Perversion einer Idee: Die Dienstbarkeit einer Genossenschaftstheorie für das Konzept des Staatssozialismus [1 ed.] 9783428480715, 9783428080717

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Perversion einer Idee: Die Dienstbarkeit einer Genossenschaftstheorie für das Konzept des Staatssozialismus [1 ed.]
 9783428480715, 9783428080717

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T.TODEV/G.RÖNNEBECK/J.BRAZDA

Perversion einer Idee

Schriften zum Genossenschaftswesen und zur Öffentlichen Wirtschaft Herausgegeben von Prof. Dr. D. Budäus, Hamburg, Prof. Dr. W. W. Engelhardt, Köln, Prof. Dr. F. Fürstenberg, Bonn, Prof. Dr. R. Hettlage, Regensburg und Prof. Dr. Th. Thiemeyer t

Band 33

Perversion einer Idee Die Dienstbarkeit der Genossenschaftstheorie für das Konzept des Staatssozialismus

Von

Tode Todev Gerhard Rönneheck Johann Brazda

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Todev, Tode:

Perversion einer Idee : die Dienstbarkeit der Genossenschaftstheorie für das Konzept des Staatssozialismus I von Tode Todev ; Gerhard Rönneheck ; Johann Brazda. Berlin : Duncker und Humblot, 1994 (Schriften zum Genossenschaftswesen und zur öffentlichen Wirtschaft ; Bd. 33) ISBN 3-428-08071-8 NE: Rönnebeck, Gerhard:; Brazda, Johann:; GT

Alle Rechte vorbehalten © 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druckvorlage: Dr. Johann Brazda, Wien Fotoprint: Wemer Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6925 ISBN 3-428-08071-8

Vorwort Die originäre Idee des abendländischen Genossenschaftswesens entspringt frühsozialistischen und antikapitalistischen Vorstellungen, historisch eingebettet in ein System prävalierender und immer perfekter werdender Marktwirtschaften. Die Genossenschaften versuchten diese zwar zu antagonieren, mußten aber - unter mehr oder weniger Beachtung von festen Grundprinzipien - einen Teil dieser marktwirtschaftliehen und kapitalistischen Methoden rezipieren, um gewissermaßen die Gefahren des Kapitalismus mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen. Diese Doppelfunktion hat von Anfang an zu einer ambivalenten Einstellung des "wissenschaftlichen Sozialismus", als deren Begründer Marx und Engels gelten, gegenüber den Genossenschaften geführt. Während auf der einen Seite in Genossenschaften Ansätze für eine künftige gerechtere und sozialere Gesellschaftsordnung gesehen wurden, wurden andererseits die Praktiker der Arbeiterbewegung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, welche das genossenschaftliche System für die Zwecke der Realpolitik zu adaptieren versuchten, heftig kritisiert, gleichzeitig auch die mehr oder weniger konservative Mittelstandsbewegung, welche sich ebenfalls den Genossenschaften zuwandte mit Argwohn betrachtet. Für eine Transformation des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systems schienen die Genossenschaften von diesem Standpunkt her wenig geeignet. Mit dem Antritt des Kommunismus in Rußland und in der späteren Sowjetunion dauerte die Diskussion um diese ambivalente Stellung der Genossenschaften weiterhin an. Die Erwartung, daß die arbeitenden Klassen selbst die Produktion in die Hand nehmen und unter Abschaffung der Unternehmer produzieren, der Staat und seine Bürokratie absterben würden, nährte zwar anfänglich die Hoffnungen auf genossenschaftliche bzw. genossenschaftsähnliche Produktions- und Verteilungssysteme, wurde aber durch die zunächst erfolgte Stärkung einer selbständigen Bauemsehaft und im industriell-gewerblichen Bereich durch ein totales Chaos Lügen gestraft. Der von Lenin begonnene und Stalin vollendete Weg zur dominierenden Stellung von Partei, Staat und Bürokratie führte zu einer völligen Perversion ur-

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Vorwon

sprungliehen genossenschaftlichen Gedankenguts, es blieb, wie die Autoren der vorliegenden Arbeit belegen, praktisch nur der Name, das Sprachwort über, es ist der Beginn einer Instrumentalisierung der genossenschaftlichen Institutionen zu nur politischen und totalitären Zwecken. Aber nicht nur der seit 1917 angepeilte Sozialismus und Kommunismus hat sich anders entwickelt als erwartet und hat mit einer großen Enttäuschung für die Genossenschaften geendet. Auch das Genossenschaftswesen in den Marktwirtschaften des Westens ist heute mehr denn je in Frage gestellt. Durch starke Allgleichung an kapitalistische, marktwirtschaftliche und profitorientierte Methoden ist das ursprungliehe Konzept der Genossenschaften weitgehend verschwunden. Umso mehr fällt es heute schwer jene Funktion und Rolle zu definieren, die Genossenschaften im Transformationsprozeß der ehemaligen kommunistischen Staaten einnehmen können.

Franz Baltzarek

Vorwort der Verfasser Die Idee zur vorliegenden Monographie entstand während eines interdisziplinären Seminars, gehalten an der Wiener Universität im Wintersemester 1991/92 zum Thema "Das sozialistische Genossenschaftswesen", welches sich mit den Aspekten der marxistisch-leninistischen Gesellschaftstheorie auseinandersetzte1, von denen die Entwicklung des Genossenschaftswesens in der ehemaligen Sowjetunion und in den Ländern des ehemaligen Ost-Blocks getragen war. Trotz ihrer früheren Ausformung als verwaltungswirtschaftliche Genossenschaften2 sind sie auch noch Anfang derneunziger Jahre in den Wirtschaftsstrukturen der ehemaligen sozialistischen Länder Mittel- und Osteuropas ein bedeutender Faktor. Ihr Aufbau und die Bildung ihrer Strukturen basierten auf dem Ideensystem des Marxismus-Leninismus und seiner spezifischen, die Genossenschaftsidee instrumentalistisch verfremdenden Genossenschaftstheorie3 • In dieser "marxistisch-leninistischen Gesellschaftstheorie" werden zwei Genossenschaftssparten im Landwirtschaftsbereich, den Konsum- und Produktionsgenossenschaften, im Aufbau der sozialistischen Gesellschaft wichtige Funktionen zugewiesen, vor allem in der Ersetzung des kapitalistischen Handels und der Vergenossenschaftlichung der bäuerlichen Produktion. Der Begriff "marxistisch-leninistische Genossenschaftstheorie" umfaßt aber nur Einzelaussagen von Marx, Engels, Lenin und deren Interpreten in der Sowjetunion und in den Ländern des "realen Sozialismus" zum Genossenschaftswesen, Als "Marxismus-Leninismus" bezeichnet man im allgemeinen jenes. als Interpretation und Ergänzung der Marxschen Theorie entstandene theoretische Erbe Lenins, mit dem aus dem "wissenschaftlichen Sozialismus", nach seinem Begründer auch "Marxismus" genannt, der "MarxismusLeninismus", die Legitimations- und Herrschaftsdoktrin der "realsozialistischen Staaten", wurde. 2 Verwaltungswirtschaftliche Genossenschaften sind in der Regel unselbständige HUfsorgane der Wirtschaftsverwaltungen in zentralverwaltungswirtschaftlichen Ordnungen, d.h. sie erfüllen nur eine Instrumentalfunktion. Vgl. Engelhardt, W.W.: ZU einer morphologischen Theorie des Wandels der Genossenschaften, in: Engelhardt, W.W./Thiemeyer, Th.: Genossenschaft - quo vadis? Eine neue Anthologie, Baden-Baden 1988, S. 14. 3 Von einer "marxistisch-leninistischen Genossenschaftstheorie" wurde erstmals in der UdSSR Ende der 20er Jahre gesprochen. Aufbauend auf dem theoretischen Erbe von Marx, Engels und Lcnin, versuchte damit die sowjetische Führung, die Kollektivierungspolitik als die einzig wahre, dem "Marxismus-Leninismus entsprechende Wirtschaftspolitik" zu begründen.

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Vorwort der Verfasser

eine einheitliche und in sich konsistente Theorie gibt es nicht. Bestenfalls kann man von verallgemeinerten, von der Wirtschaftspolitik und -praxis abgeleiteten Vorstellungen zur Entwicklung des Genossenschaftswesens im Rahmen der Etablierung des autoritären Staatssozialismus in der Sowjetunion sprechen4 • Es soll deshalb hier die Entwicklung der marxistisch-leninistischen Genossenschaftstheorie am Beispiel der Sowjetunion und gesondert nach den einzelnen Etappen des sozialistischen Aufbaus dargestellt werden, d.h. im Kriegskommunismus, während der Periode der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP), in den Jahren der beschleunigten Industrialisierung und der Kollektivierung der Landwirtschaft und von der Perestroika bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion. Eingebunden ist im 3. Teil eine Ananlyse der Entwicklung des genossenschaftlichen Gedankenguts in der ehemaligen DDR, einem Land, das an den Ideen des "Marxismus-Leninismus" am stärksten und dogmatischesten festhielt. Weiters sollen jene Ansätze Erwähnung finden, die sich für einen breiteren Einsatz der genossenschaftlichen Prinzipien im Rahmen einer sozialistischen Marktwirtschaft in den ehemaligen Ost-Block-Ländern aussprechen. Wir gehen davon aus, daß sich die "marxistisch-leninistische Genossenschaftstheorie" im Kampf gegen andere theoretische Vorstellungen in Mittelund Osteuropa durchgesetzt hat und als Richtlinie für die reale Entwicklung des Genossenschaftswesens, insbesondere als Legitimationsinstrument repressiver Maßnahmen, am bedeutendsten gewesen ist5. Die Aufarbeitung des umfangreichen Erbes jener Theoretiker und Praktiker, die zu einer "marxistisch-leninistischen Genossenschaftstheorie" Beiträge geleistet haben, ist erst seit der von Michail Gorbatschow eingeleiteten Perestroika möglich geworden, da über diese Autoren in der Stalinära ein Leseverbot verhängt worden war. Es ist deshalb eine unserer Intentionen, mit dieser Veröffentlichung jene vor allem in den 20er Jahren in der Sowjetunion vehement geführte Diskussion nachzuvollziehen und einen kleinen Beitrag zur Erweiterung des vorhandenen Wissens zum Genossenschaftswesen im "Real-Sozialismus" zu leisten.

4 Trotz einiger Spezifika hat sich die Genossenschaftsbewegung in den Ländern des ehemaligen Ost-Blocks im allgemeinen nach den in der Sowjetunion erartleiteten wirtschaftpolitischen Grundsätzen entwickelt.

s Die Entwicklung der Genossenschaftsbewegung in der UdSSR von der Oktoberrevolution bis zur von Stalin zwangsweise durchgeführten Kollektivierung der Landwirtschaft war sowohl durch hart geführten Auseinandersetzungen der bolschewistischen Partei mit den anderen Parteien (Partei der Sozialrevolutionäre und Partei der Rechten Sozialdemokraten-Menschewiki), die die Genossenschaftsentwicklung in der vorrevolutionären Zeit gestaltet hatten, geprägt als auch von einer innerparteilichen ideologischen Diskussion (siehe 2. Teil, Kap. E.).

Vorwort der Verfasser

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Die Kommunisten gingen in ihren theoretischen Ansätzen von der Prämisse aus, daß die industriezeitliche Genossenschaft6 eine spezifische Erscheinung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung wäre7 und deshalb nur solange existiert, wie die kapitalistische Ordnung, ihre ursprüngliche Voraussetzung, besteht. Fällt diese, so werden auch die Genossenschaften notgedrungen ihren Platz und ihre Rolle im wirtschaftlichen Leben einbüßen müssen, denn welche Lebensberechtigung hätten die verschiedenen Genossenschaftsarten, die zum Schutze ihrer Mitglieder vor möglicher Ausbeutung entstanden waren, in einer sozialistischen Ordnung, in der doch jeder Ausbeutung von vomherein der Boden entzogen wäre? Die kommunistischen Führer waren zunächst auch überzeugt, mit ihrer Machtübemahme in der sogenannten Oktoberrevolution den Sozialismus in Rußland eingeführt zu haben, da sich die Staatsgewalt in den Händen des "Proletariats" (oder seiner "Avantgarde", der KP) befand, das Privateigentum größtenteils abgeschafft war und, wie man annahm, damit auch die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Die logische Konsequenz aus der obengenannten Prämisse wäre nun eigentlich gewesen, in einem sozialistischen Staat, der selbst als eine große Genossenschaft aufgefaßt wurde 8 , die Einzelgenossenschaften zu liquidieren, da ihre Funktionen jetzt von der Gesellschaft selbst übernommen werden konnten. Man hätte nun gegen die Genossenschaften dieselben Maßnahmen zur Beseitigung kapitalistischer Elemente ergreifen müssen, die man für alle anderen Bereiche vorgehabt hatte. Aber die reale Entwicklung verlief anders. Die Genossenschaften wurden im Gegensatz zu den übrigen Institutionen des Kapitalismus nicht von der Sowjetdiktatur aufgelöst. Denn schon bald nach seinem gelungenen Putsch mußte Lenin bekennen, daß er in der Bewertung dieser "Revolution" viel zu hoch gegriffen hatte. Sie wurde noch nicht als Beginn des Sozialismus interpretiert, sondern als Einleitung einer Zwischenstufe von der kapitalistischen zur kommunistischen Ordnung, als die Periode der proletari-

• Im Unterschied zu den historischen Genossenschaften, die sowohl auf blutmäßigen (nach den Marxisten die "Urgesellschaft" oder auch die germanische "Markgenossenschaft") als auch auf ständischen und staatlichen Bindungen beruhten. Vgl. Engelhardt, W.W. : Allgemeine Ideengeschichte des Genossenschaftswesens, Darmstadt 1985, S. 84f. 7 Die sich nach marxistischer Auffassung innerhalb des fortschreitenden Industriezeitalters von Genossenschaften mit einzelwirtschaftlichen Bindungen zu solchen mit ausdrücklich klassengerichteten Bindungen weiterentwickeln. Vgl. Engelhardt, W.W.: Allgemeine Ideengeschichte des Genossenschaftswesens, Darmstadt 1985, S. 98f.

8 "Die Aufgabe der Sowjetmacht nach der politischen und ökonomischen Expropriation der Bourgeoisie besteht offenbar (hauptsächlich) darin, die genossenschaftlichen Organisationen auf die gesamte Gesellschaft auszudehnen, ausnahmslos alle Bürger des betreffenden Landes zu Mitgliedern einer gesammationalen oder richtiger gesamtstaatlichen Genossenschaft zu machen": Lenin, W.: Ursprünglicher Entwurf des Artikels "Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht" (März 1918), in: Lenin Werke, Bd. 27, Berlin 1960, S. 206.

10

VoiWort der Verfasser

sehen Diktatur9 , die "zum Hebel der wirtschaftlichen Umwälzung" und zur Überführung des Privateigentums an den Produktionsmitteln in das gesellschaftliehe Eigentum dienen sollte. Dazu sollten aber auch alljene von der kapitalistischen Ära noch verbliebenen, für die neue Ordnungjedoch dienlichen Institutionen eingesetzt werden, wozu die Genossenschaften zählten. Nach dem Zusammenbruch des "realen Sozialismus" und einem raschen politischen Wandel in Richtung demokratischer Gesellschaftsordnungen in Mittelund Osteuropa Ende der achtziger Jahre hat man begonnen, ähnlich wie in den zwanziger Jahren, wieder nach den zukünftigen Entwicklungschancen der Genossenschaften in den postsozialistischen Ländern zu fragen. Genossenschaften können, davon gehen wir hier grundsätzlich aus, im Transformationsprozeß von der Plan- zur Marktwirtschaft wichtige Funktionen übernehmen10. Einerseits haben sie sich, trotzihrer Umwandlung in Quasi-Staatsbetriebe, ihre Anziehungskraft und Attraktivität oder, modern ausgedrückt, ihr Selbstverständnis bis heute teilweise erhalten können. Andererseits gibt es Chancen für die Entstehung neuer Genossenschaften, da gerade die Überführung der zentralistisch verwalteten Volkswirtschaften in Marktwirtschaften mit großen wirtschaftlichen und sozialen Problemen verbunden ist, die einen Nährboden für neue Selbsthilfeorganisationen, einschließlich Genossenschaften, abgeben könnten. Viele Genossenschaftsbewegungen in Mittel- und Osteuropa unternehmen deshalb bereits große Anstrengungen, Anpassungsstrategien an die neuen Marktbedingungen zu entwickeln, um damit ihr Weiterbestehen zu sichern. Sie sehen dabei allein in der Aufrechterhaltung ihrer ökonomischen Funktionen in wichtigen Wirtschaftsbereichen, wie z.B. im Einzelhandel, im Dienstleistungssektor oder in der Landwirtschaft, und in der Sicherung von Arbeitsplätzen eine ausreichende Legitimation für ihr aktives Handeln. Auf der anderen Seite können in dieser Umbruchphase neue Genossenschaften wichtige Beiträge vor allem bei der Etablierung eines neuen Mittelstandes leisten und damit die Funktion eines Mitgestalters der marktwirtschaftliehen Ordnung übernehmen.

• Nach Marx war für die politische Organisation der Gesellschaft im Übergang vorn Kapitalismus zum Sozialismus nur die Form der Diktatur des Proletariats möglich. Siehe: Marx, K. : Kritik des Gothaer Programms (5. Mai 1875), in: Marx/Engels Werke, Bd. 19, Berlin 1972, S. 26. 10 Vgl. Todev. T., Brazda,J. . Laurinkari, J .: Aufbruch im Osten . mit oder ohne Genossenschaften, Marburg 1992; Brazda, J., Todev, T., Laurinkari, 1.: Ansätze einerneuen Genossenschaftsbewegung in den sozialistischen Ländern, in: Laurinkari, J. (Hrsg.): Genossenschaftswesen, München 1990, S. 716-737; Todev, T. : Genossenschaften zwischen Plan und Markt, Vortragsskriptum im Rahmen des Sommerhochschulkurses des Instituts für Betriebswirtschaftslehre der Universität Wien, Wien 1991.

Vorwon der Verfasser

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Wir verfolgen deshalb mit dieser kleinen Monographie über die "verwaltungswirtschaftlichen Genossenschaften" in der ehemaligen Sowjetunion ein zweifaches Ziel: einerseits die theoretischen Grundlagen einer Instrumentalisierung des Genossenschaftswesens im "realen Sozialismus" kritisch zu durchleuchten und andererseits Argumente dafür zu finden, daß der Mißbrauch des Genassenschaftsgedankens während der "realsozialistischen Entwicklung" noch lange kein ausreichender Grund für eine genossenschaftsfeindliche und mancherorts bereits genossenschaftsvernichtende Politik im Transformationsprozeß zur Marktwirtschaft in Mittel- und Osteuropa sein kann 11 • Um dem Leser das Quellenstudium zu den einzelnen Kapiteln zu erleichtern, wurden die wichtigsten Originaltexte in einem Anhang beigefügt. Uns bleibt noch die angenehme Pflicht, denjenigen Personen zu danken, die zum Gelingen dieses Buches beigetragen haben. Viele haben geholfen, es zu ermöglichen. Das gilt in besonderer Weise für Dr. Robert Schediwy und Dr. Günter Strauch, die den entstehenden Text in seinen verschiedenen Fassungen intensiv verfolgt und immer wieder wichtige Hinweise gaben. Weiters gilt unser Dank Professor Engelhardt für die Aufnahme dieser Studie in die "Schriften zum Genossenschaftswesen und zur Öffentlichen Wirtschaft". Schließlich hat durch ihre unermüdliche Korrekturarbeit Frau Dr. Karin Reimer-Sebald zum Gelingen dieses Buches beizutragen. Wien im März 1994

Johann Brazda Gerhard Rönneheck Tode Todev

11 Die in den letzten Jahren von den neuen politischen Kräften unternommenen Versuche, Vertreter der ehemaligen kommunistischen Nomenklatura aus den Genossenschaften zu entfernen (z.B. den Erlaß von Gesetzen zu deren Auflösung, wie beispielsweise jenes gegen die genossenschaftlichen Verbandsstrukturen in Polen (1990) oder jenes gegen landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften in Bulgarien (1992)) machen es für Genossenschaften sehr schwierig, sich unter den neuen marktwinschaftlichen Bedingungen auf einzelwirtschaftlich gebundene An behaupten zu können.

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil

Die Genossenschaft in der marxistischen Gesellschaftstheorie A. Die Utopie einer sozialistischen Wirtschaftsordnung ....................................

15

B. Die Marxsche und Engelssehe Position zum Genossenschaftswesen im Kapitalismus und im Sozialismus ....................................................................

20

C. Die Funktionen der landwirtschaftlichen Produktivgenossenschaften in der Theorie des "realen Sozialismus" ....................................................................

30

Zweiter Teil

Die Entstehung einer sowjetischen Genossenschaftskonzeption als Instrument der totalitären Parteiherrschaft A. Die Oktoberrevolution- Umkehrung der historischen Gesetzmäßigkeit B. Lenins Interpretation der marxistischen Genossenschaftskonzeption vor der

35

Oktoberrevolution..............................................................................................

39

C. Die Genossenschaftstheorie des "realen Sozialismus" im Kriegskommunismus ....................................................................................................................

47

D. Die Genossenschaften im Rahmen der Neuen Ökonomischen Politik ..........

60

E. Stalin und das Genossenschaftswesen - Offizialisierung der Genossenschaften und Kollektivierung der Landwirtschaft ....................................................

73

Inhaltsverzeichnis

14

Dritter Teil

Entwicklung der Genossenschaftstheorie des "realen Sozialismus" in der DDR A. Die Umsetzung der Genossenschaftsidee in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands und der späteren DDR ......................................................

92

B. Integration der Genossenschaften in das System der DDR ............................

95

Die Genossenschaft als sozialistische Wirtschaftseinheit ......................

96

II. Genossenschaft und Mitglied in der DDR ................................................

103

III. Die Eigentumsfrage bei den,Genossenschaften der DDR........................

109

IV. Die Einbindung der Genossenschaften in das planwirtschaftliche System der DDR ........................................................................................

116

C. Die Situation der Genossenschaften der DDR zum Zeitpunkt der Wende und ihre weitere Entwicklung ..........................................................................

121

I.

Vierter Teil

"Perestroika" und Genossenschaftstheorie ohne Ausweg A. Die Genossenschaftspolitik seit dem Beginn der Perestroika ........................

129

B. Genossenschaftskonzeptionen in der Periode der Perestroika ........................

132

Resümee....................................................................................................................

138

Literaturverzeichnis ................................................................................................

141

Anhang ......................................................................................................................

149

Marx/Engels-Texte ..............................................................................................

153

Lenin-Texte ..........................................................................................................

171

Resolution des Xlll. Parteitages der RKP. (1924) über das Genossenschaftswesen....................................................................................................................

206

Bucharin-Texte ....................................................................................................

211

Stalin-Texte ..........................................................................................................

214

Erster Teil

Die Genossenschaft in der marxistischen Gesellschaftstheorie Die Aussagen von Marx und Engels zum Genossenschaftswesen sind nicht sehr zahlreich. Beide haben sich in ihren Schriften nicht zusammenhängend zu diesem Thema geäußert, sondern man findet nur einzelne Gedanken zur Erscheinungsform Genossenschaft, die stets bloß Elemente ihres theoretischen Konzepts zur Entwicklung der Gesellschaft waren. Sie dürfen deshalb auch nicht aus diesem Zusammenhang herausgerissen und als Einzelaussagen interpretiert werden. Deshalb sollen zunächst, quasi zum Vorverständnis, die Vorstellungen von Marx und Engels von einer kommunistischen Gesellschaft gerafft wiedergegeben werden. A. Die Utopie einer sozialistischen Wirtschaftsordnung Die Vorstellungen von Marx und Engels über eine sozialistische Gesellschaft sind eher vage und vieldeutig. Die russischen Marxisten (Bolschewiki) erhoben zwar den Anspruch, sich beiallihren wirtschaftspolitischen Maßnahmen voll auf dem Boden des Marxismus zu bewegen. Wie wir heute wissen, hat diese auf dem marxistischen Gedankengut basierende Gesellschaftstheorie zunächst in der Sowjetunion und später, mit Abstufungen auch in Mittel- und Osteuropa, zur Herausbildung eines zentralistischen Planwirtschaftsystems geführt. Die Tatsache, daß sich viele unterschiedliche Richtungen, wie die der Trotzkisten, Stalinisten, Maoisten, Titoisten, Marktsozialisten und Zentralisten, auf Marx und Engels berufen, weist bereits auf das Problem hin, aus der Marxschen Theorie eindeutige und konkrete Aussagen über eine sozialistische Konzeption abzuleiten. Das hängt vor allem damit zusammen, daß Marx und Engels primär Analytiker der Enstehungsgeschichte der Gesellschaft von der Wiege der Zivilisation1 bis zum Kapitalismus, aber nicht solche des Sozialismus sein wollten. Im Gegensatz zu den "utopischen" Sozialisten, die gerne Bilder der künftigen Idealgesellschaft literarisch "ausmalten", lag ihnen daran, in "wissenschaftlicher" Weise aufzu1 Siehe beispielsweise Engels' Analyse der Markgenossenschaft (Engels, F .: Die Mark, in: Marx/ Engels Werke, Bd. 19, llerlin 1972, S. 315ff.), eine traditionelle Form derbäuerlichen Gemeinschaft, die nach der römischen Antike sowohl in Deutschland als auch in Skandinavien, England, Nordfrankreich und Italien auftra~.

