Gadamer schließt tatsächlich die Möglichkeit aus, dass es eine Pluralität nicht kommensurabler Wirkungszusammenhänge – also Fremdheit, Alterität, in einem starken Sinn – geben könnte, und ebenso die Möglichkeit von tiefen wirkungsgeschichtlichen Brüchen (der Zivilisationsbruch der beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert, auf den Gadamer ja reagiert, wäre hierfür ein plausibler Kandidat). Es sei schlussendlich „ein einziger Horizont, der all das umschließt, was das geschichtliche Bewusstsein in sich enthält“352. Konsequent wird daher Verstehen als der Prozess gedacht, in dem Teile (die noch differenten historischen Horizonte) und Ganzes (der Wirkungszusammenhang der Geschichte) zu einer Einheit verschmelzen. Von dieser Konzeption her ergibt sich auch, was Gadamer den „Vorgriff der Vollkommenheit“353 nennt: Damit knüpft er einerseits an Theoreme der Aufklärungshermeneutik an, etwa an das hermeneutische Billigkeitsprinzip Georg Friedrich Meiers,354 das (ähnlich wie später Willard Van Orman Quine [1908–2000] und Donald Davidson [1917–2003]) dazu auffordert, bei der Auslegung maximale Rationalität zu unterstellen, geht darüber aber noch hinaus, indem er die These aufstellt, „dass nur das verständlich ist, was wirklich eine vollkommene Einheit von Sinn darstellt“355. Vollkommenheit schließt aber Wahrheit ein, und dementsprechend rücken Sinnverstehen und Zustimmung zu dem im Text Behaupteten für Gadamer eng zusammen. Gadamers Auffassung des Überlieferungszusammenhangs betont durchgängig die prägende, autoritative Kraft der Vergangenheit und will den aufklärerischen Gegensatz von Tradition und Vernunft seiner Scheinhaftigkeit überführen. Dem dient die bekannte Lehre von der Rehabilitierung des Vorurteils, die von Heideggers Einsicht 351 352 353 354 355

Ebd., 295 (dort kursiv). Ebd., 309. Ebd., 299. Vgl. Meier 1996a, §§ 89 u. 94. Gadamer 1990, 299.

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ausgeht, dass sich das Dasein die Welt als eine zuhandene erschließt. Bei Gadamer wird dieser pragmatische Vorgriff (der bei Heidegger auch eine sprachlich vermittelte Komponente einschließt) zum geschichtlich tradierten Vorurteil. Es sind die VorUrteile der Tradition, die der geschichtlichen Vernunft ihren Fragehorizont vorgeben: „In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören ihr. Lange bevor wir uns in der Rückbesinnung selber verstehen, verstehen wir uns auf selbstverständliche Weise in Familie, Gesellschaft und Staat, in denen wir leben. Der Fokus der Subjektivität ist ein Zerrspiegel. Die Selbstbesinnung des Individuums ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens. Darum sind die Vorurteile des Einzelnen weit mehr als seine Urteile die geschichtliche Wirklichkeit seines Seins.“356

Der geltungskritischen Reflexion der Subjektivität wird hier also nicht viel zugetraut, genauso wenig ihrem situativen Erleben (das im pragmatistischen Denken immer der Fokus der Entstehung von Neuem ist). Gleichwohl gesteht Gadamer auch zu, dass es illegitime Vorurteile gibt, „deren Überwindung das unbestreitbare Anliegen der kritischen Vernunft ist“357. Unklar bleibt, woher die Kriterien stammen sollen, die legitime von illegitimen Vorurteilen zu unterscheiden erlauben, und nicht nur deshalb hat Gadamers Lehre schon bald unter dem Stichwort „Hermeneutik und Ideologiekritik“ entschiedenen Widerspruch hervorgerufen, für den unter anderen Jürgen Habermas (*1929) und Karl-Otto Apel (*1922) stehen.358 Vorurteile, so wird argumentiert, könnten prinzipiell expliziert, also in Urteile transformiert werden und würden dadurch der geltungsorientierten Kritik zugänglich. Und auch wenn der Horizont als Ganzer sich prinzipiell entziehe, könnten doch spezifisch relevante Vorurteile kritisch distanziert geprüft werden, was dem hermeneutischen Subjekt eine deutlich stärkere Rolle zuweise als in Gadamers Ansatz vorgesehen. Alle bisher genannten Weichenstellungen Gadamers laufen in dem zusammen, was er die „ontologische Wendung der Hermeneutik am Leitfaden der Sprache“359 nennt. Das letzte Wort der großen hermeneutischen Synthese in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist eine Ontologie der Sprache. Was heißt das genau? Die ontologische Wende übernimmt Gadamer ja, wie gezeigt wurde, von Heidegger, bei dem sie aber im vorsprachlich-praktischen Weltumgang gründete. Dieses pragmatische Apriori führt 356 357 358 359

Ebd., 281 (Hervorhebung ebd.). Ebd., 282. Vgl. den Sammelband Apel 1971. So die Überschrift des dritten Teils von Wahrheit und Methode.

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Gadamer nicht weiter, ebenso wenig wie Diltheys Betonung des phänomenalen Erlebens als einer kritischen Instanz gegenüber allen kulturellen Ausdrucksgestalten. Im Resultat werden Sprache und Tradition tendenziell zu einem subjektlosen Prozess, in dem der Interpret die Rolle des Hörenden gegenüber dem Sinnzusammenhang der Wirkungsgeschichte übernimmt. Die aktive Rolle des Sprechers bei der primären Ausdrucksbildung, die vorsprachliche Sinnerschließung im praktischen Umgang mit den Dingen, die leibliche Präsenz, die Relativierung des Sprachlichen in der mathematisch-experimentellen Naturwissenschaft – all das wird zugunsten einer Universalisierung der Sprache zurückgedrängt. „Das hermeneutische Phänomen“, so schreibt Gadamer zusammenfassend, „wirft hier gleichsam seine eigene Universalität auf die Seinsverfassung des Verstandenen zurück, indem es dieselbe in einem universellen Sinn als Sprache bestimmt […].“360 Der Preis für die Rücknahme der pragmatischen Wende zum primären Verstehen besteht also in einer Universalisierung des sprachlichen Weltverhältnisses unter dem Leitaspekt eines von der Tradition geprägten Wirkungszusammenhangs.

