Philosophie der Existenz Aktuelle Beitrage von der Ontologie bis zur Ethik

Kaum ein anderer philosophischer Grundbegriff hat so vielfältige und auf den ersten Blick disparate philosophische Debat

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Philosophie der Existenz Aktuelle Beitrage von der Ontologie bis zur Ethik

Table of contents :
Einleitung......Page 6
Inhaltsverzeichnis......Page 10
Autorenverzeichnis......Page 11
Ipsum Esse subsistens. Thomas von Aquin und die existierende Existenz......Page 13
Literatur......Page 25
Existenz, Zeit und Ewigkeit in Spinozas Ethik......Page 26
Literatur......Page 38
Frege über Existenz und die Hierarchie der Funktionen......Page 39
Literatur......Page 54
Sein und Existenz......Page 56
Literatur......Page 75
Die logische Phänomenologie der Existenzaussagen......Page 76
Literatur......Page 96
Existenz und Quantifikation......Page 97
Literatur......Page 129
Wo ist er denn, der Osterhase? Überlegungen zur Bezugnahme in fiktionalen Kontexten......Page 130
Literatur......Page 145
Die Zeitlosigkeit der Existenz und das Vergehen der Zeit......Page 147
Literatur......Page 156
Was heißt (eigentlich) ‚authentisch existieren‘?......Page 157
Literatur......Page 173

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Andreas Luckner / Sebastian Ostritsch (Hg.)

Philosophie der Existenz Aktuelle Beiträge von der Ontologie bis zur Ethik

ABHANDLUNGEN ZUR PHILOSOPHIE

Abhandlungen zur Philosophie

In dieser Reihe erscheinen Monographien und Sammelbände zur Philosophie bzw. zu angrenzenden oder die Fachgrenze überschreitenden Themen. Klassische Gebiete sollen neu abgesteckt, aktuelle Felder bearbeitet und innovative Fragen formuliert und zur Diskussion gestellt werden. Wir freuen uns über Ihr Interesse und Ihren Vorschlag!

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/15906

Andreas Luckner  Sebastian Ostritsch (Hrsg.)

Philosophie der Existenz Aktuelle Beiträge von der Ontologie bis zur Ethik

Hrsg. Andreas Luckner Universität Stuttgart Stuttgart, Deutschland Sebastian Ostritsch Universität Stuttgart Stuttgart, Deutschland

Abhandlungen zur Philosophie ISBN 978-3-476-04879-0 https://doi.org/10.1007/978-3-476-04880-6

ISBN 978-3-476-04880-6 (eBook)

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. J.B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart Satz und Herstellung: le-tex publishing services GmbH J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Einleitung

„To be or not to be, that is the question“. Mit diesen Worten lässt William Shakespeare seinen Protagonisten Hamlet einen der wohl berühmtesten Monologe der Dramengeschichte beginnen. Bei Hamlets Frage nach Sein oder Nichtsein geht es klarerweise darum, ob es besser sei, als vom Leid geplagter Mensch weiterzuleben oder zu sterben. Hamlet selbst rückt letztlich vom Suizid ab. Denn wer wisse schon, ob der Tod wirklich das erhoffte Nichtsein bringe? Vielleicht führe des Schlafes Bruder ja auch Träume mit sich, die es zu fürchten gilt. Es ist diese Furcht, die Hamlet dazu bringt, die Übel des Lebendigseins den Verlockungen der Totenruhe vorzuziehen. Sieht man von den spekulativen Hypothesen über ein Nachleben ab, wie Hamlet sie anstellt, dann scheint die Frage nach Sein oder Nichtsein nicht nur schwerer, sondern unverständlich zu werden: Wie sollte man denn abschätzen können, ob es besser oder schlechter sei, nicht zu sein? Die meisten von uns können sich bestimmt eine Welt vorstellen, in der es uns jeweils nicht gäbe. Existenz, so würden hier manche Philosophen sagen, ist eben eine Eigenschaft, die zwar ausnahmslos jedem Seienden zukommt, aber nur kontingenterweise. Anders ausgedrückt: Es gibt keine metaphysische Notwendigkeit, dass ein bestimmtes Individuum existiert, also auch ich nicht. Und dennoch: Insofern wir eben schon Seiende sind, existieren wir auch und können daher als Seiende nicht nicht existieren. Es ist für uns jeweils als Individuen nicht denkbar, dass wir nicht existieren. Genauer: Wir haben keinen Begriff, ja noch nicht einmal eine Vorstellung davon, wie es ist, nicht zu sein. Das Nichtsein entzieht sich unseren Versuchen, es auf gewöhnliche Weise – nämlich als irgendwie mit dem Seienden verbunden – gedanklich zu fassen. Wenn wir aber nun von nirgendwoher wissen können, was es heißt, nicht zu existieren – wie sollten wir dann jemals begreifen, was existieren wirklich heißt? Dieses Rätsel ruft endgültig die Philosophie auf den Plan. Es ist – frei nach Hegel – die Aufgabe der Philosophie, unsere bloße Bekanntschaft mit der Welt und den Dingen in eine echte Erkenntnis zu verwandeln. Dasselbe gilt entsprechend auch für die Existenz. Bekannt ist sie uns, die wir existieren, schon immer. Erkennen jedoch müssen wir sie allererst noch. V

VI

Einleitung

Die Wege, die der Philosophie der Existenz bei diesem Unterfangen zur Verfügung stehen, sind so vielfältig, wie die Philosophie überhaupt: Als Ontologie begibt sich die Philosophie gewissermaßen direkt in die Höhle des Löwen. Als Sprachphilosophie und philosophische Logik bevorzugt sie den Umweg über die Art und Weise, wie wir über Existenz und Existierendes reden bzw. darüber reden sollten. Zudem kann sich die Philosophie der Existenz auch ihrer eigenen Geschichte bedienen, um im Gefolge eines großen historischen Gewährsmannes, oder aber auch in kritischer Distanz zu ihm, sich an die Entschlüsselung des Rätsels der Existenz zu wagen. Schließlich – und das wird leider allzu oft übersehen – sollte die Philosophie auch einen Weg zu der konkreten, lebenspraktischen und ethischen Dimension der Existenzfrage zurückfinden, die nicht nur Shakespeares dänischen Prinzen, sondern uns alle – ob Philosophen oder Nichtphilosophen – auf irgendeine Art und Weise bewegt. Die Beiträge dieses Bandes, die anlässlich einer von den Herausgebern organisierten Tagung im Sommer 2018 in Stuttgart entstanden sind, spiegeln diese vielfältigen Möglichkeiten, philosophisch über Existenz nachzudenken, wider. Den Anfang macht Andreas Schmidt mit dem ersten von drei philosophiehistorisch ausgerichteten Beiträgen. Schmidt rekonstruiert Thomas von Aquins Position zur Frage, was Existenz ist. Er zeichnet nach, dass sich nach Thomas die Existenz zusammengesetzter Entitäten, die aus Existenz und Wesen bestehen, nicht denken lässt ohne eine Entität, bei der Existenz und Wesen zusammenfallen. Diese Entität ist für Thomas Gott. Dass die Existenz das Wesen Gottes ausmacht, bedeutet, dass Gott reine Existenz ist. Die Existenz der Geschöpfe denkt sich Thomas letztlich als das Resultat einer Art Selbstbeschränkung der reinen Existenz (= Gott). Um die Identität von Gott und Existenz geht es auch im Aufsatz von Sebastian Ostritsch. Bei ihm bildet jedoch Spinoza den philosophiehistorischen Bezugspunkt. Ostritsch erörtert die Frage, wie sich die mit Gott identische Existenz, die zeitlosewig ist, mit der Auffassung in Einklang bringen lässt, dass endliche Dinge auf eine zeitliche Weise existieren, d. h. entstehen und vergehen. Zwar weist Ostritsch den gegen Spinoza erhobenen Vorwurf des Akosmismus, dem zufolge die Welt der veränderlichen Dinge vor der Wirklichkeit der göttlichen Substanz zum bloßen Schein verblasse, zurück, zeigt aber, dass Spinoza gezwungen ist, zumindest die Zeit als A-Reihe zum illusionären Produkt unserer Vorstellungskraft zu erklären. Im letzten der drei philosophiehistorischen Texte setzt sich Joachim Bromand mit Freges Überlegungen zur Existenz auseinander und zeigt, dass der verbreitete Slogan ‚Existenz ist kein Prädikat‘ der Vielschichtigkeit von Freges Gedanken zur Existenz nicht gerecht wird. Bromand weist nach, dass Frege nicht nur einen Unterschied trifft zwischen der Existenz von Gegenständen und der Existenz von Funktionen, sondern sich zudem auf eine unendliche Funktionshierarchie verpflichtet, wobei jeder Hierarchie-Stufe ein eigener Existenzbegriff eignet. Damit gerät Frege in Konflikt mit der natürlichen Sprache, weil seine Theorie keinen allgemeinen Existenzbegriff bereithält, der es erlauben würde, über alles Seiende zu quantifizieren. Anton Koch plädiert in seinem Aufsatz dafür, Existenz nicht mit dem formalen, vom inhaltlichen Was-Sein zu unterscheidenden Sein in Gänze zu identifizieren.

Einleitung

VII

Stattdessen schlägt er eine Unterscheidung zwischen dem Wahr-Sein, dem Der-FallSein und der Existenz vor und argumentiert dabei für den Primat des Wahr-Seins. Auf Basis dieser dreifachen Unterscheidung formalen Seins wendet sich Koch zunächst der metaphysischen Grundfrage zu, ob es notwendigerweise der Fall ist, dass es etwas statt vielmehr nichts gibt. Im Gegensatz zu Luckner und Ostritsch, die für die Kontingenz des Übergangs vom Sein zum Seienden plädiert haben, argumentiert Koch, dass nicht nichts existieren kann und daher notwendigerweise etwas existieren muss. Schließlich schlägt Koch gegen Markus Gabriels liberale, nicht-hierarchische Sinnfeld-Ontologie vor, dass das Sinnfeld der raumzeitlichen Lebenswelt des Menschen logisch und ontologisch primär ist. In einer ‚logischen Phänomenologie‘ untersucht Uwe Meixner die verschiedenen Gebrauchsweisen des Ausdrucks ‚Existenz‘ bzw. ‚existieren‘ in Bezug auf partikulare und generelle (jeweils singularische und pluralische) Terme. Dabei zeigt sich, dass sowohl eine Reduktion von generellen Existenzaussagen als auch von partikularen Existenzaussagen mit pluralischen Termen auf singularisch-partikulare Existenzaussagen nicht möglich ist. An der gemeinhin Frege zugeschriebenen Reduzierbarkeitsbehauptung kann daher nicht festgehalten werden, sofern einem an der Rettung der sprachlichen Phänomene, mit denen wir sinnvolle Existenzaussagen treffen, gelegen ist. Dolf Rami erarbeitet in seinem Beitrag eine ausführliche Bestimmung des Verhältnisses von Existenz und Quantifikation. Im Zentrum seiner Überlegungen stehen sogenannte adaptive Quantoren. Diese unterscheiden sich von anderen Quantoren – wie etwa ‚existentiell geladenen‘ oder ‚neutralen‘ Quantoren – dadurch, dass sie ihren Gegenstandbereich an die jeweils mit ihnen in Verbindung stehenden Prädikate anpassen. Rami argumentiert, dass adaptive Quantoren, für die im Text auch eine neuartige Semantik entwickelt wird, den konkurrierenden Theorieangeboten zur Erfassung des Verhältnisses von Existenz und Quantifikation überlegen sind. Jakob Steinbrenner gibt in seinem Beitrag „Wo ist er denn, der Osterhase?“ leider keine explizite Antwort auf die Titelfrage; dafür wird der darüber eventuell enttäuschte Leser aber reichhaltig mit Unterscheidungen in Bezug auf die Existenz fiktiver Personen und Entitäten versorgt. Aus seiner dezidiert nominalistischen, an Nelson Goodman orientierten Perspektive auf das Existenzprädikat scheint die Nichtexistenz von Osterhasen unausweichlich zu sein. Wenn man Werden als einen Übergang von Nicht-Existenz zur Existenz (Entstehen) bzw. als Übergang von Existenz zu Nicht-Existenz (Vergehen) konzipiert, entstehen notorisch Widersprüche, wie schon Parmenides gezeigt hat. Erwin Tegtmeier zeigt im Rahmen seiner Ontologie der Sachverhalte, dass diese Widersprüche vermieden werden können, ohne dass man dabei auf einen gehaltvollen Begriff des Werdens verzichten muss. In der Konsequenz erweist sich die Existenz selbst als zeitlich unbestimmt (bzw. ‚zeitlos‘). Im letzten Beitrag dieses Bandes beleuchtet Andreas Luckner die ethische Dimension des Existenzbegriffs, wie sie mit dem Ausdruck ‚authentisch sein‘ angesprochen wird. Während in Bezug auf Artefakte Authentizität gemeinhin als Echtheit hinsichtlich einer (äußerlich) feststellbaren Autorschaft konzipiert wird, erweist sich die Authentizität von Personen und ihren Handlungsweisen als Er-

VIII

Einleitung

gebnis eines zusätzlichen eigenständigen Aktes der (Selbst-)Aneignung. Personale Authentizität zeigt sich damit als Ausdrucksform real existierender Autonomie. Wir danken allen Personen und Institutionen, die zum Gelingen der Tagung und der Erstellung des vorliegenden Bandes, der aus Ersterer hervorgegangen ist, beigetragen haben; zuvörderst natürlich den Vortragenden und Diskutanten selber, sodann der Stadt Stuttgart, die es uns ermöglicht hat, im Tagungsraum des Hegel-Hauses die Veranstaltung in konzentrierter Atmosphäre durchzuführen, der Vereinigung von Freunden der Universität Stuttgart und der Mahle-Stiftung für die großzügige Unterstützung, Franziska Remeika vom Verlag J. B. Metzler für die freundliche und kompetente Betreuung beim Veröffentlichungsprozess und nicht zuletzt Samuel Ulbricht und Ulrike Brümmer für die Organisation der Tagung vor Ort. Andreas Luckner und Sebastian Ostritsch im April 2019

Inhaltsverzeichnis

Ipsum Esse subsistens. Thomas von Aquin und die existierende Existenz Andreas Schmidt

1

Existenz, Zeit und Ewigkeit in Spinozas Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sebastian Ostritsch

15

Frege über Existenz und die Hierarchie der Funktionen . . . . . . . . . . . Joachim Bromand

29

Sein und Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anton Friedrich Koch

47

Die logische Phänomenologie der Existenzaussagen . . . . . . . . . . . . . . Uwe Meixner

67

Existenz und Quantifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dolf Rami

89

Wo ist er denn, der Osterhase? Überlegungen zur Bezugnahme in fiktionalen Kontexten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Jakob Steinbrenner Die Zeitlosigkeit der Existenz und das Vergehen der Zeit . . . . . . . . . . . 141 Erwin Tegtmeier Was heißt (eigentlich) ‚authentisch existieren‘? . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Andreas Luckner

IX

Autorenverzeichnis

Joachim Bromand ist Privatdozent an der Universität Bonn und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Mannheim. Zu seinen Arbeitsgebieten zählen die Erkenntnistheorie, die Wissenschaftsphilosophie, die Sprachphilosophie und die (Meta-)Metaphysik. In historischer Hinsicht interessiert er sich insbesondere für die Geschichte der philosophischen Gottesbeweise und die Anfänge der analytischen Philosophie. Anton Friedrich Koch, seit 2009 Professor für Philosophie in Heidelberg; geboren 1952 in Gießen, Promotion 1980 in Heidelberg, Habilitation 1989 in München, 1993–1996 Professor für Geschichte der Philosophie in Halle, 1996–2009 Professor für Philosophie in Tübingen; Gastprofessor 2009 Emory University und 2016 University of Chicago; seit 2008 Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Andreas Luckner (Promotion 1992 an der TU Berlin, Habilitation 2001 an der Universität Leipzig) ist seit 2003 außerplanmäßiger Professor an der Universität Stuttgart. Seine derzeitigen Hauptarbeitsgebiete sind die Ethik, spez. Fragen einer zeitgenössischen Tugendethik, damit eng zusammenhängend Themen der Philosophie der Existenz, die Philosophie der Musik und die Philosophie der Technik. Bücher: Genealogie der Zeit (u. a. zu Hegels Phänomenologie des Geistes, 1994), Martin Heidegger: „Sein und Zeit“. Ein einführender Kommentar (1997), Klugheit (2005), Heidegger und das Denken der Technik (2007), zus. mit Sebastian Ostritsch Existenz (2018). Uwe Meixner (Promotion 1987, Habilitation 1990 an der Universität Regensburg) ist ständiger wissenschaftlicher Mitarbeiter im Professorenrang am Philosophischen Institut der Universität Augsburg. Seine Hauptarbeitsgebiete sind Logik und Metaphysik – von der formalen Ontologie bis zur philosophischen Theologie –, Phänomenologie und Philosophie des Geistes, sowie die Geschichte der Philosophie. XI

XII

Autorenverzeichnis

Sebastian Ostritsch (Promotion 2014 an der Universität Bonn) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am philosophischen Institut der Universität Stuttgart. Dort forscht er im Rahmen eines eigenen DFG-Projekts zur Philosophie und Ethik der Computerspiele. Seine weiteren Forschungsinteressen liegen im Bereich der klassischen deutschen Philosophie (insbesondere bei Hegel) sowie der philosophischen Auseinandersetzung mit Zeit und Ewigkeit. Dolf Rami, Heisenberg-Professor für Metaphysik und Philosophie der Logik am Institut für Philosophie I an der Ruhr-Universität Bochum. Habilitation in Philosophie an der Georg-August-Universität Göttingen (2015). Promotion in Philosophie an der Technischen Universität Dresden (2006). Forschungsschwerpunkte: Sprachphilosophie, Metaphysik und Philosophie der Logik. Zahlreiche Veröffentlichungen in nationalen und internationalen Fachzeitschriften. Wichtigste kürzliche Veröffentlichung: Existenz und Anzahl, Münster 2018. Andreas Schmidt, Professor für Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Veröffentlichungen: Der Grund des Wissens. Zu Fichtes Wissenschaftslehren in den Versionen von 1794/95, 1804/II und 1812, Paderborn 2004; Göttliche Gedanken. Zur Metaphysik der Erkenntnis bei Descartes, Malebranche, Spinoza und Leibniz, Frankfurt a. M. 2009; Übers.: René Descartes, Meditationen. Dreisprachige Parallelausgabe, Göttingen 2004 (2 2011). Jakob Steinbrenner, geboren in Frankfurt. Von 1976–1982 Mitarbeit an den Städtischen Bühnen Frankfurt u. a. als Regieassistent bei Hans Neuenfels. Studium der Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte in Frankfurt und München. Promotion 1994. Habilitation im Fach Philosophie in München 2002. Professurvertretungen an der LMU München, der Uni. Stuttgart und der Uni. Münster, seit Oktober 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Uni. Stuttgart. Er ist Verfasser von Kognitivismus in der Ästhetik (Würzburg 1996), Zeichen über Zeichen (Heidelberg 2004). Erwin Tegtmeier, Studium der Soziologie, Politologie, Volkswirtschaftslehre, Osteuropäischen Geschichte und Philosophie an den Universitäten Göttingen und Frankfurt a. M. Soziologie-Diplom bei Jürgen Habermas. Thema der Diplomarbeit: Methodologische Probleme des Objektivismus in den Sozialwissenschaften. Studium der Wissenschaftstheorie und Philosophie an den Universitäten Mannheim und Heidelberg. Promotion bei Hans Albert. Thema der Dissertation: Komparative Begriffe. Eine Kritik der Lehre von Carnap und Hempel. Karin-Islinger-Preis für die Dissertation. Habilitation in Mannheim. Thema der Habilitationsschrift: Grundzüge einer kategorialen Ontologie. Thema des Habilitationsvortrags: Wissenschaftliche Variablen und Kausalität. Wissenschaftlicher Assistent bei Hans Albert. Ernennung zum außerplanmäßigen Professor an der Universität Mannheim aufgrund des Buches Zeit und Existenz. Forschungsgebiete: Wissenschaftstheorie, Aristotelische Tradition, Phänomenologie, Ontologie, Gustav Bergmann und Reinhardt Grossmann.

Ipsum Esse subsistens. Thomas von Aquin und die existierende Existenz Andreas Schmidt

Seit Frege wird die Frage diskutiert, ob Existenz nun eine Eigenschaft erster Ordnung (also eine Eigenschaft von Dingen) oder eine Eigenschaft zweiter Ordnung (eine Eigenschaft von Eigenschaften) ist. Thomas von Aquin kann als Vertreter der ersten Position betrachtet werden – mit der Besonderheit freilich, dass es sich im Gegensatz zu gewöhnlichen Eigenschaften um eine Eigenschaft handelt, die dem Einzelding, dem sie zukommt, ontologisch vorausgeht; dazu später mehr. Dass Existenz eine Eigenschaft für Thomas von Aquin ist, könnte man vielleicht bestreiten;1 und tatsächlich steht diese Klassifizierung der Existenz bei Thomas von Aquin nicht im Vordergrund. Dennoch gibt es eine ganze Menge von Textbelegen, die diese Auffassung nahelegen. In De potentia spricht Thomas von Aquin davon, dass Existenz den geschaffenen Dingen „inhäriert“, was ja normalerweise nur Eigenschaften tun („in quibus esse non est subsistens, sed inhaerens“2 ), in den Quaestiones Quodlibetales spricht er von der Existenz als einem Akzidens von geschaffenen Dingen („esse quod pertinet ad quaestionem an est, est accidens“3 ). Er drückt sich auch oft so aus, dass etwas „Sein hat“ („habet esse“4 ), was ebenfalls nahelegt, dass man Sein haben kann, so wie man Weisheit haben kann. Der zentrale Text, auf den ich mich in diesem Aufsatz stützen möchte, ist De ente et essentia, geschrieben zwischen 1254 und 1256. Thomas von Aquin hat sich nie systematisch in einem längeren Text darüber geäußert, was er unter Existenz oder Sein versteht; man muss sich seine Theorie zu diesem Thema aus einer Vielzahl von Einzeläußerungen erschließen. De ente et essentia kommt einer systematischen Darstellung vielleicht noch am nächsten, zumindest gilt dieser Text als 1

So z. B. Davies 1997, 514. Thomas von Aquin 1980, Bd. 3, 241 (= De pot., 013 QDP qu7 ar2 ra7). 3 Thomas von Aquin 1980, Bd. 3, 444 (= Quaest. Quodlib., 019 QDL n.2 qu2 ar1). 4 Thomas von Aquin 1980, Bd. 3, 584 (= De ente et essentia, 029 OEE cp1 u. ö.). 2

A. Schmidt () Friedrich-Schiller-Universität Jena Jena, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Luckner, S. Ostritsch (Hrsg.), Philosophie der Existenz, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04880-6_1

1

2

A. Schmidt

locus classicus zu diesem Thema. Ich werde im Folgenden zuerst die in diesem Text entwickelte Theorie der Existenz rekonstruieren und zeigen, dass sie unmittelbar theistische Konsequenzen hat (Abschn. 1 und 2). Danach werde ich auf ein Problem hinweisen, das in De ente et essentia offenbleibt, und unter Einbeziehung weiterer Texte ausloten, welche Lösungsmöglichkeiten sich für Thomas von Aquin anbieten (Abschn. 3 und 4).

1 Der Aufbau von De ente et essentia Werfen wir einen kurzen Blick auf den Aufbau des Textes. Thomas beginnt damit, die Bedeutung der Termini ‚Seiendes‘ und ‚Wesen‘ näher zu erläutern. Was ‚Seiendes‘ betrifft, macht er folgende Unterscheidung: „Man muß nun wissen, daß, wie der Philosoph [also Aristoteles, A. S.] im 5. Buch der ‚Metaphysik‘ sagt, das Seiende als solches auf zweifache Weise ausgesagt wird: auf eine Weise so, daß es in zehn Kategorien eingeteilt wird, auf eine andere Weise so, daß es die Wahrheit der Aussagen bezeichnet. Der Unterschied dazwischen aber ist, daß auf die zweite Weise all jenes, worüber eine bejahende Aussage gebildet werden kann, Seiendes genannt werden kann, auch wenn jenes nichts in der Wirklichkeit meint; auf diese Weise werden Ermangelungen und negative Bestimmungen Seiendes genannt: wir sagen nämlich, daß die Bejahung der Verneinung entgegengesetzt ‚ist‘ und daß die Blindheit im Auge ‚ist‘. Aber auf die erste Weise kann nur das, was etwas in der Wirklichkeit meint, Seiendes genannt werden. Daher sind Blindheit und dergleichen kein Seiendes auf die erste Weise.“ (Thomas von Aquin 1987, § 1, 5 f.)

Thomas von Aquin greift hier auf Aristoteles zurück (Aristoteles, Met. V, cap. 7, 1017a22–35). Was den ersten Sinn von Sein betrifft, so gibt es nach Aristoteles zehn verschiedene Arten von Prädikaten, und jedem dieser Prädikate entspricht, so zumindest die Deutung bei Thomas von Aquin, etwas Seiendes an der Sache, von der das Prädikat ausgesagt wird. An der Sache können wir gemäß den zehn aristotelischen Kategorien ihre Substanz, ihre Quantität, ihre Qualität, ihre Relation zu anderem, ihren Ort, ihre Zeit, ihre Lage, dasjenige, was sie hat, ihre Tätigkeit und ihr Erleiden unterscheiden.5 Den zehn Kategorien entsprechen also zehn Arten von Seiendem. Daneben, so Thomas von Aquin, gibt es noch eine andere Verwendungsweise von ‚Seiendes‘; Seiendes in diesem zweiten Sinn ist alles, von dem bejahende Aussagen gemacht werden können. Die Klasse des Seienden in diesem Sinn ist weiter als die Klasse des Seienden im ersten Sinn: Natürlich können wir von allem, was an den Dingen zur Substanz, Quantität, Qualität etc. gehört, bejahende Aussagen machen; aber es gibt auch etwas, von dem wir bejahende Aussagen machen können, obwohl es nach der aristotelischen Ontologie nicht wirklich existiert, z. B. Blindheit. Wir können natürlich wahrheitsgemäß sagen, Blindheit betreffe das Auge, Blindheit werde durch den grünen Star verursacht, Blindheit habe Homer heimgesucht etc., und insofern hat Blindheit Sein in diesem weiten Sinn. Aber Blindheit existiert in der aristotelischen Ontologie nicht eigentlich. Was existiert, 5

Siehe dazu Kenny 2002, 2 f.

Ipsum Esse subsistens. Thomas von Aquin und die existierende Existenz

3

ist nach Aristoteles das Sehvermögen, das manche haben und andere nicht, und Blindheit ist nur die Abwesenheit von Sehvermögen. Abwesenheiten aber existieren nicht. Wenn wir von Blindheit reden, als sei sie etwas Existierendes, ist das nur eine façon de parler. Man könnte auch fiktive Entitäten wie Sherlock Holmes denken. Seiende dieser zweiten (weiten) Art sind also lediglich Gegenstände bejahender Aussagen, ob sie nun tatsächlich existieren oder nicht – insofern ist auch Sherlock Holmes ein Seiendes in diesem ganz weiten Sinn; Seiende der ersten Art sind dagegen nur Gegenstände, die existieren, wobei es eben, wie gesagt, zehn verschiedene Kategorien von solchen Gegenständen gibt. Der Sinn von ‚Seiendes‘, der Thomas von Aquin in De ente et essentia interessiert, ist ausschließlich dieser erste, derjenige also, der in die zehn Kategorien eingeteilt wird, und bei diesen wiederum gibt es ein Privileg der Substanzkategorie: Das Seiende, das unter diese Kategorie fällt, ist das primäre Seiende.6 Das ist also der erste Schritt, den Thomas von Aquin hier macht: Eine Unterscheidung von zwei Seinssinnen und eine Hierarchisierung dieser Seinssinne. Anschließend führt er den Begriff des Wesens ein: „Wesen [bezeichnet] für alle Naturen, aufgrund deren verschiedenes Seiendes unter verschiedene Gattungen und Arten gebracht wird, etwas Gemeinsames [. . . ], so wie Menschhaftigkeit das Wesen des Menschen ist.“ (Thomas von Aquin 1987, § 1, 7)

und es geht im Rest des Textes im Grunde nur noch um das Wesen, nicht mehr um das Seiende – insofern ist der Titel De ente et essentia vielleicht nicht ganz treffend. Das Wesen wird nun im Rest des Textes eingeteilt in das Wesen, wie es in zusammengesetzten Substanzen vorkommt (§§ 2–3), das Wesen, wie es in einfachen Substanzen vorkommt (§§ 4–5), und schließlich das Wesen, wie es in Akzidentien (also dem nicht-substantiellen Seienden) vorkommt (§ 6). Mich interessiert nun die Passage, in der Thomas von Aquin auf das Wesen in einfachen Substanzen eingeht – das geschieht in § 4. Unter ‚zusammengesetzten Substanzen‘ versteht er Substanzen, die zusammengesetzt sind aus Form und Materie. Einfache Substanzen sind für ihn Substanzen, die reine Formen sind. Woran denkt Thomas von Aquin hier? Reine Formen sind z. B. die Seelen, die vom Körper losgelöst sind, also die Seelen zwischen Tod und Auferstehung; aber auch Engel, die nie einen Körper hatten und, meint Thomas von Aquin, auch keinerlei ‚spirituellen‘ Körper haben. In diesem Kontext – und jetzt nähern wir uns langsam unserem eigentlichen Thema – argumentiert Thomas von Aquin nun für die These, dass diese einfachen Substanzen in einem anderen Sinn durchaus komplex sind. Zwar bestehen sie nicht aus Form und Materie – aber sie bestehen aus Wesen und Existenz, die bei ihnen zwei verschiedene Bestandteile sind. Nur bei Gott fallen sie zusammen, nicht jedoch bei den Geschöpfen. Hier ist nun die Stelle, an der uns Thomas von Aquin etwas darüber sagt, was seiner Auffassung nach unter ‚Existenz‘ zu verstehen ist.7

6

„Seiendes [wird] ohne Einschränkung und in erster Linie von Substanzen, in zweiter Linie und gleichsam in gewisser Hinsicht von Eigenschaften ausgesagt“ (Thomas von Aquin 1987, § 1, 9). 7 Die folgende Interpretation ist in ihren Grundzügen der Rekonstruktion des Arguments in MacDonald 1984 verpflichtet.

4

A. Schmidt

2 Die Zusammensetzung aus Wesen und Existenz 2.1 Das Argument Thomas von Aquin geht im Folgenden so vor, dass er von existierenden Dingen ausgeht und sich fragt, was ihre ontologischen Bestandteile sind.8 Er schreibt Folgendes: „Was nämlich auch immer [an einer Sache] nicht zum Verstehen des Wesens oder der Washeit gehört, das ist etwas, das von außen kommt und eine Zusammensetzung mit dem Wesen bildet, weil kein Wesen ohne das, was die Teile seines Wesens sind, verstanden werden kann. Jedes Wesen oder jede Washeit aber kann verstanden werden, ohne daß etwas über seine (ihre) Existenz verstanden wird: ich kann nämlich verstehen, was ein Mensch oder ein Phönix ist, und dennoch nicht wissen, ob er Existenz in der Wirklichkeit hat. Also ist offenbar, daß Existenz etwas anderes ist als Wesen oder Washeit.“ (Thomas von Aquin 1987, § 4, 49, Übers. verändert)

Das Argument lässt sich folgendermaßen rekonstruieren: (1) Zu einer Sache gehört, neben dem Wesen, Existenz. (2) Was zu einer Sache gehört ist (a) entweder Teil des Wesens oder (b) etwas, das von außen zum Wesen hinzukommt und eine Zusammensetzung mit dem Wesen bildet. (3) Also ist die Existenz einer Sache entweder das eine oder das andere: entweder Teil des Wesens oder etwas, das von außen zum Wesen hinzukommt und eine Zusammensetzung mit dem Wesen bildet. Die erste Möglichkeit kann Thomas von Aquin aber ausschließen: (4) Kein Wesen kann verstanden werden, ohne dass seine Teile verstanden werden. (5) Jedes Wesen kann verstanden werden, ohne dass seine Existenz verstanden wird. (6) Also kann die erste Alternative ausgeschlossen werden. Die Existenz einer Sache ist nicht Teil des Wesens dieser Sache. (7) Also ist die zweite Alternative korrekt. Die Existenz einer Sache kommt von außen zum Wesen hinzu und bildet eine Zusammensetzung mit dem Wesen. Damit wäre nun bereits gezeigt: Einfache Substanzen sind in dieser Hinsicht also nicht einfach. 8 Ich lese den ersten Satz so: (a) Was nicht zum Verstehen des Wesens gehört, gehört auch nicht zum Wesen, und (b) wenn es nicht zum Wesen gehört (aber der Sache zukommt), kommt es von außen zum Wesen hinzu. Der weil-Satz („weil kein Wesen ohne das, was die Teile seines Wesens sind, verstanden werden kann“) begründet (a). Wer ein Wesen versteht, versteht auch die Teile des Wesens, d. h. das Verstehen des Wesens enthält das Verstehen aller Teile des Wesens. Gibt es etwas, das (der Sache zukommt aber) nicht im Verstehen des Wesens der Sache enthalten ist, dann ist es auch kein Teil des Wesens der Sache, es gehört also nicht zum Wesen der Sache. Die Ergänzung in eckigen Klammern folgt MacDonald 1984, 160; diese Ergänzung wurde auch übernommen in Kenny 2002, 34.

Ipsum Esse subsistens. Thomas von Aquin und die existierende Existenz

2.2

5

Vervollständigung des Arguments

Damit scheint das erste Ziel schon erreicht zu sein. Aber Thomas von Aquin besinnt sich und er weist nachträglich darauf hin, dass es noch eine dritte Möglichkeit gibt: die Möglichkeit nämlich, dass Wesen und Existenz identisch sind. Wir müssen die Alternativen also reformulieren: (2*) Was zu einer Sache gehört ist (a) entweder Teil des Wesens oder (b) etwas, das von außen zum Wesen hinzukommt und eine Zusammensetzung mit dem Wesen bildet, oder (c) identisch mit dem Wesen. Letzteres ist in der Tat bei Gott der Fall, Thomas von Aquin kann also nicht argumentieren, dass die dritte Alternative unmöglich ist. Gott ist absolut einfach, bei ihm sind Wesen und Existenz nicht verschieden. Er muss also einen anderen Weg gehen, um diese Möglichkeit für geschaffene Dinge auszuschließen. Thomas argumentiert zu diesem Zweck folgendermaßen: (1) Wenn es etwas gibt, bei dem Wesen und Existenz identisch ist, dann handelt es sich um ein singulare tantum, etwas, das es nur einmal geben kann. (2) Nun gibt es aber viele Dinge. (Nehmen wir an, es gibt zwei Dinge. Dann ist mindestens ein Ding von diesem singulare tantum verschieden; vielleicht auch beide, da wir ja noch keine Gewähr haben, dass ein derartiges singulare tantum wirklich existiert.) (3) Also: Es gibt Dinge, die von diesem singulare tantum verschieden sind und bei jedem Ding, das von diesem singulare tantum verschiedenen ist, gilt, dass seine Existenz von außen zum Wesen hinzutritt. Aber warum kann es etwas, bei dem Wesen und Existenz identisch sind, nur einmal geben? Warum ist (1) wahr? Das ist die Prämisse, für die ausführlicher argumentiert werden muss. Dieses Argument, wenn es denn gelingt, wäre für theologisch Interessierte höchst bedeutsam: Wäre es doch ein Beweis – nicht dafür das Gott existiert, aber, wenn Gott existiert, für den Monotheismus. Thomas von Aquin geht nun so vor, dass er drei Arten unterscheidet, wie etwas Allgemeines vervielfältigt werden kann. Nämlich 1. durch Hinzufügung von spezifischen Differenzen; in diesem Fall vervielfältigen wir Gattungen zu einer Vielzahl von Arten derselben Gattung durch die spezifische Differenz; 2. durch Kombination mit unterschiedlichen Materien; auf diese Weise vervielfältigen sich Arten in einzelne Individuen derselben Art; 3. – das ist etwas exotischer – dadurch, dass eine Sache, die für sich besteht, auch in etwas anderem aufgenommen wird. Thomas von Aquin denkt hier an das Verhältnis platonischer Ideen zu ihren Exemplifizierungen in Einzeldingen. Wird zum Beispiel das Schöne an sich exemplifiziert durch ein schönes Ding in der Erscheinungswelt, dann bleibt das Schöne an sich bestehen und im schönen Ding taucht zusätzlich ein davon unterschiedenes weiteres Schönes auf.

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Wenn aber Wesen und Existenz identisch sind, kann das Wesen auf keine dieser Arten vervielfältigt werden. Wenn in einer Sache Wesen und Existenz identisch sind, dann ist die Wesensbestimmung dieser Sache durch die Existenz bereits erschöpft; nichts anderes kommt ihm zu. Es ist reine Existenz – ohne Zusatz. Die Argumente sind dann relativ einfach zu verstehen. Erstens: Wenn wir die Gattung einer Sache weiter unterteilen durch Einführung spezifischer Differenzen, dann werden die Wesensbestimmungen der Sache immer weiter angereichert, bis die Spezifizierung abgeschlossen ist. Die unterste Spezifizierung – die species infima – ist ein Komplex aus Bestimmungen, der das eigentliche Wesen der Sache ausmacht. Aber wir haben ja gerade gesagt, dass im Fall einer Sache, bei der Wesen und Existenz identisch sind, das Wesen reine Existenz ohne Zusatz ist. Also fällt die erste Möglichkeit der Pluralisierung aus. Zweitens: Wenn eine Sache eine Zusammensetzung mit einer Materie bildet, um sich zu individuieren, dann gehört neben der Form auch diese Abhängigkeit von der Materie zum Wesen der Sache; anders gesagt: die Materialität muss in der Definition erwähnt werden (siehe Thomas von Aquin 1987, § 2, 11).9 Wenn das der Fall ist, dann ist das Wesen aber wieder etwas Komplexes, es besteht aus Form und Materie und ist nicht mehr einfach, bestehend nur aus reiner Existenz. Im dritten Fall, den Thomas von Aquin nicht mehr eigens bespricht, gilt dasselbe: Wenn die Idee in einem sinnlichen Gegenstand exemplifiziert ist, dann setzt das ein Hinzutreten einer Materie voraus. Dann aber muss diese Materialität in der Definition erwähnt werden und die Sache ist nicht mehr einfach; sie besteht nicht mehr nur aus reiner Existenz. Wenn es also etwas gibt, bei dem Wesen und Existenz identisch sind, dann handelt es sich um ein singulare tantum – ein singulare tantum, das für Thomas von Aquin natürlich mit Gott zu identifizieren ist. Bei allem anderen sind Wesen und Existenz nicht identisch.

2.3 Komplikation: Das Regressproblem Thomas von Aquin fügt aber noch ein Argument hinzu, das beweisen soll, dass es diese einzigartige Substanz, bei der Wesen und Existenz zusammenfallen, tatsächlich gibt. Bisher war davon ja noch nicht die Rede. Es wurde nur argumentiert: Wenn es so etwas gibt, dann nur ein einziges Mal. Ob es so etwas gibt, war bisher offen. Nun soll gezeigt werden, dass es etwas geben muss, bei dem Wesen und Existenz identisch sind. Dieses Argument ist für ein Verständnis des Existenzbegriffs bei Thomas von Aquin zentral. Obwohl das Beweisziel bereits erreicht zu sein scheint, muss Thomas von Aquin diesen Schritt hinzufügen, denn aus der Zusammengesetztheit nicht-göttlicher Substanzen ergibt sich ein Regress, der nur durch diese Substanz, bei der Wesen und Existenz zusammenfallen, gestoppt werden kann. Ausgangspunkt des neuen Argumentationsschrittes sind also die Dinge, bei denen die Existenz von der Essenz

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Das heißt nichts anderes, als dass materielle Dinge notwendig materiell sind.

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verschieden ist. Das Argument lässt sich, stark vereinfacht, folgendermaßen rekonstruieren (siehe Thomas von Aquin 1987, § 4, 51): (1) Wenn etwas existiert, das aus Bestandteilen zusammengesetzt ist, dann existieren auch die Bestandteile. (Man könnte das als ‚Lego-Prinzip‘ bezeichnen: Aus nicht-existierenden Legosteinen lässt sich kein existierendes Legohaus bauen.) (2) Es existiert etwas, das aus Wesen und Existenz zusammengesetzt ist. (3) Also existiert die Existenz dieser Sache (aus (1), (2)).10 (4) Nun gilt: Alles, was existiert, besteht aus Wesen und Existenz – also auch die Existenz (der Existenz-Legostein). Hier ergibt sich ein Regress: (5) Wenn etwas existiert1 , dann muss die Existenz1 dieser Sache also eine weitere Existenz2 als Bestandteil haben, diese wiederum eine weitere Existenz3 als Bestandteil usw. – solange Wesen und Existenz verschieden sind. (6) Es kann keine unendliche Reihe von Konstituentien einer Sache geben. (7) Also muss es etwas geben, bei dem Wesen und Existenz identisch sind.11 Und das ist für Thomas von Aquin, wie gesagt, Gott. Thomas von Aquin vertritt also eine Theorie der Existenz, die theistische Implikationen hat. Die Untersuchung, was Existenz ist, führt damit stehenden Fußes zur Existenz Gottes.

3 Das Problem des Wesens Die Anwendung des Legoprinzips auf die Existenz als Bestandteil einer Sache führt also zu einem Regressproblem; aber dieses Problem kann Thomas von Aquin lösen, indem er den Regress stoppt durch etwas, bei dem Wesen und Existenz zusammenfallen, also durch Gott. Aber das Legoprinzip gilt auch für den anderen Bestandteil, das Wesen. Und das heißt: Das Wesen muss bereits existieren, damit es mit Existenz zusammengesetzt werden kann. Und das scheint nun ein offenkundiger Zirkel zu sein. Das Wesen muss schon existieren, damit es existieren kann. Nun könnte man vielleicht einwenden, dass wir hier einer Äquivokation aufsitzen. Wir müssen, so könnte man argumentieren, unterscheiden zwischen einer 10 Dass die Existenz existiert, ist also ein wichtiger Schritt in De ente et essentia. Es ist allerdings wahr, dass Thomas von Aquin in Expositio libri Boetii De hebdomadibus schreibt: „sicut non possumus dicere quod ipsum currere currat, ita non possumus dicere quod ipsum esse sit“ (Thomas von Aquin 1980, Bd. 4, 539 (= De hebdom. 065 CBH lc2)). Allerdings lässt sich die Stelle so lesen, dass Thomas von Aquin hier lediglich auf die grammatikalische Unterscheidung zwischen ens (das, was ist) und esse (Sein) hinweisen will und davor warnt, sie einfach für austauschbar zu halten. 11 Genauer verwendet Thomas von Aquin die Prämisse: Alles, was ein von seiner Existenz verschiedenes Wesen hat, hat eine Ursache. Ich interpretiere in meiner Rekonstruktion die Konstitutionsbeziehung zwischen Teilen und Ganzem als die hier relevante Spezies einer Kausalbeziehung. (Wenn wir die Konstitutionsbeziehung als eine Kausalbeziehung auffassen, können wir übrigens auf diese Weise das allgemeine Kausalprinzip auch ableiten – siehe Pruss 2006, 209 f.).

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Form der Existenz des Wesens, nämlich der Existenz des (uninstantiierten) Wesens und einer anderen Form der Existenz des Wesens, nämlich der Instantiierung des Wesens. Zunächst existiert das Wesen selbst, dann wird das Wesen auch noch instantiiert – und etwas, das dieses Wesen besitzt, existiert dann. (Zum Beispiel: Im einen Fall meint man, dass das Wesen ‚Menschheit‘ existiert; im anderen Fall meint man, dass verschiedene Menschen existieren: Sokrates, Platon, Aristoteles . . . ). So einen Vorschlag hat Heinrich von Gent (1217–1293) gemacht. Heinrich von Gent unterscheidet ein esse essentiae und ein esse existentiae. In seinen Quodlibeta Theologica schreibt er: „Und hier ist in bezug auf das Sein zu unterscheiden [. . . ], was [einerseits] dasjenige Sein der Sache ist, das sie auf wesentliche Weise von sich her hat, und das esse essentiae, Sein des Wesens, genannt wird, und was [andererseits] jenes Sein der Sache ist, das sie von einem anderen empfängt, und das esse actualis existentiae, Sein der wirklichen Existenz genannt wird.“12

Das Wesen selbst existiert also bereits irgendwie bevor etwas existiert, das dieses Wesen hat, es existiert letztlich vor der Schöpfung. Aber inwiefern existiert das Wesen vor der Schöpfung? Das ist nun die entscheidende Frage. Eine platonische Variante, die sagen würde, dass Wesenheiten eben notwendig existierende abstrakte Entitäten sind, scheidet aus theologischen Gründen von Vorneherein aus. Denn nach traditioneller Vorstellung wird alles außer Gott von Gott erschaffen; die Annahme notwendig existierender platonischer Entitäten würden mit dieser Auffassung kollidieren – Gott wäre nicht mehr allmächtig, müsste er sich doch bei der Schöpfung nach den notwendig existierenden platonischen Wesenheiten richten. Gott aber ist kein platonischer Demiurg. Diesen Weg geht Heinrich von Gent daher auch nicht. Für ihn präexistieren die Wesenheiten im Verstand Gottes: Sie haben ihr Sein, ihr esse essentiae dadurch, dass sie Gedanken Gottes sind. Aber man fragt sich, ob das wirklich eine attraktive Option für Thomas von Aquin ist. Denn für ihn sind die Dinge ja zusammengesetzt aus Wesen und Existenz. Aber wenn das Wesen ein Gedanke Gottes ist, wie kann dann ein Ding, z. B. ein materieller Gegenstand zusammengesetzt sein aus etwas Mentalem und Existenz und dadurch zu etwas Nicht-Mentalem werden? Dass das Wesen einer Sache im Geist Gottes als Gedanke präexistiert, ist unproblematisch – solange er nur als Modell oder als Blaupause für die Schöpfung fungiert. Aber nach Thomas von Aquin soll das Wesen ja als realer konstituierender Bestandteil der Dinge fungieren, und dazu scheint ein bloßer Gedanke kein geeigneter Kandidat zu sein. Thomas von Aquin lehnt ein esse essentiae, das der Instantiierung vorausginge, ab. Er geht davon aus, dass es nur instantiierte Wesen gibt. Dass es für Thomas von Aquin nur instantiierte Wesenheiten gibt, geht z. B. mit wünschenswerter Deutlichkeit aus seinem Sentenzenkommentar zu Petrus Lombardus hervor, einem Text, der

12 „Et est hic distinguendum de esse [. . . ] quod quoddam est esse rei quod habet essentialiter de se, quod appellatur esse essentiae, quoddam vero quod recipit ab alio, quod appellatur esse actualis existentiae.“ (Henricus de Gandavo 1979, qu. 9, 53).

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zwischen 1254 und 1256 und damit etwa zeitgleich zu De ente et essentia geschrieben wurde. Dort heißt es: „Das Wesen [in einer geschaffenen Sache] hat nur Existenz wegen seiner Zusammenstellung mit demjenigen, das dieses Wesen hat [also nicht rein für sich, sondern nur in instantiierter Form, A. S.]; und daher gilt: Wenn ein geschaffenes Wesen von mehreren Dingen geteilt wird [d. h. vielfach instantiiert ist, A. S.], dann wird es nur geteilt hinsichtlich seines Begriffs und nicht hinsichtlich seiner Existenz, denn hinsichtlich der Existenz existiert es nur in einem einzigen, das es hat“.13

Thomas von Aquin ist also kein Universalienrealist. Wesen gibt es nur exemplifiziert in Einzeldingen und durch sie individuiert; alles Allgemeine, das vielen Individuen zukommt und insofern ‚geteilt‘ wird, ist bloßes Produkt der Abstraktion und es existiert nur als ein Begriff in mente; es gehört nicht in die Basisontologie von Thomas von Aquin. Aber wenn es Wesen nicht gibt, bevor sie Bestandteil eines existierenden Einzeldings sind, dann stoßen wir auf das schon genannte Problem: einerseits muss das Wesen vor der Komposition mit der Existenz präexistieren, andererseits kann es nicht. In De ente et essentia finden sich, soweit ich sehe, keine Ansätze, dieses Problem zu lösen. In anderen Texten finden sich hingegen Ressourcen für eine Lösung. Dazu muss man sich genauer ansehen, wie Thomas von Aquin das Verhältnis von Gott (der ja identisch ist mit der Existenz selbst) zu den geschaffenen Dingen näher bestimmt. In einigen Texten führt er den Begriff der Einschränkung oder Begrenzung ein, um die Genese der Dinge aus der Existenz selbst zu beschreiben: Gottes Existenz wird eingeschränkt zur Existenz von Einzeldingen, z. B. zur Existenz eines Menschen. Man könnte sich das (allerdings nur in erster Annäherung) so vorstellen, dass die Existenz der Einzeldinge eine ‚Portion‘ der Existenz selbst ist. Dazu passt, dass Thomas von Aquin selbst in seinem Sentenzenkommentar die göttliche Existenz mit einem Meer vergleicht: „Dieser Name [Gottes], „Der, der ist“ [vgl. Ex. 3,14], bezeichnet das absolute Sein [esse], das durch keinen Zusatz bestimmt ist; und daher, sagt [Johannes] Damascenus [. . . ], bezeichnet er eine Art unendliches Meer der Substanz [quoddam pelagus substantiae], sozusagen ohne jede Bestimmtheit“.14

Aus diesem Seinsmeer sind die existierenden Einzeldinge nicht nur geschaffen, sondern auch, wenn man so will, geschöpft. Nun gibt es in den Texten von Thomas 13

„[. . . ] in creatura differt essentia rei et esse suum, nec habet essentia esse nisi propter comparationem ad habentem essentiam; et ideo quando essentia creata communicatur, communicatur tantum secundum rationem suam et non secundum esse, quia secundum illud esse non est nisi in uno tantum habente.“ (Thomas von Aquin 1980, Bd. 1, 9 (= Quattuor Libros Sententiarum, 001 1SN ds2 qu1 ar4 ra1)). 14 „Ad quartum dicendum, quod alia omnia nomina dicunt esse determinatum et particulatum; sicut sapiens dicit aliquid esse; sed hoc nomen ‚qui est‘ dicit esse absolutum et indeterminatum per aliquid additum; et ideo dicit damascenus quod non significat quid est deus, sed significat quoddam pelagus substantiae infinitum, quasi non determinatum.“ (Thomas von Aquin 1980, Bd. 1, 21 f. (= Quattuor Libros Sententiarum, 001 1SN ds8 qu1 ar1 ra4)).

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von Aquin zwei Modelle, wie man sich diese Begrenzung, diese Portionierung der unendlichen Existenz, vorzustellen hat. Häufig heißt es, die Existenz sei begrenzt durch das Wesen der Einzeldinge. Das klingt so, als sei das Wesen eine Art Form, mit der man aus dem Teig der Existenz das Plätzchen eines Einzeldings heraussticht. Wenn man sich an diese Analogie hält, dann hat man allerdings das genannte Problem: Die Ausstechform muss bereits existieren, um ihren Dienst zu tun; das Wesen kann aber nicht existieren, bevor es nicht seinen Dienst getan hat: ein Widerspruch. Aber manchmal drückt sich Thomas von Aquin auch anders aus. Manchmal sagt er, Gottes Existenz werde eingeschränkt zu einem bestimmten Wesen: ‚zu‘, nicht ‚durch‘. So zum Beispiel in Quaestio disputata de spiritualibus creaturis a. 1, co: „Es ist nämlich offenkundig, daß das erste Existierende, das Gott ist, unendliche Aktualität ist, da es nämlich in sich die ganze Fülle der Existenz hat und nicht eingeschränkt ist zu irgendeiner Natur einer Gattung oder Art. Daher müssen wir sagen, daß dessen Existenz selbst nicht eine Existenz ist, die gleichsam irgendeiner Natur eingegeben ist, die nicht seine Existenz ist, weil er so nämlich beschränkt würde zu jener Natur.“ (eigene Übers., Herv. A. S.)15

Thomas von Aquin spricht hier von ‚Natur‘, nicht von ‚Wesen‘, aber ich denke, wir können diese beiden Begriffe an dieser Stelle als synonym betrachten. Gott selbst ist nicht beschränkt zu einer bestimmten Natur; aber aus so einer Begrenzung zu einer Natur, die dann als Selbst-Begrenzung zu denken ist (denn nichts kann von außen zu Gott hinzutreten), entstehen die geschaffenen Dinge. Durch die Selbst-Begrenzung der Existenz schlechthin entsteht ein Kompositum von Wesen und Existenz, wobei das Wesen eben erst entsteht als Resultat dieser Selbst-Begrenzung. Das ist nun nicht mehr das Modell des Plätzchenbackens. Gottes Existenz wird nicht portioniert in Einzeldinge, sie portioniert sich selbst, durch Selbst-Bestimmung, und mit einem Schlag entsteht das geschaffene Ding mitsamt seinem Wesen.16

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„Manifestum est enim quod primum ens, quod deus est, est actus infinitus, utpote habens in se totam essendi plenitudinem, non contractam ad aliquam naturam generis vel speciei. Unde oportet quod ipsum esse eius non sit esse quasi inditum alicui naturae quae non sit suum esse; quia sic finiretur ad illam naturam. Unde dicimus, quod Deus est ipsum suum esse.“ (Thomas von Aquin 1980, Bd. 3, 353 (= Questio disputata de spiritualibus creaturis, 015 QDS qu ar1 co). Siehe dazu Te Velde 1995, 150–154. Te Velde führt auch andere Belege an: Sum. theol. I, q. 5, a. 3 ad 1, q. 7, a. 2 und q. 54, a. 2 sowie De pot. q. 1, a. 2. Siehe auch De veritate qu. 29, a. 3, co.). 16 Man kann sich fragen, ob diese Lösung nicht dem Legoprinzip oder der Prämisse, dass die geschaffenen Dinge zusammengesetzt sind aus Wesen und Existenz widerspricht, auf die sich Thomas von Aquin doch – zumindest in meiner Rekonstruktion – gestützt hat. Ich schlage vor, das Lego-Prinzip zu präzisieren: Wenn etwas existiert, das aus Bestandteilen zusammengesetzt ist, dann existieren auch die Bestandteile, wobei es möglich ist, dass von den Bestandteilen einige, aber nicht alle, ontologisch abhängig sind von den anderen.

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4 Die Gefahr des Pantheismus Allerdings habe ich vorhin darauf hingewiesen, dass man dieses Bild der Portionierung nur als erste Annäherung zum Thema verwenden sollte. Denn dieses Bild bringt auch eine ernste Gefahr mit sich, nämlich die Gefahr des Pantheismus; und wenn Thomas von Aquin im Rahmen der Tradition verbleiben will, dann muss er eine pantheistische Position tunlichst vermeiden. Nun sind insbesondere zwei Dinge zu vermeiden, wenn man nicht bei einer pantheistischen Lösung enden will: 1) Die Idee, dass alle nicht-göttlichen Dinge in Wahrheit nur Eigenschaften Gottes sind – das wäre die Auffassung Spinozas, für den die Einzeldinge in Wahrheit samt und sonders Modi der göttlichen Substanz sind, und das heißt nichts anderes, als dass sie Eigenschaften Gottes sind. Aber das ist in einem thomistischen Kontext leicht zu vermeiden: Wenn das Wesen, zu dem sich die göttliche Existenz limitiert, das Wesen einer Substanz ist, dann ist die Begrenzung der Existenz zu diesem Wesen eben identisch mit dem Entstehen einer neuen Substanz. Der springende Punkt ist, dass es in der aristotelischen Ontologie Eigenschaften gibt, die, wenn sie instantiiert sind, konstitutiv für die Existenz einer einzelnen Substanz sind. Das ist nicht bei allen Eigenschaften so; es ist z. B. nicht so bei den Eigenschaften des Rot-Seins oder des Zwei-Meter-Groß-Seins. Sie konstituieren keine Substanz. Es ist aber bei manchen Eigenschaften so; z. B. bei der Eigenschaft des Mensch-Seins. Diese Eigenschaft konstituiert eine Substanz, nämlich einen Menschen.17 Und keine Substanz ist Eigenschaft von etwas anderem. Also sind die geschaffenen Substanzen auch nicht Eigenschaften Gottes. Durch diese Art der Limitation (also durch die Limitation zu substantiellen Wesenseigenschaften) entsteht ein von ihrem Ursprung numerisch verschiedenes Einzelding. Das ist der leichte Teil. 2) Aber das Problem, vor dem wir in unserer Thomas-Interpretation stehen, ist – davon ganz unabhängig –, dass es nun so aussieht, als seien die Dinge sozusagen ‚aus Gott gemacht‘; als sei Gott sozusagen die Knetmasse, aus der die Einzeldinge bestehen. Auch das wäre eine Form des Pantheismus, die Thomas von Aquin vermeiden will, wenn er einigermaßen orthodox bleiben will. Die Sache ist etwas knifflig, aber ich glaube, dass auch hier die Chancen für Thomas von Aquin gut stehen, diese Gefahr zu vermeiden unter Rekurs auf Prämissen, die bisher schon entwickelt wurden. Die Existenz einer Sache hängt entweder von nichts ab, das von ihr verschieden ist, oder sie hängt von etwas ab, das von ihr verschieden ist – tertium non datur. Wenn Existenz und Wesen identisch sind – wie das bei Gott der Fall ist –, dann trifft Ersteres zu. Nun nehme man an, durch Einschränkung entstehe ein geschaffenes Seiendes – z. B. Sokrates. Für Sokrates gilt natürlich nicht, dass seine Existenz von nichts abhängt, das von ihm verschieden wäre. Das Wesen von Sokrates ist also nicht identisch mit dem Wesen Gottes. Nun ist das Wesen Gottes mit der Existenz Gottes identisch. Also kann die Existenz von Sokrates nicht identisch sein mit der 17

Sprachlich werden diese Eigenschaften durch Sortale ausgedrückt, also Ausdrücke, zu deren Bedeutung es gehört, dass das unter sie Fallende nicht beliebig zerteilt werden kann – im Gegensatz zu sog. Kontinuativa (‚Wasser‘).

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Existenz Gottes. Er hat aber Existenz; also muss es sich um zwei wesensverschiedene Arten von Existenz handeln. Bildlich gesprochen: Indem die reine Existenz Gottes sich kontrahiert zur bestimmten Existenz des Sokrates, verändert die Existenz ihre Natur, so dass die Existenz des Sokrates nicht mehr identisch ist mit der Existenz, aus der sie entstanden ist. Dazu passt übrigens auch die scharfe Unterscheidung, die Thomas von Aquin zwischen dem esse subsistens und dem esse commune macht. Wir können aus der Betrachtung der geschaffenen Einzeldinge durch Abstraktion den Allgemeinbegriff des esse commune bilden. Das esse commune dürfe aber nicht verwechselt werden mit dem esse subsistens, aus dem die Dinge durch Limitation entsprungen sind. Warum nicht? Wir haben hier die Antwort: Die Existenz der geschaffenen Einzeldinge ist von der Existenz überhaupt toto genere verschieden. Durch Abstraktion erhalten wir einen Begriff der Existenz der geschaffenen Dinge, nicht den Begriff des esse subsistens. Letzteren können wir zwar erschließen, wie wir es oben über das Regressargument gemacht haben, aber wir können den Begriff des esse subsistens nicht durch Abstraktion aus den geschaffenen Dingen herausisolieren. Darauf geht Thomas von Aquin in Kap. 5 von De ente et essentia kurz ein. Er schreibt Folgendes: „Aber wir dürfen, wenn wir sagen, daß Gott nur Existenz ist, nicht in den Irrtum jener verfallen, die behauptet haben, Gott sei jene allgemeine Existenz [illud esse universale], wodurch jedes beliebige Ding der Form nach sei. Diese Existenz nämlich, die Gott ist, ist von einer derartigen Beschaffenheit, daß zu ihr keine Hinzufügung gemacht werden kann, weshalb sie durch eben ihre Reinheit eine von jeder Existenz unterschiedene Existenz ist [. . . ]. Die gemeinsame Existenz [esse commune] aber schließt zwar in ihrem Begriff keine Hinzufügung ein, aber dennoch schließt sie in ihrem Begriff auch keinen Ausschluß einer Hinzufügung ein; denn, wenn dies der Fall wäre, könnte gar keine Existenz gedacht werden, bei dem über die Existenz hinaus etwas hinzugefügt würde.“ (Thomas von Aquin 1987, § 5, 57, Übers. verändert)

Das ist etwas dunkel formuliert. Gemeint ist Folgendes: Wir können natürlich durch Abstraktion aus den geschaffenen Dingen den Allgemeinbegriff der Existenz isolieren, indem wir von allen Wesensbestimmungen absehen; insofern ‚schließt dieser Begriff keine Hinzufügung mit ein‘, wie Thomas von Aquin sich ausdrückt – aber nur, weil wir davon abstrahiert haben; der Begriff des esse commune schließt aber auch keine Hinzufügung aus. Zum konkreten Einzelding gehört eben neben dem esse commune noch eine davon verschiedene Wesensbestimmung dazu. Und genau das ist beim esse subsistens eben nicht der Fall. Daher müssen beide strikt unterschieden werden.

5 Fazit Wie ist der Ansatz von Thomas von Aquin nun zu bewerten? Ich habe versucht zu zeigen, dass Thomas von Aquin durchaus argumentative Ressourcen hat, um auf einige naheliegende Einwände zu reagieren. Allerdings ist auch klar, dass die

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Schwierigkeiten, so eine Theorie mit zufriedenstellender Klarheit auszuführen, beträchtlich sein werden. 1. Wir haben gesehen, dass sich Thomas von Aquin auf eine Theorie verpflichtet, in der man sagen muss, dass Existenz existiert. Das klingt vielleicht schon etwas verdächtig, und in der Tat droht hier ein Regress. Um den Regress zu stoppen, der entsteht, wenn wir davon ausgehen, dass Existenz existiert, müssen wir eine Größe einführen, bei der Existenz und Wesen identisch sind, und es stellt sich die Frage, was das genau heißen soll und ob sich überhaupt ein konsistenter Begriff davon formulieren lässt. 2. Auch der Begriff der Selbstbeschränkung der reinen Existenz zur Existenz einer bestimmten geschaffenen Sache ist ausgesprochen schwierig. Im Grunde haben wir hier die Ebene metaphorischer Rede noch nicht verlassen. Diese Redeweise müsste auf alle Fälle präzisiert werden, was nicht einfach werden dürfte. 3. Und noch ein Problem: Einerseits soll die Identifikation von Wesen und Existenz dazu führen, Gott mit reiner Existenz zu identifizieren. Andererseits sind wir gezwungen, ihm eine ganze Reihe weiterer Eigenschaften zuzuschreiben, und zwar nicht nur aus theologischen Gründen (zu denen man sich stellen mag, wie man will), sondern aus internen Gründen der Theorie selbst – so muss ihm z. B. die Eigenschaft der Selbst-Limitation zugeschrieben werden. Auch hier ist also eine potentielle Bruchstelle für diejenigen, die diese Theorie weiter verfolgen wollen. Allerdings scheint mir die Theorie, die Thomas von Aquin vorlegt, durchaus konsequent zu sein. Wer glaubt, dass Existenz eine Eigenschaft erster Ordnung ist, wer keine Neigung zum Meinongianismus hat, wer zudem einer KonstituentienOntologie zugeneigt ist – für den weist Thomas von Aquin möglicherweise den Weg.

Literatur Davies, Brian: Aquinas, God, and Being. In: The Monist 80/4 (1997), 500–520. Henricus de Gandavo: Quodlibet I. Hg. von Raymond Macken. Leiden/Leuven 1979 (= Henrici de Gandavo Opera Omnia V). Kenny, Anthony: Aquinas on Being. Oxford 2002. MacDonald, Scott: The ‘Esse/Existentia’ Argument in Aquinas’s ‘De ente et essentia’. In: Journal of the History of Philosophy 22/2 (1984), 157–172. Pruss, Alexander R.: The Principle of Sufficient Reason. A Reassessment. Cambridge/New York 2006. Te Velde, Rudi A.: Participation and Substantiality in Thomas Aquinas. Leiden/New York/Köln 1995. Thomas von Aquin: S. Thomae Aquinatis Opera Omnia. Hg. von Pater Robertus Busa. Stuttgart 1980. Thomas von Aquin: De ente et essentia. Das Seiende und das Wesen. Hg. von Franz Leo Beeretz. Stuttgart 1987.

Existenz, Zeit und Ewigkeit in Spinozas Ethik Sebastian Ostritsch

1 Einleitung Es gibt gute Gründe, Existenz nicht nur denjenigen Gegenständen zuzusprechen, die raumzeitlich präsent sind. Auch Entitäten, die noch nicht oder nicht mehr gegenwärtig sind, oder sogar prinzipiell nicht raumzeitlich lokalisierbar sind, sind oder existieren doch in irgendeinem Sinne. Der Gedanke, dass Existenz über die raumzeitliche Präsenz hinausgeht, lässt sich am Beispiel verstorbener Personen plausibilisieren. So genießt Martin Heidegger offenbar keine raumzeitliche Existenz mehr. Er ist verstorben. Um aber von Heidegger sagen zu können, dass er nicht mehr im raumzeitlichen Sinne existiert, müssen wir ihn offenbar doch als seiend betrachten.1 Wir können Heidegger nämlich trotz seiner raumzeitlichen Nichtexistenz in eine Liste der Rektoren der Universität Freiburg aufnehmen. Wenn wir dann diese Liste durchgehen, um zu erfahren, wie viele Rektoren die Universität Freiburg bisher hatte, dann werden wir auch Heidegger zählen. Und was man zählen kann, das muss auch in irgendeinem Sinne existieren.2 Analoge Beispiele lassen sich natürlich auch für Seiendes konstruieren, das noch nicht raumzeitlich existiert, wie auch für solches, das grundsätzlich nicht raumzeitlich existiert. Die Existenz, die sich nicht auf die raumzeitliche Präsenz reduzieren lässt und die etwa auch dem verstorbenen Heidegger zukommt, will ich im Folgenden ‚schlechthinnige Existenz‘ oder auch ‚Existenz schlechthin‘ nennen. Das Besondere an der Existenz schlechthin ist, dass sie – im Gegensatz zur Existenz im 1

Das ist natürlich der Gedanke, den Willard van Orman Quine „Plato’s beard“ getauft hat. Vgl. Quine 2011, 8. 2 Zu dem Gedanken, dass Zählbarkeit Existenz voraussetzt, vgl. Williamson 2002. Williamson selbst spricht nicht von Heidegger, sondern verwendet den römischen Kaiser Trajan als Beispiel. S. Ostritsch () Universität Stuttgart Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Luckner, S. Ostritsch (Hrsg.), Philosophie der Existenz, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04880-6_2

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Sinne raumzeitlicher Präsenz – einer Entität immer zukommt. Der Ausdruck ‚immer‘ meint in diesem Zusammenhang natürlich keinen zeitlichen Dauerzustand. Er soll stattdessen anzeigen, dass es um eine zeitlose und notwendige Verbindung zwischen Entitätsein und Existenz geht. Was überhaupt in irgendeinem Sinne ein Gegenstand, ein Seiendes, eine Entität ist, das existiert auch im schlechthinnigen Sinne. Da eine Entität ihre schlechthinnige Existenz nicht verlieren kann, können wir auch sagen: Was im Sinne der Existenz schlechthin existiert, kann nicht nicht existieren. Denn von einer Entität zu sagen, dass sie nicht existiert, bedeutet den Widerspruch zu formulieren, dass ein Existierendes nicht existiert. Existenz schlechthin kann dementsprechend auch weder beginnen noch enden; sie hat keinen zeitlichen Anfang und kein zeitliches Ende. Sie ist zeitlos. Es gäbe sicherlich noch Einiges zur Erläuterung und Verteidigung der schlechthinnigen Existenz zu sagen.3 Ich möchte mich im Folgenden aber auf ein zentrales Problem beschränken, das sich für den Anhänger ein solchen Existenz ergibt, und dieses Problem zugleich am Beispiel eines historischen Gewährsmanns erörtern, nämlich Spinoza. Das Problem, um das es mit Spinoza gehen soll, lässt sich wie folgt darstellen: Wer neben der raumzeitlichen Existenz auch die schlechthinnige Existenz annimmt, für den stellt sich die Frage nach ihrem Verhältnis. Für die raumzeitliche Existenz ist es wesentlich, dass sie auch das zeitliche Entstehen und Vergehen von Entitäten umfasst. Die schlechthinnige Existenz hingegen kennt kein solches Entstehen und Vergehen. Was schlechthin existiert, ist nur und wird nicht. Wir stehen also vor dem eleatischen Problem, wie wir zeitlose Existenz schlechthin und zeitliche Existenz miteinander versöhnen können.4 Was ist der ontologische Status zeitlicher Existenz im Vergleich zur zeitlosen Existenz schlechthin? Muss nicht vor dem Hintergrund der schlechthinnigen Existenz das raumzeitliche Entstehen und Vergehen bloßer Schein sein? Dieser Gedanke ist insbesondere im Hinblick auf unsere eigene, personale Existenz problematisch. Schließlich ist unsere personale Existenz – wie z. B. schon der nicht mehr raumzeitlich existente Heidegger herausgearbeitet hat – im Kern endlich und zeitlich.5 Ich beginne meine Überlegungen mit der Darstellung der für meine Zwecke zentralen Elemente von Spinozas Philosophie (Abschn. 2). Aus dieser Darstellung wird sich eine gewisse Dialektik entspinnen: Spinoza wird zunächst als Vertreter eines Eleatismus erscheinen, der nur der unwandelbaren ‚Substanz‘ wahrhafte Existenz zuschreibt, und der die Pluralität zeitlich existierender Einzeldinge – die ‚Modi‘ – zum bloßen Schein herabsetzt. Es wird also zunächst so scheinen, als leugne Spinoza die Existenz einer Welt der vergänglichen Dinge; eine These, die Salomon Maimon als Spinozas ‚Akosmismus‘ bezeichnet hat.6

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Vgl. dazu Luckner/Ostritsch 2018. Dieses Problem ist auch der Gegenstand von Erwin Tegtmeiers Parmenideischer Meditation, vgl. Tegtmeier 1997. Siehe auch seinen Beitrag in diesem Band. 5 Vgl. Heidegger 2001. 6 Vgl. Melamed 2011, 210. 4

Existenz, Zeit und Ewigkeit in Spinozas Ethik

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Der Vorwurf des Akosmismus soll im nächsten Schritt als unbegründet zurückgewiesen werden (Abschn. 3). Kritisieren werde ich dabei vor allem die Auffassung, Spinozas Gott sei eine Art Super-Entität, vor dessen zeitloser Existenz das bloß zeitliche Dasein der Modi zum Schein erklärt werden müsse. Dagegen betone ich, dass Gott als die schlechthinnige Existenz (nicht: als existierendes Ding) selbst zu denken ist und dass diese schlechthinnige Existenz in den Modi zum Ausdruck kommt. Zum Schluss (Abschn. 4) werde ich dann darauf eingehen, wie vor dem Hintergrund des Verhältnisses von Substanz und Modi gedacht werden kann, dass Einzeldinge sowohl entstehen und vergehen als auch sich zeitloser Existenz schlechthin erfreuen. Ganz am Ende wird es allerdings nochmals zu einer dialektischen Wendung kommen: Auch die verbesserte Auffassung von Substanz und Modi wird nämlich vom Gespenst des Akosmismus heimgesucht werden. Spinozas Vermittlungsversuch zwischen zeitloser Existenz schlechthin auf der einen und zeitlicher Existenz auf der anderen Seite behält letztlich eine problematische Schlagseite hin zur schlechthinnigen Existenz. Der zeitlichen Existenz droht bei ihm damit eine Herabstufung zum bloßen Schein. Die letzte Pointe dieses Aufsatzes wird also kritischer Natur sein.