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I. Die Genossenschaft in der marxistischen Gesellschaftstheorie

zeigen, wie sich das kapitalistische System aus sich heraus entwickelt, wie die Widersprüche dieses Systems zu immer schwerer werdenden Krisen und schlußendlich zu seinem Zusammenbruch führen und wie damit der Weg zur Errichtung einer sozialistisch-kommunistischen Gesellschaft freigemacht wird. Für Marx und Engels ist der Sozialismus und Kommunismus auch kein Zustand, sondern eine Bewegung, in der die vorsozialistischen Verhältnisse sich von alleine aufheben werden. Sozialismus war somit für Marx und Engels nur als Kontrast und Negation der kapitalistischen Zustände erfaßbar und nur vor dem Hintergrund einer umfassenden Geschichtsphilosophie, in der sowohl spekulative und eschatologische wie auch analytische Momente enthalten sind, aus den Entwicklungstendenzen des Kapitalismus ableitbar. Dabei kommt aber noch erschwerend hinzukommt, daß beide nie ein geschlossenes System konzipiert, sondern ihre Vorstellungen von der sozialistisch-kommunistischen Transformation im Laufe der Zeit ständig revidiert haben. Das Werk von Marxist in erster Linie ein philosophisches. Mit der Nationalökonomie hat er sich nur notgedrungen beschäftigt, "eine Aufgabe, die seinen Neigungen und ursprünglichen Interessen ganz fern lag" und die er als eine nur vorübergehende Pflicht ansah, um sich anschließend wieder fesselnderen Gegenständen zuwenden zu können2 • Für die Entwicklung von Marx zum Philosophen war seine Auseinandersetzung mit der Philosophie Hegels und Feuerbachs von entscheidender Bedeutung. Daraus erwuchs die Frage, deren wissenschaftliche Analyse ihn sein ganzes Leben begleiten sollte: nach den Gesetzmäßigkeilen und dem Bewegungsprinzip der Weltgeschichte. Zu ihrer Beantwortung stellte er dem Hegeischen Idealismus Feuerbachs Materialismus gegenüber und entwickelte daraus den dialektischen Materialismus, der die welterschaffende Tätigkeit als materielle Produktion des arbeitenden Menschen interpretiert. Damit brachte Marx zum Ausdruck, daß in den materiellen Produktionsverhältnissen die treibende Kraft der geschichtlichen Entwicklung verborgen sei. Er sah die Geschichte als einen dialektischen Prozeß der Entstehung und der Lösung von Klassengegensätzen. Nach der Urgesellschaft, mit der Herausbildung des Privateigentums und der Entwicklung der Arbeitsteilung und der Produktivkräfte sei die Arbeit unfrei geworden, d.h. zur Zwangsarbeit der einen Klasse für die andere, der das Produkt der Arbeit in Form von Privateigentum zufloß. Nach Marx sind gesellschaftliche Produktionsverhältnisse auf der Basis von Privateigentum immer Zwangsverhältnisse von Herrschaft und Knechtschaft, und er war

2 Landshut, S.: Einleitung zu: Kar/ Marx, Die Fliihschriften, hrsg. von S. Landshut, Stuttgart 1968, S. XLV.

A. Die Utopie einer sozialistischen Wirtschaftsordnung

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davon überzeugt, daß der historische Entwicklungsprozeß unweigerlich zu einer Weltrevolution führen würde, die diese Zwangsverhältnisse beseitigen und neue Regeln und Erscheinungsfonneo des sozialen Lebens hervorbringen würde. Aufgrund der Analyse des Kapitalismus seiner Zeit folgerte er, daß die kapitalistische Gesellschaftsordnung als ein Zwangsverhältnis von Herrschaft und Knechtschaft, von besitzlosem Proletariat und Bourgeoisie bereits einen unerträglichen Zustand erreicht habe, dem eine kommunistische Revolution, d.h. die Aufhebung des Privateigentums und der Klassen unmittelbar folgen müßte. Die Entwicklung der Produktivkräfte stößt nach Marx auf den engen Rahmen des Privateigentums, dessen Potential, die Produktivkräfte positiv zu beeinflussen, erschöpft wäre. Er schloß daraus, daß die ökonomischen Gesetze des Kapitalismus einerseits unvenneidlich zu einer beständigen Abnahme der Zahl der Kapitalmagnaten, die alle Vorteile der gesellschaftlichen Produktion usurpieren und monopolisieren, andererseits aber auch zu einem Anwachsen der Ausbeutung und auch zur Empörung der durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst organisierten Arbeiterklasse führen würden. "Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt."3 Durch die Verschärfung des Widerspruchs zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der privatkapitalistischen Aneignung war der Weg zu einer sozialen Revolution für ihn vorgezeichnet. Durch sie würde das Proletariat an die Macht kommen und ein neues Gesellschaftssystem aufbauen, welches den Kriterien der menschlichen Gerechtigkeit und der ökonomischen Rationalität entsprechen werde. Durch die Aufhebung des Privateigentums und die Vergesellschaftung der Produktionsmittel werde der Klassengegensatz zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie gelöst und der Demokratie eine wirtschaftliche Basis gegeben. Stattdessen werde der Mensch, der bisher dem Produktionsprozeß untergeordnet war, als freier Mensch produzieren und seinem menschlichen schöpferischen Trieb gehorchen. Insofern wurde der Kommunismus als der durch die Aufhebung des Privateigentums vennittelte Humanismus 4 interpretiert. Die Beseitigung der Herrschaft des 3 Marx, K.: Das Kapital, Kritik der politischen Ökonomie. Bd.l (1867), in: Marx/Engels Werke, Bd. 23, Berlin 1962, S. 791.

4 "Der Kommunismus als positive Aulhebung des Privateigentums als menschlicher Selbstentfremdung und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen; darum als vollständige, bewußt und innerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen Entwicklung gewordene Rückkehr des Menschen für sich als einen gesellschaftlichen, d.h. menschlichen Menschen. Dieser Kommunismus ist ein vollendeter Naturalismus = Humanismus, ein vollendeter Humanismus= Naturalismus, er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen." in: Marx, K.: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: Marx/Engels Werke, Ergänzungsband I. Teil, Berlin 1968, S. 536.

2 Todev/RönncbeclcJBrazda

18

I. Die Genossenschaft in der marxistischen Gesellschaftstheorie

Menschen über den Menschen eröffne damit erstmals in der Geschichte die Perspektive, die Gesellschaft zur bewußten Gestalterin ihrer eigenen Entwicklung zu machen und eine humanere Organisation der gesamten wirtschaftlichen Tätigkeit aufzubauen. Doch um diese Basis zu organisieren, müsse das Proletariat auf revolutionärem Weg an die Macht kommen und die Gesellschaft die Generalkompetenz an eine mit allen Vollmachten ausgestattete politische Instanz, den Staat, abgeben. Das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln sollte die Grundlage für eine Wiederherstellung der Übereinstimmung zwischen den modernen Produktivkräften auf dereinen Seite und dem System der Produktionsverhältnisse auf der anderen Seite schaffen. Im Unterschied zum Kapitalismus, in dem die Arbeit durch Privateigentum an den Produktionsmitteln organisiert wird und der gesellschaftliche Zusammenhang der Arbeit sich erst durch das Aufeinandertreffen der Waren auf dem Markt äußert, sollte durch gesellschaftliches Eigentum an den Produktionsmitteln die einzelne Arbeit einen unmittelbaren gesellschaftlichen Charakter erhalten. Die Arbeit sollte so schon bei ihrer Verausgabung als ein Teil einer Gesamtarbeit anerkannt sein, so daß die in den Arbeitsprodukten vergegenständlichte Arbeit nicht mehr die mystisch-zwanghaften Formen des Tauschwertes annehmen müßte. Den Individuen müßte dann nicht mehr ihr eigenes gesellschaftliches Zusammenwirken als äußerlicher, sachlicher Zwang gegenübertreten. Die Verteilung der Arbeitsprodukte könnte so auf einen Verwaltungsakteiner im Auftrag der assoziierten Produzenten handelnden Instanz, nämlich einer vom Staat bestimmten Planungsstelle, reduziert werden. Diesem Akt würde nichts Geheimnisvolles mehr anhaften. Die Verteilung der Arbeitsprodukte - wie schon der Arbeit selbst- wäre dem Willen der Individuen untergeordnet und müßte nicht mehr durch Tauschwerte kontrolliert werden. Der Kommunismus löst nach Marx den Kapitalismus in drei Etappen ab. Beginnend mit der Diktatur des Proletariats in der Übergangsperiode zwischen Kapitalismus und Sozialismus, die - wie er es formulierte - "in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt" 5, sein wird, führt der Weg über die immer weiter fortschreitende Vergesellschaftung des Eigentums an Produktionsmitteln zur ersten Stufe des Kommunismus, der entwickelten sozialistischen Gesellschaft. In ihr wird die Warenproduktion schrittweise abgeschafft und noch das Verteilungsprinzip: "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Leistungen" gelten. Dieses wandelt sich erst im voll entwickelten Kommunis-

5 Marx, K.: Kritik des Gothaer Programms (Mai 1875), in: Marx/Enge1s Werke, Bd. 19, Berlin 1972, s. 20.

A. Die Utopie einer sozialistischen Winschafisordnung

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musdurch die totale Aufhebung der Warenproduktion in das Prinzip: "Jedernach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen."6 Somit ist die sozialistische Gesellschaft nach der Marxschen Konzeption mit der Aufhebung der Warenproduktion, einer Produktion, die nicht der direkten Bedürfnisbefriedigung, sondern nur dem Austausch dient, unmittelbar verbunden. Warenproduktion ist dabei für ihn gleichlautend mit Entscheidungsdezentralisierung und damit mit einer Abstimmung der mikroökonomischen Entscheidungen durch Marktprozesse. Wiewohl Marx und Engels für die fernere Zukunft ein Absterben des Staates postulierten, ist das autoritär-zentralistische Wirtschaftsmodell des Realsozialismus bei den Klassikern schon vorgeprägt Im marxistischen Modell wurde dann auch gesellschaftliches Eigentum mit Staatseigentum gleichgesetzt, da es die einzige Form darstelle, die der Gesellschaft durch einen der Produktion vorangestellten Plan einen vermeintlich unmittelbaren Zugriff auf die Gesamtheit ihrer Arbeiten erlaube und nicht der Vermittlung durch Tauschwerte bedürfe. Staatseigentum an den Produktionsmitteln und unternehmerisches Verhalten in der Produktion sind nämlich nach Marx unvereinbar. Der Staat kann und darf sich nicht nur darauf beschränken, bloß den Rahmen vorzulegen, in dem die Produzenten ihre eigenen Entscheidungen treffen können, wie und was sie produzieren wollen, sondern er muß jede Beziehung der Produktionseinheiten zueinander durch ein lückenloses Reglement der Produktion ersetzen. Es dürfe nur dem Staat obliegen festzulegen, in welcher Arbeitszeit die Waren hervorgebracht werden müssen7 • Damit sollte die Koordination von Produktion und Bedürfnissen, die bei der Verfügungsgewalt der Produzenten über das gesellschaftliche Eigentum Produkt der Initiative und des Wettbewerbs der Produktionseinheiten ist, im Sozialismus zur Aufgabe eines allgegenwärtigen Staates werden. Der Staat als politische Organisation aller Werktätigen sollte die Verfügungs- und Eigentumsrechte an den Produktionsmitteln erhalten und der Staatsapparat die Verwaltung des gesellschaftlichen Eigentums. Marx spricht von "bewußte(r), gesellschaftliche(r) Regelung der Produktion"8 , von "Produktion unter wirklicher vorherbestimmen-

• Vgl. Marx, K.: Kritik des Gothaer Programms (Mai 1875), in: Marx/Engels Werke, Bd. 19, Berlin 1972, S. 28. 7

vgl. Marx, K.: Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie (1857/58), Berlin 1953, S. 73.

• Marx, K.: Brief an Ludwig Kugelman vom 11.7.1868, in: Marx/Engels Werke, Bd. 32, Berlin 1984, s. 553.

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I. Die Genossenschaft in der marxistischen Gesellschaftstheorie

der Kontrolle der Gesellschaft'09 , von einer "Gesellschaft als bewußte(r) und planmäßige(r) Assoziation"10 • Es ist kein Zufall, daß Bakunin in dieser Grundkonzeption bereits den Ansatzpunkt einer bürokratischen Diktatur erahnte. "Die im Generalrat allmächtige marxistische Koterie ... sucht augenscheinlich die politische und sozialistische Lehre von Marx, die von der Befreiung der Arbeiterklassen durch die Macht des großen zentralisierten Staates, als offizielle Lehre der Internationalen aufzuzwingen. Parallel mit diesem Ziel und als notwendige Folge verfolgt sie ein anderes, die Umbildung des Generalrats, den immer Marx leitet, zur Regierung, zum offiziellen Leiter, zum Diktator der Internationalen." "Klar ist, daß das System von Marx, wie das von Mazzini, zur Errichtung einer sehr starken Volksmacht führt, d.h. zur Herrschaft einer intelligenten Minderheit, die allein fähig ist, die bei einer Zentralisation unvermeidlich sich ergebenden verwickelten Fragen zu erfassen und folglich zur Knechtschaft der Massen und ihrer Ausbeutung durch diese intelligente Minderheit. Das ist das System revolutionärer Autoritäten der aufgezwungenen und von oben geleiteten Freiheit - d.h. es ist eine schreiende Lüge." 11

B. Die Marxsche und Engelssehe Position zum Gossenschaftswesen im Kapitalismus und im Sozialismus Die industriezeitliche Genossenschaft ist, und das war auch Marx und Engels bewußt, eine auf dem Boden der kapitalistischen Wirtschaftsordnung gewachsene wirtschaftliche Organisationsform, die zwar in bewußtem Gegensatz zu dieser gegründet worden war, aber dennoch von ihren Elementen durchdrungen ist. Sie war als Reaktion auf die Auswüchse eines übertriebenen Individualismus während der frühkapitalistischen Entwicklung entstanden und galt als solidarisches Wirtschaften im Gegensatz zum Wettbewerb und als eine Hoffnung auf die Möglichkeit einer sozial gerechteren Form des Wirtschaftslebens. Gleichzeitig war der moderne Genossenschaftsgedanke aber ein "Kind" dieser Wirtschaftsordnung und der geistigen Strömungen seiner Zeit, d.h. eines Individualismus als Verkörperung der persönlichen Freiheit und des Strebens des einzelnen nach Vervollkommnung. Das Prinzip der wirtschaftlichen Selbsthilfe mit dem Ziel einer Besserung der wirtschaftlichen Lage des einzelnen auf der

9 Marx. K.: Das Kapital. Kritik der Politischen Ökonomie. Bd. 111 (1894), in Marx/Enge1s Werke, Bd. 25, Berlin 1964, S. 197. 10 Marx, K .: Das Kapital, S. 673. " Bakunin. M.: An die Brüder der Allianz in Spanien (1872), in: Der Anarchismus, Dokumente der Weltrevolution, Bd. 4, hrsg. und eingeleitet von Oberländer, E., Olten 1972, S. 184.

B. Die Marxsche und Engelssehe Position zum Genossenschaftswesen

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Basis einzelwirtschaftlicher Bindungen12 steht auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Sicherlich gehören aber beide Seiten zum eigentlichen Wesen der industriezeitlichen Genossenschaft: die individualistische, rein wirtschaftliche, das Verhältnis des einzelnen zur Genossenschaft und die gemeinwirtschaftliche, die grundsätzlich ihren Ausdruck im Gesamtziel der Genossenschaft findet. "So erscheint theoretisch die Genossenschaft als die höchste Verbindung zwischen dem rein Individuellen und dem rein Sozialen, zwischen persönlichem Einzelinteresse und kollektiver Gebundenheit: der Solidarismus als Synthese zwischen Individualismus und Sozialismus. " 13 Aus dieser Wesensart der Genossenschaft heraus erklärt sich sowohl die Uneinheitlichkeit ihrer Begriffsbestimmung als auch die Mannigfaltigkeit der praktischen Ausgestaltung des modernen Genossenschaftsprinzips. Einmal erscheint die Genossenschaft lediglich als eine Art Unternehmungsform, zum anderen als die Verkörperung einer Reformbewegung. Die ihr anhaftende kollektivistische soziale Idee war der Ausgangspunkt und Anreiz für ihre Einbindung in sozialreformatorische Versuche, wobei aber bezeichnenderweise bereits in den ersten Anfängen der modernen Genassenschaftsbewegung ihre real- und dogmengeschichtliche Entwicklung eng nebeneinander standen. Marx und Engels waren Zeitgenossen der Entstehung und der schnellen Verbreitung der Genossenschaftsbewegung. Als Theoretiker und Praktiker des Klassenkampfes konnten sie nicht jene soziale Erscheinung ignorieren, die ein so lebhaftes Echo bei verschiedenen Schichten der bürgerlichen Gesellschaft auslöste. Trotz eines anfänglichen Skeptizismus wurde die Genossenschaftsidee in der Folge auch von fast allen politischen Richtungen okkupiert. Die Genossenschaften wurden zu Objekten einer intensiven ideologischen Diskussion nicht nur zwischen den Vertretern innerhalb des bürgerlichen Lagers, sondern auch innerhalb der Arbeiterbewegung. In seinem Artikel "Beschreibung der in neuerer Zeit entstandenen und noch bestehenden kommunistischen Ansiedlungen" zollte Engels den Gütergemeinschaften der Shakers, der Rappiten und der württembergischen Separatisten in

12 Siehe: Engelhardt, W.W.: Allgemeine Ideengeschichte des Genossenschaftswesens, Dannstadt 1985, S. 96ff. 13 Böckenhauer, M. : Die Genossenschaften im Wirtschafts-System des Sowjet-Staates, Leipzig 1930, s. 1.

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I. Die Genossenschaft in der marxistischen Gesellschaftstheorie

Amerika sowie jener von Robert Owen in England große Anerkennung 14 • Er verwies in diesem Artikel darauf, daß "der Kommunismus, das soziale Leben und Wirken in Gemeinschaft der Güter, nämlich nicht nur möglich (ist), sondern in vielen Gemeinden Amerikas und an einem Orte in England bereits wirklich ausgeführt (wurde), und das mit dem besten Erfolge"15 • Unabhängig davon, daß die meisten "kommunistischen" Ansiedlungen von religiösen Sekten ausgegangen waren, schätzte Engels deren Erfahrungen aus dem Blickwinkel der Möglichkeit zur Organisation des gesellschaftlichen Lebensaufgrund gemeinschaftlichen Eigentums sehr hoch. "Wir sehen also, daß die Gemeinschaft der Güter gar nichts Unmögliches ist. " 16 Er lobte bei diesen ersten kooperativen Formen deren organisatorischen Aufbau und die Prinzipien ihres Wirtschaftens und verwies dabei auf ihren demokratischen Mechanismus der Selbstverwaltung sowie auf ihre rein auf die Bedürfnisse der Mitglieder ausgerichtete Wirtschaftstätigkeit und damit auf Prinzipien, die jenen der Genossenschaftsbewegung sehr nahe standen. Er beurteilte diese Erfahrungen als sehr wichtig, besonders für die Arbeiter. "Diesen wird hierin eine Aussicht auf eine unabhängige, sichere und sorgenfreie Existenz gestellt. "17 Von dieser letzten Äußerung distanzierte sich Engels aber sehr bald, da sie nicht mit dem Konzept der proletarischen Revolution vereinbar sei. Marx und Engels begannen in der Folge, den Frühsozialisten kritisch gegenüberzustehen, da deren Ideen bei den Arbeitern die Illusion erweckten, daß der Aufbau einer kommunistischen Gesellschaft auf friedlichem Weg zu erreichen wäre. Die Frühsozialisten waren der Meinung, daß: - die Genossenschaft eine innerhalb des kapitalistischen Wirtschaftssystems verwirklichte Form des Sozialismus sei; - die Genossenschaft das alleinige Mittel zum sozialistischen Aufbau sei; - durch die Genossenschaft, speziell durch Errichtung von Produktivgenossenschaften, die Umgestaltung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung auf einem friedlichen, evolutionärenWeg erfolgen könne, da die Produktion das wichtigste Wesensmerkmal dieser Ordnung sei 18•

14 Engels, F. : Beschreibung der in neuererZeitentstandenen und noch bestehenden kommunistischen Ansiedlungen (1845), in: Marx/Enge1s Werke, Bd. 2, Berlin 1972, S. 521-535. 15

Engels, F.: Beschreibung, S. 521.

16

Engels. F.: Beschreibung, S. 534.

17

Engels, F. : Beschreibung, S. 535.

Für Robert Owen waren seine "Harmony Vollgenossenschaften" ein bereits verwirklichter Sozialismus • aus dem heraus sich eine neue Gesellschaftsordnung, nämlich ein genossenschaftliches 11

B. Die Marxsche und Engelssehe Position zum Genossenschaftswesen

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"Die Erfinder dieser Systeme sehen zwar den Gegensatz der Klassen wie die Wirksamkeit der auflösenden Elemente in der herrschenden Gesellschaft selbst. Aber sie erblicken auf der Seite des Proletariats keine geschichtliche Selbständigkeit, keine ihm eigentümliche politische Bewegung... Sie verwerfen daher alle politische, namentlich alle revolutionäre Aktion, sie wollen ihr Ziel auf friedlichem Wege erreichen und versuchen, durch kleine, natürlich fehlschlagende Experimente, durch die Macht des Beispiels, dem neuen gesellschaftlichen Evangelium Bahn zu brechen." 19 Marx betrachtete die Genossenschaft aus verschiedenen Blickwinkeln. Einerseits lehnte er sie als antiproletarische Organisationsform ab, da sie im Außenverhältnis noch immer eine Form des Privateigentums darstelle und somit nicht geeignet wäre, die kapitalistische Ordnung umzuwandeln. Andererseits sah er in der Genossenschaft ein Modell für seine Vorstellung vom Kommunismus, in dem Gemeineigentum an den Produktionsmitteln besteht. Davon überzeugt, die Bewegungsgesetze der Geschichte richtig erkannt und wissenschaftlich nachgewiesen zu haben, bestand für Marx kein Zweifel, daß der geschichtliche Prozeß in eine proletarische Revolution münden würde. Deshalb akzeptierte er nur eine nationale und internationale Organisierung der Arbeiter als einzige sinnvolle Aktivität zur Verkürzung der "Geburtswehen" des ohnehin Unvermeidbaren. Marx konzentrierte sich in seinen Schriften auf die Erarbeitung

Wirtschaftssystem durch Selbsthilfe, ohne Klassenkampf und Machtergreifung und durch die Er.lie· hung des individuellen Menschen zu einem kollektiven entwickeln werde. Er sah in der genossenschaftlichen Konzeption ein Mittel zur friedlichen Umgestaltung der GeseUschaft auf der Basis sich selbst verwaltender Produktivgenossenschaften. Vgl. Elsässer, M.: Soziale Intentionen und Reformen des Roben Owen in der Frühzeit der Industrialisierung, Berlin 1984, S. 140ff. und die dort angeführte Literatur. Bei St. Sirnon ist der Genossenschaftsgedanke noch unklar und eher aUgemein mit der Forderung nach einer neuen GeseUschaftsordnung verbunden, bei Fourier und Proudhon einerseits, und bei Buchez und Louis Blanc andererseits fmden sich bereits Ansätze durchdachter und geschlossener Systeme. Während bei Fourier und Proudhon die Verteilung der Ausgangspunkt für eine Umgestaltung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung sein sollte (Gemeindekontor bzw. Tauschbank), wiesen Buchez und Louis Blanc den Produktivgenossenschaften diese Funktion zu. Durch sie sollte die individualistische durch eine genossenschaftliche Produktionsweise ersetzt werden, in welcher die Arbeiter selbst die Eigentümer an den Produktionsmitteln wären. Durch die Gründung von Arbeiterassoziationen sollte der Unternehmer ausgeschlossen und auf diese Weise die Lohnarbeit durch die Arbeit für sich in einer Bruderschaft ersetzt werden. Bei den Gründungen der Produktivgenossenschaften forcierte Buchez das Prinzip der Selbsthilfe, Louis Blanc forderte eine staatliche Unterstützung, da er nur auf diese Weise eine Möglichkeit sah, eine Konkurrenz gegen die privaten Unternehmen aufzubauen und letztere im Endeffekt zu verdrängen. 1832 wurde die erste Produktivgenossenschaft nach den Plänen von Buchez errichtet. Vgl. Der Frühsozialismus. Ausgewählte Quellentexte. hrsg. und eingeleitet von Thilo Ramm, Stuttgan 1956. 19 Marx, K., Engels, F.: Manifest der Kommunistischen Partei (1848), in: Marx/Engels Werke, Bd. 4, Berlin 1972, S. 490.

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I. Die Genossenschaft in der marxistischen Gesellschaftstheorie

einer Strategie und Taktik für das Proletariat auf seinem Wege zur proletarischen Revolution. Marx war deshalb ein erbitterter Gegnerall jener Organisationen, mit denen im bestehenden Gesllschaftssystem ein gradualistisches Mehr an sozialer Gerechtigkeit und eine bessere, gerechtere Gesellschaftsordnung angestrebt wurden. Sie waren für ihn störende Faktoren für den Klassenkampf des Proletariats, die die kommende Revolution nicht ersetzen, wohl aber hinauszögern könnten. Diese vor dem Hintergrund der von ihm vorgeblich wissenschaftlich bewiesenen, objektiven Bewegungsgesetze der Geschichte verständliche Einstellung gegenüber jeglichen sozialreformatorischen Experimenten und Aktivitäten bestimmte auch seine Haltung gegenüber den Genossenschaften. Marx lehnte die Genossenschaften nicht nur als mögliches Instrument zur Beseitigung des kapitalistischen Systems, sondern auch als Organisationsform der Arbeiterbewegung, die zur Verbesserung ihrer sozialen Lage im kapitalistischen System beitragen konnte, kategorisch ab. Die Genossenschaften waren aber seiner Meinung nach völlig ungeeignet, "das Wachstum des Monopols in geometrischer Progression aufzuhalten, die Massen zu befreien, ja die Wucht ihres Elends auch nur merklich zu erleichtem"20 • Die Genossenschaftsideen und die genossenschaftliche Praxis, deren Zeitgenosse Marx war, zielten auf eine gewaltlose, allmähliche Umstrukturierung der Gesellschaft. In der positiven Einstellung bürgerlicher Kreise ihr gegenüber erblickte er, von seiner Warte aus gesehen nicht unrealistisch, die Gefahr eines Hinausschiebens der revolutionären Transformation der Gesellschaft durch die Genossenschaften. "Es ist vielleicht gerade dies der Grund, warum plausible Lords, bürgerlich-philanthropische Salbader und ein paar trockene politische Ökonomen jetzt mit demselben Kooperativsystem schöntun, das sie früher im Keime zu ersticken versucht hatten, das sie verhöhnt hatten als die Utopie des Träumers und verdammt hatten als die Ketzerei der Sozialisten."21 " ••• diejenigen Leute aus den herrschenden Klassen, die verständig genug sind, die Unmöglichkeit der Fortdauer des jetzigen Systems einzusehen .... haben sich zu zudringlichen und großmäuligen Aposteln der genossenschaftlichen Produktion aufge-

:ro Marx, K.: Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation (1864), in: Marx/Engels Werke, Bd. 16, Berlin 1964, S. 12. 21 Marx, K.: Inauguraladresse. S. 12. Siehe dazu auch den Motivenbericht zum ÖSterreichischen Genossenschaftsgesetz aus 1873, der die Hoffnung aussprach, mit dem Genossenschaftsgedanken die Irrlehre des Kommunismus zu bekämpfen (Stenographische Protokolle, 7. Session, 159 der Beilagen zum Gesetzesentwurf über Erwerbs- und Wirthschaftsgenossenschaften, S. 1392).

B. Die Marxsche und Engelssehe Position zum Genossenschaftswesen

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worfen. ''22 Er beurteilte die Genossenschaften als antiproletarisch und kämpfte gegen ihre Verbreitung. Ebenso kritisierte Marx die Vorschläge Lassalles, ein Genossenschaftswesen mit finanzieller Hilfe des bürgerlich-kapitalistischen Staates aufzubauen 23 • "Es ist dies würdig der Einbildung Lassalles, daß man mit Staatsanleihen eine neue Gesellschaft bauen kann wie eine neue Eisenbahn. " 24 Diese Sichtweise Marx' bezeichnete Ehm als "Minderwertigkeitsthese''25, da er die Genossenschaften als Hemmnis jener seiner Meinung nach notwendigen revolutionären Veränderungen, die die Situation des Proletariats verbessern würden, sah. An mehreren Stellen spricht Marx von der Genossenschaft als einem "Demonstrationsmodell" der zukünftigen sozialistischen Gesellschaft, eine Sichtweise, die Ehm "Vollwertigkeitsthese" 26 nennt. Seine Haltung gegenüber den verschiedenen Genossenschaftsarten war aber dabei differenziert. Er forcierte die Errichtung von Produktivgenossenschaften, "weil sie in den Grund des heutigen ökonomischen Systems greifen"27, mit denen man aber nicht in der Lage wäre, das System umzuwandeln, und zog sie den Konsumgenossenschaften vor. "Die letzteren berühren nur die Oberfläche des heutigen ökonomischen Systems, die ersten greifen es in seinen Grundfesten an."28 Er empfahl den Arbeitern, sich vielmehr auf Kooperativproduktion als auf Korporativläden einzulassen 29 • Um die gesellschaftliche Produktion in ein umfassendes und harmonisches System 22 Marx, K.: Der Bürgerkrieg in Frankreich (1871), in: Marx/Engels Werke, Bd. 17, Berlin 1962, S. 343. 23 Lassalle sah in der Produktivgenossenschaft das einzige Mittel zur Verbesserung der Lage der Arbeiter, um so die Arbeiter zum eigenen Unternehmer zu machen und damit das eherne Lohngesetz aufzuheben. Er forderte eine staatliche Unterstützung für die Gründung der Produktivgenossenschaften. Bei aller Betonung des Gegensatzes zwischen Bourgeoisie und Proletariat fehlt bei Lassalle aber der revolutionäre Klassenkampfgedanke. Er ging von der Möglichkeit einer Beeinflussung der kapitalistischen Wirtschaft aus, und die Produktivgenossenschaft war für ihn das beste organische Übergangsmittel zu einer sozialistischen Wirtschaftsordnung. Vgl. Lassalle, F.: Offenes Antwortschreiben an das Zentralkomitee zur Berufung eines allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses zu Leipzig 1863, Berlin 1927, S. 26-47. 2A Marx, K.: Kritik des Gothaer Programms (Mai 1875), in: Marx/Engels Werke, Bd. 19, Bcrlin 1962, s. 26.