6. Aktuelle Tendenzen der Hermeneutik Nach der großen Synthese Gadamers hat es keine vergleichbar wuchtigen Entwürfe einer philosophischen Hermeneutik mehr gegeben. Durch die zunehmende Dominanz der analytischen Philosophie mit ihrem am Propositionalen, an den Aussagen orientierten Sprachverständnis361 wurde Gadamers Traditionalismus zurückgedrängt. Gleichwohl blieb das hermeneutische Denken in verschiedensten Kontexten lebendig und hat sogar im Gefolge zentraler Fragestellungen in den Kognitionswissenschaften neuerdings wieder erheblich an Aktualität gewonnen. Eine wichtige Linie führt hier zunächst zu frankophonen Autoren, die mit der deutschsprachigen hermeneutischen Tradition das Misstrauen gegenüber propositionalistischen Sprachauffassungen teilen und den Textbegriff ins Zentrum rücken. Hierfür stehen die Namen Jacques Derrida (1930–2004) und Paul Ricœur (1913–2005). Der Erstgenannte wird zwar oft im Zusammenhang hermeneutischen Denkens behandelt (und deshalb auch hier erwähnt), was aber systematisch irreführend ist. Derrida geht es nämlich, an Heideggers Gedanken einer Destruktion der ontologischen Tradition 360 Gadamer 1990, 478 (Hervorhebung ebd.). 361 Ein Schlüsselwerk für den deutschen Sprachraum sind hier Ernst Tugendhats (*1930) Martin Heidegger gewidmete Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie von 1976 (= Tugendhat 1976), in denen die These vertreten wird, Heideggers Frage nach dem Sinn von Sein könne und müsse in der formal-semantischen Frage aufgehoben werden, warum sich alles Reden in Ja/Nein-Stellungnahmen zu Propositionen vollziehe.

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aus Sein und Zeit anknüpfend, darum, Texte „dekonstruktivistisch“ als selbstreferenzielle Zeichenzusammenhänge zu lesen, in denen sich Differenzerfahrungen geltend machen. Das freie Spiel der Signifikanten wird dabei nicht mehr von etwas anderem kontrolliert, weder durch Diltheys innere Erfahrung, noch durch Heideggers pragmatischen Weltbezug, noch durch Gadamers Sinnüberschuss der Tradition. Ganz anders als der Differenztheoretiker Derrida versteht sich Paul Ricœur als ein Denker der Vermittlung. Sprache und Handlung, Erklären und Verstehen, das Selbst und der Andere sollen nicht gegeneinander ausgespielt, sondern als Aspekte einer einheitlichen Weltbeziehung verständlich gemacht werden. Wichtig ist hier zunächst Ricœurs Aufsatz Was ist ein Text? (ursprünglich 1970 in einer Festschrift für Gadamer erschienen), der sich gegen die poststrukturalistische „Ideologie des absoluten Textes“362 wendet – also gegen einen Textbegriff, der den außersprachlichen Bezug auf die reale Welt getilgt hat. Dieser Weltbezug wird nun aber nicht einfach über die propositionalen Gehalte des Textes wiederhergestellt, sondern durch eine eigentümliche Verschmelzung strukturalistisch-linguistischer mit hermeneutischen Einsichten. Hierzu greift Ricœur auf Diltheys Unterscheidung zwischen Erklären und Verstehen zurück und interpretiert sie als nur komplementär erfolgreiche Bemühungen um die Aneignung eines Textes. Erklären wird dabei nicht als Kausal-, sondern mit der strukturalen Linguistik als Strukturanalyse verstanden. Sie blendet die Referenz der Texte aus und wendet sich ihrer immanenten Erzeugungslogik zu. Diese zu erklären ist aber in Ricœurs reflexiver Hermeneutik kein Selbstzweck, sondern soll gerade den Übergang von einer naiven zur kritischen Interpretation ermöglichen, die den Text verstehen, d. h. seinen aktuellen Selbst- und Weltbezug erschließen will. Ricœur selbst deutet dieses Verständnis von Hermeneutik als Rückgewinnung des primären Verstehens, von dem Aristoteles in der Abhandlung De interpretatione (Peri hermeneias) ausgegangen sei.363 Das sekundäre Verstehen dessen, der einen Text interpretiert, erklärt sich in Ricœurs Konzeption zunächst die interne Struktur eines Textes und sieht sich dadurch dann in die Lage versetzt, zu verstehen, wie der Text damals auf die außersprachliche Wirklichkeit Bezug genommen hat. Das stellt wiederum die Voraussetzung dafür dar, ihn sich in seiner Gegenwartsbedeutung wieder anzueignen. Ricœurs weitgespanntes Werk ist an produktiven Bezügen zu den verschiedensten Denkrichtungen ungewöhnlich reich und entzieht sich einer zusammenfassenden Darstellung. Selektiv soll daher hier nur noch ein zentrales Motiv herausgehoben wer362 Ricœur 2005, 84. 363 Vgl. ebd., 105. Zu Aristoteles vgl. oben Kap. I.