2 Substanz, Modi und der Vorwurf des Akosmismus Ich beginne mit der Darstellung der Grundzüge von Spinozas System. Dabei beschränke ich mich auf diejenigen Aspekte, die für die Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis von schlechthinniger Existenz einerseits und zeitlicher Existenz andererseits notwendig sind. Diese Darstellung wird allerdings, wie bereits erwähnt, später noch eine dialektische Korrektur erhalten. Als „Substanz“ oder auch „Gott“ definiert Spinoza dasjenige, „was in sich ist und durch sich begriffen werden kann“ (Spinoza 1977, E1d3). In sich zu sein und durch sich begriffen zu werden, sind dabei zwei Seiten einer Medaille. Denn eine Sache zu begreifen, beinhaltet nach Spinoza, sie auf ihre Ursache zurückzuführen (vgl. Spinoza 1977, E1a4). Was in sich ist, hat keine Ursache außerhalb seiner, denn sonst wäre es nicht in sich, sondern wäre nur auf Grund von etwas Anderem, ihm Äußerlichem. Beim In-sich-Seienden fallen Ursache und Wirkung also zusammen. Was in sich ist, ist auch Ursache seiner selbst. Und was Ursache seiner selbst ist, ist damit auch das im Wortsinne Selbst-Verständliche: Es kann durch sich selbst begriffen werden. Dass die Substanz Ursache ihrer selbst ist, ist nach Spinoza gleichbedeutend damit, dass ihr „Wesen die Existenz einschließt“ (Spinoza 1977, E1d1). Die Substanz, als Ursache ihrer selbst, existiert daher nach Spinoza nicht zufällig, sondern notwendigerweise. Sie muss existieren, denn Existenz gehört zu ihrem Wesen als causa sui. Der Substanz entgegengestellt sind die sogenannten Modi. Diese sind definiert als „die Affektionen der Substanz“ und damit als dasjenige, was nicht in sich, sondern „in einem anderen [nämlich der Substanz, S. O.] ist“ und daher auch nicht durch sich, sondern nur durch dieses andere, also die Substanz, begriffen werden

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kann (vgl. Spinoza 1977, E1d5). Sieht man von den notorisch schwierig zu bestimmenden unendlichen Modi ab, so handelt es sich bei den Modi im Wesentlichen um endliche Einzeldinge.7 Von diesen gilt, dass sie – als Dinge, die in einem anderen sind und sich auch nur von einem anderen her verstehen lassen – nicht notwendigerweise existieren. Zwar vertritt Spinoza auch einen kausalen Nezessitarismus, demzufolge auch das Entstehen und Vergehen der Modi notwendig ist (vgl. Spinoza 1977, E1p28 u E1p29).8 Dennoch gilt: Die Existenz eines bestimmten Einzeldings ist keine begriffliche Wahrheit. Jedes Einzelding hätte auch nicht existieren können. Im Brief über Unendlichkeit schreibt Spinoza hierzu: „Die Affektionen einer Substanz nenne ich Modi, deren Definition kann [. . . ] nicht Existenz in sich schließen; deshalb können wir Modi, selbst wenn sie existieren, als nicht existierend auffassen.“ (Spinoza 2017, Brief XII, 44)

Diesem modalen Unterschied zwischen der notwendigen Existenz der Substanz und der kontingenten Existenz der Modi entspricht nach Spinoza auch ein temporaler Unterschied: Der Substanz kommt Ewigkeit zu, den Modi hingegen Dauer. Ewigkeit ist bei Spinoza nichts anderes als begrifflich notwendige Existenz bzw. Existenz, die in sich selbst gründet: „Unter Ewigkeit verstehe ich die Existenz selbst, insofern sie aus der bloßen Definition des ewigen Dinges als notwendig folgend begriffen wird.“ (Spinoza 1977, E1d8)9

Und als Erläuterung dazu lesen wir: „Denn eine solche Existenz wird, wie das Wesen des Dinges, als ewige Wahrheit begriffen und kann daher durch die Dauer oder die Zeit nicht erklärt werden, selbst wenn man unter Dauer ‚ohne Anfang und ohne Ende sein‘ versteht.“ (Spinoza 1977, E1d8e)

Die Existenz der endlichen Dinge (der endlichen Modi) ist demgegenüber nicht ewig, sondern nur von Dauer. Dauer wiederum ist laut Spinoza „eine unbestimmte Fortsetzung der Existenz“ (Spinoza 1977, E2d5), wobei der Ausdruck ‚unbestimmt‘ hier gerade nicht im Sinne der Endlosigkeit zu verstehen ist. Mit ‚unbestimmt‘ ist vielmehr gemeint, dass die Dauer der Existenz „durch die eigene Natur des existierenden Dinges nicht bestimmt werden kann“ (Spinoza 1977, E2d5e). Es ist also keine begriffliche Frage, ob und wie lange die Modi existieren. Für endliche Modi und damit endliche Einzeldinge gilt mit begrifflicher Notwendigkeit nur, dass sie „eine begrenzte Existenz haben“ (Spinoza 1977, E2d7). Diese Kontingenz der Modi 7 Bei den unendlichen Modi ist nochmals zu unterscheiden zwischen direkten (z. B. Bewegung und Ruhe) und indirekten (dem „Angesicht des ganzen Universums“) unendlichen Modi. Für eine erhellende Darstellung hierzu vgl. Schnepf 2006, 47 ff. 8 Zu Spinozas Nezessitarismus vgl. Perler 2006. 9 Vgl. hierzu auch den folgenden wichtigen Hinweis von Melamed (2012, 92): „Some commentators suggest that Spinoza identifies eternity with necessity or necessary existence, but this qualification is imprecise, since for Spinoza the existence of all things is necessary. What is unique to eternity is its being self-necessitated (or necessitated by its mere essence), while all other things are necessary by virtue of their causes.“

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manifestiert sich in temporaler Hinsicht auch darin, dass wir aus der gegenwärtigen Existenz eines Modus nicht auf dessen Existenz zu anderen Zeiten schließen können. Im Brief über Unendlichkeit heißt es hierzu: „Des weiteren folgt daraus [i. e. aus der Tatsache, dass die Definition der Modi nicht deren Existenz einschließt, S. O.], daß wir, wenn wir bloß die Essenz der Modi, aber nicht die Ordnung der Natur im Ganzen ins Auge fassen, aus dem Tatbestand, daß Modi jetzt existieren, nicht auf deren späteres oder früheres Existieren oder Nicht-Existieren schließen können.“ (Spinoza 2017, Brief XII, 44)

Damit stehen wir vor folgendem Bild: Die Substanz ist Ursache ihrer selbst. Sie gründet daher in sich und kann auch nur von sich selbst her begriffen werden. Die Substanz ist zugleich die letzte bzw. erste Ursache der Modi. Diese gründen nicht in sich und lassen sich auch nicht von sich her begreifen. Stattdessen gilt: Sie gründen epistemisch wie ontologisch in der Substanz (oder Gott). Der philosophiehistorisch bekannteste – und manchen noch heute der einzig vertraute – Vorwurf gegen Spinozas Philosophie lautet, dass sie Pantheismus und damit letztlich Atheismus sei, indem sie Gott mit der Welt gleichsetze und ihn damit verendliche. Wie Hegel gezeigt hat, wird mit dem in kritischer Absicht angebrachten Etikett ‚Pantheismus‘ lediglich ein Strohmann bezeichnet.10 Niemals wäre es Spinoza (oder auch dem Spinoza-Sympathisanten Hegel) eingefallen, Gott mit den endlichen Einzeldingen und die endlichen Einzeldinge mit Gott gleichzusetzen. Lassen wir den Pantheismus daher auf sich beruhen. Das viel interessantere Problem für die Frage nach dem Verhältnis von zeitlosem Sein schlechthin und zeitlicher Existenz besteht hingegen im entgegengesetzten Vorwurf des Akosmismus, d. h. der Lehre von der Nichtigkeit der Welt der endlichen Dinge. Es ist die mangelnde Selbständigkeit, die die Modi sowohl in epistemischer als auch in ontologischer kennzeichnet, die zur Akosmismus-Interpretation geführt hat: Leugnet Spinoza denn nicht die Existenz der veränderlichen Welt und behauptet stattdessen, dass allein der Substanz (Gott) eigentliches Sein zukommt? Diese auf Maimon zurückgehende Deutung war zunächst gar nicht kritisch intendiert. Im Gegenteil, sie sollte den Atheismus-Vorwurf gegen Spinoza kontern: Nicht die Existenz Gottes leugne Spinoza, sondern die Existenz der veränderlichen Welt.11 Es war erst Hegel, der die Akosmismus-Lesart Spinozas in dezidiert kritischer Hinsicht vertrat und in der Leugnung der Existenz der Modi ein Armutszeugnis ontologischer Theoriebildung erkannte.12 Die Akosmismus-Lesart möchte ich im nächsten Abschnitt zurückweisen. Dazu ist es notwendig, erneut auf den Zusammenhang zwischen Substanz und Modi sowie zwischen notwendiger, zeitloser Existenz und kontingenter, zeitlicher Existenz einzugehen.

10

Vgl. Hegel 1986, 162 f. Vgl. Melamed 2011, 210 f. 12 Vgl. ebd., 211. 11

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3 Gott ist Existenz, die Modi haben Existenz Die bisherige Darstellung legte nahe, dass es sich bei der Substanz um eine Art Super-Entität handelt, der mit begrifflicher Notwendigkeit Existenz als Eigenschaft zukommt. Im Vergleich zu dieser Super-Entität erschienen dann die Modi der Akosmismus-Interpretation zufolge nur noch als Sphäre täuschenden Scheins. Wie ich aber nun zeigen möchte, ist das Bild von der Substanz als einer Entität, und das Bild von der Existenz als einer Eigenschaft dieser Entität falsch. Sobald man dieses Bild korrigiert hat, lässt sich auch die Beurteilung der Existenz der Modi als bloße Schein-Existenz zurückweisen. Ich will versuchen, das falsche Bild in drei Schritten (a.–c.) zu korrigieren. a. Zunächst ist festzustellen, dass Existenz nach Spinoza keine Eigenschaft der Substanz bzw. Gottes ist. Gott ist vielmehr die Existenz selbst, oder anders: Gott und Existenz sind ein und dasselbe.13 Zentral für diese These ist der Lehrsatz 20 der Ethik: „Die Existenz Gottes und sein Wesen sind ein und dasselbe.“ (Spinoza 1977, E1p20)

Der springende Punkt hierbei ist, dass wir von Spinoza angehalten werden, Existenz nicht als eine Eigenschaft Gottes zu denken. Eigenschaften sind etwas, das eine Entität hat oder nicht hat bzw. etwas, was einer Entität zukommt oder nicht zukommt. Während die erste Definition der Ethik die causa sui als etwas bestimmt, dessen Wesen die Existenz bloß „einschließt“ (Spinoza 1977, E1d1; lat. „involvit“) und somit noch die Möglichkeit einer Differenz zwischen Wesen und Existenz offen zu lassen scheint, ist in Lehrsatz 20 deutlich von strikter Identität die Rede.14 Existenz, so Spinoza in diesem Lehrsatz, ist in Bezug auf Gott nicht etwas, das dieser hat oder das diesem zukommt, sondern Existenz ist ein und dasselbe wie das Wesen Gottes. Wenn wir das Wesen einer Sache als deren Was-Sein fassen und die Existenz einer Sache als ihr Dass-Sein, dann können wir den Gedanken Spinozas auch so formulieren: Das Was-Sein Gottes ist das Dass-Sein. Das ist – nebenbei gesagt – auch der Grund, warum eine kantianisch inspirierte Kritik an Spinozas ‚Gottesbeweis‘ nicht greift: Der Einwand, dass Existenz kein reale Eigenschaft sei, trifft Spinoza nicht, weil Spinoza gar nicht darauf abzielt, einem Individuum namens Gott Eigenschaften zuzuschreiben. Wohlverstanden liegt bei der Identifikation von Existenz und Gott gar kein Beweisversuch im eigentlich Sinne vor, sondern eher eine Art Hinweis auf den gedanklich unhintergehbaren Aspekt des Dass-Seins, den wir bei jeder Bezugnahme auf eine Entität voraussetzen müssen. Der Ausdruck ‚Gott‘ ist demensprechend bei Spinoza der Name für die Existenz als solche und meint nicht die Existenz einer bestimmten Entität. Strenggenommen wäre die Aussage, dass Gott existiert, aus der Sicht der hier vor13

Für die folgende Interpretation vgl. Luckner/Ostritsch 2018, Kap. 4.3 sowie im Kern auch Melamed 2012. 14 Für eine erhellende Erläuterung des lateinischen Ausdrucks ‚involvere‘ in Spinozas Ethik vgl. Melamed 2012, 88 f.

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geschlagenen Spinoza-Deutung daher sogar falsch. Spinoza selbst betont dies in seinen Gedanken zur Metaphysik: „[V]on Gott läßt sich [. . . ] nicht sagen, daß er sich seiner Existenz erfreut, denn Gottes Existenz ist, nicht anders als sein[e] Essenz, Gott selbst“ (Spinoza 2005, 155).15

b. Die Identifikation Gottes mit der Existenz als solcher bedeutet also nicht nur, dass es sich bei Existenz nicht um eine Eigenschaft Gottes handelt, sondern auch, dass wir Gott gar nicht als Einzelding zu denken haben. Diese beiden Gedanken bedingen sich wechselseitig. Nun könnte man aber einwenden, dass Spinoza offenkundig an mehreren Stellen der Ethik von Gott als einem Ding oder einer Sache – „res“ (vgl. z. B. Spinoza 1977, E1d8) – spricht. In der Tat scheint im Ausdruck ‚Substanz‘ eine eindeutige Verdinglichung zu liegen. Ich möchte aber mit Verweis auf zwei Stellen bei Spinoza dafür argumentieren, dass der Sache nach gerade kein Ding gemeint ist. Die Ausdrücke ‚res‘ und ‚substantia‘ sind insofern tatsächlich ein Stück weit irreführend. Die erste Stelle, die dies belegt, ist die siebte Definition zu Beginn des zweiten Teils der Ethik. Aus dieser Definition wird klar, dass Gott gerade kein Einzelding ist, weil die Einzeldinge vielmehr die endlichen Modi Gottes sind: „Unter Einzeldingen verstehe ich Dinge, die endlich sind und eine begrenzte Existenz haben.“ (Spinoza 1977, E2d7)

Gott ist nach Spinoza weder endlich noch begrenzt und daher auch klarerweise kein Einzelding. Was wiederum die Existenz betrifft, so sagt Spinoza hier, dass Einzeldinge im Gegensatz zu Gott sehr wohl Existenz ‚haben‘. Hier findet sich also genau jenes Individuum-Eigenschaft-Verhältnis, von dem Spinoza bemüht ist, es von seiner Definition Gottes fernzuhalten. Gott ist Existenz, die Einzeldinge hingegen haben Existenz. Die zweite Stelle, auf die ich verweisen möchte, führt diesen Gedanken insofern weiter, als sie verneint, dass Gott überhaupt als zahlenmäßig ‚einer‘ verstanden werden kann. In einem Brief an Jarig Jelles schreibt Spinoza, dass „Gott nur sehr uneigentlich einer oder einzig genannt werden kann“ (Spinoza 2017, 193). Zahlausdrücke sind Spinoza zufolge nämlich nur dort möglich, wo Einzeldinge unter ein Allgemeines (eine ‚Gattung‘) fallen. Diese Einzeldinge lassen sich dann als Einzeldinge einer Gattung zählen. Der Ausdruck ‚Gott‘ meint aber gerade keinen Gattungsbegriff, der auf viele Einzeldinge zutreffen könnte. Gott ist die Existenz als solche und entzieht sich deswegen der Differenz von einzelnem und allgemeinem Seienden. Das Gesagte hat auch Auswirkungen auf das Verständnis der Attribute Gottes, von denen bisher noch gar nicht die Rede war. Ein Attribut wird von Spinoza defi15

Ganz in diesem Sinne hat schon Friedrich Schelling mit explizitem Bezug auf Spinozas Ethik den Satz formuliert: „Nicht existiert das Blindseiende, sondern es ist die Existenz selbst, αὐτὸ τὸ ὄν. Man kann ihm darum das Sein nicht attributive zuschreiben“ (Schelling 1993, 157). Ein ganz ähnlicher Gedanke lässt sich auch bei Milton Munitz (1986) und seiner Theorie der ‚Boundless Existence‘ finden.

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niert als dasjenige „an der Substanz, was der Verstand als zu ihrem Wesen gehörig erkennt“ (Spinoza 1977, E1d4). Die Anzahl der Attribute Gottes ist dabei nicht endlich, sondern unendlich, auch wenn wir als endliche Wesen lediglich zwei solcher Attribute kennen, nämlich Denken und Ausdehnung. Eine oberflächliche Lektüre könnte nun dazu verleiten, Attribute als wesentliche Eigenschaften der Substanz zu verstehen. Wenn wir aber den Gedanken ernst nehmen, dass die Substanz die Existenz als solche ist und kein Ding, das Träger von Eigenschaften (seien sie wesentlich oder unwesentlich) sein kann, dann kommen wir auch zu einem anderen Verständnis der Attribute. Entscheidend für das rechte Verständnis ist der Begriff des Ausdrucks, dessen sich Spinoza immer wieder bedient, um das Verhältnis von Substanz und Attributen zu beschreiben. So finden wir etwa die Formulierung, dass jedes Attribut Gottes sein „ewiges und unendliches Wesen ausdrückt“ (Spinoza 1977, E1d6). Wenn wir Gott mit der Existenz als solcher gleichsetzen, heißt dies: Die Sphäre des Denkens und die Sphäre der Ausdehnung sind die beiden dem menschlichen Verstand zugänglichen Seinsbereiche, in denen die schlechthinnige Existenz zum Ausdruck kommt. Yitzhak Melamed hat diesen Zusammenhang wie folgt prägnant zusammengefasst: „[F]or Spinoza God is nothing but existence, and [. . . ] the divine attributes are just fundamental kinds of existence, or, what is the same, [. . . ], the intellect’s most fundamental and adequate conceptions of existence.“ (Melamed 2012, 76)

Dieser Aussage Melameds ist insofern zustimmen, als sie das Identitätsverhältnis von Gott und Existenz in seiner ganzen Schärfe fasst. Die Rede von „kinds of existence“ lädt jedoch zu einem Missverständnis ein.16 Nicht gemeint sein kann, dass es sich bei der Existenz um eine Gattung handelt, aus der sich mithilfe von spezifischen Differenzen zwei Unterarten bilden ließen: einmal die Denk-Existenz und einmal die Raum-Existenz. Der Punkt ist also nicht, dass ein bestimmter Gedanke (z. B. der Gedanke ‚Vor mir steht eine Tasse‘) und eine bestimmte räumlich ausgedehnte Entität (die Tasse vor mir) zu verschiedenen Arten schlechthinniger Existenz gehören. Im Gegenteil: Hinsichtlich der Existenz schlechthin – ihres Dass-Seins – sind sie identisch. Denken und Ausdehnung sind schließlich nach Spinoza Ausdruck ein und derselben Existenz – der Existenz schlechthin. Das bedeutet aber natürlich nicht, dass Gedanken und räumliche Gegenstände sich überhaupt nicht unterscheiden. Der Unterschied zwischen ihnen besteht allerdings nur darin, was sie sind, nicht dass sie sind. Räumliche Dinge sind andere Arten von Entitäten als geistige Gegenstände. Aber hinsichtlich des Umstands, dass sie überhaupt Entitäten sind, also existieren, sind sie gleich. Nochmals anders formuliert: Hinsichtlich des Dass-Seins ist alles, was existiert, gleich; hinsichtlich des Was-Seins, in dem sich das Dass-Sein ausdrückt, lassen sich aber durchaus Arten des Seienden bilden.17 Für diese Verschiedenheit des Was-Seins dürfen natürlich die Ausdrücke ‚Arten der Existenz‘, ‚Existenzweisen‘ o. ä. gebraucht werden. Ent16

Dasselbe gilt auch von seiner Rede von einer „bifurcation of existence into eternity and duration“ (Melamed 2012, 96). 17 Vgl. dazu Luckner/Ostritsch 2018, Kap. 1.2.

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scheidend ist aber, dass diese Ausdrücke sich nicht auf Differenzen hinsichtlich der Existenz schlechthin beziehen können. c. Mithilfe dieser Ausführungen zum Verhältnis von Substanz und Attributen lässt sich nun der Vorwurf des Akosmismus (zumindest vorläufig) entkräften.18 Wie wir gesehen haben, lehrt Spinoza Folgendes: Die Substanz ist keine Entität, sondern die schlechthinnige Existenz als solche. Diese drückt sich in den Attributen der Ausdehnung und des Denkens als ihren ontologischen Grundbereichen aus. Das Ausdrucksverhältnis von Substanz und Attributen lässt sich dabei als dynamische Strukturbeschreibung des fundamentalen ontologischen Verhältnisses von Dass-Sein und Was-Sein verstehen: Das univoke Dass-Sein findet seinen Ausdruck in den vielfältigen Kategorien des Was-Seins. Die Einzeldinge wiederum sind die Modifikationen dieser Struktur: Ihr DassSein gründet in der Substanz als der Existenz schlechthin, ihr grundlegendes WasSein hingegen gründet in den Attributen der Substanz. Zugleich gilt aber auch umgekehrt: Die Einzeldinge müssen aus der Substanz hervorgehen, wenn die Substanz Substanz sein soll. Die Teilhabe an der Substanz qua Existenz schlechthin ist es, was alle Entitäten überhaupt zu Entitäten macht. Zugleich gilt aber auch umgekehrt: Das Zum-Ausdruck-Kommen in den Einzeldingen ist wesentlich für die Substanz. Spinozas berühmte Unterscheidung zwischen natura naturans und natura naturata kann helfen, diesen Zusammenhang zu erhellen.19 Gott oder die Substanz ist die schlechthinnige Existenz als solche. Diese ist selbst kein Seiendes, sondern die jedem Seienden zuvorkommende Aktivität des Sich-Ausdrückens. Dafür steht bei Spinoza die Charakterisierung der Substanz als natura naturans. Die natura naturans muss nach Spinoza als der Grund für das Auftreten einer Welt der Einzeldinge, der natura naturata, gedacht werden (vgl. Spinoza 1977, E1p29sch). Das bedeutet dann natürlich auch umgekehrt, dass die Substanz ohne die Modi nicht zu denken ist. Denn so, wie jedes Etwas oder Einzelding auf die Existenz als solche verweist, ohne die es nicht existierte, wäre auch eine schlechthinnige Existenz ohne Existierendes schlicht gar nichts. Die Substanz muss sich also in ihren Modi ausdrücken, wenn sie Substanz sein soll. Denn die Substanz ist kein selbstgenügsam existierendes Ding, sondern die schlechthinnige Existenz als solche (oder um den Aktivitätscharakter zu betonen: das Existieren als solches), das sich in Einzeldingen Ausdruck verleiht.20 Die schlechthinnige Existenz, von der hier bei Spinoza mithilfe der Ausdrücke ‚Gott‘ und ‚Substanz‘ die Rede ist, ist zweifellos das Resultat einer philosophischen Präparation. Robert Schnepf hat das Szenario dieser Präparation so beschrieben, 18

Vgl. auch Melamed 2011 sowie Nadler 2011. Für den Rückgriff auf die Unterscheidung zwischen natura naturans und natura naturata zur Lösung des Akosmismus-Problems vgl. auch Melamed 2011, 213 ff. 20 Es lässt sich hier natürlich einwenden, dass ein reines Existieren, das in keinerlei Existierendem seinen Ausdruck fände, zwar in der Tat nichts, weil ohne jegliches Etwas wäre, dass aber hierin gerade die eigentlich zu beantwortende Frage aller Fragen liegt: Warum belässt Gott, das Sein schlechthin, es nicht einfach beim Nichts? Vgl. hierzu Luckner/Ostritsch 2018, insbes. Kap. 5.2 u. 5.3. 19

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dass Spinoza nicht vom Begriff Gottes ausgehe, um daraus die Welt der Einzeldinge zu deduzieren, sondern umgekehrt, anhand einer abstraktiven Analyse der Einzeldinge die Substanz entdecke: „[V]ersucht man einmal, an endlichen Dingen alle Bestimmungen wegzulassen, die in irgendeinem Sinne eine Relation zu anderem implizieren, dann stößt man auf etwas, von dem sich kein Merkmal mehr angeben läßt, das es von dem Substantiellen in einem anderen Ding unterscheiden könnte. Der substantielle Kern verschiedener endlicher Dinge ist ein und derselbe, weil ununterscheidbar [. . . ].“ (Schnepf 2006, 42 f.)

Dieser substantielle Kern, so möchte ich betonen, ist wohlverstanden aber selbst kein Ding mehr und auch kein kategoriales Was-Sein, sondern das inhaltlich bestimmungslose Dass-Sein der schlechthinnigen Existenz. Abseits der philosophischen Präparation tritt die Existenz schlechthin (die Substanz) also nur am Existierenden (den Modi) auf. In Isolation von den Modi bleibt die Substanz nur ein Abstraktum. Was wir aber anhand dieses Abstraktum entdecken, ist der Charakter des Dass-Seins oder Überhaupt-Seins, ohne den wir kein Existierendes denken können und zu dem es daher auch keine Negation gibt.

4 Ewigkeit der Existenz, Zeitlichkeit des Existierenden und der Blick sub specie aeternitatis Kehren wir nun auf Basis der bisherigen Spinoza-Deutung zurück zur Frage nach einer möglichen Versöhnung der Ewigkeit der schlechthinnigen Existenz mit der endlichen Dauer der Einzeldinge. Wie gehen diese beiden Punkte zusammen? Wie wir bereits in Abschn. 2 gesehen haben, lässt sich die Charakterisierung, die Substanz sei ewig, als eine modale Bestimmung verstehen. Die Ewigkeit der Substanz liegt darin, dass Existenz in Bezug auf die Substanz als begriffliche Notwendigkeit – d. h. aus der bloßen Definition von ‚Substanz‘ folgend – begriffen werden muss (vgl. Spinoza 1977, E1d8). Im vorangegangen Abschnitt habe ich zudem dafür argumentiert, dass die Substanz kein existierendes Etwas, sondern die schlechthinnige Existenz selbst ist, die in allem, was existiert, zum Ausdruck kommen muss und der keine Form der Nicht-Existenz entgegensteht. Das bedeutet offensichtlich, dass wir auch den Modi ewige Existenz zusprechen müssen. Habe ich aber bei der ersten (noch revisionsbedürftigen) Charakterisierung des Verhältnisses von Substanz und Modi Spinoza nicht dahingehend zitiert, dass wir die Modi im Gegensatz zur Substanz auch „als nicht existierend auffassen“ (Spinoza 2017, Brief XII, 44) können? Richtig, allerdings hatte ich einen entscheidenden Einschub Spinozas weggelassen. In Gänze lautet die Passage: „Die Affektionen einer Substanz nenne ich Modi, deren Definition kann, sofern sie nicht die Substanz [als das Subjekt der Modi] definiert, nicht Existenz in sich schließen; deshalb können wir Modi, selbst wenn sie existieren, als nicht existierend auffassen.“ (Spinoza 2017, Brief XII, 44)21 21

Herv. durch mich, S. O.

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Entscheidend für uns ist, dass Spinoza hier offensichtlich ausdrücklich die Möglichkeit zulässt, die Modi als notwendigerweise existierend und damit als ewig zu betrachten. Die Modi sind zum Ausdruck gebrachte Substanz und als solche auch zum Ausdruck gebrachte Ewigkeit. Wenn wir daher die Dinge aus der Perspektive der Substanz beurteilen, sind auch die Modi ewig. Diese Betrachtungsweise hat Spinoza berühmterweise als epistemischen Standpunkt „sub specie aeternitatis“ (Spinoza 1977, E5p29) bezeichnet. In seinem Brief über Unendlichkeit hat Spinoza die wunderschöne Formulierung geprägt, Ewigkeit lasse sich auch begreifen als der „unendliche Genuss zu existieren oder (in hier nicht passendem Latein) zu sein [infinitum existendi sive (invita Latinitate) essendi fruitionem]“ (Spinoza 2017, Brief XII, 44). Das Adjektiv „unendlich“ steht dabei nicht für eine unendliche Dauer, sondern für eine Form der Existenz, die überhaupt nicht durch die Kategorie der Dauer begriffen werden kann. Von der Warte der Ewigkeit aus betrachtet, haben alle Entitäten an jenem unendlichen Genuss Anteil. Was aber ist mit der endlichen Dauer, d. h. der „begrenzten Existenz“ (Spinoza 1977, E2d7), die Spinoza den Einzeldingen zuschreibt? Wie kann es diese überhaupt geben, wenn Existenz doch notwendig und damit ewig ist? Sind hier nicht doch etwa zwei Arten der Existenz im Spiel, wie wir sie oben ausdrücklich zurückgewiesen haben? In der Tat gibt es zwei Existenzbegriffe bei Spinoza, nämlich einmal Existenz raumzeitlichen Sinne und einmal Existenz schlechthinnigen Sinne. Hierzu lesen wir im fünften Teil der Ethik: „Die Dinge werden von uns auf zweierlei Arten als wirklich begriffen; entweder insofern wir sie als in Beziehung auf eine bestimmte Zeit und Örtlichkeit erfassen oder nur insofern wir sie als in Gott enthalten und aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur erfolgend begreifen. Die Dinge aber, die auf diese zweite Art als wahr oder real begriffen werden, begreifen wir unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit [. . . ].“ (Spinoza 1977, E5p29demschol)

Es handelt sich aber nicht um zwei Arten der Existenz. Vielmehr ist die raumzeitliche Existenz nur eine Ausdruckform der schlechthinnigen Existenz. Diese ist, wie Spinoza an anderer Stelle der Ethik explizit sagt, „die eigentliche Existenz der Einzeldinge“ (Spinoza 1977, E2p45demschol). Wie können wir uns dieses Verhältnis von endlichen raumzeitlichen Einzeldingen und ewiger Existenz vorstellen? Spinoza hat meines Wissens nirgends ausbuchstabiert, wie genau sich die begrenzte Dauer (die ‚Existenz‘ im vulgären Sinne) zur Existenz im eigentlichen Sinne verhält. Es gibt aber zumindest einige Anhaltspunkte im Brief über Unendlichkeit. Dort unterscheidet Spinoza Dauer von Zeit. Im Gegensatz zur Dauer, die er als realen Ausdruck der ewigen Existenz sieht, ist die Zeit nach Spinoza das Produkt unserer Vorstellungkraft (vgl. Spinoza 2017, Brief XII, 44 ff.). Die Vorstellung ist die fehleranfälligste der drei von Spinoza postulierten Erkenntnisarten (vgl. Spinoza 1977, E2p40s2). Diese Fehleranfälligkeit rührt daher, dass die Dinge isoliert von ihrem Gründen in der Substanz betrachtet werden. Die Modi erscheinen für die Vorstellung also nicht als Modi der Substanz, sondern –

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fälschlicherweise – als Einzeldinge tout court. Spinoza führt an anderer Stelle aus, dass derart isolierte Einzeldinge für uns endliche Wesen nur insofern zu existieren scheinen, als sie auf unseren Wahrnehmungsapparat wirken, d. h. insofern sie raumzeitlich gegenwärtig sind (vgl. Spinoza 1977, E2p17). Spinoza scheint mit seiner Kritik an der Zeit also insbesondere die Verknüpfung von Existenz mit den Tempora Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zurückzuweisen; denn mit Letzteren operiert nur die fehleranfällige Imagination. Mit den in der gegenwärtigen Zeitphilosophie gebräuchlichen, auf McTaggart zurückgehenden Vokabeln könnte man also auch Folgendes sagen: Spinoza scheint von der Irrealität der A-Bestimmungen (‚gegenwärtig‘, ‚vergangen‘ und ‚zukünftig‘) überzeugt zu sein. Das würde nahelegen, dass Dauer, Entstehen und Vergehen aus spinozanischer Sicht mithilfe von rein relationalen B-Bestimmungen – also ‚früher als . . . ‘, ‚gleichzeitig mit‘ und ‚später als . . . ‘ – begriffen werden müssten. Dafür spricht auch, dass laut Spinoza die nicht-relationale Sicht auf zeitliche Dauer als eine Art Quantität irreführend ist. Der Begriff der Zeit entsteht nach Spinoza nämlich nur zur quantifizierenden Messung von Dauer, d. h. „um die Dauer [. . . ] so zu bestimmen, daß wir sie uns möglichst einfach vorstellen“ (Spinoza 2017, Brief XII, 45 f.) können. Alle Probleme und Paradoxa des Zeitmessens – z. B. die von Augustinus her bekannten – ergeben sich daher für Spinoza nur, weil sich die Vorstellung der Realität bemächtigt und sie verfälscht (vgl. Spinoza 2017, Brief XII, 46).22 Was trägt eine relationale Sichtweise begrenzter Dauer in Bezug auf das Entstehen und Vergehen aus? Nehmen wir erneut den Schwarzwälder Seinsdenker als Beispiel: Heidegger wurde geboren und ist gestorben, d. h. er ist entstanden und vergangen. Sub specie aeternitatis betrachtet markieren aber weder Heideggers Geburt noch sein Tod einen Übergang von schlechthinniger Nicht-Existenz zu schlechthinniger Existenz oder umgekehrt.23 Stattdessen sind Geburt und Tod Heideggers Ereignisse, die in den Relation des ‚früher als . . . ‘, ‚gleichzeitig mit . . . ‘ und ‚später als . . . ‘ stehen.24 Diese Relationen selbst sind weder vergänglich noch veränderlich, sondern bestehen zeitlos.25 So elegant diese Lösung für das Problem von ewiger Existenz und zeitlicher Dauer auch ist, sie ist erkauft durch die Diskreditierung der temporalen Modalitäten von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Diese Diskreditierung führt aber zurück zum Problem des Akosmismus, das nun in neuem Gewand auftritt. Zwar wird nicht die Welt der endlichen Dinge in Gänze zur Nichtigkeit erklärt, dafür aber ein entscheidender Aspekt der menschlichen Lebenswelt, nämlich die A-Zeit. Im Anschluss an McTaggarts berühmte Überlegungen ist es fraglich, ob es überhaupt konsistent ist, eine B-Zeit als Zeit zu denken, wenn wir die A-Zeit fallen

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Zur Frage der Realität bzw. Irrealität von Zeit und Dauer siehe Melamed 2019. Dieser Gedanke gehört auch zu den zentralen Thesen von Tegtmeiers Zeit und Existenz. Vgl. ders. 1997, 143–145. 24 Zum Begriff des Todes bei Spinoza vgl. Melamed/Schechter 2015. 25 Der Blick sub specie aeternitatis ähnelt damit dem „view from nowhen“ (Price 1996) in der aktuellen Zeit- und Wissenschaftsphilosophie, für den die Welt in Wahrheit ein unvergängliches, vierdimensionales Blockuniversum ist. 23

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lassen.26 Es stünde dem konsequenten Spinozisten natürlich frei, denselben Weg zu gehen wie McTaggart und mit der A-Reihe auch die B-Reihe zu eliminieren und allein die zeitlose C-Reihe zur Wahrheit zu erklären. Dann aber wäre letztlich auch die zeitlich geordnete Welt verschwunden. Sie wäre zurückgenommen in die Zeitlosigkeit Gottes. Der Akosmismus hätte gesiegt.

Literatur Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III. In: Theorie-Werkausgabe, Bd. 20. Hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1986. Heidegger, Martin: Sein und Zeit [1927]. Tübingen 18 2001. Koch, Anton Friedrich: Versuch über Wahrheit und Zeit. Paderborn 2006. Luckner, Andreas/Ostritsch, Sebastian: Existenz. Berlin/Boston 2018. Melamed, Yitzhak M.: Why Spinoza is not an Eleatic Monist (Or Why Diversity Exists). In: Philip Goff (Hg.): Spinoza on Monism. Houndmills, Basingstoke, Hampshire 2011, 206–222. Melamed, Yitzhak M.: Spinoza’s Deification of Existence. In: Oxford Studies in Early Modern Philosophy 6 (2012), 75–104. Melamed, Yitzhak M.: Hegel, Spinoza, and McTaggart on the Reality of Time. In: Dina Emundts/ Sally Sedgwick (Hg.): Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus 14 (2016): Der deutsche Idealismus und die Rationalisten. Berlin/Boston 2019, 211–234. Melamed, Yitzhak M./Schechter, Oded: Spinoza on Death, ‘Our Present Life’ & the Imagination (24.06.2015). Unveröffentlichtes Manuskript 2015. McTaggart, J. M. E.: The Unreality of Time. In: Mind 17 (1908), 456–473. Munitz, Milton: Cosmic Understanding. Princeton 1986. Nadler, Steven: Spinoza’s Monism and the Reality of the Finite. In: Philip Goff (Hg.): Spinoza on Monism. Houndmills, Basingstoke, Hampshire 2011, 223–243. Perler, Dominik: Das Problem des Nezessitarismus. In: Robert Schnepf/Michael Hampe (Hg.): Baruch de Spinoza: Ethik. Berlin 2006, 59–80. Price, Huw: Time’s Arrow and Archimedes’ Point: New Directions for the Physics of Time. Oxford 1996. Quine, Willard van Orman: On What There Is. In: Ders: From a Logical Point of View. Hg. von Roland Bluhm und Christian Nimtz. Stuttgart 2011. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Philosophie der Offenbarung 1841/42 (Paulus-Nachschrift). Hg. von Manfred Frank. Frankfurt a. M. 2 1993. Schnepf, Robert: Die eine Substanz und die endlichen Dinge. In: Ders./Michael Hampe (Hg.): Baruch de Spinoza: Ethik. Berlin 2006, 37–58. Spinoza, Baruch de: Die Ethik. Übers. von Jakob Stern. Stuttgart 1977. Spinoza, Baruch de: Gedanken zur Metaphysik. Sämtliche Werke, Bd. 4. Hamburg 2005. Spinoza, Baruch de: Briefwechsel. Sämtliche Werke, Bd. 6. Hamburg 2017. Tegtmeier, Erwin: Zeit und Existenz. Parmenideische Meditationen. Tübingen 1997. Williamson, Timothy: Necessary Existents. In: Anthony O’Hear (Hg.): Logic, Thought and Language, Royal Institute of Philosophy Supplement. Cambridge 2002, 269–287.

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Vgl. McTaggart 1908. Anton Koch hat in seinem Versuch über Wahrheit und Zeit überzeugend dafür argumentiert, dass „die A-Skala zum Wesen der Zeit“ (Koch 2006, 419) gehört.

Frege über Existenz und die Hierarchie der Funktionen Joachim Bromand

1 Einleitung Freges Überlegungen zur Existenz bilden eines der Fundamente der modernen Logik und finden sich in dieser nach wie vor in großen Teilen nahezu unverändert wieder. Freges Theorie stellt dabei auch einen Meilenstein der frühen analytischen Philosophie dar und gilt insbesondere wohl aufgrund von Rudolf Carnaps Aufsatz „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ (1931) als paradigmatisches Vorbild für den metaphysikkritischen Einsatz sprachanalytischer Methoden, unter anderem am Beispiel des ontologischen Gottesbeweises. In dieser Schrift propagiert Carnap den Slogan ‚Existenz ist kein Prädikat‘ (auch wenn der Satz nicht wörtlich fällt), auf den Freges Existenzkonzeption in der Folge oftmals reduziert wurde.1 Dabei wird die Betrachtung von Freges Überlegungen zur Existenz häufig auf die Existenzquantifikation in der Prädikatenlogik erster Stufe beschränkt. Dadurch wird Freges Position gravierend vereinfacht, da Logik im Sinne Freges eine Logik (zumindest) zweiter Stufe ist. Aufgrund dieser Vereinfachung haben Analysen von Freges Auffassung von Existenz zumeist diejenigen Überlegungen Freges vor Augen, in denen es um die Existenz von Gegenständen geht, und lassen damit die Frage nach der Existenz von Funktionen, insbesonde1

Allerdings hatte Carnap die Reichweite von Freges Einwänden gegen den ontologischen Gottesbeweis bei weitem überschätzt (vgl. dazu Bromand 2014) – ebenso wie die Reichweite seiner eigenen, auf verifikationistischen Hintergrundannahmen beruhenden metaphysikkritischen Überlegungen, was etwa Quines Kritik an verifikationistischen Bedeutungstheorien deutlich machen sollte. Für wertvolle Hinweise und Kommentare danke ich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Kolloquiums des Philosophischen Seminars der Universität Mannheim, insbesondere Wolfgang Freitag, Helge Rückert, Marc Andree Weber und Nadja-Mira Yolcu. J. Bromand () Universität Bonn Bonn, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Luckner, S. Ostritsch (Hrsg.), Philosophie der Existenz, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04880-6_3

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re von Begriffen bzw. Eigenschaften außer Acht. Das Ignorieren von Freges Rede über die Existenz von Funktionen und Eigenschaften ist dabei insofern problematisch, als Funktionen den weitaus größeren Bereich dessen ausmachen, was es nach Frege gibt. Frege unterscheidet zudem strikt zwischen Gegenständen und einer Hierarchie von Funktionen, die zumindest zweistufig ist und – wie im Folgenden gezeigt werden soll – sogar ins Unendliche reicht. Diese Hierarchie zieht zudem Konsequenzen für Freges Ansichten zur Semantik von Ausdrücken wie ‚existieren‘ nach sich. Während etwa Haaparanta (1986, 157) und im Anschluss daran Haefliger (1994, 294) dafür argumentieren, dass Frege zwei Gebrauchsweisen von ‚existieren‘ unterscheidet (einen Existenzbegriff erster Stufe und den durch den Existenzquantor ausgedrückten Existenzbegriff zweiter Stufe), soll im Folgenden gezeigt werden, dass Frege davon mindestens noch eine weitere Gebrauchsweise abgrenzt. Diese Vielfalt an Existenzbegriffen zieht einige Schattenseiten von Freges Existenzkonzeption nach sich, die im Folgenden beleuchtet werden sollen: Während Existenzbehauptungen von Gegenständen in der Regel unproblematisch im Rahmen von Freges Konzeption modelliert werden können, ergeben sich Schwierigkeiten aus einer Fregeschen Auffassung der natürlichsprachlichen Quantifikation bei der Formulierung metaphysischer Fragen und insbesondere auch bei der Formulierung von Freges eigener Theorie. In Teil 2 sollen dazu zunächst Motivation und Aufbau von Freges Funktionenhierarchie rekapituliert werden. In Teil 3 werden Freges Überlegungen erörtert, wie wir die Existenz von Gegenständen behaupten können. Teil 4 widmet sich der Frage, wie weit Freges Funktionenhierarchie reicht und wie viele (Existenz-)Quantoren er folglich unterscheiden muss. In Teil 5 werden dann die Konsequenzen von Freges Existenzkonzeption für natürlichsprachliche Existenzquantifikationen gezogen. Teil 6 beschäftigt sich schließlich mit den Konsequenzen, die sich aus Freges Existenzkonzeption für seine eigene philosophische Position ergeben, bevor in Teil 7 ein kurzes Fazit gezogen wird.

2 Frege über Gegenstände und Funktionen verschiedener Stufen Freges zentrale ontologische Unterscheidung besteht in derjenigen zwischen Gegenständen und Funktionen, wobei er Letztere im Gegensatz zu Gegenständen metaphorisch als ‚ungesättigt‘ charakterisiert.2 Funktionen sind dabei Zuordnungen, die bestimmten Entitäten3 (je nach Funktion auch Paaren oder n-Tupeln von solchen) Gegenstände zuordnen. Funktionen, die Entitäten Wahrheitswerte zuordnen, 2

In Was ist eine Funktion? bezeichnet Frege zunächst Funktionszeichen als ungesättigt (vgl. WF 663), um diese Rede dann auch auf die bezeichneten Entitäten zu übertragen: „Der Eigentümlichkeit der Funktionszeichen, die wir Ungesättigtheit genannt haben, entspricht natürlich etwas an den Funktionen selbst. Auch diese können wir ungesättigt nennen [. . . ].“ (WF 665) 3 Der Ausdruck ‚Entität‘ soll im Folgenden in einem umgangssprachlich-naiven Sinne verwendet werden, unter den sowohl Freges Gegenstände als auch dessen Funktionen (beliebiger Stufe) fallen; vgl. Parsons 2006, 205: „[C]onceptions of ‚entities‘ that are not objects have had defenders, notably Frege.“

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nennt Frege „Begriffe“ (FB, 15). Ein Begriff wie gerade Zahl unterteilt dabei die Gesamtheit der Gegenstände vollständig disjunkt in zwei Bereiche: Einmal in den Bereich derjenigen Gegenstände, die die Merkmale des Begriffs erfüllen, die also sowohl Zahlen als auch ohne Rest durch 2 teilbar sind; diesen Gegenständen ordnet der Begriff den Wahrheitswert wahr zu, allen anderen den Wahrheitswert falsch. Einen Begriff, der einer Entität den Wahrheitswert wahr zuordnet, bezeichnet Frege dann als Eigenschaft dieser Entität (BG 201, GA § 53). Frege unterscheidet Funktionen in Hinblick auf ihre Stelligkeit bzw. in Hinblick auf die Anzahl ihrer zu ‚sättigenden‘ Leerstellen und bezeichnet etwa zweistellige Funktionen, deren Werte Wahrheitswerte sind, als Beziehungen (FB 28). Darüber hinaus differenziert Frege Funktionen auch in Hinblick auf die Art ihrer zu ‚sättigenden‘ Leerstellen, was auf der im Folgenden zu klärenden Unterscheidung zwischen Argumenten verschiedener Stufen beruht; Funktionen, deren Argumente alle derselben Stufe angehören (müssen), bezeichnet Frege als gleichstufig, Funktionen, deren Argumente unterschiedlichen Stufen angehören (müssen), als ungleichstufig (FB 28 f.). Für den vorliegenden Aufsatz zentral ist Freges Auffassung, dass sich Funktionen in ihren Anwendungsbereichen unterscheiden können, d. h. in den Argumenten, die die Leerstellen einer Funktion sättigen können. Dies führt zu einer Einteilung von Entitäten und insbesondere von Begriffen in verschiedene Stufen, wobei die Stufe eines Begriffs von den Entitäten abhängt, auf die der Begriff anwendbar ist. Freges Differenzierung zwischen Begriffen verschiedener Stufen dürfte seiner Beobachtung zu verdanken sein, dass Begriffe Eigenschaften haben können, die Gegenständen nicht zukommen können. Beispielsweise sieht Frege vor, dass sog. Funktionen erster Stufe wie etwa die durch x = x ausgedrückte nur durch Gegenstände ‚gesättigt‘ werden können, so dass ausschließlich Ersetzungen der Variablen x durch Bezeichnungen für Gegenstände (wie ‚2‘ oder ‚Julius Caesar‘) einen sinnvollen Satz ergeben. Anders verhält es sich bei Funktionen zweiter Stufe, die nicht Eigenschaften von Gegenständen, sondern nur Eigenschaften von Funktionen erster Stufe sein können. Ein wichtiges Beispiel einer solchen Funktion zweiter Stufe ist etwa der vom Allquantor 8x ausgedrückte Begriff, der allen Begriffen erster Stufe den Wahrheitswert wahr zuweist, die ihrerseits jedem Gegenstand den Wahrheitswert wahr zuordnen. Da beispielsweise der durch x = x ausgedrückte Begriff genau dies tut, ist entsprechend auch der Satz 8x (x = x) wahr. Von einem Gegenstand ist es hingegen nicht sinnvoll zu behaupten, er treffe auf alle Gegenstände zu. Eine weitere Eigenschaft zweiter Stufe ist beispielsweise die Eigenschaft der Eindeutigkeit, die auf den Begriff identisch mit 0 zutrifft in dem Sinne, dass es genau eine Zahl gibt, die unter den Begriff fällt; demgegenüber kann diese Eigenschaft nicht sinnvollerweise von Gegenständen wie der Zahl 0 ausgesagt werden. Während der Ausdruck ‚identisch mit 0‘ somit eine Eigenschaft erster Stufe ausdrückt, die von Gegenständen ausgesagt werden kann, ist Eindeutigkeit im obigen Sinne eine Eigenschaft zweiter Stufe, die auf Begriffe erster Stufe, nicht aber auf Gegenstände zutreffen kann. Frege verallgemeinert dann diese Beobachtung zur These, dass Gegenstände, Funktionen erster Stufe, Funktionen zweiter Stufe usw. jeweils paar-

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weise kategorial verschieden sind.4 Das heißt, dass es etwa keine Prädikate gibt, die sinnvollerweise sowohl von Gegenständen als auch von Funktionen ausgesagt werden können.5 Ein Begriff wie Gegenstand, der Gegenständen den Wahrheitswert wahr, Funktionen den Wahrheitswert falsch zuwiese – wie wir es intuitiv erwarten würden –, kann es nach Frege nicht geben. Vielmehr ordnet nach Freges Auffassung der durch das Prädikat ‚Gegenstand‘ ausgedrückte Begriff allen Gegenständen den Wahrheitswert wahr zu, wendet man das Prädikat aber auf Ausdrücke an, die Funktionen bezeichnen, resultiert ein nicht wohlgeformter Satz. Frege nimmt hier bereits einige Gedanken der später von Russell ausgearbeiteten Typentheorie vorweg. Insbesondere können wir aufgrund der kategorialen Verschiedenheit die Existenz von Funktionen nicht mit demselben Existenzquantor ausdrücken, den wir im Falle von Existenzbehauptungen von Gegenständen verwenden. Das Problem verschärft sich noch dadurch, dass nicht nur Gegenstände und Funktionen, sondern auch Funktionen verschiedener Stufen kategorial verschieden sind. Dies führt etwa dazu, dass Frege nicht über einen homogenen Begriff wie Funktion verfügt, der angewandt auf beliebige Funktionen den Wahrheitswert wahr ergäbe. Vielmehr muss Frege zwischen den Begriffen Funktion erster Stufe, Funktion zweiter Stufe usw. unterscheiden, die selbst wiederum in ersterem Falle der zweiten, im letzteren Falle der dritten Stufe angehören.

3 Frege über Existenzquantoren und -prädikate Freges wohl wesentlichste These in Hinblick auf Existenz dürfte darin bestehen, dass er in ihr eine Eigenschaft von Begriffen sah und keine Eigenschaft von Gegenständen, was die Klärung negativer Existenzaussagen problematisch machte. Existenz wird dabei in erster Linie durch den Existenzquantor 9x ausgedrückt, der etwa auf Formeln wie F(x) angewandt wird, die Begriffe ausdrücken: 9x F(x). Frege spricht dabei davon, dass der Existenzquantor ein Prädikat zweiter Stufe sei, das von Prädikaten erster Stufe wie F(x) ausgesagt werde, die wiederum auf Gegenstände zutreffen oder nicht. Mit einer Existenzprädikation behaupten wir dann, dass das Prädikat F(x) auf mindestens einen Gegenstand zutrifft bzw. eine nicht leere Extension besitzt. Freges Einsicht, dass der Existenzquantor die entscheidende Rolle bei Existenzaussagen spielt und nicht ein Existenzprädikat erster Stufe, das auf Gegenstände angewandt wird, wurde oftmals auf den Slogan ‚Existenz ist kein Prädikat‘ verkürzt. Dieser Slogan ist allerdings vieldeutig und nicht alle seiner Lesarten sind zutreffend. So ist nach Frege etwa der Existenzquantor durchaus ein Prädikat, wenn auch eines der zweiten Stufe. Auch die gelegentlich anzutreffende Lesart, es gebe nach Frege 4

Vgl. zum Begriff der kategorialen Verschiedenheit Sluga 1980, 143. Vgl. etwa GG § 23: „Wir sehen [. . . ], dass es grundverschiedene Functionen giebt, da die Argumentstellen grundverschieden sind. Diejenigen nämlich, welche zur Aufnahme von Eigennamen geeignet sind, können keine Namen von Functionen aufnehmen und umgekehrt.“ Vgl. auch BG 201: „Die Aussage also, welche von einem Begriffe gemacht wird, passt gar nicht auf einen Gegenstand“ sowie ASB 27 f. 5

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kein Existenzprädikat erster Stufe, ist unzutreffend: Bereits im Rahmen der klassischen Prädikatenlogik kann ein solches Existenzprädikat erster Stufe leicht etwa mit Hilfe der Formel 9y x = y formuliert werden (alternativ kann dazu auch, wie bereits erwähnt, auf die koextensionale Formel x = x zurückgegriffen werden). Bei diesem Prädikat handelt es sich um ein Prädikat erster Stufe, das wahrheitsgemäß allen Gegenständen zugesprochen werden kann. Allerdings stellt es kein informatives bzw. diskriminierendes Prädikat dar, da der durch das Prädikat ausgedrückte Begriff jedem Gegenstand den Wahrheitswert wahr zuordnet. Da zudem Eigennamen in Sprachen der klassischen Prädikatenlogik – ganz im Sinne von Freges Vorstellung einer idealen Begriffsschrift – nicht leer sein können, resultiert auch jede Substitution der Variablen x in 9y x = y durch einen Eigennamen in einem wahren Satz. Frege hat dabei durchaus gesehen, dass sich solche erststufigen Existenzprädikate im Rahmen seiner Konzeption ergeben, und diskutiert sie in seinem Dialog mit Pünjer über Existenz.6 Kann damit aber bereits von allem, was es gibt, die Existenz behauptet werden? Dem ist nach Frege nicht so, da es ihm zufolge, wie auch nach vielen ontologischen Common-Sense-Auffassungen, neben Gegenständen auch noch Eigenschaften bzw. Funktionen gibt. Im spezifischen Rahmen von Freges Überlegungen zur kategorialen Verschiedenheit von Funktionen bzw. Begriffen verschiedener Stufe führt dies aber dazu, dass Frege zur Behauptung der Existenz von Funktionen bzw. Eigenschaften nicht auf den Existenzquantor zurückgreifen kann, den er verwendet, um die Existenz von Gegenständen zu behaupten. Vielmehr ist für jede Stufe seiner Hierarchie ein eigener, jeweils höherstufiger Existenzbegriff vonnöten. In den Grundgesetzen der Arithmetik führt Frege daher die Allquantoren (und somit auch Existenzquantoren) 8x bzw. 8F ein. Während mit 8x ein Begriff zweiter Stufe ausgedrückt wird, wird mit Hilfe des Quantors 8F wie z. B. in 8F [F(2) ! F(1 + 1)] (bzw. mit 9F) ein Begriff dritter Stufe ausgedrückt: „Wie wir in 8a [a = a] den Werth der Function zweiter Stufe 8a [(a)] für das Argument ξ = ξ haben, so können wir 8F [F(2) ! F(1 + 1)] als Werth einer Function dritter Stufe ansehn für das Argument (2) ! (1 + 1), das selbst eine Function zweiter Stufe [. . . ] ist.“ (GG I, § 23)7

Der Ausdruck (2) ! (1 + 1) drückt dabei eine Eigenschaft all derjenigen Begriffe (erster Stufe) aus, die, wenn sie auf 2 zutreffen, auch auf 1 + 1 zutreffen; (2) ! (1 + 1) drückt somit selbst einen Begriff zweiter Stufe aus, auf den dann der durch 8F ausgedrückte Begriff dritter Stufe angewandt werden kann. Entsprechendes gilt für 9F. Wie mit 9x F(x) die Nicht-Leerheit des Begriffs der ersten Stufe F ausgedrückt wird, drückt 9F F(1) die Nicht-Leerheit des Begriffs der zweiten Stufe (1) aus, der auf all diejenigen Begriffe zutrifft, die auf die Zahl 1 zutreffen. Für beide (All-)Quantoren formuliert Frege in den Grundgesetzen der Arithmetik zudem noch eigene Regeln für die universelle Instanziierung: Während 6 Freges Überlegungen zum Verhältnis von Existenzquantor und Existenzprädikat werden etwa besprochen bei Haaparanta 1986, Haefliger 1994, Bromand 2014 und Rami 2017. 7 Freges logische Notation wird hier und im Folgenden in die moderne Notation überführt.

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8a [f (a)] ! f (a) die universelle Instanziierung mit dem Allquantor für Gegenstände ausdrückt (GG I, § 20), verwendet 8f [Mβ (f(β))] ! Mβ (f (β)) den Allquantor für Funktionen erster Stufe (GG I, § 25). Frege kommentiert die letztere Formel entsprechend: „[I]n Worten: Was von allen Functionen erster Stufe mit einem Argumente gilt, das gilt auch von irgendeiner. Dies Gesetz ist offenbar das für unsere Functionen zweiter Stufe, was [8a [f (a)] ! f (a); JB] für Functionen erster Stufe ist.“ (GG I, § 25)

4 Wie weit reicht Freges Funktionenhierarchie? Frege arbeitet seine typentheoretisch anmutende Unterscheidung zwischen Funktionen unterschiedlicher Stufen nicht in aller Allgemeinheit aus. Hier ist zu vermerken, dass die Stufen von Freges Hierarchie jeweils nur gleichstufige Funktionen umfassen8 und die Quantoren entsprechend nur über diese quantifizieren; ungleichstufige Funktionen erhalten somit keine Stufe in Freges Hierarchie zugewiesen und bleiben von entsprechenden Quantifikationen unberücksichtigt. Dies gilt etwa für die Relation(en) des Zutreffens (eines Begriffs der Stufe n auf eine Entität der Stufe n  1). An dieser Stelle drängt sich der Verdacht auf, dass Frege seine Hierarchie nur insoweit explizit ausgearbeitet hat, als es für sein logizistisches Projekt erforderlich war. Dieser Verdacht wird auch durch die Tatsache genährt, dass Frege seine Hierarchie explizit nur bis zur Stufe 3 ausarbeitet und sich nicht dazu äußert, ob die Annahme darüber hinausreichender höherer Stufen in seinem Sinne wäre.9 Die Ursache hierfür dürfte auch hier wiederum darin bestehen, dass Frege zumindest in der Praxis einen extensiven Aufstieg in die höheren Stufen seiner Funktionenhierarchie für vermeidbar hält, „weil man statt der Funktionen zweiter Stufe im weiteren Fortgang Funktionen erster Stufe betrachten kann, wie an einem anderen Orte gezeigt werden soll“ (FB, 31). Bei dem ‚anderen Orte‘ handelt es sich um die Grundgesetze der Arithmetik, in denen Frege genauer ausführt: „Wir bedürfen noch einer Ausdrucksweise für die Allgemeinheit hinsichtlich der Functionen zweiter Stufe [. . . ]. Man könnte meinen, dass dies noch längst nicht genügte; aber wir werden sehen, dass wir mit dieser auskommen, und dass auch sie nur in einem einzigen 8

Vgl. Thiel 1968, 50 f. Vgl. Hylton 2010, 549, Fn. 54. Freges Denken führt bei zwei Gelegenheiten dazu, Hierarchien von Entitäten in Erwägung zu ziehen. Neben seiner hier betrachteten Funktionenhierarchie geschieht dies im Zuge seiner Erörterung sogenannter ungerader Rede (SB 28), in deren Rahmen der gewöhnliche Sinn der Ausdrücke zu ihrer ‚ungeraden Bedeutung‘ wird und die Ausdrücke einen ‚ungeraden Sinn‘ annehmen. Diesbezüglich stellt sich die Frage, was im Falle der Einbettung eines Ausdrucks mit ungeradem Sinn in einen umfassenderen ungeraden Kontext geschieht, wie im Falle von ‚Hans glaubt, dass Peter glaubt, dass 2 + 2 = 4‘ (vgl. etwa Burge 1979 sowie Beaney 1996, 180). Im Zusammenhang von ‚Peter glaubt, dass 2 + 2 = 4‘ sollte die Bedeutung von ‚2 + 2 = 4‘ sein gewöhnlicher Sinn sein und ‚2 + 2 = 4‘ seinen ungeraden Sinn annehmen. Letzterer würde dann durch eine weitere Einbettung wie in ‚Hans glaubt, dass Peter glaubt, dass 2 + 2 = 4‘ zur Bedeutung des Satzes ‚2 + 2 = 4‘ in diesem Kontext werden. Es besteht nun die Möglichkeit, dass der Satz ‚2 + 2 = 4‘ in diesem Kontext einen neuen, ‚doppelt ungeraden‘ Sinn annähme usw. 9

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Satze vorkommt. Es mag hier zunächst nur kurz bemerkt werden, dass diese Sparsamkeit dadurch möglich wird, dass die Functionen zweiter Stufe in gewisser Weise durch Functionen erster Stufe vertreten werden können, wobei die Functionen, die als Argumente jener erscheinen, durch ihre Werthverläufe vertreten werden.“ (GG I, § 25; vgl. auch ebd., § 34 ff.)

Es dürfte Freges Intention gewesen sein, höherstufige Quantifikationen und die dazu erforderliche Vervielfältigung logischer Regeln für jede Stufe der Hierarchie dadurch zu vermeiden, dass Quantifikationen von höherer als zweiter Stufe durch Quantifikationen über Wertverläufe (also über Gegenstände) ersetzt werden.10 Allerdings war Freges Idee, Begriffe durch ihre Umfänge zu repräsentieren, dabei bereits im Jahre 1890 als undurchführbar erwiesen worden: In diesem Jahr hatte Cantor das nach ihm benannte Theorem bewiesen in der Form, dass die Menge aller Funktionen f : A ! f0, 1g (also gerade die auf der Grundlage der Menge A bildbaren Begriffe im Sinne Freges) mächtiger ist als A selbst (so dass nicht jeder Fregesche Begriff durch ein Element aus A repräsentiert werden kann).11 Die Idee, Begriffe im Allgemeinen durch ihre Extensionen und somit durch Gegenstände vertreten zu lassen, scheitert somit am Satz von Cantor.12 Da es mehr Begriffe als Gegenstände gibt, können insbesondere Existenzbehauptungen von Begriffen nicht auf Existenzbehauptungen von Gegenständen (wie etwa Wertverläufen) reduziert werden.13 Die Frage der Reduzierbarkeit der Quantifikation höherer Stufen auf niedere ist auch von Bedeutung für die Frage, ob nach Frege die Möglichkeit besteht, unbegrenzt über alles zu quantifizieren.14 Für Freges Verständnis von Existenz ist die Debatte über die Möglichkeit absolut genereller Quantifikation daher relevant, da die Möglichkeit auf dem Spiel steht, unbeschränkte Existenzaussagen zu formulieren und nach der Existenz bestimmter Entitäten überhaupt zu fragen (und nicht nur nach deren Existenz auf einer bestimmten Stufe). Charles Parsons fasst Freges Position zur Frage unbeschränkter Quantifikation dabei folgendermaßen zusammen:

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Vgl. etwa Landini 2006, 220 ff. Wenn hier die Rede ist von ‚Freges System‘ o. Ä. ist, ist damit dasjenige gemeint, was von Freges Überlegungen nach Entdeckung von Russells Paradox noch haltbar ist und nicht das (inkonsistente) von Frege ursprünglich intendierte System. 11 Vgl. Cantor 1890/91. In diesem Sinne schreibt auch Russell an Frege: „Es ist leicht zu beweisen (was den Widerspruch betrifft), dass es keine eindeutige Beziehung zwischen allen Gegenständen und allen Funktionen giebt“ (Brief Russells an Frege vom 24. Juli 1902, BW 69). 12 Vgl. auch Uzquiano 2006, 317. 13 Ohnehin dürfte Frege die Reduktion der Rede von Begriffen auf die von Begriffsumfängen nur aus Gründen der Einfachheit in Betracht gezogen haben, da er Begriffe in einem logischen Sinne als grundlegender erachtete als Begriffsumfänge. Dies geht aus dem folgenden Zitat hervor, in dem Frege sich explizit zur sogenannten dichotomischen Konzeption von Mengen bzw. Begriffsumfängen bekennt und nicht auf einen iterativen Ansatz zurückgreifen möchte (siehe zur Terminologie etwa Gödel 1964, 258 f.), wie er in modernen mengentheoretischen Systemen wie dem von Zermelo und Fraenkel (ZFC) verfolgt wird: „In der Tat halte ich dafür, dass der Begriff seinem Umfange logisch vorangeht, und betrachte den Versuch als verfehlt, den Umfang des Begriffes als Klasse nicht auf den Begriff, sondern auf die Einzeldinge zu stützen. Auf diesem Wege gelangt man wohl zu einem Gebietekalkül, aber nicht zu einer Logik“ (KBS 209). 14 Vgl. zur entsprechenden Debatte etwa Rayo/Uzquiano 2006.

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Ob unbegrenzte Quantifikation und somit entsprechende Existenzaussagen im Sinne Freges aber tatsächlich möglich sind, weil seine Funktionenhierarchie wie von Parsons nahegelegt endlich ist, ist allerdings mehr als fraglich. Vielmehr spricht einiges dafür, dass Frege von einer unendlichen Begriffshierarchie ausging. Zunächst einmal hält Frege, auch wenn er einen Aufstieg in der Begriffshierarchie in der Praxis für entbehrlich gehalten haben mag, die der Hierarchie zugrunde liegenden Unterscheidungen für fundamental und vermerkt in diesem Sinne in Funktion und Begriff : „Damit ist aber der Unterschied zwischen Funktionen erster und zweiter Stufe nicht aus der Welt geschafft, weil er nicht willkürlich gemacht, sondern in der Natur der Sache tief begründet ist.“ (FB, 31)

Vermutlich ging Frege davon aus, die ‚tiefe Begründung in der Natur der Sache‘ in seinen Überlegungen zu Funktionen und ihren Eigenschaften gefunden zu haben. Gerade diese sprechen dafür, dass sich Freges Hierarchie ins Unendliche fortsetzt: Gäbe es eine höchste Stufe der Hierarchie, besäßen freilich auch die ihr zugehörigen Funktionen Eigenschaften (wie die Nicht-Leerheit usw.), die dann aber in Freges Ontologie nicht mehr unterzubringen wären. Solchen Eigenschaften die Existenz abzusprechen, dürfte nicht mit Freges ontologisch realistischer Position in Hinblick auf Funktionen und deren Eigenschaften zu vereinbaren sein. Es ist daher davon auszugehen, dass eine Fortsetzung seiner Funktionenhierarchie ins Unendliche im Sinne Freges war, auch wenn er keinen praktischen Anlass gesehen haben mag, ihre Beschaffenheit weiter zu analysieren.15 Zum anderen gibt es darüber hinaus Gründe für Frege, an einer unendlichen Begriffshierarchie festzuhalten, auch wenn er diese selbst nicht gesehen hat: Diese bestehen darin, dass Freges Reduktionsstrategie von Begriffen auf Gegenstände verantwortlich für das Auftreten der Russellschen Paradoxie ist, die sein System zu Fall brachte. Gerade das von Frege implizit angenommene unbeschränkte Komprehensionsaxiom fordert dabei für jeden Begriff die Existenz einer zugehörigen Extension. Die zu Begriffen gehörigen Extensionen werden dabei aber ausnahmslos undifferenziert der Ebene der Gegenstände zugeordnet, so dass die auf der Ebene der Begriffe vorgenommene feinkörnige Differenzierung von Begriffen verschiedener Stufen hier wieder nivelliert wird.16 Dies führt zur Frage, ob die Russellsche 15

Viele Interpreten äußern sich skeptisch zur Frage, ob Frege eine unendliche Hierarchie von Funktionen gutgeheißen hätte; vgl. etwa Thiel 1968, 49 ff., Sluga 1980, 148 f., Hylton 2010, 549 (Fn. 54) sowie Ricketts 2010, 174. Auch Dummett 1973, 49, scheint zu einem anderen Ergebnis zu gelangen: „It is now clear [that] the hierarchy is infinite, but only potentially so“, diskutiert hier aber eine Hierarchie von Funktionsausdrücken (ebd., 44 ff.). Davon, dass eine unendliche Begriffshierarchie im Sinne Freges ist, geht ebenfalls Beaney 1996, 180 f., aus. 16 Vgl. Williamson 2003, 458.

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Menge Element ihrer selbst ist oder nicht, während sich etwa im Falle von Grellings Paradox die Frage,17 ob der Begriff heterologisch selbst heterologisch ist oder nicht, sich im Fregeschen Rahmen erst gar nicht stellt: Begriffe einer Stufe n können nur auf Entitäten der Stufe n  1 angewandt werden, nicht aber auf Entitäten ihrer eigenen Stufe und somit insbesondere nicht auf sich selbst, so dass weder die Behauptung, der durch ‚heterologisch‘ ausgedrückte Begriff sei heterologisch (selbst wenn „der durch ‚heterologisch‘ ausgedrückte Begriff“ auf den intendierten Begriff referieren könnte),18 noch ihre Negation nach Freges Maßstäben sinnvoll wäre. Während Freges System somit den mengentheoretischen Paradoxien hilflos ausgeliefert ist, verfügt es über die Ressourcen, etwa Grellings Paradox nahezu beiläufig abzuwehren. Frege war sich dieses Vorzuges seines Systems auch bewusst und erwähnt den Punkt in seinem Brief an Russell vom 22. Juni 1902 (BW, 61 ff.).19 Es ist diese Idee Freges, die Russell im Rahmen seiner (verzweigten) Typentheorie20 derart modifiziert hat, dass letztere auch andere semantische sowie mengentheoretische Paradoxien berücksichtigt. Es gibt somit gute Gründe (auch wenn Frege selbst sich des letzteren Grundes zunächst nicht bewusst gewesen sein dürfte), an einer unendlichen Begriffshierarchie festzuhalten.

5 Konsequenzen für die natürlichsprachliche Rede von Existenz Nach Freges funktionaler Auffassung von Begriffen bestehen diese in Funktionen, die in Hinblick auf ihren Anwendungsbereich total definiert sind21 und somit jedem zugehörigen Objekt einen Wahrheitswert zuweisen. Einige Begriffe wie der der Existenz besitzen dabei Entsprechungen auf anderen Stufen von Freges Funktionenhierarchie. Andere Begriffe teilen dieses Schicksal; neben den durch Quantoren 17

Die Paradoxie Grellings setzt in Fregescher Terminologie bei der Relation des Zutreffens an: Ein Begriff trifft dabei auf einen Gegenstand zu genau dann, wenn die Anwendung des Begriffes auf den Gegenstand den Wahrheitswert wahr ergibt. Einige Begriffe scheinen dabei auf sich selbst zuzutreffen: Der Begriff Begriff etwa ist selbst ein Begriff und sollte daher auf sich selbst zutreffen. Andere Begriffe hingegen (wie etwa der Begriff Pferd) treffen nicht auf sich selbst zu. Ein Begriff ist dabei heterologisch genau dann, wenn er nicht auf sich selbst zutrifft (Pferd wäre damit heterologisch, Begriff nicht). Wendet man nun den Begriff heterologisch auf sich selbst an, resultiert die Paradoxie Grellings: Der Begriff heterologisch ist heterologisch genau dann, wenn er nicht auf sich selbst zutrifft, d. h., wenn er nicht heterologisch ist. 18 Nach Frege kann mit singulären Termen ausschließlich auf Gegenstände referiert werden. Dies führt ihn zur Behauptung, der Begriff Pferd sei kein Begriff, da mit einem singulären Term wie ‚der Begriff Pferd‘ eben nur auf Gegenstände, nicht aber auf Begriffe referiert werden könne. Zunächst ging Frege davon aus, dass solche Terme auf Gegenstände referierten, kam aber schließlich zu dem Schluss, Bezeichnungen wie ‚der Begriff Pferd‘ bezeichneten gar nichts (siehe Sluga 1980, 142 f.). 19 „Uebrigens scheint mir der Ausdruck ‚Ein Praedicat wird von sich selbst praedicirt‘ nicht genau zu sein. Ein Praedicat ist in der Regel eine Function erster Stufe, die als Argument einen Gegenstand verlangt und also nicht sich selbst als Argument (Subject) haben kann.“ Brief an Russell vom 22. Juni 1902 (BW, 61 ff.). 20 Vgl. etwa Coquand 2018. 21 Siehe etwa FB, 20.