25 Ehm, M.: Die polnischen Genossenschaften zwischen Privat- und Zentralplanwirtschaft, Kooperations- und Genossenschaftswissenschaftliche Beiträge, Band 6, Münster 1983, S. 156. 26

Vgl. Ehm. M.: Die polnischen Genossenschaften, S. 157.

Marx, K.: Engels, F.: Instruktion für die Delegierten des Provisorischen Zentralrates zu den einzelnen Fragen (1866), in: Marx/Engels Werke, Bd. 16, Berlin 1964, S. 196. 27

28 Marx, K.: Instruktion für die Delegierten des Provisorischen Zentralrates zu den einzelnen Fragen (1866), in: Marx/Engels Werke, Bd. 16, Berlin 1964, S. 195. 29 Die Forderung nach einer Förderung der Produktivgenossenschaften findet sich in den Resolutionen der Kongresse der Internationalen Arbeiterassoziation. Der Genfer Kongreß ( 1866) bezeichnete die Genossenschaftsbewegung als eine der Triebkräfte zur Umwandlung der gegenwärtigen Wirt-

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I. Die Genossenschaft in der marxistischen Gesellschaftstheorie

freier Kooperationsarbeit umzugestalten, bedürfe es Veränderungen der allgemeinen Bedingungen der Gesellschaft, die nur "durch den Übergang der organisierten Gewalt, d.h. der Staatsmacht, aus den Händen der Kapitalisten und Grundbesitzer in die Hände der Produzenten selbst"30 verwirklicht werden können31 • Vor allem im Rahmen seiner Analyse des geschichtlichen Prozesses, in der er von der Selbstentfremdung des Individuums "Mensch" im Hegeischen Sinne als Versklavung und Unterjochung des Menschen (durch einen anderen) im Arbeitsprozeß ausging, widmete sich Marx mit großem Interesse dem Phänomen "Genossenschaft", obwohl auf die Organisation der Arbeit im Wege genossenschaftlicher Assoziationen jene Kategorien, mit denen er den geschichtlichen Arbeitsprozeß des Menschen gekennzeichnet hatte, nicht zutrafen. Es schien aber in der Genossenschaft der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit überwunden und damit innerhalb dieser Gemeinschaftsorganisation die gesellschaftliche Entfremdung aufgehoben zu sein, da mit der gemeinsamen Nutzung der Produktionsmittel auch der fremde Mensch, der Kapitalist, verschwunden war. Das Produkt der eigenen Arbeit wurde nicht mehr zum Privateigentum des Kapitalisten, sondern verblieb in den Händen der Arbeiter. Aus diesem Blickwinkel ist die Begeisterung von Marx über die zu seinerZeit entstandenen Kooperativfabriken nachzuvollziehen. In der Inauguraladresse der Internationalen Arbeiterassoziation, in der Marx die Entwicklung der Arbeiterbewegung in der Periode von 1848 bis 1864 analysierte , konstatierte er, daß zwei Ereignisse für die Weiterentwicklung des proletarischen Klassenkampfes von immenser Bedeutung gewesen waren: Die Durchsetzung der Zehnstundenbill und die Gründung der ersten Kooperativfabriken. Letzteres war für Marx "ein noch größerer Sieg derpolitischen Ökonomie der Arbeit über die politische Ökonomie des Kapitals". Er sah in den Kooperativfabriken ein wichtiges soziales Experiment, mit dem bewiesen werden konnte, daß "die Produktion auf größerer Stufenleiter und im Einklang mit dem Fortschritt moderner Wissenschaft vorgehen kann ohne die Existenz einer Klasse von schafisordnung, fügte aber hinzu, daß diese Bewegung durch sich selbst nicht imstande sei, die kapitalistische Gesellschaft umzugestalten. Auch der Lausanner Kongreß (1867) sprach sich für die Enichtung von Produktivgenossenschaften aus und empfahl den Gewerkschaften, ihre Fonds zur Bildung und Finanzierung solcher Genossenschaften zu verwenden. 30 Marx, K.: Instruktion für die Delegierten des Provisorischen Zentralrates zu den einzelnen Fragen (1866), in: Marx/Engels Werke, Bd. 16, Berlin 1964. S. 195.

31 Erst nach dem Tode von Marx setzte sich Engels dafür ein, daß die Genossenschaften wichtige Funktionen beim Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus übernehmen müssen. "Und daß wir beim Übergang in die volle kommunistische Wirtschaft den genossenschaftlichen Betrieb als Mittelstufe in ausgedehntem Maß werden anwenden müssen, daranhaben Marx und ich nie gezweifelt". vgl. Engels, F.: Engels an August Bebel, 20.-23. Januar 1886, Bd. 36, Berlin 1967, S. 426.

8. Die Marxsche und Engelssehe Position zum Genossenschaftswesen

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Meistem (masters), die eine Klasse von Händen (hands) anwendet, daß um Früchte zu tragen, die Mittel der Arbeit nicht monopolisiert zu werden brauchen als Mittel der Herrschaft", und daß "Lohnarbeit nur eine vorübergehende und untergeordnete gesellschaftliche Form ist" und "von der assoziierten Arbeit" ersetzt werden kann32• Insofern war für ihn die Kooperationsfabrik "das erste Durchbrechen der alten Form, innerhalb der alten Form" 33 • "Ihr großes Verdienst besteht darin, praktisch zu zeigen, daß das bestehende System verdrängt werden kann."34 Innerhalb dieser Fabriken bestand erstmalig kein Privateigentum an Produktionsmitteln mehr, demnach keine Ausbeutung. Sie dienten Marx als Modell, als mögliche Ausprägungsform einer kommunistischen Gesellschaft, die aber nur innerhalb der Kooperativen zutraf, da sie als Ganzes Teile der kapitalistischen Gesellschaft blieben. Noch an anderer Stelle sprach Marx vom genossenschaftlichen Charakter des Kommunismus. Hier bezeichnete er sogar die "auf Gemeingut an den Produktionsmitteln" gegründete Gesellschaft als "genossenschaftlich"35 und betonte, daß, "wenn sie das kapitalistische System verdrängen, wenn die Gesamtheit der Genossenschaften die nationale Produktion nach einem gemeinsamen Plan regeln, sie damit unter ihre Leitung nehmen... , was wäre das andres ... als der Kommunismus, der 'mögliche' Kommunismus?"36 Mit dieser These verknüpft Marx die Existenz des Kommunismus mit dem Bestehen von Genossenschaften als Produktionseinheiten, die er als dem Kommunismus adäquat ansah. Diese Betrachtung der Genossenschaft als kommunistische Erscheinungsfom1 läßt den Schluß zu, daß es sich dabei mitnichten um eine vergängliche Wirtschaftseinheit handelt, sondern um eine dauerhafte Institution, die fest in die kommunistische Gesellschaft integriert wäre37 •

32 Marx, K.: Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation (1864), in: ManJEngels Werke, Bd. 16, Berlin 1964, S. 10. 33 "Die Kooperationsfabriken der Arbeiter selbst sind, innerhalb der alten Form. das erste Durchbrechen der alten Form, obgleich sie natürlich überall, in ihrer wirklichen Organisation, alle Mängel des bestehenden Systems reproduzieren und reproduzieren müssen. Aber der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit ist innerhalb derselben aufgehoben...", Marx, K .: Das Kapital, Bd.JII ( 1894), Marx/ Engels Werke, Bd. 25, Berlin 1975, S. 456. 34 Marx, K., Engels, F.: Instruktion für die Delegierten des Provisorischen Zentralrates zu den einzelnen Fragen (September 1866), ir.: Marx/Engels Werke, Bd. 16, Berlin 1964, S. 195.

35

Marx, K.: Kritik des Gothaer Programms (Mai 1875), in: Marx/Engels Werke, Bd. 19, Bcrlin

1972, S. 28. 36

Marx, K.: Der Bürgerkrieg in Frankreich (1871), in: Marx/Engels Werke, Bd. 17, Berlin 1962,

S. 343. 37

Vgl. Ehm, M.: Die polnischen Genossenschaften, S. 157.

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I. Die Genossenschaft in der marxistischen Gesellschaftstheorie

Diese Vollwertigkeitsthese fand jedoch in der sozialistischen Praxis wenig Resonanz. Die genossenschaftliche Theorie des Ostblocks konzentrierte sich auf die Minderwertigkeitsthese, deren wichtigste Befürworter zunächst Lenin und später auch Stalin und Chruschtschow wurden38 • Obwohl Marx den Begriff "Genossenschaft" oder "genossenschaftlich" somit an mehreren Stellen sogar synonym zu "kommunistische Gesellschaft" bzw. zu "kommunistisch" 39 verwendet, darf daraus nicht geschlossen werden, daß er sich die kommunistische Gesellschaft als Summe vieler kleiner Gemeinschaften, d.h. Genossenschaften vorstellte, in denen sich die Arbeiter nach der Revolution zu organisieren hätten. Marx maß der Integration der separierten Wirtschaftseinheiten in das gesellschaftliche Ganze auf der Grundlage des gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln eine herausragende Bedeutung zu. Erst durch diese Integration wird es möglich, die Kriterien rationalen Verhaltens von einem privaten auf einen gesellschaftlichen Maßstab zu transformieren im Sinne einer Übertragung von der Mikro- auf die Makroebene. "Die Bedeutung dessen läge nicht allein in der 'Internalisierung externer Kosten', also in der möglichen Berücksichtigung von Kosten und Nutzen, die außerhalb der jeweiligen Zuständigkeitssphären von Mikroeinheiten entstehen. Sie läge auch in der Beseitigung makroökonomischer Ineffizienzen, die aus der Verfolgung von Zielen resultieren, die nur aus mikroökonomischer Sicht vernünftig seien." 40 Zentrale Planung, die Koordination der wirtschaftlichen Aktivitäten auf Makroebene, sei ein notwendiges Element der unmittelbar gesellschaftlichen Arbeit, und sie ist engstens verknüpft mit dem grundlegenden Wandel des menschlichen Verhaltens in der ökonomischen Sphäre: vom Prinzip der Konkurrenz oder der Rivalität zu jenem der Kooperation von Assoziierten. Nicht der Marktdruck, sondern die Einbindung der Einzel- und Gruppeninteressen in die gesellschaftlichen Interessen sollte eine entsprechende Motivation bewirken. Die Befreiung aus einer repressiven Gesellschaftsordnung werde erwartungsgemäß zur Überwindung der "Entfremdung" der Individuen von der Gesellschaft führen und daher zu einem ausgesprochen positiven und kreativen Verhalten gegenüber der Arbeit. Das Motiv des Eigeninteresses bleibe erhalten, aber es werde Hand in Hand mit dem Gemeinschaftsinteresse gehen. Die Übertragung des rationalen Verhaltens von der mikroökonomischen auf die makroökonomische Ebene werde die entscheidenden Vorteile

38

Vgl. Ehm, M.: Die polnischen Genossenschaften, S. 156.

39

Vgl. Marx, K.: Kritik des Gothaer Programms (Mai 1875), in: Marx/Enge1s WelKe, Bd. 19, Berlin

1972. 40

Brus, W., Laski, K.: Von Marx zum Ma!Kt, Metropolis-Verlag, Marburg 1990, S. 14.

B. Die Marxsche und Engelssehe Position zum Genossenschaftswesen

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des Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus zum Vorschein bringen. Einer derartigen Logik des rationalen Sozialismus läuft nicht nur das private Unternehmen zuwider, sondern auch das kollektive Unternehmen im Besitz einer Gruppe, ein Konzept, welches vor allem von Eugen Dühring vertreten wurde. Nach ihm sollte die zukünftige Wirtschaftsordnung aus einer Föderation von Wirtschaftskommunen bestehen, als Gemeinschaften von Personen, die durch ihr öffentliches Recht der Verfügung über einen Bezirk von Grund und Boden und über eine Gruppe von Produktionsetablissements zu gemeinsamer Tätigkeit und gemeinsamer Teilnahme am Ertrage verbunden sind. Um die Konkurrenz zwischen den einzelnen Kommunen zu beseitigen, schlug Dühring vor, eine nationale Organisation des Handels zu errichten. Engels unterzog dieses Konzept einer scharfen Kritik41 • In der Marxschen gesellschaftlichen Konzeption42 gibt es deshalb keinen Platz für die Genossenschaften als primäre Assoziationen, in denen das individuelle Interesse weiterhin im Vordergrund steht43 • Unter der Vorgabe nationalisierter Produktionsmittel war nur der Weg zu einer nationalen Assoziation offen, Genossenschaften als Selbsthilfeorganisationen waren damit unvereinbar. Eine genossenschaftliche Zusammenarbeit auf gesellschaftlicher Basis hat nichts gemein mit Genossenschaften, die sich auf das Privateigentum der Mitglieder und der Mitgliederförderung gründen. "Die Sache hat weder mit SchulzeDelitzsch noch mit Lassalle zu tun. Beide proponieren kleine Genossenschaften, der eine mit, der andre ohne Staatshilfe, aber bei beiden sollten die Genossenschaften nicht in den Besitz schon bestehender Produktionsmittel kommen, sondern neben der bestehenden kapitalistischen Produktion eine neue genossenschaftliche herstellen. Mein Vorschlag verlangt Einrücken der Genossenschaften in die bestehende Produktion .... Das ist der große Unterschied. Und daß wir beim Übergang in die volle kommunistische Wirtschaft den genossenschaftlichen Betrieb als Mittelstufe in ausgedehntem Maß werden anwenden müssen, daranhaben Marx und ich nie gezweifelt. Nur muß die Sache so eingerichtet 41 Vgl. Engels , F .: HerrnEugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft ("Anti-Dühring") (Juni 1878), in: Marx$ngels Werke, Bd. 20, Berlin 1972, S. 268.

42 Die gesellschaftliche Konzeption von Marxist in seinem Artikel "Über die Nationalisation des Grund und Bodens" kurz, aber umfassend dargelegt. Nach Marx wird "die nationale Zentralisation der Produktionsmittel die natürliche Basis einer Gesellschaft werden, die sich aus Assoziationen freier und gleichgestellter, nach einem gemeinsamen und rationellen Plan bewußt tätiger Produzenten zusammensetzt." Marx, K.: Über die Nationalisation des Grund und Bodens (April 1872), in: Marx/ Engels Werke, Bd. 18, Berlin 1964, S. 62. 43 Die Geschichte der modernen Genossenschaftsbewegung belegt eindrucksvoll, daß nur jene Genossenschaften erfolgreich waren und sind, die primär auf das individuelle Interesse ihrer Mitglieder ausgerichtet sind. Während Rollert Owen beispielsweise die Genossenschaft zu einem kommunistischen Gemeinwesen umgestaltete, gaben ihr die Rochdaler Pioniere jene reale Grundlage, die sie mit dem praktischen Zielstreben des ein1.elnen direkt in Beziehung brachte. Das erstere blieb ein historisches Experiment, letzteres brachte jene Prinzipien hervor, auf denen sich in der Folge das Genossenschaftswesen weltweit aufbaute.

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I. Die Genossenschaft in der marxistischen Gesellschaftstheorie

werden, daß die Gesellschaft, also zunächst der Staat, das Eigentum an den Produktionsmitteln behält und so die Sonderinteressen der Genossenschaft, gegenüber der Gesellschaft im ganzen, sich nicht festsetzen können."44

C. Die Funktionen der landwirtschaftlichen Produktivgenossenschaften in der Theorie des "realen Sozialismus" Viele Marxisten haben immer wieder nachzuweisen versucht, daß Marx und Engels den Genossenschaften im Sozialismus eine größere Rolle zugewiesen hätten, insbesonders bei der sozialistischen Umgestaltung der Landwirtschaft. Sie bezogen sich dabei primär auf den Artikel "Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland"45 von Engels. Dieser schreibt hier bezugnehmend auf die Stellung der Arbeiterklasse zur Kleinbauernschaft nach der Eroberung der Staatsmacht: "Und zweitens ist es ebenso handgreiflich, daß wenn wir im Besitz der Staatsmacht sind, wirnicht darandenken können, die Kleinbauern gewaltsam zu expropriieren (einerlei, ob mit oder ohne Entschädigung), wie wir dies mit den Großbesitzern zu tun genötigt sind. Unsre Aufgabe gegenüber dem Kleinbauer besteht zunächst darin, seinen Privatbetrieb und Privatbesitz in einen genossenschaftlichen überzuleiten, nicht mit Gewalt, sondern durch Beispiel und Darbietung von gesellschaftlicher Hilfe zu diesem Zweck. Und da haben wir allerdings Mittel genug, um dem Kleinbauer Vorteile in Aussicht zu stellen, die ihm schon jetzt einleuchten müssen. " 46 Engels geht es hier aber nur um einen zeitweiligen instrumentalen Einsatz der Genossenschaftsform, um "die Bauerngenossenschaft allmählich in eine höhere Form überzuführen und die Rechte und Pflichten sowohl der Genossenschaft im ganzen wie ihrer einzelnen Mitglieder mit denen der übrigen Zweige der großen Gemeinschaft auszugleichen." 47 Diese reine Instrumentalisierung der Genossenschaften kommt vor allem in der Vorgabe zum Ausdruck, daß sie nur nationalisierten Boden bewirtschaften sollten48 und damit das wichtigste Produktionsmittel der Landwirtschaft, der Boden, von Anfang an aus dem Genossenschaftsbereich ausgeschieden sein sollte, um die nachfolgende Verstaatlichung der Genossenschaften leichter durchführen zu können. 44 Engels, F.: Engels an August Bebe!, 20., 23. Januar 1886, in: MarX/Engels Werke, Pd. 36, Berlin 1967, S. 426.

•s Engels, F.: Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland (November 1894), in: MarX/Engels Werke, Bd. 22, Berlin 1963, S. 483-505. 46

Engels, F.: Die Baucmfrage, S. 499.

47

Engels, F.: Die Bauemfrage, S. 500.

"Die Zukunft wird entscheiden, daß der Boden nur nationales Eigentum sein kann" Marx, K .: Über die Nationalisation des Grund und Bodens (April 1872), in: Marx/Enge1s Werke, Bd. 18, Berlin 1964, S. 62. 48

C. Die Funktionen der landwirtschaftlichen Produktivgenossenschaften

31

Die logische Struktur der gesellschaftlichen Konzeption von Marx und Engels setzte auch voraus, daß die Genossenschaften in den Zentralplan eingebettet werden und damit ihre Funktion als Förderungswirtschaft verlieren, was sich in der Praxis der sozialistischen Länder dann auch bewahrheitet hat. Um die Bedeutung der landwirtschaftlichen Genossenschaften in der Marxschen Theorie lokalisieren zu können, muß man zunächst der Frage nachgehen, welcher Stellenwert der Landwirtschaft im Marxschen Gedankengebäude zukommt. Marx wies zwar der Landwirtschaft im historischen Entstehungsprozeß des Kapitalismus eine zentrale Bedeutung zu, im etablierten Kapitalismus reihte er diesen Sektor aber hinter die Industrie. Für ihn war die Landwirtschaft im Frühkapitalismus nur insoweit von Bedeutung, als sie durch die Erzeugung eines permanenten Überschusses an Nahrungsmitteln durch Arbeitsproduktivitätssteigerungen die Voraussetzung für eine Industrialisierung schaffen mußte. Erst dadurch würde die Entstehung des Handwerks als erster Form einer institutionalisierten Arbeitsteilung überhaupt möglich, und darauf könne die gesamte Entwicklung bis hin zur kapitalistischen Produktionsweise aufbauen. In knappen Worten hat es Marx selbst folgendermaßen formuliert: "Dem kapitalistischen System liegt also die radikale Trennung des Produzenten von den Produktionsmitteln zugrunde, die Basis dieser ganzen Entwicklung ist die Expropriation der Landwirte .... " 49 Damit war für ihn die Landwirtschaft der Ausgangspunkt seiner sozialistischen Entwicklung. Er sah in der "Scheidung von Stadt und Land" den Gegensatz, in dem sich "die ganze ökonomische Geschichte der Gesellschaft ... resümiert. " 50 Offen blieb aber die Frage, ob die Landwirtschaft mit dem rapiden Wachstum ihres Ablegers, der Industrieproduktion, werde Schritt halten können. Würde die weitere Entwicklung in den beiden Sektoren, Landwirtschaft und Industrie, gleichmäßig verlaufen, oder würde derneue Wirtschaftszweig aufgrund anderer, eigener Produktionsbedingungen und -gesetzmäßigkeiten eine von der Landwirtschaft unterschiedliche Entwicklung nehmen? Die Lösung dieser Frage, die für die gesan1te Entwicklung der kommunistischen Ideologie von fundamentaler Bedeutung werden sollte, interessierte Marx zunächst überhaupt nicht. Ihn faszinierte ausschließlich der Prozeß exorbitanter Steigerungen der Produktion und der Produktivität im lndustriebereich. Im Vergleich dazu erschien ihm der Agrarbereich geradezu als ein stagnierender. 49

Brief an Vera Zasu/ic, in: Marx. K .: Politische Schriften. 2. Bd., Hrsg. H.J. Lieber, Stutlgart 1960.

50

Marx, K.: Das Kapital, Kritik der politischen Ökonomie, Bd.l, (1867) in: Marx,/Engels Werke,

Bd. 23, Berlin 1963, S. 373.

32

I. Die Genossenschaft in der marxistischen Gesellschaftstheorie

Grundsätzlich waren beide Sektoren für ihn gleich51, da er davon ausging, daß sowohl in der Landwirtschaft als auch in der Industrie die kapitalistische Produktionsweise dominiere. Die Landarbeiter waren für ihn, entsprechend dem englischen System, Lohnarbeiter, beschäftigt von einem Kapitalisten, dem Pächter, der die Landwirtschaft nur als ein besonderes Exploitationsfeld des Kapitals betreibt. Die vom Pächter dem Grundeigentümer zu zahlende Pacht- die Grundrente-, die er dem Zins gleichstellte, war lediglich ein besonderes Derivat des Mehrwerts. Aufgrund dieser Gleichartigkeit der Bedingungen müsse auch die weitere Entwicklung in Industrie und Landwirtschaft in parallelen Bahnen verlaufen. An einer anderen Stelle prophezeite er sogar den Untergang des Parzelleneigentums in der Landwirtschaft, da es seiner Natur nach die " ... Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte der Arbeit, gesellschaftlicher Formen der Arbeit, gesellschaftlicher Konzentration der Kapitale, Viehzucht auf großem Maßstab, progressive Anwendung der Wissenschaft"52 ausschließe. Zur Untermauerung dieser These verwies er darauf, daß sich anhand der amtlichen Bodenlisten in England und Wales nachweisen läßt, daß sich in der Vergangenheit alle 10 Jahre die Zahl der Grundeigentümer um 10% verringert hJbe, und damit in diesem Bereich eindeutig ein Konzentrationsprozeß zu beobachten sei53 • Hand in Hand mit dieser Konzentration würde eine Proletarisierung der Landwirtschaft einhergehen, wobei Marx die Industrie als deren Vehikel ansah, da sie den Bauern, "das Bollwerk der alten Gesellschaft, vernichtet ... und ihm den Lohnarbeiter unterschiebt."54 Mit dieser eher oberflächlichen und von ihm als "kurze Andeutung einiger vorweggenommener Resultate" 55 bezeichneten Charakterisierung des Agrarsektors begnügte er sich zunächst, da er davon überzeugt war, daß dieser Sektor in der Volkswirtschaftangesichts der industriellen Dynamik eine völlig untergeordnete Rolle im weiteren Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung spielen würde. Er reduzierte damit die Landwirtschaft zu einer Sekundärgröße, der man keine besondere Aufmerksamkeit mehr schenken müsse. Marx unterschied auch nicht zwischen industrieller und landwirtschaftlicher Produktion. Für ihn war die großbetriebliche Produktion die einzig wahre Organisationsform sozialistischen Wirtschaftens - ein Vorurteil, daß sich auch

51

Vgl. Heimann, E.: Wirtschaftssysteme und Gesellschaftssysteme, Tübingen 1954, S. 92 u. 96.

52

Marx, K.: Das Kapital Bd.III. (1894), in: Marx/Engels Werke, Bd. 25, Berlin 1972, S. 859.

"

Vgl. David, E.: Sozialismus und Landwirtschaft, I. Bd., Die Betriebsfrage, Berlin 1903, S. 33.

"' Marx, K.: Das Kapital, zitiert nach E. David, Sozialismus und Landwirtschaft, I . Bd., S. 34.

ss Marx, K.: Das Kapital, zitiert nach E. David, Sozialismus und Landwirtschaft, I. Bd., S. 34.

C. Die Funktionen der landwirtschaftlichen Produktivgenossenschaften

33

für die spätere realsozialistische Wirtschaftspolitik mit ihrer Vorliebe für riesige Kombinate fatal auswirken sollte. Die spezifischen Gegebenheiten der Agrarproduktion ignorierte er. Wie bereits erwähnt, war er davon ausgegangen, daß die Landwirtschaft nur im Schlepptau der Industrie in sozialistische Organisationsformen überführt werden könne und man damit rechnen müßte, daß die Bauern abseits stehen, wenn sich die Industriearbeiter den höheren Freiheitsgrad sozialistischer Produktionsverhältnisse auf den Barrikaden erkämpft hatten. Deshalb mußte eine Lösung gefunden werden, wie man die Vielzahl an landwirtschaftlichen Betrieben in das neue Organisationssystem einbeziehen könnte. Der Prozeß der Transformation der Kleinproduktion, bei der in den meisten Fällen eine Ausbeutung fehlte und Eigentümer und Arbeitnehmer in einer Person auftraten, schien aber besonders schwierig zu sein. Eine rein evolutionäre Entwicklung dieser Eigentumsformen wäre ein Hindernis für eine schnellere Einführung der zentralistischen Planung (sie galt als einzig möglicher Koordinationsmechanismus des Wirtschaftssystems aufgrunddes gesellschaftlichen Eigentums) gewesen. Deshalb suchte Engels nach Organisationsformen, die diesen Prozeß beschleunigen, und glaubte, sie in Zusammenschlüssen der Bauern zu Genossenschaften gefunden zu haben. Er war es, der den Genossenschaften spezielle Funktionen nach der proletarischen Revolution, in der Übergangsphase vom Kapitalismus zum Sozialismus zuwies. Davon ausgehend, daß sich die kapitalistische Landwirtschaft durch eine Vielfalt an Eigentumsformen auszeichnete, war für ihn klar, daß ihre Überführung ins gesellschaftliche Eigentum nicht durch eine einheitliche Methode erfolgen könne. Er schlug folgende Strategie vor: Zunächst sollte das freiwerdende Land enteigneter Großgrundbesitzer "an selbstwirtschaftende Genossenschaften unter Staatsleitung" übergeben werden, aber derart, daß "der Staat Eigentümer des Bodens bleibt"56 • Aber nicht nur das enteignete Land der Großgrundbesitzer sollte mittels Genossenschaften in Gemeineigentum übertragen werden, auch die übrigen selbständigen Bauernbetriebe und deren Land. Er sah in den Genossenschaften die ideale Organisationsform, um den Bauern zunächst noch eine ihrer Verhaltensweise entsprechende Wirtschaftsweise zu ermöglichen und sie erst im Laufe der Zeit in die neuen industriellen, gesamtwirtschaftliehen Produktionsverhältnisse einzugliedern, eine Entwicklungsstrategie, die in den sozialistischen Ländern dann auch tatsächlich zum Einsatz kam. Erst in der Phase des Kommunismus würden dann die Genossenschaften überflüssig werden, da bis dahin auch die Produktionsfaktoren in der Landwirtschaft vergesellschaftet wären. Er betonte aber, daß dieser Anpassungsprozeß

56

Engels, F.: Engels an August Bebel, 20.-23. Januar 1886, in: Marx/Engels Werke, Bd. 36, Berlin

1967, S. 426.