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den, das die Hermeneutik wieder – in ganz anderer Weise als beim frühen Heidegger – mit dem Selbst und dessen Handlungsfähigkeit zusammenbringt: die Konzeption der narrativen Identität. In den drei Bänden von Zeit und Erzählung (1983–1985), konziser vielleicht aber noch in der Monographie Das Selbst als ein Anderer (1990), entwickelt Ricœur eine „Hermeneutik des Selbst“364, in der vier Fragen nach dem „Wer?“ über den Begriff der Erzählung miteinander verbunden werden: „Wer spricht?, Wer handelt?, Wer erzählt?, Wer ist das Subjekt der moralischen Zuschreibung?“365 Diese vier Fragen möchte Ricœur im selben Zug einer Antwort näher bringen, indem er einen indirekten Zugang zum Selbst wählt (daher auch der Titel des Buchs). Das Selbst entsteht in mehreren Polaritäten von Unmittelbarkeit und Vermittlung: zwischen dem spontan handelnden Ich und dem reflektierten Selbst, dem Selbst und den Anderen sowie der Selbigkeit (Identität über die Zeit) und der Selbstheit (Selbstbezug). Diachrone Identität bildet sich nach Ricœur aus, indem das Selbst sich erzählt und von den anderen erzählt wird. In der Struktur des Geschichtenerzählens, also der Artikulation des zeitlichen und sinnhaften Zusammenhangs von Handlungen sowie ihren Trägern, finde sich genau jene innere Verbindung von Einzelnem und Ganzem, die Verstehen ermögliche. Geschichten vermitteln durch ihren Kompositionsakt die heterogenen und kontingenten Ereignisse, die sie vorantreiben, zu einer Einheit, die es erlaubt, Personen als Figuren innerhalb einer Erzählung zu begreifen: „Es ist die Identität der Geschichte, die die Identität der Figur bewirkt.“366 Damit reiht sich Ricœur in die hermeneutische Tradition der Kritik an einem selbstmächtigen cartesianischen Subjekt ein, betreibt aber nicht einfach dessen ersatzlose Streichung, sondern entwickelt die originelle hermeneutische Konzeption eines situierten Selbst im Netz narrativer Bezüge. Mit der aktuellsten Entwicklung, auf die nun abschließend einzugehen ist, wird das Terrain der Geisteswissenschaften im klassischen Sinn verlassen. Dies ist umso bemerkenswerter, als ja der hermeneutische Ansatz eine wichtige Rolle bei der Zementierung der Differenz von Kultur- und Naturwissenschaften gespielt hat. Es geht hier um hermeneutische Tendenzen in den Kognitionswissenschaften, die systematisch (aber nicht wirkungsgeschichtlich) Diltheys Betonung des Interaktionszusammenhangs von Selbst und Milieu wieder aufnehmen. Man erschließt sie sich am leichtesten vom inneren Zusammenhang zwischen Hermeneutik und Phänomenologie (dem Versuch, Bewusstseinsphänomene möglichst theoriefrei zu beschreiben) aus. Schon Dilthey 364 Ricœur 1996, 26. 365 Ebd., 27 (Hervorhebung ebd.). 366 Ebd., 182.

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hatte ja das phänomenale Erleben als Ausgangspunkt aller Sinnbildungsprozesse herausgestellt und auch dessen Bezug zum physischen Handeln betont. Heidegger verbindet dann die von Edmund Husserl (1859–1938) begründete Phänomenologie mit der hermeneutischen Einsicht, dass sich im Erleben von Situationen und seiner sprachlichen Gestaltung ein Verstehen von Möglichkeiten vollzieht. Das wichtigste Bindeglied hin zu den kognitionswissenschaftlichen Tendenzen ist schließlich Maurice MerleauPontys (1908–1961) Phänomenologie der Wahrnehmung (1945)367, die sich der Verbindung von Leiblichkeit, Wahrnehmung, Sprache und Handeln widmet. Entscheidend für das Verständnis der Entwicklung ist Folgendes: Cognitive science entsteht Anfang der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts als Sammelname für einen interdisziplinären Verbund von Wissenschaften, der sich in einem naturwissenschaftlichen Rahmen der Erforschung kognitiver Leistungen wie Informationsverarbeitung, Mustererkennung, aber auch Emotionalität und Reflexivität widmet. Eine enge Verbindung besteht zur Hirn- und zur Künstliche-Intelligenz-Forschung. Deren klassisches Paradigma, die sogenannte GOFAI (Good Old-Fashioned Artificial Intelligence), geht von der Computermetapher aus und begreift Geist als die mentale Verarbeitung gespeicherter Repräsentationen der Außenwelt. Das Gehirn wird als eine Hardware (oder besser Wetware) verstanden, auf der die Software mentaler Algorithmen „läuft“. Es stellte sich aber zunehmend heraus, dass die typischen kognitiven Leistungen eines Organismus so gar nicht modelliert werden können, weil es nicht möglich ist, den Geist vom Körper und dessen Handeln zu trennen. In dieser Situation – und bestärkt durch die Bemühungen innerhalb der Robotik, „künstliches Leben“ zu entwickeln – besannen sich viele Forscher auf die phänomenologisch-hermeneutische Einsicht, dass Organismen über erlebte Emotionen und Willensakte mit ihrer Umwelt verbunden sind und diese nach Maßgabe ihrer Zuoder Abträglichkeit für den Lebensprozess interpretieren. Dafür hat sich der Begriff der affordance368 eingebürgert. Kognition wird, vereinfacht gesagt, aus dem isolierten Gehirn herausgenommen und in die Welt verlagert: Die verschiedenen Richtungen der embodied, embedded oder extended cognition entstehen. Ein Schlüsselwerk dieser Richtung ist Andy Clarks Being There (1997), das schon im Titel auf Heideggers Hermeneutik des Daseins anspielt.

367 Dt. Ausg.: Merleau-Ponty 1966. 368 Er geht ursprünglich auf den Psychologen J. J. Gibson (1904–1979) zurück. In der Definition Andy Clarks handelt es sich hier um eine „[…] opportunity for use or interaction which some object or state of affairs presents to a certain kind of agent“ (Clark 1997, 172). Heideggers Zuhandenheit lässt grüßen.