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ausgedrückten Begriffen gilt dies etwa auch für die Begriffe Funktion, Begriff, Eigenschaft oder ungesättigt sowie für die Relationen der Erfüllung und Identität, für Anzahlbegriffe sowie für andere Eigenschaften oder Relationen von Funktionen bzw. Begriffen wie beispielsweise die Transitivität (vgl. LM, 164 f.). Gemeinsam ist diesen Begriffen die Problematik, dass sie in Freges Sinne Begriffsfamilien bilden, denen auf normalsprachlicher Ebene zumeist jeweils nur ein Ausdruck entspricht. Wenn wir umgangssprachlich etwa behaupten, dass es bestimmte Gegenstände und Eigenschaften gibt, verwenden wir den quantifizierenden Ausdruck ‚Es gibt‘ nach Frege in mehrdeutiger Weise für verschiedene Begriffe.22 So gehen Freges höherstufige Existenzquantoren in extensionaler wie in intensionaler Hinsicht über den über Gegenstände quantifizierenden Existenzquantor hinaus: Wie oben erörtert erschließen sie die Möglichkeit, Existenz von Entitäten zu behaupten, die den weitaus größeren Anteil aller Entitäten bilden. Die Quantifikationsbereiche der Existenzquantoren verschiedener Stufen sind dabei paarweise jeweils vollständig disjunkt. Dasselbe gilt für die Wertverläufe der durch die verschiedenen Existenzquantoren ausgedrückten Begriffe, weshalb sie sich auch paarweise in Hinblick auf ihre Sinne unterscheiden müssen (obwohl sie alle die Nicht-Leerheit von Begriffen – allerdings verschiedener Stufen – ausdrücken). Aufgrund dieser Fragmentierung schließt Freges Konzeption die Möglichkeit unbeschränkter (Existenz-)Quantifikationen über absolut alle Entitäten aus, während allerdings unbeschränkte (Existenz-) Quantifikationen über absolut alle Gegenstände möglich sind. Einen Quantor, der uns Ersteres erlaubte (was wir uns wohl von natürlichsprachlichen existenzquantifizierenden Ausdrücken versprechen), kann es nach Frege nicht geben. Am Beispiel von Identitätsaussagen versucht Frege zu verdeutlichen, wie verschieden die entsprechenden Aussagen mit Identitätsrelationen verschiedener Stufen sind. Während mit a = b ausgesagt werden kann, dass es sich bei a und b um dasselbe Objekt handelt, ist eine solche Behauptung der Identität von Begriffen nach Frege nicht möglich, worauf er in seinen Ausführungen über Sinn und Bedeutung hinweist: „[W]ir dürfen die Buchstaben (Φ, Χ), die Begriffe andeuten oder bezeichnen sollen, immer nur als Funktionsbuchstaben gebrauchen [. . . ]. Man darf dann also nicht schreiben Φ = Χ [. . . ].“ (ASB, 29)

Um die Identität von Begriffen (erster Stufe) zu behaupten, benötigen wir nach Frege eine Identitätsrelation zweiter Stufe, die er strikt von der durch = ausgedrückten Identitätsrelation erster Stufe unterscheidet, auch wenn sich beide ähneln: „So ist auch die Beziehung der Gleichheit, worunter ich völliges Zusammenfallen, Identität, verstehe, nur bei Gegenständen, nicht bei Begriffen denkbar. [. . . ] Aber wenn auch die Beziehung der Gleichheit nur bei Gegenständen denkbar ist, so kommt doch bei Begriffen eine ähnliche vor, die als Beziehung zwischen Begriffen von mir Beziehung zweiter Stufe genannt wird, während ich jene Gleichheit Beziehung erster Stufe nenne. [. . . ] Hier haben 22

Die besagte Mehrdeutigkeit bestünde auch dann, wenn Freges Hierarchie – entgegen den Überlegungen des letzten Abschnitts – nur drei Stufen umfasste. Entsprechende Bemerkungen gelten für die folgenden Überlegungen.

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wir [eine] Beziehung zweiter Stufe, die der Gleichheit (dem völligen Zusammenfallen) bei Gegenständen entspricht, aber nicht mit ihr verwechselt werden darf.“ (ASB, 28–30)23

Gleichheit als „Beziehung erster Stufe“ versteht Frege dabei im Anschluss an Leibniz so, dass a und b identisch sind, wenn a unter alle und nur die Begriffe fällt, unter die auch b fällt (ASB, 28). Die „Beziehung zweiter Stufe“ erklärt Frege im Sinne der Relation der Koextensionalität, die zwischen zwei Begriffen Φund Χ besteht, „wenn jeder Gegenstand, der unter Φ fällt, auch unter Χ fällt und umgekehrt“ (ASB, 29),24 womit Begriffe rein extensional individuiert werden.25 In Freges Sinne gelten freilich entsprechende Überlegungen auch zum Verhältnis von Begriffen erster zu Begriffen zweiter Stufe, so dass für letztere eine weitere Identitätsbeziehung (‚dritter Stufe‘) zu unterscheiden wäre und ebenfalls für Begriffe dritter Stufe und so weiter für eventuelle höhere Stufen.26 Identität zwischen Begriffen der Stufe n (n > 1) könnte dabei als höherstufiges Analogon zur oben herangezogenen Koextensionalität definiert werden, nämlich durch das Erfülltwerden durch dieselben Begriffe der Stufe n  1. Wohl aus den im letzten Abschnitt erörterten Gründen diskutiert Frege im besagten Aufsatz aber keine Identitätsbeziehungen von höherer als der zweiten Stufe. Für den vorliegenden Kontext entscheidend ist, dass Identitätsaussagen zwischen Begriffen nach Frege umgangssprachlich nur schwer auszudrücken sind. Dies liegt zum einen an der Problematik, dass wir mit singulären Termen (wie ‚der Begriff Pferd‘) nach Frege nicht auf Begriffe referieren können.27 Zum anderen stehen wir vor dem Problem, für die Vielfalt der Identitätsrelationen verschiedener Stufen nicht über hinreichend viele normalsprachliche Relationsausdrücke zu verfügen. Daher zieht es Frege in Betracht, den normalsprachlichen Relationsausdruck ‚ist derselbe wie‘ in einem ‚nicht eigentlichen‘ bzw. ‚uneigentlichen Gebrauch‘ (ASB, 31) zu verwenden: „Wir haben nun erkannt, dass die Beziehung der Gleichheit zwischen Gegenständen nicht auch zwischen Begriffen gedacht werden kann, dass es aber da eine entsprechende Beziehung gibt. Das Wort ‚derselbe‘, das zur Bezeichnung jener Beziehung zwischen Gegenständen gebraucht wird, kann mithin nicht eigentlich auch zur Bezeichnung dieser dienen. Es bleibt uns aber für diesen Zweck kaum etwas anderes übrig als zu sagen ‚der Begriff Φ ist derselbe wie der Begriff Χ‘, wobei wir dann freilich eine Beziehung zwischen Gegenständen nennen, wo wir eine Beziehung zwischen Begriffen meinen.“ (ASB, 30 f.; Herv. J. B.)28 23

Das „Hier“ zu Beginn des letzten Satzes im Zitat bezieht sich auf ein konkretes Beispiel, das der Einfachheit halber ausgelassen wird. 24 Vgl. auch Hylton 2010, 547. 25 Vgl. Sluga 1980, 144, 148. 26 Diese Überlegungen schließen allerdings nicht die (auf den ersten Blick eventuell problematisch erscheinende) Möglichkeit aus, die Verschiedenheit von einem Begriff und einem Gegenstand zu behaupten: Dazu könnte eine beliebige ungleichstufige Formel herangezogen werden, deren Sättigung immer eine wahre Aussage nach sich zöge. Allerdings kann es sich bei dieser Formel nicht (wie üblicherweise zu erwarten wäre) um die Negation einer der Formeln handeln, die eine der obigen Beziehungen n-ter Stufe ausdrücken. 27 Zur Problematik um singuläre Terme wie ‚der Begriff Pferd‘ siehe Fußnote 18. 28 Vgl. auch Freges Brief an Russell vom 3. August 1902.

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Der Relationsausdruck ‚ist derselbe wie‘ wird demnach hier in einer anderen als der üblichen Weise verwendet, um Koextensionalität auszudrücken. Neben Freges bereits erwähntem Problem mit der vermeintlichen Unmöglichkeit der Bezeichnung von Begriffen durch singuläre Terme wie ‚der Begriff Pferd‘ geht es Frege hier um eine weitere Beschränkung unserer Ausdrucksmöglichkeiten: Selbst wenn singuläre Terme wie ‚der Begriff Φ‘ sich wie gewünscht auf Begriffe beziehen könnten, drückte ‚der Begriff Φ ist derselbe wie der Begriff Χ‘ keinen bedeutungsvollen (d. h. wahren oder falschen) Satz aus, da mit ‚ist derselbe wie‘ die Identitätsrelation ausgedrückt wird, die sinnvollerweise nur von Gegenständen prädiziert werden kann. Um die Entsprechung der Identitätsrelation bzw. die obige Relation der Koextensionalität in geeigneter Weise für Begriffe erster Stufe auszudrücken, wäre eine natürlichsprachliche Entsprechung der Relation zweiter Stufe 8x (F(x) $ G(x)) erforderlich (wobei F und G Variablen für Begriffe erster Stufe seien).29 Vor entsprechenden Problemen stehen wir laut Frege auch hinsichtlich der Erfüllungsrelation bzw. der Relation des Unter-einen-Begriff-Fallens: „Die Beziehung eines Gegenstandes zu einem Begriffe erster Stufe, unter den er fällt, ist verschieden von der allerdings ähnlichen eines Begriffes erster Stufe zu einem Begriffe zweiter Stufe.“ (BG, 201; vgl. auch ebd., 202)

Im Gegensatz zur Identitätsrelation schlägt Frege in diesem Fall aber zumindest eine alternative Möglichkeit zur Formulierung des Unter-einen-Begriff-Fallens eines Begriffs der ersten Stufe unter einen Begriff der zweiten Stufe vor: „Man könnte vielleicht, um dem Unterschiede zugleich mit der Ähnlichkeit gerecht zu werden, sagen, ein Gegenstand falle unter einen Begriff erster Stufe, und ein Begriff falle in einen Begriff zweiter Stufe. Der Unterschied von Begriff und Gegenstand bleibt also in ganzer Schroffheit bestehen.“ (BG, 201, Herv. J. B.; vgl. LM, 164)

Um aber auch möglichen höheren Stufen seiner Hierarchie gerecht zu werden, wäre dieser Vorschlag freilich auch auf die Möglichkeit solcher Stufen auszuweiten. Da der Vorrat an geeigneten Präpositionen wie in und unter begrenzt ist, böte es sich

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Frege versucht, die gewünschte Identität zwischen Begriffen durch den folgenden Satz auszudrücken: „Was zwei Begriffswörter bedeuten, ist dann und nur dann dasselbe, wenn die zugehörigen Begriffsumfänge zusammenfallen“ (ASB, 31). Dabei beruht seine Überlegung auf dem Gedanken, dass der Ausdruck ‚was das Begriffswort A bedeutet‘ prädikativ gebraucht werden kann wie in: „‚Jesus ist, was das Begriffswort ‚Mensch‘ bedeutet‘ in dem Sinne von ‚Jesus ist ein Mensch‘.“ (Ebd.) Freges Überlegung kann allerdings kaum überzeugen: Zum einen handelt es sich bei dem Ausdruck „was das Begriffswort ‚Mensch‘ bedeutet“ um einen singulären Term, der nach Freges eigenen Maßstäben einen Gegenstand bezeichnen müsste; nur durch Voranstellen des ‚ist‘ wird aus dem Ausdruck ein Prädikat, das einen Begriff bezeichnen könnte (gemeint ist mit Freges ungewöhnlicher Konstruktion wohl das Prädikat „fällt unter den Begriff ‚Mensch‘“ (vgl. BG, 197), das aus Freges Sicht wegen der Problematik um den Begriff Pferd aber freilich auch keine gangbare Alternative darstellt). Freges Ausdrucksversuch muss somit als gescheitert erachtet werden, so dass die gewünschte Relation nur durch den ‚uneigentlichen Gebrauch‘ von ist derselbe wie ausgedrückt werden kann.

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an, eine Hierarchie von Erfüllungsrelationen im Sinne von erfüllt1 (x, F), erfüllt2 (F, Φ) usw. einzuführen.30 Eine Kombination beider Vorgehensweisen scheint Frege im Falle des Existenzbegriffs im Auge zu haben: Im Rahmen seiner formalen Sprache in den Grundgesetzen der Arithmetik führt Frege wie am Ende von Abschn. 3 gezeigt Quantoren unterschiedlicher Stufen ein (9x und 9F) – ähnlich wie er im Falle der Erfüllungsrelation die unterschiedlichen Ausdrücke ‚unter einen Begriff fallen‘ und ‚in einen Begriff fallen‘ vorschlägt, um die unterschiedlichen Relationen auszudrücken. Die durch diese Quantoren ausgedrückten Existenzbegriffe sind nach Frege zu unterscheiden, selbst wenn – wie von Frege erhofft – höherstufige Existenzquantifikationen auf niederstufige reduziert werden könnten (wie in Absatz 3 besprochen wurde diese Hoffnung Freges enttäuscht). Im umgangssprachlichen Fall sieht Frege eine solche Disambiguierung allerdings nicht vor und verwendet selbst den Ausdruck ‚Es gibt‘ mehrdeutig auch zur Existenzquantifikation über Funktionen, Begriffe und Eigenschaften: „Es gibt Funktionen, wie z. B. 2 + x  x oder 2 + 0  x, deren Wert immer derselbe ist, was auch ihr Argument sei.“ (FB, 8) „Es giebt also keine Beziehung, welche nach unserer Erklärung die unter F den unter G fallenden Gegenständen zuordnete, und demnach sind die Begriffe F und G ungleichzahlig.“ (GA, § 75; vgl. auch GA, § 72) „Es gibt keine Eigenschaft, die dem (3  4) zukäme, dem (9 + 3) aber fehlte und umgekehrt.“ (BW, 121)

Frege scheint demnach hinsichtlich des umgangssprachlichen quantifizierenden Ausdrucks ‚Es gibt‘ einräumen zu müssen, dass dieser mehrdeutig ist bzw. gebraucht wird. Die im Rahmen der Begriffsschrift seiner Grundgesetze vorgenommene Disambiguierung durch die Einführung unterschiedlicher Quantoren (je nach verwendeter Variable) erfolgt dabei ganz im Sinne von Freges Programm der Konzeption einer logisch idealen Sprache, in der Vagheit, Referenzlosigkeit und eben auch Mehrdeutigkeit vermieden wird: „Es darf aber ein Zeichen nicht mehrdeutig sein. Für ein Zeichensystem, das zum wissenschaftlichen Gebrauche dienen soll, ist das wichtigste Erfordernis das der Eindeutigkeit.“ (LM, 107)31

Umgangssprachlich quantifizierende Ausdrücke wie ‚Es gibt‘ sind nach Frege demnach aufgrund ihrer Mehrdeutigkeit in logischer Hinsicht als ähnlich unvollkommen 30

Dabei soll hier „x“ eine Variable für Gegenstände, „F“ eine Variable für Begriffe erster Stufe, „Φ“ eine Variable für Begriffe zweiter Stufe usw. sein, so dass jeweils ungleichstufige Relationen ausgedrückt werden. 31 Vgl. auch: „Die Sprache aber erweist sich als mangelhaft, wenn es sich darum handelt, das Denken vor Fehlern zu bewahren. Sie genügt schon der ersten Anforderung nicht, die man in dieser Hinsicht an sie stellen muß, der, eindeutig zu sein.“ (WBB, 50)

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zu erachten wie vage umgangssprachliche Prädikate. Ähnliche Überlegungen gelten auch für Freges erststufiges Existenzprädikat, das im Dialog mit Pünjer über Existenz im Ausdruck ‚existieren‘ besteht. Auch dieses Prädikat besitzt höherstufige Analoga: Während der über Funktionen erster Stufe quantifizierende Existenzquantor selbst einen Begriff der dritten Stufe ausdrückt (der auf Funktionen zweiter Stufe angewandt wird), drückt etwa 8x (F(x) _ :F(x)) (bzw. (F(1) _ :F(1))) mit der Variablen „F“ einen Begriff zweiter Stufe aus, der – wie das Existenzprädikat erster Stufe unterscheidungslos auf alle Gegenstände zutrifft – unterscheidungslos auf alle Funktionen erster Stufe zutrifft. Entsprechende Existenzprädikate sind auf höheren Stufen definierbar und entsprechen der Prädikathierarchie ‚Gegenstand‘, ‚Funktion erster Stufe‘, ‚Funktion zweiter Stufe‘ usw. Somit kann auch das umgangssprachliche Existenzprädikat ‚existieren‘ ähnlich ambig gebraucht werden wie natürlichsprachliche existenzquantifizierende Ausdrücke. Die Folgen von Freges Existenzkonzeption für umgangssprachliche Existenzbehauptungen wären weitreichend: Ausdrücke wie ‚Es gibt‘, in denen Frege eine umgangssprachliche Entsprechung zum Existenzquantor sieht, wären ebenso wie umgangssprachliche Entsprechungen zum Existenzprädikat mehrdeutig. Mit diesen Ausdrücken sind nach Frege unbeschränkte (Existenz-)Quantifikationen zwar über absolut alle Gegenstände möglich, aufgrund der Fragmentierung des Existenzquantors aber nicht über absolut alle Entitäten – wie wir es wohl im Rahmen philosophischer Fragestellungen wie Warum gibt es überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? erwarten. Einen quantifizierenden Ausdruck, der uns erlaubte, die letztere Frage angemessen zu stellen und der somit am ehesten unseren Intuitionen hinsichtlich der Möglichkeiten natürlichsprachlicher Existenzquantifikation entspräche, kann es nach Frege nicht geben, da es keinen entsprechenden Begriff gibt, dessen stufenübergreifende Anwendung auf beliebige Entitäten zu einem Wahrheitswert führte und der die Bedeutung eines solchen Ausdrucks bilden könnte.

6 Konsequenzen für Freges eigene Position Freges Konzeption, die bereits deutliche typentheoretische Züge trägt, zieht auch ähnliche Ausdrucksbeschränkungen nach sich wie Russells Typentheorie. Auch in Letzterer ist etwa ein Begriff wie Eigenschaft ähnlich hierarchisch fragmentiert wie in Freges Funktionenhierarchie. Frege hatte neben dem Problem mit singulären Termen, die Begriffe bezeichnen sollen, wie ‚der Begriff Pferd‘, und dem oben erörterten Problem, nicht über geeignete umgangssprachliche Prädikate für bestimmte höherstufige Begriffe zu verfügen, auch die expressiven Probleme selbst erkannt, die sich aus der kategorialen Verschiedenheit von Entitäten unterschiedlicher Stufen seiner Hierarchie von Gegenständen und Funktionen ergeben. In diesem Sinne führt Frege in einem Brief an Russell vom 29. Juni 1902 aus: „Wie man in der Sprache eigentlich nicht von einer Function aussagen kann, sie sei kein Gegenstand, kann man mit dieser Bezeichnung nicht von einem Gegenstande [. . . ] sagen, er sei keine Function.“

Frege über Existenz und die Hierarchie der Funktionen

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Dies ist darin begründet, dass der Begriff Gegenstand ein Begriff erster Stufe ist und damit nicht sinnvoll auf Funktionen angewandt werden kann. Ein nicht-leerer Begriff von Funktionen wäre hingegen zumindest ein Begriff zweiter Stufe (der dann auf alle Funktionen erster Stufe zuträfe) und könnte daher nicht sinnvoll von Gegenständen ausgesagt werden. Dieser Umstand wird noch dadurch verkompliziert, dass nicht nur der Begriff Gegenstand, sondern auch Begriffe wie Funktion oder Begriff umgangssprachlich auf singuläre Terme angewandt werden können und daher als Begriffe erster Stufe zu gelten haben. Frege führt entsprechend in einem weiteren Brief an Russell vom 28. Juli 1902 aus: „[D]ie Wörter ‚Function‘ und ‚Begriff‘ sind logisch eigentlich zu verwerfen. Sie sollten ja Namen von Functionen zweiter Stufe sein; sie stellen sich aber sprachlich dar als Namen von Functionen erster Stufe. Es ist daher nicht zu verwundern, dass man damit auf Schwierigkeiten stößt.“

Frege hatte somit bereits die expressive Notlage gesehen, in die typentheoretische Ansätze führen und der Russell später durch seine Konzeption der systematischen Mehrdeutigkeit (und Wittgenstein durch seine Konzeption des Zeigens) zu entgehen versuchte.32 Wie Russell im Rahmen seiner Typentheorie und Wittgenstein in seinem Tractatus war Frege somit klar, dass er zur Beschreibung seiner philosophischen Position von Ausdrucksmitteln Gebrauch machen muss, die es nach seinen eigenen sprachphilosophischen Überzeugungen nicht geben kann. Dies gilt insbesondere auch für die unbeschränkte (Existenz-)Quantifikation (über alle Entitäten). Wenn Frege etwa schreibt: „Gegenstand ist alles, was nicht Funktion ist“ (FB, 18),33 handelt es sich freilich um die unbegrenzte Allquantifikation: ‚Für alle Entitäten gilt, dass sie Gegenstände sind, wenn sie keine Funktionen sind‘ bzw. um die negierte unbeschränkte Existenzquantifikation ‚Es gibt keine Entität, die weder Gegenstand noch Funktion ist‘. Sieht man einmal von der oben besprochenen Problematik hinsichtlich der Begriffsworte ‚Gegenstand‘ und ‚Funktion‘ ab, ist etwa im Falle des letzteren Satzes eine unbeschränkte Existenzquantifikation über alle Entitäten erforderlich, die auch nicht auf eine Stufe von Freges Hierarchie begrenzt sein kann und nicht einmal auf die gesamte Hierarchie, da die intendierte Proposition auch ausdrücken soll, dass es darüber hinaus ebenfalls keine Entitäten gibt (etwa unter den ungleichstufigen Funktionen, die nicht Freges Hierarchie angehören; s. o.), die weder Gegenstand noch Funktion sind.

7 Fazit Freges Überzeugung, dass Funktionen Eigenschaften haben, die nicht auf Gegenstände zutreffen können, führte ihn dazu, eine ganze Hierarchie von solchen Funktionen anzuerkennen. Obwohl Frege diese Hierarchie nur bis zur Stufe 3 untersucht, 32 33

Vgl. Bromand 2001, Kap. 9. Vgl. Künne 2010, 230 ff., 376.

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ist entgegen skeptischen Positionen in der Frege-Forschung wie oben ausgeführt davon auszugehen, dass die Hierarchie nach Frege ins Unendliche reicht. Für Begriffe, die nur auf eine Stufe (wie etwa die der Gegenstände) anwendbar sind, bleibt diese hierarchische Einordnung im Wesentlichen folgenlos. Für Begriffe wie den der Existenz, die Entsprechungen auf allen Stufen der Hierarchie besitzen, resultieren aber Konsequenzen etwa in Hinblick auf ihre Ausdrückbarkeit in natürlichen Sprachen. So scheinen die Mittel, mit denen wir natürlichsprachlich Existenzquantifikationen ausdrücken, mehrdeutig – etwa einmal zur Quantifikation über Gegenstände, ein anderes Mal zur Quantifikation über Funktionen (einer bestimmten Stufe) – verwendet zu werden, wie es auch Frege selbst tut. Um unserer Common-Sense-Rede von Existenz nicht nur in Hinblick auf Gegenstände, sondern in ihrer Gänze auch hinsichtlich von Eigenschaften (Begriffen bzw. Funktionen) gerecht zu werden, wäre aus der Sicht von Freges Konzeption somit als beste Entsprechung unserer umgangssprachlich existenzquantifizierenden Ausdrücke die gesamte Hierarchie der Existenzquantoren verschiedener Stufen anzuführen. Existenz (oder begriffliche Nicht-Leerheit) schlechthin bzw. unabhängig von der Stufe der Entitäten, deren Existenz behauptet werden soll, ist nach Frege nicht ausdrückbar, da es keinen entsprechenden Begriff geben kann, der auf Entitäten unterschiedlicher Stufen anwendbar ist. Damit sind nach Frege auch keine unbeschränkten Existenzquantifikationen über alle Entitäten möglich, wie sie in natürlichen Sprachen möglich zu sein scheinen. In dieser Hinsicht entspricht Freges Konzeption somit nur schlecht der Existenzquantifikation in natürlichen Sprachen, was zu Ausdrucksproblemen bei der Beschreibung von Freges eigener semantischer Konzeption führt und die Möglichkeit der Formulierung metaphysischer Fragen wie Warum gibt es überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? auszuschließen scheint.

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Frege über Existenz und die Hierarchie der Funktionen

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Sein und Existenz Anton Friedrich Koch

In ihrem Buch Existenz verteidigen Andreas Luckner und Sebastian Ostritsch die Position Saul Kripkes gegen den benachbarten Ansatz Timothy Williamsons und gegen die entferntere Tradition von Frege, Russell und Quine (vgl. Luckner/Ostritsch 2018, Kap. 3). Einig sind alle Parteien sich, dass Existenz als Dass-Sein zu denken ist im Unterschied zum Was- und Wie-Sein des Seienden oder, wie ich sagen werde, als formales Sein im Unterschied zum inhaltlichen Sein. Der Dissens hebt an bei der Frage, ob Existenz ein Prädikat erster Stufe oder eine Art Prädikat von Prädikaten ist, wie Frege und die ihm folgen meinen, wenn sie Existenz als Quantor, d. h. unspezifische Zahlangabe zu Begriffsumfängen fassen. Kripke und Williamson dagegen erklären Existenz als eine nichtdiskriminierende Eigenschaft von Einzelnen, Kripke als eine kontingente, Williamson als eine notwendige. Luckner und Ostritsch schließen sich Kripke an und ich mich ihnen. Extensionalisten werden über eine nichtdiskriminierende Eigenschaft nicht viel zu sagen wissen. Doch Kant, indem er aus „der Transzendentalphilosophie der Alten“ den Merksatz zitiert: „Quodlibet ens est unum, verum, bonum“ (KrV, B 113), erinnert uns daran, dass einst das Seiende, das Eine, das Wahre und das Gute als nichtdiskriminierende, koextensive, transzendentale Allgemeinheiten galten, denen gleichwohl verschiedene Intensionen zuerkannt wurden. In Beachtung dieser Tradition wollen wir fragen, welches die Intension des Transzendentale Seiendes ist, in welchem Verhältnis sie zu der des Wahren steht und wie das Seiende sich auffächert in zwei Weisen, es zu denken und zu sagen, nämlich als Existentes und als Der-Fall-Seiendes. Der Aufsatz hat vier Teile. Im ersten wird das Wahre vom Existenten und DerFall-Seienden unterschieden und der logische Primat der Wahrheit dargetan, im zweiten auf dieser Basis die Leibniz-Frage beantwortet, warum etwas existiert und nicht vielmehr nichts. Im dritten Teil soll die These vom logischen Primat der A. F. Koch () Universität Heidelberg Heidelberg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Luckner, S. Ostritsch (Hrsg.), Philosophie der Existenz, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04880-6_4

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A. F. Koch

Wahrheit mit Inhalt gefüllt werden; der vierte gilt der Seite des Existenten und präsentiert die Skizze einer logisch-ontologischen Ordnung, die sich vielleicht zu einer Nichtstandard-Sinnfeldontologie ausgestalten ließe.

1 Existenz, Der-Fall-Sein und Wahr-Sein Die Existenz ist nicht alles formale Sein. Wenn Platon und Aristoteles vom Seienden und vom Sein, on und einai, sprechen, meinen sie primär das Der-Fall-Seiende und das Der-Fall-Sein: „adynaton gar hontinoun tauton hypolambanein einai kai mê einai“, sagt Aristoteles, Met. Γ 3 (1005b 23 f.), es ist unmöglich, dass jemand annehme, dasselbe sei und sei nicht – nämlich der Fall. Da dies eine Variante des Satzes vom Widerspruch ist, der allgemein, nicht nur für Existenzbehauptungen gilt, muss einai hier als Der-Fall-Sein verstanden werden.1 Was der Fall ist, wird in einem wahren Aussagesatz gesagt. Dessen elementare Form ist die Prädikation, bestehend aus mindestens einem Designator wie ‚Sokrates‘ und einem Prädikat wie ‚sitzt‘: ‚Sokrates sitzt‘. Dabei verteilen sich Wahr-Sein, Der-Fall-Sein und Existenz wie folgt: Wahr ist die Aussage ‚Sokrates sitzt‘; der Fall ist, dass Sokrates sitzt; existent ist Sokrates. Auf der Seite des Wahr-Seins müssen wir freilich weiter differenzieren. Wahr ist (a) die Aussage als sprachlicher Typus, sind (b) nach unten in Richtung Einzelheit konkrete Einzelaussagen dieses Typus: einzelne Äußerungen oder Token, und ist (c) nach oben in Richtung höherer Allgemeinheit der interlingual gefasste Aussagetypus, der vielerlei Token in vielen Sprachen umfasst, zum Beispiel französische und englische wie ‚Socrate est assis‘ und ‚Socrates is sitting‘. Solche interlingual gefassten Aussagetypen nennt Wilfrid Sellars Propositionen, und wir schließen uns an. Aber nicht nur Propositionen und ihre Token in unterschiedlichen Sprachen sind Wahrheitsträger, sondern auch (d) geistige Akte und Zustände wie Wahrnehmungen, Urteile und Meinungen. Urteilsakte sind sogar die primären Wahrheitsträger und haben darin Vorrang auch und besonders vor den Propositionen. Doch da aus diesem spezifischen Vorrang hier nichts gefolgert werden soll, mag er ohne Begründung bleiben. Urteile und Propositionen gehören zur Seite der Sprache, die Propositionen unmittelbar, die Urteile mittelbar, weil Denken sprachlich gegliedert ist – das Der-FallSeiende und das Existente aber, wie wir schief und einprägsam sagen wollen, zur Seite der Welt (schief, weil Denken und Sprache ihrerseits zur Welt gehören). Die Philosophie als die substantielle Wissenschaft a priori geht von dem Grundfaktum aus, dass wir urteilen, d. h. Wahrheitsansprüche erheben, und eruiert und rechtfertigt, soweit es geht, die apriorischen Voraussetzungen, die wir dabei machen müssen. Alles (und nur solches), was so vom Faktum des Urteils und seiner Wahrheit aus in den Sichtbereich der Wissenschaft a priori kommt, ist von genuin philosophi1

Vgl. in diesem Sinne auch Platon, z. B. Sophistes 260c: „to gar ta mê onta doxazein ê legein, tout’ esti pou to pseudos en dianoiai te kai logois gignomenon.“ „Denn das Nicht-(der-Fall-)Seiende glauben oder aussagen, das ist doch wohl das Falsche, wie es im Denken und in den Aussagen vorkommt.“ (Meine Übersetzung, A. F. K.)

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schem Interesse, so Denken und Sein, Raum und Zeit, Glück und Freiheit, das Gute und das Schöne. Auch aus dieser Behauptung soll hier nichts gefolgert werden; sie dient der allgemeinen Orientierung im unübersichtlichen Geflecht philosophischer Lehrmeinungen (für ihre ausführliche Begründung vgl. Koch 2006). Als kleine Proben sollen nur ihre Teilthesen entwickelt werden, dass (1) dem Wahr-Sein der Urteile bzw. Propositionen der logische Primat vor dem weltseitigen Der-Fall-Sein und Existieren zukommt und (2) der Existenz der Dinge der ontologische Primat vor der Existenz von (der Fall seienden) Dingzuständen und Dingepisoden und erst recht vor der weit nachgeordneten, besser schon in Anführungszeichen zu setzenden ‚Existenz‘ von Propositionen und anderen intensionalen und extensionalen Universalien. Dass die Aussage gegliedert und die Minimalform ihrer Gliederung die prädikative ist, hat seinen Grund in ihrer Zweiwertigkeit, wie Platon den eleatischen Gast im Sophistes darlegen lässt und wie Aristoteles im Schlusskapitel des Θ der Metaphysik bekräftigt. Sollte es unartikulierte, asynthetische und dennoch vollständige Gehalte des Denkens geben, Sinn-Daten als intelligible Analoga von Sinnesdaten, was Aristoteles zu unserem heutigen Erstaunen bejaht, so wären sie einwertig wahr, d. h. wahr jenseits der Möglichkeit des Falsch-Seins. Das Andere der Wahrheit wäre in ihrem Fall statt der Falschheit das Nichtwissen, die schlichte Unkenntnis. Entweder erfasse ich ein asynthetisches Sinn-Datum, etwa ein platonisches oder ein aristotelisches eidos (eine Idee oder Wesensform), dann bin ich irrtumsimmun über es im Bilde und kann mich höchstens nachträglich in seiner diskursiven Bestimmung täuschen; oder ich erfasse es nicht, dann weiß ich nichts von ihm und kann mich aus diesem anderen Grund nicht über es täuschen.2 Dass Sokrates sitzt, ist ein on, ein Seiendes, ein Der-Fall-Seiendes, genauer ein prädikatives Der-Fall-Seiendes. Ein solches weltseitiges, prädikatives Der-FallSeiendes wollen wir ein Faktum nennen und Fakten streng von Tatsachen unterscheiden. Den Terminus ‚Tatsache‘ reservieren wir für einen anderen Zweck: als Oberbegriff zum Begriff der wahren Proposition. Der Terminus ‚Sachverhalt‘ möge dementsprechend als Oberbegriff zum Begriff der Proposition dienen. Propositionen sind wahr oder falsch, propositionale Sachverhalte desgleichen. Von Sachverhalten können wir auch sagen, dass sie bestehen oder nicht bestehen; wenn sie bestehen, sind sie Tatsachen. Da Aristoteles, wie erwähnt, asynthetische, also vorprädikative und dennoch vollständige Gedankeninhalte annimmt, wollen wir ihre Möglichkeit nicht unbesehen ausschließen und sie vorsorglich als Ursachverhalte rubrizieren. Qua einwertig wahr bestehen sie zugleich als Tatsachen, als Urtatsachen. Tatsachen im Allgemeinen sind folglich bestehende Sachverhalte, entweder Ursachverhalte, deren Existenz zugleich ihr Bestehen ist, oder wahre Propositionen, deren ‚Existenz‘ ihr Wahr-oder-Falsch-Sein als sprachliche Typen ist, zu denen es somit falsche Gegenpropositionen gibt. Propositionale Sachverhalte, nichtbestehende wie bestehende, sind Allgemeine: interlinguale Arten oder Typen. 2 Zur synthetisch-prädikativen Wahrheit vgl. Platon: Sophistes 261c–264b, und Aristoteles: Metaphysik Θ 10, 1051a 34–1051b 17; zur asynthetisch-vorprädikativen Wahrheit vgl. ebd., 1051b 17–1052a 4.

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Fakten hingegen als weltseitige prädikative Komplexe sind Einzelne, die an Dingen als deren Zustände oder Episoden auftreten. Ursachverhalte aber, wenn es sie gibt, sind weder dies noch das, sondern bleiben in der Schwebe zwischen Einzelheit und Allgemeinheit, Welt und Denken, Objektivität und Subjektivität. Für den epistemischen Zugang zu ihnen ist Russells Begriff der Erkenntnis durch Bekanntschaft maßgeschneidert, für ihre ontologische Zuordnung am ehesten Russells Begriff des neutralen (scil. geist-/welt-neutralen) Monismus. In der Philosophiegeschichte tauchen sie, allseits beliebt, in vielerlei Arten zweier Gattungen auf: als Sinnes-Daten in eher empiristischen und als intelligible oder Sinn-Daten in eher rationalistischen und ideentheoretischen Kontexten. Vielleicht wären drittens noch Einbildungs-Daten zu interpolieren, namentlich Kants formale Anschauungen von Raum und Zeit. Doch zurück zu den Fakten. Propositionen und Aussagesätze gibt es paarweise in kontradiktorischer Entgegensetzung, so zu der Proposition, dass Sokrates sitzt, die Gegenproposition, dass Sokrates nicht sitzt, zu dem Satz ‚Sokrates sitzt‘ den Gegen-Satz ‚Sokrates sitzt nicht‘. Propositionale Tatsachen, heißt das, haben Gegenteile in Gestalt von nichtbestehenden Gegensachverhalten. Ein Faktum jedoch hat kein aktuales Gegenteil. Wenn und solange Sokrates sitzt, gibt es kein weltseitiges Gegenfaktum des Inhalts, dass Sokrates nicht sitzt; und wenn Sokrates aufsteht, gibt es weltseitig das Faktum nicht mehr, dass er sitzt; es ist vergangen. Ein Faktum ist ein konkretes, raumzeitliches Einzelvorkommnis von etwas an etwas, ein prädikativer ‚Komplex‘ oder vielmehr, nach Aristoteles’ Akzidentienlehre, ein virtueller Komplex aus einer Substanz (Sokrates) und einem Akzidens (Sokrates’ Sitzen) – virtuell deshalb, weil Akzidentien dem substantiellen Sein, das zwar auf Akzidentien überhaupt, nicht aber auf dieses oder jenes bestimmte Akzidens angewiesen ist, kein eigenes Sein hinzufügen, sondern von ihm zehren, indem sie es durch ihre akzidentelle Form modifizieren, wie Viren dem menschlichen Stoffwechsel keinen eigenen Stoffwechsel hinzufügen, sondern von ihm zehren, indem sie ihn durch ihre DNS modifizieren (und zehrend von ihm ihre DNS in ihm vervielfältigen). Da dem einzelnen weltseitigen Faktum, dass Sokrates sitzt, sprachseitig die allgemeine, aber gleichnamige Tatsache entspricht, dass Sokrates sitzt, könnte man in terminologischer und, da Faktum und Tatsache gar nicht unabhängig voneinander individuiert werden können, sogar in sachlicher Absicht das Sitzen des Sokrates zu dem weltseitigen – David Lewis würde sagen: lagadonischen (vgl. Lewis 1986, 145, passim) – Urtoken dieses Typus erklären.3 Andere nennen die Urtoken prädikativer Propositionen ihre Wahrmacher. Der frühe Wittgenstein nennt sie Tatsachen (vgl. Logisch-philosophische Abhandlung, Ziffer 1.1, passim). Die sprachseitigen Token, in seiner Terminologie Satzzeichen (vgl. 3.12), erklärt er als logische Bilder weltseitiger Tatsachen und fasst sie ebenfalls als Tatsachen (Fakten in unserem Sinn, vgl. 3.14). Ihr formales Sein ist ihm hüben und drüben dieselbe Faktizität, dieselbe „Eine logische Konstante“ (5.47), hüben als das Wesen des Satzes (vgl. 5.471) 3 Die sachliche These, die ich andernorts, in Hermeneutischer Realismus, Tübingen 2016, Kap. 7, entwickelt habe, ist hier nicht näher zu begründen; im Folgenden mag die Rede vom Lesen der Dinge daher als Metaphorik gelten.

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und allgemeine logische Form der Abbildung (vgl. 2.15), welche Namen zu einem Satzzeichen, drüben als das Wesen der Welt (vgl. 5.4711) und allgemeine Form der Wirklichkeit (vgl. 2.18), welche Gegenstände zu einer weltseitigen Tatsache verbindet und sie im selben Zug verwirklicht. Die Gegenstände, für sich genommen Unverwirklichte, bilden das inhaltliche Sein, die ‚Substanz‘ der Welt, das bzw. die auch ihrerseits Form und Inhalt hat (vgl. 2.024 f.); die Eine logische Konstante verwirklicht sie in Verbindungen-ohne-Kitt, in denen sie daher zusammenhängen „wie die Glieder einer Kette“ (2.03). Doch wir wollen hier keiner Tatsachenbzw. Faktenontologie das Wort reden, sondern die logische Form des Denkens eher wie Kant, der sie in der Urteilstafel der Kritik der reinen Vernunft exponiert (vgl. KrV, A 70/B 95), von der logischen Form der raumzeitlichen Dinge, die er in der Kategorientafel exponiert (vgl. KrV, A 80/B 106), bei aller Engführung auch unterscheiden. Die Kategorien sind Prädikate von Gegenständen, sozusagen objektive Gedanken; die logischen Funktionen in Urteilen sind Artikulationsweisen der Spontaneität und gehören dem spontanen Denken an, nicht demjenigen Denken, das in den Dingen geronnen ist, den objektiven Gedanken. So vermeidet Kant eine Tatsachenontologie zugunsten einer Gegenstandsontologie. Im Grundsatz ähnlich verfährt als Nominalist Wilfrid Sellars, im Grundsatz ähnlich soll auch hier verfahren werden. Die Philosophie als erste Wissenschaft geht aus vom Urteilen, dem Faktum des Erhebens von objektiven Wahrheitsansprüchen. Im alltäglichen Urteilen beanspruchen wir, dass etwas sich soundso verhält unabhängig davon, dass wir dies beanspruchen. Die so mitbeanspruchte Unabhängigkeit des Sachverhaltes von unserer Beurteilung ist seine Objektivität und deren notwendige epistemische Kehrseite unsere Fehlbarkeit, die wir demnach ebenfalls mitbeanspruchen. Daher sind unsere Urteile (mindestens) zweiwertig, sollen wahr und können falsch sein, und zweiwertig infolgedessen auch die Propositionen (auch die notwendigen, die nur für den impossiblen Grenzfall als falsch imaginiert werden können). Weil sie zweiwertig sind, sind sie synthetisch, nämlich mindestens zweigliedrig, wie Platon und Aristoteles lehren. In den einfachsten Urteilen, den Prädikationen, nehmen wir Bezug auf ein Ding (oder eine Situation) und sagen von ihm (oder ihr) eine Bestimmung aus, etwa von Sokrates, dass er sitzt (oder von unserer Umgebung, dass es regnet). Wir bringen Sokrates, ihn selbst, in den Fokus der Aufmerksamkeit und lassen ihn als einen Sitzenden sehen. Dementsprechend nennt Aristoteles das Urteil bzw. die Aussage, die ihm entspricht, einen logos apophantikos, eine sehenlassende im Unterschied zu einer fragenden wünschenden, bittenden, befehlenden (usw.) Rede (vgl. de interpretatione 4, 17b34–a2). Kraft der irreduziblen, asymmetrisch dualen Gliederung des Urteils machen wir uns anfällig für den Irrtum und konzipieren ipso facto das Beurteilte als ein Objektives, ein von unserem Dafürhalten unabhängig Der-Fall-Seiendes. Dabei projizieren wir unwillkürlich die duale Struktur des Urteils auf das Seiende, und zwar, was zu zeigen wäre, hier aber nicht gezeigt werden kann, in vollkommen konservativer Weise, d. h. ohne verzerrende Zutaten und gerade so, dass im Licht der Projektion sich das Seiende zeigt, wie es an sich ist. Das im Seienden ‚geronnene‘ Denken wird dabei sichtbar gemacht wie die in einem Text ‚geronnene‘ sprachliche Bedeutung,

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wenn wir ihn lesen. Indem wir über das Seiende reden, es unter kategoriale und empirische Begriffe subsumieren, bringen wir seine logisch-ontologische Struktur zum Vorschein, die einer rein rezeptiven Sinnlichkeit notwendigerweise entgehen würde wie einem Analphabeten der Sinn einer Inschrift, die er doch sinnlich wahrnimmt (für Näheres vgl. Koch 2016, Kap. 7). In der konservativen Projektion der Urteilsstruktur auf das Seiende erkennen wir dem logischen Subjekt des Urteils, also dem Ding, auf das wir an der Subjektstelle Bezug nehmen, das ausgesagte Der-Fall-Sein zu, das wir durch das Prädikat nicht als vermehrt, sondern nur als modifiziert bzw. näher bestimmt denken. Dabei können wir das Ding wahlweise als existenten Gegenstand oder aber als Inbegriff der an ihm der Fall seienden Fakten betrachten, je nachdem, ob wir es als das Urtoken eines es bezeichnenden Designators oder als Urtoken je einer von vielen wahren Prädikationen über es ‚lesen‘. Das formale Sein der ein gegebenes Ding betreffenden Fakten ist die Existenz des Dinges, in das die Faktizität der Fakten insofern zurückgeht; das inhaltliche Sein eines Faktums ist ein Aspekt des inhaltlichen Seins des Dinges. Wenn wir, wie üblich, die Wahrheit einer Aussage von ihrer Bedeutung unterscheiden, können wir demnach folgende Zuordnungen vornehmen: Der Wahrheit einer Prädikation entspricht weltseitig das formale Der-Fall-Sein des ausgesagten Faktums, das in der Existenz des bezeichneten Dinges aufgeht, und der Bedeutung der Prädikation das inhaltliche Der-Fall-Sein des Faktums, das ein unselbständiger Aspekt des inhaltlichen Seins des Dinges ist. Logisch ist das Urteil und ist im Anschluss an es die Aussage in ihrer Wahrheit und Bedeutung basal, ontologisch aber das Ding in seiner Existenz und in den Aspekten seines inhaltlichen Seins, die in wahren Aussagen über es zur Sprache kommen. Allerdings erlaubt uns die grenzenlose Flexibilität unserer Sprache, auch Fakten in den Rang logischer Subjekte zu erheben und Aussagen über sie zu machen. Indem wir es tun, werten wir ihr Der-Fall-Sein, das sie nicht an ihnen selbst, sondern an Dingen haben, zu einem scheinbar selbständigen Sein auf, das wir seiner Form nach dann als ihre eigene, freilich ontologisch sekundäre, Existenz von ihrem inhaltlichen Sein unterscheiden können. Doch damit nicht genug. Da die Flexibilität der Sprache tatsächlich grenzenlos ist, können wir auch Aussagen (Propositionen) in den Rang logischer Subjekte erheben, und ihre Wahrheit-oder-Falschheit zu einer logisch tertiären Existenz aufbauen. Zu erörtern, was es mit der Existenz von Propositionen und überhaupt von sprachlichen Typen näher auf sich hat, sei für den nächsten Abschnitt aufgespart.

2 Staunen über die Existenz Wenn Existenz ein Prädikat erster Stufe ist, gibt es, obwohl die Dinge nicht in existierende und nichtexistierende eingeteilt werden können, „sinnvolle individuelle Existenzaussagen“ (Luckner/Ostritsch 2018, 41). Trivialerweise existiert jedes Ding, existieren alle Dinge. Dass sie alle existieren, ist eine de-dictoNotwendigkeit. Doch de re von einem gegebenen Ding zu prädizieren, dass es existiert, ist eine kontingente Wahrheit; das gegebene Ding hätte nicht existieren

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müssen. Darin konfligiert Kripkes Konzeption mit der These Timothy Williamsons, dass jedes gegebene Ding in einem gewissen Sinn notwendig existiert (vgl. Luckner/Ostritsch 2018, Kap. 3). Kripke ist zuzustimmen mit folgender Präzisierung. Daraus, dass jedes Ding zufällig existiert, folgt nicht, dass es ein Zufall ist, dass überhaupt etwas existiert. Andreas Luckner und Sebastian Ostritsch bekennen sich zur philosophischen Fraktion der ‚Existenzbestauner‘. Das tue ich ebenfalls. Aber zur Begründung führen sie an, dass sie es für kontingent halten, dass überhaupt etwas existiert. Auf die metaphysische Grundfrage, warum etwas existiert und nicht vielmehr nichts, auf die Leibniz mit einem begrifflichen Argument für die Existenz Gottes reagierte, gäbe es dann keine philosophische Antwort. Dass überhaupt etwas existiert, wäre ein factum brutum. Mir jedoch scheint, dass man die Existenz und verwandte Sachverhalte auch dann bestaunen darf, wenn sich zeigen lässt, dass nicht nichts existieren kann. Dies zu zeigen, will ich nun versuchen. Nehmen wir an, nichts existiert. Dann ist die Proposition, dass nichts existiert, wahr. Jetzt könnte man vorschnell schließen: ‚Also existiert die Proposition, dass nichts existiert: Widerspruch! Die Annahme, dass es nichts gibt, ist ad absurdum geführt.‘ Nach diesem Muster räsoniert Timothy Williamson in seiner Argumentation für die Behauptung, dass jedes Ding, zum Beispiel er selbst, notwendig existiert (vgl. Williamson 2002, 233 f.):4 (1) Notwendigerweise: Wenn ich nicht existiere, so ist die Proposition, dass ich nicht existiere, wahr. (2) Notwendigerweise: Wenn die Proposition, dass ich nicht existiere, wahr ist, so existiert die Proposition, dass ich nicht existiere. (3) Notwendigerweise: Wenn die Proposition, dass ich nicht existiere, existiert, so existiere ich. (4) Notwendigerweise: Wenn ich nicht existiere, so existiere ich. (5) Notwendigerweise existiere ich. Für (2) kann man anführen, dass von einer Proposition nur dann etwas gelten kann, sei es dass sie wahr oder dass sie falsch oder dass sie sonst etwas ist, wenn sie in irgendeinem Sinn existiert, und für (3), dass eine singuläre Proposition nur existiert, wenn ihr Gegenstand existiert. Williamsons Argument möge hier auf sich beruhen. Für unser eigenes Argument wollen wir zwei Positionen entgegenkommen, von denen Einwände zu erwarten wären, dem Nominalismus und der freien Logik.5 Ein Nominalist wie Sellars redet unbefangen von Propositionen, rechnet sie aber nicht zum Inventar dessen, was es in letzter Analyse gibt: raumzeitliche Einzeldinge. Die freie Logik ihrerseits setzt keinen nichtleeren Gegenstandsbereich voraus und lässt uns daher folgende Pattsi4

Übersetzt nach Zitaten bei Luckner/Ostritsch 2018, 49. Auf mögliche Einwände seitens der freien Logik hat mich Joachim Bromand hingewiesen. Ihm danke ich für den Anstoß und für hilfreiche Anregungen zur Bearbeitung der ursprünglichen Variante des Arguments, für dessen eventuell nach wie vor bestehende Unzulänglichkeiten ich natürlich allein verantwortlich bin. 5

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tuation gewärtigen: Für die klassische Logik ist es trivialerweise logisch notwendig und für die freie Logik trivialerweise logisch kontingent, dass etwas existiert. Wähle deine Logik, und du hast die logische Notwendigkeit oder die Kontingenz dessen gewählt, dass etwas existiert: Luckner und Ostritsch hängen einer freien Logik an, ich der klassischen. Weitere Argumente können wir uns sparen. Damit dies nicht das letzte Wort bleibt, muss das intendierte Argument so angelegt sein, dass es zugleich für die Verwendung der klassischen Logik in metaphysicis spricht, d. h. dafür, dass der metaphysische Gegenstandsbereich, der Allbereich dessen, was es in letzter Analyse gibt, nicht leer sein kann, so dass die klassische Logik für diesen besonderen, diesen, wenn man so will, besonders allgemeinen und grundlegenden Gegenstandsbereich vollkommen angemessen ist. Mit anderen Worten, das Argument müsste Beweiskraft zugunsten der Behauptung mitentfalten, dass die klassische, aristotelisch-fregesche Logik die genuin metaphysische Logik ist. Schauen wir also, was sich machen lässt, etwa in einem ersten Anlauf mittels folgenden kleinen Räsonnements: (1) (2) (3)

Nichts existiert. Die Proposition, dass nichts existiert, ist wahr. Die Proposition, dass nichts existiert, existiert.

Annahme Aus (1) Aus (2)

In dieser Weise argumentiert, wie wir sahen, Williamson. Doch wir wollten auf den Nominalismus Rücksicht nehmen, dem die Existenz von Propositionen etwas Redensartliches ist, das keine ontologische Verbindlichkeit hat. Wir sollten das letzte ‚existiert‘ also bis auf Weiteres in abwiegelnde Anführungszeichen setzen: (30 )

Die Proposition, dass nichts existiert, ‚existiert‘.

In welchem redensartlichen Sinn existieren Propositionen? In keinem, sagt Quine, nur Sätze existieren. Er will sich deswegen aber nicht von David Armstrong eines naiven oder Vogel-Strauß-Nominalismus zeihen lassen und erklärt, dass er ein Nominalist weder nach Straußenart noch überhaupt sei, sondern bekanntlich bekennender Universalienrealist: Klassenrealist (vgl. Quine 1981, 182 f.). Weil es unendlich viele wahre Sätze, aber nur endlich viele Satzäußerungen gibt, müssen Sätze nämlich als mathematische Folgen von Mengen von Buchstaben-Token oder auf irgendeine andere Weise mengentheoretisch konzipiert werden (vgl. Quine 1970, 56). Quine kann uns also nicht als Musternominalist dienen; als Extensionalist gibt er sich ohnehin skeptisch gegenüber Modalaussagen, wie die zur Debatte stehende eine ist. Relativ zu einer vorgegebenen aussagen- und prädikatenlogischen Standardgrammatik lassen sich zwar bestimmte Sätze als logische Wahrheiten auszeichnen, die man, wenn man will, mit dem Epitheton ‚notwendig wahr‘ schmücken kann. In diesem Sinn wäre es für Quine, da er außerdem der klassischen Logik anhängt, ‚notwendig‘ wahr, dass es etwas gibt, etwas nämlich, das mit sich identisch ist und auf das wir insofern notwendigerweise ontologisch festgelegt sind. Hingegen wäre für eine Philosophin, die wie Quine extensionalistisch und modalitätsskeptisch

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orientiert ist, aber der freien Logik anhängt, eben dies keine logische, sondern eine außerlogische, kontingente Wahrheit. Eine Standardüberlegung zugunsten der klassisch logischen Voraussetzung eines nichtleeren Gegenstandsbereiches dürfte es sein, dass Wahrheit auf Referenz bzw. Erfüllung verweist und dass daher die Wahrheit von Propositionen bzw. Sätzen grundsätzlich nicht ontologisch gratis zu haben ist. Quines Konzeption von ontologischen Verpflichtungen folgt diesem Muster. Einen anderen Gedanken mit gleichem Zielpunkt kennen wir aus der Russellschen Semantik: Singuläre Propositionen schließen um ihrer bloßen Existenz willen, gleichviel ob sie wahr oder falsch sind, ihr logisches Subjekt als realen Gegenstand ein. (Williamson argumentiert so, siehe oben.) Doch Quines unbefangene Selbstfestlegung auf die klassische Logik und die Besonderheiten der Russellschen Semantik wollen wir für unser intendiertes Argument nicht benutzen; denn wir wollen den Nominalisten und die freie Logikerin überzeugen. Wilfrid Sellars ist ein Nominalist – aber kein Extensionalist –, und gewiss kein naiver Nominalist, der bei Problemen den Kopf in den Sand steckt. Ganz im Gegenteil, er hält den Raum der Gründe, d. h. der Urteile, Schlüsse, Wahrnehmungen und Handlungen, für ontologisch, nicht aber begrifflich reduzierbar auf den Raum der Natur, sei es auf den der konkreten physischen Natur, sei es auf den der abstrakteren physikalischen ‚Natur‘ (die nach Quine von abstrakten Gegenständen wie reellen Zahlen und Mengen wimmelt). Wir sind es, die den Raum der Gründe durch unsere begrifflichen Aktivitäten konstituieren, wir, die wir als Mitglieder der natürlichen Art homo sapiens ebenso sehr dem Raum der Natur angehören. Der Raum der Gründe kommt insofern nicht freischwebend, an ihm selbst, sondern nur am oder im Raum der Natur vor; der Letztere hat ontologischen Vorrang. Propositionen, um zu ihnen zurückzukehren, sind Positionen im Spiel der Gründe, zwischensprachliche Satztypen, die durch inhaltlich-inferentielle Rollen individuiert werden und deren geäußerte Token in verschiedenen Sprachen verschieden klingen. Es gibt sie, weil es erstens sprechende Wesen gibt, die sie, auch nie geäußerte, durch ihre begrifflichen Aktivitäten als zulässige Positionen im Spiel der Gründe konstituieren, und weil es zweitens konkrete raumzeitliche Einzeldinge gibt, in Beziehung auf die wir als sprechende Wesen Propositionen in letzter Analyse erst konstituieren können. Was man, gut nominalistisch, für Propositionen braucht, sind also zum einen Einzeldinge überhaupt und zum anderen einige Einzeldinge, die sprechen können. Diese sprechenden Dinge – Menschen – bringen Wahrheitsträger hervor: Urteile, Meinungen, Propositionen und einzelne Token von ihnen –, und Dinge überhaupt werden gebraucht, weil einige Propositionen, namentlich die wahren, elementaren, objektsprachlichen unter ihnen, wohlumrissene weltseitige Urtoken oder Wahrmacher verlangen, d. h. Gegenstände, deren logische Bilder sie nach Sellars sind. So viel verlangt der realistische Wahrheitsaspekt, von dem unten in Teil 3 die Rede sein wird; denn andernfalls wäre das Spiel der Gründe kein Wahr/Falsch-Spiel, sondern ein uninterpretierter, nichtrepräsentationaler Spiel-Formalismus wie Mühle oder Schach. Der Nominalist wird wie alle Welt zugestehen, dass Propositionen artikuliert sind, im grundlegenden Fall prädikativ; da er ja den ganzen diskursiven Überbau

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aus logisch komplexen, normativen, metasprachlichen, notwendigen Propositionen usw. für logisch und ontologisch abhängig von basalen raumzeitlichen Einzelnen hält, einerseits Sprechern, andererseits Dingen. Nun wäre in der fraglichen kontrafaktischen Situation, in der nichts existierte, die Proposition, dass nichts existiert, wahr und würde in irgendeinem Sinn ‚existieren‘. Sie existiert de facto, weil wir Token von ihr produzieren. Allerdings ist sie falsch und hat kein weltseitiges Urtoken, keinen Wahrmacher. Denn es ist eben kein Faktum, ist nicht der Fall, dass nichts existiert. Das Der-Fall-Sein, das weltseitig der Wahrheit von Urteilen bzw. Aussagen entspricht, wurde im Vorigen ausschließlich für Prädikationen erklärt. Es müssen jedoch, wenn Wahrheit einen realistischen Aspekt hat (siehe Teil III), wahre Aussagen als solche irgendwelche Konsequenzen für das weltseitige Der-Fall-Sein haben. Wie Quine gegen Carnap zeigte (vgl. Quine 1953), darf dies aber nicht reduktionistisch verstanden werden, so als habe jeder Satz für sich seine empirische Bedeutung und, wie wir hinzufügen, sein wohlumrissenes weltseitiges Urtoken. Die Details, deren es bedarf, um diesen semantischen, epistemologischen und ontologischen Holismus angemessen zu strukturieren, müssen uns hier nicht interessieren. Hier mag die Feststellung genügen, dass wahre negative Existenzbehauptungen ihr Der-FallSein am Raum-Zeit-System als Ganzem haben, das insofern ihr großes, diffuses, weltseitiges Urtoken ist. Nichts bewegt sich schneller als das Licht: Diese Tatsache hat zum Urtoken das Raum-Zeit-System in seiner naturgesetzlichen Beschaffenheit, der zufolge nichts in ihm sich schneller als Licht bewegt. Kehren wir nun zu unserem angenommenen kontrafaktischen Null-Szenarium und unseren ersten Argumentationsschritten zurück: (1) Nichts existiert. (2) Die Proposition, dass nichts existiert, ist wahr. (30 ) Die Proposition, dass nichts existiert, ‚existiert‘.

Annahme Aus (1) Aus (2)

Die Proposition, dass nichts existiert, ‚existiert‘ de facto, weil wir im faktischen Szenarium Token von ihr als einem Typus hervorbringen (können), hat aber, weil sie falsch ist, kein weltseitiges Urtoken. Im Null-Szenarium hingegen wäre sie wahr, also der Fall, und hätte ein weltseitiges Urtoken, wenn auch mangels Sprechern keine weiteren, keine sprachseitigen Token. Es würde keine Sprache, wohl aber das Faktum existieren, dass nichts existiert. Wir hatten, um dem Nominalismus entgegenzukommen, Propositionen deflationär behandelt, als Aspekte wirklichen und möglichen Sprecherverhaltens. Wahre Propositionen jedoch erfordern außerdem weltseitige Urtoken, d. h. Der-Fall-Seiende, Fakten. Auch diese wollen wir nominalismusverträglich konzipieren als nachgeordnete raumzeitliche Einzelne, die ihr Der-Fall-Sein nicht an ihnen selbst, nicht als selbständige Existenz, sondern an anderem haben, das seinerseits selbständig existiert, entweder an Einzeldingen oder mehr oder weniger diffus am Raum-Zeit-System als Ganzem (einem, wenn man so will, großen konkreten Einzelnen). Aufgrund dieser Überlegungen sehen wir, dass wir den Satz (30 ) für unsere Argumentation nicht brauchen, sondern statt dessen

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zwei Prämissen benutzen und in neuen Anläufen anfügen dürfen, zunächst nur eine von ihnen, als neuen Satz (3): (1) (2) (3) (4) (5)

Nichts existiert. Die Proposition, dass nichts existiert, ist wahr. Zu jeder wahren Proposition existiert ein gleichnamiges Faktum. Das Faktum, dass nichts existiert, existiert. Etwas existiert.

Annahme Aus (1) Prämisse 1 Aus (2), (3) Aus (4) vs. (1)

Damit ist die Annahme, dass nichts existiert, bereits ad absurdum geführt. Aber wir können noch einen Schlenker hinzufügen, um auch die zu überzeugen, die den Schritt von (4) nach (5) unter Berufung auf die aristotelische Akzidentienlehre blockieren möchten, der zufolge die Einführung von Fakten ontologisch gratis wäre, weil Fakten virtuelle Substanz-Akzidens-Komplexe bildeten, deren Existenz folglich ganz der je zugrundeliegenden Substanz zu Buche schlüge (vgl. Aristoteles, Met. Z 1). Dem akkommodieren wir uns mit Satz (6): (6) (7) (8)

Fakten existieren nicht an sich, sondern an anderem, das seinerseits an sich existiert. Es existiert nichts an sich, woran das Faktum, dass nichts existiert, existiert. Das Faktum, dass nichts existiert, existiert nicht.

Prämisse 2 Aus (1) Aus (6), (7), vs. (4)

Da die Sätze (4) und (8) einander unmittelbar widersprechen, haben wir die Annahme nochmals ad absurdum geführt und können bei unserem Ergebnis bleiben: (5) Etwas existiert.6 Allerdings ist die Frage, warum etwas existiert und nicht vielmehr nichts, damit nur sehr abstrakt beantwortet, denn es wurde nur gezeigt, dass notwendigerweise etwas existiert, jedoch nichts darüber angedeutet, wie konkret das Existente immer schon aus irgendeinem instabilen ontologischen Grund- und Nullzustand hervorgegangen sein muss. Dem Staunen über die Existenz wird insofern nichts genommen, und selbst, wenn wir noch einen Schritt in Richtung Konkretisierung wagen, bleibt die Sache allemal staunenswert. Nehmen wir an, dass in der singulären Situation des Null-Szenariums Prämisse 2, also Satz (6), seine Gültigkeit verliert. Da nichts 6

Joachim Bromand danke ich für den Hinweis, dass hartnäckige Befürworter/innen der Kontingenz dessen, dass etwas existiert, versuchen könnten, den Übergang von (1) nach (2) deflationär auszulegen mittels der These, dass in der kontrafaktischen Null-Situation, in der nichts existiert, auch keine Proposition wahr ist, dass lediglich in der faktischen Situation, in der etwas existiert, aus dem (falschen) Satz ‚Nichts existiert‘ der (falsche) Satz ‚Die Proposition, dass nichts existiert, ist wahr‘ folgt. Ob sich die Kontingenzthese mit derlei Überlegungen retten lässt, ist eine knifflige Frage, die zum Grübeln einlädt. Hier als unvorgreiflicher Ansatz zu einer möglichen Replik nur so viel: Die Proposition, dass nichts existiert, würde nach der skizzierten Überlegung nicht in der kontrafaktischen Null-Situation wahr sein, sondern nur von ihr. Wahr wäre sie also in keiner möglichen Situation.

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existiert, woran das Faktum, dass nichts existiert, seine Existenz haben könnte, muss und kann es nur seine Existenz an ihm selber haben. Diese Vermutung erhält Sukkurs aus der tentativen Zulassung von Ursachverhalten, deren Bestehen ihre – dann selbständige – Existenz ist und die wir als eine wirkliche oder vermeintliche Art der Gattung Sachverhalt neben den Propositionen eingeführt hatten. Ursachverhalte wären ipso facto Urtatsachen und infolgedessen, sofern wir weltseitig Fakten ohne prädikative Gliederung zulassen, zugleich selbständige ‚Urfakten‘. Das inkohärente Faktum, dass nichts existiert, also das Null-Szenarium, können wir, da es mangels Einzeldingen ein Urfaktum sein müsste, kurz das Nichts nennen und dann den Tenor unserer Reductio wie folgt variieren: Wenn nichts existiert, existiert per impossibile das Nichts als ein inkohärentes, instabiles Urfaktum, aus dessen Selbstzerstörung jedoch immer schon etwas Existentes hervorgegangen ist. Immer schon ist Seiendes aus absoluter Negativität ins Sein gekommen. Damit freilich entgleitet der harmlos gemeinte Nachweis, dass nicht nichts existieren kann und daher die klassische Logik für metaphysische Grundgedanken geeigneter ist als die freie – was nicht ausschließt, dass auch die freie sich passender Anwendungsbereiche erfreut –, uns in der Coda ins Spekulative des Anfangs der Hegelschen Logik, wo das Nichts mit dem Sein und das Sein mit dem Nichts seinen Schabernack treibt, aus dem das Werden als infinitesimaler logischer Urknall und dann sogleich das qualitative Dasein als erster relativ stabiler Zustand des logischen Raumes hervorgeht. Auch dies, wenn man sich denn auf Hegels spekulative Logik einlassen will, ist staunenswert und noch Grund genug, sich wie Luckner und Ostritsch zum Existenzbestaunen zu bekennen, wenn auch aus anderen Gründen als sie.

3 Logischer Primat und Grundstruktur des Der-Fall-Seins Wir verstehen die Existenz vom Der-Fall-Sein und das Der-Fall-Sein vom WahrSein, von der Wahrheit her. Wenn wir in der Philosophie apriorische Strukturen im Existenzbegriff suchen, müssen wir also die Pilatus-Frage stellen: Was ist Wahrheit? Fangen wir elementar an, bei der Wahrnehmung. Im Wahrnehmen abstrahieren wir von unserer Fehlbarkeit und sind und glauben uns insofern schlicht in der Wahrheit; und dieses In-Sein ist im wörtlichen, raumzeitlichen Sinn zu verstehen. Wir sind mitten unter dem, was wir wahrnehmen, nehmen es perspektivisch wahr und benutzen uns selbst, unseren Leib und unser Gegenwartsbewusstsein, als Bezugsrahmen für ein egozentrisches, indexikalisches Koordinatensystem des Wahrnehmens. Auf unsere besonderen, empirischen Züge kommt es dabei nicht an. Unsere egozentrische Perspektive ist rein formal und steht der Objektivität unseres Wahrnehmens nicht im Wege. Wir sehen, hören, fühlen usw. unsere objektive Umgebung, einschließlich unseres Leibes. Wir selbst und die Dinge um uns sind uns unverborgen, wir und sie sind selber anwesend im Wahrnehmungsfeld. Wir sind in der Unverborgenheit oder Wahrheit des Seienden.

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Dies ist vermutlich der älteste philosophische Sinn von Wahrheit, derjenige, den Heidegger bei den Vorsokratikern wiederfand. Wir sind in der Wahrheit der Dinge, das heißt mitten in ihrer Unverborgenheit und phänomenalen Anwesenheit. Nennen wir dies den phänomenalen Aspekt der Wahrheit. Er ist nicht der einzige. In den wahrheitstheoretischen Debatten der letzten Jahrzehnte standen vielmehr zwei andere Wahrheitsaspekte im Vordergrund und wurden von den Debattanten in Frontstellung gebracht: der realistische und der pragmatische Wahrheitsaspekt. Die Frontstellung ist fiktiv, ein Artefakt der Debatte, aber die beiden Aspekte sind real. Zusammen mit dem phänomenalen Aspekt machen sie die Grundstruktur des Begriffs und des Faktums der Wahrheit aus. Beginnen wir mit dem phänomenalen Aspekt. Wenn wir einen Text lesen, lassen wir uns von den Buchstaben führen. Wir urteilen nicht, sondern folgen dem, was geschrieben steht. Urteilen über das Gelesene wäre ein zusätzlicher Akt, vollzogen in reiner Spontaneität. Das eigentliche Lesen dagegen ist rezeptiv und spontan zugleich. Indem wir uns von der Schrift führen lassen, sind wir rezeptiv. Doch Sinn in die Buchstaben zu projizieren, und zwar denjenigen, der tatsächlich in ihnen kodiert ist, ist ein Akt der Spontaneität. Rezeptiv kann der Sinn nicht erfasst, er kann nicht wahrgenommen werden; sonst würden auch Nichtleser ihn erkennen. Wie im Lesen, so in der Wahrnehmung. Wie dort von den Schriftzeichen, so lassen wir uns hier von den phänomenalen Qualitäten der Dinge führen bzw. von den wahrnehmbaren Fakten als den Urtoken prädikativer Propositionen, die uns im objektiven, intersubjektiven Wahrnehmungsfeld umgeben. Wie im Lesen projizieren wir auch in der Wahrnehmung in spontaner Aktivität denjenigen kategorialen und empirisch-begrifflichen Sinn ins Wahrnehmungsfeld, den nichtsprechende Lebewesen nicht erkennen, weil er nicht rezeptiv erfasst werden kann. Noch bevor wir eigens Wahrnehmungsurteile fällen, lesen wir die Dinge in ihren phänomenalen Qualitäten, wenn auch natürlich nur dank unseres Urteilsvermögens. Das Urteilen ist logisch primär gegenüber dem Wahrnehmen. Nur weil wir urteilen, sind wir fähig, in der für Menschen charakteristischen Weise wahrzunehmen. Denkendes Wahrnehmen ist rezeptiv-spontan und daher zwar kein eigentliches Urteilen, setzt aber das Urteilsvermögen voraus und bildet seinerseits die Basis für Wahrnehmungsurteile. Mit diesen, wie überhaupt mit den Urteilen, kommt unsere Fehlbarkeit in den Blick; denn Urteile sind objektive Wahrheitsansprüche. Indem wir urteilen, etwas sei der Fall, beanspruchen wir, dass es der Fall ist unabhängig davon, dass wir so urteilen. Diese Unabhängigkeit des Der-Fall-Seienden von unserem jeweiligen Urteil ist der realistische oder objektive Aspekt der Wahrheit und der Grund unserer Fehlbarkeit. Im Urteilen sind wir nicht unangefochten in der Wahrheit, sondern beanspruchen, in ihr zu sein. Dies hat zur Folge, dass unsere Urteilspraxis sich wie ein Spiel des Gebens und Forderns von Gründen vollzieht. Wahrheit wird dabei zu einer Norm, der wir genügen müssen, wird zu berechtigter Behauptbarkeit. Und die Berechtigung zu einem Urteil ‚p‘ erwerben wir jeweils, indem wir den Verifikationsund Falsifikationsregeln unserer Sprachgemeinschaft folgen. Dies ist der pragmatische oder normative Aspekt der Wahrheit.