3 Todev/Rönnebeck/Brazda

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I. Die Genossenschaft in der marxistischen Gesellschaftstheorie

keinesfalls mit Gewalt vollzogen werden dürfe. Die mit soviel Brutalität vorwärtsgetriebene Kollektivierung in der ehemaligen UdSSR und in den ehemaligen sozialistischen Ländern Mittel- und Osteuropas läßt sich ideologisch nicht mit der Marxschen Theorie rechtfertigen, wiewohl die Kommunisten dieser Länder ihre letztlich katastrophal gescheiterten praktischen Maßnahmen in "revolutionärer Ungeduld" aus den Lehren der Klassiker des Sozialismus ableiten konnten. Für eine Erklärung der realen Entwicklung der Landwirtschaft ist auf die innersowjetischen Wirtschaftsprobleme nach der Revolution unter Lenin und Stalin weiter unten noch näher einzugehen, wie auch auf die Auswirkungen dieser Probleme bzw. deren Lösungen auf den sozialistischen Aufbau.

Zweiter Teil

Die Entstehung einer sowjetischen Genossenschaftskonzeption als Instrument der totalitären Parteiherrschaft A. Die Oktoberrevolution - Umkehrung der historischen Gesetzmäßigkeit

Nach der marxistischen Lehre folgt der Sozialismus auf einen reifen Kapitalismus, der seinen Zweck als Motor des Fortschritts erfüllt hat. "Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoße der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. " 1 Marx war sogar davon überzeugt, daß die proletarische Revolution in allen Ländern gleichzeitig ausbrechen würde. Das setzte aber eine gleichmäßige Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung voraus, in der der Konflikt zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen gleichzeitig auf die Spitze getrieben wäre. Deshalb war er überrascht, von der Russin Vera Zasulic einen Brief mit der Anfrage zu erhalten, ob auch in einem Agrarstaat wie Rußland eine sozialistische Revolution möglich sei, eine Frage, die für die russische sozialdemokratische Partei "eine Frage von Leben und Tod"2 sei. Konnte man, so fragte sie weiter, auch die russische Dorfgemeinde auf einem sozialistischen Weg entwickeln oder müsse abgewartet werden, "in wieviel Jahrhunderten vielleicht der Kapitalismus in Rußland die Entwicklung des Kapitalismus in Westeuropa einholen wird"3 • Sie fügte noch hinzu, daß die russischen Marxisten weitgehend der Meinung wären, daß er, Marx, im Rahmen seiner Beschäftigung mit dieser Frage den Untergang der Dorfgemeinde als einer archaischen Form vorausgesagt hätte 4 • ' Marx, K.: Zur Kritik der Politischen Ökonomie (Januar 1859), in: Marx/Engels Werke, Bd. 13, Berlin 1972. S. 59. 1 Zasulic, V.: Brief anMarx, in: Marx, K.: Politische Schriften, 2. Bd., Hrsg. HJ. Lieber, Stuttgan 1960, S. 1135.

'

Zasulic, V.: Brief an Marx, S. 1135.

4

Zasulic, V.: Brief an Marx, S. 11 35.

36

II. Die Entstehung einer sowjetischen Genossenschaftskonzeption

Wie schwer Marx die Antwort auf diesen Brief fiel, geht daraus hervor, daß er zunächst vier Entwürfe verfaßte, bevor er den eigentlichen Antwortbrief schrieb. Der Inhalt dieser Entwürfe ist aber um einiges aufschlußreicher als der endgültige, kurz abgefaSte Brief. Die Überlegungen von Marx zielten darauf, einen Weg aufzuzeigen, wie Rußland auch ohne den Umweg über den Kapitalismus zum Sozialismus geführt werden könnte. Er beschränkte dabei die historische Notwendigkeit des in seiner Theorie vorgesehenen Weges zum Kommunismus über den Kapitalismus ausdrücklich auf die Länder Westeuropas und begründete dies einerseits mit den Besonderheiten der russischen Dorfgemeinde im Vergleich zu den westeuropäischen Bauerngemeinden und andererseits mit einem gegebenen spezifischen "historische Milieu" der russischen Agrarwirtschaft im Vergleich zur hochentwickelten kapitalistischen Produktionsweise im Westen. Gerade diese Besonderheiten der russischen Dorfgemeinde sollten es ihr ermöglichen, "allmählich die Produktion und Verteilung ihrer Erzeugnisse auf kollektivistischer Grundlage zu organisieren" und "sich stufenweise von ihren primitiven Eigenschaften (zu) befreien und geradewegs zu einem Element der kollektiven Produktion im nationalen Maßstab (zu) entwickeln." Das "historische Milieu" kam diesem Konzept insofern entgegen, als es Rußland die Möglichkeit eröffnen sollte, die Vorteile der kapitalistischen Produktion, wie die mechanische Industrie, Maschinen, Darnpffahrzeuge, Eisenbahn, Banken, Kreditgesellschaften usw., zu übernehmen, ohne selbst dieses Joch tragen zu müssen. Ein Ansatz, den er nicht weiterverfolgte5. Da der Revolution in Rußland im Endeffekt keine proletarische Revolution im Westen folgte, widersprach sie eigentlich der marxistischen "Gesetzmäßigkeit der Bewegung" des geschichtlichen Prozesses, derzufolge der Sozialismus dem Schoß eines reifen kapitalistischen Systems entspringen muß, sowie der Annahme eines gleichzeitigen Auftretens der russischen Agrarstaatlichkeil mit der hochentwickelten kapitalistischen Produktionsweise im Westen. Getreu der Doktrin, bestritten auch viele Marxisten, vor allem die russischen rechten Sozialdemokraten, die Menschewiki, den sozialistischen Charakter der russischen Revolution in einem überwiegend bäuerlichen Land, in dem es nur einige wenige industriell entwickelte Inseln gab Wld die kulturellen Wld organi-

' In späteren Äußerungen- so im Vorwort des "Manifestes der Kommunistischen Partei" - wird eine proletarische Revolution in Rußland und im Westen als notwendige Voraussetzung für eine moderne Weiterentwicklung der Dorfgemeinde angesehen. Als Engels noch einmal (1894) auf dieses Problem zu sprechen kam, charakterisierte er die Landgemeinde als bereits im "kapitalistischen" Zerfall begriffen und sah keinen Anlaß mehr, die Russen weitertUn als "auserwähltes Volk der Revolution" einzustufen.

A. Die Oktoberrevolution- Umkehrung der historischen Gesetzmäßigkeit

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satorischen Voraussetzungen für eine planvolle Leitung der Wirtschaft nur in spärlichem Maße vorhanden waren6 • Es war Lenin, der versuchte, diesen theoretischen Streit über die Oktoberrevolution zu schlichten. Ausgehend von der Grundaussage der "ungleichmäßigen Entwicklung des Kapitalismus in seinem imperialistischen Stadium", entwickelte er eine Theorie der imperialistischen Kette, wonach Rußland das schwächste Glied einer Kette kapitalistischer und imperialistischer Staaten gewesen wäre und diese Kette nun an ihrer schwächsten Stelle gerissen sei. Er interpretierte das

Einer jener Theoretiker des Marxismus, die sich gegen den proletarischen Charakter der Oktoberrevolution aussprachen, war Kautsky (Vgl. Kautsky. K. : Die Diktatur des Proletariats, Wien 1918). Wie die Menschewiki in Rußland vertrat auch er die Ansicht, daß die Voraussetzungen für eine sozialistische Revolution in Rußland überhaupt nicht gegeben waren. Die Übernahme der Macht durch die Bolsehewild war deshab nach ihm keine proletarische Revolution gewesen, da diese in einem rückständigen, überwiegend bäuerlichen Land überhaupt nicht möglich gewesen sei. "Sie (die Bauern) bilden unter der Sowjetverfassung die Mehrheit der zur Teilnahme an der Gesetzgebung und Regierung berechtigten Bevölkerung. Was uns als Diktatur des Proletariats hingestellt wird, würde sich, wenn es konsequent durchgeführt würde und eine Klasse überhaupt direkt die Diktatur auszuüben vermöchte, was nur einer Partei möglich ist, zu einer Diktatur der Bauemsehaft gestalten". Deshalb war für Kautsky die bolschewistische Macht eine diktatorische Macht. Weiters trat er dafür ein, daß Marx die Diktatur des Proletariats nicht als eine Regierungsform betrachtet habe. "Der Ausdruck "Diktatur des Proletariats", also Diktatur nicht eines einzelnen, sondern einer Klasse, schließt bereits aus, daß Marx hierbei eine Diktatur im buchstäblichen Sinne des Ausdrucks gemeint hat." (Kautsky, K.: Die Diktatur des Proletariats, Wien 1918, S. 20). Aber auch in der bolschewistischen Partei sprachen sich einige Vertreter der Parteispitze gegen den Oktoberaufstand aus. So schrieben Sinowjew und Kamenew in einem Brief "Zur gegenwärtigen Lage" zwei Wochen vor der Revolution an die Partei: " Wir sind tief davon überzeugt, daß die Erklärung des bewaffneten Aufstandes jetzt bedeutet, nicht nur das Schicksal der russischen und der internationalen Revolution aufs Spiel zu setzen." In einem Land, wo die Bauernschaft die Mehrheit der Bevölkerung bildet, "gibt es nur eine Möglichkeit: Die Aufrichtung einer rein bolschewistischen Regierung durch die Mittel des politischen Terrors", weil, " wenn es jetzt zu den Wahlen für die konstituierende Versammlung kommt, die Mehrheit der Bauern ihre Stimme für die Sozialrevolutionäre abgeben wird." (Zitiert nach: Trotzki, L.: Die Lehren des Oktobers, in: Um den Oktober, Harnburg 1925, S. 27-35.) Durch die "Glasnost" (Öffentlichkeit) wurde die Diskussion über die Gesetzmäßigkeit der Oktoberrevolution wieder belebt. Ohne auf Einzelheiten hier einzugehen, wollen wir nur erwähnen, daß sich zwei Ansichten herauskristallisieren. Einerseits wird die Oktoberrevolution als ein Gewaltakt über die Geschichte angesehen, indem man behauptet, daß die allgemeinen Rahmenbedingungen für die Umsetzung des marxistischen Konzepts überhaupt nicht gegeben waren, was im Endeffekt auch zum Mißlingen des sozialistischen Aufbaus führen mußte. Diese Aussagen wiederholen die Argumente der Sozialdemokratie, die arn umfangreichsten von Kautsky ausgeführt wurden. (Vgl. Tschernov, V., Tschernova , T.: Kooperazija i problerni perestroiki, In: Perestroika dejatelnosti i uskorenie nautschno-technitscheskogo progressa v potrebitelskoi kooperazii na osnove zakona SSSR, in: 0 kooperazii v SSSR, Tschast 5, Moskwa 1989, S. II). Ein Teil der Historiker ist der Meinung, daß das marxistische Konzept in Rußland unrcalisierbar war, ein anderer behauptet, daß Lenin seine spezifische Strategie des Aufbaus der sozialistischen Gesellschaft für ein Agrarland konzipiert hatte, die aber von Stalin nicht richtig verstanden worden ist. So interpretierte auch Sinowjew nach Lenins Tod den Leninismus als eine Anpassung des Marxismus an die besonderen Problerne rückständiger Länder. Andererseits, ohne auf die marxistische Theorie über die objektiven Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung Rücksicht zu nehmen, wird die Oktoberrevolution als ein Versuch interpretiert, die bestehende internationale Arbeitsteilung zu ändern, um die Rückständigkeit Rußlands und seiner Kolonien gegenüber den industriellen Ländern Westeuropas so schnell wie möglich abzubauen.

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II. Die EntstehWJg einer sowjetischen Genossenschaftskonzeption

Postulat der Reife derart, daß es auf das kapitalistische System im Weltmaßstab anwendbar wurde. Der Weltkapitalismus war nach ihm für eine sozialistische Umformung genügend entwickelt, der revolutionäre Bruch des politisch schwächsten Gliedes in der Kette daher legitim. War es nur einer Laune oder einer verkehrten Gesetzmäßigkeit der Geschichte zuzuschreiben, daß fast alle Länder (mit Ausnahme der Tschechoslowakei und teilweise auch Polens), in denen der Versuch unternommen wurde, eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen, ihren Übergang zum Sozialismus unter unreifen Vorbedingungen begannen?

In einem seiner letzten Artikel, "Über unsere Revolution", in dem er sich noch einmal gegen die traditionelle Ansicht wandte, Rußland habe das für den Aufbau des Sozialismus erforderliche Entwicklungsniveau der Produktivkräfte nicht erreicht, hielt Lenin noch einmal fest: "Wenn zur Schaffung des Sozialismus ein bestimmtes Kulturniveau notwendig ist (obwohl niemand sagen kann, wie dieses bestimmte "Kulturniveau" aussieht, denn es ist in jedem westeuropäischen Staat verschieden), warum sollten wir also nicht damit anfangen, auf revolutionärem Wege die Voraussetzungen für dieses bestimmte Niveau zu erringen und dann schon, auf der Grundlage der Arbeiter- und Bauernmacht und der Sowjetordnung, vorwärtsschreiten und die anderen Völker einholen? ... Wie ich mich erinnere, hat Napoleon geschrieben:"On s'engage et puis ...on voit." In freier Übersetzung bedeutet das etwa: "Zuerst stürzt man sich ins Gefecht, das weitere wird sich fmden."7 Diese Worte waren auch die Kernaussagen der bolschewistischen Argumentation, den Sozialismus unter unreifen Bedingungen aufzubauen und dabei die Macht des Staates einzusetzen, um die Ökonomie aus ihrer Rückständigkeit herauszuzerren, um damit das "für den Sozialismus erforderliche" Niveau zu erreichen. Marx selbst hatte ja auch von der Notwendigkeit einer Übergangsperiode zwischen dem Kapitalismus und dem Sozialismus gesprochen. "Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats ist."8

7 Lenin, W.: Überunsere Revolution (Januar 1923), in: Lenin Welt.e, Bd. 33, Berlin 1971, S. 464465.M



Marx, K.: Kritik des Gothaer Programms (Mai 1875), in: Marx/Engels Welt.e, Bd. 19, Berlin

1972, s. 26.

B. Lenins Interpretation der marxistischen Genossenschaftskonzeption

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Lenin entwickelte diesen Marxschen Gedanken in seiner Schrift "Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution" weiter. In einer Polemik gegen Kautsky formulierte er seine Vorstellungen über die Diktatur des Proletariats als Regierungsform9 • Für ihn war das wichtigste Problem dieser Übergangsperiode der Widerspruch zwischen dem politisch entmachteten und wirtschaftlich geschwächten Kapitalismus einerseits und dem neuentstehenden Sozialismus andererseits, und er bezeichnete diese Periode deshalb auch als jene eines scharfen Klassenkampfes, die zur Vernichtung der Klassen führen wird. Um die Klassen zu beseitigen, müsse man erstens die Kapitalisten und die Großgrundbesitzer entmachten und zweitens den Unterschied zwischen der Arbeiterschaft und dem Bauerntum überwinden, d.h. das Bauerntum in Arbeiterschaft umwandeln. Hauptziele eines Staates im Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus mußten demnach die Beseitigung des privaten Eigentums an den Produktionsmitteln, die spontane Entwicklung der Wirtschaftstätigkeit, die Etablierung gesellschaftlichen Eigentums und, darauf aufbauend, eine planmäßige Entwicklung des Wirtschaftssystems sein.Doch war hier noch ein Platz für Genossenschaften?

B. Lenins Interpretation der marxistischen Genossenschaftskonzeption vor der Oktoberrevolution Es gab auch in Rußland vor der Oktoberrevolution Ansätze zu einer Genassenschaftsbewegung nach dem Vorbild des westeuropäischen Genossenschaftswesens, deren Entwicklung aber gerade durch jenes Charakteristikum der Genossenschaft, welches sie als "Kind" der kapitalistischen Wirtschaftsordnung auszeichnet, nicht richtig vorankam. Obgleich ihre Anfänge bis in die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zurückreichen, kam es bis zum Jahre 1906 in Rußland zu keiner nennenswerten Gründungswelle von Genossenschaften. Die Leibeigenschaft, die zwar 1861 formell aufgehoben worden war, lebte in Form der Dorfgemeinden bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts weiter; die Industrieproduktion war stark unterentwickelt, eine Arbeiterschaft fehlte und das Wirtschaftsleben verlief noch überwiegend in naturalwirtschaftliehen Formen.

9 "Die Diktatur ist eine sich unmittelbar auf Gewalt stützende Macht. die an keine Gesetze gebunden ist. Die revolutionäre Diktatur des Proletariats ist eine Macht, die eroben wurde und aufrechterhalten wird durch die Gewalt des Proletariats gegenüber der Bourgeoisie, eine Macht, die an keine Gesetze gebunden ist". (Lenin, W.: Die proletarische Diktatur des Proletariats und der Renegat Kautsky (November 1918), in: Lenin Werke, Bd. 28, Berlin 1959, S. 234).

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II. Die Entstehung einer sowjetischen Genossenschaftskonzeption

Das größte Hemmnis für eine forcierte EntwicklWlg eines Kapitalismus waren die Dorfgemeinden als Kernelemente der sozioökonomischen Struktur der russischen Gesellschaft und als Garanten der politischen Stabilität im agrarischen Bereich. Durch sie blieb die Tradition, das Land an die Familien nach Zahl der Arbeitsfähigen periodisch aufzuteilen10, aufrecht, eine Praxis, die jede ökonomische Differenzierung im Dorf von vornherein verhinderte. Ein derartiger Aufteilungsmodus ließ aber auch den Boden immer knapper werden Wld führte durch Bevorzugung der Großfamilien zu einem enormen BevölkefWlgszuwachs. Hemmend für eine kapitalistische Entwicklung wirkte sich auch die im Zuge der Bauernbefreiung festgeschriebene solidarische Steuerhaftung innerhalb der Dorfgemeinde aus, die jeden Produktionszuwachs durch eine Erhöhung des Anteils an der Gesamtsteuerlast bestrafte. Die starke Bindung der Bauern an ihre Gemeinde verhinderte die Freisetzung von landwirtschaftlichen Arbeitskräften, welche in der städtischen Industrie dringend gebraucht wurden. Unter diesen Bedingungen konnte sich in Rußland, anders als in den übrigen modernen kapitalistischen WirtschaftsordnWigen, eine Genossenschaftsbewegung, aufgebaut auf den geistigen Wurzeln des 19. Jahrhunderts, dem Liberalismus Wld dem Individualismus, nicht entwickeln. Wichtige Voraussetzungen, wie Egoismus, persönliches Wirtschaftsinteresse des einzelnen Wld ein Bedürfnis nach wirtschaftlicher Wld geistiger Freiheit gab es nicht. Ein erster Ansatz, diese Barrieren aufzubrechen, war die Agrarreform des Ministerpräsidenten Stolypin ( 1905), Wld man kann erst ab diesem Zeitpunkt auch von einer nennenswerten GenossenschaftsbewegWig in Rußland sprechen. Die Leninschen VorstellWigen über das Genossenschaftswesen vor der Oktoberrevolution waren im wesentlichen mit denen von Marx ident. Auch er hielt die Genossenschaften zur DurchsetzWlg gesellschaftlicher Veränderungen für Wlgeeignet und trat für ihren instrumentalen Einsatz zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft ein. Im Gegensatz zu Marx bevorzugte er aber die Konsumgenossenschaften, die seiner Meinung nach zur Integration der Arbeiterklasse und damit zur Erhöhung ihres revolutionären Potentials wesentlich mehr beitragen könnten als die Produktivgenossenschaften. Landwirtschaftliche Genossenschaften

Seine Grundeinsteilungen über den Wert und die Bedeutung der Genossenschaften im Kapitalismus entwickelte Lenin in der geistigen Auseinandersetzung

10 Deshalb wird die russische Dorfgemeinde in der Fachliteratur auch als Landverteilungsgemeinde oder Verteilungsgemeinde bezeichnet.

B. Lenins Interpretation der marxistischen Genossenschaftskonzeption

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mit den "Volkstümlem" (Narodniki) 11 und den Sozialrevolutionären12, die in ihren Konzeptionen den landwirtschaftlichen Genossenschaften eine besonders wichtige Rolle zuordneten.

11 Narodnik.i nannte man die Vertreter einer in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts in Rußland entstandenen politischen Bewegung, die sogenannte "narodnitschestwo".

"Narodnitschestwo" war ursprünglich der Name einer Theorie, die die Hegemonie der Massen über die gebildete Elite propagierte. Sie ging davon aus, daß Intellektuelle im Volk arbeiten sollten, und basierte auf dem Glauben, daß sich alle sozialen Veränderungen aus einem Mandat des Volkes herleiten müssen. Die Narodniki waren Schüler der Slawophilen, einer romantisch-nationalistischen Schule, die in Ablehnung des westeuropäischen Modells die Entwicklung der Gesellschaft Rußlands auf der Grundlage autochthoner gemeinwirtschaftlicher Einrichtungen anstrebten. A. Herzen und andere Slawophile meinten, daß Rußland das ganze soziale Elend des frühen freiwirtschaftliehen Industrialismus vermeiden, d.h. das Stadium der kapitalistischen Entwicklung überspringen und direkt auf der Basis von Landgemeinden zur sozialistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung übergehen könne. Die Volkstümler vertraten die Ansicht, daß der Kapitalismus im bäuerlichen Rußland keine Basis für seine Entwicklung habe, und beurteilten daher die kapitalistischen Elemente in Rußland als "zufällig". Im Mittelpunkt des Konzepts der Narodniki stand die Dorfgemeinde. Die Narodniki waren der Meinung, daß Rußland in die sozialistische ZUkunft aufbrechen würde, wenn die Dorfgemeinde den technischen Fortschritt des Landbaus sich aneignen könnte. Einen besonderen Platz in dieser Theorie der nichtkapitalistischen Entwicklung Rußlands hatten die Genossenschaften. Schon 1858 behauptete einer der berühmtesten ideologischen Vorgänger der Narodnik.i, Tschernischevskij, daß die Entwicklung der mechanischen und anderen Mittel für die Bearbeitung des Bodens zur Gründung von landwirtschaftlichen Genossenschaften führen werde, hielt aber auch die Entwicklung einer Großindustrie auf der Grundlage von Produktionsgenossenschaften für möglich. Wegen der kurzen Vegetationsperiode in Rußland trat man dafür ein, daß der ländliche Arbeiter die restliche zeitdes Jahres in industrieller Beschäftigung verbringen sollte. Diese Idee wurde bis in die 90er Jahre des 19. Jahrhunderts propagiert. 12 Nicht die liberal-bürgerlichen "Konstitutionellen Demokraten" (die Kadeten), noch weniger die weiter rechts stehenden, dem adeligen Grundbesitz und dem konservativen Bürgertum verbundenen Oktobristen waren die eigentlichen Kontrahenten der russischen Sozialdemokratie im Lager der Opposition gegen die Autokratie, sondern die Sozialrevolutionäre. Der Dauerkrieg zwischen den Sozialrevolutionären und den Sozialdemokraten prägte die russische revolutionäre Bewegung bis vor und kurz nach der Oktoberrevolution.

Die Sozialrevolutionäre waren Nachfolger der Narodniki, die eine Partei mit demselben Namen 1902 gegründet hatten. Im Unterschied zu den letzteren waren sie aber der Meinung, daß man das Stadium des Kapitalismus nicht völlig überspringen könne (Vgl. Worotzow, V.: Sudbi kapitalisma w Possii, Sankt Petcrsburg 1982). Infolge einer sehr spezifischen sozialgeschichtlichen Entwicklung Rußlands gab es im Zarenreich kein Bürgertum nach westeuropäischem Muster und damit auch keine "bürgerliche Öffentlichkeit". Aber auch als im Zuge der Industrialisierung städtische Schichten an Bedeutung gewannen, wuchsen sie nicht zum Antipoden der Autokratie heran, sondern blieben von dieser abhängig. In untercntwikkelten Gesellschaften ohne starkes Bürgertum übernimmt die städtische Intelligenz wichtige politische Funktionen. Es war diese Schicht, aus der sich die Elite der revolutionären Parteien, nämlich jene der Sozialdemokraten und der Sozialrevolutionäre, im rückständigen Rußland speiste. Die russischen Sozialdemokraten (die Menschewiki eindeutiger als die Bolschewi.ki) waren Fürsprecher einer vollen Entfaltung des Kapitalismus nach westeuropäischem Vorbild. Lenin behauptete sogar, daß das russische Proletariat an der "freiesten und raschesten Entwicklung des Kapitalismus unbedingt interessiert" sein müsse und versuchte dementsprechend nachzuweisen, daß kapitalistische Verkehrsformen die russische Wirtschaft, den agrarischen Sektor inbegriffen, längst beherrschten. (Vgl. Lenin, W.: Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland (1899), in: Lenin Werke, Bd. 3, Berlin 1968). Auf

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ll. Die Entstehung einer sowjetischen Genossenschaftskonzeption

Seine Einschätzung gegenüber den "Volkstürnlern" und den Sozialrevolutionären gipfelte in der polemischen Aussage, daß man die kapitalistische Entwicklung auf dem Lande durch die Gründung von Genossenschaften, die schon im Gange sei, nicht verhindern sollte. Man solle sich lieber auf den Klassenkampf konzentrieren und die "proletarisierten" Bauern für die proletarische Revolution gewinnen und so die Macht erobern 13 • Für Lenin - und hier steht er ganz auf dem Boden der Ideen von Marx - war die Eroberung der politischen Staatsgewalt durch das Proletariat die wichtigste Voraussetzung für den Aufbau einer neuen Gesellschaft. Aus seiner Polemik über die Volkstümlerund Sozialrevolutionäre entwickelte Lenin die These, daß sich die russische Dorfgemeinde schon längst auf dem kapitalistischen Weg befinde 14 • Er widersprach ihrer Ansicht, daß die Genossender anderen Seite forderten die Sozialrevolutionäre, den Kapitalismus auf den industriellen Bereich einzudämmen und plädierten für einen sofortigen Übergang zum Sozialismus durch eine von den ländlichen Massen getragene Revolution. Sie lehnten die Marxsche Lehre von der historischen Rolle des Proletariats als der einzigen revolutionären Klasse ab und traten dafür ein, daß das Bauerntum die führende Rolle in der sozialistischen Revolution übernehmen müsse, die von dem Proletariat und der Intelligenz unterstützt werde. Dabei gingen sie davon aus, daß dieser Schritt durch die kollektivistische Wirtschafts- und Sozialorganisation der russischen Dorfgemeinde ermöglicht und erleichtert werde. Im rückständigen Rußland offerierte dieser Agrarsozialismus somit zwischen dem bürgerlichen Kapitalismus und dem proletarischen Sozialismus einen dritten, nichtkapitalistischen Entwicklungsweg. Weiters forderten die Sozialrevolutionäre die Enteignung und die Aufteilung des Bodens, aber nicht zugunsten des Staates, sondern zugunsten der Bauemsehaft nach dem Schema: staatlicher Bodenbesitz - Durchführung der Übergabe des Bodens an die Bauern - Dorfgemeinschaft - Genossenschaft - Kollektivismus. "Der Bauer hat bereits Land und nutzt es meist in ausgleichender Verteilung - nötig ist, daß diese werktätige Nutzung bis zu Ende durchgeführt wird ... und durch die Entwicklung von Genossenschaften aller An in kollektiver landwirtschaftlicher Produktion ihre Krönung fmde." (Tschernow, W.: Programmnie woprosi. I. Sozialisazija zemli i kooperazija w selskom chosjaistwe, in: Revolutionnaja Rossija, 1914, Nr. 14, S. 5-8). Lenin dagegen bestritt den sozialistischen Charakter der Bauembewegung. "Sie vereinigt im Gegenteil die bürgerlichen und die proletarischen Elemente der Bauernschaft, die im Kampf gegen die Überreste der Leibeigenschaft tatsächlich einig sind. Die gegenwärtige Bauernbewegung führt zur Errichtung nicht einer sozialistischen und nicht einer halbsozialistischen, sondern einer bürgerlichen Ordnung auf dem Lande." (Siehe: Lenin, W.: Revolutionäres Abenteurerturn (September 1902), in: Lenin Werke, Bd. 6, Berlin 1968, S. 193). 13 Lenin, W.: Revolutionäres Abenteurerturn (September 1902), in: Lenin Werke, Bd. 6, Berlin 1959, s. 199. 14 Vgl. Lenin, W.: Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland, in: Lenin Werke, Bd. 3 (1899), Der Kapitalismus in der Landwirtschaft, in: Lenin Werke, Bd. 4 (1899), S. 95ff.; Die Agrarfrage und die "Marxkritiker", in: Lenin Werke, Bd. 5 (1901) u.a. Lenins Ausführungen gehen mit Kautskys Schlußfolgerungen in seinem damals von ihm hochgeschätzten Buch "Die Agrarfrage. Eine Übersicht über die Tendenzen der modernen Landwirtschaft und die Agrarpolitik der Sozialdemokratie" konform. Auch er bestätigt die Anwendbarkeit des von Marx formulierten Gesetzes über die Abnahme des variablen Kapitals im Verhältnis zum konstanten mit dem Fonschritt der Teclmik und der Intensivierung der Wirtschaft auf die russische Landwirtschaft und zieht den Schluß, daß die Landwirtschaft im Rahmen dieses Gesetzes einen eigenen Weg gehen wird. "Bezüglich der Landwirtschaft aber unterliegt es keinem Zweifel, daß in ihr der Entwicklungsprozeß unermeßlich komplizierter ist und unvergleichlich mannigfaltigere Formen annimmt." (Lenin, W.: Der Kapitalismus in der Landwirt-