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Seit der Wende zur verkörperten Kognition ist eine Vielzahl von Ansätzen entwickelt worden, die sehr unterschiedliche Impulse aus Phänomenologie, Hermeneutik und Pragmatismus aufgreifen. Prominente Vertreter sind neben Andy Clark Shaun Gallagher, Alva Noë und Evan Thompson.369 Sogar von einer Hermeneutischen Kognitionswissenschaft370 ist die Rede. Diese teils heterogenen Ansätze, die häufig an Merleau-Ponty und Heidegger371, aber kaum an Dilthey anknüpfen, sind aber durch den gemeinsamen Bezug auf wenigstens drei miteinander zusammenhängende Grundannahmen verknüpft, die auch in der Entwicklung der philosophischen Hermeneutik eine entscheidende Rolle gespielt haben: Antidualismus, Interaktionszusammenhang von Organismus und Umwelt, als-Struktur des Verstehens. Aufgegriffen werden Ansätze zu einer antidualistisch-naturalistischen Hermeneutik, die – mit dem Buchtitel von Evan Thompson – vom „Mind in Life“ ausgehen, also geistige Operationen des Verstehens als innere Differenzierungen des Lebensprozesses und nicht als etwas prinzipiell Andersartiges betrachten. Diese anticartesianische Ausgangsposition kann sich mittlerweile auf einen breiten Konsens stützen. Sie erledigt allerdings keineswegs die Frage nach der methodischen Differenz von Sinnverstehen und Kausalerklärung. Hier setzt sich immer mehr die Ansicht durch, dass ein besseres Verständnis der Eigenart von Lebensprozessen den Schlüssel zu einer Vermittlung zwischen diesen Polen abgibt. Die Interaktionsschleifen, durch die Organismus und Umwelt verbunden sind, liegen den hermeneutischen Schleifen des menschlichen Verstehens voraus und werden in der embodied cognition als die natürliche Basis des Phänomens „Sinn“ behandelt. Darauf war auch der mittlere Dilthey bereits gestoßen. Die weitere Entwicklung wird hier sicher davon abhängen, inwieweit der Ausgang vom Lebensprozess mit der Einsicht vermittelt werden kann, dass menschliches Verstehen auf symbolischen Artikulationsfähigkeiten basiert, die nicht als Produkte des organischen Erlebens erklärt werden können, obwohl sie von diesem ausgehen. Die als-Struktur des Verstehens taucht nämlich beim Menschen zweimal auf: Bereits im vorsprachlichen Erleben und Handeln des Organismus wird z. B. ein Gegenstand als Werkzeug verstanden, um etwas zu erreichen, und in der reflexiv-distanzierenden Artikulation des sozialen Selbst wird dieses Vorverständnis interpretiert und bewertet. Humanspezifisches Verstehen verbindet immer beides, und die zukünftige Entwicklung der hermeneutischen Denkform wird nicht zuletzt davon abhängen, inwieweit sie 369 Vgl. Gallagher 2005; Noë 2009; Thompson 2007. 370 So der programmatische Titel einer Arbeit von Martin Kurthen (= Kurthen 1994). 371 Eine zentrale Rolle spielt hier der amerikanische Heidegger-Experte Hubert Dreyfus, der mit seinem Kommentar zu Sein und Zeit (Dreyfus 1991) die wichtigste Brücke zwischen hermeneutischen und kognitionswissenschaftlichen Ansätzen im englischen Sprachraum gebaut hat.

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Philosophie

dem antidualistischen wie dem antireduktionistischen Impuls gleichermaßen gerecht wird. „Sinn“ darf nicht auf die Präferenzen des Organismus reduziert, aber genauso wenig von diesen getrennt werden.

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Personenregister A Abaelard, Peter 170, 177, 464, 467, 472, 475, 480, 482, 486, 487, 488, 489, 490, 491, 492 Accursius (Jurist) 292, 298 Achill 31, 45 Acton, Lord John 407 Agricola, Gnaeus Julius 349 Agricola, Rudolf 300 Alanus ab Insulis 64, 463, 465 Albertus Magnus 464, 467, 476 Alciatus, Andreas 296, 299 Alexander von Hales 173 Alexy, Robert 337, 340 al-Fārābī, Abū Nasr Muhammad 56 Alighieri, Dante 74 Alkuin 166, 167, 172, 463 Althusius, Johannes 301 Ammianus Marcellinus 350 Ammonius Hermiae 467, 468 Anaxagoras 31 Anselm von Canterbury 169, 464, 471 Anselm von Laon 168 Antimachos von Kolophon 33 Antisthenes 31 Apel, Karl-Otto 340, 542 Aphrodite 13, 30 Apollon 30 Appian (Historiker) 349 Aquila (Bibelübersetzer) 146, 153 Arator 50 Ares 30 Aretino, Pietro 72 Ariès, Philippe 415 Ariosto, Ludovico 74 Aristarch von Samothrake 27, 34, 35, 48 Aristophanes von Byzanz 34 Aristoteles 13, 33, 34, 40, 46, 47, 56, 67, 69, 70, 72, 73, 79, 83, 85, 172, 173, 175, 284, 300, 303,

339, 352, 363, 441, 442, 443, 451, 457, 458, 459, 460, 461, 462, 464, 466, 467, 468, 476, 492, 499, 502, 518, 529, 537, 538, 544 Arius 159 Arrian 349 Artaud, Antonin 429 Artemis 30 Asklepiades von Myrlea 35 Äsop 58 Ast, Friedrich 125, 126, 519, 522 Athanasius von Alexandria 159 Athene 30 Augustinus 15, 51, 60, 151, 159, 169, 175, 192, 349, 351, 442, 466, 470, 473, 474, 481, 490, 497, 499, 532 Averroës 56 Avian 477 Avicenna 56

B Bacon, Francis 372 Baldus de Ubaldis 298 Barthes, Roland 119, 258, 426, 427, 429 Barth, Karl 20, 243, 245, 264, 265, 267 Bartolus de Saxoferrato 298, 323 Baudelaire, Charles 129 Baudoin, François 365, 368 Bauer, Georg Lorenz 236, 237 Baumgarten, Alexander Gottlieb 86, 102 Baumgarten, Siegmund Jacob 212, 499, 508 Baumgartner, Walter 228 Baur, Ferdinand Christian 223 Bayle, Pierre 370 Bea, Augustin 253 Beard, Charles 420, 421 Becker, Carl 420, 421 Beck, Johann Tobias 232, 242 Beda Venerabilis 166, 167, 168, 169 Benedikt XV. (Papst) 252

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Personenregister

Bengel, Johann Albrecht 203, 209 Bentham, Jeremy 324 Berengar von Tours 463 Berg, Klaus 269 Bernardus Silvestris 59, 64, 480 Bernhard von Clairveaux 487 Bernhard von Utrecht 478 Bernheim, Ernst 397 Berr, Henri 402 Betti, Emilio 123, 127, 131, 341 Binding, Karl 316, 317 Biondo, Flavio 363 Blackstone, William 303, 305, 306 Bloch, Marc 357, 370, 414 Boccaccio, Giovanni 68 Bodin, Jean 302, 365, 368 Bodmer, Johann Jacob 84, 89 Boeckh, August 98, 109, 240, 517, 523 Boethius 172, 467, 473, 474, 476 Bonaventura 175, 464 Bossuet, Jacques-Bénigne 201 Bouhours, Dominique 79 Bourdeau, Louis 400 Bourdieu, Pierre 120 Bousset, Wilhelm 224 Braudel, Fernand 414, 428 Breitinger, Johann Jacob 84 Bruni, Leonardo 362 Bruno, Giordano 72 Bucer, Martin 189 Buckle, Henry Thomas 401 Bülow, Oskar 321, 322 Bultmann, Rudolf 20, 230, 242, 263, 264, 268, 269, 274 Burckhardt, Jacob 398 Bury, John Bagnell 401 Buxtorf, Johannes d. Ä. 202