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Alles in allem ist die Wahrheit also nach ihrem phänomenalen Aspekt die Unverborgenheit der Dinge, nach ihrem realistischen Aspekt die Übereinstimmung eines Urteils mit einer immer schon bestehenden, unabhängigen Realität und nach ihrem pragmatischen Aspekt die Behauptbarkeit eines Satzes gemäß intersubjektiv anerkannten Verifikationsregeln. Es ist nicht leicht, diese drei Aspekte widerspruchsfrei in einer einzigen Wahrheitskonzeption zu vereinigen, wie die Kontroverse zwischen Realismus und Pragmatismus belegt. Entweder, so denken beide Seiten, ist das Reale unabhängig von unseren Meinungen; dann wird es zu einem unerkennbaren Ding an sich, das Spiel der Gründe wird im Leerlauf gespielt, und unsere besten Theorien können grundfalsch sein. Oder das Reale ist in verifizierbaren Urteilen epistemisch zugänglich, und Wahrheit ist berechtigte Behauptbarkeit; dann gibt es sprachseitig Wahrheitswertlücken und weltseitig Lücken im Der-Fall-Sein. Das Tertium non datur der klassischen Logik muss dann preisgegeben werden, wie es der Antirealist Michael Dummett empfiehlt. In beiden Fällen aber verstünden wir zuletzt unsere eigenen Worte nicht mehr. Wenn wir die Möglichkeit von Erkenntnis wahren und bei der klassischen Logik bleiben wollen, müssen wir folglich den realistischen und den pragmatischen Aspekt der Wahrheit zusammendenken. Sie flankieren den phänomenalen Aspekt, der sie verbindet. Denn das Reale, auf das der realistische Aspekt abhebt, kommt uns in seinen phänomenalen Qualitäten auf halber Strecke entgegen, und wir schließen in unserer Praxis, auf die der pragmatische Aspekt zielt, diese Qualitäten logisch auf und lernen sie zu lesen, wie wir später die geschriebene Sprache zu lesen lernen. So gehören alle drei Wahrheitsaspekte zusammen. Wie die Wahrheit, so das Sein, das Der-Fall-Sein. Da es eine Projektion der Urteilswahrheit auf die Dinge ist, müssen wir in ihm alle Wahrheitsaspekte abgewandelt wiederfinden. Das Sein hat einen realistischen oder objektiven Aspekt, sofern das Seiende unabhängig von unseren Meinungen der Fall ist und wir uns über es täuschen können. Es hat zweitens einen phänomenalen Aspekt, kraft dessen das Der-Fall-Seiende in seinen wahrnehmbaren Qualitäten epistemisch zugänglich, und drittens einen pragmatischen oder teleologischen Aspekt, kraft dessen es wesentlich auf unser Wollen und Handeln bezogen ist. Diese drei Aspekte wird es an die Existenz, das formale Sein der Dinge, vererben. Um Näheres darüber auszumachen, müssen wir aber zunächst beim DerFall-Sein und seiner Drei-Aspekte-Struktur bzw. bei der Drei-Aspekte-Struktur der Wahrheit verbleiben, die unser Ausgangspunkt war. In der philosophischen Wahrheitstheorie haben die Parteigänger des realistischen Aspektes und die des pragmatischen Aspektes eine Gigantomachie gegeneinander gefochten, und zwar ergebnislos, weil sie nicht auf den Gedanken kamen, beide Aspekte und den phänomenalen Aspekt als im Begriff und Faktum der Wahrheit vereinigt zu begreifen. Das ist gerade so, als habe es in der Zeitphilosophie eine Kontroverse zwischen zwei Fraktionen gegeben, deren eine die Zeit mit der Zukunft und deren andere die Zeit mit der Vergangenheit gleichgesetzt hätte. Die Zeit ist natürlich beides und drittens Gegenwart, in der die Zukunft und die Vergangenheit jeweils zusammenhängen. Insofern kann die Zeit als Modell für die Einheit der Wahrheit dienen, denn

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ihre Modi streben ebenso sehr auseinander wie die Aspekte der Wahrheit und gehören doch wesentlich und zugleich offenkundig als das Ganze der Zeit zusammen. Zeit und Wahrheit stützen einander wechselseitig; die Wahrheit liefert den Inhalt der Drei-Aspekte-Struktur und die Zeit das Modell für ihre Einheit. Die fundamentale Differenz von Zukunft und Vergangenheit verstehen wir aus der Differenz des pragmatischen und des realistischen Wahrheitsaspektes und die Gegenwart aus dem phänomenalen Wahrheitsaspekt. Die Zukunft als derjenige Zeitmodus, auf den wir uns in unserem Handeln richten, entspricht dem pragmatischen Aspekt der Wahrheit. Die Vergangenheit, die immer schon hinter unserer Einfluss-Sphäre liegt und unabhängig von unseren Meinungen und Wünschen ist, wie sie ist, entspricht dem realistischen Aspekt. Und die Gegenwart als erfüllt durch die Wahrnehmung der Dinge in ihren phänomenalen Qualitäten, entspricht dem phänomenalen Aspekt. Diese Drei-Aspekte-Struktur der Wahrheit und des Der-Fall-Seins zieht sich durch alles philosophisch Grundlegende. Da Wahrheitsansprüche diskursiv erhoben werden, kann es nicht überraschen, dass auch das diskursive Denken entsprechend dreifach strukturiert ist. Als seine wesentlichen Momente hat die logische Tradition den Begriff, das Urteil und den Schluss identifiziert, und in diesem Fall haben wir es zudem mit drei Vektoren zu tun, die jeweils eine Richtung anzeigen und so logische Protodimensionen eröffnen, die auf die Dimensionen des Raumes vorausweisen. Dem phänomenalen Wahrheitsaspekt zufolge nämlich bringen wir in der Wahrnehmung Einzeldinge unter allgemeine Wahrnehmungsbegriffe. Sogar die Umgangssprache ist hier verräterisch: Wir bringen Dinge unter Begriffe; sie als Einzelne fallen unter diese als Allgemeine. So gibt die logische Protodimension, die dem phänomenalen Wahrheitsaspekt entspricht, der räumlichen Vertikale den logischen Inhalt und die Richtung vor: von oben nach unten. Im Urteil, zweitens, legen wir uns fehlbar fest auf das, was unabhängig von uns je schon der Fall ist und stehen damit in der Alternative von richtig und falsch. So resultiert eine logische Protodimension von wahr und falsch, die dem realistischen Wahrheitsaspekt entspricht und die der räumlichen Horizontale logischen Inhalt und Richtung verleiht: von links nach rechts. Im Schluss, drittens, schreiten wir fort von Prämissen zu einer Konklusion. Diese logische Protodimension entspricht dem pragmatischen Wahrheitsaspekt und gibt der räumlichen Ferne oder Tiefe Inhalt und Richtung: von hinten nach vorn. Dergleichen Korrespondenzen ließen sich fortspinnen für andere philosophische Grundsachverhalte und Grundbegriffe wie die Freiheit und das Glück. Im gegenwärtigen Kontext konzentrieren wir uns indes auf das begriffliche Gewebe von Wahrheit, Der-Fall-Sein, Existenz sowie Raum und Zeit. Insbesondere müssen wir demnächst den Übergang vom Der-Fall-Sein zur Existenz in den Blick nehmen. Beide sind formales Sein: im ersten Fall die bloße Faktizität von Fakten, im zweiten Fall das bloße Existieren von Gegenständen. Die allgemeine Form dieses bloßen Seins ist die Zeit; wie der Raum andererseits die Form des Seienden ist, d. h. die allgemeine Form des inhaltlichen Seins, das sich in inhaltlicher Breite in den drei räumlichen Dimensionen erstreckt. Diese Doppelthese von der Zeit als Form des bloßen Seins und dem Raum als Form des inhaltlich Seienden ist ein Echo der kantischen Lehre, dass die Zeit die

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Form des inneren Sinnes und der Raum die Form des äußeren Sinnes und der äußeren Erscheinungen ist. Den inneren Sinn – „unser Gemüt“ – besetzen wir, sagt Kant, mit den Vorstellungsinhalten der äußeren Sinne (vgl. KrV, B 67); das Innere ist insofern das nach innen gewendete Äußere, das Empfindungsgrün im Bewusstsein somit das Grün der Wiese. Aber an seiner Form wird der innere Sinn bzw. wird die Form selbst, die Zeit, vom Verstand affiziert in spontaner Synthesis, und dabei, wie Kant im Schematismus-Kapitel ausführlich darlegt, kategorial vorstrukturiert. In der Zeit hängen daher die sukzessiven Erscheinungen nach Naturgesetzen zusammen; sie ist unter den vier Dimensionen der Raum-Zeit die Achse der naturgesetzlichen Determination. Im Raum hingegen ist ein Weltzustand und sind mit ihm die Antezedens-Bedingungen der Veränderung gegeben und nachher der Folgezustand – in beiden Fällen also ein inhaltliches Sein der weltlichen Dinge. Dass aber ein Weltzustand nach Naturgesetzen auf einen anderen folgt, vollzieht sich in und gemäß der Zeit. Von daher ist sie die Form des Dass-Seins der Tatsachen, Fakten und Dinge, die Form des bloßen Seins.

4 Die ontologische Ordnung Die Schnittstelle zwischen Logik und Ontologie bilden Raum und Zeit. In Hegels Wissenschaft der Logik kommen sie konsequenterweise gar nicht vor, aber in der Realphilosophie gleich zu Beginn. Ihre Mittelstellung zwischen Logik und Ontologie folgt daraus, dass sie, wie Kant lehrte, als reine Anschauungen oder, zurückhaltender formuliert, reine Imaginationen epistemisch zugänglich sind. Sie eröffnen dem Denken die Sphäre der Vorstellung, in der es sein Anderes nicht nur denkt, und sei es auch als ein Ungedachtes, sondern leibhaftig von ihm berührt und geführt und aus seiner reinen Fasson gebracht wird. Das ist der phänomenale Aspekt der Raumzeitlichkeit als solcher. Ihr realistischer oder ontologischer Aspekt ist es, dass die Raum-Zeit die Grundlage bildet für die Trennung der Begriffe der qualitativen und der numerischen Identität, die im Logischen zusammenfallen. Die raumzeitliche Mannigfaltigkeit ist eine außerlogische, vorbegriffliche Mannigfaltigkeit, die dem Denken erst die Konfrontation mit dem eröffnet und zumutet, was es nicht selber ist. Eben gemäß diesem ontologischen Aspekt sind Raum und Zeit die Formen des Was-Seins und Dass-Seins der Dinge und beweisen andererseits die Dinge ihre außerlogische Realität darin, dass sie mit den genannten Formen interferieren. Sie krümmen und kräuseln den Raum durch ihre Massen, wie die Makrophysik unabhängig belegt, machen ihn im Mikrobereich körnig und lassen die Zeit tröpfeln, wie die Mikrophysik spekuliert, und reichern die Raum-Zeit womöglich mit kleinen, parasitären Extradimensionen an, die über das (3 + 1)-dimensionale Grundgerüst hinausgehen. All dies gehört zum realistischen Aspekt der Raum-Zeit.7

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Der realistische oder ontologische Aspekt des Raum-Zeit-Systems als solchen ist der Grund, warum ich mich Markus Gabriels „Grundthese des neutralen Realismus“, der zufolge keine „be-

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Ihr pragmatischer oder logischer Aspekt drittens vermittelt die interne Verbindung zum Logischen, kraft deren der Raum drei Dimensionen mit sechs Richtungen und neun Grundgegenden hat und die Zeit nomologisch vorstrukturiert ist und sich in drei Modi gliedert. Aufgrund dieser internen Verbindung zum Logischen ist das raumzeitliche Feld der reinen Imagination und dann der empirischen Wahrnehmung dafür prädestiniert, das Denken zu führen und vom Denken gelesen zu werden. Deswegen ist das Raum-Zeit-System der manifesten Dinge nicht nur das Feld der Ontologie, nicht nur das Seinsfeld, sondern zugleich ein Sinnfeld. In der Logik, insbesondere der spekulativen Hegelschen, ist das Denken ganz bei sich und nicht mit Lektüren von fremdem Sinn konfrontiert. Alles Sein ist hier DerFall-Sein (noch nicht Existenz), auch wenn in Hegels Logik bereits von Dasein und Etwas, Existenz und Ding, Einzelnem und Allgemeinem und von Objekten die Rede ist. Doch dies sind alles nur logische Trockenübungen vor dem Sprung ins kalte Wasser der von Hegel so genannten ‚Vorstellung‘. Die Vorstellung ist das geführte Anschauen, das freie Imaginieren und das diskursive Denken im raumzeitlichen Sinnfeld. Erst dort werden konkrete Einzeldinge angeschaut und unter abstrakte Allgemeinbegriffe gebracht. Erst dort gewinnen die rein logischen Ur- oder Vorbegriffe der Existenz, des Dinges, des Einzelnen, des Objektes usw. ihre Reibung am Anderen des Denkens und ihr ontologisches Profil. Erst dort, im raumzeitlichen Sinnfeld, weicht der logische Primat des Urteils und des Der-Fall-Seins dem ontologischen Primat des Dinges. Von daher lässt sich die Existenz eines Dinges bestimmen als sein Vorkommen im singulären objektiven und raumzeitlichen Seins- und Sinnfeld. Markus Gabriel nimmt in seiner liberalen Sinnfeldontologie bekanntlich eine unendliche Pluralität von Sinnfeldern an und fasst Existenz als das Erscheinen in einem Sinnfeld überhaupt, irgendeinem.8 Motiviert ist diese Pluralität einerseits durch die grenzenlose Flexibilität der Sprache, die uns Verdinglichungen ohne Ende erlaubt, andererseits und gewichtiger noch durch das Auftreten prima facie unverträglicher Wahrheitsund Existenzansprüche, von denen wir keinen preisgeben wollen. So möchten wir etwa bei der Interpretation von Thomas Manns Dr. Faustus sagen können: Adrian Leverkühn war der Begründer der Zwölftonmusik, und in musikhistorischen Kontexten: Der Begründer der Zwölftonmusik war Arnold Schönberg. Wenn wir diesen verbalen Widerspruch auf zwei Sinnfelder verteilen, löst er sich auf. Doch vor allfälligen weiteren Sinnfeldern wollen wir die logisch-ontologische Binnenordnung innerhalb des basalen lebensweltlichen Sinnfeldes der raumzeitlichen Dinge betrachten, wie Peter Strawson und teils auch Wilfrid Sellars sie konzipiert haben (vgl. Strawson 1959, Kap. 8, und Sellars 1979, Kap. 3). Die Dinge einschließlich der Menschen bilden die basalen und paradigmatischen Einzelnen in dieser Ordnung. Sie stehen in räumlichen Relationen und wandeln sich in der Zeit. Will man auch etwas in der Art von zeitlichen Relationen einführen, so braucht man stimmte Tatsachensorte oder Gegenstandsart gegenüber anderen ontologisch zu privilegieren“ sei (Gabriel 2016, 184), nicht anzuschließen vermag. 8 Zur Existenz als dem Erscheinen in einem Sinnfeld vgl. Gabriel 2016, 184, 191, 224, passim; zum ontologischen Pluralismus vgl. ebd., 29, 224, passim.

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als Relata Zustände und Veränderungen von Dingen, zum Beispiel ein konkretes, einzelnes Sitzen des Sokrates, das eine Zeitlang währt, oder Sokrates’ plötzliches Aufstehen, das sich im Nu ereignet. Die so nach dem Modell der Dinge als konkrete Einzelne eingeführten Zustände und Ereignisse sind abhängige, prädikative Entitäten. Wir haben sie oben zusammenfassend Fakten genannt. Von Tatsachen unterscheidet sie, sofern sie intensional individuiert werden, nur ihre Einzelheit. Sie sind, wie oben angedeutet, weltseitige Urtoken von Tatsachen qua sprachseitigen Universalien oder Typen. Auch Universalien lassen sich nach dem Modell der Dinge als abstrakte Gegenstände in die Rede einführen, sowohl extensionale wie Zahlen und Klassen als auch intensionale wie Eigenschaften und eben Tatsachen. Aus Prädikaten werden dabei singuläre Termini für Klassen bzw. Eigenschaften gewonnen und aus Sätzen singuläre Termini für die Wahrheitswerte Wahr und Falsch bzw. für Propositionen oder Sachverhalte, deren wahre oder bestehende die Tatsachen sind. Die Rede von Existenz wird dabei mit zunehmendem logisch-ontologischem Abstand von den Dingen immer redensartlicher. Natürlich gibt es Attribute, pflegt Sellars zu sagen; aber in Wirklichkeit gibt es keine (vgl. Sellars 1979, 47). Dennoch ist mit Eigenschaften oder Attributen und Tatsachen noch keine zwingende Notwendigkeit für die Eröffnung eines neuen Sinnfeldes verbunden, sie passen als nachgeordnete Entitäten widerspruchsfrei ins alte, basale. Eher schon mit der Einführung der theoretischen Entitäten der Chemie und Mikrophysik. Lebensweltlich konzeptualisieren wir Wasser als ein homogenes, flüssiges Kontinuum, in der exakten Naturwissenschaft jedoch als einen Schwarm diskreter H2 O-Moleküle. Sellars sieht darin einen kategorialen Konflikt zwischen dem, was er unser manifestes Weltbild nennt, und den theoretischen Naturwissenschaften, die in ferner Zukunft zu einem neuen, alternativen wissenschaftlichen Weltbild ausgebaut werden könnten. Ich glaube nicht, dass dies möglich ist; dass es möglich ist, in der aseptischen Begrifflichkeit der theoretischen Naturwissenschaft unseren Alltag zu konzipieren und zu gestalten. Das manifeste Weltbild steht als unser basales Seins- und Sinnfeld nicht zur Disposition. Aber Andersdenkende könnten hier ein Motiv für das Postulat eines Sinnfeldes der theoretischen Naturwissenschaft finden. Wenn nicht hier, so kommen Motive für einen Sinnfeldpluralismus spätestens im Zusammenhang mit Mythologie und Fiktion auf. Dort leisten Sinnfelder ihre eigentliche theoretische Arbeit. Ob sie sich, sofern man sie denn willkommen heißt, logisch-ontologisch ordnen lassen, ausgehend vom elementaren Sinnfeld der Lebenswelt, ist schwer zu sagen. Schön wäre es und übersichtlich, sie bildeten unter der Relation der logischen und/oder ontologischen Priorität eine Art Halbordnung mit dem lebensweltlichen Sinnfeld als maximalem Element. In einem Baumdiagramm würde das maximale Element als der Wurzelknoten dargestellt werden können, von dem viele sich immer weiter verzweigende Pfade zu weiteren Sinnfeldern abführen. Überlappungen von Sinnfeldern dürfte es dann freilich nicht geben, wie Markus Gabriel sie, und mit ihnen Querfeldein-Identitäten, früher zuließ (vgl. Gabriel 2013, 92–94). Dasselbe Ding konnte demzufolge in mehreren Sinnfeldern erscheinen, et-

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wa Napoleon im Sinnfeld der europäischen Geschichte und im Sinnfeld von Tolstois Epos Krieg und Frieden. Aus mündlicher Mitteilung weiß ich, dass er die Sache jetzt restriktiver beurteilt und Querfeldein-Identitäten verwirft. Der historische Napoleon kommt in Tolstois Romanwerk also nicht selber vor, sondern hat dort nur ein Gegenstück oder einen Konterpart. Wenn wir statt mit Sinnfeldern mit möglichen Welten zu tun hätten, entspräche diese Theorieveränderung einem Übergang von Saul Kripkes zu David Lewis’ Weltenkonzeption. Markus Gabriels Sinnfelder sind, anders gesagt, inzwischen so disjunkt wie David Lewis’ Welten; was die theoretische Arbeit mit ihnen sicher erleichtert. Zu beharren ist aber auf einer rein formalen Querfeldein-Identität, derjenigen der Seins- und Sinnformen Raum und Zeit. Raum und Zeit gibt es für alle Sinnfelder jeweils nur einmal, nicht in Gegenstücken. Alle Sinnfelder teilen sich das reine, (3 + 1)-dimensionale raumzeitliche Feld der Imagination als ihre gemeinsame Nullund Grundstellung, auch wenn sie dieses Feld jeweils ganz abweichend voneinander mit Inhalt besetzen. Raum und Zeit als Schnittstelle zwischen Logik und Ontologie sind fix und invariant. Darin liegt ihre konstitutive Bedeutung für den Begriff der Existenz wie auch für den Begriff eines Sinnfeldes. Man könnte also erwägen, die Welt nicht wie Markus Gabriel mit dem Sinnfeld aller Sinnfelder gleichzusetzen, was zur Folge hat, dass es die Welt nicht gibt, weil das Sinnfeld aller Sinnfelder in keinem Sinnfeld mehr erscheinen kann,9 sondern mit dem basalen raumzeitlichen Seins- und Sinnfeld, dem maximalen Element der Halbordnung der Sinnfelder (was ebenfalls zur Folge hätte, dass es die Welt nicht gibt – zumindest nicht als großes konkretes Einzelding).10 Aber dies ist vielleicht eher eine verbale als eine sachliche Frage. Das Sein – Der-Fall-Sein – kann in der Logik abgehandelt werden und wird sich, wenn Hegel Recht hat, als ein logischer Ursachverhalt dort bis zur absoluten Idee fortentwickeln. Mit der Existenz jedoch, der genuinen, außerlogischen, fängt der Ernst des Lebens an, der Ernst der Lebenswelt als unseres basalen raumzeitlichen Seins- und Sinnfeldes, das allen anderen Sinnfeldern logisch und ontologisch vorgeordnet ist. Das wäre mein Kompromissvorschlag für die Wahl zwischen einem strengen Monismus und einem liberalen Pluralismus der Sinnfelder und der Existenzvarianten.

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Es müsste sonst ein echter Teil von sich sein, was allerdings Graham Priest nicht schreckt, vgl. seinen Vortrag „Everything and Nothing“ vom 15.05.2018 in Bonn, Abschnitt 3. (Ich danke Markus Gabriel für diesen Hinweis.) 10 Die Welt als das basale raumzeitliche Seins- und Sinnfeld ist die physis, von der Heraklit zu Recht sagt, dass sie kryptesthai philei, sich zu verbergen liebt (vgl. DK 22, B 123, in Diels 1903). Sie ist der offene Horizont dessen, was es gibt, und ihrerseits ein nicht fixierbares Wechselspiel von Sein und Negativität, Sich-Entbergen und Sich-Verbergen. Aber für diese Behauptung wurden im Vorigen keine Argumente vorgetragen. Deswegen sei hier nur anmerkungsweise auf sie verwiesen. (Mike Stange weist mich zu Recht darauf hin, dass es die Welt auch als heraklitische physis immer noch gäbe, daher mein Zusatz ‚zumindest nicht als großes konkretes Einzelding‘.)

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Literatur Aristotelis Categoriae et liber de interpretatione. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit L. Minio-Pauluello. Oxford 1949. Aristotelis Metaphysica. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit W. Jaeger. Oxford 1960. Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch von Hermann Diels. Berlin 1903. Gabriel, Markus: Warum es die Welt nicht gibt. Berlin 2013. Gabriel, Markus: Sinn und Existenz. Eine realistische Ontologie. Berlin 2016. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft [1781]. Riga 2 1787. Koch, Anton Friedrich: Versuch über Wahrheit und Zeit. Paderborn 2006. Koch, Anton Friedrich: Hermeneutischer Realismus. Tübingen 2016. Lewis, David: On the Plurality of Worlds. Oxford/New York 1986. Luckner, Andreas/Ostritsch, Sebastian: Existenz. Berlin/Boston 2018. Platon: Sophistes. In: Ders.: ΘΕΑΙΤΗΤΟΣ. ΣΟΦΙΣΤΗΣ. ΠΟΛΙΤΙΚΟΣ. – Theaitetos. Sophistes. Der Staatsmann. Bearb. von Peter Staudacher. Griechischer Text von Auguste Diès. Deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher. Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch. Sechster Band. Hg. von Gunther Eigler. Darmstadt 1970, 219–401. Priest, Graham: Everything and Nothing. Vortrag vom 15.05.2018 in Bonn. Sellars, Wilfrid: Naturalism and Ontology. Reseda (Kalifornien) 1979. Strawson, Peter: Individuals. An Essay in Descriptive Metaphysics. London 1959. Van Orman Quine, Willard: Philosophy of Logic. Englewood Cliffs (N. J.) 1970. Van Orman Quine, Willard: Theories and Things. Cambridge (Mass.)/London 1981. Van Orman Quine, Willard: Two Dogmas of Empiricism [1951]. In: Ders.: From a Logical Point of View. Cambridge, Mass. 1953, 20–46. Williamson, Timothy: Necessary Existents. In: Anthony O’Hear (Hg.): Logic, Thought and Language. Cambridge 2002, 233–251. Wittgenstein, Ludwig: Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus logico-philosophicus [1921]. Oxford 1959 und Frankfurt a. M. 1960.

Die logische Phänomenologie der Existenzaussagen Uwe Meixner

Existenz und Nichtexistenz werden in mehreren, mehr oder minder stark syntaktisch und/oder semantisch voneinander abweichenden Weisen ausgesagt. Dies gilt insbesondere von der deutschen Sprache; das meiste der nachfolgenden Beschreibungen des Sprachgebrauchs lässt sich jedoch auf jede andere indoeuropäische Sprache übertragen. Beschreibung aber gibt es nicht ohne Analyse; Beschreibung ist immer schon Analyse. Auch von der logischen Phänomenologie gilt: Die Beschreibung der Phänomene – die dafür notwendige Analyse – enthüllt die philosophische Tiefe, die unter, hinter, bei den Phänomenen ist.

1 Präliminarien: Namen, Aussagesätze, Prädikate Für die Beschreibung des Sprachgebrauchs hinsichtlich Existenz und Nichtexistenz werden einige begriffliche Werkzeuge benötigt. Diese stelle ich nun vor. Ein partikularer Term – mit anderen Worten: ein Name i. e. S. – ist ein Ausdruck, der seinem Sinn nach vorgibt, auf etwas ganz Bestimmtes – sei es eins oder mehreres – Bezug zu nehmen (ob er das, was er zu tun vorgibt, auch wirklich tut, ist eine andere Frage). Partikulare Terme gibt es im Singular oder Plural, mit oder ohne Einschluss einer expliziten Beschreibung des intendierten Referenzobjekts. Ein mit einem bestimmten Artikel oder einem Demonstrativpronomen eingeleiteter in sich abgeschlossener Ausdruck, der kein Satz ist, ist stets ein partikularer Term; aber freilich wird nicht jeder partikulare Term durch einen Artikel oder ein Demonstrativpronomen eingeleitet. Wir haben: ‚Osten‘ [singularisch, nicht explizit beschreibend], ‚die Himmelsrichtung des Sonnenaufgangs‘ [singularisch, explizit beschreibend], ‚Westen, Osten, Süden und Norden‘ [pluralisch, nicht explizit beU. Meixner () Universität Augsburg Augsburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Luckner, S. Ostritsch (Hrsg.), Philosophie der Existenz, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04880-6_5

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schreibend], ‚die Himmelsrichtungen‘ [pluralisch, explizit beschreibend]. Partikulare Terme stehen links und rechts des identifikativen ‚ist‘ (oder ‚bin‘, ‚bist‘) bzw. identifikativen ‚sind‘ (oder ‚seid‘), wie in den folgenden (wahren) Identitätsaussagen: ‚Osten ist die Himmelsrichtung des Sonnenaufgangs‘, ‚Westen, Osten, Süden und Norden sind die Himmelsrichtungen‘. Ein Aussagesatz (eine Aussage) ist ein Satz, der seinem Sinn nach vorgibt, entweder wahr oder falsch zu sein (ob er das, was er zu sein vorgibt, auch wirklich ist, ist eine andere Frage). Ein (logisches) Prädikat ist ein Ausdruck, der aus einem Aussagesatz hervorgeht, wenn in ihm ein partikularer Term, oder mehrere solche, an einer Stelle, oder an mehreren, durch eine Variable (‚x‘, ‚y‘, ‚z‘, . . . ) ersetzt wird; dabei wird genau eine Variable pro Term verwendet (wenn der Term mehrfach im Aussagesatz vorkommt und mehrfach ersetzt wird, dann wird mehrfach dieselbe Variable verwendet), für verschiedene Terme verschiedene Variablen. (Die Anzahl der Variablen, nicht die Anzahl der Vorkommnisse von Variablen, in einem Prädikat ist seine Stellenzahl: ‚x liebt y‘ ist ein zweistelliges, ‚x liebt x‘ hingegen ein einstelliges Prädikat – wie auch ‚x existiert‘.) Ein genereller Term ist ein deskriptiv-referentieller Ausdruck, der kein partikularer Term ist und der in einem Haupt(aussage)satz auf ‚ist‘ bzw. ‚sind‘ bis zum Satzende folgt oder ‚ist‘ bzw. ‚sind‘ ab Satzanfang vorausgeht. Generelle Terme geben demnach nicht ihrem Sinn nach vor, auf etwas ganz Bestimmtes Bezug zu nehmen; vielmehr dienen sie ihrem Sinn nach allein der expliziten Beschreibung von etwas oder von Etwassen (insbesondere von alledem, was durch einen partikularen Term benannt wird). Wie partikulare Terme sind generelle Terme Namen; während jedoch partikulare Terme Namen i. e. S. sind, folglich auch Namen i. w. S., sind generelle Terme nur Namen i. w. S. Generelle Terme gibt es im Singular oder im Plural, komplex oder einfach; wenn einfach, dann als Adjektiv oder als Substantiv. Zur Illustration möge dienen: ‚Mann‘, ‚ein Mann‘, ‚großer Mann‘, ‚ein großer Mann‘, ‚Großes‘, ‚etwas Großes‘, ‚Männer‘, ‚große Männer‘ und ‚groß‘ sind generelle Terme; ‚der Mann‘, ‚der große Mann‘, ‚der Große‘, ‚die Männer‘, ‚die großen Männer‘ sind hingegen partikulare Terme. Wie ersichtlich ist, enthalten manche partikularen Terme generelle Terme; und auch das Umgekehrte kommt vor: ‚älterer Bruder von Egon Müller‘. Manchmal wird ein und dasselbe Wort (verstanden als phonetische bzw. graphische Einheit) sowohl als genereller als auch als partikularer Term verwendet wird, so etwa in dem folgenden Satz: ‚Gott ist ein Gott.‘

2 Existenz und Nichtexistenz bei partikularem Term im Singular Existenz und Nichtexistenz können am partikularen Term ausgesagt werden, im Singular oder im Plural. Dieser Aussageweise von Existenz und Nichtexistenz wende ich mich zuerst zu. Ich thematisiere demnach zuerst Aussagesätze der Gestalt ‚τ existiert‘ bzw. ‚τ existiert nicht‘ und ‚τ existieren‘ bzw. ‚τ existieren nicht‘, wo ‚τ‘ für einen beliebigen partikularen Term steht (im Singular bzw. Plural; für die 1. und

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2. Person ist die Konjugationsform des Verbs zu modifizieren). Von diesen Aussagesätzen betrachte ich wiederum die singularischen zuerst. Das Prädikat ‚x existiert‘, aus dem durch Substitution eines beliebigen singularisch-partikularen Terms für ‚x‘ ein Aussagesatz hervorgeht, ist ein mehrdeutiges Prädikat, und seine Synonyme sind genauso mehrdeutig wie es selbst. Was aber sind seine Synonyme, d. h.: was sind diejenigen Prädikate, für die gilt, dass jede mögliche Deutung von ‚x existiert‘ auch eine mögliche Deutung jedes von ihnen ist, und jede mögliche Deutung eines von ihnen auch eine mögliche Deutung von ‚x existiert‘ und jedes anderen von ihnen? Im Deutschen findet man – bei Berücksichtigung aller Sprachbereiche und -ebenen – die folgenden Synonyme vor: ‚x ist‘, ‚es gibt x‘, ‚x gibt es‘, ‚x ist seiend‘, ‚x ist ein Seiendes‘, ‚x ist etwas Seiendes‘, ‚x ist existent‘, ‚x ist etwas Existentes‘, ‚x ist etwas Existierendes‘ usw. (wegen der Freiheit der Wortstellung im Deutschen und unter Verwendung weiterer sprachlicher Mittel können leicht noch mehr singularische Existenzprädikate – d. h.: Synonyme von ‚x existiert‘ – gebildet werden). Existenz kann also ohne ‚ist‘, oder aber mit dem reinen, nichtkopulativen ‚ist‘, oder aber mit dem kopulativen, um einen generellen Term ergänzten ‚ist‘ ausgesagt werden. Das logische Subjekt (das durch ‚x‘ markiert wird) steht dabei in der Regel im Nominativ, kann aber auch im Akkusativ stehen (so ist es bei ‚es gibt x‘ und ‚x gibt es‘). Es kann der Anschein entstehen, als sei das eine oder andere der genannten Prädikate mit ‚x existiert‘ nicht synonym. Der Eindruck kommt dadurch zustande, dass dem jeweiligen Prädikat im Rahmen seiner Mehrdeutigkeit eine andere Deutung gegeben wird als diejenige, die ‚x existiert‘ im Rahmen seiner eigenen Mehrdeutigkeit gerade gegeben wird; an sich – von den Besonderheiten des Kontextes abgesehen, rein aufgrund der semantischen Regeln der Sprache – könnte aber auch ebenso gut beiden Prädikaten genau dieselbe Deutung gegeben werden (deshalb, weil ihre Mehrdeutigkeitsrahmen ganz identische sind). Bzgl. der Weisen, in denen ‚x existiert‘ – und jedes seiner Synonyme – mehrdeutig ist, ist an erster Stelle (nicht der wichtigsten Stelle) hervorzuheben, dass ‚x existiert‘ so viel bedeuten kann wie ‚x existiert-zu-einer-Zeit‘, oder so viel wie ‚x existiert-zu-jeder-Zeit‘, oder so viel wie ‚x existiert jetzt‘, oder so viel wie ‚x existiert zeitlos‘. Um diese logisch-phänomenologische Untersuchung nicht ausufern zu lassen, konzentriere ich mich auf ‚x existiert‘ im Sinne von ‚x existiert-zueiner-Zeit‘; in diesem Sinne existiert Sokrates und Napoleon und (vermutlich) der 50. Präsident der USA; ebenso existiert in diesem Sinne die Zahl 2, denn das, von dem man sagen kann, es existiere zeitlos, von dem kann man auch immer sagen, es existiere zu jeder Zeit, also auch zu einer Zeit. Die Konzentration auf ‚x existiert‘ in diesem Sinn und auf seine Synonyme und nachfolgend zur Sprache kommende Deutungsprädikate im genau entsprechenden Sinn bleibt im Folgenden (weitgehend) implizit. Explizit sei darauf hingewiesen, dass ‚x existiert nicht‘ im Sinne der erfolgten Sinnfestlegung so viel besagen muss wie ‚x existiert-zu-keiner-Zeit‘ (oder: ‚x existiert niemals‘). Was sind nun die möglichen Deutungen von ‚x existiert‘ und damit auch von ‚x ist‘, ‚es gibt x‘, ‚x gibt es‘, ‚x ist seiend‘ usf., also auch aller anderen singularischen Existenzprädikate? Das Prädikat ‚x existiert‘ hat sowohl rein ontologische,

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nichtsprachreferentielle Deutungen wie auch eine sprachreferentielle Deutung. Es gibt logisch-phänomenologische Indizien für das Auftreten aller dieser Deutungen von ‚x existiert‘. Die drei rein ontologischen Deutungen sind diese: (1) ‚x existiert‘ besagt so viel wie ‚x ist etwas‘ (synonym: ‚x ist ein Etwas‘, ‚x ist mit etwas identisch‘); (2) ‚x existiert‘ besagt so viel wie ‚x ist etwas Wirkliches‘; (3) ‚x existiert‘ besagt so viel wie ‚x ist vorhanden‘ (synonym: ‚x ist etwas Vorhandenes‘). Die Deutungen sind logisch verschieden (also simpliciter verschieden). Denn zwar folgt daraus, dass x vorhanden bzw. etwas Wirkliches ist, logisch, dass x etwas ist; aber daraus, dass x etwas ist, folgt logisch weder, dass x vorhanden ist, noch, dass es etwas Wirkliches ist. Des Weiteren folgt daraus, dass x etwas Wirkliches ist, zwar logisch, dass x (im rein ontologischen Sinn) vorhanden ist; aber daraus, dass x vorhanden ist, folgt nicht logisch, dass x etwas Wirkliches ist. Die logischen Verhältnisse zwischen den drei rein ontologischen Deutungsprädikaten von ‚x existiert‘ sind also, im Diagramm dargestellt, diese:

Wobei neben keinem der drei horizontal bzw. vertikal eingezeichneten Vorkommnisse des Pfeils (der logischen Folgerung) auch dessen Umkehrung hingesetzt werden kann. Obwohl es sich nun logisch wie dargestellt verhält, könnte es immer noch – freilich logisch kontingenterweise – so sein, dass die drei rein ontologischen Deutungsprädikate von ‚x existiert‘ auf genau dasselbe zutreffen. Würden etwa ‚x ist etwas‘ und ‚x ist etwas Wirkliches‘ auf dasselbe zutreffen, extensionsgleich sein, so würde daraus – angesichts der oben festgestellten logischen Verhältnisse – folgen, dass auch ‚x ist vorhanden‘ auf dasselbe wie die zuvor genannten Prädikate zutrifft. Dagegen spricht jedoch die logische Phänomenologie: Manche Handlungsmöglichkeiten (dies oder das oder jenes zu tun) sind zwar vorhanden[-zu-einer-Zeit], aber sind nichts [Zu-einer-Zeit-]Wirkliches;1 ‚x ist vorhanden‘ und ‚x ist etwas Wirkliches‘ treffen also nicht auf dasselbe zu. Manche möglichen Welten (m. a. W., maximal umfassende Möglichkeiten) sind zwar etwas (kann man doch über sie reden und über sie nachdenken), aber sie sind nicht vorhanden; auch ‚x ist etwas‘ und ‚x ist vorhanden‘ treffen also nicht auf dasselbe zu. Der Sachverhalt, dass 2 + 2 gleich 5 ist, ist etwas (ist er doch mit sich selbst identisch), ist aber nichts Wirkliches (d. h. bei ihm: nichts wirklich Bestehendes); die Eigenschaft, ein Einhorn zu sein, ist ebenfalls etwas – und ist ebenfalls nichts Wirkliches (d. h. bei ihr: nichts wirklich Vorkommendes). Auch davon, dass ‚x ist etwas‘ und ‚x ist etwas Wirkli1

Als Möglichkeiten sind sie freilich etwas Wirkliches: durch ihr wirkliches Möglichsein. Aber als Inhalte des Möglichseins sind sie nichts Wirkliches, sondern nur etwas Mögliches.

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ches‘ auf dasselbe zuträfen, kann also keine Rede sein. Die drei rein ontologischen Deutungsprädikate von ‚x existiert‘ sind also nicht nur ihrer phonetischen bzw. graphischen Gestalt und ihrem logischen Gehalt nach verschieden, sie sind auch extensionsverschieden, umfangsverschieden. Dies jedenfalls ist die Auskunft der logischen Phänomenologie, die sich an den Sprachgebrauch hält. Die drei rein ontologischen Deutungsprädikate von ‚x existiert‘ sind zudem auch modal verschieden, wie gleich zu sehen sein wird. Ihre Unterschiede bedingen, dass sich die singularischen Existenzprädikate – ‚x existiert‘ und seine Synonyme – je nach Deutung sehr unterschiedlich verhalten. Wird ‚x existiert‘ im Sinne von ‚x ist etwas‘ gedeutet, so hat das unmittelbar zur Folge, dass es logisch notwendig ist, dass alles existiert (denn es ist logisch notwendig, dass alles mit etwas – nämlich mit sich selbst – identisch ist); ja, es hat sogar zur Folge, dass von allem gilt, es existiere mit logischer Notwendigkeit (denn jedes ist ja mit logischer Notwendigkeit mit etwas identisch: sich selbst). Die erstere Konsequenz kommt der alten Lehre entgegen, gemäß welcher Existenz – oder Sein – eine Transzendentalie ist, also kategorienübergreifend auf alles zutrifft (wodurch aber rein gar nichts darüber gesagt ist, was denn nun existiert). Die zweite Konsequenz hingegen widerspricht der tief verwurzelten Intuition, dass vieles zwar existiert, aber auch nicht hätte existieren können, also nicht logisch notwendigerweise existiert, sondern nur logisch kontingenterweise. Deutet man ‚x existiert‘ im Sinne von ‚x ist etwas Wirkliches‘, so wird man dieser letztgenannten Intuition zwar gerecht, denn vieles offenbar ist zwar etwas Wirkliches, hätte aber leicht auch nichts Wirkliches sein können (etwa jedes irdische Lebewesen, das jemals lebt). Dafür wird es aber bei der Deutung von ‚x existiert‘ durch ‚x ist etwas Wirkliches‘ eher zweifelhaft, dass es logisch notwendig ist, dass alles existiert. Manchen Philosophen (Alexius Meinong ist der bekannteste unter diesen) gilt es gar mit Gewissheit als nicht logisch notwendig, dass alles existiert, und zwar deshalb, weil manches in der Tat nicht existiere: deshalb, weil manches nichts Wirkliches ist und ‚existieren‘ nun eben so viel wie ‚etwas Wirkliches sein‘ besage. An diesem Gedankengang ist nichts auszusetzen, wenn man die Deutung von ‚existieren‘ wählt, die er voraussetzt. Dabei braucht man, um die Allexistenz und mit ihr auch deren logische Notwendigkeit auszuschließen, gar nicht auf die Etymologie von ‚etwas Wirkliches‘ zurückzugreifen und den alten semantischen Gehalt wiederzubeleben, gemäß welchem etwas Wirkliches etwas ist, was wirkt. Auch ganz ohne Bemühung jener Etymologie und den daran anschließenden Verweis auf Wirkungsloses – seien es Epiphänomene, seien es Abstrakta – gilt, dass manches nichts Wirkliches ist; oben wurden bereits Beispiele genannt. Allerdings ist die Wahrheit von ‚Manches existiert nicht‘ offenbar an die Deutung von ‚x existiert‘ durch ‚x ist etwas Wirkliches‘ gebunden. Der Satz ‚Manches existiert nicht‘ wandelt sich von einer Wahrheit in eine Falschheit, wenn ‚x existiert‘ statt durch ‚x ist etwas Wirkliches‘ durch ‚x ist etwas‘ gedeutet wird – eine Deutung freilich, die, wie gesehen, ihren ihr eigenen Nachteil hat. Wird nun demgegenüber ‚x existiert‘ im Sinne von ‚x ist vorhanden‘ gedeutet, so scheint es, dass der ontologische Skandal der Nichtexistenz von manchem (inakzeptabel sei das, meint

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die Mehrheit der Philosophen) vermieden werden kann und zugleich an der Kontingenz der Existenz von manchem festgehalten werden kann. Denn es scheint sowohl wahr zu sein, dass logisch notwendigerweise alles vorhanden ist, als auch wahr zu sein, dass manches nicht logisch notwendigerweise vorhanden ist. Die Deutung von ‚x existiert‘ durch ‚x ist vorhanden‘ scheint also gegenüber den beiden anderen rein ontologischen Deutungen von ‚x existiert‘ im Vorteil zu sein. Doch auch sie hat ihren nicht eben kleinen Preis – wenn sie denn den in Rede stehenden Vorteil tatsächlich und nicht nur scheinbar hat. Hat sie ihn, dann kann nämlich für ‚x ist vorhanden‘ und damit für ‚x existiert‘ die umgekehrte (sog.) Barcan-Formel (logischer Modalität) nicht gelten – während doch deren Geltung für alle Prädikate immens plausibel ist. Die umgekehrte Barcan-Formel (logischer Modalität) ist das folgende Schema: Wenn es logisch notwendig ist, dass alles [jedes] Φt, dann ist es für jedes [alles] logisch notwendig, dass es Φt [oder logisch äquivalent: Wenn es für manches logisch möglich ist, dass es nicht Φt, dann ist es logisch möglich, dass manches nicht Φt]. Dieses Schema muss sowohl für ‚vorhanden ist‘ als auch für ‚existiert‘ (wenn diese Ausdrücke ‚Φt‘ im Schema uniform ersetzen) zu einer falschen Aussage werden und also entgegen dem überwältigenden Anschein gar kein für alle Prädikate gültiges Schema sein, wenn es denn wirklich sowohl logisch notwendig ist, dass alles vorhanden ist (das heißt bei der nun betrachteten Existenzdeutung: alles existiert), als auch für manches nicht – d. h.: nicht für jedes – logisch notwendig ist, dass es vorhanden ist (d. h.: existiert). Tatsächlich lässt sich eine den eben beschriebenen Konflikt vermeidende besondere Außerkraftsetzung der umgekehrten Barcan-Formel für ‚x ist vorhanden‘ – und damit für ‚x existiert‘ in der Deutung durch ‚x ist vorhanden‘ – nur durch einen ‚Trick‘ klar und deutlich erreichen, nämlich indem man ‚alles/jedes‘ von vornherein im Sinne von ‚alles/jedes Vorhandene‘ versteht. Dann ist ‚Alles [d. h. jetzt: alles Vorhandene] ist vorhanden‘ trivialerweise eine logische Wahrheit, und folglich ist es gewiss logisch notwendig, dass alles vorhanden ist; und zugleich bleibt es gewiss auch beim Verständnis von ‚alles/jedes‘ im Sinne von ‚alles/jedes Vorhandene‘ dabei, dass es nicht für jedes (d. h. jetzt: nicht für jedes Vorhandene) logisch notwendig ist, dass es vorhanden ist. Der Sprachgebrauch spricht aber nun keineswegs eher für ein Verständnis von ‚alles/jedes‘ im Sinne von ‚alles/jedes Vorhandene‘ als für ein Verständnis dieser Ausdrücke im Sinne von ‚alles/jedes überhaupt [gleichgültig, ob vorhanden oder nicht]‘ (und man beachte: Nur ‚Alles Vorhandene ist vorhanden‘ ist eine triviale logische Wahrheit, ‚Alles überhaupt ist vorhanden‘ ist das mitnichten). Die immense Plausibilität der umgekehrten Barcan-Formel legt vielmehr nahe, dass das letztere Verständnis, bei dem sie unausbleiblich für alle Prädikate gilt, das vorherrschende ist. Allerdings besteht darüber, wie ernst der Sprachgebrauch (und also die logische Phänomenologie) zu nehmen ist, unter den Philosophen Uneinigkeit. Die umgekehrte Barcan-Formel – deren Allgemeingültigkeit – zu opfern, sind nicht wenige Logiker unter den Philosophen bereit (an prominentester Stelle: Saul Kripke2 ).

2

Kripke 2013a, 55.

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Nimmt man sie aber an,3 dann ist leicht zu sehen, dass der meinongsche ontologische Skandal so gut wie unausweichlich wird: Gemäß der umgekehrten Barcan-Formel (logischer Modalität, in ihrer Allgemeingültigkeit) gilt: Wenn es für manches logisch möglich ist, dass es nicht existiert, dann ist es logisch möglich, dass manches nicht existiert. Da davon auszugehen ist, dass es für manches logisch möglich ist, dass es nicht existiert (ich, z. B., existiere doch nicht logisch notwendigerweise), folgt also logisch: Es ist logisch möglich, dass manches nicht existiert. Doch dann muss es wohl auch tatsächlich so sein, dass manches nicht existiert, und nicht bloß logisch möglich sein; denn würde nun statt der Nichtexistenz von manchem die Allexistenz der Fall sein, dann könnte doch neben der Allexistenz nicht gut zugleich die logische Möglichkeit ihrer Negation bestehen (welche ja besteht, wie gesehen): Die Allexistenz muss doch, wenn sie der Fall ist, logisch notwendigerweise der Fall sein; sie ist nichts logisch Kontingentes. Aber, wie gesehen, wäre sie im Widerspruch dazu etwas logisch Kontingentes – wenn sie der Fall wäre. Sie ist folglich nicht der Fall, sondern im Gegenteil ist die Nichtexistenz von manchem der Fall. Da die drei rein ontologischen Deutungen von ‚x existiert‘ weithin als unbefriedigend empfunden werden, gewinnt die nicht rein ontologische, die sprachreferentielle Deutung von ‚x existiert‘ an Bedeutung. Gemäß ihr besagt ein Existenzsatz mit singularisch-partikularem Term, dass dieser Term auf etwas Bezug nimmt (was der Term seinem Sinn nach vorgibt); die Negation des Satzes hingegen besagt, dass der Term auf nichts Bezug nimmt (obwohl er seinem Sinn nach vorgibt, auf etwas Bezug zu nehmen). Beispielsweise besagt der Satz ‚Pegasus existiert nicht‘ gemäß der nun betrachteten Deutung von ‚x existiert‘, dass der Term ‚Pegasus‘ auf nichts Bezug nimmt; und der Satz ‚Der König von Frankreich im Jahre 2000 existiert nicht‘ besagt ihr gemäß, dass der Term ‚der König von Frankreich im Jahre 2000‘ auf nichts Bezug nimmt. Beide negativen Existenzsätze möchte man gerne als wahr ansehen; der große Vorteil der sprachreferentiellen Deutung von ‚x existiert‘ ist, dass man, wenn man jene Sätze als wahr ansieht, dadurch nicht in logisch-ontologische Schwierigkeiten gerät. Denn aus einem Satz der Gestalt ‚τ existiert nicht‘ mit singularisch-partikularem Term folgt nun nicht mehr logisch ‚Manches existiert nicht‘ (was doch bei jeder rein ontologischen Deutung von ‚x existiert‘ aus ‚τ existiert nicht‘ unausbleiblich folgt), also nicht mehr derjenige Satz, den man partout nicht als wahr ansehen möchte (Meinong freilich war anderer Meinung – und stand mit seiner Meinung lange Zeit so gut wie allein da). Tatsächlich verbindet sich die sprachreferentielle Deutung von ‚x existiert‘ mit der oben an erster Stelle angeführten rein ontologischen Deutung dieses Prädikats (wonach ‚x existiert‘ so viel besagt wie ‚x ist etwas‘) in der folgenden Weise: Bei Sätzen der Gestalt ‚τ existiert‘ und ‚τ existiert nicht‘ mit singularisch-partikularem Term wird von der sprachreferentiellen Deutung von ‚x existiert‘ ausgegangen; bei Aussagesätzen hingegen, in denen ‚x existiert‘ nicht auf einen singularisch-partikularen Term trifft, sondern mit einem singularischen sog. Quantor (‚manches‘, ‚alles‘, ‚jedes‘, ‚nichts‘, ‚keines‘) 3

Zur Umkehrung der Barcan-Formel (und nebenbei zur Barcan-Formel selbst), zu ihren Geltungsvoraussetzungen und den sich mit ihr ergebenden Konsequenzen: Meixner 2017, 52–54.

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verbunden wird, soll ‚x existiert‘ so viel besagen wie ‚x ist etwas‘. Demzufolge hält man sowohl ‚Alles existiert‘ für wahr, als auch ‚Pegasus existiert nicht‘. Dass man damit in einen Widerspruch zum klassischen prädikatenlogischen Prinzip der Allinstanziierung gerät, gilt nicht als Nachteil: Es ist hier eben, sagt man, von der klassischen Logik zur sog. Freien Logik zu wechseln, wo das klassische, uneingeschränkte Prinzip der Allinstanziierung durch ein eingeschränktes ersetzt ist. Als ein nicht so leicht von der Hand zu weisender Einwand gegen die sprachreferentielle Deutung von ‚x existiert‘ muss hingegen gelten, dass es merkwürdig erscheint, dass ein Prädikat, das in allen seinen Anwendungsfälle – also überall in singularischen Existenzsätzen, ob positiven oder negativen – vorgibt, ein objektsprachliches Prädikat zu sein, dort doch tatsächlich ein metasprachliches sein soll. Aber andererseits: Was soll es denn anderes heißen, als dass der partikulare Term ‚der König von Frankreich im Jahre 2000‘ auf nichts Bezug nimmt, wenn gesagt wird (wahrheitsgemäß), dass der König von Frankreich im Jahre 2000 nicht existiert? In der Tat: Bei der Anwendung von ‚x existiert‘ auf singularisch-partikulare Terme, die Beschreibungen enthalten, also bei singularischen sog. Kennzeichnungstermen, im Englischen: ‚definite descriptions‘, hat die sprachreferentielle Deutung jenes Prädikats ihr größtes Recht. Man wird sie jedoch nicht bei jeder Anwendung von ‚x existiert‘ auf einen singularisch-partikularen Term in Anschlag bringen können. Gegen die allgemeine Unterstellung der sprachreferentiellen Deutung bei allen singularischen Existenzsätzen (positiven und negativen) sprechen die folgenden Phänomene: (A) Nicht nur wird Nichtexistentes mit Nichtexistentem verglichen, sondern auch Nichtexistentes mit Existentem und Existentes mit Nichtexistentem (‚Hercule Poirot und Sherlock Holmes sind ungefähr gleichklug, aber selbstverständlich ist Holmes weit klüger als Hauptkommissar Müller; Müller ist aber doch klüger als Dr. Watson‘). (B) Nicht nur Existentes, sondern auch Nichtexistentes wird unterschieden und gezählt (‚Pegasus und Sherlock Holmes sind zwei verschiedene Nichtexistierende‘). Es ist also ersichtlich, dass Nichtexistentem im Denken und Sprechen ein positiver ontologischer Status zugewiesen wird, wenn auch nicht gerade der der Existenz.4 Folgender ‚Reim‘ auf die Phänomene bietet sich überdeutlich an: Sherlock Holmes und Pegasus sind zwei verschiedene Etwasse (verfügen deshalb beide über einen positiven ontologischen Status), die aber beide nichts Wirkliches sind (deshalb beide nicht existieren – gemäß der zweiten der oben angeführten rein ontologischen Deutungen von ‚x existiert‘). Im Weiteren werden nur noch rein ontologische Deutungen der Existenzprädikate betrachtet. Nach den rein ontologischen Deutungen von ‚x existiert‘ (und von dessen Synonymen) geht es im nächsten Abschnitt (vor allem) um die rein ontologischen Deutungen des pluralischen Prädikats ‚x existieren‘ (und seiner Synonyme).

4

Den äußerst nützlichen Begriff des ontologischen Status, der, auch wenn er positiv ist, nicht gleich auf Existenz hinauslaufen muss, habe ich von Erwin Tegtmeier gelernt.

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3 Existenz und Nichtexistenz bei partikularem Term im Plural Nicht nur singularische, sondern auch pluralische partikulare Terme haben einfache pronominale Formen: ‚wir‘, ‚ihr‘, ‚sie‘, ‚diese‘. Gelegentlich wird mit einem Personalpronomen ein komplexer pluralisch-partikularer Term gebildet: ‚wir Kinder‘, ‚ihr Frauen‘. Aber in der Regel gilt: Ein komplexer partikularer Term τ im Plural, wie er in Sätzen der Gestalt ‚τ existieren‘ und ‚τ existieren nicht‘ auftritt, hat die Gestalt einer Aufzählung – Liste – oder die eines pluralischen Kennzeichnungsterms; d. h.: τ kann die Gestalt ‚τ1 , τ2 , . . . , τN ‘ haben (wobei anstelle der Kommata jederzeit ‚und‘ stehen kann und die mit ‚τ1 ‘, ‚τ2 ‘, ‚τN ‘ gemeinten Ausdrücke abermals partikulare Terme sind, sei es im Singular oder im Plural; ‚τ1 und τ2 ‘ ist die häufigste Spezialisierung jener allgemeinen Gestalt) oder die Gestalt ‚die[se] Φ‘ (wo ‚Φ‘ für einen generellen Term im Plural steht). Beispiele für pluralisch-partikulare Terme, die Listen sind, sind etwa diese: ‚Venus, Mars und Jupiter‘,5 ‚die Erde und die anderen Planeten‘, ‚Helmut Schmidt und Helmut Kohl‘, ‚Sherlock Holmes und Hercule Poirot‘, ‚Kaiser Wilhelm II. und König Arthur‘. Beispiele für pluralische Kennzeichnungsterme sind etwa diese: ‚die Menschen‘, ‚die Menschen im Lande‘, ‚diese Kinder‘, ‚die römischen Götter‘, ‚die von der Erde verschiedenen Planeten‘, ‚die Töchter Obamas‘, ‚die Söhne Wittgensteins‘, ‚die Quadratwurzeln aus 2‘, ‚die Summen aus 3 und 4‘, ‚die zwölf Apostel‘. Führt ein singularischer Kennzeichnungsterm stets die Präsupposition mit sich, dass die Anzahl derjenigen Etwasse, die der im Term enthaltenen Beschreibung genügen, exakt gleich 1 ist, so präsupponiert demgegenüber ein pluralischer Kennzeichnungsterm stets, dass die Anzahl der Etwasse, die der in ihm enthaltenen Beschreibung genügen, gleich 2 oder größer ist. Oft fordert bei pluralischen Kennzeichnungstermen die mitgeführte Präsupposition zudem eine ganz bestimmte Anzahl (gleich 2 oder größer) von Etwassen, die der Beschreibung genügen, wie im Fall der Kennzeichnungsterme ‚die zwölf Apostel‘, ‚die beiden Liebenden‘, ‚die sieben freien Künste‘. Eine Existenzaussage mit einem Kennzeichnungsterm, dessen Präsupposition (für sein Bezugnehmen) nicht erfüllt ist, ist weder wahr noch falsch, sei sie positiv oder negativ, singularisch oder pluralisch. Dieses Prinzip – das Präsuppositionsprinzip für Kennzeichnungsterme – hat zur Folge (angesichts der Fakten), dass z. B. der Satz ‚Die Söhne Wittgensteins existieren‘ und der Satz ‚Der Sohn Wittgensteins existiert‘ weder wahr noch falsch sind; Gleiches gilt von den Verneinungen dieser Sätze. Gibt man der nicht unbeträchtlichen Neigung nach, diese negativen Existenzsätze nicht für weder wahr noch falsch, sondern im Gegenteil für wahr (und nicht falsch) zu halten (das zentrale Prinzip für logische Idealsprachen, nämlich das Bivalenzprinzip, würde dadurch gewahrt), so muss man jenes Prinzip aufgeben und sich der sprachreferentiellen Deutung der Existenzprädikate zuwenden; oder aber man muss, wenn man bei einer rein ontologischen Deutung 5

Der Ausdruck ‚Die Venus, der zweite Planet der Sonne und der Morgenstern‘ ist ein pluralischpartikularer Term in der hier allein relevanten sprachlichen (syntaktisch-semantischen) Hinsicht; er ist es aber nicht in ontologischer Hinsicht. (Entsprechendes von ‚Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist‘ anzunehmen, wäre die christliche Häresie des Modalismus.)

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der Existenzprädikate bleibt und Kennzeichnungsterme weiterhin als Namen i. e. S. gelten lässt (sie nicht à la Russell ‚eliminiert‘6 ), eine äußerst künstliche Maßnahme treffen: Ein geeigneter Ersatzbezug von ‚die Söhne Wittgensteins‘ und ‚der Sohn Wittgensteins‘ – Kennzeichnungsterme, die zunächst auf nichts Bezug nehmen, weil ihre jeweilige Präsupposition nicht erfüllt ist – muss per Konvention festgelegt werden: im letzteren Fall ein Etwas, von dem feststeht, dass es nicht existiert; im ersteren Fall gewisse Etwasse, von denen feststeht, dass sie nicht existieren. Freilich wäre dadurch die Deutung von ‚x existiert‘ durch ‚x ist etwas‘ und von ‚x existieren‘ durch ‚x sind Etwasse‘ ausgeschlossen (in deren Konsequenz ja die Wahrheit von ‚Alles existiert‘ läge) – und somit wäre auch aus einem anderen Grund als den schon vorgebrachten Gründen nicht von der Hand zu weisen, dass manches nicht existiert. (Friede dem Geiste Meinongs!) Doch sei am äußerst natürlichen Präsuppositionsprinzip für Kennzeichnungsterme festgehalten. Es folgt mit ihm auch (angesichts der Fakten), dass der Satz ‚Die Tochter Obamas existiert‘ weder wahr noch falsch ist; Gleiches gilt von ‚Die Tochter Obamas existiert nicht‘. Hingegen ist bei dem Satz ‚Die Töchter Obamas existieren‘ die Präsupposition des auftretenden Kennzeichnungsterms erfüllt, und der Satz ist wahr (und nicht falsch). Er ist deshalb wahr, weil jede positive Existenzaussage mit einem Kennzeichnungsterm, dessen Präsupposition erfüllt ist, wahr ist, sofern alles das existiert, worauf dieser Kennzeichnungsterm Bezug nimmt (was nichts anderes ist als alles das, was der in ihm enthaltenen Beschreibung genügt), und weil es zudem tatsächlich so ist, dass alles das existiert, worauf der Kennzeichnungsterm ‚die Töchter Obamas‘ Bezug nimmt (nämlich die eine Tochter Obamas und die andere). Wiederum: Jede negative Existenzaussage mit einem Kennzeichnungsterm, dessen Präsupposition erfüllt ist, ist wahr, sofern alles das, worauf dieser Kennzeichnungsterm Bezug nimmt, nicht existiert. Aufgrund dieses letzteren Wahrheitsprinzips und der Fakten erhält man beispielsweise: ‚Die römischen Götter existieren nicht‘ und ‚Der oberste griechische Gott existiert nicht‘ sind wahr. Pluralisch-partikulare Terme, die Listen sind, sind nun analog zum eben Gesagten zu behandeln: Wenn τ1 existiert und τ2 existiert . . . und τN existiert, dann ist der Satz ‚τ1 , τ2 , . . . , τN existieren‘ wahr; wenn hingegen τ1 nicht existiert und τ2 nicht existiert . . . und τN nicht existiert, dann ist der Satz ‚τ1 , τ2 , . . . , τN existieren nicht‘ wahr. Diesen Wahrheitsprinzipien zufolge ist es wahr (angesichts der Fakten), dass Helmut Schmidt und Helmut Kohl existieren, und wahr, dass Sherlock Holmes und Hercule Poirot nicht existieren. Aber wie steht es mit dem Existenzsatz ‚Kaiser Wilhelm II. und König Arthur existieren‘ und seiner Negation ‚Kaiser Wilhelm II. und König Arthur existieren nicht‘? Die beiden Wahrheitsprinzipien für pluralische Existenzsätze mit Listen (partikularer Terme) liefern keine Handhabe, diesen Sätzen, in ihrem üblichen Verständnis, einen Wahrheitswert zuzuordnen; denn wir haben es hier mit einem gemischten Fall zu tun (gemischt in der einfachsten Weise): Kaiser Wilhelm II. existiert, König Arthur jedoch existiert nicht (mag 6

Zur Russell’schen Elimination (d. h.: kontextuellen Definition) von Kennzeichnungstermen: Kutschera/Breitkopf 1985, 134–135.

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er auch ein existentes historisches Vorbild haben). Wie soll man sich zu solchen gemischten Fällen stellen? Die natürliche Antwort ist diese: Nehmen in einer Liste von partikularen Termen – also in einem Ausdruck der Gestalt ‚τ1 , τ2 , . . . , τN ‘ aus partikularen Termen τi – manche der Terme auf Existentes Bezug und manche auf Nichtexistentes, dann ist weder ‚τ1 , τ2 , . . . , τN existieren‘ wahr, noch ‚τ1 , τ2 , . . . , τN existieren nicht‘. (Dasselbe Resultat tritt ein – jedenfalls ist es so am natürlichsten –, wenn einer oder mehrere der Terme in der Liste auf nichts Bezug nehmen, wie in ‚die Töchter Obamas und die Söhne Wittgensteins‘, ‚die Eltern, die Kinder und die weiteren Nachfahren Wittgensteins‘.) Ist eine Reduktion von pluralisch-partikularen Existenzaussagen auf singularisch-partikulare möglich? Sie wäre genau dann möglich, wenn das, was sich mit den ersteren Aussagen sagen lässt, sich stets auch unter ausschließlicher Verwendung der letzteren sagen ließe. Aber die obigen Betrachtungen zeigen, dass das nicht der Fall ist. Der Satz ‚Kaiser Wilhelm II. und König Arthur existieren‘ (wie auch dessen Negation) ist, in seinem üblichen Verständnis, weder wahr noch falsch und besagt etwas, was weder wahr noch falsch ist. Der Satz ‚Kaiser Wilhelm II. existiert, und König Arthur existiert‘ hingegen ist falsch und besagt etwas, was falsch ist, also etwas, was nicht weder wahr noch falsch ist – und ist doch dabei gewiss der beste Versuch, den Inhalt des fraglichen pluralisch-partikularen Existenzsatzes unter ausschließlicher Verwendung singularisch-partikularer Existenzaussagen zum Ausdruck zu bringen. Es ist in diesem Zusammenhang auch darauf hinzuweisen, dass ‚τ1 , τ2 , . . . , τN existieren‘ nicht dasselbe besagt wie ‚das Kollektiv aus τ1 , τ2 , . . . , τN existiert‘; und dass ‚die[se] Φ existieren‘ nicht dasselbe besagt wie ‚das Kollektiv der [bzw. dieser] Φ existiert‘. Gleiches gilt, wenn, statt vom Kollektiv, von der Menge oder der Gruppe aus τ1 , τ2 , . . . , τN gesprochen wird, bzw. von der Menge oder Gruppe der [bzw. dieser] Φ. ‚Kaiser Wilhelm II. und König Arthur existieren‘ ist weder wahr noch falsch (oder anders gesagt: weder dieser Satz noch seine Negation ist wahr). Aber: ‚Das Kollektiv [bzw.: die Gruppe, die Menge] aus Kaiser Wilhelm II. und König Arthur existiert‘ – ist das nun auch ein Satz, der weder wahr noch falsch ist? Wohl nicht; es scheint vielmehr, dass durch den Übergang vom Plural zum Singular nun entweder Wahrheit oder Falschheit vorliegen müsse, das fragliche Kollektiv entweder existieren oder nicht existieren müsse. Man wird sich hier vielleicht für die Nichtexistenz entscheiden; in einem anderen Fall ist eher Existenz angezeigt: Das Kollektiv (die Gruppe, die Menge) der Heiligen existiert, wenn auch manches Mitglied dieses Kollektivs (dieser Gruppe, dieser Menge) nicht existiert (von St. Christophorus dürfte die Nichtexistenz sicher sein). Es existiert somit das Kollektiv der Heiligen, obwohl weder ‚Die Heiligen existieren‘ noch ‚Die Heiligen existieren nicht‘ wahr ist (beide Sätze also weder wahr noch falsch sind; die erfüllte Präsupposition für das Bezugnehmen von ‚die Heiligen‘ steht dem nicht entgegen); denn es ist weder so, dass jeder Heilige existiert (St. Christophorus existiert nicht), noch so, dass jeder Heilige nicht existiert (St. Johannes vom Kreuz existiert). Mithin: Eine Reduktion von Existenzaussagen mit pluralisch-partikularen Termen auf singularisch-partikulare Existenzaussagen ist nicht möglich; sie wird verhindert durch pluralisch-partikulare Terme (ob Listen oder Kennzeichnungsterme),

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die in ihrer gelungenen pluralischen Bezugnahme sowohl auf Existentes als auch auf Nichtexistentes Bezug nehmen. Da das logische Subjekt einer pluralisch-partikularen Existenzaussage im Plural steht,7 unterscheidet sie sich semantisch ganz erheblich von einer singularischpartikularen. Aber auf der Prädikatseite scheint zunächst alles – im Wesentlichen – beim Alten zu bleiben: Wie das singularische Prädikate ‚x existiert‘ drei rein ontologische Deutungen hat, so hat dieselben rein ontologischen Deutungen (nur eben ins Pluralische gewendet) auch das pluralische Prädikat ‚x existieren‘: Es bedeutet so viel wie (1) ‚x sind etwas‘, oder so viel wie (2) ‚x sind etwas Wirkliches‘, oder so viel wie (3) ‚x sind vorhanden‘. Auf den zweiten Blick wird aber klar, dass die Lage nicht ganz so einfach ist. Denn hinter dem Wörtchen ‚sind‘ in (1), (2) und (3) lässt sich die adverbiale Bestimmung ‚jeweils‘, oder aber die adverbiale Bestimmung ‚zusammen‘ einschieben, wodurch der Aussagegehalt erst vervollständigt wird; die fraglichen pluralischen Prädikate sind also an sich ambig. Zwar ist im Falle von ‚x sind vorhanden‘ die Ambiguität (ontologisch) harmlos; denn wenn die So-undso zusammen vorhanden sind, dann sind sie auch jeweils vorhanden, und wenn die So-und-so jeweils vorhanden sind, dann sind sie auch zusammen vorhanden (man beachte: ‚zusammen‘ hat hier nicht Konnotation der Gleichzeitigkeit). Jedoch im Falle von ‚x sind etwas‘ und ‚x sind etwas Wirkliches‘ – und zudem auch im Falle von ‚x sind etwas Vorhandenes‘; denn nur ‚x ist vorhanden‘ und ‚x ist etwas Vorhandenes‘ sind ohne Weiteres Synonyme, nicht auch ‚x sind vorhanden‘ und ‚x sind etwas Vorhandenes‘ – ist die Ambiguität keineswegs harmlos: Zwar dürften die Sound-so, die zusammen etwas bzw. etwas Wirkliches sind, auch immer jeweils etwas bzw. etwas Wirkliches sein; aber sind die So-und-so, die jeweils etwas bzw. etwas Wirkliches sind, auch immer zusammen etwas bzw. etwas Wirkliches? Meine Nase und der Mond (oder auch ich und jener längst verendete Dinosaurier) sind jeweils etwas, sind sogar jeweils etwas [Zu-einer-Zeit-]Wirkliches; aber sind sie denn auch zusammen etwas, gar etwas Wirkliches? Geht man von unbeschränkter mereologischer Kombinierbarkeit aus, so wird man diese Frage bejahen; sonst aber wird man sie verneinen. Nun verhält sich das pluralische Prädikat ‚x existieren‘ gerade so wie ‚x sind vorhanden‘, also wie eines seiner Deutungsprädikate: Wenn die So-und-so zusammen existieren, dann existieren sie auch jeweils, und wenn die So-und-so jeweils existieren, dann existieren sie auch zusammen. Sollen demnach ‚x sind etwas‘ und ‚x sind etwas Wirkliches‘ (und ‚x sind etwas Vorhandenes‘) wie ‚x sind vorhanden‘ für die Deutung von ‚x existieren‘ in Frage kommen, so sind sie in ihrem distributiven Sinn (und nicht in ihrem komprehensiven) zu nehmen, m. a. W.: so zu nehmen, als stünde unmittelbar vor ‚etwas‘ im jeweiligen Prädikat unsichtbar, aber fest als Modifikator installiert das Wörtchen ‚jeweils‘ (und nicht so, als stünde dort im Gegenteil ‚zusammen‘). Das hat den folgenden Effekt, illustriert am Beispiel von ‚x sind etwas‘: Wenn die So-und-so zusammen etwas sind, dann sind sie, wie gesagt, auch jeweils etwas; hinzukommt aber jetzt: Wenn die So-und-so jeweils etwas sind, dann sind 7

Das grammatische Subjekt hingegen kann im Singular stehen, wie in ‚Es gibt die BeneluxLänder‘.

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sie auch zusammen etwas; denn ‚zusammen etwas‘ bedeutet jetzt nur: zusammen jeweils etwas. Das logische Verhalten von ‚x sind etwas‘ wird also, wenn das Prädikat in seinem distributiven Sinn aufgefasst wird, geradeso wie das von ‚x sind vorhanden‘ und vor allem wie das von ‚x existieren‘ – wie es erforderlich ist, wenn ‚x sind etwas‘ ein mögliches Deutungsprädikat von ‚x existieren‘ sein soll. Gleiches gilt für ‚x sind etwas Wirkliches‘ und ‚x sind etwas Vorhandenes‘.