8 . Lenins Interpretation der marxistischen Genossenschaftskonzeption

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schaften eine kapitalistische Entwicklung auf dem Lande verhindem würden, sondern sah in ihnen sogar Triebkräfte des Kapitalismus. "Die Genossenschaften der kleinen Landwirte sind natürlich ein Glied des ökonomischen Fortschritts, doch bringen sie den Fortschritt zum Kapitalismus, nicht aber zum Kollektivismus, wie man vielfach meint und behauptet."15 Die Entwicklung der Genossenschaften war für ihn ein Zeichen des Zerfalls und der sozialen Differenzierung in der Dorfgemeinde. "Die Genossenschaften verringern nicht den Vorsprung des landwirtschaftlichen Großbetriebes vor dem Kleinbetrieb, sondern vergrößern ihn, weil die großen Besitzer eher die Möglichkeit haben, Genossenschaften zu bilden, und diese Möglichkeit auch mehr ausnutzen."16 Deshalb waren die Genossenschaften für ihn keine Formen des Kollektivismus. "Denn es ist ein Betrug, wenn man behauptet, daß Genossenschaften aller Art in der modernen Gesellschaft eine revolutionäre Rolle spielen und den Kollektivismus, nicht aber die Stärkung der Dortbourgeoisie vorbereiten. " 17 Ähnlich äußerte sich Lenin über die Rolle der landwirtschaftlichen Genossenschaften im Kapitalismus in seinem Artikel "Über die Naturalsteuer" (1921). "Die Genossenschaften der kleinen Warenproduzenten (und von diesen als den vorherrschenden, für ein kleinbäuerliches Land typischen, ist hier die Rede, nicht aber von den Arbeitergenossenschaften) erzeugen Wlvermeidlich kleinbürgerliche, kapitalistische Verhältnisse, fördern deren Entwicklung, rücken kleine Kapitalisten in den Vordergrund und bieten ihnen die größten Vorteile."18 Seine Stellung zu den landwirtschaftlichen Genossenschaften vor der Oktoberrevolution läßt sich wie folgt zusammenfassen: Genossenschaften - sind ein Element des sozialen und des wirtschaftlichen Fortschritts der russischen Dorfgemeinde;

schaft'', in: I...enin Werke, Bd. 4, ( 1899), S. I 02). Besonderen Wen legt er aber auf die damals ausgelöste Diskussion über die Überlegenheit der Großbetriebe gegenüber den Kleinbetrieben. Ähnlich wie Kautsky vertritt er die Meinung, daß die Überlegenheit der Großbetriebe gegenüber den Kleinbetrieben keineswegs so absolut und einfach ist, wie man denkt. "In der Landwirtschaft aber, die sich durch unvergleichlich größere Kompliziertheit und Mannigfaltigkeit der Verhältnisse auszeichnet, ist die volle Anwendbarkeit des Gesetzes der Überlegenheit des Großbetriebes an bedeutend strengere Bedingungen geknüpft." (Lenin, W.: Der Kapitalismus in der Landwirtschaft", in: Lenin Werke, Bd. 4, (I 899), S. 110). Diese wichtige Schlußfolgerung wurde später von seinen Nachfolgern beim Aufbau der realsozialistischen Gesellschaft einheb übersehen. 15 Lenin, W.: Der Kapitalismus in der Landwirtschaft, in: I...enin Werke, Bd. 4, (1899) Berlin 1968, S. 111. 16 17 18

Lenin, W.: Der Kapitalismus in der Landwirtschaft, S. II I . Lenin, W. : Revolutionäres Abenteurerturn (1902), in: Lenin Werke, Bd. 6, Berlin 1968, S. 197. Lenin, W.: Über die Naturalsteuer (1921), in: Lenin Werke, Bd. 32, Berlin 1970, S. 360-361.

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II. Die Entstehung einer sowjetischen Gencssenschaftskonzeption

- bringen ihren Mitgliedern bestimmte Vorteile, sind aber nicht in der Lage, die soziale Differenzierung der ländlichen Bevölkerung zu verzögern, und tragen damit zur Etablierung des Kapitalismus auf dem Lande bei; - sind damit kapitalistische Unternehmen, die die Tendenz der kapitalistischen Konzentration in sich tragen; - im Kapitalismus als "Inseln" des Kollektivismus schaden dem Kampf des Proletariats um die politische Macht und erwecken die Illusion, daß durch die Verbreitung der Genossenschaftsbewegung eine sozialistische Gesellschaft auch auf einem friedlichen Weg, ohne proletarische Revolution, aufgebaut werden könnte. - können kein Mittel zur grundlegenden Umgestaltung der Gesellschaft sein und nicht als Elemente eines entstehenden Kollektivismus angesehen werden. Konsumgenossenschaften

Etwas differenzierter waren Lenins Aussagen zu den Konsumgenossenschaften. Die Arbeiterkonsumgenossenschaften standen damals unter dem Einfluß der Menschewiki, während sich die Bolschewiki gegenjede Tätigkeit in den legalen Arbeiterorganisationen aussprachen und sich von allen "opportunistischen" Maßnahmen, die der Arbeiterklasse gewisse Vorteile innerhalb der kapitalistischen Ordnung bringen könnten, distanzierten. Lenin bezog in seinem Artikel "Das letzte Wort der "iskristischen" Taktik oder eine Wahlkomödie als neuer Impuls, der zum Aufstand anregt" zu den Sozialdemokraten menschewistischer Richtung wie folgt Stellung. "Nehmen wir an, daß nicht von einer demokratischen, sondern von einer sozialistischen Umwälzung die Rede ist. Die Krise reift heran, die Epoche der Diktatur des Proletariats nähert sich. Und nun stellen die Opportunisten die Losung Konsumgenossenschaften, die Revolutionäre die Losung Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat in den Vordergrund. Die Opportunisten argumentieren: Die Konsumgenossenschaften sind eine reale Kraft der Proletarier, die Eroberung einer realen ökonomischen Position, ein wirkliches Stückehen Sozialismus; ihr Revolutionäre versteht nicht die dialektische Entwicklung, dieses Hinüberwachsen des Kapitalismus in den Sozialismus, dieses Eindringen sozialistischer Zellen ins tiefste Innere des Kapitalismus, diese Aushöhlung des Kapitalismus durch einen neuen, einen sozialistischen Inhalt. Die Revolutionäre waren damit einverstanden, daß die Konsumgenossenschaften im gewissen Sinne ein Stückehen Sozialismus sind. Erstens ist die sozialistische Gesellschaft eine einzige große Konsumgenossenschaft mit planmäßig organisierter Produktion für die Konsumtion; zweitens kann man den Sozialismus ohne eine mächtige, vielseitige Arbeiterbewegung nicht verwirklichen, und eine dieser vielen Seiten bilden unbedingt die Konsumgenossenschaften. Aber das ist nicht das Entscheidende. Solange die Macht in den Händen der Bourgeoisie bleibt, so lange bleiben die Konsumgenossenschaften ein klägliches Stückchen, das keine ernsten Änderungen verbürgt, keine

B. Lenins Interpretation der marxistischen Genossenschaftskonzeption

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entscheidenden Änderungen bewirkt, ja manchmal sogar vom ernsten Kampf für den Umsturz ablenkt. Die von den Arbeitern in den Konsumgenossenschaften gewonnenen Erfahrungen sind unbestreitbar sehr nützlich. Aber Spielraum für eine ernsthafte Verwertung dieser Erfahrungen kann nur der Übergang der Macht in die Hände des Proletariats schaffen."19 Insofern findet sich also auch bei Lenin, Marx folgend, die Befürchtung wieder, daß die Genossenschaften ein Hemmschuh auf dem Wege zur kommunistischen Gesellschaft sein könnten. Es läßt sich aber auch ein wesentlicher Unterschied zwischen Marx und Lenin in ihrem Urteil über den Wert und die Bedeutung genossenschaftlicher Kooperation im Kapitalismus feststellen. Während Marx, wie bereits ausgeführt, über den "Demonstrationseffekt" hinaus den Genossenschaften keinerlei Wert zumißt, sieht Lenin in ihnen Ansatzpunkte für eine Kampforganisation der Arbeiter. Worauf es ankomme, meint Lenin, sei eben, "parteimäßig Konsumvereine zu gründen", sie zu "Stätten sozialdemokratischer Propaganda, Agitation und Organisation" zu machen20, um auf diese Weise kleinbürgerliche Interpretationen der Genossenschaftsidee bereits im Keime zu ersticken. Er bestand deshalb auf einer unmittelbaren politischen Ausrichtung der Konsumgenossenschaften. "Für Sozialdemokraten sind nur solche Arbeitervereine wirklich selbständig, die von sozialdemokratischem Geist durchdrungen sind, und nicht nur von diesem 'Geist' durchdrungen, sondern auch taktisch und politisch dadurch mit der Sozialdemokratie verbunden sind, daß sie der Sozialdemokratischen Partei angehören oder sich an sie anlehnen. •'lt Damit waren Marx und Lenin hinsichtlich der Bedeutung einzelner Genossenschaftsformen für die Arbeiterklasse konträrer Ansicht22• Während Marx die Errichtung von Produktivgenossenschaften als kommunistische Demonstrationsmodelle forderte, setzte Lenin auf die Konsumgenossensschaften, da bei

19 Lenin, W.: Das letzte Won der "iskristischen" Taktik oder eine Wahlkomödie als neuer Impuls, der zum Aufstand anregt (Oktober 1905), in: Lenin Werke, Bd. 9, Berlin 1957, S. 369. 20 Lenin, W.: Intelligenzlerische Kämpen gegen die Herrschaft der Intelligenz (März 1907). in: Lenin Werke, Bd. 12, Ber1in 1959, S. 314. 21 Lenin, W.: Intelligenzlerische Kämpen gegen die Herrschaft der Intelligenz (März 1907), in: Lenin Werke, Bd. 12, Berlin 1959, S. 313. 22 Das war typisch für die Sozialdemokratie dieser Zeit. Ursprünglich hatte sie, wie Marx es empfohlen hatte, die Produktivgenossenschaften im Auge. Diese erwiesen sich aber am instabilsten. Die fast überall eintretenden Zusammenbrüche dieser Form (insofern sie nicht Abteilungen der Konsumgenossenschaften waren) bewirkte eine Distanz gegenüber den Produktivgenossenschaften. Dies fühne sogar dazu, daß in der Resolution des Kopenhagener Kongresses das Won "Produktivgcnossenschaft" nur ein einziges Mal Erwähnung fmdet, wobei aber auch hier nur von einer Produktion für den organisienen Konsum gesprochen wurde. (Sinowjew, G.: Die Sozialdemokratija i kooperazija, Sozialdemokrat vom 8.11 .1910, zitien nach: Genossenschaft im Klassenkampf, Moskva 1925, S. 283).

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II. Die Entstehung einer sowjetischen Genossenschaftskonzeption

ihnen die einzelwirtschaftliche Intention nicht so stark zum Ausdruck kommt wie bei den Produktivgenossenschaften, in denen er nur Genossenschaften der Kleinunternehmer und Großbauern sah23 • Lenin sah in Konsumgenossenschaften als Zusammenschlüsse von Arbeitern eine Waffe und damit ein Hilfsmittel für den proletarischen Kampf. Diese seine Grundintention zur Genossenschaftsfrage findet sich auch - komprimiert - im Resolutionsentwurf wieder, den die Delegation der russischen Sozialdemokraten auf dem Sozialistenkongreß in Kopenhagen im Jahre 1910 vorlegte24 • Für die Kommission für Genossenschaftswesen, in der Lenin die russischen Sozialdemokraten vertrat, schreibt er: 1.

Den "proletarischen Konsumgenossenschaften" wird zugestanden, daß sie durch die Ausschaltung des Zwischenhandels den Grad der Ausbeutung in gewisser Weise zwar einschränken können, daß aber auf der anderen Seite diese Verbesserungen so lange unbedeutend sind, wie sich die politische Macht nicht in den Händen des Proletariats befindet.

2.

Den Genossenschaften wird konzediert, daß sie im ökonomischen und politischen Kampf des Proletariats eine nützliche Rolle spielen können, indem sie die Arbeiter bei Streiks, Aussperrungen und politischen Verfolgungen unterstützen. Falsch sei jedoch die Interpretation der Genossenschaften als Mittel, mit dessen Hilfe der Kapitalismus ohne Klassenkampf, ohne Gewalt in eine neue Gesellschaft überführt werden könne. Als Folgerung wird daraus die Empfehlung an die Arbeiter abgeleitet, in die "proletarischen Konswngenossenschaften" einzutreten und sie zu einer Stätte sozialistischer Propaganda und der Verbreitung der Ideen des Klassenkampfes zu machen.

23 Lenin schloß aber die Möglichkeit, die Produktionsgenossenschaften für den Klassenkamkampf einzusetzen, nicht vollkommen aus. Im Resolutionsentwurf der russischen sozialdemokratischen Delegation auf dem Internationalen Sozialistenkongreß in Kopenhagen findet sich die Aussage, "daß die Produktionsgenossenschaften für den Kampf der Arbeiterklasse nur dann Bedeutung haben, wenn sie ein Bestandleil der Konsumgenossenschaften sind." (Lenin, W.: Resolutionsentwurf der russischen sozialdemokratischen Delegation auf dem Kopenhager Kongreß über die Genossenschaften (August 1910), in: Lenin Werke, Bd. 16, Berlin 1971, S. 268). 24 Lenin, W. : Die Frage der Genossenschaften auf dem Internationalen Sozialislenkongreß in Kopenhagen(Oktober 1910), in: Lenin Werke, Bd. 16, Berlin 1971, S. 281.

C. Die Genossenschaftstheorie des "realen Sozialismus" im Kriegskommunismus

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C. Die Genossenschaftstheorie des "realen Sozialismus" im Kriegskommunismus Dem Sturz der Provisorischen Regierung im Oktober 1917 als erstem Schritt zur Beseitigung der alten kapitalistischen und zum Aufbau einer neuen sozialistischen Gesellschaftsordnung folgte auch eine Auseinandersetzung der neuen Machthaber mit der Genossenschaftsfrage. Die primären Ziele der Sowjetmacht nach ihrer putschartigen Machtergreifung in der "Oktoberrevolution" waren zunächst auf die Beseitigung und Vergesellschaftlichung des Privateigentums und damit auf die Bildung von Staatseigentum als die wichtigste Voraussetzung für den Aufbau eines warenlosen Wirtschaftssystems ausgerichtet. Man glaubte, mit der Abschaffung des Privateigentums das kapitalistische Wirtschaften und damit auch das System des Selbstwirtschaftens beseitigen zu können. Man verschwendete keinen Gedanken darüber, wie ein Privatproduzent oder -händler in einem sozialistischen System agieren könne. Auf der Tagesordnung stand die Zerschlagung der selbständigen Produktion und damit auch der originären Existenzgrundlage der Genossenschaften. Die katastrophale Versorgungslage zwang Lenin aber bald, zur Überwindung von Engpässen auf die Genossenschaften zurückzugreifen, um ihnen letztlich in der Periode der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) wiedereinen zentralen Platz im Aufbau der sozialistischen Gesellschaft einzuräumen. Der Staatskapitalismus Gekennzeichnet war diese erste Periode der Sowjetmacht durch zahlreiche Widersprüche. Einerseits strebten die Bolschewiki nach einer wortgetreuen Erfüllung der in ihrem Parteiprogramm verankerten politischen Ziele, andererseits mußten sie aber mit den konkreten Anforderungen des Augenblicks fertig werden, die sie bald zwangen, in ihrer praktischen Politik Kompromisse einzugehen. Aus diesem Zwiespalt heraus sind auch die neuen theoretischen Überlegungen zum Genossenschaftswesen in dieser Periode zu verstehen, geprägt von einer sich permanent verändernden Position der Genossenschaften im Rahmen der Schaffung eines neuen Wirtschaftssystems, ähnlich wie sich auch im Denken Lenins ein evolutionärer Prozeß von einer völligen Ablehnung der Ware-GeldBeziehungen und des Marktmechanismus bis zur Akzeptanz, daß der sozialistische Aufbau einerneuen Gesellschaft ohne Warenproduktion und Marktmechanismen nicht machbar wäre, nachvollziehen läßt . Am Anfang dieser Periode ging Lenin, Marx und Engels folgend, noch davon aus, daß im Sozialismus jede Warenproduktion beseitigt werden müsse und das Weiterbestehen einer Kleinproduktion und damit von Kleinproduzenten mit der Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft unvereinbar wäre und damit auch

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II. Die Entstehung einer sowjetischen Genossenschaftskonzeption

jede Voraussetzung für die Weiterentwicklung gewerblicher und Iandwirtschaftlieber Genossenschaften fehle. Die Bolschewiki hatten nach der "Oktoberrevolution" die politische Macht, oder genauer gesagt, die Regierungsgewalt in Petersburg, in einem überwiegend agrarisch strukturierten, ökonomisch und zivilisatorisch rückständigen, durch Krieg und Wirtschaftskrise zerrütteten Land übernommen und mußten zunächst alles daran setzen, diese zu festigen, die Staatsmaschinerie voll in ihre Gewalt zu bekommen und die ökonomischen "Kommandohöhen" zu besetzen. Um die Bauemsehaft für sich zu gewinnen, sozialisierten sie in einem ersten Schritt den Grund und Boden25 • Sie wußten, daß ihre dringlichste Aufgabe die rasche Bekämpfung der Wirtschaftskrise war, um so die Versorgung der Bevölkerung, der Verwaltung und der Armee garantieren und damit ihre politische Position stabilisieren zu können. Das zentrale Ziel der neuen Machthaber in den ersten Monaten nach der Revolution war zu überleben26 • Die zum Einsatz kommende ordnungspolitische Konzeption dieser ersten Monate nach der Revolution basierte auf Lenins "Aprilthesen" (1917), die auf dem VI. Parteitag beschlossen worden waren und die Lenin durch seine bekannte Formulierung, nicht die Einführung des Sozialismus sei die unmittelbare Aufgabe, "sondern augenblicklich nur der Übergang zur Kontrolle über die gesellschaftliche Produktion und die Verteilung der Erzeugnisse"27 , selbst am treffend-

25 Um ihre politische Macht zu festigen, benötigten die Bolsehewild die Unterstützung breiter Bevölkerungsschichten, d.h. auch jene der Bauern. Das setzte aber voraus, daß sie deren Forderungen nach Friedenssicherung und nach einer Agrarreform nachkamen. Die Partei der Sozialrevolutionäre, die während der Februarrevolution an die Macht gekommen war, hatte die Erwartungen der Bauern nicht erfüllen können. Statt Friedensschließung hatte sie, unter westalliiertem Druck, im Juli 1917 eine Offensive befohlen, und die Gesetzesentwürfe für eine Agrarreform waren an der Obstruktion der Koalitionsparteien gescheitert. Deshalb sah sich die bolschewistische Macht veranlaßt, diesen beiden Forderungen so rasch wie möglich nachzukommen. Sie verabschiedeten ein Bodensozialisierungsgesetz, dem das Agrarprogramm der Partei der Sozialrevolutionäre zugrundelag und mit dem das Privateigentum an Grund und Boden aufgehoben und die Ländereien des Staates, der Kirche und der Gutsherren nationalisiert wurden. Die neuen Nutzungsrechte wurden an jene Bürger übertragen, die "den Boden mit ihren Händen bearbeiten wollten". Die Kontrolle dieser Landverteilung oblag den lokalen Komitees und Räten. Mit diesem Gesetz wurden die bereits nach der Februarrevolution vorgenommene Landbesetzungen und Landaufteilungen der landlosen Bauern legalisiert.

Auf die Kritik Kautskys, dieses Gesetz widerspreche den Marxschen Vorstellungen, erwiderte Lenin: "Das ist nicht unsere Idee, wir sind mit einer solchen Lösung nicht einverstanden, wir halten es aber für unsere Pflicht, sie durchzuführen, weil sie die Forderung der überwältigenden Mehrheit der Bauern ist" (Lenin, W.: Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky (November 1918), in: Lenin Werke, Bd. 28, Berlin 1959, S. 310. 26 Vgl. Lenin, W.: Werden die Bolschewiken die Staatsmacht behaupten? (Oktober 1918), in: Lenin Werke, Bd. 26, Berlin 1961, S. 72. 27 Lenin, W.: Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution (April 1917), in: Lenin Werke, Bd. 24, Berlin 1972, S. 6.

C. Die Genossenschaftstheorie des "realen Sozialismus" im Kriegskommunismus

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sten charakterisiert hat. Es war jene Konzeption, die er später auch mit der Formel "Kontrolle, Aufsicht, Rechnungsführung" als Staatskapitalismus bezeichnete, wobei er aber darunter nur die Überwachung des Wirtschaftsprozesses und damit der ökonomischen Entscheidungen der kapitalistischen Betriebe durch Organe der neuen bolschewistischen Macht verstand28 • Die von den Bolschewiki zwischen November 1917 und Mai 1918 gesetzten Maßnahmen zielten auf Arbeiterkontrolle29 , auf die Verstaatlichung ausgewählter Wirtschaftsbereiche und auf den Aufbau eines zentralen Wirtschaftslenkungsapparates. Die Überführung derprivaten Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum wurde von der neuen Staatsgewalt zunächst sehr vorsichtig in Angriff genommen, da auch Lenin wußte, welche katastrophalen Folgen eine übereilte Verstaatlichung zu diesem Zeitpunkt für die Volkswirtschaft Rußlands bedeutet hätte. Er forcierte nicht eine Politik der sofortigen Verstaatlichung aller Produktionsmittel und damit einen unmittelbaren Übergang zum Sozialismus, sondern eine Verstaatlichung, wie sie aufgrund der gegebenen Möglichkeiten machbar war. Zum Aufbau der staatskapitalistischen Wirtschaftskontrolle wurden zunächst die Banken "nationalisiert"30 und die Privatbetriebe, aber auch hier zunächst nur die großen und mittleren Industriebetriebe, zu staatlich kontrollierten Wirtschaftsverhänden zusammengeschlossen.

2B In seinem Buch "Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus"' venrat Lenin die These, daß der ursprüngliche Konkurrenzkapitalismus sich zum Monopolkapitalismus weitcrentwikkeln werde, und jener in zunehmendem Maße Tendenzen eines staatlich regulienen, eines "staatsmonopolistischen" Kapitalismus aufweisen werde. Wenn aber das Proletariat an die Macht kommt und dieser "staatsmonopolistische" Kapitalismus sich unter den Bedingungen eines "revolutionär-demokratischen" Staates weiterentwickelt, dann sei er "nichts anderes als staatskapitalistisches Monopol, das zum Nutzen des ganzen Volkes angewandt wird und dadurch aufgehölt hat, kapitalistisches Monopol zu sein." (Lenin, W.: Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll (September 1917), in: Lenin Werke, Bd. 25, Berlin 1972, S. 369). Der "staatsmonopolistischc" Kapitalismus war für Lenin "die vollständigste materielle Vorbereitung des Sozialismus" (Lenin, W.: Die drohende Katastrophe, S.370). Er bedeute zwar noch nicht die Einführung des Sozialismus, war aber ein erster Schritt in die richtige Richtung, da man den Sozialismus nicht per Dekret einführen könne. 29 Lenin, W.: Entwurfvon Bestimmungen über die Arbeiterkontrolle (November 191 7), in: Lcnin Werke, Berlin 1961, Bd. 26, S. 267.

Arbeiterkontrolle bedeutete, daß in allen Betrieben mit mehr als fünf Arbeitern und mindestens 10.000 Rubeln Jahresumsatz aus der Mitte der Arbeiter und Angestellten ein Gremium gewählt werden mußte, welches das Recht hatte, alle winschaftlichen Akte der Betriebsleiter, die in der Regel noch die Eigentümer waren, zu kontrollieren. 30 Das geschah aber nicht in der Form der Enteignung der Bankaktionäre, sondern durch Vereinigung aller Banken zu einer einzigen Staatsbank.

4 Todev/Rönnebeck/Brazda

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II. Die Entstehung einer sow.ietischen Genossenschaftskonzeption

Die Konsumgenossenschaften

Ein wesentliches Element der Leninschen Staatskapitalismuskonzeption waren die Konsumgenossenschaften. Sie sollten die Regulierung des Verbrauchs übernehrnen31 , indem man durch Anordnung die ganze Bevölkerung zu ihren Mitgliedern machen und sie so von kapitalistischen zu sozialistischen Genossenschaften transformieren wollte: "Hier schlägt die Quantität in Qualität um. Die Genossenschaft ist eine kleine Insel in der kapitalistischen Gesellschaft, ist ein Krärnerladen. Die Genossenschaft ist jedoch Sozialismus, wenn sie die gesamte Gesellschaft urnfaßt, in der der Boden sozialisiert, die Fabriken und die Werke nationalisiert sind. " 32 Mit dem "Entwurf eines Dekrets über die Konsurnkornrnunen"33 wollte Lenin im Jänner 1918 die Konsumgenossenschaften in eine vorn Staat regulierte Verteilungsorganisation umwandeln. Der Entwurf sah vor, - alle Staatsbürger zu Mitgliedern lokaler Konsumgenossenschaften zu machen, - daß jede Konsumgenossenschaft, außer dem Kauf und der Verteilung von Produkten, auch den Absatz der lokalen Erzeugnisse übernehmen sollte. Die Vorstände der Konsumgenossenschaften sollten dazu Versorgungskomitees bilden, die mit schriftlichen Bescheinigungen den Transport der Produkte regulieren sollten, - daß alle Versorgungskomitees nur unter der Kontrolle und nach Weisungen der örtlichen Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten arbeiten durften, - als Verpflichtung für jeden Sowjet, eine Gruppe von Kontrolleuren, Revisoren und Instruktoren zu bilden, die die Bevölkerung bei der Organisierung der Konsumgenossenschaften (Versorgungskornitees) unterstützen und ihre Rechnungsführung sowie gesamte Geschäftsführung überwachen sollte. Dieser Plan stieß aber bei den bestehenden Konsumgenossenschaften auf erbitterten Widerstand. Außer einer kleinen Gruppe von Bolschewiken innerhalb der Genossenschaften sprachen sich ihre Vertreter gegen diesen Entwurf aus.