Calvin, Johannes 188, 189, 199 Camerarius, Joachim 200 Cappel, Louis 202, 247 Carpzov, Johann Gottlob 232 Cassiodor 52, 359 Cassius Dio 349 Castelvetro, Lodovico 71 Castracani, Castruccio 362, 367 Cato der Ältere, Marcus Porcius 349 Celan, Paul 125 Celsus (Jurist) 283 Chaunu, Pierre 415 Childs, Brevard S. 147, 265 Chladenius, Johann Martin 19, 125, 126, 370, 376, 389, 393, 494 Chrétien de Troyes 59, 65 Christine von Lothringen 204 Chrysipp von Soloi 31 Cicero, Marcus Tullius 33, 54, 69, 77, 166, 282, 286, 300, 339, 348, 352, 459, 461, 476 Clark, Andy 546, 547 Clauberg, Johannes 200, 494, 503 Clausen, Henrik Nicolai 240 Clemens VIII. (Papst) 196 Clemens von Alexandria 148, 153 Coing, Helmut 280, 338 Coke, Edward 303 Collingwood, Robin 423 Comte, Auguste 400, 401, 402, 405, 419 Conring, Hermann 301 Conzelmann, Hans 231 Cornutus, Lucius Annaeus 31 Cosimo I. (Herzog von Florenz) 297 Craig, John 369 Cremer, Hermann 233 Croce, Benedetto 423 Crusius, Christian August 504

C

D

Caepolla, Bartholomaeus 299 Caesar, Gaius Julius 349 Cajetan, Thomas de Vio 195 Calov, Abraham 193, 194

Dahn, Felix 412 Daniélou, Jean 256 Dannhauer, Johann Conrad 199, 494, 497, 501, 502, 505, 515

Personenregister Danto, Arthur C. 423 Darwin, Charles 404, 519 Davidson, Donald 541 da Vinci, Leonardo 372 Delbrück, Ferdinand 95 Delitzsch, Franz 232 Delitzsch, Friedrich 228 de Man, Paul 134, 135, 136 Demokrit von Abdera 451, 452, 455, 458, 462 de Rossi, Giovanni Bernardo 218 Derrida, Jacques 135, 258, 394, 426, 427, 543, 544 Descartes, René 304, 368, 369, 372, 430 de Wette, Wilhelm Martin Leberecht 220 Dewey, John 423, 525, 533, 538 Dibelius, Martin 230 Didymos der Blinde 155 Dietrich von Freiberg 465 Dilthey, Wilhelm 20, 22, 23, 113, 156, 240, 243, 372, 389, 396, 397, 405, 497, 516, 517, 518, 519, 523, 528, 529, 530, 531, 535, 536, 537, 538, 539, 543, 544, 545, 547 Diodor von Tarsus 155 Dionysios Thrax 35, 36 Dionysios von Halikarnass 48 Donatus, Aelius 51 Donellus, Hugo 296, 299, 300 Dray, William H. 423 Drewermann, Eugen 262 Dreyfus, Hubert 547 Droysen, Johann Gustav 21, 240, 393, 395, 397, 401, 405, 411, 425, 523 du Bellay, Joachim 68 Duby, Georges 412 Durkheim, Emile 402

E Ebeling, Gerhard 261, 269 Eco, Umberto 131, 258 Edelmann, Johann Christian 216 Ehrlich, Eugen 322, 325 Eichhorn, Albert 224, 226 Eichhorn, Johann Gottfried 215 Einstein, Albert 419

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Engels, Friedrich 405 Engerman, Stanley 416 Engisch, Karl 337, 342 Ephoros von Kyme 351 Epikur 458 Erasmus von Rotterdam 77, 181, 182, 184, 185, 188, 193, 461 Eratosthenes 34, 48 Ernesti, Johann August 215, 235 Esra (Bibel) 202 Esser, Josef 309, 343 Estienne, Robert 193 Eucherius von Lyon 176 Eusebius von Caesarea 155, 349, 358

F Febvre, Lucien 414 Feine, Paul 234 Fénelon, François 380 Feuerbach, Paul Johann Anselm von 330 Feyerabend, Paul 419, 438 Flacius Illyricus, Matthias 17, 19, 193, 194, 195, 497, 499 Flavius, Gnaeus.  Siehe Kantorowicz, Hermann Flavius Josephus 349 Fogel, Robert 416 Foglietta, Uberto 366 Fonck, Leopold 251 Fontenelle, Bernard Le Bovier de 215 Foucault, Michel 22, 136, 432 Fracastoro, Girolamo 72 Francke, August Hermann 209, 212 Franck, Sebastian 188 Frank, Manfred 124, 127, 131, 520 Frege, Gottlob 537 Freigius, Thomas 300 Freud, Sigmund 137, 138, 260 Freytag, Gustav 412 Frost, Robert 11 Fuchs, Ernst 261, 269 Fülleborn, Georg Gustav 95 Furet, François 415 Fustel de Coulanges, Numa-Denis 406