4 Existenz und Nichtexistenz beim generellen Term Eine positive Existenzaussage mit generellem Term liegt vor, wenn ein genereller Term, im Singular oder im Plural, das logische Subjekt zu ‚existiert‘ bzw. ‚existieren‘ (oder deren Synonymen) ist. So sind beispielsweise ‚Ein Gerechter existiert‘, ‚Gerechte existieren‘, ‚Alle Gerechten existieren‘, ‚Etwas Gerechtes existiert‘ und ‚Gerechtes existiert‘ positive Existenzaussagen mit generellem Term – im Kontrast zu ‚Die Gerechtigkeit existiert‘, ‚Der Gerechte existiert‘, ‚Das Gerechte existiert‘, ‚Die Gerechten existieren‘, die positive Existenzaussagen mit partikularem Term sind.8 Beispiele für negative Existenzaussagen mit generellem Term sind hingegen ‚Einhörner existieren nicht‘, ‚Gutes existiert nicht‘, ‚Ein fliegendes Pferd existiert nicht‘. Eine positive Existenzaussage mit generellem Term kann mit einer negativen logisch äquivalent sein: ‚Nichts existiert‘ (was sorgfältig von der folgenden positiven Existenzaussage mit partikularem Term zu unterscheiden ist: ‚Das Nichts existiert‘) und ‚Kein Gott existiert‘ sind zwei Beispiele dafür: Ersterer Satz ist mit ‚Alles existiert nicht‘ logisch äquivalent und letzterer mit ‚Jeder Gott existiert nicht‘. Das grundlegende semantische Faktum zu Existenzaussagen mit generellem Term ist, dass jede von ihnen mit einer Anzahlaussage gleichbedeutend ist, nämlich mit einem Aussagesatz der folgenden allgemeinen Gestalt: ‚Die Anzahl all dessen, was ein existierendes bzw. ein nichtexistierendes Φ ist, ist M-weise N‘, wo für ‚Φ‘ der (passende) generelle Term im Singular einzusetzen ist (das Neutrum mitvertritt hier auch die beiden anderen grammatischen Genera), für ‚M-weise‘ gegebenenfalls eine adverbiale Ergänzung (die jeweils passend ist, etwa ‚nicht‘, ‚mindestens‘, ‚höchstens‘, ‚genau‘, etc.; aber die adverbiale Ergänzung kann auch fehlen) und für ‚N‘ eine Anzahlbestimmung (die jeweils passend ist, etwa ‚1‘, ‚2‘, ‚3‘, usw., oder ‚groß‘, ‚klein‘, ‚unendlich groß‘, ‚sehr groß‘, ‚unabsehbar groß‘, etc.). Hier einige Analysebeispiele: (i)

8

‚Götter existieren nicht‘ in der lectio facilior (die den Plural nicht semantisch ernstnimmt): ‚Die Anzahl all dessen, was ein existierender Gott ist, ist 0‘.

Wie steht es mit ‚Gerechtigkeit existiert‘? Ob dies eine Existenzaussage mit partikularem oder mit generellem Term ist, hängt davon ab, wie in ihr das Wort ‚Gerechtigkeit‘ aufgefasst wird. Ist der fragliche Satz in seinem Äußerungskontext so zu verstehen, dass ‚Gerechtigkeit‘ in ihm salva propositione durch ‚die Gerechtigkeit‘ ersetzbar ist? Wenn ja, dann handelt es sich (im Äußerungskontext) um eine Existenzaussage mit partikularem Term; wenn nein, dann um eine mit generellem Term.

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(ii)

(iii)

(iv) (v) (vi) (vii) (viii) (ix) (x) (xi) (xii) (xiii)

(xiv)

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‚Götter existieren nicht‘ in der lectio difficilior (die den Plural semantisch ernstnimmt): ‚Die Anzahl all dessen, was ein existierender Gott ist, ist höchstens 1‘. ‚Fliegende Fische existieren‘ in der lectio difficilior (die den Plural semantisch ernstnimmt): ‚Die Anzahl all dessen, was ein existierender fliegender Fisch ist, ist mindestens 2 [oder: größer als 1]‘. ‚Etwas Gerechtes existiert‘: ‚die Anzahl all dessen, was ein existierendes Gerechtes ist, ist nicht 0 [oder: ist mindestens 1]‘. ‚Ein Gerechter existiert‘: ‚die Anzahl all dessen, was ein existierender Gerechter ist, ist nicht 0‘. ‚Vieles existiert nicht‘: ‚Die Anzahl all dessen, was ein nichtexistierendes Etwas ist, ist nicht klein‘. ‚Alles existiert‘: ‚Die Anzahl all dessen, was ein nichtexistierendes Etwas ist, ist 0‘. ‚Nichts existiert‘: ‚Die Anzahl all dessen, was ein existierendes Etwas ist, ist 0‘.9 ‚Genau zwei Töchter Obamas existieren‘: ‚Die Anzahl all dessen, was eine existierende Tochter Obamas ist, ist [genau] 2‘. ‚Genau acht Planeten der Sonne existieren‘: ‚Die Anzahl all dessen, was ein existierender Planet der Sonne ist, ist 8‘. ‚Unendlich viele Primzahlen existieren‘: ‚Die Anzahl all dessen, was eine existierende Primzahl ist, ist unendlich groß‘. ‚Jede Meinung existiert‘: ‚Die Anzahl all dessen, was eine nichtexistierende Meinung ist, ist 0‘. ‚Ein fliegendes Pferd existiert nicht‘ in der lectio facilior (die den Satz als generell verneinend liest): ‚Die Anzahl all dessen, was ein existierendes fliegendes Pferd ist, ist 0‘. (Das kontradiktorische Gegenteil ist: ‚Manches fliegende Pferd existiert‘, m. a. W.: ‚Die Anzahl all dessen, was ein existierendes fliegendes Pferd ist, ist nicht 0‘.) ‚Ein fliegendes Pferd existiert nicht‘ in der lectio difficilior (die den Satz als partikular verneinend liest): ‚die Anzahl all dessen, was ein nichtexistierendes fliegendes Pferd ist, ist nicht 0‘. (Das kontradiktorische Gegenteil ist: ‚Jedes fliegende Pferd existiert‘, m. a. W.: ‚die Anzahl all dessen, was ein nichtexistierendes fliegendes Pferd ist, ist 0‘.)

Die beschriebene und durch 14 Beispiele illustrierte Analyse von Existenzaussagen mit generellem Term ist zwar erhellend, bringt aber den im Analysandum (dem 9

Jeder Quantor (von quantoriell verwendetem ‚ein‘ und ‚kein‘ und ‚all‘ einmal abgesehen) ist ein genereller Term. Also sind ‚etwas‘, ‚nichts‘, ‚keine‘, ‚keiner‘, ‚viel‘, ‚vieles‘, ‚viele‘, ‚wenig‘, ‚weniges‘, ‚wenige‘, ‚alles‘, ‚alle‘, ‚jedes‘, ‚jede‘, ‚jeder‘, ‚manches‘, ‚mancher‘, ‚manche‘, ‚einiges‘, ‚einige‘ generelle Terme und können mit ‚existiert‘ bzw. ‚existieren‘ und deren Negationen auch allein für sich eine Existenzaussage bilden. Tritt in einer Existenzaussage ein Quantor allein auf – wie beispielsweise in (vi), (vii) und (viii) –, so ist aber ein zusätzlicher genereller Term, der dem Quantor einen ‚Angriffspunkt‘ gibt, in der Aussage implizit. In (vi), (vii) und (viii) ist es ‚Etwas (überhaupt)‘, wie durch die sächliche Endung der Quantoren angedeutet wird.

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Objekt der Analyse) auftretenden Ausdruck der Existenz bzw. Nichtexistenz beim generellen Term nicht zum Verschwinden; sie eliminiert ihn nicht, sondern transformiert ihn nur, und zwar so, dass im Analysans (dem Ergebnis der Analyse) jener Ausdruck bzw. seine Negation als adjektivische Ergänzung, nähere Spezifizierung des jeweils einschlägigen generellen Terms erscheint. Die beschriebene Analyse von Existenzaussagen mit generellem Term ist folglich keine reduktive. Sie wird allerdings zu einer reduktiven, wenn als Deutung von ‚existierendes‘ im Aussageschema ‚Die Anzahl all dessen, was ein existierendes bzw. ein nichtexistierendes Φ ist, ist M-weise N‘ die rein ontologische Deutung (1) von ‚x existiert‘ (siehe Abschn. 2) gewählt wird. Diese Behauptung bedarf der näheren Erläuterung. Wählt man die rein ontologische Deutung (2) von ‚x existiert‘, so kann ‚existierendes‘ in dem fraglichen analysierenden Aussageschema durch ‚wirkliches‘ ersetzt werden (dort steht dann ‚ein wirkliches bzw. ein nichtwirkliches‘); wählt man die rein ontologische Deutung (3), so kann dort ‚existierendes‘ durch ‚vorhandenes‘ ersetzt werden. Aber ‚wirkliches‘ und ‚vorhandenes‘ eliminieren ‚existierendes‘ nicht eigentlich (nicht syntaktisch und semantisch), wenn auch dieses Wort nach der Ersetzung nicht mehr dasteht: Sie interpretieren es nur, in je verschiedener Weise. Wählt man hingegen die rein ontologische Deutung (1) von ‚x existiert‘, so tritt in der Tat nicht nur Deutung, sondern auch Reduktion ein. Man kann dann ‚existierendes‘ im analysierenden Aussageschema ‚Die Anzahl all dessen, was ein existierendes bzw. ein nichtexistierendes Φ ist, ist M-weise N‘ durch ‚selbstidentisches‘ ersetzen (oder auch durch ‚etwas-seiendes‘, oder auch durch ‚mit-etwas-identisches‘; aber mit dem Adjektiv ‚selbstidentisches‘ lässt sich am flüssigsten die Negativform bilden: ‚nichtselbstidentisches‘) – und dann sieht man sogleich, dass man diese adjektivische Ergänzung von Φ, wenn sie unnegiert ist, auch genauso gut weglassen kann; denn, um welchen generellen Term Φ es sich auch handelt (und sei es der etwas künstliche generelle Term ‚Etwas‘), ein selbstidentisches Φ ist aus rein logischen Gründen nichts anderes – nicht mehr, aber auch nicht weniger – als ein Φ.10 Legt man also die rein ontologische Deutung (1) von ‚x existiert‘ zugrunde, so wird das Aussageschema, durch welches (in dessen Anwendung) die Existenzaussagen mit generellem Term allgemein zu analysieren sind, hierzu: ‚Die Anzahl all dessen, was ein Φ bzw. ein nichtselbstidentisches Φ ist, ist M-weise N‘, und die obigen Analysen (i), (iv), (v) und (xiii), beispielsweise, werden hierzu: Es ist eine logische Wahrheit, dass jedes Φ ein selbstidentisches (etwas-seiendes, mit-etwasidentisches) Φ ist. Erst recht ist es eine logische Wahrheit, dass jedes selbstidentische (etwasseiende, mit-etwas-identische) Φ ein Φ ist. Folglich: Bei Deutung von ‚existierende‘ durch ‚selbstidentische‘ sind hundert existierende Taler zweifelsohne nichts anderes als hundert Taler. Woraus man aber nun nicht etwa folgern kann, dass Kant doch Recht gehabt hätte: „Hundert wirkliche Taler enthalten nicht das mindeste mehr, als hundert mögliche“ (Kant 1968, 532). ‚Wirklich‘ enthält begrifflich (und um Begriffliches geht es hier) mehr als ‚möglich‘; denn zwar ist alles Wirkliche mit logischer Notwendigkeit möglich, aber nicht alles Mögliche ist mit logischer Notwendigkeit wirklich. Deshalb sind hundert wirkliche Taler unausbleiblich hundert mögliche; aber hundert mögliche Taler sind nicht unausbleiblich hundert wirkliche: Die Wirklichkeit kann ihnen abgehen. 10

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(i*)

‚Götter existieren nicht‘ in der lectio facilior: ‚Die Anzahl all dessen, was ein Gott ist, ist 0‘. (iv*) ‚Etwas Gerechtes existiert‘: ‚Die Anzahl all dessen, was ein Gerechtes ist, ist nicht 0‘. (v*) ‚Ein Gerechter existiert‘: ‚Die Anzahl all dessen, was ein Gerechter ist, ist nicht 0‘. (xiii*) ‚Ein fliegendes Pferd existiert nicht‘ in der lectio facilior: ‚Die Anzahl all dessen, was ein fliegendes Pferd ist, ist 0‘.

Es ist ersichtlich: Legt man die rein ontologische Deutung (1) von ‚x existiert‘ zugrunde und betrachtet gewisse Existenzaussagen mit generellem Term im Singular (oder im Plural, der aber nicht semantisch ernstgenommen wird11 ), so hat Frege ganz Recht mit seiner Behauptung, Existenz sei die Verneinung der Nullzahl12 (von etwas) – was logisch äquivalent damit ist, dass Nichtexistenz nun eben die Bejahung der Nullzahl (von etwas) ist.13 Frege hat aber Unrecht mit dieser Behauptung, nimmt man sie so, wie er sie meinte: dass nämlich das Aufgehen in der Verneinung bzw. Bejahung der Nullzahl von allen Existenzaussagen überhaupt, in allen deren Lesarten und bei allen zulässigen Deutungen von ‚existiert‘ bzw. ‚existieren‘ gelte. Selbst wenn wir zunächst bei Existenzaussagen mit generellem Term und der Deutung (1) von ‚x existiert‘ bleiben, so ergibt sich aus der obigen Liste von 14 Beispielanalysen doch bereits eine ganze Reihe von Gegenbeispielen zu der Fregeschen Reduzierbarkeitsbehauptung: (ii*)

‚Götter existieren nicht‘ in der lectio difficilior: ‚Die Anzahl all dessen, was ein Gott ist, ist höchstens 1‘. (iii*) ‚Fliegende Fische existieren‘ in der lectio difficilior: ‚Die Anzahl all dessen, was ein fliegender Fisch ist, ist mindestens 2‘. (ix*) ‚Genau zwei Töchter Obamas existieren‘: ‚Die Anzahl all dessen, was eine Tochter Obamas ist, ist [genau] 2‘. (x*) ‚Genau acht Planeten der Sonne existieren‘: ‚Die Anzahl all dessen, was ein Planet der Sonne ist, ist 8‘.

11

Auch das Umgekehrte kommt vor: Ein genereller Term steht im Singular, hat aber – in der lectio facilior – pluralischen Sinn, was beispielsweise in ‚Einiges Gute existiert‘ der Fall ist. Dessen Analyse ist: ‚Die Anzahl all dessen, was ein existierendes Gutes ist, ist mindestens 2‘, also bei Deutung von ‚existierendes‘ durch das logisch redundante ‚selbstidentisches‘: ‚Die Anzahl all dessen, was ein Gutes ist, ist mindestens 2‘. In diesem Fall hat Frege also schon einmal Unrecht mit seiner (im Haupttext gleich folgenden) Generalbehauptung. Denn Existenz ist hier nicht die Verneinung der Nullzahl. 12 Frege 1934, 65: „Es ist ja Bejahung der Existenz nichts Anderes als Verneinung der Nullzahl.“ 13 Ein besonderer Fall einer negativen Existenzaussage mit generellen Term ist diese: ‚Nichtexistente existieren nicht‘ in der lectio facilior, die den Plural nicht semantisch ernstnimmt. Peter van Inwagen hält (wie so viele Philosophen) die Aussage für wahr, und zwar ganz im Sinne der Fregeschen Deutung der Nichtexistenz (freilich nur was ‚existieren nicht‘ in ihr angeht, nicht etwa auch ‚Nichtexistente‘): „I take a stern anti-Meinongian line about non-existents: non-existents simply don’t exist: the number of them is 0“ (Van Inwagen 2007, 199).

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(xi*) ‚Unendlich viele Primzahlen existieren‘: ‚Die Anzahl all dessen, was eine Primzahl ist, ist unendlich groß‘. Bei (ii*) ist Nichtexistenz die Bejahung der Höchstens-1-Zahl – also nicht die Bejahung der 0-Zahl. Bei (iii*) hinwiederum ist Existenz die Bejahung der Mindestens2-Zahl, bei (ix*) die Bejahung der 2-Zahl, bei (x*) die Bejahung der 8-Zahl, bei (xi*) die Bejahung einer infiniten Zahl – also in keinem dieser Fälle ist Existenz die schlichte Verneinung der 0-Zahl. Betrachten wir schließlich noch die folgenden Analysen von Existenzaussagen mit generellem Term, die sich aus der obigen Vierzehnerliste bei Deutung (1) von ‚x existiert‘ ebenfalls ergeben: (vi*) ‚Vieles existiert nicht‘: ‚Die Anzahl all dessen, was ein nichtselbstidentisches Etwas ist, ist groß‘. (vii*) ‚Alles existiert‘: ‚Die Anzahl all dessen, was ein nichtselbstidentisches Etwas ist, ist 0‘. (viii*) ‚Nichts existiert‘: ‚Die Anzahl all dessen, was ein [selbstidentisches] Etwas ist, ist 0‘. (xii*) ‚Jede Meinung existiert‘: ‚Die Anzahl all dessen, was eine nichtselbstidentische Meinung ist, ist 0‘. (xiv*) ‚Ein fliegendes Pferd existiert nicht‘ in der lectio difficilior: ‚Die Anzahl all dessen, was ein nichtselbstidentisches fliegendes Pferd ist, ist nicht 0‘. In diesen Analysen hat die Deutung (1) von ‚x existiert‘ (die Redundanzdeutung: die einzige Deutung, die im Einklang mit Freges Position ist) zur Folge, dass die Aussage, um die es jeweils geht, entweder als logisch wahr oder als logisch falsch erscheint: Die Existenzaussagen aus (vi*), (viii*) und (xiv*) erscheinen als logisch falsch, die Existenzaussagen aus (vii*) und (xii*) hingegen als logisch wahr. Es sei darauf hingewiesen, dass die ontologisch häretische Sekte der Meinongianer – offenbar unbelehrbar – darauf beharrt, dass die Existenzaussagen aus den Analysen (vii*) und (xii*) entgegen diesen Analysen falsch sind und die Existenzaussagen aus den Analysen (vi*) und (xiv*), diesen letzteren Analysen entgegen, wahr.14 Aber wir müssen nicht Meinongianer sein, um uns, was (xii*) anbetrifft, das Folgende zu fragen: Wäre es denn wirklich logisch wahr, dass jede Meinung existiert, wenn tatsächlich jede Meinung existierte? Schon die kontrafaktisch-konditionale Weise dieser Frage enthüllt, dass wir statt von der logischen Wahrheit dessen, dass jede 14

Einzig bei der Existenzaussage in (viii*) herrscht allgemeiner – Meinongianer und AntiMeinongianer umgreifender – Konsens darüber, dass sie falsch ist. Angesichts dessen, dass jeder Bejaher von ‚Nichts existiert‘ zum Bejahen von ‚Nichts existiert‘ existieren muss, ist das gewiss nicht überraschend. (Siehe außerdem zu ‚Nichts existiert‘ noch Fußnote 17.) Was die (tatsächlich äußerst redlichen und respektablen) Auffassungen Meinongs angeht, ist es immer noch am besten, dessen eigene Schriften zu lesen; für das Thema ‚Existenz‘ ist insbesondere sein Aufsatz ‚Über Gegenstandstheorie‘ einschlägig. Freilich scheint Meinong nicht recht bewusst gewesen zu sein, was Existenz/Nichtexistenz beim partikularen Term von Existenz/Nichtexistenz beim generellen Term unterscheidet; wir lesen: „Um zu erkennen, daß es kein rundes Viereck gibt, muß ich eben über das runde Viereck urteilen“ (Meinong 1988, 8). Das muss ich keineswegs.

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Meinung existiert, davon ausgehen, dass manche Meinung nicht existiert, m. a. W. davon, dass die Anzahl all dessen, was eine nichtexistierende Meinung ist, nicht 0 ist. Dann kann die zugrundeliegende Deutung von ‚x existiert‘ aber nun eben nicht die Deutung (1) sein, sondern sie muss eine andere rein ontologische Deutung dieses Prädikats sein (also entweder dessen Deutung (2) durch ‚x ist etwas Wirkliches‘, oder aber dessen Deutung (3) durch ‚x ist vorhanden‘). Und wir müssen auch nicht Meinongianer sein, um uns, was (vii*) anbetrifft, dies zu fragen: Ist es denn logisch wahr, wie (vii*) es fordert, dass alles existiert? Wenn es so wäre, wie könnten wir uns denn dann noch berechtigterweise darüber wundern, dass gewisse Sachen existieren, wir selbst z. B.?15 Dazu scheinen wir doch rational berechtigt zu sein (wenn es auch wohl durchaus nicht verwunderlich und erklärungsbedürftig ist – entgegen dem, was viele anknüpfend an Leibnizens Frage16 meinen –, dass überhaupt etwas existiert: dass die Anzahl all dessen, was ein existierendes Etwas ist, nicht 0 ist17 ). Ist es nun nicht logisch wahr, dass alles existiert (mithin nicht logisch falsch, dass manches nicht existiert), dann kann die zugrundeliegende Deutung von ‚x existiert‘ nicht die Deutung (1) sein. Die logischen Phänomene zeigen: Existenz ist nicht generell die schlichte Verneinung der Nullzahl, Nichtexistenz ist nicht generell deren schlichte Bejahung, sondern sie sind in nicht wenigen Fällen etwas anderes, als Frege dachte, selbst wenn es nur um Existenz und Nichtexistenz beim generellen Term geht. Die Fregesche Reduzierbarkeitsbehauptung ist in großem Umfang falsch. Völlig scheitert sie nun aber in der Anwendung auf Existenzaussagen mit partikularem Term. Diesem Resultat könnte man von vornherein entgehen, wenn derartige Existenzaussagen einen Verstoß gegen die logische Grammatik, einen logischen Unsinn darstellen würden. Dem widerspricht die logische Phänomenologie aber derart eindeutig, dass man es nicht anders sagen kann: Die These, dass Existenzaussagen mit partikularem Term als logischem Subjekt unsinnig seien (dass nur Existenzaussagen sinnvoll seien, die mit Begriffsausdrücken – generellen Termen – gebildet sind), ist selbst unsinnig. Wie auch sonst in der Wissenschaft kommt es in der philosophischen Sprachkritik darauf an, die Phänomene zu retten, nicht sie zu eliminieren; allzu oft (nicht nur, was Existenz und Nichtexistenz angeht) hat sich die philosophische Sprachkritik (was die ältere Analytische Philosophie durchweg war: Frege, Russell, Wittgenstein, Carnap, Moore, Ryle) an diesen aristotelischen Grundsatz nicht gehalten – zum Schaden der Vernunft. Aber inwiefern scheitert denn die Fregesche Reduzierbarkeitsbehauptung in Anwendung auf Existenzaussagen mit partikularem Term? Soll sie auf singularische solche Existenzaussagen angewendet werden, so muss, zuallererst, ein Aussagesatz der Gestalt ‚τ existiert‘ mit partikularem Term dasselbe besagen wie ein Aussage15

Man beachte, dass in dieser rhetorischen Frage implizit die umgekehrte Barcan-Formel zur Anwendung kommt. 16 Leibniz 1985, 427. 17 Angenommen, nichts existierte; dann würde der Sachverhalt existieren, dass nichts existiert; also würde doch etwas existieren. Durch reductio ad absurdum des Gegenteils ist also beweisbar: Etwas existiert.

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satz der Gestalt ‚Mit τ Identisches existiert‘ (steht ‚τ‘ für einen partikularen Term im Singular, so steht ‚mit τ Identisches‘ – oder an dessen Stelle: ‚ein mit τ Identisches‘, ‚etwas mit τ Identisches‘ – für einen generellen Term im Singular). Die fragliche Bedeutungsgleichheit ist aber zuzugeben, und damit auch die Korrektheit der Analyse von ‚τ existiert‘ (wo τ ein partikularer Term ist) durch ‚Die Anzahl all dessen, was ein existierendes mit τ Identisches ist, ist nicht 0‘ – woraus dann bei Deutung von ‚existierendes‘ durch ‚selbstidentisches‘ schließlich wird: ‚Die Anzahl all dessen, was ein mit τ Identisches ist, ist nicht 0‘. Und in diesem Sinne mag ja nicht selten ein positiver singularischer Existenzsatz mit partikularem Term sehr wohl gemeint sein. Aber doch nicht immer: Mit „Ich existiere“ kann nicht gemeint sein, dass die Anzahl all dessen, was ein mit mir Identisches ist, nicht 0 ist. Denn dieser Anzahlsachverhalt ist logisch notwendig; dass ich existiere, ist hingegen gewiss nicht logisch notwendig. Und mit ‚Diese Welt existiert‘ kann nicht gemeint sein, dass die Anzahl all dessen, was ein mit dieser Welt Identisches ist, nicht 0 ist. Denn dieser Anzahlsachverhalt ist ebenfalls logisch notwendig; dass diese Welt existiert, ist hingegen gewiss nicht logisch notwendig. Was nun pluralische Existenzaussagen mit partikularem Term angeht, so ist unmittelbar ersichtlich, dass Existenz dort nicht die Verneinung der Nullzahl sein kann und die Fregesche Reduzierbarkeitsbehauptung für solche Aussagen durchweg falsch ist. ‚Merkur, Venus und Erde existieren‘ beispielsweise besagt nicht, dass die Anzahl all dessen, was ein existierendes mit Merkur oder Venus oder Erde Identisches ist, nicht 0 ist; logisch hinreichend für die Wahrheit jenes Satzes ist vielmehr erst, dass die Anzahl all dessen, was ein nichtexistierendes mit Merkur oder Venus oder Erde Identisches ist, 0 ist. Folgerichtig besagt ‚Merkur, Venus und Erde existieren‘ nicht das, was im Sinne der Fregeschen Reduzierbarkeitsbehauptung wäre, nämlich dass die Anzahl all dessen, was ein mit Merkur oder Venus oder Erde Identisches ist,18 nicht 0 ist. (Es ist außerdem für die Wahrheit des fraglichen Satzes auch nicht logisch hinreichend, dass die Anzahl all dessen, was ein nichtselbstidentisches19 mit Merkur oder Venus oder Erde Identisches ist, 0 ist. Denn dieser Anzahlsachverhalt ist logisch notwendig; dass Merkur, Venus und Erde existieren, ist dagegen, dem üblichen Verständnis nach, nicht logisch notwendig.) Auch ‚Zeus, Hera und Athene existieren nicht‘ besagt nicht das, was im Sinne der Fregeschen Reduzierbarkeitsbehauptung wäre: dass die Anzahl all dessen, was ein mit Zeus oder Hera oder Athene Identisches ist, 0 ist; denn das ist logisch falsch, während der fragliche, zu analysierende Satz nicht logisch falsch ist (sondern wahr). Allerdings ist logisch hinreichend für die Wahrheit von ‚Zeus, Hera und Athene existieren nicht‘, dass die Anzahl all dessen, was ein existierendes mit Zeus oder Hera oder Athene Identisches ist, 0 ist – wo ‚existierendes‘ aber nicht im Sinne von ‚selbstidentisches‘ (und folglich als etwas logisch Redundantes) gelesen werden darf (sehr wohl jedoch im Sinne von ‚wirkliches‘ oder ‚vorhandenes‘). 18

Hierin ist ‚existierendes‘ wegen seiner vorausgesetzten Deutung durch ‚selbstidentisches‘ (wodurch es logisch redundant wird) weggelassen. 19 Hier tritt ‚nichtselbstidentisches‘ deutend für ‚nichtexistierendes‘ ein; die konkurrierenden (und tatsächlich allein plausiblen Deutungen) sind die durch ‚nichtwirkliches‘ und ‚nichtvorhandenes‘.

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Manchem Denker will es scheinen, dass zumindest für Existenzaussagen mit einem partikularen Term, der ein singularischer Kennzeichnungsterm ist, eine Reduzierbarkeit auf Existenzaussagen mit generellem Term bestehe. So meint Kripke, dass ‚Dasjenige Etwas, was ein Φ ist, existiert‘ einfach bedeute, dass die Anzahl all dessen, was ein Φ ist, [genau] 1 ist;20 womit sich klassisch-logisch ergibt, dass ‚Dasjenige Etwas, was ein Φ ist, existiert nicht‘ bedeutet, dass die fragliche Anzahl nicht 1 ist. Freilich ist diese Bedeutungsanalyse mit dem Präsuppositionsprinzip für Kennzeichnungsterme (siehe Abschn. 3) unvereinbar (wonach z. B. ‚Das runde Quadrat existiert nicht‘ ebenso wie ‚Das runde Quadrat existiert‘ nicht wahr ist, und zwar ausgerechnet deshalb, weil die Anzahl all dessen, was ein rundes Quadrat ist, nicht 1 ist – sondern 0). Doch auch unter Voraussetzung der klassischen Logik, die, idealsprachlich orientiert, nicht zulässt, dass ein Aussagesatz und seine Negation nicht wahr ist, ist die fragliche Bedeutungsanalyse unvereinbar – ohne jeden Meinongianismus – mit der Überzeugung von Kripke (und von Quine und David Lewis), dass alles existiert21 : Wenn alles existiert, dann muss ja z. B. auch der Sohn Wittgensteins (dasjenige Etwas, was ein Sohn Wittgensteins ist) existieren – der aber gemäß Kripkes Bedeutungsanalyse nicht existiert, weil die Anzahl all dessen, was ein Sohn Wittgensteins ist, nicht 1 ist; dann muss auch das runde Quadrat existieren – welches aber nicht existiert, weil die Anzahl all dessen, was ein rundes Quadrat ist, nicht 1 ist, ja nicht 1 sein kann. Der Preis für die fragliche begrenzte Reduzierbarkeit von Existenzaussagen mit partikularem Term auf Existenzaussagen mit generellem Term wäre also die Preisgabe der klassischen Logik mindestens in dem Grade, dass aus ‚Alles Φt‘ nicht mehr ‚τ Φt‘ (für beliebige singularisch-partikulare Terme τ) logisch folgt. Das mag einen nicht sonderlich stören; maßgeblicher ist denn auch das Folgende: Dass die Anzahl all dessen, was ein Φ ist, genau 1 ist, dürfte tatsächlich immer logisch notwendig dafür sein, dass dasjenige Etwas, was ein Φ ist, existiert (egal wie ‚existiert‘ gedeutet wird); es ist aber nicht immer logisch hinreichend dafür: Die Anzahl all dessen, was ein mit dem Sachverhalt, dass ich niemals lebe, Identisches ist, ist genau 1; aber dasjenige Etwas, was ein mit dem Sachverhalt, dass ich niemals lebe, Identisches ist – kurz: der Sachverhalt, dass ich niemals lebe – existiert dennoch nicht (ich lebe ja). Offensichtlich wurde ‚x existiert nicht‘ gerade eben im Sinne von ‚x ist nicht etwas Wirkliches‘ aufgefasst (welcher Auffassung Meinong, übrigens, durchweg war). Was nun mit dem Prädikat ‚x ist etwas Wirkliches‘ und mit dessen Verneinung gemeint ist, ist hier weitgehend ungeklärt geblieben und muss es hier bleiben. Aber mit der Philosophie des Wirklichseins nimmt die Philosophie der Existenz erst ihren eigentlichen Anfang.22

20

Kripke 2013b, 323. Kripke 2013a, 55; Quine 2004, 177; Lewis 1999, 162–163. 22 Auf das Wirklichsein gehen ausführlich ein: Meixner 1997 und Meixner 2010. 21

Die logische Phänomenologie der Existenzaussagen

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Literatur Frege, Gottlob: Die Grundlagen der Arithmetik. Eine logisch mathematische Untersuchung über den Begriff der Zahl. Breslau 1934. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. In: Werkausgabe, Bd. III und IV. Hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1968. Kripke, Saul: Vacuous Names and Fictional Entities. In: Ders.: Philosophical Troubles. Collected Paper, Bd. I. Oxford 2013a, 52–74. Kripke, Saul: Unrestricted Exportation and Some Morals for the Philosophy of Language. In: Ders.: Philosophical Troubles. Collected Paper, Bd. I. Oxford 2013b, 322–350. Kutschera, Franz von/Breitkopf, Alfred: Einführung in die moderne Logik. Freiburg/München 5 1985. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Principes de la nature et de la grâce, fondés en raison / In der Vernunft begründete Prinzipien der Natur und der Gnade. In: Ders.: Kleine Schriften zur Metaphysik. Hg. von Hans Heinz Holz. Darmstadt 1985, 414–438. Lewis, David: Noneism or Allism? In: Ders.: Papers in Metaphysics and Epistemology. Cambridge 1999, 152–163. Meinong, Alexius: Über Gegenstandstheorie. In: Ders.: Über Gegenstandstheorie. Selbstdarstellung. Hg. von Josef M. Werle. Hamburg 1988, 1–51. Meixner, Uwe: Ereignis und Substanz. Die Metaphysik von Realität und Realisation. Paderborn 1997. Meixner, Uwe: Modelling Metaphysics. The Metaphysics of a Model. Heusenstamm 2010. Meixner, Uwe: Metaphysik und Logik – Zum Begriff der Existenz. In: Peter Klimczak/Thomas Zoglauer (Hg.): Logik in den Wissenschaften. Münster 2017, 43–60. Quine, Willard Van Orman: On What There Is. In: Ders.: Quintessences. Basic Readings from the Philosophy of W. V. Quine. Hg. von Roger F. Gibson, Jr. Cambridge, Mass. 2004, 177–192. Van Inwagen, Peter: A Materialist Ontology of the Human Person. In: Peter van Inwagen/Dean Zimmerman (Hg.): Persons: Human and Divine. Oxford 2007, 199–215.

Existenz und Quantifikation Dolf Rami

In diesem Aufsatz möchte ich mich mit dem Verhältnis von Existenz und Quantifikationen beschäftigen. Oft wird die Bestimmung dieses Verhältnis auf die Frage heruntergebrochen, ob der partikuläre Quantor als ein Existenzquantor interpretiert werden soll oder nicht, der im Anschluss an Frege, Russell und Quine für eine Eigenschaft der Existenz von Begriffen von Dingen steht. De facto ist diese Betrachtungsweise aber viel zu kurz gegriffen. Ich werde vier Positionen gegenüberstellen, die das Verhältnis von Existenz und Quantifikation in unterschiedlicher Weise bestimmen. Daran anschließend werde ich mich mit den Vor- und Nachteilen dieser Auffassungen auseinandersetzen und für eine Auffassung stark machen, die von sogenannten adaptiven Quantoren Gebrauch macht.

1 Das Verhältnis von Existenz und Quantifikation: Drei wichtige Unterscheidungen Das Hauptthema dieser Abhandlung ist das Verhältnis von Existenz und Quantifikationen. Ich möchte mich der Einfachheit halber hier auf partikuläre und universelle Quantifikationen beschränken, d. h. auf Quantifikationen wie ‚Mindestens ein Ding ist grün‘ und ‚Alle Menschen sind sterblich‘ und allen, die diesen beiden Beispielen in der Art entsprechen. Worum geht es bei der Frage nach dem Verhältnis von Quantifikationen und Existenz genau? Es bestehen mehrere Möglichkeiten eine semantische Beziehung zwischen Quantifikationen und Existenzaussagen herzustellen. Oft wird dieses Verhältnis aber auf die Frage verkürzt oder zugespitzt, ob der partikuläre Quantor im Rahmen der Prädikatenlogik erster Stufe als Existenzquantor aufgefasst werden soll oder nicht. Diese Zuspitzung ist auf den Einfluss von Quine zurückzuführen, der D. Rami () Ruhr-Universität Bochum Bochum, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Luckner, S. Ostritsch (Hrsg.), Philosophie der Existenz, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04880-6_6

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D. Rami

selbst unter dem Einfluss von Russell und Frege davon ausgegangen war, dass der partikuläre Quantor nichts anders als ein Existenzquantor sein kann. Wie dies aus der folgenden Passage hervorgeht: „The so-called existential quantifier ‘(9x)’ corresponds to the words ‘there is something x such that’. Application of ‘(9x)’ to the expression: (1) x is a book. x is boring in the fashion: (2) (9x)(x is a book. x is boring) is called existential quantification of (1). [..] To say that (2) is true is to say that there is at least one object in the universe such that, when ‘x’ in (1) is thought of as naming it, (1) becomes true. Thus (2) goes into words fairly literally as: (3) There is something such that it is a book and it is boring[.]“ (Quine 1950, 83)

In späteren Werken hat sich Quine auch mit einer substitutionellen Interpretation von Quantoren beschäftigt und eingeräumt, dass der partikuläre Quantor nicht zwingend ein Existenzquantor sein muss.1 Dennoch hielt er an der Auffassung fest, dass ein referentiell interpretierter partikulärer Quantor, wie er im Zitat beschrieben wird, zwingend ein Existenzquantor ist.2 Diese Auffassung ist falsch, da die referentielle Semantik für Quantoren völlig neutral ist in Bezug auf eine existentielle Deutung des partikulären Quantors. Die von Tarski in die Diskussion eingeführte referentielle Standard-Semantik für partikuläre Quantoren lässt sich wie folgt kurzfassen, wenn man von einer Bewertungsfunktion Β (die Sätzen Wahrheitswerte zuordnet) einer Interpretationsfunktion (die Prädikaten und Konstanten semantische Werte aus dem Diskursuniversum D zuordnet) und eine Belegungsfunktion δ unterscheidet (die Variablen Objekte aus D als Werte zuordnet): (PQT) Β=D;•D (9’®) = W gdw. es mindestens ein Belegung δ D gibt, die sich von δD höchstens darin unterscheidet was sie α zuordnet, für die gilt: Β=D;• D (φ) = W. D. h. eine einfache partikuläre Quantifikation der logischen Form ‚9xFx‘ erhält bspw. dieser Auffassung zufolge den Wahrheitswert des Wahren, wenn es im Bereich D, über den quantifiziert wird, mindestens ein Objekt gibt, welches auch Element der Extension des Prädikats ‚F‘ ist. Die Belegungsfunktion erlaubt und ermöglicht es uns, über alle Objekte im Diskursbereich D zu quantifizieren. Die 1 2

Vgl. Quine 1974. Vgl. Quine 1948; 1950; 1960; 1974.

Existenz und Quantifikation

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Erfüllung dieser Wahrheitsbedingungen hat prima facie keinen zwingenden Zusammenhang mit dem Zutreffen des Begriffs der Existenz auf Objekte oder Begriffe.3 Unterschiedliche mögliche metasprachliche Zusatzannahmen sind notwendig, um einen solchen Zusammenhang zu etablieren. Dabei sind zwei ganz unterschiedliche Möglichkeiten denkbar.

1.1 Die existentielle Interpretation von partikulären Quantoren Die erste Möglichkeit geht auf Ideen von Frege, Russell und Quine zurück und besteht in einer Interpretation des partikulären Quantors, die von der folgenden zusätzlichen metasprachlichen Annahme ausgeht: (KIP) Das Fallen eines Gegenstandes in die Extension des Prädikats ‚F‘ ist notwendig und hinreichend für die Existenz von Fs (oder dafür, dass es Fs gibt). Diese zusätzliche Annahme beinhaltet die Auffassung von Existenz als einer Eigenschaft von Begriffen oder Eigenschaften von Individuen, die im Gegensatz zu einer Auffassung von Existenz als Eigenschaft von Individuen steht. Dieser Konzeption zufolge ist der partikuläre Quantor und seine entsprechenden Gegenstücke in natürlichen Sprachen ein expressives Mittel, um den besagten Begriff der Existenz zweiter Stufe auszurücken. Genau diese Auffassung wird in dem oben angeführten Zitat von Quine beschrieben. Eine Verbindung zwischen Quantifikation und Existenz, welche sich durch eine Kombination von (PQT) und (KIP) ergibt, hat eine Konzeption der existentiellen Interpretation des partikulären Quantors zur Folge.

1.2 Die existentielle Ladung von partikulären Quantoren Die zweite Möglichkeit auf der Grundlage von (PQT) einen Zusammenhang zwischen Quantifikationen und Existenz herzustellen ergänzt die Semantik (PQT) durch die folgende alternative metasprachliche Annahme bzw. Restriktion: (IBP) Das Diskursuniversum D = die Menge aller existierenden Gegenstände. Dadurch setzt man in der Metasprache fest, dass nur existierende Gegenstände Element des Diskursuniversum sein können. Quantoren, die mittels D auf der Grundlage von (PQT) definiert werden, können damit ausschließlich über existierende Gegenstände quantifizieren. Zur Unterscheidung der Kombination von (PQT) mit (KIP) möchte ich die Kombination aus (PQT) und (IBP) als eine Konzeption der existentiellen Ladung von partikulären (und universellen) Quantoren nennen. Der Begriff der existentiellen Ladung von Quantoren geht, soweit ich weiß, auf Routley

3

Vgl. Priest 2005; 2009; 2016.

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zurück, der diesen in seinen Schriften verwendet, um die besagte Kombination aus (PQT) und (IBP) unteren einen Begriff zu fassen. Routley verwendet diesen Begriff der existentiellen Ladung in dem folgenden Zitat in der exakt gleichen Weise wie ich: „Quine’s message is a plea to have us restrict quantifiers to existentially-loaded ones; for it is true that ‘Cerberus’ does not name anything existent. There are excellent reasons, however, for ignoring such pleas, for not so limiting quantificational apparatus. Nor does the removal of existential restrictions involve any of the mistakes Quine imagines he finds in taking nonentities in the domain of quantifiers or as named[.]“ (Routley 1980, 413)

Routley hat noch auf einen weiteren wichtigen Punkt hingewiesen. Man kann die beschriebene Einschränkung oder Ladung von Quantifikationen offenbar auch im Rahmen der Objektsprache erzielen, indem man in der Objektsprache einen existentiell restringierten Quantor definiert: „Just as existentially-loaded quantifiers can be defined in neutral quantification logic with existence – only they satisfy the more liberal free logic, and not classical logic, except where domains are existentially-restricted[.]“ (Routley 1980, 199)

D. h. eine Option besteht darin, (PQT) als Grundlage zu wählen und den Bereich D so zu interpretieren, dass alle denkbaren Arten von Gegenständen als Elemente prinzipiell erlaubt sind. Vor diesem Hintergrund könnte man dann in der Objektsprache einen zweiten Satz von Quantoren definieren, die auf existierende Gegenstände eingeschränkt werden. Diese Quantoren wäre dann auch in einem gewissen Sinne existentiell geladen. Meiner Ansicht nach besteht aber zwischen diesem objektsprachlichen Fall und dem zuvor beschriebenen metasprachlichen Fall ein gravierender Unterschied. Im metasprachlichen Fall sind die Quantoren in einer substantiellen Weise existentiell geladen. Das heißt, es wird in der Metasprache stipuliert, dass die Quantoren existentiell geladen sind. Damit wird aus begrifflichen Gründen ausgeschlossen, dass es Quantoren geben kann, die nicht-existentiell geladen sind. Es handelt sich bei der so interpretierten Version von (PQT) um die allgemein möglichsten Quantoren. Bei der objektsprachlichen Version ist die Restriktion des Bereichs von bestimmten Quantoren auf existierende Dinge einerseits relativ willkürlich. Man hätte auch alternativ ein Set von Quantoren einführen können, die auf alle abstrakten Dinge beschränkt sind. Darüber hinaus sind diese existentiell eingeschränkten Quantoren nicht die fundamentalsten Quantoren, die es gibt. Es ist daher ratsam zusätzlich zwischen einer substantiellen und einer willkürlichen existentiellen Ladung der Quantoren zu unterscheiden.4

4

Alternativ könnte man auch zwischen existentiell geladenen und existentiell eingeschränkten Quantoren unterscheiden.

Existenz und Quantifikation

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1.3 Existentielle logische Implikationen von partikulären Quantifikationen Es gibt allerdings auch noch eine dritte Möglichkeit eine Beziehung zwischen Existenz und Quantifikationen herzustellen, die auf einer logisch schwächeren These als der der existentiellen Ladung basiert. Das heißt, die besagte Konzeption der existentiellen Ladung impliziert diese dritte Eigenschaft, aber umgekehrt kann sich diese dritte Eigenschaft auch ohne existentielle Ladung ergeben. Das ist eine Konzeption, die bereits lange vor der oben diskutierten existentiellen Beschränkung der Quantoren in der Diskussion war und die allgemeinere Frage betrifft, inwiefern universelle und partikuläre Quantifikationen bestimmte Existenzaussagen logisch implizieren. Was auf der Basis von Quines Auffassung keine sinnvolle Frage ist, lässt sich, wenn man die Option der zuvor eingeführten liberaleren und neutraleren Deutung des Diskursuniversums D als möglich zulässt, aber sinnvoll diskutieren. Bis ins 19. Jahrhundert war eine solche neutrale Deutung von D die gängige Auffassung unter Philosophen. Erst Ende des 19. Jahrhundert wurde diese Neutralität zumindest in Frage gestellt oder diskutiert, wie die folgenden beiden Zitate u. a. belegen: „The simplest way perhaps of introducing the subject now to be discussed is by raising the question whether, when we utter the proposition ‘All X is Y’, we either assert or imply that there are such things as X or Y, that is, that such things exist in some sense or other? Or again, when we state the proposition ‘All X is all Y’; here is a proposition with somewhat more of predication involved in it, does it make more, or more precise, implication as to this particular point of there being any X or Y?“ (Venn 1881, 126–127) „An assertion confined to ‘some’ of a class generally rests upon observation or testimony rather than on reasoning or imagination, and therefore almost necessarily postulates existent data, though the nature of this observation and consequent existence is, as already remarked, a perfectly open question.“ (Venn 1881, 131)

Diese beiden Zitate werfen die Frage auf, ob wir immer, wenn wir ‚Alle F sind G‘ oder „Einige F sind G“ behaupten, auch gleichzeitig behaupten ‚Es gibt Fs und Gs‘ (oder ‚Fs und Gs existieren‘) oder dies zumindest logisch ableiten können. Diese Frage betrifft somit u. a. die existentiellen logischen Implikationen von universellen und partikulären Quantifikationen. Darauf werden wir uns im Folgenden fokussieren. Man muss hier allerdings verschiedene Teilaspekte dieser Frage auseinanderhalten. In der klassischen Aristotelischen Logik folgt aus ‚Alle F sind G‘, ‚Einige F sind G‘, weil der Fall, dass nichts F ist, nach der damit verbunden Analyse von ‚Alle F sind G‘, nicht zur trivialen Wahrheit einer solchen Aussagen führt, sondern zu ihrer Falschheit. Setzt man dieses Verhältnis zwischen ‚Alle F sind G‘ und ‚Einige F sind G‘ voraus, dann lässt sich die für uns relevante Frage auf die Frage herunterbrechen, ob ‚Einige F sind G‘ immer ‚Es gibt Fs und Gs‘ (oder ‚Fs und Gs existieren‘) logisch impliziert. Denn im Rahmen dieser Logik impliziert ja ‚Alle F sind G‘ stets ‚Einige F sind G‘ und die Allaussage erbt somit die betreffenden Eigenschaften von ‚Einige F sind G‘.

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D. Rami

In der klassischen modernen Logik folgt aus ‚Alle F sind G‘ niemals ‚Einige F sind G‘. In diesem Sinn lässt sich die Frage nach den existentiellen Implikationen von universellen Generalisierungen nicht auf die Frage nach den existentiellen Implikationen von partikulären Generalisierungen herunterbrechen. In Bezug auf partikuläre Quantifikationen bleibt die Frage aber auch auf dieser Grundlage unverändert dieselbe. In Bezug auf ‚Alle F sind G‘ könnte man bei Bedarf die Frage leicht umformulieren, sie würde dann lauten: Folgt aus ‚Alle F sind G‘ logisch immer ‚Alle existierenden F sind G‘. Auf dieser Grundlage kann man also die für uns einschlägige Fragestellung an die beiden unterschiedlichen klassischen Semantiken von universellen Generalisierungen anpassen. Darüber hinaus ist noch zu beachten, dass es neben binären Quantifikationen wie ‚Alle F sind G‘, die vor allem bis ins 19. Jahrhundert den Hauptfokus der logischen Analyse von Quantifikationen darstellten, auch noch monadische Quantifikationen gibt. Es bietet sich daher an, die ursprüngliche Fragestellung um die Detailfrage zu ergänzen, ob aus ‚Alles ist F‘ und ‚Etwas ist F‘ immer logisch folgt, dass es Fs gibt (oder dass Fs existieren). In diesem Zusammenhang gilt sowohl auf der Grundlage der klassischen Aristotelischen als auch der klassischen modernen Logik, dass ‚Alles ist F‘ logisch ‚Etwas ist F‘ impliziert. Im Rahmen der freien Logik gilt das allerdings nicht mehr. ‚Alles ist F‘ kann trivial wahr sein, wenn es gar keine Gegenstände gibt; dann ist ‚Etwas ist F‘ allerdings falsch. Auf der Grundlage der freien Logik gibt es also bereits eine klare Antwort auf unsere Frage in Bezug auf universelle Generalisierungen. Sowohl monadische als auch binäre universelle Generalisierungen können trivial wahr sein, wenn es überhaupt keine Gegenstände geben würde. Vor diesem Hintergrund können diese Generalisierungen logisch gesehen keine Existenzsätze der angeführten Arten implizieren. Dennoch lässt die Frage in Bezug auf partikuläre Generalisierungen im Rahmen der freien Logik immer noch sinnvoll stellen. Das interessante an der gerade beschriebenen möglichen Eigenschaft von Quantifikationen, dass diese bestimmte Existenzaussagen implizieren können, besteht nun darin, dass es mindestens drei unterschiedliche Gründe geben kann, warum diese Implikationen bestehen können oder nicht. Die erste Möglichkeit basiert auf einer existentiellen Interpretation der Quantoren. Sätze der Form ‚Etwas ist F‘ und ‚Fs existieren‘ haben auf dieser Basis dieselbe logische Form und implizieren sich daher in logisch trivialer Weise gegenseitig. Die zweite Möglichkeit ergibt sich auf der Grundlage einer (substantiellen) existentiellen Ladung der Quantoren. Wenn der Bereich der Quantoren auf existierende Gegenstände eingeschränkt ist, dann implizieren partikuläre Quantifikationen in allen drei erwähnten logischen Semantiken bestimmte Existenzaussagen. Genauer gesagt: Ein Satz wie ‚Einige F sind G‘ impliziert dann ‚Es existieren Fs und Gs‘ und ein Satz wie ‚Etwas ist F‘ impliziert dann ‚Fs existieren‘. Das heißt, dass sich auf der Basis einer existentiellen Ladung der Quantoren die besagten existentiellen Implikationen von Quantifikationen zwangsläufig ergeben. Es gibt aber noch eine dritte wenig beachtete Möglichkeit, diese existentiellen Implikationen auf der Basis nicht-geladener Quantoren zu erzielen: Wenn man nämlich zwischen Existenz-implizierenden Prädikaten und Existenz-neutralen Prä-

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dikaten unterscheidet.5 Existenz-implizierende Prädikate sind Prädikate, die aus semantischen Gründen ausschließlich auf existierende Dinge zutreffen können, und somit deshalb, wenn sie auf etwas zutreffen automatisch die Existenz dieses Gegenstandes implizieren. Prädikate, die nicht Existenz-implizierenden sind, können auch auf nicht-existierende Gegenstände zutreffen. In diesem Sinn impliziert das Zutreffen eines solchen Prädikats auf einen Gegenstand nicht dessen Existenz. Welche Eigenschaft macht ein Prädikat zu einem Existenz-implizierenden? Meiner Ansicht nach gibt es eine klare semantische Antwort auf diese Frage: Nur rein extensionale Prädikate (oder solche Prädikate, deren Auswertung auf die aktuale Welt festgelegt ist) sind Existenz-implizierende Prädikate. Das sind Ausdrücke wie ‚ist ein Mensch‘, ‚schlägt‘, ‚liegt zwischen‘ oder ‚ist ein wirklicher Detektiv‘. Wenn diese Ausdrücke in wörtlicher und unmodifizierter Weise auf Gegenstände angewendet werden, dann können sie nur auf existierende (oder wirkliche) Gegenstände zutreffen. Natürlich können solche Prädikate durch modifizierende Adjektive so verändert werden, dass sie auch auf nicht-existierende Gegenstände zutreffen können. Das heißt, es besteht ein entscheidender Unterschied zwischen ‚ist ein Mensch‘ und ‚ist ein denkbarer Mensch‘ oder ‚ist ein fiktiver Mensch‘, wenn alle diese Prädikate wörtlich gebraucht werden. Die letzteren beiden Prädikate können auf nicht-existierende Dinge zutreffen. Wobei hier auch noch ein wesentlicher Unterschied besteht: Das Prädikat ‚ist ein fiktiver Mensch‘ kann ausschließlich auf nicht-existierende Gegenstände zutreffen, während der Ausdruck ‚ist ein denkbarer Mensch‘ sowohl auf existierende als auch nicht-existierende Gegenstände zutreffen kann. In Bezug auf nicht-extensionale Prädikate können wir mindestens zwei Arten von Prädikaten unterscheiden; nämlich intensionale und hyper-intensionale. Intensionale Prädikate können nur auf mögliche Dinge zutreffen, in unterschiedlichen Sinnen von Möglichkeit, und implizieren daher auch zumindest mögliche Existenz in dem jeweiligen einschlägigen Sinn. Hyper-intensionale Prädikate implizieren weder wirkliche noch mögliche Existenz. Als Beispiele für intensionale Prädikate können die Ausdrücke ‚ist ein möglicher Gegenstand‘ und ‚ist ein realisierbares Auto‘ angeführt werden; als Beispiele für hyper-intensionale Prädikate, die Ausdrücke ‚wird gefürchtet‘ und ‚ist ein fiktiver Detektiv‘.6 Wir können somit die folgenden drei Arten von Prädikaten unterscheiden: (a) extensionale (und aktualisierte) Prädikate, die Existenz und (metaphysisch) mögliche Existenz implizieren; (b) intensionale Prädikate, die ausschließlich mögliche Existenz (in einem bestimmten Sinn) implizieren; (c) hyper-intensionale Prädikate, die weder mögliche noch wirkliche Existenz implizieren. Das ist mein eigener Vorschlag Existenz-implizierende Prädikate von Existenzneutralen Prädikaten zu unterscheiden. Es handelt sich dabei um einen semantischen Vorschlag, der auf semantischen Eigenschaften von Prädikaten basiert. An5

Vgl. Priest 2005, 59–61; 2016, 235, 246. Relationale Ausdrücke wie ‚x fürchtet y‘ sind gemischte Prädikate, weil sie bezüglich der ersten Argumentstelle extensional sind, aber bezüglich der zweiten Stelle hyper-intensional sind. Vgl. Priest 2005, 60. 6

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dere Vorschläge sind denkbar. Bspw. könnte man die Auffassung vertreten, dass nur Prädikate, die raumzeitliche Eigenschaften von raumzeitlichen Gegenständen ausdrücken, Existenz-implizierend sind und alle anderen Prädikate das nicht sind.7 Das wäre eine metaphysische Version dieser Unterscheidung. Andere Möglichkeiten sind denkbar. Ich werde auf die Vorzüge meines semantischen Ansatzes noch später zurückkommen. Nimmt man nun die vorgeschlagene Art, diese Unterscheidung zu ziehen, als Grundlage, dann ist es so, dass in einer rein extensionalen Sprache, die nur extensionale Prädikate enthält, alle partikulären Generalisierungen auf der Basis aller drei angeführten Semantiken existentielle Implikationen haben. In dieser Hinsicht ist eine solche Sprache äquivalent zu einer rein extensionalen Sprache, die existentiell geladene Quantoren enthält. Diese Sprachen werden aber unterschiedlich, sobald man sie durch nicht-extensionale Prädikate erweitert. Vor diesem Hintergrund ist es insgesamt wichtig, drei unterschiedliche Quellen dafür zu unterscheiden, warum partikuläre Quantifikationen existentielle Implikationen haben: (i) weil sie existentiell interpretiert sind und ‚Etwas ist F‘ somit dasselbe bedeutet wie ‚Fs existieren‘, (I) weil sie existentiell geladen sind, oder (ii) weil sie existenz-implizierende Prädikate enthalten. Die Eigenschaft von (partikulären) Quantifikationen, existentielle Implikationen der Form ‚Φs existieren‘ zu haben, liefert somit den größten gemeinsamen Nenner für eine interessante inhaltliche Beziehung zwischen Quantifikationen und generellen Existenzaussagen. Diese Eigenschaft kann sich aber aus mindestens drei unterschiedlichen semantischen Quellen speisen. Es ist wichtig, diese drei unterschiedlichen Quellen klar und strikt zu unterscheiden.

1.4 Adaptive Quantoren und existentielle Implikationen Abschließend möchte ich noch auf eine wichtige Variante einer Sprache mit Quantoren hinweisen, die Existenz-implizierende Prädikate enthält und eine besondere Art von Quantoren. Wir hatten bis dato zwei solcher Sprachen unterschieden: (i) Sprachen mit Existenz-implizierenden Prädikaten und existentiell geladenen Quantoren, (ii) Sprachen mit Existenz-implizierenden Prädikaten und neutralen und daher nicht existentiell geladenen Quantoren. Neben diesen beiden Möglichkeiten gibt es noch eine interessante dritte Möglichkeit, die im Rahmen der Logik der Spätscholastik eine sehr verbreitete Auffassung war und in dem folgenden Zitat von Buridan schön veranschaulicht wird: „[. . . ] a term put before the verb ‘can’ or before the copula of a proposition about possibility [de possibili] in the divided sense is ampliated to stand for possible things, even if they do not and did not exist. Therefore the proposition ‘A golden mountain can be as large as Mont Ventoux’ is true. [. . . ] a term is ampliated to past, future, and possible things if it is construed with a verb signifying an act of the cognitive soul, whether the term is before or

7

Vgl. Priest 2016, XXVIII.

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after the verb; and so the proposition ‘A man I think of’ is true if I think of Aristotle or the Antichrist, and also ‘I think of a rose’ is true even if no rose exists.“ (Buridan 2001, 299)

In diesem Zitat ist die Grundidee für adaptive Quantoren enthalten.8 Im Gegensatz zu existentiell geladenen Quantoren, die immer über alle existierenden Gegenstände quantifizieren, und neutralen Quantoren, die immer über alle Gegenstände quantifizieren, passen adaptive Quantoren ihren Bereich den Prädikaten an, mit denen sie interagieren. Das heißt, wenn in einer partikulären Quantifikation der Form ‚Etwas ist F‘ ein adaptiver partikulärer Quantor verwendet wird und ‚F‘ ein extensionales Prädikat ist, dann ist der Bereich des Quantors, der Bereich der aktual existierenden Dinge; wenn es sich bei ‚F‘ allerdings um ein intensionales Prädikat handelt, dann passt sich der adaptive Quantor der möglichen Extension von ‚F‘ an und hat als Bereich die Menge aller möglichen Gegenstände. Ein dritter wichtige Fall ist in unserem Zusammenhang noch der Fall, wenn ‚F‘ ein hyper-intensionales Prädikat ist, dann passt sich ein adaptiver Quantor auch diesem Prädikat an und hat als Bereich die Menge aller möglichen und unmöglichen Gegenstände. In Bezug auf die modale Dimension möglicher Modifikationen ergeben sich die angeführten drei Stufen, man könnte diese Adaption aber auch noch wie in dem oben angeführten Zitat auf die zeitliche Dimension ausweiten und den Bereich von Quantoren auf gegenwärtige, vergangene oder zukünftige existierende Dinge im Zusammenhang von Tempus-Modifikationen anpassen. Auf diese zusätzliche Anpassung werden wir hier verzichten und uns aus Einfachheitsgründen auf die modale Dimension beschränken. Auf der Grundlage des oben angeführten Beispiels ist es klar, wie die Adaption der Bereiche in Bezug auf Quantifikationen funktioniert, wenn eine Quantifikation nur ein einziges Prädikat enthält. Offen ist aber noch die Frage, wie die Adaption funktioniert, wenn eine Generalisierung im Skopus eines Quantors mehrere Prädikate enthält, die einen unterschiedlichen semantischen Typ haben. Wir ordnen zu diesem Zweck zuerst einzelnen Prädikaten Werte hinsichtlich ihrer logischen Stärke zu. Die höchste Stärke vom Wert 3 besitzt ein Prädikat, wenn es als Bereich ausschließlich wirkliche Dinge hat. Das trifft nur auf rein extensionale (und aktualisierte) Prädikate zu. Die zweithöchste Stärke vom Wert 2 besitzt ein Prädikat, wenn es als Bereich nur mögliche und wirkliche Dinge hat. Das trifft nur auf intensionale Prädikate zu. Die dritthöchste Stärke vom Wert 1 besitzt ein Prädikat, wenn es als Bereich mögliche, wirkliche und unmögliche Dinge hat. Das trifft nur auf hyper-intensionale Prädikate zu.9 8

Diese Idee – wenn auch nicht unter dieser Bezeichnung – wird auch kurz in Moltmann 2015, 144, 151–152 in Grundzügen thematisiert, aber weder systematisch noch formal-semantisch im Detail entwickelt. 9 Wenn wir Prädikaten Funktionen von Welten in Extensionen als semantische Werte zuordnen, dann lässt sich der Typ eines Prädikats formal wie folgt einfangen: Extensionale Prädikate haben relativ zur wirklichen Welt eine Extension, die eine Teilmenge des Bereichs der Quantoren relativ zu dieser Welt ist. Intensionale und hyper-intensionale Prädikate haben eine Extension in der wirklichen Welt, die keine Teilmenge des Bereichs der Quantoren relativ zu dieser Welt ist. Intensionale Prädikate enthalten zusätzlich Gegenstände aus den Bereichen anderen möglicher Welten.

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Meiner Ansicht nach besteht auf dieser Grundlage der beste Vorschlag den Gesamtwert von unterschiedlichen Prädikaten mit unterschiedlichen Werten im Skopus eines Quantors zu bestimmen darin, dass Minimum der Stärke der im Skopus eines Quantors befindlichen Prädikate als Richtwert für die Anpassung zu nehmen. Das heißt, mindestens ein Prädikat der niedrigsten Stärke reicht aus, um den Bereich des Quantors auf alle Gegenstände auszudehnen. Umgekehrt muss die Stärke aller Prädikate die höchste Stärke sein, damit ein Quantor als Bereich die Menge der wirklichen oder aktual existierenden Gegenstände hat. Dieses Kriterium liefert, wie wir noch sehen werden, die besten Ergebnisse. Prinzipiell wären auch andere Weisen der Bestimmung des Bereichs in einem komplexen Fall möglich. Auf dieser Grundlage kann man nun als Metabereich an möglichen Diskursuniversen den Quantoren eine geordnete Menge D+ zuordnen, für die gilt: D+ = . An erste Stelle dieser geordneten Menge, ist die Menge D1 aller in allen möglichen und nicht-normalen (unmöglichen)10 Welten existierende Gegenstände, an zweiter Stelle die Menge D2 aller in allen möglichen Welten existierenden Gegenstände, und an dritter Stelle die Menge D3 aller in der aktualen Welt existierenden Gegenstände. Formal greifen wir bei der Formulierung der Semantik adaptiver Quantoren auf eine Funktion D zurück, die Indices x, die den Status der verwendeten Prädikate bewerten, auf Elemente der strukturierte Menge D+ abbildet. Es gibt dabei die Werte 1, 2, 3 als mögliche Argumente und die besagten drei Bereiche als korrespondierende Werte. Das heißt dann im Detail D = D1 ; D = D2 und D = D3 . Der errechnete oder bestimmte Wert der Stärke von komplexen oder einfachen Prädikaten, die im Bereich des relevanten Quantors liegen, bestimmt somit die Art und Position des Bereichs, der zur Auswertung des Wahrheitswerts einer Quantifikation relevant ist. Das heißt, wenn der errechnete Wert die höchste Stärke hat, dann ist der relevante Bereich die Menge von Gegenstände an der dritten Position unserer Ordnung; wenn der errechnet Wert die zweit-höchste Stärke hat, dann ist der relevante Bereich die Menge von Gegenständen an der zweiten Position unserer Ordnung usw. Es gibt noch einen weiteren Fall, der zu beachten ist, nämlich wenn Prädikate durch (modale) Operatoren modifiziert werden. Wir müssen für diese Fälle auch Operatoren Werte zuordnen. Die Werte der Operatoren übertragen sich auf dieser Basis dann auf die modifizierten Prädikate bzw. auf den Komplex aus Operator und Prädikat. Der Wert eines Operators ist somit dominant gegenüber dem Wert des Prädikats. Das heißt, wenn es sich bei dem Operator um einen intensionalen Operator handelt, der die Auswertung eines Prädikats auf andere mögliche Welten verschiebt, dann hat dieser Operator selbst den Wert 2. Wenn er die Auswertung gar auf unmögliche Welten verschieben kann, dann hat dieser Operator selbst den Wert 1. Wenn der Operator ein extensionaler Operator ist oder die Auswertung eines Hyper-intensionale Prädikate enthalten zusätzlich Gegenstände aus den Bereichen andere nichtnormaler Welten. Ein totales Prädikat wie ‚ist ein Gegenstand‘, welches uneingeschränkt auf alle Gegenstände zutrifft, hat relativ zu allen möglichen Welten die Menge aller wirklichen, möglichen und unmöglichen Gegenstände als Extension. 10 Ich mache hier wie Priest (2005; 2008) von einer Modallogik mit nicht-normalen Welten Gebrauch, das sind Welten, die inkonsistent sein können oder unvollständig oder beides.

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Prädikats, wie der Aktualitätsoperator, auf die wirkliche Welt fixiert, dann ist der Wert dieses Operators 3. Wir können somit auf der Basis (a) einer Zuordnung an Stärken zu jedem einzelnen Prädikat und jedem Operator, (b) der vorgeführten Errechnung der Stärke von komplexen Ausdrücken im Skopus von Quantoren und (c) der Interpretation von Quantoren auf der Basis der angeführten geordneten Menge D+ nun eine modifizierte Semantik für adaptive partikuläre Quantifikationen einführen. Wir nehmen des Weiteren und zur Vereinfachung der Formulierung unserer Semantik an, dass es eine Belegungsfunktion δ*D1 gibt, welche jeder Variable einen Gegenstand aus D1 zuordnet. Auf dieser Basis lässt sich nun unsere neue Semantik derart formulieren: (AQT) Β=;• (9’®) = W gdw. es mindestens einen Gegenstand d gibt, für den gilt: d 2 D , wobei gilt, dass n = der Minimalwert der Stärke-Werte aller offenen Prädikate ist, die φ enthält, und es mindestens ein Belegung δ D1 gibt, die sich von δD höchstens darin unterscheidet, dass sie d α zuordnet, für die gilt: Β=;• (φ) = W. Die Semantik für Quantifikationen, die ich hier im Sinne habe, macht von einer speziellen Variante einer Modallogik Gebrauch, die allen Sätzen, die nicht modal eingebettet sind, absolute Wahrheitswerte zuordnet und die auf die Wahrheitswerte von Sätzen in anderen möglichen Welten als der wirklichen nur zur Bestimmung von solchen Gebräuchen von Sätzen zurückgreift, welche unter modalen oder hyper-intensionalen Ausdrücken eingebettet werden. Allerdings muss (AQT) in solch einem System zusätzlich um Wahrheitsbedingungen ergänzt werden, welche die modal-eingebettete Verwendungen von Quantifikationen erfassen. Diese zusätzlichen Wahrheitsbedingungen für adaptive Quantifikationen relativ zu modalen Einbettungen von adaptiven Quantifikationen entsprechen den allgemeinen Wahrheitsbedingungen von adaptiven Quantifikationen im Rahmen einer klassischeren Version der Modallogik, die durchgehend mit welt-relativen Wahrheitswerten von Sätzen operieret. Die folgenden Adaptionen sind notwendig, will man diese zusätzlichen oder alternativen Wahrheitsbedingungen formulieren: Anstelle von D3 beinhaltet in diesem Fall unsere neu strukturierte Alternative zu D nun eine Funktion von Welten in Diskursbereiche D(w) anstatt des Diskursbereiches der wirklichen Welt. Unsere Funktion, welche Indices auf Diskursbereiche abbildet, hat nun alternativ als mögliche Argumente Paare bestehend aus Indices und möglichen Welten. In Bezug auf die Werte 1 und 2, die auf D1 und D2 abbilden, ist der WeltIndex redundant. In Bezug auf den dritten Wert kommt er allerdings zu tragen, denn in diesem Fall gilt nun: D = D(w). Diese Veränderung führt nun zu der folgenden alternativen Semantik: (AQT) Β=;• (9’®, w) = W gdw. es mindestens einen Gegenstand d gibt, für den gilt: d 2 D , wobei gilt, dass n = der Minimalwert der Stärke-Werte aller offenen Prädikate ist, die φ enthält, und es mindestens ein Belegung δ D1 gibt, die sich von δD höchstens darin unterscheidet, dass sie d α zuordnet, für die gilt: Β=;• (φ, w) = W.

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Auf dieser Grundlage hat man in einem von drei möglichen Fällen welt-relative Quantoren und in zwei anderen Fällen absolute Quantoren. Welche semantischen und theoretischen Vorteile eine solche adaptive Semantik für Quantoren gegenüber einer nicht-adaptiven Standardsemantik hat, werden wir noch ausführlich zeigen. Für unsere Zwecke sei vorerst bemerkt: Es handelt sich dabei um die Ausformulierung einer alten Idee aus der Spätscholastik auf der Grundlage (a) meiner neu vorgeschlagenen Konzeption von Existenz-implizierenden Prädikaten und (b) einer ganz neuartigen formale Semantik für diese Quantoren. Es handelt sich um die erste Version einer formalen Semantik für solche Quantoren überhaupt. Auf der Basis dieser neuen Semantik verfügen wir nun auch über eine neue Unterversion der Bestimmung des semantischen Verhältnisses zwischen Existenzaussagen und Quantifikationen auf der Basis der von uns getroffenen Unterscheidung zwischen Existenz-implizierenden und Existenz-neutralen Prädikaten. Diese Semantik ist in Bezug auf eine rein extensionale Sprache nicht nur äquivalent, sondern identisch mit einer Semantik, die auf existentiell geladene Prädikate und Existenz-implizierenden Prädikate im beschriebenen Sinn zurückgreift. Die Unterschiede zu dieser Semantik werden erst deutlich, wenn man eine solche Sprache durch nicht-extensionale Prädikate erweitert. Konzeptionell stellt diese Variante eine (synthetische) Zwischenposition zwischen einer existentiell geladen und einer neutralen Semantik für Quantifikationen dar.

1.5 Zusammenfassung: Drei semantische Grundlagen für existentielle Implikationen Bei unseren Versuchen unterschiedliche Weisen zu unterscheiden, das semantische Verhältnis zwischen (partikulären) Quantifikationen und (generellen) Existenzaussagen zu bestimmen, sind wir auf drei unterschiedliche semantische Eigenschaften von Quantifikationen gestoßen, die es ermöglichen, ein solches Verhältnis herzustellen. Dabei hat sich auch gezeigt, dass es eine minimale semantische Eigenschaft gibt, welche in jedem Fall durch all die drei Fälle gewährleistet wird, und als minimales Merkmal eines semantischen Verhältnisses zwischen beiden Arten von Aussagen gelten kann. Das ist sowohl im Falle von einfachen Quantifikationen der Form ‚Etwas ist F‘ als auch im Fall von binären Quantifikationen der allgemeinen Form ‚Einige F sind G‘ die logische Implikation der entsprechenden Existenzaussagen; d. h. im ersten Fall Existenzaussagen der Form ‚Fs existieren‘ und im zweiten Fall Existenzaussagen der Form ‚Fs und Gs existieren‘. Es gibt mindestens drei unterschiedliche semantische Eigenschaften von Quantifikationen, welche diese logischen Implikationen nach sich ziehen können. Eine dieser drei Optionen kann in mindestens zwei verschiedenen Varianten vorliegen. Die folgende Übersicht fast diese insgesamt vier möglichen Optionen zusammen:

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O1 O2 O3a O3b

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‚Etwas ist F‘ impliziert semantisch (oder logisch) ‚Fs existieren‘ . . . ‚Einige F sind G‘ impliziert semantisch (oder logisch) ‚Fs und Gs existieren‘ . . . wenn ‚etwas‘ ein existentiell interpretierter Quantorenausdruck ist. wenn ‚etwas‘ ein substantiell existentiell geladener Quantorenausdruck ist. wenn ‚F‘ (und ‚G‘) Existenz-implizierend ist (sind). wenn ‚F‘ (und ‚G‘) Existenz-implizierend ist (sind) und ‚etwas‘ ein adaptiver Quantor ist.