" "Der Kapitalismus hat uns als Erbe Massenorganisationen hinterlassen, die den Übergang zur Rechnungsführung und Kontrolle durch die Massen bei der Veneilung der Produkte erleichtern können- die Konsumgenossenschaften." (Lenin, W.: Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht (April 1918), in: Lenin Werke, Bd. 27, Berlin 1960, S. 245). 32 Lenin, W. ; Ursprünglicher Entwurf des Artikels "Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht" (März 1918), in: Lenin Werke, Bd. 27, Berlin 1960, S. 205. 33 Lenin, W.: Entwurf eines Dekrets über die Konsumkommunen (Januar 1918), in: Lenin Werke, Bd. 26, Berlin 1961, S. 415.

C. Die Genossenschaftstheorie des "realen Sozialismus" im Kriegskommunismus

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Selbst die Arbeiterkonsumgenossenschaften lehnten auf ihrem außerordentlichen Kongreß Ende März 1918 diesen Entwurf ab und forderten die volle Anerkennung ihrer Unabhängigkeit. Sie räumten allerdings ein, daß die Genossenschaften im Interesse der Konsumenten zu einer Übereinkunft mit den staatlichen Organen kommen müßten. Eine Zusammenarbeit mit staatlichen Organen war für sie akzeptabel, da ihnen die vom Staat zugedachte Aufgabe- die organisierte Verteilung der Lebensmittel- nicht fremd war. Lenin sah sich vor die Alternative gestellt, entweder auf seiner Forderung nach einem gesamtgesellschaftlichen Verteilungssystem zu beharren, aber mit der Gefahr, eine offene oder versteckte Sabotage seitens der Spezialisten innerhalb der Konsumgenossenschaften herauszufordern, oder einen alternativen Weg vorzuschlagen, um die Genossenschafter zur Mitarbeit am Aufbau seines Staatskapitalismus zu gewinnen. Ihm war klar, daß die Beharrung auf seinem Entwurf und damit das Heraufbeschwören eines Boykotts seitens der Genossenschafter unweigerlich zu einem Zusammenbruch des gesamten Verteilungssystems und in der Folge der gesamten Volkswirtschaft geführt hätte und damit auch zum Sturz des Regimes und zum Verlust des bisher Erreichten. Ein solches Wagnis wollte er nicht eingehen und schlug deshalb vor, gemeinsam mit den Konsumgenossenschaften ein neues Dekret auszuarbeiten. Sofort nach dem Märzkongreß der Arbeiterkonsumgenossenschaften begannen die Beratungen darüber, nun aber unter Einbeziehung von Vertretern der Konsumgenossenschaften, die ihre Wünsche und Einwendungen geltend machen konnten. Jene Bestimmungen des alten Entwurfs, die bei den Genossenschaftern am stärksten Widerspruch hervorgerufen hatten, waren in dem neuen Dekret vom 10. April 191834 dann auch tatsächlich nicht mehr enthalten. Damit war es den Konsumgenossenschaften zunächst noch gelungen, sich mit nur geringen Konzessionen an die Regierung ihre Unabhängigkeit zu bewahren.

34 Vgl. Dekret soveta narodnich kommissarov o potrcbitelskich kooperativnich organisazijach, in: Reschenija partii i pravitelstva po chosjaistvennirn voprosam (191 7-1 967) tom I, 1917-1928 godi, Moskwa 1967, S. 48. Diesem Dekret war aber eine Resolution hinzugefügt, die ausdrücklich fcsthielt, daß dieser Kompromiß nur eine vorübergehende Lösung sein sollte. "Das Dekret stellt ein Abkommen dar mit den bürgerlichen Genossenschaften und mit den Arbeitergenosscnschaften, die auf dem bürgerlichen Standpunkt verharren. Das Abkommen oder der Kompromiß besteht erstens darin, daß die Vertreter der genannten Institutionen nicht nur an der Erörterung des Dekrets teilnahmen, sondern auch faktisch beschließendes Stimmrecht erhielten, denn Teile des Dekrets. die auf eine entschiedene Opposition dieser Institutionen stießen, wurden fallengelassen. Zweitens besteht das Kompromiß dem Wesen nach in einem Verzicht der Sowjetmacht auf das Prinzip des unentgeltlichen Eintrills in die Genossenschaft (das einzige konsequent proletarische Prinzip), ebenso wie auch auf die Zusammen· fassung der gesamten Bevölkerung der jeweiligen Gegend in einer einzigen Genossenschaft." (Lenin, W.: Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht (März 1918), Lenin Werke, Bd. 27, S. 246).

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li. Die Entstehung einer sowjetischen Genossenschaftskonzeption

Aufrecht blieb die Verpflichtung der Konsumgenossenschaften, die gesamte Bevölkerung unter Beachtung der von den staatlichen Organen festgesetzten Verteilungsnormen zu versorgen. Da sie das aber ohnehin schon in den letzten Kriegsjahren getan hatten, stellte es für sie kein echtes Zugeständnis an die Bolschewiken dar, sondern war lediglich ein Ausdruck ihrer Bereitschaft, bei der Überwindung der Versorgungskrise mitzuwirken. Aufgehoben wurde die zwangsweise Zusammenfassung der Konsumgenossenschaften eines Ortes zu einer Konsumkommune; Arbeiter- und bürgerliche Konsumgenossenschaften durften weiterhin nebeneinander bestehen bleiben, jedoch mit der Einschränkung, daß es nicht mehr als zwei an einem Ort sein durften. Weiters setzten die Konsumgenossenschaften einen fast vollständigen Verzicht seitens der Regierung, betreffend ihrer Forderung nach einem unentgeltlichen Eintritt in die Genossenschaften, durch. Sie akzeptierten lediglich, daß für einen bestimmten Personenkreis mit geringem Einkommen das Eintrittsgeld nicht mehr als 50 Kopeken betragen durfte. Die Bestimmung über die Entfernung "bürgerlicher" Vorstandsmitglieder wurde insofern entschärft, als zukünftig die Besitzer und Leiter privatkapitalistischer Handels- und Industriebetriebe nicht mehr in die Vorstände der Konsumgenossenschafen hineingewählt werden durften. Von der geplanten Unterordnung der Konsumgenossenschaften unter staatliche Organe, wie sie der ursprüngliche Entwurf noch vorgesehen hatte, war im Aprildekret eine freiwillige Zusammenarbeit in Form einer Mitarbeit der Leiter der Verbände in den staatlichen Versorgungsorganen übriggeblieben. Eine direkte Einflußmöglichkeit staatlicher Behörden war nur mehr insoweit vorhanden, als das "Volkskommissariat für Nahrungsmittelversorgung" Formen und Fristen der Rechenschaftslegung festsetzen konnte. Lenins Entscheidung, den Genossenschaften diese Zugeständnisse zu machen, war aber nur ein Schachzug, der ihm allein von seiner ökonomischen und politischen Rationalität diktiert wurde. Er wußte, daß das wichtigste Ziel in den Wirren dieser nachrevolutionären Zeit - die Behauptung der Macht - nur durch eine Stabilisierung der wirtschaftlichen Lage zu erreichen war. Wesentliche Voraussetzung dafür war die freiwillige Mitarbeit der Spezialisten und leitenden Genossenschaftsfunktionäre im Verteilungssektor. Da die Bolschewiken über derartige Spezialisten in den eigenen Reihen nicht verfügten, war der konsumgenossenschaftliche Apparat ohne das Know-how der Genossenschafter für sie nicht einsetzbar. "Wenn das Proletariat vermittels der Sowjetmacht es vermocht hätte, die Rechnungsführung und Kontrolle im gesamtstaatlichen Maßstab oder zumindest die Grundlagen einer solchen Kontrolle zu organisieren, dann wären derartige Kompromisse nicht nötig. Durch die Lebensmittelabteilungen der Sowjets, durch die Versorgungsorgane bei den Sowjets hätten wir die Bevölke-

C. Die Genossenschaftstheorie des "realen Sozialismus" im Kriegskommunismus

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rung zu einer einzigen proletarisch geleiteten Genossenschaft zusammengefaßt. "35 Einen Kurswechsel der bolschewistischen Wirtschaftspolitik leitete der Bürgerkrieg ein, und der Staatskapitalismus wurde vom Kriegskommunismus abgelöst36. Angesichts einer sich immer mehr verschärfenden Wirtschaftskrise sahen sich die Bolschewiken veranlaßt, zu einer militärischen Organisation der Produktion und der Versorgung überzugehen. Um einer drohenden Hungerkatastrophe vorzubeugen und alle verfügbaren Ressourcen in den Dienst der Armee zu stellen, wurden die allgemeine Arbeitspflicht, die Ablieferungspflicht aller Lebensmittelüberschüsse für die Bauern und ein Getreidemonopol eingeführt, der Privathandel mit Getreide und anderen wichtigen Verbrauchsgütern überhaupt untersagt37 und die Verstaatlichungen im Industrie- und Handelssektor wieder forciert. Am 16. März 1919 erließ der Rat der Volkskommissare das Dekret "über die Konsumkommunen"38 • Mit unwesentlichen Abweichungen war es mit jenem Entwurf, den Lenin Anfang Januar 1918 aus ökonomischer Zweckmäßigkeit zurückgezogen hatte, ident. In der Folge wurden die Arbeiter- und bürgerlichen Konsumgenossenschaften zu einheitlichen Verteilungsorganen, den "Konsumkommunen", verschmolzen und ihnen sämtliche Läden, Produktionsbetriebe und Lager übertragen. Jeder Bürger wurde verpflichtet, der Konsumkommune seines Bezirkes, in dem er seinen Wohnsitz hatte, beizutreten und sich bei einer ihrer Verteilungsstellen einzuschreiben.

" Lenin, W.: Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht (MärL 1918), Berlin 1960, Bd. 27, S. 246. •• Erste Änderungen in der Politik des Staatskapitalismus zeichneten sich bereits im März 1918 ab, nachdem nach Abschluß des Friedensvertrages von Brest-Litowsk innerhalb der Bolschewiki die weitere Wirtschaftspolitik zur Diskussion stand. Die "linken Kommunisten" forderten einen sofortigen Übergang zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft unter Vermeidung der von Lenin für notwendig gehaltenen Zwischenphase des Staatskapitalismus und setzten ihre Vorstellungen auf dem ersten Kongreß der Volksdeputierten auch durch. Aber erst der Ausbruch des Bürgerkrieges brachte eine Änderung des wirtschaftspolitischen Kurses. " Wegen der zentralen Bedeutung der Ernährungslage und der katastrophalen Lebensmiuclversorgung in den Städten schrill man auf dem Lande schon im Mai 1918 zu Getrciderequisitionen, wobei man in zunehmendem Maße zu Zwangsmaßnahmen griff und versuchte, die als Verbündete betrachteten Kleinbauern gegen die angeblich Getreide hortenden und zurückhaltenden "Kulaken" auszuspielen. Es wurde erklärt, man wolle den Klassenkampf auf das Land tragen, und gründete sogenannte Dorfarmenkomitces, die das Recht der Getreidebeschlagnahme und der Umverteilung von Land, Vieh und Ausrüstungen hatten. Nachdem sich die Dorfarmenkomitees aber als Fehlschlag erwiesen hatten -sie versorgten sich mit dem requirierten Getreide vor allem selbst-, wurden sie durch bewaffnete Arbeiterabteilungen ersetzt, die die requirierten Lebensmiuel an das Volkskommissariat für Verpflegung abzuliefern hatten. •• Vgl. Dekret soveta narodnych kommissarov o potrebitelskich kommunach, in: Rcschenija partii i pravitelstva, tom I, 1917-1928 god, Moskwa 1967 S. 129.

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II. Die EntstehWlg einer sowjetischen Genossenschaftskonzeption

Auch die freiwillige Zusammenarbeit mit dem Volkskommissariat für Nahrungsmittelversorgung, wie sie noch das Aprildekret vorgesehen hatte, fand durch diese neuen Bestimmungen ein jähes Ende. Die Konsumkommunen und ihre Verbände durften ab nun nur mehr aufgrund von Verordnungen und Weisungen staatlicher Organe arbeiten. Zur Überwachung der Befolgung dieser Anweisungen bekamen die Behörden des Kommissariats das Recht zugesprochen, jeweils einen Vertreter in die Vorstände der Konsumkommunen, in die Gouvernementsverbände und in den Centrosojuz zu entsenden. Der Eintritt in die Konsumkommunen war unentgeltlich, und ihre Finanzierung übernahm der Staat. Damit waren die Konsumgenossenschaften in das System des Volkskommissariats für Nahrungsmittelversorgung voll eingegliedert und zu staatlichen Organen geworden. Mit dieser Umwandlung der Konsumgenossenschaften in Konsumkommunen sollte nicht nur das Ladennetz der Konsumgenossenschaften zur Versorgung der Bevölkerung herangezogen werden, diese Maßnahme war dem kommunistischen Ideal, die gesamte Bevölkerung zu einer Genossenschaft zusammenzuschließen, folgend ein bewußtes Glied in einer Kette von wirtschaftspolitischen Maßnahmen zur Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft:. "Die Aufgabe der Sowjetmacht nach der politischen und ökonomischen Expropriation der Bourgeoisie besteht offenbar (hauptsächlich) darin, die genossenschaftlichen Organisationen auf die gesamte Gesellschaft auszudehnen, ausnahmslos alle Bürger des bestreffenden Landes zu Mitgliedern einer gesamtnationalen, oder richtiger, gesamtstaatlichen Genossenschaft zu machen."39 Die Konsumgenossenschaften waren hierfür ein anschauliches Beispiel. "Der Genossenschaftsapparat ist ein Versorgungsapparat, eingestellt nicht auf die Privatinitiative, sondern auf die Massenteilnahme der Werktätigen, und Kautsky hatte recht, als er, lange bevor er zu den Renegaten überging, sagte, die sozialistische Gesellschaft sei eine ungeheure Konsumgenossenschaft."40 Die Umwandlung der Genossenschaften in Verbraucherkommunen war ein entscheidender Schritt in Richtung Verstaatlichung der Genossenschaften. Zur Notwendigkeit dieser Transformation hat sich Lenin wie folgt in einer Gegenüberstellung von Genossenschaft und Kommune geäußert. "Gesetzt den Fall, die Genossenschaft vereinigt 98 Prozent der Bevölkerung. In den Dörfern kommt das vor. Wird die Genossenschaft dadurch etwa schon zur Kommune? Nein, wenn diese Genossenschaft l. einer Gruppe besonderer Teilhaber Vorteile bietet (Dividenden auf Anteile usw.); 2. ihren besonderen Apparat beibehält, in den die Bevölkerung im allgemeinen

39 Lenin, W.: Ursprünglicher Entwurf des Artikels "Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht" (März 1918), in: Lenin Werke, Bd. 27, Berlin 1960, S. 206. 40 Lenin, W. : Schlußwort zum Referat über die Stellung des Proletariats zur kleinbürgerlichen Demokratie" (November 1918), in: Lenin Werke, Bd. 28, Berlin 1959, S. 220.

C. Die Genossenschaftstheorie des "realen Sozialismus" im Kriegskommunismus

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und das Proletariat und die Halbproletarier im besonderen nicht einbezogen werden; 3. bei der Verteilung der Produkte nicht die Halbproletarier vor den Mittelbauern, die Mittelbauern vor den Reichen bevorzugt; 4. bei der Einziehung der Produkte die Überschüsse nicht zunächst von den Reichen kommen, dann bei den Mittelbauern ausräumt und sich dabei nicht auf die Proletarier und Halbproletarier stützt. Die ganze Schwierigkeit der Aufgabe (und der ganze Inhalt dieser uns sofort erwachsenden Aufgabe) besteht in der Ausarbeitung eines Systems praktischer Maßnahmen für den Übergang von der alten Genossenschaft (die notwendigerweise eine bürgerliche ist, da eine Schicht von Teilhabern bevorzugt wird, die eine Minderheit der Bevölkerung bildet, sowie auch aus anderen Gründen) zur neuen und zur echten Kommune eines Systems von Maßnahmen für den Übergang von der bürgerlich-genossenschaftlichen zur proletarischkommunistischen Versorgung und Verteilung."41 Die landwirtschaftlichen und gewerblichen Genossenschaften Und welches Schicksal ereilte die übrigen Genossenschaftsformen in dieser Periode? Abgesehen vom aufblühenden Schwarzhandel verloren im Staatskapitalismus auch monetäre Beziehungen zunehmend an Bedeutung, vor allem im interindustriellen Bereich, in dem bereits seit August 1918 die Betriebe ihre Transaktionen ohne Geldzahlungen abwickelten. Diese "Naturalisierung" der Transaktionen bei zunehmender Inflation wurde nicht nur von einigen naiven Ökonomen und Ideologen, sondern offensichtlich auch von offizieller Seite als ein Übergang zur "proletarischen Naturalwirtschaft" und als ein Schritt zur völligen Aufhebung des Geldes begrüßt42 • Marx hatte zwar sein sozialistisches Wirtschaftssystem nie umfassend beschrieben, seiner Meinung nach sollte aber die Diktatur des Proletariats und die Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln von einem Übergang der Ware-Geld-Beziehung zu einem naturalen Warentausch begleitet sein. Dadurch wurde abereine weitere Basis des Genossenschaftswesens eliminiert. Ware-Geld-Beziehungen waren immer für die Existenz von Genossenschaften essentiell gewesen. Genossenschaften waren

41 Lenin, W.: Über Maßnallrnen für den Übergang von der bürgerlich-genossenschaftlichen t.ur proletarisch-kommunistischen Versorgung und Verteilung (Februar 1919), in: Lenin Werke, Bd. 28, Berlin 1959, S. 456.

42 Nach den militärischen Siegen Ende 1919 und Anfang 1920, dem Abschluß der Friedensverhandlungen mit Finnland und den baltischen Staaten, der Aufhebung der alliierten Wirtschaftsblockade und dem wieder freien Zugang zu den Industrie-, Erdöl- und Agrarzentren im Donezkbecken, Kaukasus und in Sibirien änderten sich die Rahmenbedingungen für die Wirtschaftspolitik der Bolschewiki entscheidend. Daß das System des Kriegskommunismus als Ganzes in Richtung einer naturalwirtschaftlichen, zentralisierten Befehlswirtschaft weiter ausgebaut wurde, deutet darauf hin, daß die Maßnallrnen des Kriegskommunismus keineswegs ausschließlich "durch die Not diktiert" worden waren. Nach Beendigung des Bürgerkriegs, der ausländischen Interventionen und der Blockade wurden nämlich die kriegskommunistischen Maßnallrnen zum Teil sogar noch verschärft.

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II. Die Entstehung einer sowjetischen Genossenschaftskonzeption

zwar als eine Folgeerscheinung des Kapitalismus, als Selbsthilfebewegung auch der Arbeiterklasse in ihrem Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung entstanden, aber stets tief im Kapitalismus und im Privateigentum verwurzelt und damit auch mit allen positiven und negativen Seiten dieses Systems verhaftet geblieben. In der sozialistischen Gesellschaftsordnung sollten durch die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und die Ausschaltung des freien Wettbewerbs nicht nur die Ausbeutung aufgehoben, sondern auch jede Lohnarbeit und jeder Händlerprofit ausgeschlossen sein. In einer derartigen Gesellschaftsordnung ist aber jede Genossenschaft überflüssig, da ihre Daseinsberechtigung fehlt und ihre Aufgaben aufgehoben sind. "Was haben die Kreditgenossenschaften in dem sozialistischen Wirtschaftssystem für einen Sinn, wenn weder das Geld weiter existiert, noch Kredite angefordert werden, was sollen Wohnungsgenossenschaften, wenn alle Wohnungen im Eigentum der Gesellschaft stehen? Zu welchem Zweck sollen noch Absatz- und Konsumgenossenschaften bestehen, wenn alle Waren in den Händen der Gesellschaft sind? Was hätten da noch Konsumgenossenschaften zu tun? Welche Vorteile könnten sie ihren Mitgliedern bringen? Keine, was immer es auch sei. Denn ihre Mitglieder werden dieselben Waren zu denselben Bedingungen von irgendeiner anderen Verteilungsorganisation erhalten können. Was anderes sollte die Bürgernoch in die Genossenschaft ziehen, wenn sie keine Vorteile mehr von ihr haben? Deshalb müssen die Genossenschaften aller Arten verschwinden, dann verschwinden, wenn die kapitalistische Exploitation ihr Ende nimmt."43 Viele Autoren, wie beispielsweise Miljutin und Meschtscherjakow, forderten deshalb die Beseitigung der Genossenschaften, da diese nur innerhalb der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und des freien Wettbewerbes bestehen könnten. "Unter den obwaltenden Verhältnissen in Sowjet-Rußland, da die ganze Macht, sowohl die ökonomische wie die politische, in die Hände der Werktätigen übergegangen ist, verlieren die Genossenschaften ihren ganzen Sinn. Das Bestehen privatrechtlicher gesellschaftlicher Organisationen der Werktätigen neben den staatlichen Sowjet-Organisationen der Werktätigen in Stadt und Land bildet eine überflüssige Parallelerscheinung, die unserer Sache schädlich ist. Diese privatrechtliehen Organisationen müssen, weil sie ein Überbleibsel bürgerlicher Eigentumsformen sind, durch neue Formen ersetzt werden, die dem sozialistischen Inhalt der gesellschaftlichen Entwicklung entsprechen. Sie müssen in der Sowjet-Ordnung zu einem einzigen Netz von Sowjet-Organisationen umgewandelt werden."44 Sie verlangten die bestehenden gewerblichen Genossenschaften

" Meschtscherjakow: Kooperazija, sozialism i diktatura proletariata, in: zhulnal "Mir rabotschego", Moskwa 1919, Nr.l.

C. Die Genossenschaftstheorie des "realen Sozialismus" im Kriegskommunismus

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zu liquidieren und zu wirtschaftlichen Abteilungen der Bezirks- oder Dorfausschüsse zu machen. "Die gewerblichen Genossenschaften sind nicht von Arbeitern, sondern von Kleinunternehmern gegründet, die am Privateigentum und an kleinbürgerlichen Ideen festhalten. Wenn einmal Industrie und Handel nationalisiert sind und die ganze Bevölkerung vom Staat versorgt, dann sind die gewerblichen Genossenschaften nicht mehr am Platz."45 Aber auch hier beschritten die Bolschewiki einen pragmatischen Weg und gingen in ihrer praktischen Politik davon aus, daß in einem rückständigen Land, wie Rußland, in dem das Kleingewerbe ("Kustarnitschestwo") eine große Rolle spielte, seine Nationalisierung mit großen Schwierigkeiten verbunden wäre. Ihr Parteiprogramm von 1919 sah deshalb noch eine breite Unterstützung des Kleingewerbes und erst ihre allmähliche Eingliederung in den sozialistischen Sektor durch die Errichtung von Produktivgenossenschaften vor. "Einzelne Handwerker, ländliche Kleinindustrie und gewerbliche Genossenschaften müssen sich zu größeren industriellen und produktiven Einheiten zusammenschließen. Diese Zusammenschlüsse müssen finanziell begünstigt werden, um so das Entstehen von Einzelunternehmen zu verhindern, zugleich aberden Weg weisen von diesen veralteten Formen der Produktion zu einer höheren Form der gesellschaftlichen maschinellen Großproduktion. " 46 Die Vergesellschaftung der Landwirtschaft im kommunistischen Sinne stellte aber ohne Zweifel das schwierigste Problem für den neuen Staat dar. Die Lösung der Agrarfrage und vor allem jene, wie die russische Bauernschaft sozialistisch zu organisieren wäre, wurde zwischen den führenden Bolschewiken zur großen Streitfrage. Die "linken" Kommunisten traten für einen direkten Übergang der Bauernschaft zwn Kommunismus ein, hielten die Methode der Nationalisierung durchaus auch bei kleinen Bauernwirtschaften für anwendbar und verlangten die sofortige Verstaatlichung der Bauemsehaft und die Errichtung von Staatsgütern. Ihre Kontrahenten vetraten die Meinung, daß man die Bauern zuerst erziehen müßte, die Landwirtschaft nicht auf individueller, sondern auf genossenschaftlicher Basis zu betreiben, und forderten dafür landwirtschaftliche Kommunen zu gründen und einzusetzen. Im Bodensozialisierungsgesetz wurde letztendlich festgehalten, daß auch in der Landwirtschaft Produktivgenossenschaften in Form sogenannter landwirtschaftlicher Arbeitskommunen bzw. Kollektivwirtschaften, wie diese neuen Landnutzungsformen genannt wurden, dazu dienen sollten,

44

Miljutin: Russkaja korrespondenzija, 1921 , Nr. 14/16, S. 870.

45

The Co-operative Movement in Sovjet Russia, International Labour Office, Geneva 1925, S. 44.

46

Programm und Statuten der Russischen kommunistischen Partei (Bolschewiki), Moskwa 1919,

S.l9.

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II. Die Entstehung einer sowjetischen Genossenschaftskonzeption

den individuellen bäuerlichen Betrieb durch den sozialistischen Großbetrieb zu ersetzen47 • Lenin selbst hatte, wie Kautsky, bis zur Revolution arn marxistischen Determinismus in der Landwirtschaft festgehalten und wurde erst durch die Revolutionsereignisse eines besseren belehrt. Er sah sich dadurch zu einer Trendumkehr, d.h. zu einer Politik der Stabilisierung des bäuerlichen Besitzes veranlaßt Das bedingte aber hinsichtlich der Verfolgung des sozialistischen Zieles neue Instrumente, und Lenin begann sich mit dem Einsatz von Produktivgenossenschaften in der Landwirtschaft auseinanderzusetzen. Er hatte diese Gedanken früher als ein "Kuriosum" abgetan, war aber jetzt bereit, gegenüber der Bauernschaft Kompromisse einzugehen, und die Kommune schien ihm zur Kollektivierung der individuellen bäuerlichen Wirtschaft das geeigneteste Mittel zu sein. Zugleich war aber auch eine Integration in landwirtschaftlichen Kommunen am besten zu realisieren, da sie Produktiv- und Konsumgenossenschaften in sich vereinigten und sie dadurch in das Schema der kommunistischen Warenverteilung ohne Schwierigkeiten einzugliedern waren. Die landwirtschaftliche Produktivgenossenschaft entsprach auch arn ehesten den Vorstellungen von Marx, vor allem jener vom modernen maschinellen Großbetrieb. In der Landwirtschaft war es ebenso wie in der Industrie arn besten, die Produktion im großen Maßstabe zu führen. Für die armen Dorfbewohner war es tausendmal vorteilhafter, mit den großen Gütern ebenso zu verfahren wie die Arbeiter mit den Fabriken. Man mußte bestrebt sein, aus den kleinen Arbeitsanteilen (Land teilen) gemeinschaftliche große landwirtschaftliche Arbeitskommunen zu organisieren. Landwirtschaftliche Genossenschaften, wie beispielsweise Kredit-, Einkaufsund Absatzgenossenschaften, wurden von den Bolschewiki im Kriegskommunismus total abgelehnt, sie galten als Träger konterrevolutionärer Tätigkeit und als Förderer einer individualistischen Gesinnung des Bauern. Kreditgenossenschaften waren in einem Staat, in dem die auf Geldverkehr beruhende Wirtschaft in eine Naturalwirtschaft umgewandelt und zwangsweise Warenaustausch verwirklicht werden sollten, sowieso überflüssig geworden. Miljutin lehnte die landwirtschaftlichen Genossenschaften als für den sozialistischen Staat vollkommen ungeeignet ab und verlangte an ihrer Stelle die Schaffung von landwirtschaftlichen Kommunen und Sowjetwirtschaften, die seiner Meinung nach für den Vergesellschaftungsprozeß im Dorf am besten ge-

47 Im Bodensozialsierungsgesetz war eine Bevorzugung der "kommunistischen" Artel und kooperativen Winschaften gegenüber Einzelpersonen veranken.