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Personenregister

G Gabler, Johann Philipp 215, 267 Gadamer, Hans-Georg 22, 123, 124, 125, 126, 128, 129, 131, 258, 261, 268, 274, 342, 364, 443, 458, 460, 510, 516, 518, 520, 529, 535, 536, 537, 543, 544 Gaius (Jurist) 281, 282 Galilei, Galileo 204, 205, 372 Gallagher, Shaun 547 Gallie, Walter Bryce 423 Gardiner, Patrick 423 Gatterer, Johann Christoph 378, 380 Gebauer, Georg Christian 297 Geddes, Alexander 246, 247, 248 Geertz, Clifford 141, 434 Gellert, Christian Fürchtegott 85 Gellius (Historiker) 351 George, Stefan 125 Gerhard, Johann 193, 194 Gese, Hartmut 268 Gesenius, Wilhelm 218 Gibbon, Edward 377 Gibson, J. J. 546 Gilbert von Auxerre 168 Gilbert von Poitiers 464 Ginzburg, Carlo 435 Giraldi Cinzio, Giambattista 74 Godefroy, Denis 297 Goethe, Johann Wolfgang 11, 89, 91, 92, 93, 103, 530, 539 Goeze, Johann Melchior 232 Gorgias von Leontinoi 453, 459, 462 Gottfried von Straßburg 65 Gottschalk von Orbais 463 Gottsched, Johann Christoph 84, 86, 87, 88, 106 Graf, Karl Heinrich 223 Gratian (Kirchenrechtler) 289 Gratz, Peter Alois 246, 247, 248 Greenblatt, Stephen 140 Green, John Richard 408 Gregor der Große (Papst) 166 Gregor VII. (Papst) 166 Gregor von Nyssa 155

Gregor von Tours 359 Greßmann, Hugo 224, 228 Griesbach, Johann Jakob 203, 218, 247 Groeben, Norbert 121 Grohmann, Johann Christian August 94 Grotius, Hugo 200, 201, 202, 304 Guicciardini, Francesco 362, 364, 368 Gunkel, Hermann 224, 225, 226, 227, 228, 229, 230 Gunneweg, Antonius H. 269

H Habermas, Jürgen 339, 341, 542 Hahn, August 218, 232 Hahn, Roger 427 Hamann, Johann Georg 95 Harnack, Adolf 149, 150 Hassemer, Winfried 343 Heck, Philipp 325 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 103, 105, 122, 220, 221, 236, 379, 384, 385 Hegendorf, Christoph 300 Heidegger, Martin 11, 23, 115, 117, 243, 244, 261, 341, 516, 518, 520, 525, 526, 537, 538, 539, 540, 541, 542, 543, 544, 545, 546, 547 Heine, Heinrich 398, 402 Heisenberg, Werner 419 Hektor 31, 45 Helena 33 Helios 30 Hempel, Carl G. 423 Hengstenberg, Ernst Wilhelm 232 Hephaistos 30 Hera 30 Heraklitus 31, 32 Heraklit von Ephesos 30 Herder, Johann Gottfried 92, 95, 104, 215, 225 Hermannus Alemannus 56 Hermes 13, 30, 444 Herodot 14, 30, 33, 348, 353, 355 Hesiod 30, 42 Heyne, Christian Gottlob 100, 215 Hieronymus 147, 149, 151, 162, 168, 172, 181, 358

Personenregister Hirsch, Eric Donald 123, 124, 127, 131 Hobbes, Thomas 304 Hölderlin, Friedrich 117 Holtzmann, Heinrich Julius 224 Homer 26, 27, 28, 29, 30, 32, 33, 35, 42, 49, 73, 74, 101, 152, 153, 155, 278, 279, 348, 451, 453 Horaz 13, 40, 54, 56, 58, 67, 69, 71 Hort, Fenton John Anthony 219 Hotho, Heinrich Gustav 103 Hotman, François 296, 297, 299, 300 Houssaye, Henry 410 Hrabanus Maurus 166, 168 Hubmann, Heinrich 338 Hug, Johann Leonhard 246, 247, 248 Hugo von St. Viktor 60, 475, 488, 492 Humboldt, Wilhelm von 380, 384, 389, 390, 395, 521, 530, 541 Hume, David 377 Hummelauer, Franz von 250 Hupfeld, Hermann 218 Husserl, Edmund 117, 528, 546

I Ihering, Rudolf von 308, 316, 317, 324, 325, 339 Ion (Platon) 449, 450, 451, 452, 453 Irenäus von Lyon 157 Irnerius von Bologna 289, 292 Isenbiehl, Johann Lorenz 246, 248 Iser, Wolfgang 128, 129 Isidor von Sevilla 52, 58, 59, 166, 167, 351, 359, 360 Ivo von Chartres 491

J Jahn, Johann 246, 247, 248 Japp, Uwe 124, 125, 131 Jaspers, Karl 260 Jauß, Hans Robert 128 Jesus Christus 13, 14, 17, 19, 62, 64, 144, 145, 147, 149, 150, 151, 153, 154, 156, 157, 159, 160, 161, 174, 176, 180, 183, 184, 186, 187, 188, 191, 201, 205, 207, 208, 213, 216, 220, 222, 224, 227, 229, 230, 233, 234, 236, 237, 240, 242, 244, 245,

607

246, 248, 251, 254, 256, 263, 267, 269, 272, 357, 471, 473, 483, 490 Joachim von Fiore 178 Johannes Cassianus 176, 495 Johannes Chrysostomus 155 Johannes Eriugena 463 Johannes (Evangelist) 222, 227 Johannes Paul II. (Papst) 273 John Wyclif 178 Jordanes 359 Joseph, Mann Marias (Bibel) 490 Jülicher, Adolf 234 Justinian (röm. Kaiser) 14, 281, 290, 297 Juvencus, Gaius Vettius Aquilinus 50

K Kähler, Martin 234 Kallimachos von Kyrene 34 Kant, Immanuel 93, 107, 216, 311, 314, 372, 407, 427 Kantorowicz, Hermann 330 Karl der Große 166 Käsemann, Ernst 269 Kaufmann, Arthur 343, 345 Kayser, Wolfgang 114 Kebes von Theben 298 Keckermann, Bartholomäus 371 Keil, Karl August Gottlieb 236 Kelsen, Hans 314, 324, 334 Kennicott, Benjamin 218 Kepler, Johannes 204, 372 Kierkegaard, Søren 242, 520, 530, 532 Kleanthes von Assos 31 Klopstock, Friedrich Gottlob 94 Koch, Erduin Julius 102 Kocka, Jürgen 416, 418 Kohler, Josef 316, 322 Kompilator der Berner Scholien (anonym) 50 König, Josef 537 Konrad von Hirsau 478, 479, 482 Kopernikus, Nikolaus 204 Korff, Hermann August 113 Kraft, Julius 420