Auf der Grundlage von O1 ergibt sich zusätzlich ein in zwei Weisen verstärktes Verhältnis: (i) erstens haben Sätze wie ‚Etwas ist F‘ und ‚Fs existieren‘ auf der Basis einer existentiellen Interpretation des Quantorenausdrucks ‚etwas‘ dieselbe logische Form ‚9xFx‘, und (ii) zweitens gibt es somit eine triviale wechselseitige logische Implikation. Auf der Grundlage von O2 und O3a–b haben Sätze wie ‚Etwas ist F‘ und ‚Fs existieren‘ nicht mehr dieselbe logische Form. Der erste Satz behält die logische Form ‚9xFx‘, der zweite Satz erhält aber nun die logische Form ‚9x(Fx & E!x)‘. Es bleibt aber dennoch, wie im Rahmen von O1, der Fall, dass sich beide Arten von Sätzen aus rein logischen Gründen wechselseitig implizieren; und das obwohl die semantischen Eigenschaften, die für diese wechselseitigen Implikationen verantwortlich sind, unterschiedlich sind. Das heißt aber auch, dass die Unterscheidungen, die wir getroffen haben, von relativ fein-körniger semantischer Art sind und der Begriff der wechselseitigen logischen Implikation zu grobkörnig ist, um diese Unterschiede adäquat zu erfassen. In den folgenden Abschnitten werde ich zeigen, dass es (a) eine Reihe von semantischen Daten im Rahmen natürlicher Sprachen bezüglich der semantischen Interaktion von partikulären Quantifikationen, Existenzaussagen und der Semantik von Existenz im Allgemeinen gibt, welche die Option O3b gegenüber allen dargelegten Alternativen favorisieren. Es werden aber auch (b) einige systematische Gründe aufgezeigt, die gegen die anderen Optionen sprechen.

2 Warum man partikuläre Quantoren nicht existentiell interpretieren sollte Die semantische Angleichung der folgenden drei Arten von Sätzen auf der Grundlage einer uniformen logischen Analyse wurde mit mehr oder weniger klarer Vehemenz von Frege, Russell und Quine propagiert:11 (1) Etwas ist ein Pferd. (2) Es gibt Pferde. (3) Pferde existieren.

11

Siehe Frege 1884; Russell 1985; Quine 1948; siehe auch Rami 2018, Kap. 4.

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D. Rami

Dieser Angleichung zufolge sind diese drei Arten von Sätzen nicht nur notwendig äquivalent, sondern haben dieselbe logische Form, nämlich ‚9xFx‘. De facto haben nur Quine und Russell die volle Angleichung zwischen allen drei Arten von Sätzen vertreten. Frege hat die Angleichung nur zwischen Sätzen der Art (1) und (2) vorgenommen.12 D. h. eine Position, die partikulären Quantifikationen der Art (1) dieselbe logische Form wie (2) und/oder (3) zuordnet, kann berechtigterweise als Position verstanden werden, die partikuläre Quantoren existentiell interpretiert.13 Es gibt allerdings eine Reihe von Problemen, welche diese Angleichung mit sich bringt. Ich möchte hier drei semantische Probleme aufzeigen, und ein grundlegenderes konzeptuelles Problem.

2.1 Das Übergeneralisierungsproblem Das erste Problem betrifft die Generalisierbarkeit der Äquivalenz zwischen Sätzen der Form (1)–(3). Diese Äquivalenz scheint nur dann gültig zu sein, wenn man rein-extensionale Prädikate an die Stelle des Prädikats ‚Pferd‘ setzt. Setzt man hier allerdings modale oder hyper-intensionale Prädikate ein, dann verschwindet der intuitive Eindruck der notwendigen Äquivalenz plötzlich. Man kann sich zu diesem Zweck die folgenden Beispiele vor Augen führen: (4) Bloß mögliche Gegenstände / bloß vorgestellte Drachen / fiktive Detektive existieren. (5) Es gibt bloß mögliche Gegenstände / bloß vorgestellte Drachen / fiktive Detektive. (6) Etwas ist ein bloß möglicher Gegenstand / bloß vorgestellte Drachen / fiktiver Detektiv. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass wir intuitiv alle drei Varianten von (4) für klar falsch halten. Daran gibt es wenig Zweifel. Auf der anderen Seite ist es hoch umstritten, ob (5) und (6) relativ zu der ersten angeführten Variante dieses Satzes wahr oder falsch sind. Die anderen beiden Varianten von (5) und (6) gelten als intuitiv wahr. Wie immer man aber zur Wahrheit von (5) oder (6) steht, noch deutlicher wird der semantische Unterschied zwischen (4) auf der einen und (5) und (6) auf der anderen Seite, wenn man Konditionale wie die folgenden betrachtet: (7) Wenn etwas ein bloß möglicher Gegenstand ist, dann existieren bloß mögliche Gegenstände. 12

Siehe dazu: „‚Einige Menschen existieren‘ in dem Sinne ‚Einige, vielleicht auch alle, mindestens aber ein Mensch existiert‘. Dies ist dann also gleichbedeutend mit ‚Menschen existieren‘. [. . . ] Ich glaube, dass man nur deshalb das ‚einige‘ weglässt in dem Satze ‚Menschen existieren‘, um dem Einwande zu entgehen: ‚nicht alle?‘“ (Frege 1879–85, 68, 69). Vgl. dazu auch Rami 2017; 2018. 13 Siehe auch Williams 1981 und Wiggins 1995.

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(8) Wenn etwas ein bloß möglicher Gegenstand ist, dann gibt es bloß mögliche Gegenstände. Der erste Konditionalsatz ist ohne Zweifel als intuitiv falsch einzuschätzen. Auch Philosophen, die bloß mögliche Gegenstände zurückweisen, würden (7) ablehnen. Anders verhält sich die Sache aber in Bezug auf (8). Im Gegensatz zu (7) scheint (8) akzeptabel und wahr zu sein; und in einem gewissen Sinn sogar trivial wahr zu sein. Man kann ganz ähnliche Konditionale für die zweite und dritte Variante von (5) und (6) mit genau demselben Unterschied konstruieren. Dieser interessante Unterschied zeigt, dass nicht alle Sätze, welche dieselbe Form wie (1)–(3) haben, immer notwendig äquivalent sind. Oft ist die Aussage, die mittels eines Satzes wie (1) gemacht wird, logisch gesehen stärker als die, welche durch solche wie (2) und (3) gemacht werden. Diese Ausnahmen werfen Zweifel in Bezug auf eine wichtige Grundannahme der existentiellen Interpretation von partikulären Quantoren auf, die von der allgemeinen notwendigen Äquivalenz von Sätzen wie (1), auf der einen Seite, und Sätzen wie (2) und/oder (3), auf der anderen Seite, ausgeht. Eine angemessene Analyse des allgemeinen Verhältnisses dieser Sätze muss diesen Unterschieden Rechnung tragen können. Eine Analyse, die partikuläre Quantifikation existentiell interpretiert, kann diese Unterschiede aber prinzipiell nicht erklären.

2.2

Das Übertragbarkeitsproblem

Ein zweites semantisches Problem der Angleichung der logischen Form in Bezug auf Sätze der Art (1)–(3) besteht darin, dass sich die logische Angleichung schwer bzw. gar nicht auf die logische Analyse von anderen Existenzsätzen als solche mit bloßem Plural wie (1) übertragen lässt. Betrachten wir zu diesem Zweck Beispielsätze wie die folgenden beiden: (7) Alle wirklichen Dinge existieren. (8) Einige gefürchteten Untiere existieren nicht. Beide Sätze sind nicht nur sinnvoll und wohlgeformt, sondern obendrein intuitiv wahr. Wenn man aber die Idee zum Ausgangspunkt nimmt, dass Sätze wie (1)–(3) dieselbe logische Form ‚9xFx‘ haben, dann fragt es sich, wie man diese Analyse sinnvoll auf Sätze wie (7)–(9) ausweiten kann. Der Satz (7) ist unzweifelhaft eine universelle Quantifikation. Das heißt, (7) könnte höchsten einen existentiell interpretierten Quantor als zusätzliche logische Komponente auf der Ebene der logischen Form enthalten. Nichtsdestotrotz brauchen wir noch zusätzlich ein Prädikat oder eine Relation, die uns erlaubt diesen zweiten partikulären Quantoren mit dem ersten universellen in Beziehung zu setzen, damit der Satz semantisch wohlgeformt ist. Das naheliegendste Angebot für diese Zwecke wäre die logische Relation der Identität. Auf dieser Grundlage wäre die logische Form von (7): (7L)

8x((Wx & Dx) ! 9y(x = y))

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D. Rami

Auf den ersten Blick mag das eine befriedigende Ausweitung, der Analyse sein, die sich aus der semantischen Angleichung von (1)–(3) ergibt. Setzt man aber die üblichen Standards einer kompositionale Semantik bei einer solchen Analyse zugrunde, dann fällt der folgende entscheidende Unterschied ins Auge: Der kompositionale Beitrag von ‚existiert‘ in (7) auf der Grundlage der logischen Form (7L) wird nicht durch den Quantor ‚9x‘ geleistet, sondern durch das komplexe einstellige Prädikat ‚9y(x = y)‘. Denn die Korrektheit dieser Analyse basiert auf der Annahme der semantischen Äquivalenz von ‚x existiert‘ mit ‚9y(x = y)‘. Auf dieser Grundlage wird ‚existiert‘ logisch als einstelliges Prädikat interpretiert und nicht als Quantorenausdruck. Das heißt, eine angemessene kompositionale semantische Analyse von (7) erfordert es wohl, den Beitrag von ‚existiert‘ zur logischen Form von (7) durch ein einstelliges Prädikat zu repräsentieren. (7L) ist nur deshalb intuitiv plausibel, weil es eine Variation dieser Art von Analyse ist, aber auf den ersten Blick fälschlicherweise so interpretiert werden kann, als wäre (7) eine Ausweitung, der logischen Strategie, die wir in Bezug auf (1)–(3) eingesetzt haben. Noch deutlicher wird diese Problematik, wenn wir (8) betrachten. Dieser Satz ist ein partikuläre Quantifikation, der eine negierte Verwendung von ‚existiert‘ enthält. Würde man die Strategie von zuvor hier wieder zur Anwendung bringen, dann würde man nach einer ersten groben Analyse zu der folgenden logischen Form kommen: (8L)

9x((Ux & 9yFyx) & :9y(x = y))

In diesem Zusammenhang tauchen ähnliche Probleme wie in Bezug auf (7L) auf. Denn auch hier wird zwar ein partikulärer Quantor verwendet, um die logische Form von (8) zu formulieren, aber dieser Quantor ist Teil eines komplexen Prädikats, welches als Ganzes mit dem Prädikat ‚x existiert‘ als äquivalent verstanden werden muss. Aber in Bezug auf (8L) ergibt sich noch das zusätzliche Problem, dass wenn alle partikulären Quantoren existentiell interpretiert werden, (8L) unmöglich wahr sein kann, weil die Wahrheitsbedingungen dann unerfüllbar sind. Intuitiv scheint ein Satz wie (8) aber wahr sein zu können. Es ist aber völlig unklar, wie man die Wahrheit erklären sollen, wenn man partikuläre Quantoren existentiell interpretiert. Das heißt, (8) scheint nur dann wahr sein zu können, wenn man eine existentielle Deutung der partikulären Quantoren aufgibt und eine neutrale oder adaptive Semantik in Bezug auf solche Beispiele von Quantifikationen mit einem negierten Existenzprädikat vertritt und den Beitrag von ‚existiert‘ zu den Wahrheitsbedingungen in der folgenden Weise als einfaches und vom Bereich der Quantoren unabhängiges Prädikat interpretiert: (8L*) 9x((Ux & 9yFyx) & :E!x) Wir werden im nächsten Hauptabschnitt noch sehen, dass es eine Reihe von Beispielen gibt, die (8) semantisch ähneln und die man weder auf der Basis einer existentiellen Interpretation noch einer Ladung der partikulären Quantoren angemessen semantisch interpretieren kann.

Existenz und Quantifikation

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2.3 Das Kompositionalitätsproblem Noch deutlicher treten Probleme in Bezug auf eine angemessene kompositionale Analyse von Existenzsätzen auf der Grundlage der Angleichung der logischen Form von Sätzen wie (1)–(3) zu Tage, wenn man elliptische Sätze wie den folgenden betrachtet: (9) Pferde existieren ebenso wie der Papst, Angela Merkel und alle wirklichen Hunde. Solch ein elliptischer Satz ist nur dann sinnvoll, wenn der semantische Beitrag eines Ausdrucks im explizit angeführten Fall derselbe ist wie in den Fällen, die nur implizit angedeutet werden. In dem Beispiel (9) ist der explizit angeführte Beitrag von ‚existiert‘, derjenige, den dieser Ausdruck im Zusammenhang mit dem bloßen Plural (9) hat. Damit (9) ein sinnvoller Satz ist, muss ‚existiert‘ genau denselben semantischen Beitrag im Zusammenhang mit dem bloßen Plural ‚Pferde‘ haben wie in allen den drei übrigen Fällen; d. h. im Zusammenhang mit den beiden angeführten singulären Termen und der Quantorenphrase ‚alle wirklichen Hunde‘. Die einzige sinnvolle Möglichkeit, einen solchen uniformen semantischen Beitrag zu den Wahrheitsbedingungen von (9) zu leisten, besteht aber darin, ‚existiert‘ als einen prädikativen Ausdruck auf der Ebene der logischen Form zu deuten. Elliptische Gebräuche von ‚existiert‘ wie (9) sprechen also auch gegen die durch Beispiele wie (1)–(3) insinuierte logische Angleichung.14

2.4

Das Fundamentalitätsproblem

Die besagte Angleichung der logischen Form von Sätzen der Art (1)–(3) beruht auf der Idee, dass der Gehalt von Sätzen wie ‚Pferde existieren‘ derselbe ist wie der Gehalt von Sätzen wie ‚Unter den Begriff Pferd fällt etwas‘. Ob das Fallen von Gegenständen unter einen Begriff F in einem zwingenden Verhältnis zur Existenz von Fs steht, hängt auch wesentlich davon ab, welche Arten von Gegenständen unter einen Begriff fallen können und welche Arten von Gegenständen wir prinzipiell akzeptieren. Unter den Begriff Pferd können in einem wörtlichen Sinn nur wirkliche Pferde fallen und keine ausgedachten, bloß möglichen oder halluzinierten Pferde. Aber man kann den Begriff des Pferdes auch auf verschiedene Weisen modifizieren. Man kann den Begriff eines halluzinierten Pferdes bilden, den Begriff von metaphysisch möglichen Pferden oder den Begriff eines ausgedachten Pferdes. Unter diese Begriffe können intuitiv auch Gegenstände fallen. Aber unter den ersten Begriff können keine wirklichen Pferde fallen und unter die anderen beiden Begriffe können sowohl wirkliche als auch nicht-wirkliche Gegenstände fallen. Übernimmt man diese intuitive Einschätzung im Rahmen einer logischen Analyse dieser Begriffe, dann bricht für diese Begriff die besagte Analogie zusammen, wie wir bereits ge14

Vgl. dazu auch Rami 2017; 2018.

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sehen haben. Dass Fallen von etwas unter den Begriff eines halluzinierten Pferdes hat nichts mit der Existenz von halluzinierten Pferden zu tun. Ganz im Gegenteil, bloß halluzinierte Pferde existieren per Definition nicht. Das heißt aber umgekehrt, die besagte semantische Entsprechung hängt sehr davon ab, welche Arten von Gegenständen wir als Gegenstände zulassen, die unter Begriffe fallen können. Wenn wir nur wirkliche Gegenstände als Gegenstände zulassen, die unter Begriffe fallen können, dann wir damit auch die besagte Äquivalenz zwischen ‚Unter den Begriff F fällt etwas‘ und ‚Fs existieren‘ für alle Begriffe garantiert. Man kann dieses Ergebnis genau genommen durch zwei ganz unterschiedliche Restriktionen herbeiführen: (a) durch eine metaphysische Beschränkung des allgemein möglichsten Gegenstandsbegriffs auf wirkliche Gegenstände und (b) durch eine Beschränkung des Bereichs der Quantoren auf wirkliche Gegenstände. Beides wird in Quine (1948) vollzogen, um die besagte Äquivalenz zu retten. Die Zurückweisung von ‚exotischen‘ Gegenständen durch Quine bewerkstelligt (a). Der Slogan ‚to be is to be value of a bound variable‘ garantiert die zweite Einschränkung. Mit diesem Slogan hat man sich aber implizit auch auf einen Begriff der Existenz erster Stufe festgelegt, der auf einer Gleichsetzung des Begriffs eines Gegenstandes mit dem eines wirklichen Gegenstandes basiert und ‚sein‘ (oder ‚existieren‘) als ein Prädikat erster Stufe ansieht, das auf alle Gegenstände zu trifft. Die Gleichsetzung von ‚zu sein‘ mit ‚Wert einer Variablen zu sein‘ führt genau zur Etablierung einer solchen Eigenschaft der Existenz, weil nur Gegenstände Werte von Individuenvariablen sein können. Das heißt, Quine etabliert unter der Hand einen Begriff der Existenz erster Stufe, der mit dem Diskursuniversum der Quantoren stipulativ in Beziehung steht, um damit zu gewährleisten, dass eine zwingende Äquivalenz zwischen Sätzen der Form ‚Fs existieren/sind‘, auf der einen Seite, und Sätzen der Form ‚Etwas ist F‘ und ‚Unter den Begriff F fällt etwas‘, auf der anderen Seite, besteht. Diese zusätzliche implizite Einführung eines bestimmten Begriffs der Existenz erster Stufe ist aber nicht nur eine Besonderheit von Quines eigener Position. Es ist vielmehr eine notwendige Voraussetzung, um die besagte Äquivalenz zwischen allen Sätzen der Form (1)–(3) zu garantieren.15 Diese versteckte Voraussetzung hat aber unliebsame Konsequenzen für den Status der gesamten Konzeption. Wenn diese Konzeption zur Plausibilisierung und Garantie ihrer Korrektheit auf einen bestimmten Begriff der Existenz erster Stufe zurückgreifen muss (oder ihn zumindest in Kauf nehmen muss), der die Menge aller Gegenstände mit der Menge aller wirklichen oder existierenden Gegenstände identifiziert, dann handelt sich bei einer Analyse von Existenz, die partikuläre Generalisierungen existentiell interpretiert, eigentlich um keine interessante eigenständige Konzeption der Existenz. Das heißt, ein Begriff der Existenz zweiter Stufe kann vor diesem Hintergrund nur dann sinnvoll etabliert werden, wenn man zuvor implizit den besagten Begriff der Existenz erster Stufe anerkennt. Es ist vor diesem Hintergrund wesentlich angebrachter, explizit nur von dem besagten universellen Begriff der Existenz auszugehen und ihn mit einer Konzeption der existentiellen Ladung anstelle einer Konzeption der existentiellen Interpretation von partikulären Quan15

Vgl. Rami 2018.

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toren zu verbinden. Denn so vermeidet man eine eigentlich unnötige Doppelung von Existenzbegriffen. Diese Art von Konzeption ist auch die nächste Konzeption, die wir unter die Lupe nehmen wollen.

3 Warum man partikuläre Quantoren nicht als existentiell geladen ansehen sollte Wenn man aus mindestens einem der zuvor angeführten Gründe, eine Konzeption der existentiellen Interpretation von Quantoren ablehnt, dann bleibt einem als Rückzugsposition zumindest noch die Auffassung, partikuläre Quantoren als existentiell geladen anzusehen. Da diese Auffassung explizit von (IBP) Gebrauch macht, ist diese Konzeption auf die Akzeptanz einer Eigenschaft der Existenz erster Stufe ganz explizit festgelegt. Grundsätzlich bestehen aber unterschiedliche Möglichkeiten, eine Konzeption der existentiellen Ladung der Quantoren mit einer solchen Auffassung von Existenz zu verbinden. Das heißt, diese Auffassung ist prinzipiell auch mit einer Auffassung vereinbar, die zwischen existierenden und nicht-existierenden Gegenständen unterscheidet, aber es nur erlaubt über existierende Gegenstände zu quantifizieren. Es fragt sich aber, ob sich eine Einschränkung des partikulären Quantors auf existierende Gegenstände vor diesem Hintergrund sinnvoll begründen lässt.16 Ich kenne keine gute Begründung dieser Art. Natürlicher scheint es, eine Konzeption der existentiellen Ladung mit einer universellen Auffassung des Existenzprädikats gleichzusetzen, welche die Klasse der Gegenstände mit der Klasse der existierenden Gegenstände identifiziert. In diesem Zusammenhang gibt es aber auch mehrere Optionen. Man kann eine solche Auffassung entweder auf der Grundlage der Semantik einer modernen klassischen Logik vertreten17 oder mit einer (negativen oder neutralen) freien Logik kombinieren.18 Der Hauptunterschied besteht darin, dass man im ersten Fall keine singulären Terme zulassen kann, die nichts bezeichnen, im zweiten Fall diese Möglichkeit aber möglich und erwünscht ist. Das hat vor allem Auswirkungen für die Interpretation negativer singulärer Existenzsätze wie ‚Pegasus existiert nicht‘. Damit wollen wir uns aber hier nicht näher beschäftigen, dies sei nur zur besseren Einordnung der diskutierten Position erwähnt.19 Eine Konzeption der existentiellen Ladung hat einige Vorteile gegenüber einer Konzeption der existentiellen Interpretation. Erstens vermeidet diese Auffassung klarerweise das angeführte Fundamentalitätsproblem, weil sie von einer einzigen und primären Eigenschaft der Existenz von Gegenständen ausgeht. Zweitens vermeidet diese Auffassung das aufgeworfene Kompositionalitätsproblem in Bezug auf elliptische Sätze, weil sie diese Sätze auf der Basis eines Existenzprädikats ers16

Vgl. Rami 2014. Vgl. Williamson 2013. 18 Vgl. Lehmann 2002; Rami 2014. 19 Vgl. Rami 2018. 17

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ter Stufe angemessen und relativ problemlos analysieren kann. Es gibt allerdings zwei eng verwandte Probleme, welche die Konzeption der existentiellen Ladung mit einer Konzeption der existentiellen Interpretation teilt. Einerseits hat sie ebenso Probleme Sätze wie (8) angemessen zu analysieren. Darüber hinaus verfügt sie nicht über die Ressourcen das angeführte Übergeneralisierungsproblem zu lösen. Das heißt, dieser Auffassung zufolge sind Sätze der Form (1)–(3) immer noch notwendig äquivalent, auch wenn diese Sätze teilweise unterschiedliche logische Formen haben. Diese Auffassung kann aber den Unterschied zwischen Sätzen wie (1)–(3) und solchen wie (4)–(6) ebenso nicht angemessen erklären. Ich werde nun zu zeigen versuchen, warum beide Probleme nicht zu unterschätzen sind und viel weitreichendere Dimensionen haben als das in der Literatur oft angenommen wird.

3.1 Das Übertragbarkeitsproblem In der relevanten philosophischen Literatur gibt es einige wenige Beispielsätze, deren naheliegendste semantische Interpretation gegen die existentielle Ladung von partikulären Quantoren ins Feld geführt wird. Die folgenden drei Beispiele sind hier zu erwähnen, wobei (9) und (10) wahrscheinlich am verbreitetsten sind: (9) Es gibt Dinge, die nicht existieren. (Parsons 1980, 6) (10) Einige Dinge existieren nicht. (Priest 2009, 235–236) (11) Einige Figuren aus der Bibel haben nicht existiert. (Crane 2013, 17) Es gibt den kleinen feinen Unterschied zwischen (9) und (10), dass in (9) ‚es gibt‘ statt ‚einige‘ verwendet wird. Für die meisten Philosophen ist das nur ein marginaler Unterschied, weil sie die Auffassung von Frege, Russell und Quine teilen, dass ‚es gibt‘ neben ‚einige‘ ein alternativer natürlichsprachlicher Ausdruck des partikulären Quantors ist. Das ist aber gar nicht so. ‚Es gibt‘ ist ein Prädikat mit einer eigenwilligen Syntax. Klarer wird das, wenn man Beispiele wie ‚Manche bekannten Tiere gibt es, manche gibt es nicht mehr‘ oder ‚Es gibt Donald Trump wirklich‘ oder eine Paraphrase von (9) wie ‚Manche Dinge, die es gibt, existieren nicht‘ betrachtet. In diesen Sätzen fungiert ‚es gibt‘ klarerweise als Prädikat und nicht als Quantorenausdruck.20 D. h. (9) wirft im Gegensatz zu (10) noch die zusätzliche Frage auf, wie sich die Semantik von ‚es gibt‘ zu der von ‚existiert‘ verhält. Was (9) zu einer partikulären Generalisierung macht ist der semantische Beitrag des bloßen Plurals ‚Dinge‘, nicht der von ‚es gibt‘. Nimmt man diesen Unterschied ernst, dann haben (9) und (10) die folgenden leicht unterschiedlichen logischen Formen: (9L) 9x((Dx & G!x) & :E!x) (10L) 9x(Dx & :E!x) 20

Ausführliche Argumente dafür finden sich in Rami 2018, 174–181.

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Wie schon im Fall von (8L*) haben beide Formeln keine Chance wahr zu sein, wenn der partikuläre Quantor existentiell geladen ist. Intuitiv scheinen Sätze wie (9) und (10) aber wahre Lesarten zu haben. Das legt den Schluss nahe, dass es besser wäre, anzunehmen, dass der partikuläre Quantor zumindest nicht immer existentiell geladen ist. Ein Problem mit den angeführten Beispielen besteht aber gerade darin, dass der Ausdruck ‚Ding‘ (oder ersatzweise ‚Gegenstand‘) in diesen Beispielen verwendet wird und sich an der Semantik dieses Ausdrucks die Geister scheiden. Das heißt für die Gruppe von Philosophen, die der Auffassung sind, dass ‚Ding‘ dasselbe bedeutet wie ‚existierendes Ding‘, sind die Sätze (9)–(10) nur ein Beispiel für eine Begriffsverwirrung und daher nicht überzeugend. Für die Gegner dieser Interpretation von ‚Ding‘ sind diese Sätze hingegen keine echten Daten, sondern selbstverständliche Formulierungen ihrer eigenen Position, weil für sie ‚existierendes Ding‘ und ‚Ding‘ nicht gleichbedeutend sind. Wir benötigen also andere, weniger kontroverse Beispiele, um auf deren Basis echte Evidenz gegen die existentielle Ladung von Quantoren vorbringen zu können. Das Beispiel (11) ist ein Schritt in die richtige Richtung, weil die Wahrheit dieses Satzes unabhängig davon, welche Semantik von ‚Ding‘ man vertritt, allgemein akzeptiert werden sollte. Aber es gibt noch eine Vielzahl anderer Beispiele, die zeigen, dass das Phänomen weitaus folgenreicher und systematischer ist als das gemeinhin angenommen wird. Einerseits gibt es Generalisierungen der gesuchten Art, die nicht nur wahr sind, sondern begriffliche Wahrheiten darstellen, wie die folgenden: (12) (13) (14) (15) (16)

Alle bloß möglichen Gegenstände existieren nicht. Alle unmöglichen Gegenstände existieren nicht. Alle rein fiktiven Gegenstände existieren nicht. Alle bloß halluzinierten Gegenstände existieren nicht. Alle bloß vorgestellten Gegenstände existieren nicht.

Was diese fünf verschiedenen Beispiele gemeinsam haben ist, dass sie bestimmte intensionale und hyper-intensionale modifizierende Adjektive enthalten, die das Prädikat ‚ist ein Gegenstand‘ derart stark modifizieren, dass unter dieses modifizierte Prädikat aus semantischen Gründen keine existierenden Gegenstände mehr fallen können. Diese Prädikate können somit aus begrifflichen Gründen nur auf nicht-existierende Gegenstände zutreffen. Diese Generalisierungen sind nicht nur ebenso intuitiv wahr wie (9)–(11), sondern sie stellen darüber hinaus semantische oder begriffliche Wahrheiten dar. Das heißt, die Semantik mancher ganz bestimmter intensionaler und hyper-intensionaler Ausdrücke scheint es zu verlangen, dass nicht-existierende Gegenstände angenommen werden, auf die diese Prädikate zutreffen können. Im Falle von (12)–(14) könnte ein Gegner von nicht-existierenden Gegenstände so reagieren, dass er diese Sätze für trivial wahr erklärt, weil die besagten Prädikate im Antezedent auf nichts zutreffen. Dadurch könnte man die Wahrheit dieser Sätze ‚erklären‘, aber nicht den Status als semantische oder begriffliche Wahrheiten. Darüber hinaus scheinen diese Sätze auch dann wahr zu

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bleiben, wenn man in (12)–(16) den Quantorenausdruck ‚alle‘ durch ‚mindestens ein‘ ersetzt. Aber auf diese Beispiele lässt sich die Trivialisierungsstrategie nicht übertragen. Neben den angeführten stark modifizierenden Adjektiven gibt es noch schwach modifizierende Adjektive, die gewöhnliche Prädikate derart modifizieren können, dass sie sowohl auf existierende als auch nicht-existierende Gegenstände zutreffen können. Das sind Beispiele wie die folgenden: (17) (18) (19) (20) (21)

Einige gefürchteten Dinge existieren nicht. Einige verachteten Wesen existieren nicht. Einige geplanten Häuser existieren nicht. Einige auf Bildern dargestellte Tiere existieren nicht. Einige fiktiven Detektive existieren nicht.

Alle diese Beispielsätze enthalten hyper-intensionale Adjektive. (17)–(19) enthalten Adjektive, die semantisch auf den folgenden intentionalen Prädikaten basieren: x fürchtet y; x verachtet y; x plant y. (20) enthält ein Adjektiv, das sich auf das folgende repräsentationale Prädikat zurückführen lässt: x stellt y dar. (21) enthält ein Adjektiv, das sich auf kein relationales Prädikat zurückführen lässt. Alle Sätze von (17)–(21) scheinen intuitiv wahr zu sein. Es gibt eine Vielzahl weiterer Adjektive dieser Art, die sich semantisch auf intentionale oder repräsentationale Prädikate zurückführen lassen. In diesem Sinn handelt es sich nicht um eine kleine Klasse von Beispiele wie durch die Verwendungen von Sätzen wie (9) und (10) in der relevanten Literatur suggeriert wird, sondern um eine große Klasse von Beispiele, die mit einer wichtigen Unterart von modifizierenden Adjektiven eng verbunden sind. Sowohl die Semantik starker als auch schwacher modifizierender nicht-extensionaler Adjektive scheint die Annahme nicht-existierender Gegenstände aus semantischen Gründen zu erfordern. In diesem Sinn stellen diese Beispiele eine weitaus größere Herausforderung dar, als die sehr verbreiteten Beispiele (9) und (10). Wichtig ist auch in diesem Zusammenhang festzustellen, dass alle angeführten modifizierenden Adjektive in der Lage sind, beliebige Existenz-implizierende Prädikate wie ‚Detektiv‘ ‚Hund‘ etc. in Existenz-neutrale Prädikate zu verwandeln. Dieser Umstand sollte uns nicht wundern, denn die existentielle Neutralität von Quantoren kommt, wie wir bereits gesehen haben, nur dann zum Tragen, wenn diese Quantoren im Zusammenhang mit Existenz-neutrale Prädikaten verwendet werden. Da eine große Zahl von Prädikaten Existenz-implizierend ist, ist es bei Generalsierungen, die nur solche Prädikate enthalten, nicht klar, welche semantische Quelle die existentiellen Implikationen dieser Generalisierungen haben. Unserer Beispiele scheinen zu zeigen, dass die Quelle dieser existentiellen Implikationen nicht die existentielle Ladung der Quantoren sein kann, weil die Quantoren zumindest im Rahmen der von uns diskutierten Beispiele nicht geladen sein können. Es gibt aber noch ähnliche andere Beispiele, die keine modifizierenden Adjektive enthalten. Einerseits gibt es Generalisierungen, welche intentionale oder repräsentationale relationale Prädikate wie die folgenden enthalten.

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(22) Peter fürchtet sich vor etwas. (23) Das Bild stellt etwas dar. Interessant an diesen Beispielen ist, dass sie gemischte Prädikate enthalten, die an der ersten Argumentstelle Existenz-implizierend sind, an der zweiten Stelle aber Existenz-neutral sind. Letzteres zeigt sich daran, dass ein Satz wie (22) logisch aus ‚Peter fürchtet sich vor einem Drachen‘ folgt und (23) aus ‚Das Bild stellt einen Drachen dar‘ folgt. Umgekehrt folgt weder aus diesen beiden Sätzen noch aus (22) und (23) Folgendes: (22*) Peter fürchtet sich vor etwas Existierendem. (23*) Das Bild stellt etwas Existierendes dar. Dieser wichtige Unterschied spricht erneut dafür, dass wir es mit einem weiteren Fall von Existenz-neutraler Quantifikation bei den Beispielen (22) und (23) zu tun haben. Auch Beispiele dieser Art sind in großer Anzahl zu finden und sind charakteristisch für die beiden erwähnten Arten von relationalen Prädikaten. Eine letzte etwas kontroversere Klasse von Beispielen möchte ich auch noch nennen, die ebenso keine modifizierenden Prädikate enthalten. Diese Beispiele enthalten Prädikate für rein fiktive Gegenstände. Ich teile die semantische Intuition von Kripke, dass es aus semantischen Gründen ausgeschlossen ist, dass man entdecken könnte, dass Einhörner, Hexen, Zauberer und Drachen doch existieren oder existiert haben. Aber ich gestehe zu, dass diese Auffassung kontrovers ist. Wenn sie allerdings wahr ist, dann gibt es eine enge Verwandtschaft zwischen solchen Prädikaten und den oben angeführten stark modifizierten Prädikaten. Vor diesem Hintergrund wären die folgenden Generalisierungen semantische Wahrheiten wie (12)–(16): (24) Alle Einhörner/Drachen/Zauberer/Hexen existieren nicht. An der Wahrheit dieser Sätze ändert sich intuitiv auch nichts, wenn wir ‚alle‘ durch ‚einige‘ ersetzen. Diese Eigenschaften scheinen sie ebenso mit den Beispielen (12)–(16) zu teilen. Unser kurzer Überblick zeigt in jedem Fall, dass das Phänomen von Generalisierungen mit existenz-neutralen Quantoren kein Randphänomen ist und immer dann auftritt, wenn wir existenz-neutrale Prädikate in Generalisierungen verwenden. Die angeführten Daten und ihre beste und einfachste semantische Interpretation liefern ein erstes Argument gegen die existentielle Ladung von Quantoren.

3.2 Das Übergeneralisierungsproblem Man kann nun auf alle im letzten Abschnitt eingeführten Beispiele zurückgreifen und zeigen, dass sich das bereits geschilderte Übergeneralisierungsproblem auch bezüglich all dieser Beispiele formulieren lässt. Genau genommen gibt es zwei unterschiedliche Fälle dieses Problems. Je nachdem ob wir ein Prädikat verwenden,

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das existenz-neutral ist und aus semantischen Gründen nicht auf existierende Dinge zutreffen kann, oder eines, das zwar existenz-neutral ist, aber auch auf existierende Prädikate zutreffen kann. Nennen wir die erste Klasse starke existenz-neutrale Prädikate und die zweite Klasse schwache existenz-neutrale Prädikate. In Bezug auf die erste Klasse lässt sich das Problem nun wie folgt formulieren. Es ist erklärungsbedürftig, warum Konditionale der folgenden beiden Formen unterschiedliche Wahrheitswerte haben: (25) Wenn [schwaches existenz-neutrales Prädikat + Plural] existieren, dann gibt es [schwaches existenz-neutrales Prädikat + Plural]. (26) Wenn es [schwaches existenz-neutrales Prädikat + Plural] gibt, dann existieren [schwaches existenz-neutrales Prädikat + Plural]. D. h. wenn wir einen Ausdruck wie ‚fiktive Detektive‘ in die markierten Platzhalter in (25) und (26) einsetzen, dann ist die Einsetzung für (25) intuitiv wahr, die Einsetzung für (26) intuitiv falsch. Und das betrifft alle in [3.1] angeführten schwachen existenz-neutralen Prädikate. Dieser Unterschied ist nicht erklärbar, wenn wir nur auf existentiell geladen Quantoren zurückgreifen, denn die Glieder beider Konditionale sind partikuläre Quantifikationen. Die Erklärung dieses intuitiven semantischen Unterschieds erfordert somit die Aufgabe der existentiellen Ladung von partikulären Quantoren. Leicht verändert und vereinfacht lässt sich das Problem in Bezug auf starke existenz-neutrale Prädikate stellen. In diesem Zusammenhang können wir die folgenden einfacheren Beispielpaare verwenden: (27) [schwaches existenz-neutrales Prädikat + Plural] existieren. (28) Es gibt [schwaches existenz-neutrales Prädikat + Plural]. Wenn wir in (27) und (28) ein starkes existenz-neutrales Prädikat wie ‚halluzinierte Drachen‘ einsetzen, dann erhalten wir in Bezug auf (27) einen Satz, der notwendig falsch ist. In Bezug auf (28) erhalten wird im Gegensatz dazu einen Satz, der kontingent wahr oder falsch sein kann. Intuitiv ist dieser Satz kontingent wahr. Dieser Statusunterschied ergibt sich bei allen Ersetzungen dieser Art und zeigt, dass Satzpaare der Art (27) und (28) nicht notwendig äquivalent sind. Da es sich bei (27) und (28) aber um partikuläre Quantifikationen handelt, kann dieser Unterschied auf der Basis einer Konzeption der existentiellen Ladung der Quantoren nicht erklärt werden. Auf dieser Grundlage werden die betreffenden Satzpaare nämlich als notwendig äquivalent ausgewiesen. Wir haben somit einen weiteren Grund, die Auffassung der existentiellen Ladung der Quantoren zu bezweifeln.

3.3 Das Modalitätsproblem Die beiden zuerst angeführten Probleme teilt eine Konzeption der existentiellen Ladung mit der Konzeption der existentiellen Interpretation der Quantoren. Zum

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Abschluss meiner Kritik möchte ich noch ein weiteres Problem kurz darlegen, welches die Interaktion von Quantifikationen, modalen Ausdrücken und dem Existenzprädikat betrifft. Der folgende Satz drückt eine intuitive metaphysische Möglichkeit aus: (29) Eine Tochter von Barack Obama und Ivanka Trump hätte existieren können. Dieser Satz besagt dasselbe wie ‚Es existiert keine Tochter von Barack Obama und Ivanka Trump, aber ist metaphysisch möglich, dass Barack Obama und Ivanka Trump eine Tochter haben‘. Auf der Basis einer Konzeption, die zwischen partikulären Quantoren und einem Existenzprädikat erster Stufe unterscheidet, scheint die folgende logische Analyse von (29) in der angeführten Lesart naheliegend. (29L) :9x((Txa & Txb) & E!x) & ˙9x((Txa & Txb) & E!x) Das erste Konjunkt von (29L) ist unproblematisch für eine Konzeption der existentiellen Ladung. Wir können auf dieser Basis gut erklären, warum es wahr sein kann. Das zweite Konjunkt wirft allerdings Probleme auf. Wenn alle Quantoren immer nur über die wirklich existierenden Dinge quantifizieren könnten, dann kann man nicht erklären, warum das zweite Konjunkt von (29L) wahr werden kann. Es gibt dazu eigentlich nur zwei Optionen: Einerseits könnte man annehmen, dass der Quantor hinter dem Modaloperator in (29L) über den Bereich der existierenden Dinge relativ zu jeder möglichen Welt quantifiziert, oder, dass dieser Quantor über alle möglichen Dinge relativ zu allen möglichen Welten quantifiziert. Im ersten Fall ist der Bereich der Quantoren welt-relativ, im zweiten Fall absolut. Die zweite Option geht mit einer direkten Aufgabe der existentiellen Ladung der Quantoren einher. Aber auch die erste Auffassung ist eine Modifikation von (IBP).21 Denn auf dieser Basis ergibt sich erstens, dass Quantoren nicht immer über die aktual existierenden Dinge quantifizieren und somit auch Verwendungen haben, wo sie keine Existenz-implizieren. Zweitens ergibt sich das Problem, dass wir auf der Basis von Quantoren, die sich an den Bereich der Dinge, die in einer möglichen Welt existieren, anpassen, in jedem Fall zusätzlich neben den aktual existierenden Dingen auch Dinge annehmen müssen, die nur in anderen möglichen Welten existieren. Das heißt, wir können auf dieser Grundlage sinnvoll ein Gegenstandsprädikat einführen, welches mehr als alle wirklich existierenden Dinge umfasst. Aber natürlich sollte es dann auch möglich sein, Generalisierungen im Zusammenhang mit diesem Prädikat aufzustellen. Dann gibt es aber keinen guten Grund mehr diesen Quantor auf existierende Dinge einzuschränken.22 Noch klarer wird dieses Problem, wenn man in Betracht zieht, dass ein Satz wie (29) intuitiv den folgenden Satz logisch impliziert, den man dann am besten mittels (30L) kompositional analysiert: 21

(IBP*) Das Diskursuniversum D relativ zu w = die Menge aller existierenden Gegenstände relativ zu w. 22 Eine verwandte Überlegung findet sich in Priest 2005, 14.

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(30) Etwas, das nicht wirklich existiert, hätte existieren können. (30L) 9x(@:E!x & ˙E!x) Im Rahmen von (30L) wird nun klarerweise ‚von außen‘ mittels eines partikulären Quantors in zwei modale Kontexte hineinquantifiziert. Der intuitiv wahre Satz (30) hat aber nur dann eine Chance wahr zu sein, wenn der partikuläre Quantor in (30)/(30L) einen größeren Bereich hat als die wirklich existierenden Gegenstände. Das heißt, die Standardsemantik in Bezug auf modale Ausdrücke und bestimmte semantisch mögliche Interaktionen von Quantoren mit Modalausdrücken geben einen weiteren Grund dafür, davon Abstand zu nehmen, dass wir partikuläre Quantoren zwingend als existentiell geladen ansehen sollen. Das Gewicht aller drei angeführten Probleme liefert meiner Meinung nach einen sehr guten Grund von der These Abstand zu nehmen, dass partikulären Quantoren aus semantischen Gründen immer existentiell geladen sind.

4 Warum man partikuläre Quantoren nicht als grundsätzlich neutral ansehen sollte Wir haben nunmehr zwei von vier möglichen Optionen in Bezug auf das semantische Verhältnis von Existenz und Quantifikationen als problematisch zurückgewiesen. Damit bleiben nur noch zwei sinnvolle Positionen übrig: (I) eine Konzeption existenz-neutraler Quantoren im Verbund mit der von mir vorgeschlagen Unterscheidung zwischen Existenz-implizierenden und Existenz-neutralen Prädikaten, (II) eine Konzeption adaptiver Quantoren im Verbund mit der von mir vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen Existenz-implizierenden und Existenz-neutralen Prädikaten. Ich werde zuerst kurz zeigen, wie man auf der Grundlage der Option (I) alle im letzten Abschnitt angeführten Probleme in den Griff bekommen kann und trotzdem die gewünschten semantischen Verhältnisse zwischen Existenz und Quantifikationen aufrechterhalten kann.

4.1 Die Lösung des Übergeneralisierungsproblems Beginnen wir mit dem Problem, den semantischen Unterschied zwischen Paaren von Sätzen der folgenden beiden Formen zu erklären: (27) [schwaches Existenz-neutrales Prädikat + Plural] existieren. (28) Es gibt [schwaches Existenz-neutrales Prädikat + Plural]. Die Einsetzungen für (27) und (28) können semantisch komplexe oder einfache Prädikate sein. Ich diskutiere hier nur den einfachen Fall, aber die Analysen können ganz leicht auf die komplexeren Fälle ausgedehnt werden. Sätze der Form (27)

Existenz und Quantifikation

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und (28) sind Quantifikationen mit dem bloßen Plural, welche eine partikuläre Lesart haben. Das heißt, wir können Sätzen dieser Art die folgenden logischen Formen zuordnen, wenn wir in Betracht ziehen, dass ‚es gibt‘ für das einstellige Prädikat ‚G!‘ steht: (27L) 9x(Ax & E!x) (28L) 9x(Ax & G!x) Beide logischen Formen enthalten nun das Existenz-neutrale Prädikat ‚A‘ und einen Existenz-neutralen Quantor, der über alle Gegenstände quantifiziert. Der aufgezeigte semantische Unterschied zwischen Sätzen der logischen Form (27L) und (28L) lässt sich nun dadurch erklären, dass ‚E!‘ trivialerweise Existenz-implizierend ist und daher ein Satz der logischen Form (27L) aus semantischen Gründen unmöglich wahr sein kann. Ein Satz der logischen Form (28L) kann auf der anderen Seite kontingent wahr oder falsch sein, weil ‚G!‘ wie ‚A‘ ein Existenz-neutrales Prädikat ist. Die beste und naheliegendste Option die Extension von ‚G!‘ zu bestimmen, ergibt sich durch eine semantische Stipulation, die die Extension von ‚G!‘ mit dem Bereich des neutralen partikulären Quantors gleichsetzt, der alle Gegenstände umfasst. Wir verfügen somit auf dieser Grundlage über eine gute Erklärung des semantischen Unterschieds zwischen Sätzen der Form (27) und solchen der Form (28). Anderseits lässt sich auf dieser Grundlage nun auch erklären, warum sich die Situation in Bezug auf Sätze wie (27) und (28) ändert, falls wir an der Stelle von schwachen Existenz-neutralen Prädikaten Existenz-implizierende Prädikate einsetzen. Denn dann ergibt sich ein wesentlicher Unterschied zum ersten Fall und die notwendige Äquivalenz solcher Satzpaare. Auch diesen Umstand können wir nun erklären, da die logischen Formen (27L) und (28L) notwendig äquivalent werden, wenn wir ‚A‘ als ein Existenz-implizierendes Prädikat auffassen. In ganz analoger Weise können wir nun auch das verwandte Problem in Bezug auf schwache existenz-neutrales Prädikat lösen, welches Sätze der folgenden Formen betrifft: (25) Wenn [schwaches existenz-neutrales Prädikat + Plural] existieren, dann gibt es [schwaches existenz-neutrales Prädikat + Plural]. (26) Wenn es [schwaches existenz-neutrales Prädikat + Plural] gibt, dann existieren [schwaches existenz-neutrales Prädikat + Plural]. Auf der Basis der Analysen (27L) und (28L) können wir nun auch (25) und (26) die folgenden logischen Formen zuordnen, wenn wir uns auch hier der Einfachheit halber auf einfache Einsetzungen beschränken: (25L) (9x(Bx & E!x) ! 9x(Bx & G!x)) (26L) (9x(Bx & G!x) ! 9x(Bx & E!x)) Wenn es sich bei ‚B‘ nun um ein schwaches existenz-neutrales Prädikat handelt, dann ist klar, warum (25L) eine semantische Wahrheit darstellt. Denn wenn das logisch stärker Vorderglied wahr gemacht wird, dann ist immer auch automatisch das

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hintere Glied des Konditionals wahr. Das liegt vor allem daran, dass die Extension von ‚E!‘ immer eine Teilmenge der Extension von ‚G!‘ ist. Daran zeigt sich auch, warum (26L) im Gegensatz dazu nicht zwingend wahr sein muss. Wenn nämlich die Extension von ‚G!‘ größer ist als die von ‚E!‘ und das Vorderglied von (26L) wahr gemacht wird, durch etwas, was in der Extension von ‚G!‘, aber nicht in der von ‚E!‘ ist, dann ist das Hinterglied eines solchen Konditionals falsch. Das erklärt den möglichen Unterschied hinsichtlich der Wahrheitswerte von Sätzen der Form (25) und (26). Anderseits ergibt sich die notwendige Äquivalenz dieser beiden Arten von Sätzen, wenn ‚B‘ ein Existenz-implizierendes Prädikat ist. Denn dann kann es denn Fall nicht geben, dass etwas nur in der Extension von ‚G!‘ ist, nicht aber in der von ‚E!‘, wenn das Vorderglied des Konditionals von (26L) wahr ist. Somit hat die Option (I) alle semantischen Ressourcen auch diese wichtigen semantischen Unterschiede klar zu erfassen.

4.2

Die Lösung des Übertragungsproblems

Kommen wir nun zu dem zweiten verwandten Problem in Bezug auf negierte quantifizierte Existenzsätze der folgenden drei Formen: (31) Alle [starkes Existenz-neutrales Prädikat + Plural] existieren nicht. (32) Einige [starkes Existenz-neutrales Prädikat + Plural] existieren nicht. (33) Einige [schwaches Existenz-neutrales Prädikat + Plural] existieren nicht. Wir betrachten hier wieder nur kurzen den Fall, wo wir semantisch einfache Prädikate in Sätze der Form (31)–(33) einsetzen. Wir können auf dieser Grundlage nun Sätzen der Form (31)–(33) die folgenden logischen Formen zuordnen: (31L) 8x(Cx & :E!x) (32–33L) 9x(Cx & :E!x) Sätze der logischen Form (31L) sind aus semantischen Gründen immer wahr, weil ‚C‘ wenn es ein starkes Existenz-neutrales Prädikat ist, aus semantischen Gründen auf keine Dinge in der Extension von ‚E!‘ zutreffen kann. Sätze der Form (32–33L) können nun allerdings wahr oder falsch sein, sowohl falls ‚C‘ ein starkes oder ein schwaches Existenz-neutrales Prädikat ist, wenn es nämlich ein nicht-existierendes Ding gibt, welches in der Extension von ‚C‘ ist. Umgekehrt lässt auf der Grundlage von Option (I) nun auch erklären, dass sich die Wahrheitsbedingungen von (31L) und (32–33L) signifikant ändern, wenn ‚C‘ ein Existenz-implizierendes Prädikat ist. Bezüglich einer solchen Interpretation von ‚C‘ müssen wir genau genommen zwei Fälle unterscheiden: (i) Dieser Satz wird falsch, wenn es Gegenstände in der Extension von ‚C‘ gibt. (ii) Er wird auf der anderen Seite trivial wahr, wenn die Extension von ‚C‘ leer ist. Sätze der

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Form (32–33L) können unter diesen veränderten Bedingungen aus zwei unterschiedlichen Gründen falsch werden: erstens werden sie falsch, wenn es einen Gegenstand in der Extension von ‚C‘ gibt; denn dann trifft ‚:E!‘ aus semantischen Gründen darauf nicht zu; oder zweitens wenn die Extension von ‚C‘ leer ist, dann wird die ganze Formel auch falsch. Das sind signifikant andere Wahrheitsbedingungen als in den Fällen, die durch (31)–(33) repräsentiert werden.

4.3 Die Lösung des Modalitätsproblems Auch für das dritte im letzten Abschnitt aufgeworfene Problem gibt es auf der Basis von Option (I) eine angemessene Lösung. Wenn wir über Existenz-neutrale Quantoren und den besagten semantischen Unterschied zwischen Existenz-implizierenden und Existenz-neutrale Prädikaten verfügen, dann können wir auch problemlos erklären, unter welchen Bedingungen ein Satz wie der folgende wahr oder falsch sein kann: (30) Etwas, das nicht wirklich existiert, hätte existieren können. (30L) 9x(@:E!x & ˙E!x) Ein Satz der logischen Form (30L) ist wahr gdw. es einen möglichen Gegenstand gibt, der in einer nicht-aktualen Welt existiert, aber in der aktualen Welt nicht existiert. Der Satz ist falsch, falls es nur aktual existierende Gegenstände gibt; oder es keine bloß möglichen Gegenstände gäbe. Vor diesem Hintergrund scheint die Option (I) alle gewünschten Vorzüge gegenüber den beiden zuvor kritisierten Auffassungen der Semantik partikulärer Quantoren zu haben.

4.4 Probleme mit einer Semantik mit Existenz-neutralen Quantoren Gibt es nun aber auch Probleme mit Option (I)? Sind das Probleme, welche Option (II) gegeben über Option (I) favorisieren? Wichtig ist zuerst in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass man alles was man bisher auf der Basis von Option (I) erklären und erfassen konnte, ebenso auf der Basis von Option (II) erklären und erfassen kann. Die zentrale Frage ist somit, ob Option (II) irgendwelche Vorteile gegenüber Option (I) bietet. Meiner Ansicht nach gibt es insgesamt mindestens vier Vorteile von Option (II) gegenüber Option (I).

Das Problem mit unrestringierten universellen Generalisierungen Der erste Vorteil betrifft den Wahrheitswertstatus und die Wahrheitsbedingungen von völlig unrestringierten universellen Generalisierungen, die Existenz-

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implizierende Prädikate enthalten. Intuitive scheint es nämlich so zu sein, dass die folgenden beiden Sätze wahre Lesarten haben können. (34) Alles (und zwar uneingeschränkt alles) ist raum-zeitlich ausgedehnt. (35) Alles (und zwar uneingeschränkt alles) ist vergänglich in der wirklichen Welt. Beide verwendeten Prädikate sind Existenz-implizierend. Die beiden Sätze haben die beiden folgenden logischen Formen: (34L) 8xZx (35L) 8x@Vx Stellen wir uns nun eine mögliche Welt vor, in der es nur raum-zeitlich ausgedehnte Gegenstände gibt. Wenn wir den Satz (34) relativ zu dieser Welt auswerten, dann scheint er intuitiv wahr zu sein. Wir können uns darüber hinaus vorstellen, dass in der wirklichen Welt nur vergängliche Dinge gibt und sonst nichts. Vor diesem Hintergrund scheint auch der Satz (35) intuitiv wahr zu werden. Oder anderes gesprochen: Wenn es mehr Dinge gibt als die Dinge, die in der wirklichen Welt existieren, dann können auf der Grundlage von Option (I) Sätze der logischen Form (34L) und (35L) unmöglich wahr sein. Da im Rahmen von Option (I), der Bereich relativ zu jeder beliebigen Welt leer sein kann, aber die Menge aller Gegenstände aus logischen Gründen niemals leer sein kann, ergibt sich dieser Unterschied sogar zwingend aus semantischen Gründen. Intuitiv scheint es aber so zu sein, dass uneingeschränkte Generalisierungen mit Existenz-implizierenden Prädikaten wahr sein können. Doch diese semantische Option gibt es nur auf der Basis von Option (II) und der Annahme adaptiver Quantoren. Wenn wir nämlich die Quantoren adaptiv deuten und ‚V‘ und ‚Z‘ existenz-implizierende Prädikate sind, dann hat der Allquantor in (34L) und (35L) als Bereich nicht alle Gegenstände, sondern nur alle wirklichen oder alle relative zu dieser Welt existierenden Gegenstände, je nachdem welche der zwei eingeführten Versionen der Semantik von adaptiven Quantoren wir verwenden. Dieser Umstand scheint ein echter Vorteil von Option (II) zu sein.

Das Bestimmungsproblem Ein weiterer Nachteil von Option (I) besteht darin, dass man auf der Grundlage einer neutralen Semantik für Quantoren, die als Bereich die Menge aller Gegenstände hat, nur einen engen semantischen Zusammenhang zwischen diesem Bereich und der Extension von ‚es gibt‘ / ‚G!‘ herstellen kann. Das Prädikat ‚G!‘ lässt sich am besten zu verstehen, dass es relativ zu allen Welten dieselbe Extension hat, nämlich die Menge aller Dinge. In diesem Sinn ist die Extension dieses Prädikats immer dieselbe wie der Bereich der Quantoren. Es gibt somit einen engen semantischen Zusammenhang zwischen der Semantik der Quantoren und der von ‚G!‘ und wir können das Prädikat ‚G!‘ auf dieser Grundlage als ein logisches Prädikat ansehen, mit einer fixierten Semantik, die nicht von Interpretationsfunktion abhängig ist. Relativ zu solch einem logischen System besteht aber ein signifikanter Unterschied zwischen ‚es gibt‘ und ‚existiert‘. Aufgrund der aufgezeigten semantischen

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Unterschiede zwischen ‚es gibt‘ und ‚existiert‘, kann ‚existiert‘ nicht ebenso im logischen System verankert und als logisches Prädikat aufgefasst werden. Das heißt, die Semantik von ‚existiert‘ muss unabhängig bestimmt werden. Es besteht hier auch nicht der Ausweg mittels des Aktualitätsoperators ‚@‘ und des logischen Prädikats ‚G!‘ die gewünschte Restriktion auf existierende Dinge zu erzielen. ‚G!‘ hat relativ zu allen Welten dieselbe Extension und diese Extension umfasst immer alle Gegenstände. Das heißt, durch den Aktualitätsoperator wird weder eine Einschränkung erzielt noch kann damit eine erwünschte Variation zwischen Welten erzielt werden. Es muss daher eine andere Bestimmung von ‚existiert‘ gegeben werden, die nicht im logischen System selbst erfolgt; bspw. eine rein metaphysische Bestimmung. Der Vorteil von Option (ii) besteht nun darin, dass man im Rahmen der Version, die auch auf welt-relative Diskursuniversen zurückgreift, nicht nur mindestens drei Optionen zur Bestimmung von Existenz-artigen Prädikaten hat, sondern dass man mit der Gleichsetzung der welt-relativen Extensionen von ‚E!‘ mit den welt-relativen Diskuruniversen D(w) auch genau die gewünschte Interpretation erzielen kann, welche all unseren diskutierten Beispielsätzen zugrunde liegt. Das heißt, dieser Vorteil besteht nun in zweierlei: (a) Man kann auf der Grundlage von Option (II) neben ‚G!‘ auch ‚E!‘ als logisches Prädikat auffassen und damit semantisch in der logischen Sprache verankern. (b) man erspart sich die Suche nach einer angemessenen nicht-logischen bzw. möglicherweise kontroversen rein metaphysischen Bestimmung von ‚E!‘. Dieser auf den ersten Blick vielleicht nur kleine Vorteil, erweist sich als gewichtig und entscheidend, wenn man noch eine weitere Konsequenz davon in Betracht zieht.

Das Unterscheidungsproblem Wenn man sich für die Option (I) entscheidet, dann steht und fällt die Angemessenheit einer formal-semantischen Analyse von Generalisierungen und Existenzaussagen auf dieser Basis mit der Akzeptanz der Unterscheidung zwischen Existenz-implizierenden und Existenz-neutralen Prädikaten und ihrer angemessenen Interpretation. Da es aber auf der Basis von Option (I) keine sinnvolle Möglichkeit gibt, die Bestimmung der Extension von ‚E!‘ im logischen System selbst zu verankern, kann auch die Unterscheidung zwischen Existenz-implizierenden und Existenz-neutralen Prädikaten nicht direkt im logischen System verankert werden. Das heißt, wir müssen dann für jedes einzelne nicht-logisches Prädikat ‚Φ‘, welche als Existenz-implizierenden gelten soll, ein zusätzliches Bedeutungspostulat der Form ‚8x(Φx ! E!x)‘ einführen, um damit sicher zu stellen, dass es als Existenz-implizierenden, wenn schon nicht in einem logischen Sinn, dann wenigstens in einem semantischen Sinn eingestuft wird. Das ist ein großer Nachteil! Er verkompliziert nicht nur unser semantisches System, sondern er lässt aufgrund der vielen einzelne zusätzlichen Postulate die Unterscheidung zwischen Existenz-implizierenden und Existenz-neutralen Prädikaten auch als ad hoc und beliebig erscheinen. Ganz anders verhält sich die Sache im Rahmen von Option (II) und wenn man (a) die im Abschn. 4.1 vorgeschlagene Bestimmung von ‚E!‘ vornimmt und (b) die von mir vorgeschlagen Unterscheidung zwischen Existenz-implizierenden und Existenz-neutralen Prädikaten verwendet.

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Denn auf dieser Grundlage ist die Eigenschaft der Existenz-Implikation eines Prädikats in das logische System eingeschrieben und die besagten ExistenzImplikationen haben den Status rein logischer Implikationen. Man kann auf dieser Grundlage auch ganz klar sagen, unter welchen Bedingungen ein beliebiges Prädikat, welches von der Interpretationsfunktion interpretiert wird, ein Existenz-implizierendes ist. Alle Prädikate, die nur welt-relative Extensionen haben können, die eine Teilmenge der entsprechenden welt-relativen Extension von ‚E!‘ sind, sind existenz-implizierende Prädikate. Alle übrigen Prädikate sind Existenzneutral. Will man semantisch garantieren, dass Prädikate relativ zu allen möglichen Interpretationen existenz-implizierend sind, dann muss man zusätzlich, die Interpretationsfunktion demensprechend strukturieren und relativieren und bereits auf der syntaktischen Ebene unterschiedliche Typen von Prädikaten unterscheiden. Das heißt dann, dass die Interpretationsfunktion solchen Prädikaten, die syntaktisch als Existenz-implizierend markiert sind, nur Extensionen relativ zu Welten zuordnen darf, welche die angeführte Restriktion für existenz-implizierende Prädikate erfüllen. Analoge Restriktionen muss es dann auch für intensionale und hyperintensionale Prädikate geben, die im System zu diesem Zweck auch syntaktisch markiert werden. Option (II) bietet auf dieser Grundlage nicht nur ein einfacheres und eleganteres formales System, sie liefert auch eine uniforme Fundierung für die besagte Unterscheidung, die nicht ad hoc ist.

Das Problem der semantischen Redundanz Ein letzter Vorteil von Option (II) gegenüber Option (I) betrifft die Ökonomie der Wahrheitsbedingungen in Bezug auf universelle und partikuläre Generalisierungen. Wenn eine Generalisierung nur existenz-implizierende Prädikate enthält, dann zieht eine neutrale Semantik der Quantoren die Erfüllung aller Gegenstände durch ein solches Prädikat in Betracht, obwohl nicht-existierende Gegenstände aus rein semantischen Gründen als Erfüller der Prädikate gar nicht in Betracht kommen können. Die Wahrheitsbedingungen beinhalten somit im typischen Fall eine unendliche Anzahl von Bedingungen, die in Betracht gezogen werden, aber völlig redundant für die Bestimmung des Wahrheitswerts einer Generalisierung sind. Das ist auf der Basis der von uns angeführten adaptiven Semantik nicht der Fall. Durch diese Semantik werden alle angeführten redundanten Bedingungen in Bezug auf die Bestimmung der Wahrheitswerte von universellen und partikulären Generalisierungen, die ausschließlich existenz-implizierende Prädikate enthalten, durch die adaptive Semantik der Quantoren als irrelevant ausgeschlossen und für die Wahrheitswertermittlung nicht berücksichtigt. Das gleiche Problem ergibt sich natürlich in Bezug auf Generalisierungen, die nur intensionale Prädikate enthalten. Auch hier gibt es vergleichbar unnötige Redundanzen auf der Basis von Option (I). Die Option (II) liefert auch hier den ökonomischeren Weg der Bestimmung der Wahrheitswerte von Generalisierungen und ist somit auch aus Ökonomiegründen der Option (I) vorzuziehen. Die vier angeführten Vorteile von Option (II) (und der darin enthaltenen neuartigen Semantik adaptiver Quantoren) rechtfertigen m. E. den Vorzug dieser Optionen gegenüber allen drei diskutierten Alternativen. In diesem Sinn ist ein semantisches

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System mit adaptiven Quantoren und der vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen Existenz-implizierenden und Existenz-neutralen Prädikaten die beste Wahl, wenn es darum geht, die intuitiven semantischen Implikationen zwischen Generalisierungen und Existenzaussagen am besten zu modellieren.

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Wo ist er denn, der Osterhase? Überlegungen zur Bezugnahme in fiktionalen Kontexten Jakob Steinbrenner

Zu den freudigsten Momenten im Leben nicht nur eines Kindes kann gehören, wenn man etwas durchschaut hat. Zu diesen unvergesslichen Momenten gehört bei mir – und ich vermute, bei vielen anderen verhält es sich ähnlich – jener, in dem ich erkannte, dass der Nikolaus in Wirklichkeit mein Onkel Klaus war und ich danach induzierte, dass es mit der Existenz des Christkinds und des Osterhasen auch nicht weit her sei. Kurzum, ich erkannte, dass die Ausgangsfrage ‚Wo ist er denn, der Osterhase?‘ nur von Kleinstkindern ernstgenommen werden könne und für Erstklässler eine Beleidigung des Intellekts darstelle. Und ich muss gestehen, ich bin weiterhin dieser Ansicht. Osterhasen existieren nicht und alle mir bekannten Versuche von philosophischer Seite, ihnen Leben einzuhauchen, und wenn auch nur in Form einer speziellen Art von Existenz, haben mich bisher nicht überzeugt. Was ich sehen kann, sind Schokoladeosterhasen und andere Varianten von Osterhasendarstellungen, aber der Osterhase selbst ist unsichtbar, da nicht existent. Ich vertrete daher im Folgenden zum einen die Auffassung, dass der Name ‚Osterhase‘ nichts denotiert1 und zum anderen, dass man als existent nur das annehmen sollte, was prinzipiell wahrnehmbar ist.2 Beide Auffassungen sind bekanntermaßen in philoso-

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Die Auffassung, dass fiktionale Namen nichts denotieren, wird von einer Vielzahl sogenannter antirealistischer Positionen vertreten (z. B. Searle, Currie, Walton, Goodman), aber auch von Klassikern wie Mill und Frege, wenn sie für Letzteren jedoch zumindest einen ‚Sinn‘ haben (ders. 1892, 47 f.). Von antirealistischen Positionen sind realistische zu unterscheiden, für die fiktionale Namen Gegenstände bezeichnen, wenn auch rein fiktive (vgl. Rami 2013, 187 f.). 2 Dies können gewöhnliche Gegenstände, aber auch komplexere kulturelle Artefakte (Theorien etc.) sein (vgl. Steinbrenner 2016). Für Kritik, Verbesserungsvorschläge und Ermunterung bin ich den Teilnehmern der Existenztagung sehr dankbar. Insbesondere möchte ich mich für die zahlreichen Hinweise und Einwände bei Tom Poljansek und Samuel Ulbricht bedanken. J. Steinbrenner () Universität Stuttgart Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Luckner, S. Ostritsch (Hrsg.), Philosophie der Existenz, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04880-6_7

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phischen Kreisen höchst umstritten, erwähnt sei nur die vermeintliche Existenz von Möglichkeiten, Zahlen und vielem mehr. Zu diesen vermeintlichen Existenzen werde ich im Folgenden nichts weiter bemerken, sondern möchte nur darauf hinweisen, dass in der Philosophie keine allgemein akzeptierte Deutung der Standardverwendungen der Ausdrücke ‚Möglichkeit‘ und ‚Zahl‘ zu finden ist. Was ich im Folgenden dagegen behandeln möchte, sind Figuren wie der Osterhase, der Nikolaus, Obelix und der allseits bekannte Sherlock Holmes. Worin ‚bestehen‘ diese Figuren3 respektive wie sind Sätze zu analysieren, in denen Ausdrücke wie ‚Nikolaus‘, ‚Osterhase‘, ‚Obelix‘ oder ‚Sherlock Holmes‘ zu finden sind? Beginnen möchte ich mit den beiden letzteren, da ihre Verwendung präziser kodifiziert ist als bei den erst genannten. Erinnert sei nur daran, dass nach Auffassung mancher die Figur des Nikolaus und des Osterhasen in Wirklichkeit ein und dieselbe Figur sei. Um dies zu erkennen, müsse man sie nur ihrer Metallfolie entkleiden und die nackte Schokoladenfigur betrachten. Auf solch philosophisch hochkomplexe Transfigurationen möchte ich nicht eingehen, wenn sie uns auch in der einen oder anderen Form wieder begegnen werden. Allein die Tatsache, dass sich je nach Region und unter Umständen Familien die Verwendung und Beschreibung der Figuren Nikolaus und Osterhase stark unterscheiden können, lässt es sinnvoller erscheinen, sich für das Erste auf die Figur des Obelix und des Sherlock Holmes zu beschränken. Für beide Figuren gilt, dass wir uns auf einen relativ begrenzten Bild- respektive Textkörper beziehen können. Beginnen wir mit Sherlock Holmes: (1) Sherlock Holmes wohnt in der Baker Street Nr. 221b, nahe dem Regent’s Park in London. Dieser Satz beschreibt nichts, da niemals eine Person namens Sherlock Holmes in der Baker Street gewohnt hat. Wenn man so will, trifft das Prädikat ‚wohnt in der Baker Street Nr. 221b‘ nicht auf Sherlock Holmes zu. Das Gleiche gilt meinem Kenntnisstand nach für alle Prädikate, die in den Romanen Doyles auf Sherlock Holmes angewandt werden. Dies legt die in großer Mehrheit geteilte Auffassung nahe, dass Sätze der Art (1) weder wahr noch falsch sind4 und daher keinen üblichen Wahrheitswert besitzen.5 3

Ein Leichtes ist es, zur Klärung dieser Frage abstrakte oder mentale Entitäten zu postulieren. Schwieriger dagegen ist es, für diese Quines Diktum zu erfüllen, nämlich Identitätsbedingungen anzugeben, und zudem keinen unnötigen ontologischen Ballast mit sich zu führen und bestenfalls unsere vortheoretischen Intuitionen zu erfüllen. Wobei letzte Forderung in Anbetracht der schwachen und sich vielmals wiederstreitenden Intuitionen fraglich ist (vgl. Braun 2005, 25). 4 Dies schließt nicht aus, dass Sätze wie (1) für fiktional wahr gehalten werden (Walton 1973) oder in einer möglichen Welt wahr sind (Lewis 1978) etc. Ich komme darauf später noch einmal zurück. 5 Meines Erachtens führt Freges fragwürdiger Gedanke, dass Wahrheitswerte die Bedeutung von Sätzen sind, zur noch weniger einleuchtenden Auffassung, dass fiktionale Sätze respektive Eigennamen auch irgendeinen Bezug haben müssen, ob dies nun mögliche Welten (Lewis 1978), abstrakte Gegenstände (Wolterstorff 1980; Zalta 1983), Quasi-Bezugnahmen (Schnieder/Solodkoff 2009), ‚mental files‘ (Hartenstein 2012), Typen (Braun 2005, 22), oder was auch immer sein

Wo ist er denn, der Osterhase? Überlegungen zur Bezugnahme in fiktionalen Kontexten

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Gleiches trifft nicht für den folgenden Satz zu: (2) In Doyles Roman wohnt Sherlock Holmes in der Baker Street Nr. 221b, nahe dem Regent’s Park in London. Dieser Satz ist offensichtlich kein Satz aus einem Roman Doyles, aber er ist eine Beschreibung, die auf die Sherlock Holmes Romane Doyles zutrifft. Der Satz (2) trifft dabei deshalb auf den Roman zu, weil dieser den Satz (1) enthält oder zumindest Sätze, aus denen der Satz (1) folgt.6 Der Ausdruck ‚im Roman‘ funktioniert dabei in Satz (2) ähnlich zu Anführungszeichen. Grund hierfür ist, dass der Ausdruck ‚Roman‘ in Satz (2) deutlich macht, dass es nicht um den gewöhnlichen Bezug der Wörter geht, sondern vielmehr um die Wörter selbst. Satz (2) deutet somit an, dass im besten Fall im Roman von Doyle der Satz (1) zu finden ist. Satz (2) ähnelt somit folgendem Satz: (3) In Ernst Jandls Gedichtband ‚Sprechblasen‘ findet sich der Ausdruck ‚vünv‘. Der Ausdruck ‚vünv‘ denotiert nichts, aber ungeachtet dessen kann mit dem Anführungskomplex (Ausdruck plus Anführungszeichen) in Satz (3) auf eine Buchstabenreihe in Jandls Werk Bezug genommen werden.7 An dieser Stelle sei auf eine kleine Parallele bezüglich Auffassungen zur Analyse von Anführungskontexten verwiesen. Nach traditioneller Auffassung, beispielsweise von Tarski und Quine, sind Anführungskontexte opak und nehmen als solche nur auf bestimmte Buchstabensequenzen Bezug, aber nicht auf das, worauf diese Buchstabenreihen unter normalen Bedingungen Bezug nehmen.8 Für den Ausdruck Anführungszeichen-Er-Oh-Em-Anführungszeichen heißt dies, dass er auf die Buchstabenfolge ‚Rom‘ Bezug nimmt. Dass diese Folge im gewöhnlichen Kontext ohne Anführungszeichen auf die Stadt Rom Bezug nimmt, wird ausgeblendet. Gegen diese klassisch zu nennende Auffassung von Anführungskomplexen lässt sich folgendes Beispiel geben. Wenn ich folgenden Satz niederschreibe: (4) Gauland verglich das Dritte Reich mit einem ‚Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte‘, in seiner Rede beim Bundeskongress der AfD-Nachwuchsorganisation Junge Alternative im thüringischen Seebach, dann geht es mir natürlich nicht nur um die Buchstabenfolge V-o-g-e-l-s-c-h-i-s-s, sondern um Gaulands Vergleich des Dritten Reichs mit einem Vogelschiss und der mögen. Das einzig Verbindende scheint zu sein: „Whatever the semantic facts are, we should not expect ordinary speaker’s intuitions to reflect them in any straightforward manner“ (ebd., 25). 6 Eine interessante Frage dabei ist, nach welchen Regeln Sätze der Art (1) in Sätzen der Art (2) wahrheitserhaltend verändert bzw. informativ abgeschwächt wiedergeben werden können (vgl. Steinbrenner 2004). Eine weitere Frage, auf die ich später noch zurückkomme, lautet, was aus fiktionalen Sätzen (logisch) folgt. 7 Ich stehe also in der Tradition Mills, der zufolge fiktionale Namen keinen Bezug haben (vgl. Braun 2005). Sätze der Art ‚Sherlock Holmes existiert nicht‘ sind m. E. gleichwohl wahr, da ich sie elliptisch auffasse im Sinne von ‚Der Name ‚Sherlock Holmes‘ denotiert nichts‘. 8 Vgl. Steinbrenner 2004.