C. Die Genossenschaftstheorie des "realen Sozialismus" im Kriegskommunismus

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eignet wären: "In dem Maße wie die landwirtschaftliche Genossenschaft durch die Vennittlungstätigkeit die Sympathien der breiten Gesellschaftsschichten innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft eroberten und wirtschaftlich erstarkten, in demselben Maße verlieren sie ihre Bedeutung in der sozialistischen Gesellschaft, wenn die Grundlage füreine solche Tätigkeit verschwunden ist, wenn die private Vennittlung zwischen Stadt und Land überflüssig und nutzlos geworden ist. Wozu braucht man Vennittler unter den Verhältnissen des staatlichen Getreidemonopols oder der staatlichen Gesamtverteilung, wo ein ganzes Netz staatlicher Verteilungsorgane in Kraft tritt?"48 Auch Lenin stand, wie seine Parteifreunde, den landwirtschaftlichen Genossenschaften ablehnend gegenüber. Er hatte sie von jeher "als nur den reichen Bauern dienend" kritisiert. Das anzustrebende Ziel, eine Brücke zwischen Proletariat und Bauemsehaft zu schlagen, ließ sich nach Lenin am besten durch eine Integration aller Genossenschaftsarten verwirklichen, vor allem aber der bäuerlichen mit den Konsumgenossenschaften, um damit "Produktions- und Konsumkommunen" als Träger eines staatlichen Verteilungsapparates zu schaffen. So wurde dann auch auf dem IX. Parteikongreß die Zusammenlegung aller Genos senschaftsarten zu einem einheitlichen Genossenschaftssystem beschlossen und mit dem Dekret vom 27. Jänner 1920 alle Genossenschaftsarten zu Konsumkommunen verschmolzen49 • Damit war das gesamte Genossenschaftswesen Rußlands zu einem Gebilde zusammengefügt worden, dessen eigentliche Funktion im wesentlichen nur mehr eine behördliche und zentralistisch aufgezwungene Warenverteilung für eine zwangsmäßig zusammengeschlossene Bevölkerung des neuen kommunistischen Staatswesens war und das mit den ursprünglichen Genossenschaften nur noch den Namen gemein hatte. In dieser Fonn entsprach es einer, im Sinne der bolschewistischen Ideologie, idealen Zweckerfüllung; wenn auch zwangsmäßig, so hatte man damit doch die gesellschaftliche und wirtschaftliche Vereinigung aller Menschen eines Staates in einer großen Genossenschaft vollzogen. Andererseits hatte man dadurch die wichtigsten Grundprinzipien der Genossenschaft, wie freiwillige Mitgliedschaft, demokratische Selbstverwaltung und vor allem

48

870.

Miljutin: Sozialism i selskoe chosjaistvo, in: Russkaja Korrespondenzija 1920, Nr. 14/16, S. 869-

49 Der Prozeß der Zentralisierung des Genossenschaftswesens und die damit verbundene Eingliederung in das Plansystem wurde durch das Dekret vom 27. I . 1920 abgeschlossen, das den Ccntrosojuz zum Spitzenverband aller russischen Genossenschaften machte. Kredit-, Handwerks- und landwirtschaftliche Genossenschaften wurden mit den Konsumkommunen verschmolzen, ihre Rcgic.nalverbände mit den Regionalverbänden der Konsumkommunen. Die Spitzenverbände wurden in spezialisierte Sektionen beim Centrosojuz umgewandelt.

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II. Die EntstehWlg einer sowjetischen Genossenschaftskonzeption

die freie wirtschaftliche Selbsttätigkeit abgeschafft und einem neuen "Demokratismus" untergeordnet. Diese ausschließlich auf dem Dekretwege vollzogene Neugestaltung des russischen Genossenschaftswesens erwies sich aber sehr bald als ineffizient, die neu geschaffenen staatlichen Kooperativen stellten sich für ein rationelles Wirtschaftsprogramm als ungeeignet heraus. Sie waren, wie alle übrigen staatlichen Einrichtungen, bald vollkommen lahmgelegt. Die Bauemsehaft widersetzte sich dieser Zwangsorganisation und dem Kontingentierungssystem und weigerte sich, ihre Produkte gegen entwertetes Papiergeld an die Konsumkommune abzuliefern. Die Zwangsrequisitionen bewirkten deshalb im Endeffekt nur einen passiven Widerstand der Bauern in Form der Einschränkung ihres Landanbaues. Die Bauern forderten die Wiedereinführung des freien Handels und des freien Verfügungsrechts über ihre Produkte und stellten sich damit wieder auf den Boden einer "bürgerlichen individualistischen Wirtschaftsauffassung und in strikten Gegensatz zum Kommunismus"50 • Auch Lenin sah nun ein, daß es in einem Agrarland wie Rußland nicht machbar war, eine neue Gesellschaft durch eine planmäßige Zerstörung aller ihrer marktwirtschaftliehen Elemente aufzubauen.

D. Die Genossenschaften im Rahmen der Neuen Ökonomischen Politik Nach dem Bürgerkrieg löste die Periode der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) den Kriegskommunismus ab. Lenin und die Führung der bolschewistischen Partei zogen damit die Konsequenz aus der ökonomischen und politischen Krisensituation Anfang des Jahres 1921. Solange wie möglich hatte man versucht, einen wirtschaftspolitischen Kurswechsel hinauszuschieben und das System des Kriegskommunismus zu retten, bis sich die krisenhaften Zustände derart zuspitzten, daß Taten gesetzt werden mußten 51• Die mangelnde Versorgung der Städte mit Lebensmitteln erzwang eine grundsätzliche Änderung der Agrarpolitik. Die Getreiderequisitionen hatten sich als völlig ungeeignet erwiesen, die Versorgungsprobleme der städtischen Bevölkerung zu lösen, die administrativen Zwangsmaßnahmen hatten zu zahlreichen

50

Brutzkus, 8.: Agrarentwicklung und Agrarrevolution in Rußland, Berlin 1926, S. 164.

" Auch Lenin gestand nun ein, daß der Versuch, im Kriegskommunismus einen unmittelbaren Übergang zum Sozialismus durchzuführen, gescheitert war.

D. Die Genossenschaften im Rahmen der Neuen Ökonomischen Politik

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Aufständen auf dem Lande52 und insgesamt in der Agrarproduktion zu einer Stagnation geführt53 . Lenin erkannte die immer größer werdende Gefahr für die bolschewistische Macht und verordnete erneut einen Kurswechsel der Wirtschaftspolitik54. Im Rahmen einer nun propagierten NÖP sollten durch die Einführung neuer Lenkungsmethoden marktwirtschaftlicher Art die Produktion rasch wieder angekurbelt, die Produktivkräfte weiterentwickelt und die sozialistischen Elemente in der Wirtschaft gestärkt werden. Zur Erreichung dieser Ziele wurden in gewissen Grenzen wieder kapitalistische Elemente in der Wirtschaft zugelassen55. Man glaubte durch die Aufrechterhaltung der politischen Macht des Staates und der ökonomischen Macht der Staatsindustrie einem partiell restaurierten Kapitalismus enge Grenzen setzen, ilm kontrollieren und im Interesse der bolschewistischen Regierung regulieren zu können. Damit wurde ein - sehr umstrittener- Rückgriff auf das Konzept des Staatskapitalismus vollzogen 56 •

52 Als im Februar 1921 infolge der allgemeinen Notlage die Rationen der Arbeiter in den Petersburger Betrieben gekürzt wurden, kam es zu einer Streikwelle, die ihren Höhepunkt Ende Februar erreichte. Im März riefen die Matrosen der Kronstädter Garnison zum Aufstand auf. Erst nach zehntägigen, blutigen Kämpfen gelang es, diese Meuterei zu unterdrücken. 53 Da der Bauer nach Befriedigung der eigenen Bedürfnisse seine gesamte Produktion dem Staat abliefern mußte, gab es für ihn keinen Anreiz, mehr zu erzeugen, als er zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse brauchte. "Die Ablieferungspflicht im Dorf, dieses urunittelbar kommunistische Herangehen an die Aufgaben des Aufbaus in der Stadt, ... war die Grundursache der tiefgehenden ökonomischen und politischen Krise, in die wir im Frühjahr 1921 hineingerieten." (Lenin, W.: Über die Naturalsteuer(aufSchallplatten aufgenommene Reden, Nr. 1), (April1921), in: Werke, Bd. 32, Berlin 1961, S. 381). 54 "Wir wissen, daß nur eine Verständigung mit der Bauernschaft die sozialistische Revolution in Rußland retten kann." (Lenin, W.: Referat über die Ersetzung der Ablieferungspflicht durch die Naturalsteuer(IS. 3. 1921), X. PaneitagderKPR (B), 8.-16. März 1921, in: Lenin Werke, Bd.32, Berlin 1961, S. 217; "Diktatur des Proletariats bedeutet Leitung der Politik durch das Proletariat. Das Proletariat als führende, als herrschende Klasse muß es verstehen, die Politik so zu lenken, daß in erster Linie das dringendste, das "wundeste" Problem gelöst wird. Am dringendsten sind jetzt Maßnahmen, die geeignet sind, unverzüglich die Produktivkräfte der bäuerlichen Wirtschaft zu heben. Nur auf diesem Wege kann man erreichen, daß sowohl die Lage der Arbeiter verbessert als auch das Bündnis der Arbeiter mit der Bauemsehaft gefestigt, die Diktatur des Proletariats gestärkt wird." (Lenin, W.: Über die Naturalsteuer (Die Bedeutung der neuen Politik und ihre Bedingungen) (April 1921), in: Lenin Werke, Bd. 32, Berlin 1961, S. 360).

55 Allerdings sollten die "Kommandohöhen der Volkswirtschaft", also vor allem die Bereiche der Großindustrie, des Bankwesens und des Außenhandels, in staatlicher Hand verbleiben. Es galt, "auf jede An und um jeden Preis den Umsatz zu entfalten, ohne Furcht vor dem Kapitalismus." (Lenin. W.: Über die Naturalsteuer (Die Bedeutung der neuen Politik und ihre Bedingungen) (April 1921 ), in Lcnin Werke, Bd. 32, Berlin, 1961, S. 366). 56 Der Begriff "Staatskapitalismus" löste eine intensive Diskussion unter den Führungskräften der bolschewistischen Partei aus. "Was ist Staatskapitalismus?" fragte Miljutin in einem Vortrag, gehalten an der sozialistischen Akademie. "Staatskapitalismus ist die höchste Form kapitalistischer Entwick-

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II. Die Entstehung einer sowjetischen Genossenschaftskonzeption

Die erste Maßnahme, die beim Übergang zur NÖP gesetzt wurde, war die Ersetzung der Ablieferungspflicht der Bauern durch eine Naturalsteuer57 • Das "Warentauschgesetz" aus 1921 gestattete den Bauern, die ihnen nach Ablieferung der durch die Naturalsteuer festgelegten Lebensmittel-, Rohstoff- und Futtermittelmengen die verbleibenden Vorräte wieder selbst zu vermarkten58 • War es zunächst nur die Intention gewesen, Handel auf Lokalmärkten zuzulassen, um damit eine Verbesserung der Lebensmittel- und Rohstoffversorgung

Jung, d.h. wenn es dem kapitalistischen Staat gelingt, sämtliche winschaftliche Funktionen zu verstaatlichen, die Funktionen der Verteilung und teilweise auch der Produktion zu beherrschen, d.h. wenn der Staat gewisse, bisher den einzelnen Kapitalisten zugestandene Rechte für sich in Anspruch nimmt und ihnen somit die Freiheit kapitalistischer Tätigkeit raubt. Dieses Wirtschaftssystem wäre als Staatskapitalismus zu bezeichnen." "Der entwickelte Staatskapitalismus in einer kapitalistischen Wirtschaft ist tatsächlich eine höhere Form des Kapitalismus, er ist gewissermaßen die Krönung des gesamten kapitalistischen Systems und sein äußerster Ausdruck. Die bürgerliche Klasse in Form ihrer Trusts, Syndikate, regierenden Gruppen verschmilzt sozusagen mit dem Staatsapparat. Die Staatsgewalt erscheint als Befürworter der Klasseninteressen der Bourgeoisie und als aktiver Faktor auf dem Gebiete der Volkswirtschaft, das ist die höchste Form der Entwicklung des Kapitalismus, von welcher nur ein Schritt zum Sozialismus ist." (Iswestija Sozialististscheskoi Akademü, Moskwa, 1923, Nr. 2, S. 167168). Waren aber jene privatwirtschaftliehen Formen, die sich in Rußland nach dem Übergang zur Neuen Ökonomischen Politik entwickelt hatten, überhaupt Elemente eines Staatskapitalismus? "In einem kapitalistischen Land übernimmt die Staatsgewalt bei dem Staatskapitalismus von den Kapitalisten ihre Funktionen auf dem Gebiete der Produktion, wie auch auf dem der Verteilung. Bei uns ist es umgekehn: wir, die Sowjetmacht haben den Kapitalisten die Unternehmungen, die Produktionsmittel, welche bereits nationalisiert waren und uns angehörten, verpachtet oder in Konzession gegeben. Hier übergibt der Staat den Kapitalisten einen Teil seiner wirtschaftlichen Tätigkeit, ohne sich in die Tätigkeit der Kapitalisten einzumischen, wie dies bei dem Staatskapitalimus in den kapitalistischen Ländern der Fall ist." (Iswestija Sozialististscheskoi Akademii, Moskwa, 1923, Nr. 2, S. 169-170). Noch weiter in der Kritik gegen die Bezeichnung der Sowjetwirtschaft als Staatskapitalismus ging Preobrazhenski. "Auf solche Weise kann unsere Wirtschaftsform weder kapitalistisch noch staatskapitalistisch genannt werden, da bei uns die Prämissen der einen und der anderen Form gänzlich fehlen. Demzufolge kann das ganze wirtschaftliche System eine warensozialistische Wirtschaftsform genannt werden." (Iswestija Sozialististscheskoi Akademii, Moskwa, 1923, Nr. 2, S. 176). 57 "Ersetzung der Ablieferungspflicht durch eine Steuer, ihre prinzipielle Bedeutung: vom "Kriegs''kommunismus zum richtigen sozialistischen Fundament. Weder Ablieferungspflicht noch Steuer, sondern Austausch der Erzeugnisse der ("sozialisierten") Großindustrie gegen bäuerliche Erzeugnisse, das ist das ökonomische Wesen des Sozialismus, seine Basis. Ablieferungspflicht ist kein "Ideal", sondern eine bittere und traurige Notwendigkeit. Gegenteilige Auffassung· ein gefährlicher Fehler. Ablieferungspflicht und "Apparat". Ohne "Apparat" wären wir längst zugrunde gegangen. Ohne systematischen und hannäckigen Kampf für die Verbesserung des Apparats werden wir zugrunde gehen, bevor die Basis des Sozialismus geschaffen ist. Bündnis der Arbeiter mit der Bauernschaft = Alfa und Omega der Sowjetmacht "Notwendige und ausreichende" Bedingung ihrer Festigkeit." (Lenin, W.: Plan der Broschüre "Über die Naturalsteuer" (April 1921), in: Lenin Werke, Berlin 1970, Bd. 32, S. 333).

" Die Naturalsteuer wurde etwa auf die Hälfte der früheren Pflichtablieferungen begrenzt. Die festgelegten Naturallieferungen der verschiedenen Erzeugrtisse wurden am 10.5.1923 nach Festigung der Währung durch eine Vereinheitlichung teils in Getreideeinheiten umgerechneter Naturalabgaben, teils in Geldabgaben umgewandelt und schließlich nur mehr in Form von Geldangaben abgewickelt. Siehe: Dekret vserossijskogo zentralnogo ispolnitelnogo komiteta o zamene prodovolstvennoi i sirevoi rasverstki naturairtim nalogom, in: Resenija partii i pravitelstva, tom I, 1917-1928 godi, Moskwa 1967, S. 212.

D. Die Genossenschaften im Rahmen der Neuen Ökonomischen Politik

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herbeizuführen, so sah man bald auch die Notwendigkeit landesweiter Handelsorganisationen ein, da man von den Bauern nicht erwarten kormte, daß sie ihre Produkte in weiter entfernten Gebieten selbst anboten. Für die Transmission zwischen der verstaatlichten Großindustrie und dem privaten Gewerbe und der privaten Landwirtschaft sollten Genossenschaften sorgen, mit denen man den Privathandel rasch wieder zurückdrängen wollte. Damit wurde den Genossenschaften neben ihrer ursprünglichen Funktion als Verteilungsapparat im Rahmen des Ernährungskommissariats auch die Koordination der ökonomischen Beziehungen zwischen dem staatlichen und dem privaten Sektor wie folgt übertragen: Das N arkomprod (das Ernährungskommissariat) sollte dem Zentrosojus als Spitzeninstitut aller Genossenschaften die Fertigwaren übergeben und dafür zu festgesetzten Tauschrelationen die Überschüsse an Nahrungsmitteln und Rohstoffen für die Industrie eintauschen. Durch einen privilegierten Zugang der Konsumgenossenschaften zur verstaatlichten Industrie wollte Lenin ihre Warenfonds rasch vergrößern, um damit den Bauern lukrative Anreize zu bieten, ihre Produkte an die Konsumgenossenschaften zu verkaufen. Anfang 1921 war die Einstellung Lenins gegenüber jenen Genossenschaften, die sich im Kapitalismus entwickelt hatten, noch immer unverändert. In seinem Referat "Über die Naturalsteuer (Die Bedeutung der neuen Politik und ihre Bedingungen)" bekräftigt er mit aller Deutlichkeit seinen bisherigen Standpunkt zu dieser Frage, der von Kautskys These, daß die Genossenschaften nur Mittelund Großproduzenten nutzten, getragen war. "Die Genossenschaften der kleinen Warenproduzenten" ... "erzeugen unvermeidlich kleinbürgerliche, kapitalistische Verhältnisse, fördern deren Entwicklung, rücken kleine Kapitalisten in den Vordergrund und bieten ihnen die größten Vorteile." 59 Ein Mehr an Freiheit und Rechte für Genossenschaften, so meinte er, bedeute unter den herrschenden Verhältnissen nichts anderes als ein Mehr an Freiheit und Rechte für den Kapitalismus60 • Neben diesem Festhalten an seiner Kritik gegenüber den kapitalistischen Genossenschaften ging Lenin in diesem Referat aber auch auf das Thema "Genossenschaften als Elemente des Staatskapitalismus" ein. Zwar waren auch diese für ihn immer noch privatkapitalistische Unternehmensformen, er gab

' 9 Lenin, W.: Über die Naturalsteuer (Die Bedeutung der neuen Politik und ihre Bedingungen) (April 1921), in: Lenin Werke, Bd. 32, Berlin 1961, S. 360.

"" Lenin. W.: Über die Natura1steuer, S. 360.

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li. Die Entstehung einer sowjetischen Genossenschaftskonzeption

ihnen jedoch gegenüber den Kleinkapitalisten den Vorzug61 , wobei er aber eine reine Instrumentalfunktion der Genossenschaften in den Vordergrund stellte: "Der genossenschaftliche Kapitalismus ist dem Staatskapitalismus darin ähnlich, daß er die Rechnungsführung, Kontrolle, Beaufsichtigung, die vertraglichen Beziehungen zwischen dem Staat (in diesem Falle der Sowjetmacht) und dem Kapitalisten erleichtert. Die Genossenschaften sind als Form des Handels nicht nur aus den angeführten Gründen vorteilhafter und nützlicher als der Privathandel, sondern auch deshalb, weil sie den ZusammenschluG, die Organisierung von Millionenmassen der Bevölkerung und sodann der gesamten Bevölkerung erleichtern, und dieser Umstand ist seinerseits, unter dem Gesichtswinkel des späteren Übergangs vom Staatskapitalismus zum Sozialismus, ein gigantisches Plus."62 Seine Auffassung, daß die Genossenschaften nur eine vorübergehende Wirtschaftsform seien, deren Ziele denen des sozialistischen Aufbaus unterzuordnen wären, behielt er aber aufrecht. "Die Genossenschaftspolitik wird uns, im Falle des Gelingens, einen Aufschwung des Kleinbetriebs bringen und seinen Übergang- in unbestimmter Frist- zur Großproduktion auf der Grundlage des freiwilligen Zusammenschlusses erleichtem.''63 Praktische Folge seiner Aussagen war, daß seit Juli 1921 Handwerks- und Kleingewerbe- sowie auch landwirtschaftliche Bezugs- und Absatzgenossenschaften mit eigenen Geschäftsbetrieben wieder gegründet werden durften. Im August 1921 wurden diese Genossenschaften sogar aus dem System des Centrosojuz herausgelöst und sie durften wieder eigene Zentralen und Verbände bilden64 •

Die Konsumgenossenschaften Die den Konsumgenossenschaften zugewiesene Aufgabe, im ökonomischen Wettbewerb den Privathandel vom Markt zu verdrängen, war aber in der ihnen zugewiesenen Form, weisungsgebundene Verteilungsorgane des staatlichen Kommissariats für Nahrungsmittelversorgung zu sein, kaum zu erfüllen, da das Agieren auf nun freien Märkten Eigeninitiative und eine rasche Anpassungsfähigkeit an sich verändernde Marktbedingungen erforderte. Bei gegebener unter-

61 "Doch der "genossenschaftliche Kapitalismus" ist unter der Sowjetmacht, zum Unterschied vom privatwirtschaftliehen Kapitalismus, eine Spielart des Staatskapitalismus und ist als solcher vorteilhaft und nützlich, selbstverständlich in gewissen Grade". (Lenin, W.: Über die Naturalsteuer (Die Bedeutung der neuen Politik und ihre Bedingungen) (April 1921), in: Lenin Werke, Bd. 32, Berlin 1961, S. 361). 62 Lenin, W.: Über die Naturalsteuer (Die Bedeutung der neuen Politik und ihre Bedingungen) (Aprill921), in: Lenin Werke, Bd. 32, Berlin 1961, S. 361.

Lenin, W.: Über die Naturalsteuer, S. 362. Vgl. Lenin, W.: Entwurf einer Resolution zu den Fragen der Neuen Ökonomischen Politik, X. Gesamtrussische Konferenz der KPR (B), 26.-28. Mai 1921, in: Lenin Werke, Bd. 32, Berlin 1961, S. 454. 63

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D. Die Genossenschaften im Rahmen der Neuen Ökonomischen Politik

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schiedlicher Versorgungslage und regionalen Notzuständen erwiesen sich einzelwirtschaftliche Marktformen aber um vieles effizienter, und die Bauern verlcauften in der Folge auch lieber an freie Händler, die fmdiger im Auftreiben der vom Dorfe dringend benötigten Produkte des wiederauflebenden Kleingewerbes waren. Diesen Widerspruch zwischen freien Märkten auf der einen und einem paralysierten Konsumgenossenschaftssystem auf der anderen Seite sah auch Lenin: ''Aber ... die Resolution des IV. Parteitages bindet uns die Hände, sie sagt: 'Unterordnung [der Konsumgenossenschaften] unter das Volkskommissariat für Ernährungswesen'. Das Ernährungskommissariat ist eine ausgezeichnete Institution, aber ihm unbedingt die Genossenschaften unterzuordnen und sich die Hände zu binden, während man die Beziehungen zu den kleinen Landwirten revidiert, heißt politisch einen offenkundigen Fehler begehen.'065 Mit diesem Eingeständnis, daß die Unterordnung der Konsumgenossenschaften unter das Volkskommissariat für Ernährungswesen eigentlich auf die Zwangsablieferungspflicht zugeschnitten gewesen war, aber mit dem Übergang zur Naturalsteuer und der Zulassung des privaten Handels sich neue Rahmenbedingungen ergeben hätten, verordnete Lenin, die Politik gegenüber den Konsumgenossenschaften neu zu überdenken und sie aus dem Apparat des Kommissariats für Ernährungswesen auszugliedern. Der X. Parteitag im März 1921 beauftragte dann auch das Zentralkomitee, Vorschläge für die Anpassung der Strukturen und Tätigkeitsbereiche der Genossenschaften an die veränderten Bedingungen auszuarbeiten. Resultat dieser Beratungen war das Dekret des Rates der Volkskommissare "Über die Konsumgenossenschaften" vom 7. 4. 1921, mit dem den Konsumgenossenschaften grundsätzlich erlaubt wurde, frei von staatlichen Reglementierungen landwirtschaftliche Überschußprodukte sowie Waren des Handwerks und der Kleinindustrie nach eigenem Gutdünken zu vermarkten66 • Sie mußten allerdings weiterhin Erzeugnisse der Staatsindustrie bei den Bauern gegen landwirtschaftliche Produkte eintauschen, um damit die Versorgung der staatlichen Industrie mit den notwendigen Rohstoffen zu sichern. Das Besondere an diesen Austauschoperationen zwischen Bauernschaft, Konsumgenossenschaften und Industrie war, daß sie regional begrenzt waren und nur auf Naturalbasis durchgeführt werden durften. Lenin und seine Berater sahen noch keine Veranlassung, zur Geldwirtschaft zurückzukehren. Sie versuchten weiterhin einen "sozialistischen Warenaustausch", frei vom kapitalistischen "Fetisch" Geld, zu realisieren. 65 Lenin. W.: Referat über die Ersetzung der Ablieferungspflicht durch die Naturalsteuer (15.3.1921), X. PaneitagderKPR (B), 8.-16. März 1921, in: Lenin Werke, Bd. 32, Berlin 1961, S. 224. 66 Die Konsumgenossenschaften lösten sich zwar vom Emährungskommissariat, blieben aber dem Ministerrat unterstellt und sollten ihre Veneilungsfunktion weiter erfüllen. Weiters durfte wie früher in jeder Ortschaft nur eine einzige Konsumgenossenschaft bestehen, und auch die Zwangsmitgliedschaft blieb zunächst noch aufrecht und wurde erst mit dem Dekret vom 20. 5. 1924 aufgehoben.

5 Todev/Rönnebeck/Brazda

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II. Die Entstehung einer sowjetischen Genossenschaftskonzeption

Aufgrund der Erfahrungen, die man während der Periode des Kriegskommunismus gemacht hatte, sollte der Privathandel nun nicht mehr durch administrative Maßnahmen bekämpft werden. Gegen ihn sollten die Konsumgenossenschaften eingesetzt werden, die auf friedlichem Weg den Handel ausschalten und die Warenverteilung übernehmen sollten. Mit diesem Auftrag wurden die Konsumgenossenschaften "ins Rennen geschickt", in ein Rennen mit einem privaten Handel, der sich sehr rasch zu reorganisieren wußte und diese Herausforderung sofort annahm. Die Konsumgenossenschaften erlitten gegen den privaten Handel aber bereits in der ersten Runde schwere Niederlagen und mit ihnen folglich auch der Staat, für den sie ja die Erfassungsaufgaben wahrzunehmen hatten. Insbesondere konnten sie ihrer Aufgabe als Hauptrohstofflieferant für die Industrie nicht nachkommen67 • In dieser Situation sah sich nun die Regierung veranlaßt, vom Naturaltausch abzurücken und zum Geldverkehr zurückzukehren68 • Mit dieser Wiederzulassung des Geldes als Tauschmittel und dem Übergang zur staatlichen Geldregulierung waren aber noch nicht alle Probleme gelöst. Dazu waren Änderungen in der Organisation und Planung des Warenaustausches notwendig, und so wurden mit dem Dekret vom 26. 10. 1921 die Konsumgenossenschaften dann auch von

67 Die Warenfonds, die den Konsumgenossenschaften zum Austausch gegen landwirtschaftliche Überschußprodukte zur Verfügung standen, waren viel zu klein; sie erreichten etwa nur die Hälfte des Wertes der landwirtschaftlichen Überschußproduktion. Außerdem waren die Konsumgenossenschaften gezwungen, sich an ein festes Austauschäquivalent zwischen landwinschaftlichen und industriellen Erzeugnissen zu halten. Dieses Verhältnis war auf Grundlage der Vorkriegspreise in der Industrie und Landwirtschaft festgelegt worden und betrug I : 3 zugunsten der landwinschaftlichen Produkte. Da das Sortiment der industriellen und gewerblichen Produkte der Staatsindustrie zudem sehr eng war und den wirklichen Bedürfnissen der Bauern kaum entsprach, weigerten sich diese immer häufiger, ihre Erzeugnisse gegen diese Waren einzutauschen, und verlangten statt dessen eine Bezahlung in Bargeld. Weiters standen den Konsumgenossenschaften nur sehr beschränkt Geldmittel zur Verfügung, da sie für die staatliche Erfassungstätigkeit in der Regel überhaupt kein Geld erhielten und die Erlaubnis, freiwillige Eintrittsgelder zu kassieren, zu keiner nennenswerten Ansammlung an Kapital geführt hatte. Demgegenüber zahlten der private Handel und auch die Endverbraucher dem Bauern erheblich mehr, was die Konsumgenossenschaften nach Aufhebung der Zwangsmaßnahmen gegenüber der Landwirtschaft in eine hoffnungslos unterlegene Position brachte. Aufgrund ihrer unzureichenden Ausstattung mit finanziellen Mitteln und um überhaupt Weiterexistieren zu können, verharrten viele von ihnen in der reinen staatlichen Instrumentalfunktion. Ihnen war aber auch die Fähigkeit, marktgerecht zu handeln, abhanden gekommen. Für ihre reine durchreglementierte, mechanische Verteilungsarbeit ohne jede Kosten- und Ertragsorientierung hatten sie weder eines ökonomischrationalen Denkens noch wirtschaftlicher Eigeninitiative bedurft. Viele Mitarbeiter, die während der Periode des Kriegskommunismus zwangsweise oder auch aus eigenem Entschluß die Konsumgenossenschaften verlassen hatten, kehrten erst nach und nach wieder zurück, so daß ein akuter Mangel an Fachleuten herrschte.(Vgl. Ruwwe, H.-D.: Die Stellung der Konsumgenossenschaften im Sozialismus Osteuropas, Tübingen 1972, S. 67).