608

Personenregister

Krates von Mallos 31, 32 Kratylos (Platon) 452 Kriele, Martin 331, 338, 343 Kristeva, Julia 136 Kuenen, Abraham 219, 225 Kuhn, Thomas S. 438 Kurthen, Martin 547

Lukas (Evangelist) 146, 147, 222, 224 Lukian von Antiochia 147, 155 Lukian von Samosata 349, 374 Lullus, Raimundus 465, 471 Luther, Martin 11, 17, 169, 187, 188, 189, 190, 191, 195, 205, 230, 495, 520, 530, 532 Lyotard, Jean-François 257

L

M

Labrousse, Ernest 414 Lacan, Jacques 137, 429 Lachmann, Karl 100, 218, 219 Lacombe, Paul 407 Lactantius (Laktanz), Lucius Caecilius 50 Lagrange, Marie Joseph 251, 252 Lamprecht, Karl 402, 403, 408, 414 Landino, Cristoforo 69 Lanfrank von Bec 463 Langlois, Charles-Victoire 406 Langton, Stephen 172 La Peyrère, Isaac de 205 Lardreau, Guy 412 Larenz, Karl 332, 337, 343 Lavisse, Ernest 406 Lecky, William Edward 401 Leibniz, Gottfried Wilhelm 83, 427, 511, 512 Lenormant, François 251 Leo XIII. (Papst) 250 Le Roy Ladurie, Emmanuel 415, 428, 436 Lessing, Gotthold Ephraim 90, 215, 232 Lessing, Theodor 419, 420 Lévi-Strauss, Claude 430 Levita, Elias 202 Lichtenberg, Georg Christoph 379 Lightfoot, John 200 Livius, Titus 14, 280, 349, 356 Locke, John 206 Loisy, Alfred 251, 252 Lubac, Henri de 165, 176, 256 Lübbe, Hermann 436 Lucanus (Lukan), Marcus Annaeus 58 Lücke, Friedrich 240, 520 Ludwig XIV. (frz. König) 303 Luhmann, Niklas 120

Mabillon, Jean 370 Machiavelli, Niccolò 362, 367, 368 Macrobius 33, 59, 480 Mallarmé, Stéphane 125 Manegold von Lauterbach 166 Manetti, Gianozzo 182 Mann, Golo 435, 436 Mannheim, Karl 420 Marcion 149, 150 Marino, Giambattista 78 Markus (Evangelist) 147, 224 Martianus Capella 473 Marx, Karl 324, 405, 436 Marxsen, Willi 231 Matthäus (Evangelist) 147, 222, 224, 248 Mead, George Herbert 525 Meier, Georg Friedrich 19, 86, 125, 126, 501, 519, 541 Meinecke, Friedrich 385, 402 Meister Eckhart 465, 470, 471 Melanchthon, Philipp 188, 189, 191, 300, 496, 497 Merklein, Helmut 266 Merkur 473 Merleau-Ponty, Maurice 546, 547 Metrodor von Lampsakos 31 Michaelis, Johann David 215 Michelet, Jules 408, 409 Mill, John 203 Mill, John Stuart 400 Misch, Georg 536 Modestinus (Jurist) 281 Monod, Gabriel 407 Montaigne, Michel de 463 Montesquieu, Charles Louis de Secondat de 377

Personenregister Morin, Jean 202 Moritz, Karl Philipp 95 Moses 52, 220, 221, 256 Müller, Friedrich 343 Müntzer, Thomas 188 Mussato, Albertino 68, 71, 72

N Neoptolemos von Parion 46 Nestorius von Konstantinopel 159 Newton, Isaac 369 Niebuhr, Barthold Georg 384, 385 Nietzsche, Friedrich 398, 402, 419, 429, 510 Nikolaus von Kues 372, 463, 465, 471 Nikolaus von Lyra 168, 174 Noë, Alva 547 Noth, Martin 231 Novalis 93

O Oakeshott, Michael 423 Odysseus 28, 33 Oeming, Manfred 259 Olshausen, Hermann 232 Onkelos (Bibelübersetzer) 145, 146 Origenes 52, 147, 148, 149, 155, 168, 176, 183, 470, 495 Orosius, Paulus 350 Otfrid von Weißenburg 62, 63 Overbeck, Franz 234, 237 Ovid 64, 166 Ozouf, Jacques 415

P Pannenberg, Wolfhart 268 Papinian 281 Patrizi, Francesco 72, 365, 368 Paulus (Apostel) 146, 149, 184, 200, 221, 222, 223, 224, 227, 532 Paulus Diaconus 359 Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob 216 Paulus (Jurist) 281, 286, 288, 293 Paul VI. (Papst) 196, 256, 273

609

Peisistratos 101 Petrarca, Francesco 68, 70, 364 Petrus (Apostel) 148, 221, 224, 362 Petrus Comestor 172 Petrus Lombardus 169, 170, 474 Philargyrius 50 Philo von Alexandria 153, 155, 158, 159, 495 Piccart, Michael 493 Pichon, Thomas-Jean 372 Pictor, Quintus Fabius 349 Pindar 29 Pius IX. (Papst) 249 Pius X. (Papst) 250 Pius XII. (Papst) 253, 255 Planck, Gottlieb Jacob 382 Planck, Max 419 Platon 15, 29, 30, 33, 40, 43, 45, 67, 303, 443, 445, 458, 459, 462, 480, 492 Plessner, Helmuth 528 Plutarch 32, 37 Poliziano, Angelo 75, 76 Polybios 349 Pongs, Hermann 114 Pontano, Giovanni 364 Popper, Karl 341, 423 Porphyrios 32, 172, 173 Poseidon 30 Pothier, Robert Joseph 305 Pound, Roscoe 325 Priscian 166 Proklos 32 Protagoras (Platon) 34 Prudentius 50 Pseudo-Longinus 40, 48, 67, 69 Puchta, Georg Friedrich 314 Pufendorf, Samuel von 304, 306 Puttenham, George 72

Q Quine, Willard Van Orman 541 Quintilian 37, 38, 54, 69, 77, 183, 300, 352, 353, 459, 461