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weiterführenden Frage, wie Deutschland, ein Produkt des 19. Jahrhunderts, eine „1000 jährige“ Geschichte haben kann. Satz (4) kann somit als ein Beispiel dafür angesehen werden, dass Anführungskomplexe nicht prinzipiell undurchsichtig sind, da Gauland tatsächlich und wörtlich (daher die Anführungszeichen) das Dritte Reich mit einem Vogelschiss verglich. Fälle dieser Art, in denen sowohl die Buchstabenfolge und die gewöhnliche Verwendung der angeführten Ausdrücke von Bedeutung sind, werden in neuerer Zeit als gemischte Anführung bezeichnet.9 Gleiches, so könnte man meinen, trifft auf den Ausdruck ‚Baker Street‘ und andere Ausdrücke im Roman zu. Wenn ich daher Sätze folgender Art äußere: (5) Doyle schreibt in seinem Roman, dass Holmes in London in der ‚Baker Street‘ wohnt, möchte ich mich mit dem Anführungskomplex „‚Baker Street‘“ auf den Ausdruck ‚Baker Street‘ und die Baker Street Bezug nehmen. Lässt sich Satz (5) aber korrekterweise analog zu Satz (4) auffassen? Also, dass der Anführungskomplex „‚Baker Street‘“ auf die Buchstabenreihe ‚Baker Street‘ und die tatsächliche Baker Street Bezug nimmt? Lässt sich hiergegen nicht einwenden, dass in der Straße mit dem Namen ‚Baker Street‘ im Roman zwar Sherlock Holmes wohnt, aber nicht in der Londoner Straße und es sich daher um zwei unterschiedliche Straßen handeln muss? Oder bezeichnet womöglich der Straßenname im Roman überhaupt keine Straße? Für Letzteres möchte ich plädieren.10 Um meine Auffassung ein wenig zu motivieren, wenden wir uns Obelix zu. Kein Kenner der Asterix-Comics kommt auf die Idee, dass deren Bilder reale Situationen darstellen. Es sind, wenn man so will, Darstellungen, die nichts darstellen. Ungeachtet dessen bieten sich für sie Klassifizierungen an, die sich mit Klassifizierungen gewöhnlich darstellender Bilder überschneiden. So können wir beispielsweise im Fall eines Obelixbildes wie im Fall eines Gerard-Depardieus-Bildes von einer Dicken-Mann-Darstellung sprechen.11 Die Arten der Klassifizierung von Bildern ist häufig das Ergebnis von sogenannten So-tun-als-ob-Spielen, d. h. wir tun vor Bildern so, als ob wir über die Gegenstände selbst sprächen. Wir sagen beispielsweise in Anbetracht eines Obelixbildes: (6) Der ist aber fett, der isst wohl zu viel. Sätze dieser Art funktionieren in Kontexten wie diesem offensichtlich ungeachtet möglicher Bezugnahmen des Bildes auf reale Tatsachen und Gleiches gilt für Satz (1). Der springende Punkt dabei ist gleichwohl der, dass wir in einem Sotun-als-ob-Spiel bezogen auf Bilder von Obelix Dicke-Mann-Beschreibungen nicht 9

Vgl. Saka (1998) und Steinbrenner (2004, § 2.1.6.3). Ausnahmen bilden die Titel der Romane (vgl. Steinbrenner 2007). 11 Den Ausdruck ‚Darstellung‘ reserviere ich im Folgenden für gegenständliche Bilder, die sowohl etwas wie auch nichts denotieren können. ‚Abbildungen‘ nenne ich dagegen Bilder, die ein Denotat besitzen. 10

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aber Dünne-Mann Beschreibungen (beispielsweise der Art ‚Der ist aber klapprig dürr‘) verwenden dürfen. Der einfache Grund dafür ist, dass auf ein Obelixbild das Prädikat ‚Dickes-Mann Bild‘ und nicht ‚Dünnes-Mann Bild‘ passt.12 Stellen wir uns nun ein Obelixbild vor, auf dem wir Obelix zusammen mit Julius Cäsar sehen. Dieses Bild stellt offensichtlich keine reale Szene dar. Ungeachtet dessen scheint es sich aber um eine Julius-Cäsar-Darstellung zu handeln. Die Sache verhält sich also analog zu einer Sherlock-Holmes-Darstellung, die ihn in der Baker Street verortet. Es bietet sich an, zwischen realen und fiktionalen CäsarDarstellungen zu unterscheiden. Das Bild, das Cäsar zusammen mit Obelix zeigt, ist keine reale Cäsarabbildung sondern eine fiktionale, wenn es auch genau wie ein reales Cäsarabbild als Cäsardarstellung bezeichnet werden kann. Ist das aber plausibel? Meine Überlegungen, wie bisher ausgeführt, orientieren sich offensichtlich stark an Nelson Goodmans Auffassung fiktionaler Zeichen und an Kendall Waltons Sotun-als-ob (Mimes-as-Make-Believe)-Theorie. Der Gedanke Goodmans ist, dass es Darstellungen und Beschreibungen mit Nulldenotation gibt, die also nichts denotieren, aber gleichwohl bestimmte Merkmale ihrer selbst exemplifizieren können. Dies bedeutet im Normalfall, dass bestimmte höherstufige Prädikate durch das Bild exemplifiziert werden. Beispielsweise kann ein Obelixbild unter Umständen das Prädikat ‚Dickes-Mann-Bild‘13 exemplifizieren. Der springende Punkt ist also der, dass Zeichen in bestimmten Kontexten nichts denotieren, aber gleichwohl etwas exemplifizieren. Die Exemplifikation darf dabei nicht als Konverse der Denotation aufgefasst werden, da nur bestimmte Prädikate durch das Zeichen exemplifiziert werden. Goodmans Beispiel ist eine Stoffprobe, die, obwohl sie nichts denotiert, gleichwohl bestimmte Prädikate, die auf sie anwendbar sind, exemplifiziert.14 Im Falle von Darstellungen und Beschreibungen, die nichts denotieren, stellt sich daher die interessante Frage, welche Prädikate sie exemplifizieren respektive unter welche Kategorisierungen sie fallen. Waltons grundlegender Gedanke ist dagegen der, dass Bilder und fiktionale Texte ähnlich zu Spielen funktionieren, bei denen wir uns vorstellen, dass bestimmte Gegenstände etwas anderes sind als das, was sie tatsächlich sind. Walton gibt hierzu das Beispiel, dass sein Partner und er bei einem Waldspaziergang so tun, als ob Baumstümpfe Bären wären.15 Walton sagt beispielsweise: ‚Da vorne sitzt ein gro-

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Wie später zu sehen sein wird, ist dies das Scharnier zwischen faktischer und fiktionaler Wahrheit. 13 Der Grund dafür, dass zwischen den einzelnen Ausdrücken Bindestriche stehen, besteht darin, dass die Ausdrücke, die neben den Bindestrichen stehen, nicht ihre gewöhnliche Extension besitzen. Beispielsweise muss ein Morgenstern-Bild kein Abendstern-Bild sein. Gleichwohl können wir aus ‚k ist ein Obelix-Bild‘ ableiten, ‚k ist ein Bild‘ und ‚k ist von Obelix‘ (vgl. Goodman 1984, III,3). 14 Neben Prädikaten wie ‚ist rot‘, ‚ist sehr leicht‘ etc. können nach Goodman auch nichtsprachliche Etiketten exemplifiziert werden (ders. III,4). Nicht exemplifiziert wird dagegen im Beispiel der Stoffprobe bei Goodman die Form, d. h. beispielsweise das Prädikat ‚quadratisch‘. 15 Walton 1990, Abs. 1.5.

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ßer‘. Sein Partner entgegnet: ‚Dem sollten wir versuchen, aus dem Weg zu gehen.‘ Walton antwortet: ‚Dazu müssten wir aber den Bach überqueren‘ usf. Die Frage, die für meine weiteren Überlegungen von Interesse ist, lautet, inwiefern die anderen Gegenstände im Wald auch ihre gewöhnliche Rolle ändern und Teil des Spiels werden respektive ob der von Walton geäußerte Ausdruck ‚Bach‘ seine Bezugnahme verliert oder zumindest verändert. Übertragen auf unseren Osterhasen lautet die Frage, inwiefern im Satz (7) Der Osterhase sitzt in unserem Garten, der Ausdruck ‚in unserem Garten‘ seine Bedeutung verändert. Scheinbar hängt dies davon ab, was für eine Auffassung wir bezüglich Eigennamen respektive Kennzeichnungen vertreten. So ließe sich denken, dass, wenn wir eine kausale Theorie der Eigennamen vertreten und diese als starre Designatoren verwenden, der Ausdruck auf die gleiche Weise wie in der nichtfiktiven Rede denotiert. Sind wir dagegen Anhänger einer Bündeltheorie, dann werden wir mit dem Ausdruck ‚unserem Garten‘ auf ein leicht abweichendes Bündel Bezug nehmen, nämlich auf ein Bündel, zu dem im Falle der fiktionalen Rede die Eigenschaft gehört, dass ein Osterhase in ihm sitzt. Ungeachtet dessen, welche Positionen man hinsichtlich der Bezugnahme von Eigennamen oder Kennzeichnungen vertritt, sollte deutlich sein, dass die Prädikate jeweils eine andere Funktion besitzen. Geht man beispielsweise von der Annahme aus, dass das zweistellige Prädikat ‚sitzt in‘ korrekterweise nur auf bestimmte Paare von wahrnehmbaren Gegenständen angewendet werden darf, scheint seine Anwendung auf fiktive Gegenstände erst einmal problematisch.16 Ist dem aber so? Betrachten wir dazu die folgenden Sätze, die im geeigneten Kontext sicherlich als unbedenkliche Äußerungen gelten können: (a) (b) (c) (d) (e)

Die Katze sitzt im Garten. Der (Schokoladen-)Osterhase sitzt im Garten. Der Osterhase sitzt im Garten. Ödipus sitzt nicht im Theater. Captain Kirk sitzt im Raumschiff Enterprise.

Den Satz (a) können wir beispielsweise dann äußern, wenn wir unser Gegenüber darauf aufmerksam machen wollen, dass eine echte wahrnehmbare Katze an einem 16

Im gleichen Sinne lässt sich danach fragen, ob im Satz ‚Watson ist der Mitarbeiter von Sherlock Holmes‘ der Relationsausdruck ‚Mitarbeiter von‘ in seiner gewöhnlichen Weise verwendet wird. Zahlreiche Autoren vertreten daher die Auffassung, dass Prädikate in fiktionalen Kontexten nicht ihren gewöhnlich konventionellen semantischen Gebrauch besitzen (vgl. Manning 2014, 15), während andere diesen auch im fiktionalen Gebrauch beibehalten wollen (ebd. Abs. IV). Der Preis für letztere Auffassung ist der, dass man fiktive Gegenstände annehmen muss und fiktionale Darstellungen gewissermaßen transparent sind. Das heißt, im Comic ist Obelix dick und in Doyles Roman ist Sherlock Holmes ein Detektiv und aus dem jeweiligen ‚ist‘ wird gefolgert, dass die fiktiven Figuren die jeweiligen Merkmale in einer de re mentalen Repräsentation besitzen (ebd., 21).

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bestimmten Platz im Garten sitzt. Unser Gegenüber kann in diesem Fall nachfragen, wie die Katze aussieht, an welcher Stelle im Garten sie sitzt etc. Und wenn unser Gegenüber an unseren Aussagen zweifelt, können wir ihn bitten, aus dem Fenster in den Garten zu gucken. Satz (b) ist vergleichbar mit Satz (a), da schlussendlich kein großer Unterschied zwischen Katzen und Schokoosterhasen besteht. Der zu Satz (b) gleichlautende Satz (c) ist dagegen von anderer Art. Man stelle sich beispielsweise den Fall vor, dass das Kind fragt, wo der Hase hin gehoppelt ist und man mit Satz (c) antwortet. Wie der Satz in diesem Fall zu interpretieren ist, hängt davon ab, welche Kompetenzen man dem Kind und welche Intentionen man dem Sprecher zuschreibt. Zumindest zwei Fälle lassen sich hier unterschieden: Im ersten spielt der Sprecher das So-tun-als-ob-Spiel gewissermaßen mit sich alleine, da das Kind fälschlicherweise glaubt, der Osterhase säße im Garten, im zweiten kennt es dagegen die Spielregeln und spielt mit.17 Von dieser zweiten Verwendungsart möchte ich im Folgenden ausgehen. Setzt man dies voraus, scheint der Satz Ähnlichkeit zu Satz (d) aufzuweisen. Ödipus mag in Theben auf dem Königsthron gesessen haben, aber auf dem Bühnenthron im Theater kann bestenfalls der Schauspieler (analog zum Schokoosterhasen) sitzen, der Ödipus verkörpert. Analog lässt sich nun behaupten, dass der Osterhase nicht in unserem Garten sitzen kann. Für Satz (c) bedeutet dies, dass für das Kind, das das So-tun-als-ob-Spiel beherrscht, dieser Garten nur in seiner Vorstellung existiert respektive nur Teil des So-tun-als-ob-Spiels ist, und/oder der wirkliche unsrige Garten nicht gemeint ist. Es scheint ebenso klar, dass der Ausdruck ‚die Vorstellung meines Zimmers‘ nicht mein Zimmer denotiert. Aber was spricht dagegen zu behaupten, dass auch der Garten Teil des So-tun-als-ob-Spiels ist? Die Antwort lautet schlicht: Nichts spricht dagegen, weil in unserem Garten kein Osterhase sitzen kann. Dies schließt nicht aus, dass das Kind den Osterhasen anschauen, umwerfen etc. kann. Aber dies ist ein Anschauen, Umwerfen im So-tun-als-ob Spiel. Was es tatsächlich in der Realität anschaut und umwirft ist gegebenenfalls der reale Schokoosterhase. An dieser Stelle ist es wichtig, eine Unterscheidung im Auge zu behalten. Es scheint auf den ersten Blick naheliegend den Satz: (8) Ich sehe Obelix. elliptisch aufzufassen, d. h. so zu deuten, also ob ich tatsächlich etwas der Art sagen wollte wie: (9) Ich sehe im Bild den (Bild-)Obelix.

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Worin aber besteht der Unterschied zwischen folgenden beiden Sätzen? (a) Das Kind glaubt fälschlicherweise, dass Viktor Orban der gegenwärtige Präsident der USA ist. (b) Das Kind glaubt fälschlicherweise, dass der Osterhase im Garten sitzt. Im ersten Fall prädiziert das Kind ein falsches Prädikat auf Orban und im zweiten Fall geht es fälschlicherweise davon aus, dass der Ausdruck ‚Osterhase‘ einen Gegenstand denotiert.

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Bei dieser vermeintlichen Gleichsetzung wird jedoch übersehen, dass beide Sätze völlig unterschiedliche Funktionen haben.18 Der erste ist ein Zug in einem So-tunals-ob-Spiel, der zweite beschreibt von außerhalb, was ich bei einem So-tun-alsob-Spiel mache. Streng genommen ist der erste Satz keine Beschreibung, sondern nur ein So-Tun, als ob ich den Obelix sehen würde, während der zweite Satz eine Bildbeschreibung ist respektive eine Regel dafür, wie dieses Bild in einem So-tunals-ob-Spiel zu funktionieren hat.19 In diesem Sinne denotiert auch Satz (e) nichts, sondern ist nur ein Zug in einem So-tun-als-ob-Spiel. In letzterer Hinsicht unterscheidet sich Satz (e) von Satz (d). Satz (d) können wir dazu verwenden, um jemandem So-tun-als-ob-Spiele beizubringen, aber er ist kein Satz des Spiels selbst, sondern mit ihm bringen wir jemandem eine Spielregel bei (von gleicher Art ist beispielsweise die Regel, dass man bei einem Mord auf der Bühne (‚So-tun-als-ob-Mord‘) nicht eingreifen darf). Eine spannende Frage dabei ist natürlich die, wie die Regeln lauten, die uns beigebracht werden und uns leiten, wie in fiktionalen Kontexten unsere wohlvertrauten Ausdrücke zu verwenden sind. Kurze Zusammenfassung: Ausgangspunkt meiner Überlegungen war die Annahme, dass Osterhasen nicht existieren. Die daran anschließenden Fragen lauteten, ob und wie in den Sätzen (1) und (2) der Ausdruck ‚Baker Street‘ Bezug nimmt. Ich argumentierte dafür, dass fiktive Eigennamen, Kennzeichnungen und ähnliche Ausdrücke in fiktionalen Texten gar nicht(s) denotieren. Eine andere Frage war, inwieweit gewöhnliche bezugnehmende Eigennamen (z. B. ‚Julius Cäsar‘) oder Kennzeichnungen (z. B. ‚unser Garten‘) in Sätzen wie (2) auf gleiche oder ähnliche Weise Bezug nehmen wie in gemischten Anführungskontexten. Eine genauere Antwort hierauf steht noch aus. Schließlich fragte ich danach, ob unter Umständen Prädikate in fiktionalen Kontexten auf andere Weise verwendet werden als in gewöhnlichen. Meines Erachtens trifft dies zu. Dies führte zur letzten Frage, wie sich fiktionale Verwendungen von Ausdrücken (Namen, Prädikate etc.) von gewöhnlichen unterscheiden und auf welche Weise wir diese Nichtstandardweisen erlernen. Betrachten wir dazu folgenden Satz: (10) Das Steckenpferd hat vorne seinen Kopf und hinten seinen Schwanz. Diese Regel muss selten explizit genannt werden. Kinder gehen stillschweigend davon aus, wenn sie auf ihrem Stecken reiten. Sie geben ihrem Pferd hinten einen Klaps, dass es schneller reitet und ziehen vorne am Kopf, wenn sie wollen, dass es stehen bleibt. Oder anders ausgedrückt: Woran sie tatsächlich ziehen, ist bestenfalls der Stock. Entscheidend ist, dass sie Ausdrücke verwenden wie beim echten Reiten und ebenso manche Bewegungen ausführen, die an die beim Reiten erinnern. Beides ist aber nur eingeschränkt mit den tatsächlichen Verwendungen der Ausdrücke und 18

Genau diesen Fehler begeht Künne (2007, 58). Wenn man diese Unterscheidung verstanden hat, wird ersichtlich, dass der Einwand von Reicher (2014, 168) gegenüber So-tun-als-ob-Theoretikern unzutreffend ist, nämlich dass diese keine extern fiktionalen Sätze der Art (2) klären können respektive, dass ihnen keine Paraphrasierungsmöglichkeiten zur Verfügung stünden. 19

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Bewegungen vergleichbar. Nichtsdestotrotz werden bestimmte Prädikate in Spielen dieser Art auf die gleiche Weise wie im gewöhnlichen Leben verwendet.20 Gleiches muss auf Bilder nicht zutreffen. Man denke nur an frühe Bilder von Heiligen, auf denen auch die Stifter der Bilder zu sehen sind. In diesen Bildern ist die Größe der Figuren kein Indiz für ihre wahre körperliche Größe, sondern für ihre Wichtigkeit. Daher würde man fehlgehen, wenn man annehmen würde, das Prädikat ‚ist größer‘ gewöhnlich zu verwenden, das heißt auf die abgebildeten Personen selbst anwenden würde. Sicherlich schauen und starren wir auf den (Schoko-)Osterhasen und den Obelix. Dies zeigt an, was literarischen Figuren gegenüber bildnerischen fehlt. Man kann ihnen gegenüber keine ‚so-tun-als-ob visuellen Handlungen‘21 ausführen. Die geltenden Einschränkungen der Verwendung der Ausdrücke in So-tun-alsob-Spielen werden durch die Regeln bestimmt, die zum So-tun-als-ob-Spiel gehören.22 Wir gehen beispielsweise in unserer Vorstellung davon aus, dass Sherlock Holmes einer bestimmten Blutgruppe angehört (wenn wir auch nicht wissen welcher).23 Wie es sich dagegen bei Vampiren verhält, ist unklar. Besitzen diese beispielsweise eine Blutgruppe wie gewöhnliche Menschen oder verändert ihr Blutsaugen ihre Blutgruppe etc.? Dies sind meines Wissens für Literatur- und Vampirwissenschaftler offene Fragen. Um die Sache ein wenig deutlicher zu machen, denken wir an Aristoteles und Asterix. Wenn wir eine Darstellung von Asterix vor uns haben, schließen wir – solange es sich um keine metaphorische Darstellung handelt –, dass es auch eine Menschendarstellung ist, und ebenso, dass es eine Darstellung eines rationalen Lebewesens ist. Und so können wir, wenn wir wollen, den Kategorienbaum nach oben klettern und zum Schluss kommen, dass es sich um eine Substanzdarstellung handelt.24 Und Gleiches trifft zu, wenn wir eine Darstellung sehen, auf der Asterix angelt; dann wird es sich um eine Jagddarstellung handeln und letztlich um eine Tätigkeitsdarstellung. Der Witz an Darstellungen fiktiver Figuren ist nun, dass diese gewöhnlichen Kategorisierungen in fiktionalen Kontexten aufgehoben respektive verändert werden können, man denke an Lebewesen, die nicht sterben können, 20

Vgl. Walton 1973, 293. Walton 1973, 301 ff. 22 Walton 1973, 305. 23 Vgl. Reicher (2014), die davon spricht, dass abstrakte Gegenstände ‚Unbestimmtheitsstellen‘ aufweisen (ebd., 177). Die Lösung, die sie für das Problem vorschlägt, lautet, dass es zwei Arten von Prädikaten gibt und der Satz ‚Es ist nicht der Fall, dass Sherlock Holmes bestimmt ist, die Blutgruppe Rhesus null aufzuweisen‘ wahr ist. Dadurch gelingt es ihr, das Prinzip von dem ausgeschlossen Dritten beizubehalten (ebd., 183). M. E. spricht hier Reichert aber nicht über den abstrakten Gegenstand Sherlock Holmes, sondern über das Nicht-Vorliegen einer Beschreibung im Text von Doyle. Oder im Stile Davidsons (ders. 1984) ausgedrückt: In Doyles Werk liegt weder der Satz vor ‚S. H. hat nicht die Blutgruppe Rhesus Null‘ noch ein Satz, der das gleiche sagt (‚same sayer‘). 24 Unklar ist prinzipiell, wie solch eine abstrakte bildliche Substanzdarstellung aussehen kann, ganz unabhängig davon, ob es sich um ein tatsächliches Abbild der Substanz handeln soll oder um ein fiktionales. Gleiches gilt für eine Substanzbeschreibung. Ein Grund hierfür kann darin liegen, dass Substanz ohne Akzidentien sich prinzipiell nicht darstellen oder beschreiben lässt, respektive es sich bei der Substanz sowieso um eine Fiktion handelt. 21

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Zwitterwesen zwischen Tieren und Menschen, Menschen, die zu Salzsäulen werden, aber auch an Filme wie die Truman Show.25 Der Witz an Fiktionen ist also, dass es sich um Zeichen, sprich: Texte oder Bilder, handelt und zudem um Darstellungen, die nichts denotieren. Dies gilt gleichermaßen für den gesamten Text26 respektive den gesamten Film oder das ganze Bild und, wenn man dann so will, deren darstellende Details. Ungeachtet dieses denotativen ‚Defekts‘, unterscheiden sich diese Beschreibungen und Darstellungen nicht von gewöhnlichen. Das heißt, wir können über sie im Großen und Ganzen genauso sprechen, wie über Zeichen, die auf übliche Weise beschreiben oder darstellen.27 Nur wird die Richtigkeit unserer Rede in fiktionalen Kontexten nicht durch nicht-sprachliche Tatsachen bestimmt, sondern durch Kategorienbäume, die unter anderem durch jeweilige Spielregeln festgelegt werden. So können beim Schach wie im gewöhnlichen Leben ‚Bauern vorrücken‘, aber nur im Schach können sie, im Gegensatz zum normalen Leben, sich zu Pferden, Läufern, Türmen oder Damen verwandeln. Die Beschreibungs- und Darstellungskategorienbäume werden dabei erst einmal parallel zu den üblichen Kategorienbäumen gebildet. Je nach fiktionalem Kontext werden diese Kategorienbäume, wie bereits angeklungen, im größeren oder kleineren Umfang modifiziert. Daher kann es natürlich, wie beim Spielen im Allgemeinen, zu Situationen kommen, die nicht durch die Spielregeln abgedeckt werden. Hier bleiben dann Interpretationsspielräume.28 Deutlich sollte auch geworden sein, dass im Science-Fiction-Genre die Kategorienbäume stärker modifiziert werden als in historischen Romanen oder zum Realismus zählenden Kunstwerken. Geht man von der nicht völlig unplausiblen Annahme aus, dass in allen fiktionalen Kontexten zumindest minimale Modifikationen an den Kategorienbäumen vorgenommen werden müssen, ist hier zumindest eine notwendige Bedingung angezeigt, der fiktionale Werke respektive Darstellungen oder Beschreibungen genügen müssen. Zwei Möglichkeiten kommen hierbei in Frage: Im ersten Fall sind die Äste des Kategorienbaums unterschiedlich verzweigt oder haben Lücken. Im zweiten Fall ist der Unterschied alleine auf der untersten Stufe zu finden, d. h. – wie gesehen –, dass nichts denotiert wird. Inwiefern die beiden Fälle unabhängig voneinander sind, ist fraglich.29 Beispiele des ersten Falls, also dass die Äste des Kategorienbaums unterschiedlich verzweigt oder lückenhaft sind, sind wie oben erwähnt beispielsweise 25

Das Perfide an Filmen dieser Art ist, dass sie, gleich philosophischen Gedankenexperimenten – erinnert sei an die Gehirne im Tank – unter Umständen nicht fiktiv, sondern real sein können. 26 Gegenteiliger Auffassung ist Scholz (2014), dem zufolge Teile von historischen Romanen nicht-fiktional gelesen werden können respektive Fiktionen existieren, die allgemeine Wahrheiten enthalten (ebd. Abs. 26, 239 f.). 27 Fasst man Sätze in fiktionalen Kontexten als Sprechakte auf, gleichen sie in vielerlei Hinsicht gewöhnlichen Sprechakten, d. h. der Sprecher will in einem So-tun-als-ob-Spiel seinem Gegenüber etwas mitteilen, wie etwa Überzeugungen, Wünsche, ihn zu etwas bewegen etc. 28 Erinnert sei an die Blutgruppe Sherlock Holmes’. 29 Die Frage, ob Gleiches für philosophische – man denke erneut an Putnams Hirne im Tank – oder wissenschaftliche Gedankenexperimente gilt, kann ich nur am Rande streifen (siehe unten).

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Menschen, die zu leblosen Salzsäulen werden. Figuren dieser Art fallen unter Beschreibungen oder Darstellungen belebter Gegenstände und unter Beschreibungen oder Darstellungen unbelebter Gegenstände. Überdies ist denkbar, dass eine Sherlock-Holmes-Darstellung auch eine Darstellung-eines-Menschen ist, aber nicht unter Mensch-mit-einer-bestimmten-Blutgruppe-Darstellung fällt, da wir nicht wissen können, welche Blutgruppe Sherlock Holmes hat.30 Aber auch dann, wenn – was meines Wissens nicht der Fall ist – in Doyles Romanen beschrieben wäre, dass Sherlock Holmes die Blutgruppe mit dem Rhesus Faktor null hat, ist gleichwohl ein Unterschied zwischen einer Sherlock-Holmes-Beschreibung und der Beschreibung eines normalen Menschen gegeben. Der einfache Grund hierfür ist, dass erstere im Gegensatz zur letzteren nichts denotiert. Aus dieser Null-Denotation von fiktionalen Darstellungen und Beschreibungen folgt, dass Lücken in Kategoriebäumen auftauchen können, wie sie bei nicht fiktionalen nicht vorkommen. Ein Grund hierfür ist, wie der unterschiedliche Gebrauch der Sätze (3) und (4) zeigte, dass unsere Beschreibung des Schokoosterhasen im Garten durch die Tatsache, dass der Schokoosterhase im Garten sitzt, festgelegt ist, während Gleiches für die Beschreibung, wie sie in Satz (4) erfolgt, nicht zutrifft. Dieser Unterschied zeigt an, dass Ausdrücke in Romanen sich von Ausdrücken in gemischten Anführungskontexten unterscheiden, denn letztere nehmen dank der Anführungszeichen, neben ihrer Bezugnahme auf sich selbst (die jeweilige Zeichenfolge zwischen den Anführungszeichen), auf gewöhnliche Weise Bezug. Um es nochmal zu betonen: Bei den Kategorien, von denen ich hier spreche, handelt es sich nicht um gewöhnliche Gegenstände oder Eigenschaften wie bei Aristoteles, sondern um metasprachliche Zeichen, die vertikal und horizontal geordnet sind. Diese Ordnungen werden in fiktionalen Kontexten, wie dargelegt, gegenüber gewöhnlichen metasprachlichen Zeichenschemas verändert, d. h. in ihnen tauchen Lücken und Verschiebungen auf. Wir können uns beispielsweise vorstellen, dass in einem Gedicht nur von Lebewesen die Rede ist und diese Beschreibung nicht weiter spezifiziert wird. In diesem Fall wissen wir, dass es um eine Lebewesensbeschreibung handelt, aber eben nicht, ob es sich um eine Tier-, Mensch- oder andere Beschreibung handelt. In unseren Vorstellungen können wir diese Lücken auffüllen, aber dieses Auffüllen ist nicht regelgeleitet, soweit keine weiteren Merkmale angegeben werden. Daher kann ich im normalen Leben davon sprechen, dass ich mir aufgrund von Beschreibungen eine Person falsch vorgestellt habe, obwohl meine Vorstellung der Beschreibung nicht widersprochen hat.31 In fiktionalen Kontexten ist eine solche Korrektur nicht möglich, soweit ich mich an die Beschreibungen ge-

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Der Vorteil meiner Lösung ist also u. a. darin zu sehen, dass er ohne ontologischen Wildwuchs, sprich abstrakte (z. B. meinongianische) Gegenstände und Prädikate besonderen Art auskommt (vgl. Fn. 23). 31 Gleichwohl kann man beim Lesen eines fiktionalen Textes im weiteren Verlauf sehr wohl feststellen, dass man sich eine Figur falsch vorgestellt hat, insofern zusätzliche Informationen ins Spiel kommen, die im bisherigen Verlauf noch nicht konkretisiert waren (diesen Hinweis verdanke ich Tom Poljansek.)

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halten habe.32 Das Bild respektive Vorstellung der fiktiven Person ist richtig, auch wenn es, wenn man so will, bestimmte Lücken enthält, die vom Rezipienten beliebig aufgefüllt werden können, solange sie mit keinen anderen Beschreibungen der Fiktion kollidieren. Zwischenfazit: Wie deutlich geworden sein sollte, vertrete ich einen Antirealismus bezüglich fiktiver Gegenstände. Was es alleine gibt, sind bestimmte Beschreibungen oder Darstellungen, die metasprachliche Ausdrücke exemplifizieren und diese metasprachlichen Ausdrücke ergeben bestimmte Kategorienbäume, die festlegen, wie das So-tun-als-ob-Spiel zu spielen ist. Ein Vorteil einer solchen Position besteht darin, dass sie ontologisch sparsamer ist und bestimmte Konsequenzen von realistischen Positionen umgeht. Hierzu gehört Letztgenanntes: Fiktionale Realisten stehen vor dem Problem der richtigen Beschreibung eines nichtwahrnehmbaren Gegenstandes. Für mich muss eine solche ‚Beschreibung‘ nur kohärent zu den Regeln des Spiels sein und diese werden durch metasprachliche Beschreibungen festgelegt. Zur Vereinfachung bin ich von Kategorien analog zu aristotelischen ausgegangen.33 Der Grund hierfür war, dass ich eine relativ einfache Struktur wählen wollte, parallel zu der man metasprachliche Strukturen mit leichten Abweichungen innerhalb fiktionaler Kontexte entwickeln kann. Gleiches ist meines Erachtens auch für komplexere Netzstrukturen möglich, innerhalb derer man die kognitiven Leistungen der Leser fiktionaler Texte besser modellieren kann. Anhand von einfach strukturierten Kategorienbäumen ließ sich mein grundlegender Gedanke, so hoffe ich zumindest, prägnanter entwickeln. Dieser besteht darin, aufbauend auf Goodmans Analyse fiktionaler Zeichen, die Spielregeln der Waltonschen So-tunals-ob-Spiele genauer zu fassen, also zu zeigen, an welchen Stellen die Regeln dieser Spiele präzise bestimmen, was wir uns vorstellen, und an welchen Stellen sie dem Spieler respektive Rezipienten Freiheit in seinen Vorstellungen lassen. Eng damit verknüpft ist der Gedanke, dass durch die Kategorienbäume die epistemischen Voraussetzungen der kompetenten Spieler festgelegt werden. Das Wissen, das beispielsweise ein Kind benötigt, um auf einem Steckenpferd zu ‚reiten‘, besteht implizit in seiner Kompetenz, bestimmte (metasprachliche)34 Kategorisierungen vornehmen zu können, die ähnlich zu gewöhnlichen nicht metasprachlichen Kategorisierungen funktionieren. Kommen wir nun zurück auf die Ausgangsfrage: Wo ist er denn, der Osterhase? Die Antwort lautet: In der wirklichen Welt nirgends, dies schließt aber nicht aus, dass er in einem So-tun-als-ob-Spiel im Garten sitzt. Dieser Garten kann im 32

Daher sind wir auch zumeist enttäuscht über Verkörperungen von Romanfiguren in Romanverfilmungen. 33 So können allgemeine fiktionale Wahrheiten nicht nur durch Kategorienbäume bestimmt werden, sondern sich ebenso auf anderes allgemeines Wissen beziehen. Beispielsweise ist es in dem Roman ‚Tom Sawyer‘ fiktional wahr, dass der Mississippi am Rande von Missouri fließt, wenn diese Behauptung zudem auch außerhalb der Fiktion (nicht-fiktional) wahr ist (vgl. Walton 1990, 42). 34 Streng genommen können sich diese Kategorisierungen nicht nur auf sprachliche Zeichen, sondern auf Zeichen allgemein beziehen bzw. kann die Kategorisierung auch durch nichtsprachliche Zeichen (vgl. Fn. 14) geschehen.

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Spiel unserem Garten bis ins kleinste Detail ähneln, aber er ist nicht identisch mit unserem wirklichen Garten. Ähnlich verhält es sich mit der Obelix-undCäsardarstellung. Es handelt sich dabei zwar um eine Obelix-und-Cäsardarstellung, aber um kein Abbild Cäsars. Die Darstellung ist Teil eines So-tun-als-ob-Spiels, aber sie denotiert nicht Cäsar. Dies gilt ebenso für Namen von historischen Personen, Städten etc., die in Romanen vorkommen. Und Gleiches gilt für Prädikate: Holmes kann nicht (physisch) größer sein als Watson, auch wenn er im Roman größer als Watson sein kann. Deutlich sollte zudem geworden sein, dass die Antwort auf die zu Beginn gestellte Frage ‚Worin bestehen der Osterhase, Obelix, Sherlock Holmes etc.?‘ simpel lautet: ‚Aus nichts‘. Wie erwähnt, sehe ich in diesem Merkmal einen Vorteil meines Vorschlags, nämlich ohne zweifelhafte Entitäten auszukommen.35 Im Folgenden möchte ich auf zwei mögliche Einwände gegen meinen Vorschlag eingehen. 1. Das Intuitionsproblem: Lässt sich gegen letztere Antwort nicht einwenden, dass wir doch von dem (!) Obelix sprechen und uns mit ‚dem Obelix‘ wohl ‚intuitiv‘ auf etwas Bestimmtes beziehen?36 Eine für den fiktionalen Realisten naheliegende Antwort lautet, dass eine fiktive Figur aus einem Bündel von Eigenschaften bestehe, die durch die fiktional wahren Beschreibungen bestimmt seien und/oder alle logischen Konklusionen, die aus ihnen folgen. Gegen diese Auffassung spricht erstens, dass hier von einer ungerechtfertigten Gleichsetzung von fiktiver und literarischer Figur ausgegangen wird.37 Wie das Beispiel Obelix zeigt, kann es sich auch um bildliche Darstellungen han-

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In diesem Sinne halte ich auch Versuche, wie sie häufig in der Fiktionalitätsdebatte zu finden sind, nämlich platonische Gegenstände in mentale zu verwandeln, für äußerst fragwürdig. Grund hierfür ist, dass bei diesen – soweit mir bekannt – durch die Hintertür platonische Gegenstände wieder eingeführt werden. (Zur allgemeinen Schwierigkeit platonische Entitäten durch mentale zu ersetzen vgl. Stegmüller 1974, 57.) 36 Dieser Einwand firmiert in der Literatur unter dem Namen ‚Intuition Problem‘ (vgl. Reimer 2001, 491 ff.; und Hartenstein 2012, Abs. 3.). Hartensteins Lösung für das Problem besteht darin, dass mit dem Begriff ‚Sherlock Holmes‘ ein mentaler Ordner (‚mental file‘) verbunden ist, auf den wir uns beziehen. Unklar bleibt aber, was so alles in diesen Ordner kommt und inwiefern Leser Ordner bzw. Ordnertypen mit einander teilen können. Ein neuer und interessanter Vorschlag von Terrone (2017) geht dahin, unter fiktiven Figuren ‚artefactual types‘ zu verstehen. Der Vorteil dieses Vorschlags besteht u. a. darin, der Intuition gerecht zu werden, dass fiktive Figuren im Gegensatz zu andren Abstrakta geschaffen sind und unter fiktiven Typen abstrakte Vorkommnisse zuzulassen. Letzterer Gedanke bietet den Vorteil z. B. unter dem Batman-Typ sowohl das abstrakte Batman-Vorkommnis erschaffen von Nolan respektive erschaffen von Burton etc. zu subsumieren. Die Frage, wie wir diese abstrakten Vorkommnisse erfassen, beantwortet Terrone ähnlich wie Hartenstein, nämlich durch das bilden von mentalen Ordnern (ebd., Abs. 3.). 37 Dieser Fehler liegt beispielsweise dann vor, wenn man den (primären) Inhalt einer Fiktion mit den fiktiv wahren Sätzen einer Fiktion gleichsetzt. Der Inhalt fiktionaler Bilder lässt sich jedoch nicht auf eine Menge von Sätzen reduzieren. Vgl. zur Nicht-Reduzierbarkeit von Bildern (Zeichen autographischer Zeichensysteme) auf sprachliche Zeichen (Zeichen allographischer Zeichensysteme) Goodman 1976.

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deln und nicht um sprachliche Beschreibungen. Aus bildlichen Darstellungen kann zudem nichts logisch (im strengen Sinne) geschlossen werden. Selbst aber wenn man sich auf literarische Figuren beschränkt, bleibt offen, welche Sätze eines Romans relevant sind.38 Ich spreche hier nicht von Problemen der anaphorischen Bezugnahme, sondern von Sätzen der Art ‚Peter war sich sicher, dass er den perfekten Mord begangen hat.‘ Und ‚Dabei übersah er aber, da er Holmes nicht kannte, dessen unfassbaren Scharfsinn.‘ Sätze dieser Art verdeutlichen, dass es völlig unklar ist, worin Sherlock Holmes wesentliche Eigenschaften bestehen. Gehört sein Scharfsinn dazu und auch das Unterschätztwerden durch Peter etc.?39 Zudem ist unklar, welche Eigenschaften überhaupt in Frage kommen. Gewöhnliche relationale Eigenschaften (z. B. räumliche) können es nur unter der unplausiblen Annahme sein, dass diese zwischen Romanfiguren bestehen können.40 Ein erweiterter Vorschlag zielt dahin, neben den Prädikaten, die der fiktiven Figur wörtlich im Text zugeschrieben werden (oder ohne nominalistische Skrupel ausgedrückt, Eigenschaften, die durch den Text respektive primären Inhalt41 festgelegt werden), auch sekundäre zuzulassen, die von außen zugefügt werden oder auf die nicht trivial logisch geschlossen wird. Beispiel für eine importierte Eigenschaft wäre für Sherlock Holmes seine Sterblichkeit respektive, dass der Satz ‚Holmes ist sterblich‘ fiktional wahr ist, auch wenn der Satz nicht explizit im Roman zu finden ist. Warum aber genau solche Sätze fiktional wahr sind, darauf findet sich in der Diskussion meines Wissens keine plausible Antwort. Ein Versuch einer Antwort sind die von mir vorgeschlagenen metasprachlichen Kategorienbäume, die es erlauben, ontologische Probleme der genannten Art zu umgehen. Nicht unidentifizierbaren abstrakten Gegenständen werden Eigenschaften zugeschrieben, sondern Zeichen (sowohl bildliche wie sprachliche) exemplifizieren höherstufige Prädikate. Auch der zweite Vorschlag einer Erweiterung, nämlich über logische Ableitungen weitere fiktionale Wahrheiten über eine fiktive Figur zu erschließen, birgt tiefgehende Schwierigkeiten. Betrachten wir hierzu den Fall des ex falso quodlibet. Dieser taucht auf, wenn zwei widersprüchliche Beschreibungen in einem Roman zu finden sind. Dabei spielt es erst einmal keine Rolle, ob der Autor aus Versehen 38

Analoge Schwierigkeiten tauchen auf, wenn man behaupten würde, die Figur des Obelix bestünde alleine aus Obelixdarstellungen (zählt dazu z. B. auch das Bild, in dem Obelix gerade im Nebel verschwunden ist?). 39 Würde man dagegen behaupten, dass es die Eigenschaft wäre ‚von Doyle erfundene bekannte Detektivfigur zu sein‘, begeht man eine petitio principii, denn die Frage ist ja, worin die von Doyle erfundenen Figur besteht. 40 Eng verwandt mit den genannten Problemen, ist das Identitätsproblem. Hierunter versteht man die Schwierigkeiten, die fiktionale Realisten haben, Identitätsbedingungen für Fiktionen beziehungsweise fiktionale Gegenstände anzugeben. Eng verwandt damit ist das Problem der Unterbestimmtheit. Denn wenn ich annehme, dass es fiktionale Gegenstände gibt, wie kann es dann sein, dass diese in gewissen Hinsichten (‚Holmes Blutgruppe‘) unterbestimmt sind? 41 Die von mir verwendete Terminologie stammt von Wildman und Folde (2017). Ihr Thema sind jedoch nur am Rande fiktive Figuren, sondern fiktionale Wahrheiten. Hierzu unterscheiden sie den primären Inhalt von dem sekundären Inhalt von Fiktionen. Letzterer wird importiert oder ist logisch enthalten (ebd., 74). Offen bleibt bei ihnen aber, welchen Regeln solche Importe genügen müssen.

Wo ist er denn, der Osterhase? Überlegungen zur Bezugnahme in fiktionalen Kontexten

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oder absichtlich diesen Widerspruch erzeugt hat. Konsequenz ist jedes Mal, dass im sekundären Inhalt des Romans alles (!) Mögliche fiktiv wahr ist. Dies scheint eine absurde Konsequenz zu sein. Hinzu kommt, dass alle Romane, die einen Widerspruch enthalten, in diesem Fall den gleichen sekundär enthaltenen Inhalt haben, da in ihnen alles Mögliche fiktiv wahr ist. Umgehen lassen sich diese Schwierigkeiten dadurch, dass man das ex falso quodlibet prinzipiell ablehnt, oder nicht für Romane als gültig anerkennt oder eine alternative Logik wählt. Ob dies nötig ist, ist gleichwohl fraglich. Auch in unseren Überzeugungssystemen sind sicherlich Widersprüche zu finden, ohne dass wir deshalb alles Mögliche für wahr erachten. Und selbst, wenn wir beispielsweise feststellen, dass dem Ich-Erzähler in Prousts Auf der Suche der verlorenen Zeit zwei widersprüchliche Eigenschaften zugeschrieben werden, werden wir nicht das ex falso quodlibet bemühen, sondern versuchen, eine Interpretation zu finden, die einen der beiden widersprüchlichen Sätze ausschließt. Und selbst wenn in einer Kurzgeschichte von Mr. Impossible die Rede ist, der zwei Hände und keine zwei Hände hat und in einem Land lebt, in dem das ex falso quodlibet gilt, würden wir in einem So-tun-als-ob Spiel nicht auf alles nur Mögliche schließen, weil dies nämlich der Idee des Spiels widerspräche, in dem Regeln zu gelten haben, die bestimmen, was entweder fiktional wahr oder falsch ist.42 Es wäre ähnlich, wie wenn wir ein neues Schach entwickeln würden, welches um die Figur des Teufels erweitert wäre, der auf keinem oder doch einem Feld des Bretts steht und ziehen und doch nicht ziehen kann. Zudem bleibt unklar, inwieweit wir das ex falso quod libet auf Bedeutungspostulate der Form ‚Junggesellen sind unverheiratet‘ und ‚Steine können nicht denken‘ anwenden dürfen. Ließen wir das zu, wären wir unserer Werkzeuge beraubt, sprachliche Fiktionen zu erzeugen. 2. Der Ununterscheidbarkeitseinwand: „Wenn fiktionale Namen zwar syntaktisch ununterscheidbar von echten Namen sind, aber sich von diesen semantisch unterscheiden, dann muss jemand, der einen Satz verstehen will, der einen fiktionalen Namen enthält, stets wissen, ob dieser Name nun fiktional ist oder nicht, um diesen Satz richtig verstehen zu können.“43

Auf dem ersten Blick lässt sich auf diesen Einwand leicht reagieren. Wenn wir uns in einem So-tun-als-ob-Spiel befinden, wissen wir, dass die bezeichnenden Ausdrücke nicht in üblicher Weise verwendet werden und dies gilt für alle Namen. Schwieriger scheinen zwei engverwandte Einwände. Erstens, dass in fiktionalen Geschichten von tatsächlichen Personen die Namen nichtfiktiver Personen ihre gleiche Bedeutung besäßen (erinnert sei an das Obelix und Julius Cäsar Bild) und zweitens, dass Gleiches für Gedankenexperimente gelte.44 Hier gilt dieselbe Antwort wie zuvor. Wenn ich von dem möglichen Donald Trump innerhalb eines Gedankenexperiments spreche, spreche ich nicht von dem 42

Wie diese Regeln im Einzelfall instanziiert werden, ist eine schwierige Frage, der ich hier nicht nachgehen kann (vgl. Walton 1990, Kap. 1). 43 Rami 2013, 186. 44 Ebd., 201 f.

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tatsächlichen Donald Trump. Letzteres schließt ein, dass ich mir vorstelle (!), was er möglicherweise tut. Aber dieses ‚Tun‘ unterscheidet sich ontologisch nicht von dem ‚Tun‘ des Osterhasens. Der Ununterscheidbarkeitseinwand lässt sich zudem nicht nur auf Namen, sondern auch auf fiktionale Sätze münzen.45 Die Frage lautet dann: Woher wissen wir, ob ein Satz gewöhnlich oder fiktional verwendet wird? Lösungsansätze für diese Frage reichen von extrem intentionalistischen, über hypothetisch intentionalistischen bis zu konventionalistischen Positionen, d. h. ob ein Text respektive Satz gewöhnlich oder fiktional gedeutet wird, hängt je nach Auffassung in den extremen Fällen alleine von den Autorabsichten beziehungsweise alleine von Konventionen ganz unabhängig von den Autorabsichten ab.46 Für meinen Ansatz heißt dies u. a. danach zu fragen, durch wen die Kategorienbäume in den So-tun-als-ob-Spielen festgelegt werden. Ich neige bei dieser Frage zu einem Textualismus, in dem soweit wie möglich versucht wird, Autorenabsichten zu meiden, ohne dabei zu leugnen, dass eine korrekte Interpretation die Autorenabsichten berücksichtigen muss.47

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Vgl. Garcia-Carpintero 2013. Vgl. ebd., 352 ff., der selbst einen normativen Ansatz vertritt, demzufolge die Wünsche und Dispositionen des Publikums festlegen, ob der Text den nötigen Wert zum Imaginieren besitzt (ebd., 350 f.). 47 Es muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass diese Fragen innerhalb der Fiktionalitätsdebatte fast ausschließlich textbezogen diskutiert werden. M. E. kann diese Diskussion jedoch auf Bilder respektive auf eine Bildpragmatik (vgl. Sachs-Hombach 2003) übertragen werden. 46

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Die Zeitlosigkeit der Existenz und das Vergehen der Zeit Erwin Tegtmeier

Die Vorstellung eines Übergangs von der Nichtexistenz zur Existenz oder von der Existenz zur Nichtexistenz verstrickt uns in einen nicht plausibel aufzulösenden Widerspruch. Daraus folgt, dass Existenz weder gewonnen werden noch verloren gehen kann. Das Entstehen und Vergehen darf nicht existentiell aufgefasst werden. Nur deren Auffassung als rein zeitliches Anfangen und Enden ist widerspruchsfrei. Dass Existenz zeitlos ist, muss man von unendlicher Dauer unterscheiden. Was anfängt oder endet hat eine endliche Dauer. Die Zeitlosigkeit der Existenz verträgt sich durchaus mit dem Vergehen der Zeit. Das Vergehen der Zeit berührt nur die Einzeldinge, aber nicht deren Existenz und es beruht allein auf der zweistelligen Relation ‚früher als‘. So ontologisch analysiert verträgt sich die Zeitlosigkeit der Existenz mit der Offenheit der Zukunft und mit der Möglichkeit, dass die Vergangenheit anders hätte sein können, als sie gewesen ist. Das Vergehen der Zeit ist dann auch nicht das Verhängnis, als das es uns erscheint. Die Zwänge, die wir im Zusammenhang mit dem Vergehen der Zeit erleben, gehen nicht von dieser selbst aus.

1 Der Widerspruch der Veränderung und seine Auflösung Bei der Analyse der Veränderung droht ein Widerspruch, weil sie ein Übergang zwischen Gegenteilen ist, z. B. der Übergang an einer Lampe l zwischen Ein (E) und nicht Ein (E). Zusammen ergeben die beiden Zustände eine widersprüchliche Konjunktion El & El. Die Annahme zeitlicher Teile ist eine Weise, den Widerspruch zu vermeiden, wobei die gegensätzlichen Zustände verschiedenen zeitlichen Teilen (l1, l2) zukommen: El1 & El2. Allerdings löst sich der Widerspruch natürlich nur dann auf, wenn man annimmt, dass die gegenteiligen Zustände keine E. Tegtmeier () Universität Mannheim Mannheim, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Luckner, S. Ostritsch (Hrsg.), Philosophie der Existenz, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04880-6_8

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Zustände der Lampe selbst sind. Die Lampe verliert damit alles, was der Veränderung unterworfen ist, an ihre zeitlichen Teile. Sie behält nur die wesentlichen oder dauerhaften Bestimmungen. Die anderen, geläufigeren Weisen den Widerspruch aufzulösen, insbesondere der Präsentismus (demzufolge nur das Gegenwärtige existiert), führen in große ontologische Schwierigkeiten.1 Der Präsentismus vermeidet den Widerspruch dadurch, dass er das Gegenteil, sozusagen, in eine andere Welt verweist. Die Welt des Präsentisten ist jeweils auf eine Gegenwart, die punktuell sein muss, um etwas Gegenteiliges völlig auszuschließen. Nun stehen die Präsentisten im Ruf, das Vergehen der Zeit besonders hervorzukehren. Ihre Analyse zeigt jedoch nur immer eine einzige punktuelle Gegenwart, die isoliert ist, weil sich alles Existierende darauf beschränkt. Die Kontinuität der Zeit fehlt also. Die beliebteste Lösung des Widerspruchs der Veränderung bedient sich der zeitlichen Relativierung des Eigenschaftsbesitzes. Dass die Lampe zum Zeitpunkt t0 an ist und zum Zeitpunkt t1 nicht, bildet keinen Widerspruch. Allerdings wird bei der zeitlichen Relativierung des Eigenschaftsbesitzes die Beziehung der Eigenschaft zum Eigenschaftsbesitzer um ein Relatum angereichert und damit die Eigenschaft, genau genommen, in eine zweistellige Relation umgewandelt. Das erscheint nicht sinnvoll, denn das Ansein einer Lampe z. B. ist deutlich keine Relation, sondern eine Eigenschaft. Da der Widerspruch der Veränderung bei allen Eigenschaften auftritt, würde die zeitliche Relativierung alle Eigenschaften unplausiblerweise in Relationen verwandeln. Zudem wird bei dieser Lösung vorausgesetzt, dass es Zeitpunkte gibt. Wenn man eine relationistische Auffassung der Zeit hat (wonach die Zeit ganz aus Relationen besteht), so hat man statt der Zeitpunkte nur die Gleichzeitigkeit mit einem bestimmten Uhrensignal. Dabei handelte es sich um eine relationale Eigenschaft. Es dürfte keine akzeptable Ontologie geben, in der eine Kombination zwischen einem Einzelding, einer Eigenschaft und einer relationalen Eigenschaft erlaubt ist. In der Ontologie, die später dargestellt wird und zu der eine relationale Auffassung der Zeit gehört, jedenfalls nicht. Man kann also zumindest feststellen, dass die beliebteste Auflösung des Widerspruchs der Veränderung sich nicht mit einer relationalen Auffassung der Zeit verträgt.

2 Der Widerspruch des Werdens Das Werden unterscheide ich von der Veränderung. Werden ist entweder Entstehen oder Vergehen. Auch beim Werden droht ein Widerspruch, nämlich, wenn es als Übergang zwischen Nichtexistenz und Existenz aufgefasst wird, das Entstehen als Übergang von der Nichtexistenz zur Existenz und das Vergehen als Übergang von der Existenz zur Nichtexistenz. Dem entstandenen Ding müsste sowohl Nichtexistenz als auch Existenz zugeschrieben werden und dem vergangenen Ding sowohl Existenz wie auch Nichtexistenz. Dieser Widerspruch kann nun nicht durch zeitliche Teilung aufgelöst werden. Dazu müsste nämlich ein zeitlicher Teil des be1

Siehe Tegtmeier 2000.

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treffenden Einzeldings früher als dieses sein, was ausgeschlossen ist. Die beiden anderen Weisen, den Widerspruch aufzulösen, die auch schon für den Widerspruch der Veränderung verwandt wurden, der Präsentismus und die Relativierung auf Zeitpunkte, werden mehr oder weniger bewusst, auch für das Werden herangezogen. Sie sind aber denselben Einwänden ausgesetzt wie im Falle der Veränderung. Die Existenz würde dabei zu einer Relation zwischen dem Existenten und einem Zeitpunkt oder die zeitliche Bestimmung zu einer Relation zwischen dem Existenten und dem Zeitpunkt. Beides ist nicht plausibel, weder für die Zeit noch für die Existenz. Ich würde also behaupten, dass der Widerspruch des Werdens nicht aufzulösen ist und folgern, dass es kein Werden gibt, genauer, dass es kein Werden als Übergang zwischen Nichtexistenz und Existenz gibt. Gewöhnlich wird Werden als ein solcher Übergang aufgefasst. Wer diese Auffassung für selbstverständlich hält oder wer keine andere Auffassung sieht, dem bleibt nur, angesichts der unauflöslichen Widersprüchlichkeit zu schlussfolgern, dass es kein Werden gibt, dass Werden nur Schein ist. Das hat Parmenides getan (Tegtmeier 1999), der die Widersprüchlichkeit des Werdens entdeckte und der die Veränderung als eine Art des Werdens betrachtet. Parmenides verficht eine vollkommen statische Welt, der zudem jede Komplexität, ja sogar die Mehrzahl fehlt. In seiner Ontologie existiert nur ein einfaches Ding, das weder entsteht, noch vergeht, noch sich verändert. Gegen Parmenides muss man einwenden, dass wir nicht berechtigt sind, das Phänomen des Entstehens und Vergehens gänzlich zu leugnen, weil es sich uns vielfach und deutlich darbietet. Wir dürfen nur eine andere Analyse dieses Phänomens suchen, die nicht in den Widerspruch führt. Wenn diese Analyse von der gewöhnlichen Auffassung abweicht, so ist das kein Hinderungsgrund. Die gewöhnliche Auffassung ist sicher präsentistisch, wenn auch nicht sehr streng und konsistent. Die Gegenwart, zum Beispiel, wird dabei nicht so eng gefasst wie in der Philosophie, wo sie als Punkt im strengen Sinne gilt. Wegen des Widerspruchs des Werdens vertrete ich eine nicht-existentielle Auffassung, nämlich eine Auffassung mit der Werden nicht als ein Übergang zwischen Existenz und Nichtexistenz aufgefasst wird. Ihr zufolge ist das Werden eine rein zeitliche Angelegenheit. Das Entstehen ist ein rein zeitliches Anfangen und das Vergehen ein rein zeitliches Enden. Genauer ausgedrückt mit dem ontologischen Terminus des zeitlichen Teils: durch seinen ersten zeitlichen Teil entsteht ein Ding und durch seinen letzten zeitlichen Teil vergeht es. Gewöhnlich denkt man sich das Einzelding allerdings nicht als Reihe, sondern bezieht die zeitlichen Bestimmungen, die die Frage ‚wann?‘ beantworten, auf das ganze Ding. Dabei wird eher eine absolutistische Auffassung der Zeit vorausgesetzt mit der Annahme von Zeitpunkten oder Zeitintervallen. Diese zeitlichen Absoluta haben eine Reihenordnung und darauf bezogen kann man die Entstehung eines Dings als das Anfangen der Reihe seiner zeitlichen Bestimmungen analysieren und das Vergehen als dessen Enden.

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3 Kein Übergang zwischen Nichtexistenz und Existenz Aus dem Scheitern des Versuchs der Auflösung des Widerspruchs des Werdens, folgt nicht nur, dass man das Werden nicht existentiell auffassen darf. Es folgt auch, dass es keinen Übergang zwischen Nichtexistenz und Existenz gibt, kein Indie-Existenz-Treten und keinen Verlust der Existenz, also gerade das, worin der Präsentist das Wesen der Zeit sieht. Diese Schlussfolgerung setzt keine bestimmte Ontologie voraus. Sie stimmt allerdings mit meiner ontologischen Kategorisierung der Existenz als Transzendentalie überein. Diese besagt, dass die Existenz nichts Zusätzliches zu dem Existierenden ist, dass sie allein auf dem Existierenden selbst beruht. Daraus ergibt sich zwingend, dass die Existenz nicht vom Existierenden trennbar ist. Beim Übergang von der Nichtexistenz zur Existenz müsste jedoch die Existenz hinzukommen und beim Übergang von der Existenz zur Nichtexistenz die Existenz verloren gehen. Das Hinzukommen der Existenz wäre ohnehin ein abwegiger Gedanke, wie immer man Existenz auffasst. Denn demjenigen, zu dem sie hinzuzukommen hätte, müsste sie ja zunächst fehlen. Es würde sich also um etwas Nichtexistentes handeln. Die analoge Schwierigkeit hat der Verlust der Existenz mit dem Enden in etwas, dem die Existenz fehlt. Wenn der Gedanke eines Übergangs zwischen Nichtexistenz und Existenz derart vertrackt ist, warum ist er uns dann trotzdem so geläufig? Warum verfallen wir darauf und sind so von ihm überzeugt? Wir leben sehr in und von der Wahrnehmung. Die Wahrnehmung ist jedoch normalerweise begrenzt auf das zeitlich und räumlich sehr Nahe, was die Überzeugung hervorruft, dass Entfernteres nicht existiert. In den räumlichen Dimensionen werden wir von dieser Überzeugung abgebracht durch das Reisen. Da es keine praktikablen Zeitreisen gibt, ist es viel schwieriger die Überzeugung zu überwinden, dass nur das Gegenwärtige existiert. Auch die Auffassung des Werdens als eines Übergangs zwischen Nichtexistenz und Existenz wird durch die Wahrnehmung gestützt. In der Wahrnehmung scheinen wir immer wieder und gleichbleibend dasselbe Einzelding wahrzunehmen, obwohl seine nicht gegenwärtigen Eigenschaften und Zustände nicht wahrnehmbar sind. Statt exotischer Zeitreisen kann man sich auch seines kritischen Verstandes bedienen, um zu erkennen, dass vergangene und zukünftige Dinge existieren und ihr Entstehen und Vergehen nicht existentiell ist. Neben dem Widerspruch des Werdens kann uns dazu die Betrachtung des Falles der Wahrnehmung eines Lichtjahre entfernten astronomischen Objekts verhelfen. Die Sternenexplosion, zum Beispiel, die man beobachtet, liegt dann Jahre zurück und der explodierte Stern existiert schon Jahre nicht mehr, wie man zu denken geneigt ist. Wie kann man aber einen Stern wahrnehmen, der schon lange nicht mehr existiert? Dass er nicht mehr existiert, impliziert ja logisch, dass er nicht existiert, was ebenso für den angeblichen Umstand gilt, dass er existiert hat. Normalerweise sind aber Wahrnehmungen von etwas, das nicht existiert, falsch. Was man jedoch in unserem Fall kaum sagen möchte, es sei denn aus philosophischen Gründen. Unser Fall soll ja nicht der Fall einer irrigen Wahrnehmung sein.

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Wenn es aber keinen Übergang zwischen Nichtexistenz und Existenz gibt, werden die gängigen Verbindungen von Zeit und Existenz hinfällig. Dann ist die Dauer eines Dings keine Dauer seiner Existenz und seine zeitliche Bestimmung durch einen Zeitpunkt t ist nicht als Existenz zum Zeitpunkt t zu verstehen. Im Sinne einer Zurückweisung dieser Verbindungen kann man sagen, dass Existenz zeitlos ist. Auch der Fall eines Ewigen würde daran nichts ändern. Es wäre zwar nicht auf einen Übergang zwischen Nichtexistenz und Existenz angewiesen, aber nichtsdestoweniger hätte es eine zeitlose Existenz, weil es zeitlich nicht eingegrenzt wäre. Die zeitliche Angabe seiner Existenz wäre irrelevant, weil das Ewige allen Zeitpunkten zugeordnet werden könnte und auch keinem Zeitpunkt zugeordnet werden müsste. Allerdings hat Ewigkeit im Sinne unendlicher Dauer eine unüberwindliche Schwierigkeit, wenn sie mit einer vergehenden Zeit verbunden ist. In der Zeitrichtung kann etwas unendlich lange dauern, aber nicht nach rückwärts. Dort scheint man ohne Anfang nicht auskommen zu können. Offenbar kann man etwas Ewiges nur im Sinne von Zeitlosigkeit haben, nicht von unendlicher Dauer. Etwas ist zeitlos, wenn es zeitlich nicht bestimmt ist und zwar nicht zufällig, also genauer, wenn es zeitlich nicht bestimmbar ist, auch nicht durch die Temporae Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft.

4 Die S-Ontologie Viele Ontologien schließen Zeitloses, zeitlich Unbestimmtes aus. Nicht so die Ontologie, die hier zugrunde gelegt werden soll, die S-Ontologie, die ihren Namen von ihrer wichtigsten Kategorie hat, der der Sachverhalte.2 Neben den Sachverhalten gibt es noch die Kategorien der Einzeldinge, die der Universalien, und die der Formen. Sachverhalte sind Komplexe, die aus Einzeldingen, Universalien und auch aus Sachverhalten bestehen. Von diesen sind nur Einzeldinge zeitlich. Die Zeit besteht nach der S-Ontologie aus zwei Gruppen von relationalen Universalien, nämlich den Universalien ‚gleichzeitig mit‘, ‚früher als‘ und ‚wird zeitlich überlappt von‘ sowie ‚dauert gleich lang wie‘ und ‚dauert länger als‘. Nur Einzeldinge stehen in diesen Relationen und da sowohl Veränderung als auch Werden Zeitlichkeit voraussetzen, bezieht sich die Schlussfolgerung der Zeitlosigkeit der Existenz ausschließlich auf sie. Einzeldinge sind zeitlich, sie stehen in den zeitlichen Relationen. Allerdings ist ihre Existenz, wie gezeigt, unzeitlich. Es hat keine ontologische Berechtigung zu sagen, dass sie dann und dann oder von dann und dann bis dann und dann existieren. Ihre Existenz hat nichts mit ihrer zeitlichen Bestimmung zu tun. Dass ihre Existenz zeitlos ist, hat keine Konsequenz für das Bestehen der beiden Dauerrelationen. Es bedeutet also nicht, dass sie eine ewige bzw. unendliche Dauer haben. Daraus, dass die Existenz der betreffenden Einzeldinge zeitlos ist, folgt nicht, welche Dauer sie selbst haben. Die Existenz dauerhafter Einzeldinge ist ebenso zeitlos, also ebenso wenig zeitlich modifiziert (z. B. durch das Tempus der Vergangenheit zu ‚existierte‘), wie die kurzzeitiger Einzeldinge. 2

Vgl. Tegtmeier 1992.

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In der S-Ontologie gibt es, wie gesagt, Kategorien, deren Mitglieder nicht zeitlich sind, also nicht in den zeitlichen Relationen stehen und zwar aus kategorialen Gründen. Zeitliche Relationen sind zweistellige relationale Universalien der ersten Stufe, also können sie gemäß den Zusammensetzungsgesetzen für Sachverhalte nur zwischen Einzeldingen bestehen, nicht aber zwischen Universalien, nicht zwischen Sachverhalten und nicht zwischen Formen. Die meisten Kategorien der S-Ontologie sind demnach unzeitlich. Dass viele Ontologen keine unzeitlichen und unräumlichen Entitäten anerkennen, rührt von der sehr verbreiteten Ansicht her, dass Raum und Zeit Behälter sind, die alles Existierende enthalten, beziehungsweise, die Bühne, auf der alles Existierende aufzutreten hat. Im Gegensatz dazu betrachtet die S-Ontologie Raum und Zeit als Relationen, also als etwas in der Welt neben Anderem, nicht als das Umfassende, man könnte auch sagen, im Anklang an die Terminologie Kants als Inhalt und nicht als Form der Welt. Dementsprechend folgt die ontologische Analyse des Erkennens innerhalb der S-Ontologie nicht der herrschenden Tradition, die Wahrnehmung auf das Räumliche und Zeitliche einzuschränken. Vielmehr verficht sie die Auffassung, dass wir in jedem Fall Sachverhalte erkennen, die selbst unzeitlich und unräumlich sind und die unzeitliche und unräumliche Bestandteile haben, nämlich außer Sachverhalten noch Universalien.

5 Das Vergehen der Zeit Wenn es keinen Übergang zwischen Existenz und Nichtexistenz gibt, kann das Vergehen der Zeit kein solcher Übergang sein, auch wenn der Präsentismus das nahelegt und es in etwa die gewöhnliche Auffassung ist. Wie gesagt, ist das nicht nur Ansicht der S-Ontologie, sondern es folgt daraus, dass es keine haltbare Auflösung des Widerspruchs des Werdens gibt. Die gewöhnliche Auffassung des Werdens hat nicht nur den Mangel, dass sie den Widerspruch des Werdens ignoriert, in ihrer philosophischen, präsentistischen Version begeht sie auch den schwersten Fehler, den man in der Philosophie der Zeit machen kann, nämlich die Zeit, genauer, das Vergehen der Zeit selbst als zeitlichen Prozess zu analysieren. Es wird als zeitliches Fortschreiten der Gegenwart analysiert, wobei man Gegenwärtigkeit mit Existenz gleichgesetzt. Das muss man deshalb als einen Fehler ansehen, weil die Analyse der Zeit durch einen zeitlichen Prozess zirkulär ist. Dieser Fehler wurde aber unter dem Einfluss von McTaggart in der Philosophie der Zeit zum Standard erhoben, was zu dem paradoxen Resultat führte, dass Zeitauffassungen, die diesen Fehler vermeiden, als ‚statisch‘ charakterisiert werden. Es war Russell, dem McTaggart seinerzeit vorwarf, dass seinen zeitlichen Reihen die Dynamik fehle, weil sie keine Veränderungen, also keine zeitlichen Prozesse seien (vgl. McTaggart 1908). Russells ontologische Analyse der Zeit, der die SOntologie im Prinzip folgt, ist relational. Eine der Relationen ist die Späterrelation. Russell führt sie anhand wahrgenommener zeitlicher Aufeinanderfolgen ein, wie,

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zum Beispiel, einer von Tönen, die nacheinander erklingen. Deswegen ist es völlig abwegig, die Späterrelation als statische Relation hinzustellen (vgl. Russell 1915). In der S-Ontologie ist nicht die Späterrelation, sondern die Früherrelation eine zeitliche Grundrelation. Die Späterrelation ist uns empirisch nicht gegeben, sie kann nur durch Inversion aus der Früherrelation abgeleitet werden. Mein Argument gegen die Wahrnehmbarkeit von Sachverhalten mit der Späterrelation ist, dass in ihnen das spätere Einzelding zuerst kommt. Wenn man der Späterrelation einen ontologischen Status geben würde, würde man zudem der Zeit zwei Richtungen zuschreiben, was auch unserer Sinneserfahrung und unserem Zeiterleben widerspricht. Mit der S-Ontologie wird nun das Vergehen der Zeit vor allem durch diese Früherrelation erklärt. Das Vergehen der Zeit insgesamt ist die Konjunktion aller relationalen Sachverhalte, die die Früherrelation zum Bestandteil haben. Man wird fragen, wie die Temporae nach dieser ontologischen Analyse zu verstehen sind, insbesondere die Gegenwart? Eine Gegenwart umfasst in der SOntologie gleichzeitige Einzeldinge und vielleicht noch die Sachverhalte, in denen sie Bestandteile sind. Sie ist gekennzeichnet und wird hervorgehoben durch eine Wahrnehmung oder durch eine Aussage mit einem Indikatorwort wie ‚jetzt‘ oder durch eine Uhrzeit. Gegenwarten sind alle relativ dazu. Es gibt keine absolute Gegenwart. Was die Vergangenheit und Zukunft angeht, so handelt es sich um das gegenüber der jeweiligen Gegenwart Frühere und Spätere. Von dem Ersteren nimmt der Präsentist an, dass es in die Nichtexistenz übergangen ist, und vom Zweiten, dass es später zur Existenz gelangen wird. Wie schon angedeutet, macht die Annahme des Präsentisten, dass nur das jeweils Gegenwärtige existiert, es eigentlich unmöglich, einen zeitlichen Übergang ontologisch zu analysieren, zumal zeitliche Folgerelation nicht zu einem nicht Existenten bestehen kann. Auf jeden Fall besteht diese Folgerelation bzw. die Früherrelation in der S-Ontologie die eigentliche Grundlage des Vergehens der Zeit, nicht innerhalb einer punktuellen Gegenwart. Ohne diese Relation würde aber die Welt des Präsentismus aus nur einer Gegenwart bzw. aus voneinander getrennten Gegenwarten bestehen. In der S-Ontologie beschränkt sich das Vergehen der Zeit auf die Einzeldinge. Die anderen Kategorien sind unzeitlich. Das Vergehen der Zeit ist also nicht weltbewegend, der S-Ontologie zufolge.