610

Personenregister

R Radbruch, Gustav 333, 334 Rambach, Johann Jakob 209 Ramus, Petrus 300 Ranke, Leopold von 21, 356, 389, 392, 394, 403, 407, 408, 411, 412 Rehm, Walter 113 Reimarus, Hermann Samuel 216 Remigius von Auxerre 476 Renan, Ernest 251 Reuchlin, Johannes 181 Richard von St. Viktor 60 Rickert, Heinrich 402 Ricœur, Paul 133, 258, 268, 274, 543 Ritschl, Albrecht 223, 233 Robbe-Grillet, Alain 429 Robortello, Francesco 365 Rogerius, Constantius 299 Rosenkranz, Karl 103, 105, 106 Roth, Ulli 269 Rötscher, Heinrich Theodor 103 Rümelin, Gustav 322 Rümelin, Max von 325

S Saint-Evremont, Charles de 79 Saint-Pierre, Charles-Irénée de Castel, Abbé de 370 Sallust 349 Salutati, Coluccio 68, 71 Sanders, James A. 269 Sardi, Alessandro 365 Sartre, Jean-Paul 126 Saussure, Ferdinand de 258 Savigny, Friedrich Carl von 21, 295, 309, 313, 314, 315, 316, 326, 331, 340, 341 Scaliger, Joseph Justus 76 Scaliger, Julius Caesar 68, 69, 72, 74 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 220 Scherer, Wilhelm 109, 110, 111 Schiller, Friedrich 91, 106 Schlatter, Adolf 233, 242 Schlegel, August Wilhelm 104

Schlegel, Friedrich 95, 104, 105, 371, 519 Schlegel, Johann Adolf 85 Schlegel, Johann Elias 85 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 20, 22, 97, 98, 113, 123, 125, 126, 131, 132, 240, 243, 341, 465, 502, 516, 519 Schlözer, August Ludwig 378, 381 Schmidt, Karl Ludwig 229 Schmidt, Siegfried J. 121 Schmitt, Carl 332 Schroeckh, Johann Matthias 370 Schweitzer, Albert 227 Sedulius 50 Seeley, John 408 Seemüller, Sebastian 247 Seignobos, Charles 406, 407 Semler, Johann Salomo 201, 212, 215, 235, 508 Servius (Grammatiker) 49, 50, 351, 476 Sextus Empiricus 453, 454 Sidney, Philip 68, 72 Sieyès, Emmanuel Joseph, Abbé 379 Simonides von Keos 34 Simon, Richard 101, 200, 201, 202, 203 Sixtus V. (Papst) 196 Skamandros 30 Sokrates 33, 449, 452 Spangenberg, Georg August 297 Spener, Philipp Jakob 207, 208 Spengler, Oswald 420 Speroni, Sperone 365 Spinoza, Baruch de 206, 216 Staiger, Emil 114, 125 Stammler, Rudolf 322 Stampe, Ernst 325 Stäudlin, Carl Friedrich 237 Stier, Rudolf 232 Stone, Lawrence 435 Strauß, David Friedrich 220 Strich, Fritz 113 Stryk, Samuel 303 Stubbs, William 408 Stuhlmacher, Peter 268 Suárez, Francisco 303 Süvern, Johann Wilhelm 95

Personenregister Sybel, Heinrich von 393 Symmachus (Bibelübersetzer) 146, 153 Szondi, Peter 124, 125, 128, 129, 131

T Tacitus, Publius Cornelius 14, 349, 356 Taine, Hippolyte 110, 401 Tasso, Torquato 74 Taylor, Charles 519 Tertullian 148, 157, 158 Tesauro, Emanuele 79 Theagenes von Rhegion 30, 33 Theodoret von Cyrus 155 Theodor von Mopsuestia 155 Theodotion 146, 153 Thierry von Chartres 464 Tholuck, August 232 Thomasius, Christian 304, 305, 506, 507 Thomas von Aquin 68, 169, 173, 176, 254, 303, 464, 467, 470, 471, 476 Thompson, Evan 547 Thukydides 14, 30, 348, 355 Tigrinius 323 Tindal, Matthew 206, 207 Tischendorf, Constantin von 219 Tocqueville, Alexis de 409 Toland, John 206, 207 Torelli, Lelio 297 Torrentino, Lorenzo 297 Treitschke, Heinrich von 11, 410 Trevelyan, George M. 408, 411 Tribonian 281, 282, 297 Troeltsch, Ernst 217, 268, 402 Tugendhat, Ernst 543

U Ulpian 281 Unger, Rudolf 113

V Valla, Lorenzo 77, 182, 363 van der Hooght, Everardus 218 Varro, Marcus Terrentius 37

611

Vatke, Wilhelm 221 Vergil 49, 50, 59 Vico, Giambattista 373, 389 Viehweg, Theodor 339 Viperano, Giovanni Antonio 365 Vischer, Wilhelm 267 Volney, Constantin François de 370 Voltaire, François-Marie Arouet 377, 381 von Hofmann, Johann Christian Konrad 232, 233, 242 von Rad, Gerhard 231, 267, 268 Vovelle, Michel 415

W Wach, Adolf 316 Wachler, Ludwig 105 Wachsmuth, Wilhelm 392 Wagner, Sebastian 247 Walzel, Oskar 114 Weber, Max 22, 328, 402, 418 Wehler, Hans-Ulrich 416, 418, 436 Weinberger, Ota 327 Weiß, Johannes 224, 227 Weizsäcker, Carl 223, 224 Wellhausen, Julius 225, 228, 230, 234 Westcott, Brooke Foss 219 Wettstein, Johann Jakob 203 Whitby, Daniel 232 White, Hayden 426, 427, 429, 436 Wieacker, Franz 337 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 109 Wilhelm von Champeaux 482 Wilhelm von Conches 464, 474, 480 Wilhelm von Ockham 465 Winckler, Hugo 228 Windelband, Wilhelm 397 Wittgenstein, Ludwig 261, 309, 340, 422, 423, 522 Wolff, Christian 82, 83, 86, 212, 305, 306, 507, 512, 516 Wolf, Friedrich August 98, 105 Wrede, William 224, 227

612

Personenregister

X Xenophanes von Kolophon 30 Xenophon 349 Xénopol, Alexandre 407

Z Zachariae, Karl Salomon 313 Zahn, Theodor 233 Zasius, Ulrich 296, 298

Zenodot von Ephesos 34 Zenon von Kition 31 Zippelius, Reinhold 338 Zwingli, Huldrych 188, 189

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