6 Geschlossenheit und Offenheit der Zeit Dass die Vergangenheit sich nicht ändern lässt, scheint sich mit der Zeitlosigkeit der Existenz gut zu vertragen. Allerdings darf man sich das Vergangene nicht als nicht-existent denken, wenn die Existenz, wie oben dargelegt wurde, zeitlos ist. Vor allem hat die Unveränderbarkeit der Vergangenheit nichts damit zu tun, dass die vergangenen Einzeldinge nichtsdestoweniger existieren bzw. die Sachverhalten, in denen sie Bestandteile sind, bestehen. Vergangene Sachverhalte sind als solche ebenso wenig notwendig wie zukünftige. Dass man zu recht überzeugt ist, Zukünftiges beeinflussen zu können, hängt mit der Richtung der Kausalität zusammen. Sie entspricht der Richtung der Zeit. Im Hinblick auf ihre Notwendigkeit ist die Ver-

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gangenheit ebenso offen wie die Zukunft. Wenn man so sagt, die Vergangenheit sei nicht mehr zu ändern, so muss die Betonung auf ‚ändern‘ liegen. Die Vergangenheit könnte anders sein als sie ist, aber wir können nicht dafür sorgen, dass sie anders ist als sie ist. Wer die Nichtexistenz der Vergangenheit annimmt, würde natürlich sagen: ‚. . . anders als sie war‘. Wie kommt man überhaupt zu der Überzeugung, dass das Vergangenen und das Zukünftige nicht existiert? Zweifellos durch die Begrenztheit der Wahrnehmung. Wir sehen und hören und riechen normalerweise nur das Gegenwärtige, also das in etwa Gleichzeitige (außer im astronomischen Maßstab) und räumlich Nahe. Es handelt sich um eine Art Naivität, sich an das unmittelbar Vertraute zu halten. Beim Kind geht die anfängliche Naivität vielleicht so weit, auch im Räumlichen nur an das zu glauben, was nah genug ist, um wahrgenommen zu werden. Allerdings belehrt die Bewegung im Raum über immer größere Entfernungen, dass durchaus noch anderes und sehr viel mehr existiert, als die Dinge im Nahbereich und in der mittleren Größe. Da wir keine Zeitreisen im konkreten Sinne unternehmen können, bleiben wir meist in der Gleichsetzung von Existenz und Gegenwärtigkeit befangen, obwohl wir auf andere Weise als mit der Wahrnehmung durchaus Vergangenes und Zukünftiges geistig erfassen, mit dem Gedächtnis und der Erwartung zum Beispiel. Allerdings ist unser Weltverständnis vor allem von der Wahrnehmung geprägt. Die Zukunft erscheint uns offen, die Vergangenheit abgeschlossen, aber die Gegenwart wie ein immer weiter fahrender Wagen, an den wir gefesselt sind und der uns ein Verweilen unmöglich macht. Wir sind in der Zeit gewissermaßen gefangen. Wir werden vom Vergehen der Zeit davon getragen. Das ist jedenfalls der verbreitete Eindruck, aber was liegt dem zugrunde, was ist tatsächlich der Fall? Es handelt sich, wenn man es genauer betrachtet, um Veränderungen, die wir gerne verhindern würden, aber nicht können oder um unangenehme Ereignisse, die bevorstehen. Es handelt sich auch um das Älterwerden, das ständig stattfindet und das man nicht verhindern kann. Das ist auch eine Veränderung. Veränderungen werden in der S-Ontologie mit zeitlichen Teilen analysiert. Beispiel sei eine alterstypische Veränderung des Kopfhaarzustandes von vollem (V) zu schütterem Haar (Ü) und schließlich zu einem kahlen Kopf (K). Da die drei Zustände einander als Gesamtzustände ausschließen droht hier der Widerspruch der Veränderung. Es soll um eine Person p gehen und um deren zeitliche Teile p1 , p2 und p3 . Die Relation ‚zeitlicher Teil‘ sei durch ‚ZT‘ symbolisiert und die Relation ‚früher als‘ durch ‚FR‘. Beides sind zweistellige Relationen erster Stufe. Sie bestehen also zwischen jeweils zwei Einzeldingen. p, p1 , p2 , und p3 gehören zu dieser Kategorie. Die zeitliche Teilung von p bedeutet nicht, dass es ein Komplex ist. Alle Einzeldinge sind ja einfach und nur Sachverhalte komplex. Vielmehr beruht die zeitliche Teilung von p, die wir brauchen, auf den Sachverhalten ZT (p1 , p), ZT (p2 , p) und ZT (p3 , p). Eine zeitliche Teilung hängt immer mit einer Veränderung zusammen und die Dauer der zeitlichen Teile richtet sich nach der Geschwindigkeit der Veränderung. Zeitliche Teile sind niemals punktartig, d. h., kein zeitlicher Teil, überhaupt kein Einzelding hat die Dauer 0. Die Dauer-Relation der S-Ontologie ‚dauert länger als‘, die an dieser Stelle zuständig wäre, erlaubt keine kürzeste Dauer 0 und auch keine längste

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(was der Ewigkeit entspräche). Sie hat keine Handhabe für eine untere oder obere Grenze. Die ontologische Analyse der Veränderung des Kopfhaarzustandes würde nun so aussehen: V(p1 ) & Ü(p2 ) & K(p3 ) & ZT (p1 , p), ZT (p2 , p) & ZT (p3 , p) & FR (p1 , p2 ) & FR (p1 , p3 ) & FR (p2 , p3 ). Man sieht auch, dass p sich durch seine zeitlichen Teile verändert und dass die Veränderung sich im Laufe der Zeit vollzieht, durch die Relation FR, wie jede Veränderung. Die Veränderung hat auch eine Notwendigkeit und insofern einen Charakter von Zwang aufgrund biologischer Gesetze und der DNA von p, falls es sich um einen altersbedingten Haarverlust handelt. Der Zwang geht aber nicht vom Vergehen der Zeit an sich aus, von den FRSachverhalten. Die FR-Sachverhalte zeigen allerdings einen Zwang an, jeweils zum nächsten zeitlichen Teil überzugehen. Der ist aber im Grunde auf die Veränderung zurückzuführen. Die zeitlichen Teilungen wurden ja oben aus den Veränderungen hergeleitet. Wer sich verändert, muss weiter, je schneller er sich in einer Hinsicht ändert, umso schneller geht es mit ihm zum nächsten zeitlichen Teil. Bei einer anderen Veränderung könnte das der Fall sein, dass die Zeit einen vorantreibt, nämlich beim reinen Altern (im Gegensatz zu dem, was man ‚Alterserscheinungen‘ nennt), das man nach der Uhr und dem Kalender zu feiern pflegt. Betrachten wir wieder die Person p und eine Jahresuhr, die bei der Geburt von p auf 0 gestellt wurde. Beschränken wir uns auf den Uhrenstand von 47 und von 48 Jahren. Für die ontologische Analyse sind zwei zeitliche Teile von p, nämlich p1 und p2 , und von u, nämlich u1 und u2 zu unterscheiden. p1 ist p im Alter von 47 und p2 ist p im Alter von 48 Jahren, u1 zeigt das Alter von 47 und u2 das von 48 Jahren an. Der Alterungsprozess vom 47. bis zum 48. Lebensjahr ist der folgende Sachverhalt: ZT (p1 , p) & ZT (p2 , p) & ZT (u1 , u) & ZT (u2 , u) & FR (p1 , p2 ) & FR (u1 , u2 ) & DG (p1 , u1 ) & DG (p2 , u2 ), wobei DG die Relation ‚dauert gleich lang‘ ist. Man beachte die Rolle der Früher-Relation. Sie sorgt für das Fortschreiten. Mit dem Vergehen der Zeit vergrößert sich die Dauer der zeitlichen Teile von p bis sie schließlich die Dauer von p erreicht. Und dies ist eine rein zeitliche Angelegenheit anders als der natürliche allmähliche Haarverlust. Die Universalien in dem Alterungssachverhalt gehören alle zur Zeit, einschließlich der Relation ZT, wie deren Bezeichnung andeutet. Dieser Sachverhalt hat auch eine Notwendigkeit und zwar eine, die nicht von biologischen oder sonstigen naturwissenschaftlichen Gesetzen herrührt. Hier ist es wirklich die Zeit selbst, die zwingt. Dieser Zwang verflüchtigt sich aber, sozusagen, er bringt keine Beeinträchtigung mit sich wie der biologische Alterungsprozess. Dass die Zeit im Sauseschritt vergeht und wir mit müssen, wie Wilhelm Busch es ausdrückt, braucht uns gar nichts auszumachen. Höchstens im Hinblick auf die mittlere Lebenserwartung, bei der die Zeit selbst aber kein Kausalfaktor ist. Wie verträgt sich aber die Zeitlosigkeit der Existenz mit der Offenheit der Zukunft? Wir sind überzeugt, dass die Zukunft nicht feststeht, dass wir sie beeinflussen können. Das Gegenteil folgt nun keineswegs aus der S-Ontologie, etwa aus der Zeitlosigkeit der Existenz. Feststehen würde ein Sachverhalt mit einem zukünftigen Einzelding nur dann, wenn er notwendig wäre und notwendig wäre er nur, wenn er aus einem Gesetz logisch folgen würde. Andernfalls wäre es möglich, dass er

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nicht bestünde. In diesem Sinne würde er nicht feststehen, wir könnten ihn insofern beeinflussen. Nach der S-Ontologie müsste man sogar hervorheben, dass die Beeinflussung eine Beziehung ist und sie als solche nur bestehen kann, wenn beide Relata, das Beeinflussende und das Beeinflusste, existieren.

Literatur McTaggart, J. M. E.: The Unreality of Time. In: Mind 17 (1908), 457–474. Russell, Bertrand: On the Experience of Time. In: Monist 25 (1915), 212–233. Tegtmeier, Erwin: Grundzüge einer kategorialen Ontologie. Freiburg/München 1992. Tegtmeier, Erwin: Parmenides’ Problem of Becoming and its Solution. In: Logical Analysis and Philosophy of History 2 (1999), 51–66. Tegtmeier, Erwin: Tempus und Existenz. Eine Kritik am Solpräsentismus bei Aristoteles, Augustinus, Brentano und Prior. In: Metaphysica 1 (2000).

Was heißt (eigentlich) ‚authentisch existieren‘? Andreas Luckner

Es könnte sein, dass einem der Titel-Ausdruck ‚authentisch existieren‘ merkwürdig oder künstlich vorkommt. Mit Recht! Denn wenn wir das Wort ‚authentisch‘ in Bezug auf Personen gebrauchen, nehmen wir einmal Jakob, dann würden wir ja normaler Weise so reden: ‚Jakob ist authentisch‘ oder vielleicht auch ‚Jakob handelt authentisch‘ und nicht ‚Jakob existiert authentisch‘. Es gibt hier allerdings ein Problem, das in dieser Ausdrucksweise liegt und das Ursache für Missverständnisse ist, denn der Satz ‚Jakob ist authentisch‘ kann mindestens auf zweierlei Weise verstanden werden: Erstens im Sinne einer Prädikation (mit ‚ist‘ als Kopula). ‚Jakob ist authentisch‘ würde hier analog dem Satz ‚Jakob ist schön‘ oder auch ‚Jakob ist groß‘ verstanden als: Jakob wird die mehr oder weniger akzidentielle Eigenschaft der Authentizität zugesprochen; zweitens aber, und hierauf kommt es im Folgenden an, kann man den Satz auch so verstehen, dass das Wort ‚authentisch‘ das Wort ‚ist‘ modifiziert, wie eben dann, wenn man ‚ist‘ als Vollverb im Sinne von ‚existieren‘ nimmt (in diesem Sinne von ‚ist‘ wäre der Ausdruck ‚Jakob ist‘ ein vollständiger Satz). ‚Jakob ist authentisch‘ hieße also so viel wie: ‚Jakob existiert in authentischer Weise‘ (was immer das dann genauer heißen mag, dazu später). Im ersten Fall wird also gesagt, was Jakob ist, d. h. welche essentiellen oder akzidentiellen Eigenschaft(en) er hat, nämlich z. B. Männlichkeit, Größe oder Schönheit oder evtl. (das wäre zu prüfen!) Authentizität, im zweiten Fall wird gesagt, wie Jakob existiert, nämlich authentisch. Seinsweisen (oder traditionell: modi) sind keine solchen Eigenschaften (traditionell: essentialia und/oder attributa), die wir einfachhin bzw. direkt (unmittelbar) Gegenständen oder Personen prädizieren, sondern nur mittelbar, sozusagen als transitorische ‚Zustände‘ eines Seienden. Insofern ist mit der Titelfrage schon eine begriffliche Entscheidung getroffen, nämlich die, dass Authentizität eine Seinsweise bzw. Existenzform im Sinne des Modus ist – oder anders gesagt: dass der Ausdruck ‚authentisch‘ zumindest in BeA. Luckner () Universität Stuttgart Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Luckner, S. Ostritsch (Hrsg.), Philosophie der Existenz, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04880-6_9

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zug auf Personen adverbial und nicht adjektivisch gebraucht werden sollte. Die damit verbundene These, die in diesem Beitrag erläutert und begründet werden soll, lautet: Authentizität betrifft nicht das (essentielle oder akzidentielle) Was-Sein, sondern das Wie-Sein einer Sache oder einer Person. Wenn dem so ist, kann man nicht davon ausgehen, dass Authentizität als personale Eigenschaft keine solche wäre, für die zu haben man sich entscheiden könnte, sprich: die einem als eine Wahloption offenstünde, auf die zu besitzen man hinarbeiten könnte. Dennoch ist es einer Person möglich, wie zu zeigen sein wird, in ihrem Handeln und Leben ‚sich zu eigen zu werden‘, d. h. in ihrer Existenz zu ‚authentifizieren‘. Man könnte sich nun fragen: Hat das Thema ‚authentisch existieren‘ überhaupt irgendetwas mit dem Begriff der Existenz zu tun, wie er in den Beiträgen in diesem Band bisher vornehmlich behandelt wurde? Wenn man vorsichtig ist, wird man hier freilich erst einmal sagen wollen: Nun, die Frage nach so etwas wie einer authentischen Existenz ist ja doch wohl ein völlig anderes Thema als die Frage z. B. danach, wie das begriffliche Verhältnis von Existenz und Quantifikation oder Existenz und Zeit zu konzipieren ist oder ob fiktive Personen wie der Osterhase existieren können. Das eine Mal haben wir es mit Ontologie (im weitesten Sinne) zu tun und das andere Mal mit Ethik (im weitesten Sinne) und das sind doch zwei Bereiche, die man tunlichst auseinander halten sollte, um hier nicht die Dinge zu konfundieren. Nun, Ontologie nennen wir gemeinhin diejenige Disziplin, die zu klären versucht, von was wir alles sagen wollen, dass es existiere (mit Quine gesprochen, gibt sie eine Antwort auf die Frage, was es alles gibt), nicht aber, was wir überhaupt damit meinen, dass es etwas gibt. Von daher fällt das Thema ‚Existenz‘, streng genommen, gar nicht in die Ontologie, anders als etwa die Klärung der Begriffe von Substanz oder Eigenschaft oder Ereignis o. Ä. Bei der Klärung des Existenzbegriffes geht es vielmehr um die Grenzbestimmung der Ontologie selbst. Wenn nach der klassischen, auf Aristoteles zurückgehendem Bestimmung Ontologie als allgemeine Metaphysik und erste Philosophie die Wissenschaft vom Seienden, insofern es ist, ist, ist die Frage nach der Existenz die Frage danach, was überhaupt ‚ist‘ bzw. ‚sein‘ heißen soll. Diese Frage aber betrifft keinen möglichen Gegenstand der Ontologie, sondern geht jeder Ontologie notwendig voraus; sie ist, mit anderen Worten, eine fundamentalontologische Frage (wie Heidegger das missverständlich nannte), oder, wie Sebastian Ostritsch und ich das in unserem Büchlein zur Existenz nennen, eine proto-ontologische Frage.1 Das Thema Existenz fällt also, streng genommen, gar nicht in die Ontologie. Wenn wir nun auf die Seite der Ethik schauen, ergibt sich ein ganz ähnliches Bild: ‚Authentisch‘ scheint ja zunächst einmal so etwas wie ein Wertprädikat zu sein. Schon wenn wir es auf Gegenstände beziehen, etwa auf Kunstwerke oder Dokumente (dazu gleich mehr), zeigt sich, dass es (irgendwie, in noch näher zu klärender Weise) gut ist, authentisch zu sein. A fortiori gilt das von Personen: Von jemandem zu sagen, er bzw. seine Handlungsweise sei authentisch, stellt zumeist eine Wertung dar. Personen- und Handlungsbewertungen, wie auch immer begründet sie sind bzw. sein können, fallen gemeinhin in den Bereich der Ethik. Ich 1

Vgl. Luckner/Ostritsch 2018, 5–11.

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würde aber behaupten, dass Authentizität in Bezug auf Personen und ihre Handlungen bzw. Handlungsweisen im Grunde genommen kein solches Wertprädikat darstellt, das auf einer Ebene mit z. B. Tugendbegriffen stünde. Authentizität ist keine Tugend, sondern vielmehr gerade eine ontologische Voraussetzung ethischer Wert-Prädikation einer Person bzw. ihrer Handlungen und Handlungsweisen (ob nun durch Fremd- oder Eigenzuschreibung). Für die Philosophen der Existenz im engeren Sinne ist so etwas wie eine Selbstwahl als Konstitution eines eigentlichen Selbst Voraussetzung dafür, dass eine Person sich selbst für verantwortlich für ihre Handlungen hält. Autonomie als Selbstbestimmungsfähigkeit mag zwar der Realgrund für (personale) Authentizität sein – nur wer sich selbst in seinem Handeln und Leben bestimmen kann, kann überhaupt authentisch sein –, umgekehrt ist das Phänomen authentischen Selbstseins der Grund dafür, sich als ein solches autonomes Wesen erfassen zu können, welches für sein Handeln und Leben verantwortlich ist. Kurzum, es geht beim Thema Authentizität personaler Existenz immer auch um die Frage, wie sich überhaupt jemand zu Werten und Normen verhält, sich ihnen unterstellt oder diese ablehnt. Die Frage danach, was es heißt, authentisch bzw. nicht-authentisch zu sein bzw. zu existieren, ist daher einer jeden Ethik als normativer Disziplin vorgelagert; sie ist, mit anderen Worten, eine proto-ethische Frage. Eine recht steile These wäre es nun zu sagen: Proto-Ethik und Proto-Ontologie sind eines.2 Für die Zwecke dieses Beitrages – in Bezug auf die Analyse dessen, was eigentlich ‚authentisch existieren‘ heißt – mag es genügen, dass die Beantwortung dieser Frage durchaus sowohl ontologische (genauer personen-ontologische) als auch ethische Dimensionen berührt. Ich möchte im ersten Teil meines Beitrags eine Analyse dessen, was überhaupt ‚authentisch‘ bedeutet, unternehmen. Im zweiten Teil soll gezeigt werden, dass in Bezug auf Personen, die aufgrund ihres Selbstverhältnisses einer Wahl des eigenen Selbst (in einem eigens zu klärenden existenzphilosophischen Sinne) fähig sind, ‚authentisch sein‘ bzw. ‚existieren‘ etwas anderes bedeutet bzw. bedeuten muss als Authentizität in Bezug auf impersonale Gegenstände. Nach diesem negativen Befund werde ich im abschließenden dritten Teil versuchen, zu klären, was es heißt, authentisch zu existieren; es heißt, wie auch Kierkegaard, Heidegger, Sartre und de Beauvoir deutlich gesehen haben, im Bewusstsein der eigenen radikalen Autonomie verantwortlich für das eigene freie Selbstsein einzustehen.

1 Was heißt (eigentlich) ‚authentisch‘? Wann sprechen wir überhaupt davon, dass etwas oder jemand ‚authentisch‘ sei? Offenbar kann man, bei aller natürlich gegebenen Täuschungsmöglichkeit, die Authentizität z. B. eines Glaubenszeugnisses, eines historischen Berichtes, eines Kunstwerks, eines Dokuments feststellen. ‚Authentizität‘ heißt hier so viel wie ‚Echtheit‘ im Unterschied zu ‚Fälschung‘; ‚authentisch‘ in Bezug auf Einzelnes

2

Für eine ausführliche Demonstration dieser These Luckner/Ostritsch 2018.

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heißt ‚nicht gefälscht‘, in Bezug auf Arten wie z. B. die Sachertorte auch ‚unverfälscht‘, dem Original entsprechend. Insofern durch äußerliche Merkmale identifizierbar, kann man dieses Authentizitätsverständnis auch in Bezug auf Personen wiederfinden. So benennt authenticity etwa in der e-economy die (wie immer auch fragliche) Identität einer Person, was letztlich auf die Gewährleistung abzielt, dass der Kommunikationspartner tatsächlich derjenige ist, der er vorgibt zu sein. Die Handlungen einer Person werden ‚authentisch‘ in diesem Sinne genau dann genannt, wenn sicher ist, dass sie wirklich von ihr getätigt wurden, ganz so wie ein Gemälde von van Gogh als ein authentisches, d. h. als ein ‚echter van Gogh‘ bezeichnet wird, wenn das vorliegende und hinsichtlich seiner Authentizität fragwürdige Bild als wirklich von ihm gemalt festgestellt werden kann (was man durch geeignete Verfahren nachweisen kann). Das Bild hat der Maler im Allgemeinen selbst, als er es fertiggestellt hat, durch sein pinxit ‚authentifiziert‘ – was sich freilich im Falle von guten Fälschungen auch als Täuschung erweisen kann (dieser Akt der Authentifikation wird noch ausführlich thematisiert werden). ‚Authentisch‘ heißt also zunächst einmal so viel wie ‚echt‘, ‚originär‘, und so ist ja auch die etymologische Herkunft des Wortes aus dem Griechischen zu verstehen: Der authentês ist der Urheber, derjenige, der das, was er von sich gegeben hat, ein Werk oder eine Tat, selbst (autos) vollendet (hanyein) hat. In Gerichtskontexten ist der authentês der Täter. Die lateinische Übersetzung von authentês wiederum ist auctor. Authentizität in Bezug auf Personen wäre demnach also gleichbedeutend mit wahrer Urheberschaft bzw. Autorschaft. Der betreffende Autor kann auch ein Kollektiv sein, wie etwa die Konditoren des Hotels Sacher, welche die authentische Sachertorte backen. Und wir wenden das Prädikat ‚authentisch‘ im Sinne der Echtheit auch auf Personen an, sofern es sich um äußerliche Merkmale der Identifikation handelt (nachzuweisen etwa durch wiederum authentische, d. h. nicht gefälschte Ausweisdokumente). Hier kann schon Folgendes bemerkt werden: Authentizität scheint in allen diesen Fällen weniger eine Eigenschaft der so bezeichneten Gegenstände direkt zu sein als vielmehr eine Eigenschaft der Relation, in dem z. B. ein Artefakt zu seinem Urheber steht. Das ist sogar dort so, wo etwa von ‚authentischen Naturerfahrungen‘ gesprochen wird, die ja gerade (und nur) deswegen thematisiert und für wertvoll gehalten werden, weil andernorts in die Natur eingegriffen wurde; wenn als Urheber (hier natürlich im weitesten Sinne) der entsprechenden Naturgegenstände, vom Kristall bis zum Waldgebiet, von der Fels- bis zur Vogelformation die Natur selbst gelten kann, dann ist die Erfahrung von so etwas wie Authentizität in Bezug auf Natur im Sinne der Unberührtheit und Ursprünglichkeit offenbar kein bloß metaphorischer Wortgebrauch. Die Frage, ob etwas authentisch ist oder nicht, lässt sich also in allen diesen Fällen dadurch klären, dass die wahre Urheberschaft festgestellt wird. Nun interessiert uns ja in Bezug auf Personen der Sprachgebrauch von ‚authentisch‘, demgemäß wir von einer Person sagen, sie handele bzw. existiere authentisch. Gibt es denn hier analog zur äußerlichen Authentifizierung einer Person über deren körperliche Merkmale wie Augenfarbe, Größe oder Fingerabdruck, die Möglichkeit sozusagen einer ‚innerlichen‘ Authentifizierung? Eine solche ‚innerliche‘ Authentizität einer Person

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wäre demnach dann gegeben, wenn wir sie als die Urheberin ihrer Äußerungen in Sprechen und Handeln identifizieren können, wenn also ihre (Sprech-)Handlungen und Handlungsweisen tatsächlich von ihr selbst stammen. Aber – wo und wann wäre das nicht der Fall? Könnte es denn in Analogie zu Artefakten z. B. in irgendeinem Sinn nicht echte oder gar gefälschte Handlungen geben? Könnte z. B. ein Psychologe so etwas wie Echtheitszertifikate für personale Äußerungen erstellen, ähnlich wie ein Kunstexperte solche für Kunstwerke zu geben vermag? So dass man sagen könnte: ‚Hier, diese Äußerung von Dir ist authentisch, kommt also Deinem wahrem Selbst zu, während diese andere Äußerung von Dir, das war nur so daher gesagt, das kommt Deinem wahren Selbst nicht zu.‘ Oftmals beschreiben wir ja die Nichtauthentizität dessen, was eine Person von sich gibt, genau so: ‚Das ist gar nicht sie selber, sie redet (oder macht) da nur etwas nach‘, sie ist, obwohl sie natürlich selber spricht, dennoch nicht der ‚wahre‘ Urheber ihrer Rede, auch wenn freilich auf der Ebene der Handlungsausführung die Handlungen der Person zugeschrieben werden müssen. Was nun aber im Falle des Gemäldes relativ einfach zu bestimmen ist – zumindest ist der Weg, wie man Authentizitätsnachweise führen kann, relativ klar – bleibt in Bezug auf die Authentizität von Handlungen und Handlungsweisen einer Person recht dunkel. Denn – so müsste man ja hier fragen, wenn ich es doch immer selber bin, der handelt – was wäre denn der Fall, wenn mein genuines Handeln tatsächlich nicht authentisch wäre? Nehmen wir mal als möglichen Kandidaten nicht-authentischen Handelns so etwas wie Fremdbestimmtheit des Handelns. Ich lasse jetzt mal den schwierigen Fall von Handeln im Affekt oder starken Begierden beiseite, sondern nehme einen diesbezüglich klaren Fall von Fremdbestimmtheit. Wenn wir uns etwa vorstellen, z. B. ich wäre unter Hypnose und mein Hypnotiseur bestimmt durch seine Anweisungen vollständig, was ich tue (ich gehe mal hier davon aus, dass dies ein klarer Fall von ‚Fernsteuerung‘ meines Handelns wäre, was in einem medizinischen Verständnis von Hypnose evtl. problematisch sein könnte). Dann wäre ich in einer solchen Situation nicht der Urheber meines Handelns. Ich handelte nicht authentisch, weil ich gar nicht handelte, d. h. wäre nicht das Subjekt meiner Tätigkeit (und es könnten mir Folgen der Tätigkeiten, die ich unter Hypnose fremdgesteuert vollziehe, gar nicht zugerechnet werden). Das ist aber offenbar nicht gemeint, wenn man von jemandem sagt, er sei nicht authentisch, denn da ist es natürlich so, dass wir ihm sein Handeln zurechnen, auch wenn es nicht authentisch ist. Wer nicht authentisch handelt, ist also nicht unbedingt fremdbestimmt im Sinne eines Zwanges, Nichtauthentizität ist nicht gleich Heteronomie. Aber was dann? Es müsste doch eigentlich immer so sein, dass die Handlungen einer Person, sofern sie nicht fremdbestimmt sind, ihr als Urheber zugeschrieben werden müssen. Wie sollte es da dann überhaupt nicht authentische, also sozusagen nicht ‚echte‘ Handlungen von einer Person geben? Eine naheliegende Möglichkeit wäre hier, nicht-authentische Handlungen als Täuschungen aufzufassen, insofern ja mit den betreffenden Handlungen eine Person den anderen, und am Ende auch sich selbst gegenüber, ein falsches Bild, eine täuschende Fassade zeigt. Auch hier scheint aber die Analogie zur Nichtauthentizität von Artefakten nicht aufzugehen,

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da solchermaßen ‚gefälschte‘ Handlungen ja einen Willen bzw. eine Intention voraussetzen würden, andere und sich selbst zu täuschen. Natürlich gibt es Menschen, die oft und gerne anderen etwas vormachen; aber von jemandem zu sagen, dass er oder sie nicht authentisch sei bzw. handele, geht darin nicht auf und meint in vielen Fällen zuverlässig etwas anderes. Während wir im Falle der Täuschung oder der Verstellung einen direkten Vorwurf an die Adresse der täuschenden Person formulieren würden – man stelle sich vor, die Täuschung fliegt auf und die wahre Intention des Handelnden käme zum Vorschein –, bezeichnen wir mit ‚nicht authentisch‘ auch solches Tun und Existieren, das gar keine erkennbare (und vorwerfbare) Intentionen aufweist. In Bezug auf eine Person, die nicht authentisch handelt, würden wir eher sagen, ‚Nun ja, sie ist in ihrem Handeln und Sein nicht ganz sie selbst!‘ oder Ähnliches – ohne dass hier notwendiger Weise, so wie bei der Täuschung, ein Bewusstsein bzw. eine Absicht vorliegen würde. Nicht authentisches Handeln bzw. Sein in Bezug auf Personen ist also weder gleichbedeutend mit fremdbestimmten noch mit durch bewusste Täuschung ‚gefälschtem‘ Handeln oder Sein. So wie die Täuschung aber doch eine Inkongruenz des Handelns bzw. der Äußerungsformen mit dem ‚inneren Wesen‘ einer Person darstellt, ist dies doch durchaus das, was wir auch bei der Nicht-Authentizität in Bezug auf Personen vor uns haben, nur dass eben hier die Täuschungsabsicht fehlt. Ist Nicht-Authentizität in Bezug auf Personen also so etwas wie unabsichtliche Wesensinkongruenz? Nehmen wir an, Person X hat ganz bestimmte wesensmäßige Eigenschaften, die in ihren Handlungsweisen zum Ausdruck kommen, und wenn diese sich mit den wahren inneren Eigenschaften einer Person in Deckung bringen lassen, dann nennen wir dieses Handeln bzw. die handelnden Person authentisch. Reden wir nicht oft genau so? Nehmen wir wieder unseren wahren Jakob und nehmen zusätzlich an, das sei jemand, von dem wir oft sagen (hören), ‚ok, er ist zwar vielleicht manchmal ein wenig schroff, aber er verstellt sich eben nicht, er ist authentisch, echt, eben unverstellt (drum ist auch klar, man muss ihn nehmen, wie er ist)‘. Man könnte auch sagen: Er ist ein ‚Original‘ – d. h. eigenständiger Quell seiner Handlungsweisen – was es mit sich bringt, dass er die Dinge mitunter anders macht, als ‚man‘ sie so macht. Er hat sozusagen keine Maske auf und deswegen können wir, so scheint es, bis auf seinen Wesenskern hindurchschauen und er ist deswegen authentisch in seinen Handlungen, wenn das, was ihn wesentlich ausmacht, in seinen Äußerungsformen in Erscheinung tritt. ‚Authentisch sein‘ meint hier dann eben so viel echt sein im Sinne von: Hier deckt sich Wesen mit Erscheinung. Ein wesenhaft zorniger Mensch, der seinem Zorn in seinem Handeln Ausdruck gibt, könnte demnach unter Umständen moralisch fragwürdig, aber eben durchaus authentisch handeln. Eine Person, die ihren wesenhaften Zorn unterdrückt, handelt (existiert) dagegen nicht authentisch. Eine wesenhaft sanftmütige Person, die Zorn vorgibt, obwohl sie ihn gar nicht hat, wäre nicht authentisch in diesem Tun, eine wesenhaft sanftmütige Person, die auch nach außen hin sich in ihrem Handeln und Sprechen sanftmütig gibt, würde dagegen authentisch sein, was sich eben in einer bestimmten Handlungsweise ausdrückt. Da es Sache der Personen und ihrer Fähigkeit ist, ihr Handeln selbst zu bestimmen (das betrifft ihre Autonomie im weitesten Sinne), kann sie, anders als z. B. Artefakte oder natürliche Gegenstände, ihre Erscheinung

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in Handeln und Lebensweise kontrollieren. Und dann hieße ‚authentisch sein‘ eben so viel wie: So in Erscheinung treten, wie man dem Wesen nach ist, gemäß dem augustinischen operari sequitur esse, das Handeln folgt dem Sein. Und wenn dieses unverstellt vor uns liegt, spricht man davon, dass diese Person authentisch existiere. Wenn man also den Wunsch hätte, authentisch zu sein (manche haben das ja), dann müsste man sich erst einmal selbst in seinem Wesen erkennen und dann schauen, inwieweit sich das Handeln dem Wesen entsprechend äußerte. Dies ist das Projekt der sogenannten Selbstfindung, wo man davon ausgeht, dass es so etwas wie einen Wesenskern der Person gibt, der erkennbar und für die Person selber auch unverfügbar ist. Authentizität in Bezug auf Personen hätte dann vor allem mit Selbsterkenntnis zu tun bzw. schlösse diese ein. Aber – was ist, wenn es gar kein vorab feststehendes Wesen der Person gäbe? Wenn man bei der Selbstfindung – nichts findet? Wenn ihr inneres Wesen eine Leerstelle ist? Wenn die Person also nicht der Nuss, sondern der Zwiebel gleicht? Nietzsche und die Psychoanalyse, aber auch schon Meister Eckhart, Montaigne und Kierkegaard, in unseren Zeiten dann in seltener Übereinstimmung Jean-Paul Sartre, Hannah Arendt und Michel Foucault haben uns klar gemacht, dass im Innern des Menschen zwar die Wahrheit zu Hause sein mag – aber es ist vor allem diese Wahrheit: dass ein oder gar der Mensch kein feststehendes Wesen hat, dass er ein Noch-Nicht-Bestimmtes, Imperfektes ist, dass sein Leben einer Bestimmung offen steht, dass er nicht-festgestellt ist, solange er lebt, ja, dass sein Leben darin besteht, initiativ zu sein, immer neu anfangen bzw. sich frei an Personen und Projekte binden zu können usw. Von einem Urbild, einem Original, mit dem sich die personale Realität eines Menschen vergleichen lassen würde, kann hier also gar nicht gesprochen werden. Was ist aber, wenn nicht nur die Form, wie eine Person sich im Leben und Handeln äußert, sondern ihr eigentliches Wesen schon Sache ihrer Selbstbestimmung wäre? Wenn es also die Selbstfindung gar nicht im Wortsinne geben kann, weil niemand mit einem schon fixfertigen Wesen auf die Welt kommt, welches sich dann nur noch mehr oder weniger authentisch im Handeln und Leben einer Person entwickelt, sondern wir es eher mit so etwas wie einer Selbsterfindung zu tun hätten?3 Dies ist ein Sprachgebrauch, wie er in den letzten Jahren und Jahrzehnten grassiert, ja, überhand genommen hat; man hat sich ja immerzu neu zu erfinden! Die armen Leute . . . Philosophisch reflektiert treten solche Selbsterfindungsideen von Authentizität, nebenbei gesprochen, vor allem im Bereich der Philosophie der Lebenskunst auf, wo Biographien mitunter wie Artefakte behandelt werden.

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Die Abgrenzung von ‚Selbstfindung‘ und ‚Selbsterfindung‘ übernehme ich aus Thomä 1998. Auch der von Thomä vorgeschlagene dritte, an Rousseau anschließende Weg des authentischen Selbstverhältnis als Selbstliebe (amour de soi, i. U. wiederum von dem amour propre, der Selbstsucht bzw. der Eigenliebe) deckt sich mit vielem, was ich hier im Folgenden entwickeln will (vgl. Thomä 1998, 188), vor allem hinsichtlich der Offenheit bzw. Unbestimmtheit der Zukunft dieses Selbst. Im Selbstbezug im Sinne des amour de soi ist jemand so auf sich bezogen, dass er sich in seiner/ihrer Freiheit liebt, so wie dann auch jede andere Person (vgl. Thomä 1998, 182). Diese Figur findet ihren deutlichen Reflex bei Sartre 1994.

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Aber so wie das Modell der Selbstfindung liefert auch das der Selbsterfindung ein verzerrtes, inadäquates Bild von der Authentizität von Personen in ihrem Handeln. Beide Modelle eigentlichen Selbstseins sind dabei nicht grundlegend falsch, aber überziehen doch jeweils einen Moment des Prozesses der Selbstkonstitution, die beide wichtig sind: die Verwiesenheit an eine Situation mit schon (evtl. anderweitig) bestimmten, d. h. gegebenen Faktoren einerseits, andererseits aber den aus dieser Situation heraus frei getätigten Selbstentwurf (oder, mit Heidegger gesprochen: Faktizität und Existenzialität). Weder finden wir uns als etwas wesensmäßig schon Gegebenes vor, noch steht es uns frei, uns jeweils komplett neu zu erfinden – was übrigens auch keiner der genannten Existenzphilosophen je behauptet hätte. Im Gegenteil: Situation und Entwurf gehören vielmehr zusammen. Zwar wird in der Existenzphilosophie i. e. S. oft von der ‚Wahl des eigenen Selbst‘ o. ä. gesprochen, aber das ist eben gerade keine Wahl zwischen beliebigen Optionen des Selbstseins, so, als wenn man sich das – am besten aus einer Art Katalog – heraussuchen könnte. Wäre dem so, dann hätte man es in der Tat mit Willkür, Beliebigkeit und Dezisionismus zu tun, was man ja in ethischer Hinsicht den Existenzphilosophen i. e. S. oft vorgeworfen hat.4 Die Selbstwahl ist aber gar keine Wahl zwischen Optionen, sie hat vielmehr den Charakter eines Entschlusses, des Entschlusses nämlich, sein Sosein zu authentifizieren (oder anders gesagt: für sein Leben und Handeln Verantwortung zu übernehmen). Bleiben wir aber zunächst einmal noch bei dem Gedanken, dass das Wesen einer individuellen Person, also ihr Sosein, Sache einer Selbsterfindung wäre (ich will den Gedanken aus methodischen Gründen hier einmal ernster nehmen als er gemeint ist), und schauen genauer hin, worin seine Unmöglichkeit besteht. Von einer Person zu sagen, sie existiere (handele, lebe, sei) authentisch, hieße ja im Rahmen einer solchen Selbsterfindungskonzeption des Selbstseins dann nicht mehr allein nur, dass man sie (oder sie sich selber) als autonome Urheberin bzw. Autorin ihrer Handlungen begreift, sondern sie schon als Urheberin bzw. Autorin ihres individuellen Wesens auffasst. Darauf zielt ja nun auch der berühmt gewordene existenzphilosophische Slogan, dass die Existenz des Menschen seiner Essenz voraus ginge.5 Aber was hieße dann noch Authentizität, wenn es kein Wesen der Person gibt, welches hier als Kriterium ihrer Authentizität dienen kann, d. h. als Maßstab oder Standard, an dem wir die Äußerungen im Handeln und Reden dieser Person anlegen könnten? Hätte es dann überhaupt noch einen Sinn, von Authentizität zu sprechen, wenn es ein solches Wesen gar nicht vorab gäbe, sondern dieses selber der Selbstbestimmung anheimgestellt ist? Und umgekehrt, wäre es dann nicht 4 Stellvertretend für viele seien hier Bollnow 1949 und Taylor 1995, 49 f. genannt. Taylor weist darauf hin, dass Authentizität, die allein auf dem Akt der Selbstwahl beruhend angesehen wird, zu einem nichtssagenden Konzept würde. Gemeint ist hier freilich eine vulgärexistenzialistische Fassung der Selbstwahl bzw. Selbsterfindung, die so tut, als gäbe es keine institutionellen Bedeutungshorizonte, innerhalb derer auch Entschlüsse im Sinne der Selbstwahl stattfinden. Klar ist, dass diese Kritik weder die Kierkegaard’sche oder Sartre’sche und erst recht nicht, wie wir noch weiter unten sehen werden, die Heidegger’sche Konzeption authentischen Selbstseins trifft. Vgl. hierzu ausführlich Luckner/Kuhl 2007, 34 ff. 5 Vgl. Sartre 1994, 119.

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vollkommen egal, was wir ‚wählen‘ zu sein? Und, begrifflich noch fataler: Authentizität würde dann ja vollständig von der Selbst-Deklarierung einer Person abhängen; was ‚authentisch existieren‘ dann in Bezug auf eine bestimmte Person hieße, wäre vollständig abhängig von ihr. Damit würde das Konzept der Authentizität in der Tat nichtssagend und ‚authentisch sein‘ wäre lediglich Ausdruck von Willkür und Beliebigkeit. An diesem Punkt aber kann man sich auffallen lassen, dass wir in Bezug auf die Authentizität von Personen schon im alltäglichen Sprachgebrauch eine Unterscheidung treffen, die wir in Bezug auf Artefakte nicht tätigen. Wie wir sehen konnten, unterscheiden wir in Bezug auf Artefakte, bei denen die Urheberschaft in Frage steht, also z. B. Gemälde oder Dokumente, genau zwei Formen: Sie sind entweder authentisch oder eben nicht authentisch. In Bezug auf die Verhaltensweisen von Personen haben wir nun ebenfalls diese beiden Modi: Jemand ist in seinem Handeln und Leben (sagen wir: zu einem bestimmten Zeitpunkt) authentisch oder eben nicht-authentisch. Aber bei der Nicht-Authentizität können wir, wie schon angedeutet, in Bezug auf Personen wiederum zwei Arten unterscheiden: a) eine Nicht-Authentizität im starken Sinne, die dann vorliegt, wenn wir entweder einer Person die Urheberschaft für ihre Handlungen gar nicht zurechnen können – wo wir demgemäß Schwierigkeiten hätten, überhaupt von einem oder ihrem Handeln zu sprechen, etwa in dem Fall von Fremdbestimmung durch Hypnose – oder aber, wo die betroffene Person uns bzw. die anderen über ihre wahren Absichten bzw. Gründe ihres Handelns und Seins täuscht bzw. sich verstellt, und b) eine Nicht-Authentizität im schwachen Sinne, bei der wir zwar der Person die Urheberschaft für ihre Handlungen inklusive unverstellter oder vorgetäuschter Intentionen, so handeln zu wollen, zuschreiben. In diesen Fällen machen wir die Person (und sie sich selbst) demnach durchaus für ‚ihre‘ Handlungsweisen verantwortlich, welche die Person gleichwohl aber nicht eigens ‚authentifiziert‘ hat. Man spricht hier oft von inauthentischen Handlungen, und der Ausdruck ‚inauthentisch‘ meint in diesen Kontexten durchaus etwas anderes als der Ausdruck ‚nicht-authentisch‘, wenn wir ihn im starken Sinne als ‚fremdbestimmt‘ oder ‚vorgetäuscht‘ verstehen. Inauthentisch verweist, anders als die starke NichtAuthentizität, darauf, dass die betreffende Person nicht hinter dem steht, was sie sagt und tut, obwohl sie gleichwohl der Urheber ist (was zeigt, dass diese Unterscheidung in juridischen Kontexten keine Rolle spielen kann). Wenn wir von einer Person sagen, dass sie in ihrem Handeln und Sprechen inauthentisch ist, behaupten wir, dass sie ‚nicht wirklich‘, also nur in einem uneigentlichen Sinne Autorin ihrer Verhaltensweisen ist.6 Sie ist zurechnungsfähig, täuscht nicht über ihre tatsächlichen Absichten und trotzdem handelt sie nicht authentisch (im schwachen Sinne). 6

Korsgaard 2009 verwendet den vieldeutig verwendeten Ausdruck ‚Authentizität‘ zwar nicht und nimmt auch von dem Selbstwahlkonzept der Existenzphilosophie seit Schellings Freiheitsschrift keinerlei Notiz; der Sache nach sieht Korsgaard aber durchaus eine für die reale Autonomie von Personen konstitutive Autorschaft, wenn sie etwa schreibt, dass „the authoredness [. . . ] the essence of an action“ ist (Korsgaard 2009, 83, Herv. von mir, A. L.). Ein beobachtbares Verhalten wird dadurch zu einer Handlung, dass es einer autonomen Person als deren willentlichen Urheber zugeschrieben wird. Diese ‚Verantwortetheit‘, d. h. ‚authoredness‘ ist nichts anderes als das, was hier im Sinne der Existenzphilosophie unter ‚Authentizität‘ verstanden wird.

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Umgekehrt gilt: Von einem gefälschten ‚van Gogh‘ (wenn wir damit ein Gemälde meinen, das nur vorgeblich von van Gogh, tatsächlich aber von jemand anderem als Urheber stammt) sagen wir regelmäßig nicht, dass es inauthentisch wäre, wir sagen vielmehr, dass es nicht-authentisch im starken Sinne ist. Es stammt einfach nicht von van Gogh. Es käme uns merkwürdig vor, in Bezug auf Artefakte von Inauthentizität zu sprechen.7 Wir halten fest: Wir haben in Bezug auf Personen, anders als in Bezug auf Artefakte, mit (mindestens) drei Modi des Existierens zu rechnen: Authentizität, Nicht-Authentizität im starken Sinne als Gar-Nicht-Authentizität (bei welcher der Akteur als Handelnder entweder nicht oder nur in verstellter Weise in Betracht kommt) und Nicht-Authentizität im schwachen Sinne als Inauthentizität (hier haben wir es durchaus mit dem Handelnden als nicht täuschendem, aber ‚uneigentlich‘ agierendem bzw. existierendem Autor zu tun).

2 Wie ist es möglich, dass Personen (mitunter) ‚inauthentisch existieren‘? Wie kann jemand Urheber einer Handlung sein und dennoch nicht authentisch dabei sein? Wie ist es zu denken, dass Personen (und nur Personen!) inauthentisch existieren können? ‚Inauthentisch‘ ist bzw. handelt, d. h. existiert eine Person dann, wenn sie selbst zwar Autor ihrer Äußerungen bzw. Handlungen, ihrer Gedanken und ihrer Lebensweise im Sinne der Zuschreibbarkeit ist, sie aber dennoch in alledem ‚nicht eigentlich sie selbst‘ ist. Eine authentische Person hat in ihrer Existenz sozusagen ein Triple-A-Ranking: Sie realisiert ihre Handlungs-Autonomie unter Wahrung der Authentizität ihrer Autorschaft. Inauthentisches Existieren weist dagegen nur ein AAI-Ranking auf: Klarerweise hat man es bei ihr mit (zumindest potentieller) Autonomie und Autorschaft in Bezug auf das Handeln zu tun, aber eben nur im Modus der Inauthentizität. Dieses Phänomen inauthentischer Autorschaft, das, so bezeichnet, zunächst wie eine Paradoxie anmutet, gilt es nun zu klären. Zunächst: Wenn es so ist, dass der Ausdruck ‚authentisch‘ in Bezug auf Personen und ihr Handeln und Leben gegen den Ausdruck ‚inauthentisch‘ und nicht gegen ‚nicht-authentisch‘ im starken Sinne bestimmt wird, ändert sich auch die Bedeutung von ‚authentisch‘: ‚Authentisch‘ heißt hier dann nicht mehr einfach nur ‚autorisiert‘, denn das sind sowohl authentische als auch inauthentische Ausdrucksformen des Existierens bzw. Lebens einer Person, sondern ‚authentifiziert‘. Personale Authentizität beruht auf Authentifikation. Es wird sich dies weniger zirkulär oder trivial anhören, wenn wir versuchen zu klären, was denn sozusagen geschehen (sein) muss, wenn wir unsere Handlungen ‚authentifizieren‘.

7

Ein genialer Kunstfälscher, der ‚täuschend echte‘ (aber eben darum nicht-authentische) van Goghs (= Gemälde, die vorgeblich von van Gogh stammen) herzustellen in der Lage ist, kann natürlich hierin völlig authentisch handeln, insofern er z. B. genau dies – Kunstwerke zu fälschen – als sein Ding, vielleicht sogar seine Lebensaufgabe ansieht und damit authentifiziert hat.

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Wir standen ja weiter oben vor dem Problem, was wir eigentlich damit meinen, wenn wir von einer Person sagen, sie existiere authentisch, wenn es doch evtl. gar kein Original oder Wesen dieser Person gibt, dass hier zum Abgleich herangezogen werden könnte. Aber: Auch wenn es vielleicht keinen fixfertigen Wesenskern einer Person gibt, ist sie ja deswegen nicht schon völlig konturlos; wenn eine Person in ihrer Biographie unterwegs ist, so könnte man ja vielleicht sagen, baut sie an ihrem Wesen, da sind noch allerhand Veränderungen möglich und nötig und dies im Prinzip auch jederzeit, aber diese sind nicht willkürlich im Sinne einer beliebigen Wahl zwischen Optionen. So wie man bei einer Wanderung (ohne konkretes Ziel) immer nur von dort aus die nächsten Schritte machen kann, wo man gerade angelangt ist, so auch bei einem Lebensweg. In diesem Sinne wird eine Person genau das sein, wie sie sich geschaffen haben wird, wie Sartre schreibt.8 Auch das gegenwärtige So-Sein eines Menschen gibt es gewissermaßen nur im Futur II, welche grammatikalische Form sehr schön deutlich macht, dass wir uns auf uns selbst in unserem Wesen im Modus eines Entwurfes beziehen. Wenn ein solcher Entwurf denn eine handlungsorientierende Wirkung haben soll, können die jeweils nächsten biographischen Schritte eben gerade nicht beliebig sein, sondern müssen im Abgleich mit den bestimmenden Faktoren einer Handlungs- bzw. Lebenssituation, in die man sich durch vorangegangene Entscheidungen ja gebracht hat, entworfen werden. Je älter man wird, je reicher auch die Biographie, desto weniger wird sich da grundsätzlich noch etwas ändern lassen; so dass es zwar keinen vorab gegebenen Kern der Person geben mag, aber dennoch so etwas wie wesenhafte Strukturen, die sich im Laufe des Lebens herausbilden. Wenn auch die These vom Wesenskern einer Person, wie wir sehen konnten, ontologisch fragwürdig ist, schließt dies offenbar nicht aus, dass mit der Zeit gewisse Muster gebildet werden, an der eine Person erkennbar ist, ja, woran sie sich selbst erkennt. Diese Muster haben wiederum zu tun mit ihren Entwürfen, die eine Person von sich getätigt hat und mit den bei der Realisierung einhergehenden Erfahrungen von Enttäuschung und Erfolg. Wir haben sozusagen immer ein Wörtchen, wenn nicht sogar beim ganzen biographischen Text mitzureden, wer oder was wir sind – am Ende ist dieser ominöse Kern der Person, der Kriterium für die Authentizität der Äußerungen sein sollte, zwar selbst etwas Herausgebildetes, aber eben nicht im Sinne einer beliebigen, dem Willkürverdacht ausgesetzten Selbsterfindung des eigenen Lebenskunstwerks, sondern vielmehr im Sinne eines Geschehens, mit dem wir uns identifizieren bzw. authentifizieren. ‚Authentifizieren‘ ist deutlich etwas anders als ‚erfinden‘, es ist eher ein ‚Aneignen‘, so wie der Künstler, nehmen wir wieder van Gogh, sein Werk authentifiziert, d. h. seine Unterschrift unter sein Werk setzt und damit sagt: Hier, das, was durch mich entstanden ist und womit ich vielleicht auch gekämpft haben mag, vielleicht sogar verloren habe an so mancher Stelle des Bildes: Dies ist es, womit ich meinen Namen verbinde, da stelle ich mich dahinter, dafür stehe ich ein und gebe es hiermit auch frei zur Begutachtung durch andere. Personale Authentizität hat daher schon etwas zu tun mit der Entsprechung zu je unserem individuellen Wesen; nur dass 8

Vgl. Sartre 1994, 120.

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dieses Wesen nicht seinerseits schon von irgendwoher festgelegt wäre, sondern sich eben gerade durch solche Aneignungsprozesse und Authentifizierungen herausbildet, also durch Anreicherung und Aneignung (vielleicht sogar ‚Verarbeitung‘) von Erfahrung. Wenn man hier die Metapher vom Lebenskunstwerk verwenden will – wobei wegen der offenkundigen Nähe zu Selbstinstrumentalisierungstendenzen hier Vorsicht geboten ist – sollte man den Aspekt hervorheben, dass die Kreativität auch in Bezug auf Kunstwerke ja niemals eine absolute ist, sondern eine an den bisherigen Schaffensprozess gebundene. Auch der Künstler trifft kreative Entscheidungen nicht aus dem Nichts heraus, sondern im Lichte seiner bisherigen (künstlerischen) Erfahrungen; und es ist ja nun auch in der künstlerischen Sphäre beileibe nicht so, dass jedes beliebige entstehende Produkt vom Künstler authentifiziert würde, sondern nur solche, hinter die sich der Künstler auch stellt. Die Autorisierung einer biographischen Einheit funktioniert also ganz ähnlich wie die Authentifikation von Kunstwerken durch den Künstler. Die Analogie zu authentischen Kunstwerken trägt allerdings überhaupt nicht, wenn es um Authentizitätsnachweise geht, wie wir sie in Bezug auf Artefakte anwenden können, einfach deswegen, weil es sich beim Lebenskunstwerk, wenn man überhaupt so sprechen will, erstens um ein work in progress handelt und zweitens, noch wichtiger, nicht um ein von der Person abtrennbares Artefakt. Wir konnten sehen: Wer personale Authentizität als Ergebnis eines Aneignungsprozesses auffasst, ist nicht angewiesen darauf, dass es einen irgendwie schon vorgegebenen personalen Wesenskern gibt, zumindest nicht in dem Sinne, dass wir diesen zum Kriterium von Authentizität im Sinne einer personalen ‚Echtheit‘ heranziehen müssten wie bei einem Artefakt. Allerdings ist es hierbei wichtig, die Nicht-Authentizität einer Person nicht im starken Sinne, wie wir es bei Artefakten tun, zu verstehen, sondern als Inauthentizität, als Nicht-Authentizität im schwachen Sinne. Solange wir nicht die Aneignung bzw. Authentifizierung unserer biographiebildenden Erfahrungen, Geschehnisse und Richtungsnahmen unseres Handeln und Lebens annehmen bzw. authentifizieren, sind wir eben in einem nur uneigentlichen Sinne deren Autoren. Inauthentisch ist eine Person u. a. dann, wenn sie nicht bereit ist, das, was sie tut, zu authentifizieren, d. h. sich nicht (oder zumindest noch nicht) hinter das stellen kann, was sie tut. Dies können wir nun durchaus als eine Art Inkongruenz, Nicht-Übereinstimmung der Handlungsweisen mit dem sich herausbildenden Wesen wahrnehmen. Bei der Inauthentizität einer Person bzw. ihrer Handlungsweisen geht es, wie wir weiter oben sagten, bezeichnender Weise nicht darum, dass sie andere Personen oder gar sich selbst täuschen würde. Inauthentizität bei Personen ist kein Hinweis auf einen Betrug. Wenn eine Person inauthentisch existiert (handelt, lebt), ist dies also nicht etwa in Analogie zum gefälschten, sondern zum (noch) unsignierten Gemälde zu sehen. Inauthentizität drückt sich im Zögern davor aus, eine Haltung zu dem einzunehmen, was mit einem im Laufe der eigenen Entwicklung passiert. Die für den Moment authentische Person dagegen würde sagen: Ja, das ist mein Leben, hier stehe ich, ich kann nicht anders, das ist aus mir geworden, so wollte ich es usw., welche Formulierungen gewissermaßen ‚Unterschriften‘ sind, Signaturen der

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Aneignung. Eine Person stellt sich den Geschehnissen in ihrem Leben damit in der Weise, dass sie diese als die ihrigen annimmt, d. h. zu einem Teil ihrer Biographie werden lässt. Das Phänomen der Inauthentizität haben wir dagegen vor uns, wo jemand so handelt und lebt, weil man so handelt und lebt.

3 Was heißt ‚authentisch existieren‘? Personale Authentizität, eigentliches Selbstsein kündigt sich durch eine Entschlossenheit an, nicht einfach nur weiter so zu leben, wie ‚man‘ so lebt. Im Grunde ist schon das Bemerken der eigenen Inauthentizität schon ein Aufwachen, gewissermaßen der Anfang vom Ende der Inauthentizität. Man kann hier sehr schön sehen: Personale Authentizität ist durchaus und notwendiger Weise an den Status der Inauthentizität verwiesen. Es gibt authentisches Selbstsein nur vor dem Hintergrund des inauthentischen Selbstseins, und jedweder Entwurf seiner selbst kann in diesen Status zurückfallen, so dass sich das eigentliche, authentische Selbst wie eine stehende Welle im Fluss der Inauthentizität (dem Fluss dessen, was man und wie man es so macht) ausbildet und dementsprechend jederzeit zusammenbrechen kann. Damit hängt zusammen, dass eine authentisch existierende Person nicht starr (und damit situationsunangemessen) an einem Entwurf ihrer selbst festhalten wird, sondern, im Gegenteil, nur dann, wenn sie zugleich auch bereit ist, den Entwurf ihrer selbst zu revidieren, eigentlich bzw. authentisch sie selbst sein kann. Weiterhin, dass Authentizität, anders als bei Artefakten, bei Personen immer nur augenblicklich, je und je, realisiert sein kann (wobei die zeitliche Dauer eines ‚Augenblickes‘ hier nicht festgelegt werden soll und durchaus eine längere Dauer in Anspruch nehmen kann). Hier haben wir nun die begriffliche Höhe der Bestimmungen personaler Authentizität erreicht, wie sie Heidegger in seiner berühmten Analyse eigentlichen Selbstseins in den §§ 54–60 von Sein und Zeit vorgebracht hat. Ich kann hier nicht ins Detail gehen,9 möchte aber auf einige für unsere Frage wichtige Punkte der Heideggerschen Analyse aufmerksam machen. Heidegger zeigt sehr deutlich, auf welchem Feld eine Person die Aneignungsbewegungen eines authentischen Selbst einzig nur vollziehen kann: auf dem Felde der Institutionen bzw. sozialen Regelungen. Bemüht um die Gestaltung der Form der eigenen Existenz ist eine jede Person auf sich als ganze, d. h. im Entwurf ihrer zukünftigen Möglichkeiten so bezogen, dass sie zugleich angewiesen ist auf bestimmte Schemata und institutionelle Vorgaben, die einer Person allererst ihre Möglichkeiten als solche greifbar machen. Dies nennt Heidegger in Aufnahme der traditionellen Erbsünde-Terminologie (aber ohne dies angeblich wertend zu meinen) auch das ‚Verfallen‘ an die Welt.10 Diese Verwiesenheit an Institutionen ist 9

Für eine auf den Text von Sein und Zeit bezogene Interpretation dieser Dimensionen der personalen Existenz, für die hier nicht der Raum ist, vgl. Luckner 2007, 114 ff. Vgl. hierzu auch Luckner 2001 und Luckner/Kuhl 2007. 10 Vgl. Heidegger 2001, 179 ff.

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nicht in irgendeiner Weise überwindbar; Existieren heißt daher in Bezug auf Personen immer: auf Institutionen zurückgreifen müssen. Selbst die Einführung von neuen oder die Auflehnung gegen althergebrachte Institutionen, Regeln und Gebräuche mit ihrer impliziten Normativität stellen einen bestimmten Umgang mit Institutionen dar. Die Grundstruktur personaler Existenz, die Heidegger ‚Sorge‘ nennt, umfasst also die Bezogenheit sowohl auf die individuelle Existenzform als Ganze (im zukunftsbezogenen ‚Entwurf‘ und in der herkunftsbezogenen ‚Geworfenheit‘) als auch auf die gegenwärtig herrschenden institutional facts (das, was die bestimmenden Faktoren einer Situation ausmacht). Der Umgang mit den Institutionen lässt nun prinzipiell zwei Möglichkeiten zu, die Heidegger ‚Uneigentlichkeit‘ und ‚Eigentlichkeit‘ der Existenz nennt (und dies sind eben die beiden Formen von authentischem und inauthentischem Existieren). In der ersten – und für Heidegger primären – Form bzw. im Modus der uneigentlichen Existenz, ist das Verhältnis einer Person zu sich selbst gewissermaßen ein drittpersonales, sie kann sich damit als ein ‚Jemand unter anderen‘ sehen, sie ist ein ‚Man-Selbst‘.11 Wohlgemerkt: auch hierbei weist eine Person das für Personen charakteristische Selbstverhältnis auf, aber eben nur inauthentisch, insofern sie den institutionellen Vorgaben blind folgt, d. h. tut, was man tut, aber nicht eigens befragt darauf hin: ‚Will ich das wirklich?‘ Die Inauthentizität des Man-Selbst-Seins ist dabei der Normalfall des Existierens, seine alltägliche und auch nicht irgendwie zu überwindende Form. Von Uneigentlichkeit bzw. Inauthentizität personalen Daseins kann immer dort gesprochen werden, wo eine Person sich in ihrem Handeln auf das verlässt, was gemäß Regeln, Sitten und Gebräuchen üblich oder auch geboten bzw. verboten ist; hier haben wir es also mit Unselbstständigkeit und bloßer Pflichtgemäßheit zu tun, kurz: dem Normalzustand des alltäglichen Daseins, das aber eben deswegen nicht schon fremdbestimmt genannt werden kann. Uneigentlichkeit ist niemals gewählt. Davon muss unterschieden werden die Form eigentlichen Existierens, in der das Selbstverhältnis ein erstpersonales ist: ‚Ich-selbst‘. Von der Eigentlichkeit personalen Daseins kann immer dann gesprochen werden, wenn die betreffende Person „sich zueigen“ (Heidegger 2001, 42)12 ist, und das heißt, von sich aus bzw. selbstbestimmt und ‚entschlossen‘ ihre ‚faktischen‘ (d. h. nicht nur prinzipiellen, sondern jeweils zu Gebote stehenden) Möglichkeiten des Handelns ergreift. Gemeint ist damit nicht etwa eine exklusive und im Sinne einer Option wählbare Form des Lebens selbst – so wie etwa im oben genannten Modell der Selbsterfindung –, aber auch nicht wie beim Modell der Selbstfindung so, als wenn es ‚mein‘ eigentliches Leben irgendwo als einen mir vorgezeichneten Entwurf schon gäbe. Eigentlich existiert eine Person dann, wenn sie sich dazu entschließt, ihr Handeln und Leben zu authentifizieren. Darin besteht die berüchtigte ‚Wahl des eigenen Selbst‘, von dem die Existenzphilosophen sprechen. Es ist eine Wahl bzw. eine Entscheidung im Sinne eines Entschlusses, bei dem eine Person nicht eine Auswahl zwischen verschie11

Vgl. Heidegger 2001, 267. Heidegger 2001, 42. Dies ist zugleich die Stelle, an der der Begriff ‚Eigentlichkeit‘ eingeführt wird. 12

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denen Optionen trifft (dies ist ja schon sprachlich ausgeschlossen, denn man kann sich nur zu etwas entschließen, nicht für etwas), sondern eine Situation inklusive der ihr innewohnenden Handlungsmöglichkeiten als die ihrige ergreift (authentifiziert) oder aber es sein lässt (und damit im Modus der Inauthentizität bzw. Uneigentlichkeit verbleibt). Eine Person existiert also eigentlich bzw. authentisch nach Heidegger, wenn ihr Leben einen (wie auch immer selbstbestimmten) ‚Sinn‘ hat, d. h. eine Richtung aufweist und dies aus einer eigens getätigten Selbstbestimmung und „Selbständigkeit“ (Heidegger 2001, 303) heraus. Das heißt nicht, dass es für eine selbstbestimmte Person nicht möglich wäre, ihr Leben in Einklang mit den Regeln und Normen einer Gesellschaft zu führen. ‚Eigentlichkeit‘ – wir können sagen ‚personale Authentizität‘ – ist auch nach Heidegger ein rein formales Konzept, das von den jeweiligen Personen völlig verschieden inhaltlich bestimmt werden kann, für den einzelnen allerdings alles andere als in beliebiger Weise, sondern gerade in Abhängigkeit seiner jeweiligen historischen und kulturellen Situiertheit. Wir existieren genau dann eigentlich, sind jeweils wir selbst, wenn es uns gelingt, gemeinsam und jeder für sich einen bestimmten Umgang mit den Institutionen zu finden. Heidegger drückt dies folgendermaßen aus: „Das eigentliche Selbstsein bestimmt sich als eine existenzielle Modifikation des Man [Herv. von mir, A. L.]“ (Heidegger 2001, 267). Und darauf läuft hier nun alles hinaus: Eine Person existiert authentisch, wenn sie bestehende Institutionen existentiell modifiziert, d. h. ein Verhältnis zu den bestehenden Institutionen gewinnt, sei es, in dem sie diese eigens anerkennt und sich aneignet bzw. authentifiziert, sei es, dass sie eine alternative Institution handelnd gewissermaßen vorschlägt. In beiden Fällen findet also eine Authentifizierung statt, ein wirkliches Ergreifen von sich selbst als einem autonomen Wesen, dass sich gewissermaßen seiner Situation im wahrsten Sinne des Wortes stellt. Authentizität erweist sich am Ende also als die Realisationsform von Autonomie (Heidegger nennt dies martialisch ‚Entschlossenheit‘ bzw. ‚Gewissen haben wollen‘), während Inauthentizität auf die reale Möglichkeit autonomer Handlungsbestimmung verweist. Wie jeder weiß, steht Selbständigkeit am Ende und nicht am Anfang der Gehversuche; es ist offensichtlich, dass wir lernen müssen, selbstständig zu sein. Also ist Authentizität tatsächlich eine Einstellungssache. In bestimmten, sogar datierbaren Momenten unseres Lebens stellt sich uns das Erfordernis, unsere Handlungsorientierung (zumindest zeitweilig) selbst zu übernehmen, also den institutionellen Autopiloten, der uns normalerweise gut durchs Leben führt, abzuschalten und das Steuer des Lebens selber in die Hand zu nehmen. Auch Sartre – sicherlich jemand, der in seiner Rekonstruktion von Authentizität in Bezug auf das Handeln von Personen philosophisch zu den besten Adressen gehört – sagt in diesem Sinne, dass derjenige authentisch existiere, der sich (und sein Handeln) nicht hinter Sachzwängen und Determinismen aller Art versteckt, d. h. nicht zu den Entscheidungen steht, die er durch die Wahl bestimmter Handlungsweisen schon getroffen hat, also seine Freiheit (zu der er in genau diesem Sinne nämlich auch ‚verurteilt‘ sei) nicht wahrhaben will. Authentisch existiert nach Sart-

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re vielmehr diejenige Person, die ihre Freiheit qua Autonomie nicht vor sich selbst verdeckt, sondern selbstverantwortlich übernimmt.13 Unter der Voraussetzung, dass ‚das Selbst‘ bzw. die personale Identität sich im Rahmen von Erziehung und Sozialisation durch Handlungen und Entscheidungen allererst herausbildet, kann auch die Authentizität von Personen nur etwas selbst Herausgebildetes sein. Anders als die Konnotationen von ‚Echtheit‘, ‚Originalität‘ usw. vermuten lassen, ist Authentizität in Bezug auf die personale Existenz daher tatsächlich etwas Hervorgebrachtes, Produziertes. Mit anderen Worten: Authentizität ist, anders als das Wort ja oft suggeriert, nichts Ursprüngliches. Die berüchtigte existenzialistische ‚Wahl des eigenen Selbst‘, die dessen Authentizität bzw. Eigentlichkeit produziert, ist zugleich auch die Wahl der Werte, an denen die Person ihr Handeln und Leben ausrichtet, d. h. sich orientiert. Die Autonomie bzw. Freiheit, auf deren Grundlage so etwas möglich ist, ist unhintergehbar, sie ist nicht selber ein Wert unter anderem. Der Dezisionismus, der damit einherzugehen scheint, beruht aber auf einer optischen Täuschung, denn die Wahl des eigenen Selbst und der Werte kann schon deswegen nicht irrational sein, weil sie eben auch nicht rational sein kann. Sie hat selbst keinen Grund, ist arational, aber sie spannt für die Person, die zu ihrem Selbstsein entschlossen ist, den Raum der Gründe ihres Handelns auf. Diese Selbstwahl ist der im wahrsten Sinne des Wortes grundlegende Wahlakt: Erst im Lichte dieser grundlegenden Wahl der Wahl bzw. Wertauthentifizierung erlangt die Autonomie Realität. In Bezug auf Gegenstände würden wir nicht davon sprechen, dass sie authentisch existieren (können). In Bezug auf Personen dagegen sollten wir sogar davon sprechen, dass sie nicht einfach nur authentisch sind, sondern authentisch existieren (was impliziert, dass es sich bei Authentizität nicht um eine akzidentielle Eigenschaft handelt, sondern um eine Seinsweise). Was eine wahre (= authentische) Sachertorte ist, wird nicht von der Sachertorte bestimmt. Was meine wahre Person ist, wird in gewisser Weise sehr wohl von mir selbst bestimmt, wenn auch nicht im Sinne einer beliebigen Seinssetzung bzw. Selbsterfindung. Authentizität, Wie-Sein einer Person, ist Wahrheit bzw. Echtheit im Sinne einer Authentifikation qua Aneignung bzw. Signatur eines Was-Seins, das mir (aus kontingenten Gründen) entgegengebracht wurde bzw. wird. Als ein eigens und jeweils zu konstituierender Seinsmodus ist die Authentizität von Personen alles andere als eine ‚Ursprünglichkeit‘. Autonomie als potentielle Sebstbestimmungsfähigkeit ist die ratio essendi von Authentizität, Authentizität wiederum ratio cognoscendi von Autonomie, so dass die Frage, ‚Was heißt authentisch existieren?‘, so beantwortet werden könnte: ‚Authentisch existieren‘ heißt, in einer solchen Weise sein, dass die Autorschaft für Handlungen übernommen wird im Sinne des: Hier bin ich, ich kann nicht anders – obwohl doch andererseits auch klar ist, man könnte sehr wohl anders. Letztlich ist damit gemeint, dass eine Person sich hinter ihr Handeln stellt (es ‚authentifiziert‘) und damit aus Freiheit Verantwortung für ihr eigenes gewordenes So-Sein (und damit für ihr Wesen) übernimmt. Authentizität erweist sich somit als Ausdrucksform real existierender Autonomie. 13

Vgl. hierzu Sartre 1994, 130 ff.

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Literatur Bollnow, Otto Friedrich: Existentialismus und Ethik. In: Actas del Primer Congreso Nacional de Filosofía (Tomo II). Mendoza 1949, 974–987. Heidegger, Martin: Sein und Zeit [1927]. Tübingen 18 2001. Korsgaard, Christine: Self-Constitution. Agency, Identity, and Integrity. Oxford 2009. Luckner, Andreas: Wie es ist selbst zu sein. Zum Begriff der Eigentlichkeit. In: Thomas Rentsch (Hg.): Martin Heidegger „Sein und Zeit“. Berlin 2001, 149–168. Luckner, Andreas: Martin Heidegger „Sein und Zeit“ [1997]. Paderborn 2 2007. Luckner, Andreas/Kuhl, Julius: Freies Selbstsein. Authentizität und Regression. Göttingen 2007. Luckner, Andreas/Ostritsch, Sebastian: Existenz. Berlin/Boston 2018. Sartre, Jean-Paul: Der Existenzialismus ist ein Humanismus. In: Ders.: Der Existenzialismus ist ein Humanismus und andere Essays 1943–1948 (= Gesammelte Werke. Philosophische Schriften, Bd. 1). Hamburg 1994 (frz. 1946), 117–155. Taylor, Charles: Das Unbehagen an der Moderne. Frankfurt a. M. 1995. Thomä, Dieter: Erzähle Dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Problem. München 1998.