68 Die Wiederherstellung eines freien Marktes und eines durch Geld vermittelten Tauschverkehrs bedeutete in erster Linie die Anerkennung der Privatwirtschaft.

D. Die Genossenschaften im Rahmen der Neuen Ökonomischen Polilik

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jeglichen Planaufgaben befreit69• Die Übernahme staatlicher Aufträge sollte von nun an nur mehr auf vertraglicher Basis erfolgen. Zwar sollten die Staatsorgane sich bei der Vergabe solcher Aufträge weiterhin bevorzugt an die Konsumgenossenschaften wenden, waren diese jedoch nicht bereit, zu den gegebenen Bedingungen einen Vertrag abzuschließen, konnten die Staatsorgane sich an Privatorganisationen und Privatpersonen wenden, d.h., das Kommissariat für Ernährungswesen und andere staatliche Organisationen konnten sich ab nun bei der Wahl ihres Vertragspartners davon leiten lassen, welche konkreten Vorteile ihnen der jeweilige Partner zu bieten hatte70 • Mit diesem Dekret wurde auch das obligatorische Austauschverhältnis zwischen industriellen und landwirtschaftlichen Erzeugnissen aufgehoben. Die Vertragspreise orientierten sich ab nun an den Marktpreisen. Ferner sah das Dekret im Punkt 14 die Rückerstattung jener Produktionsbetriebe an die Konsumgenossenschaften vor, die während des Kriegskommunismus verstaatlicht worden waren. Im September 1921 wurde als logische Folgeall dieser Maßnahmen auch die Finanzierung der Konsumgenossenschaften aus dem Staatsbudget eingestellt. Diese Entscheidung kam unerwartet früh für die Konsumgenossenschaften, die zu diesem Zeitpunkt über nur geringe Eigenmittel verfügten. Die Regierung erklärte sich zwar bereit, Entschädigungszahlungen für die während des Kriegskommunismus verstaatlichten Warenvorräte zu leisten, die aber sehr bescheiden ausfielen und völlig unzureichend waren, um die Konsumgenossenschaften finanziell auf eigene Füße zu stellen. Die Erlaubnis freiwilliger Mitgliedsbeiträge hatte - wie nicht anders zu erwarten- angesichts der wirtschaftlichen Lage der Bevölkerung nicht zu ausreichenden Eigenmittelansammlungen geführt. Unter

69 Dekret SNK "0 porjadke privletschenija potrebitelskoi kooperazü organami gosudarstva k vipolneniju tovaro-obmenich i zagotovitelnich operazii", in: Ekonomiceskaja zisn SSSR, Kniga pervaja, S. 89. 70 Die staatliche Unterstützung der Genossenschaften, die zugleich administrative Maßnahme gegen das Privatkapital war, sollte für die Ausbreitung der Genossenschaften und für eine gewaltsame Verdrängung des Privathandels sorgen. Seit Lenin in seinem Artikel "Über das Genossenschaftswesen" geschrieben hatte, "jede Gesellschaftsordnung entsteht nur, wenn sie durch eine bestimmte Klasse finanziell unterstützt wird" (Lenin, W.: Über unsere Revolution, S. 455), wurde das Won Genossenschaft für die Sowjetmacht zur Parole. Durch Kredite, durch fmanzielle und steuerliche Begünstigungen gegenüber den anderen Institutionen und sogar gegenüber den staatlichen, wurden die Genossenschaften künstlich aufgebaut und in ihrem Wachstum stark geförden. "Die unvermeidliche Folge dieser uns aufgedrungenen Aufgabe, den Markt aufzusaugen, uns mit den Bauern zu verbinden und den Privathandel zu verbinden, war eine fiktive Ausdehnung der Genossenschaftsbewegung" (Chintschuk in: Ekonomitscheskaja zisn vom 19.11.1924).

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II. Die Entstehung einer sowjetischen Genossenschaftskonzeption

diesen Umständen waren die Konsumgenossenschaften auch außerstande, sich mit Waren und Finanzkrediten einzudecken71 • Durchall diese Maßnahmen waren zwar die Konsumgenossenschaften formell aus der Abhängigkeit von der Sowjetmacht befreit worden, realiter blieben sie aber weiterhin ein wesentliches Element in der Politik der bolschewistischen Partei. "In der Epoche der Neuen Ökonomischen Politik haben die Konsumgenossenschaften, wenn sie auch ihre Funktionen gewechselt haben (keine Verteilungsorgane ), weiter die Aufgaben der Sowjetmacht auszuführen. Sie müssen somit wie vorher als Werkzeug des Proletariats in seinem Kampf für den Sozialismus dienen. Darin liegt auch der fundamentale Grundunterschied des gegenwärtigen revolutionären Genossenschaftswesens Rußlands zum vorrevolutionären. Insofern die Genossenschaften das Werkzeug des proletarischen Staates bleiben, hat auch dieser Staat das Recht, die Tätigkeit der Genossenschaften zu lenken, sie zu regulieren und sie zu kontrollieren. " 72 Durch die Aufrechterhaltung der Funktion der Konsumgenossenschaften als Helfershelfer des Staates wurde in der Periode der NÖP am kriegskommunistischen Prinzip einer obligatorischen Mitgliedschaft noch festgehalten. "Das Prinzip der freiwilligen Mitgliedschaft trägt die Gefahr in sich, daß einzelne Konsumgenossenschaften sich davon lossagen werden, den Interessen des Staates zu dienen. Demzufolge würde man neue Genossenschaften aufbauen müssen, die die Staatsaufgaben zu erfüllen hätten... Bei der freiwilligen Mitgliedschaft erhalten die Konsumgenossenschaften größtenteils einen bürgerlichen und kontrarevolutionären Charakter."73 Aber auch dieses grundlegende Prinzip wurde den Konsumgenossenschaften wieder zugestanden. Sie waren nämlich aufgrund der Schwerfälligkeit ihres Apparats, ihres mehrstufigen Warenverkehrs und wegen ihres Eigenkapitalmangels bald nicht mehr in der Lage, die ihnen zugewiesenen Aufgaben zu erfüllen. Nun bekannte man sich dazu, daß Konsumgenossenschaften erst dann erfolgreich sein können, wenn eine Freiwilligkeit der Mitgliedschaft gegeben war und sich die Genossenschaften voll auf die Bedürfnisse der Mitglieder ausrichten müssen. Aber auch dieses Eingeständnis aus dem Jahre 1924 wurde dem Endziel,

11 Die Situation der Konsumgenossenschaften wurde immer kritischer. Sie waren gezwungen, sich jenen Tätigkeiten zuzuwenden, die besonders gewinnversprechend waren oder nur einen geringen Einsatz an Eigenmitteln erfordenen.

Die aus ihrer finanziellen Notlage resultierende Konzentration ihrer Aktivitäten auf die staatliche ErfassungstätigkeiL und den Rohstoffexpon gab dem privaten Handel breiten Raum, seine Stellung auf dem Markte weiter auszubauett Ende 1922 wurden bereits ca. 95% der Einzelhandelsbehiebe von privaten Händlern gefiihn, auf die etwa 3/4 des gesamten Einzelhandelsumsatzes entfielen. 12 Meschtscherjakow: Charakter i sadatschi kooperazii v raslitschnie peridi russkoi rcvoluzii, in: Kommunism i kooperazija, Moskwa 1922, S. 30.

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Meschtscherjakow: Charakter, S. 3lf.

D. Die Genossenschaften im Rahmen der Neuen Ökonomischen Politik

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dem sozialistischen Aufbau, untergeordnet, d.h. als ein taktischer Schritt interpretiert. "Die Freiwilligkeit ist für uns nur eine Methode, am raschesten in die Reihen der Konsumgenossenschaftsbewegung breite arbeitende Massen heranzuziehen. Sie kann gegenwärtig solche Formen annehmen, bei welchen sich die Selbständigkeit vergrößern und die Befestigung dessen, was wir bis jetzt erreicht haben, sich schneller vollziehen wird."74

Die landwirtschaftlichen Genossenschaften Durch das Dekret vom 16. August 1921 "Über die landwirtschaftlichen Genossenschaften" sind auch den landwirtschaftlichen Genossenschaften wieder größtmögliche Freiheiten eingeräumt worden, und zwar sowohl den Einzelgenossenschaften als auch für die Verbandsbildung75 • Der Zentrosojus war nicht mehr die einzige Zentrale für das gesamte Genossenschaftswesen. Wie bereits erwähnt, war im Rahmen der Einführung der NÖP den landwirtschaftlichen Genossenschaften die schärfste Ablehnung seitens des Bolschewismus widerfahren, da sie als Träger des bourgeoisen Gedankens und als Förderer des großbäuerlichen Geistes galten. Deshalb war gerade der Umschwung in der Haltung des Bolschewismus gegenüber dem landwirtschaftlichen Genosseuschaftswesen - eine Anerkennung der bestehenden landwirtschaftlichen Genossenschaften als Vorstufen zu höheren Formen des kollektiven Ackerbaues, die im Übergang zum Kollektivismus in der Landwirtschaft unbedingt erforderlich waren, ein großes Zugeständnis ihnen gegenüber. An den Kollektivwirtschaften als das eigentliche sozialistische Ziel in der Landwirtschaft hielt man aber fest. - mit der Schaffung einer günstigen Entwicklungsgrundlage für genossenschaftliehe Formen zur kollektiven Bearbeitung des Bodens im Rahmen der neuen Agrarreform und damit einer angestrebten neuen Flur- und Gemeindeverfassung verbunden.

Tichomirow: Na novich dorogach, in: Potrebsojus, 1923, Nr. 9, S. 7. "Der werktätigen Bevölkerung der Landwirtschaft treibenden Gebiete wird das Recht eingeräumt, landwirtschaftliche Genossenschaften oder Artells und Kommunen zu bilden, und zwar mit folgender Zwecksetzung: 74 75

I. gemeinsame Landwirtschaft und deren Nebenzwecke zu betreiben, 2. die landwirtschaftlichen Produkte zu verarbeiten und zu verkaufen, 3. Bodenmeliorationsarbeiten durchzuführen, 4. Die Mitglieder mit Bedarfs- und Betriebsmitteln zu versorgen, dazu Maschinen und andere teclurische Einrichtungen einzukaufen, anzulegen und zu benutzen, 5. Organisationen des genossenschaftlichen Kredits zu gründen. 6. alle sonst zur Hebung der Landwirtschaft geeigneten Maßnahmen durchzuführen (Narodnos chosjaistwo SSSR sa 1917-1927 godi, Moskwa 1928, S. 24.)

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II. Die Entstehung einer sowjetischen Genossenschaftskonzeption

Vom 20.-24. August 1921 fand der Gründungskongreß des Russischen Verbandes der landwirtschaftlichen Genossenschaften statt. Im Mittelpunkt seiner Beratungen stand die Entwicklung des bäuerlichen Familienbetriebs und die Rolle, die Genossenschaften dabei übernehmen könnten. Die Delegierten, unter denen die ehemaligen Sozialrevolutionäre die Mehrheit stellten, sahen in den Genossenschaften das einzige Mittel zur Belebung der zerrütteten Bauernwirtschaft. Zur Diskussion standen vor allem Aussagen von Maslow aus seinem Buch "Der Bauernbetrieb", welches später von Lenin einer scharfen Kritik unterzogen wurde. Maslow trat hier für den Weiterbestand der bäuerlichen Familienbetriebe ein und empfahl zur Erhöhung ihrer Produktivität ihren Zusammenschluß zu Genossenschaften. Er widersprach damit den Grundvorstellungen der bolschewistischen Partei, für die die Zulassung der landwirtschaftlichen Genossenschaften nur eine Zwischenstufe zu kollektivistischen Formen der Bodenbearbeitung darstellte. Aber auch der russische Agrarökonom Alexander Tschajanow76 forderte mit seinen Thesen die bolschewistischen Genossenschaftsideologen heraus. In seinem auch in deutscher Sprache erschienenen Buch "Versuch einer Theorie der Familienwirtschaft im Landbau - Die Lehre von der bäuerlichen Wirtschaft" widersprach er der Annahme, daß ein landwirtschaftlicher Betrieb nach Gewinnmaximierung strebe, und behauptete, daß "die bäuerliche Wirtschaft danach strebt, ihre Bedürfnisse mit möglichst geringer Mühe zu decken und ihre Arbeitskraft in Anpassung an die vorhandenen Produktionsmittel und unter Berücksichtigung aller Verwendungsmöglichkeiten so einzusetzen, daß alle Möglichkeiten zur Erzielung eines hohen Ertrages ausgenutzt werden."77 "Verwendungsmöglichkeiten" der dem Haushalt zur Verfügung stehenden Ressourcen sah er, neben der Arbeit im Haushalt, vor allem in der außerbetrieblichen Erwerbstätigkeit, die die Familie in dem Maße wahrnimmt, wie bei der "Vergleichung" der sich dabei ergebenden Verdienste mit denjenigen aus der Landwirtschaft "die bäuerliche Wirtschaft aus beiden diejenige Möglichkeit, ihre Arbeitskraft zu realisieren, auswählt, die ihr im ganzen den höchsten Ertrag für die

76 A.W. Tschajanow (1888-1937) war einer der berühmtesten Agrarökonomen seiner Zeit. Im Westen gilt er als ein Vertreter der russischen Volkstümler und der daraus gewachsenen Partei der Sozialrevolutionäre. Diese politische Einordnung Tschajanows wird aber seinen Grundaussagen nicht gerecht. Während die Volkstümlerund die Sozialrevolutionäre nach einer Vergesellschaftlichung der Produktion mittels Errichtung von Produktionsgenossenschaften trachteten, trat Tschajanow für den Weiterbestand der Familienbetriebe ein und sprach sich damit gegen eine Vergesellschafllichung der Produktion aus. Er ging mit den Volkstümlemund den Sozialrevolutionären konform, daß die Bauern eine Schlüsselposition in der russischen Wirtschaft innehaben und damit die Lösung der Agrarfrage zu den wichtigsten politischen Aufgaben für die Weiterentwicklung Rußlands zählt. 77 Tschajanow, A.: Die Lehre von der bäuerlichen Wirtschaft. Versuch einer Theorie der Familienwirtschaft im Landbau. Berlin, 1923 (und Nachdruck New York 1987, S. 60).

D. Die Genossenschaften im Rahmen der Neucn Ökonomischen Politik

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Grenzarbeitseinheit gewährleistet"78 • Nicht die Maximierung des Betriebsgewinnes ist somit das eigentliche Ziel der Wirtschaftsweise der bäuerlichen Familien, sondern die Maximierung ihres Gesamteinkommens. Tschajanow ging deshalb davon aus, daß nicht der Betrieb, sondern die bäuerliche Familie die eigentliche zentrale Institution sei, die darüber entscheidet, in welcher Weise sie die insgesamt zur Verfügung stehende Zeit der einzelnen Familienmitglieder auf die im Betrieb zu verrichtenden Arbeiten, auf Haushalt - und außerbetriebliche Tätigkeit - und auf Erholung und Freizeit aufteilen will, damit der Nutzen der Familie so groß wie möglich wird. Da die dem Ziel der Nutzenmaximierung dienende" Aufteilung der Arbeit der bäuerlichen Familie zwischen landwirtschaftlichem und anderem Erwerb sich nach dem Vergleich der Ertragsmöglichkeiten auf diesen beiden Gebieten der Volkswirtschaft vollzieht und das "Verhältnis beider Konjunkturen aber ein wechselndes ist"79, folgerte er, daß auch die dem jeweiligen Verhältnis beider "Konjunkturen" entsprechenden Betriebsgrößen sehr unterschiedlich sein werden. Die im Zeitablauf eintretenden Veränderungen können in diesem Verhältnis zu sehr verschiedenen Anpassungen der optimalen Betriebsgrößen führen. Weiters behauptete er, daß die Vorzüge, die der Großbetrieb vor dem Kleinbetrieb habe, die Selbstkosten nicht so stark beeinflussen würden und daß der Kleinbetrieb sehr wohl wettbewerbsfähig sei. Die Überlebenschancen und die Überlegenheit der Familienbetriebe gegenüber den Großbetrieben sah er in deren "ökonomisch-sozialen Besonderheiten", die sich aus der Wesensart einer Privatwirtschaft ergeben, in welcher die Produktion ohne Verwendung der Lohnarbeit durch die Familie erfolgt. Die Entwicklung der Landwirtschaft in Westeuropa und die Behauptung der bäuerlichen Familienbetriebe als Hauptorganisationsform der landwirtschaftlichen Produktion in den meisten westeuropäischen Ländern haben zweifellos ihre Überlebensfähigkeit und damit die These von Tschajanow vielmals bestätigt. Der neue Agrarkodex aus dem Jahre 1922, mit dem neben der Dorfgemeinschaft und der genossenschaftlichen Landnutzung auch wieder die freie Individualwirtschaft zugelassen wurde, war der zweite bedeutende Kompromiß, der im Rahmen der NÖP gemacht wurde. Damit war ein weiterer den ursprünglichen sozialistischen Zielen widersprechender Faktor in das Sowjetsystem wieder eingeführt worden: das individualistische Prinzip in der Bauernwirtschaft.

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Tschajanow, A.: Die Lehre von der bäuerlichen Wirtschaft, S. 61 .

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Tschajanow, A.: Die Lehre von der bäuerlichen Wirtschaft, S. 61.

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II. Die Entstehung einer sowjetischen Genossenschaftskonzeption

Zur Erfassung der ca. 23 Millionen isolierten Bauernwirtschaften und ihre Einbeziehung in die sozialistische Planwirtschaft sah auch Lenin letztlich keine andere Möglichkeit, als auf die alten landwirtschaftlichen Genossenschaftsformen zurückzugreifen, um so auf dem Wege einer langsamen Vergenossenschaftlichung in der Landwirtschaft einen Kollektivismus zu etablieren. "Die allgemeine nicht individuelle Einwirkung auf die Bauernwirtschaften ist abhängig von deren genossenschaftlichem Zusammenschluß. Nur mit Hilfe der landwirtschaftlichen Genossenschaften ist es möglich, die individuelle Psychologie des Bauern zu verdrängen und an ihre Stelle die kollektive Psychologie zu setzen. " 80 Lenin mußte eingestehen, daß eine direkte Überführung der Landwirtschaft in den Sozialismus mißglückt war, "die Leute, die mit den besten Absichten von Dorf zu Dorf ziehen, um Kommunen zu gründen, verstanden nichts von Landwirtschaft ... Die psychologische Umwandlung der Kleinbauern ist eine Aufgabe mehrerer Generationen." 81 Er sah sich gezwungen, gegenüber den alten landwirtschaftlichen Genossenschaften Kompromisse zu schließen, und proklamierte die Wiedererrichtung der verschiedenen landwirtschaftlichen Genossenschaftsformen wie der Kredit-, Absatz-, Einkaufs-, Produktionsgenossenschaften usw. Sein Vorurteil, daß diese Genossenschaftsarten primär Organisationen der wohlhabenden Bauernschaft und nur solche, die die bäuerliche Wirtschaft am Rande berührten, waren, behielt er aber aufrecht. Für die Verwirklichung der revolutionären Ziele des Proletariats war er aber bereit, während einer Übergangsperiodedie alten landwirtschaftlichen Genossenschaftsformen bestehen zu lassen und sie für das Sowjetsystem einzusetzen. Sie waren zwar für ihn nur die einfachste Form der Vergesellschaftung, die noch die bäuerliche Wirtschaft unberührt ließen, mit denen sich durch die genossenschaftliche Erfassung der landwirtschaftlichen Produkte auch Individualwirtschaften in die sozialistische Planwirtschaft einordnen ließen. So sollten ab jetzt neben Produktivgenossenschaften, die die Landwirtschaft in vertikaler Richtung organisierten, auch landwirtschaftliche Genossenschaften und damit horizontale Organisationsformen zum Einsatz kommen. Die Genossenschaften für den Einkauf und Absatz landwirtschaftlicher Produkte waren und blieben aber nach der bolschewisti-

80

s.so.

Lenin, W.: Über das Genossenschaftswesen (Januar 1923), in: Lenin Werke, Bd. 33, Ber1in 1971,

81 Lenin, W.: Über die Naturalsteuer (Die Bedeutung der neuen Politik und ihre Bedingungen) (April1921), in: Lenin Werke, Bd. 32, Berlin 1961 , S. 361.

E. Stalin und das Genossenschaftswesen

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sehen Ideologie nur Zwischenstufen der Kollektivierung. Wichtiger und bedeutender für den Übergang der landwirtschaftlichen Produktion zu sozialistischen Fonneo blieben die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften: die Verarbeitungs-, (Molkerei-, Kartoffelverwertungs-, Geflügel- und ObstzuchtGenossenschaften) und vor allem die Maschinen-, Traktoren- und Meliorationsgenossenschaften, denn sie griffen bereits in die individualistische Produktion ein und stellten diese auch schon auf eine kollektive Basis. Ziel in der Landwirtschaft blieb damit der kollektive Ackerbau auf großbetrieblicher Basis, sei es in genossenschaftlicher oder staatlicher Fonn. Lenin hielt aber auch, wenn er für die Übergangszeit gegenüber der bäuerlichen Wirtschaft Kompromisse schließen mußte, am marxistischen Dogma, der Überlegenheit des Großbetriebes in der Landwirtschaft, fest. Obwohl die zwangsweise Kollektivierung im Kriegskommunismus mißglückt war und in der NÖP nicht mehr weiter verfolgt wurde, wollte man mit allen Maßnahmen der neuen Agrarrefonn die Bauern durch Rat und Unterstützung und durch das Beispiel von Mustergütern davon überzeugen, ihre individuellen Kleinbetriebe in einen genossenschaftlichen Großbetrieb überzuführen. "Nur wenn es gelingen wird, den Bauern in der Praxis alle Vorteile der gesellschaftlichen, genossenschaftlichen Bodenbearbeitung vor Augen zu führen, nur dann wird die Arbeiterklasse, die die Staatsmacht in Händen hat, den Bauern tatsächlich von der Richtigkeit des von ihr eingeschlagenen Weges überzeugen. Nur dann werden wir mit Recht sagen können, daß in einem so ungeheueren Bauernlande, wie Rußland es ist, ein erster Schritt vorwärts auf dem Wege zur sozialistischen Landwirtschaft gemacht worden ist. " 82

E. Stalin und das Genossenschaftswesen - Otlizialisierung der Genossenschaften und Kollektivierung der Landwirtschaft

Die KonsumgeiUJssenschaften Lenins neues Rollenverständnis der Genossenschaften im Aufbau des Sozialismus in seinem Artikel "Über das Genossenschaftswesen" leitete in den zwanziger Jahren die Ära einer neuen Genossenschaftspolitik in der Sowjetunion ein. Nun erhielten die Konsumgenossenschaften die von ihnen so dringend benötigten staatlichen Kredite zu sehr günstigen Bedingungen und sie wurden von der Staatsindustrie durch die Gewährung langfristiger Warenkredite kräftig unter-

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S. 73.

Lenin, W. : Überdas Genossenschaftswesen (Januar 1923). in: l..enin Werke, Bd. 33, Berlin 1971.

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Il. Die Entstehung einer sowjetischen Genossenschaftskonzeption

stützt. All das trug dazu bei, daß sie ihren Mangel an Eigenmitteln rasch kompensieren konnten. Sie waren damit im Laufe des Jahres 1923 in der Lage, ihre ursprünglichen Aktivitäten, den Konsumgütereinzelhandel, wieder zu intensivieren. Thre dabei erzielten Erfolge waren nicht gerade spektakulär. Es gelang ihnen aber immerhin, den Vormarsch des privaten Einzelhandels zu stoppen. Man hatte nicht erwartet, daß die Konsumgenossenschaften dem privaten Handel rasch Paroli bieten könnten, aber doch gehofft, daß sie aufgrundder ihnen im Vergleich zum Privathandel massiv zukommenden Unterstützung diesem weitaus mehr zusetzen würden, als es 1923 tatsächlich der Fall gewesen war. Die Konsumgenossenschaften waren aber bereits aufgrund der ihnen vom Staat aufgezwungenen Organisationsprinzipien, wie der obligatorischen Mitgliedschaft, dem Verbot der Einhebung von Pflichtmitgliedsbeiträgen und dem zwangsweisen Zusammenschluß zu einem nach administrativen Kriterien konzipierten Verbandssystem, zu schwerfälligen, bürokratischen Apparaten entartet, die mit dem flexibleren W1d anpassrn1gsfähigeren Privathandel nicht mehr mithalten konnten. Deshalb stand die Frage des Binnenhandels und welche BedeutW1g dabei den Genossenschaften zukommen sollte auf dem XIII. Parteitag der Kommunistischen Partei (im Mai 1924) wieder zur Debatte. Bereits wenige Tage vorher hatte man den Konsumgenossenschaften in einem Dekret ihre traditionellen Organisationsprinzipien wieder zugestanden83 • Daß damit aber kein Verzicht auf die lnstrumentalisierungsfW1ktion der Genossenschaften im sozialistischen Aufbau verbunden war, zeigte sich vor allem darin, daß - die Offenheit der Mitgliedschaft weiterhin auf das Sowjetsystem beschränkt blieb; d.h. nur Sowjetbürger, die nach der Verfassung wahlberechtigt waren, konnten Mitglieder der Konsumgenossenschaften werden. Damit hielt man an

83 Postanovlenie ZIK i SNK SSSR "0 reorganisazii potrebitelskoi kooperazii na natschalach dobrovolnogo tschlenstva". Das Dekret enthielt I. die freie Gründung von Konsumgenossenschaften und eine offene Mitgliedschaft. Der Ein- und Austritt erfolgt von nun an wieder auf freiwilliger Basis und jedes Mitglied hatte beim Austritt Anspruch auf die Rückzahlung seiner einbezahlten Geschäftsanteile und auf seinen anteiligen Gewinn; 2. die Leitung oblag wieder den Genossenschaften selbst; 3. Nichtmitgliedergeschäfte waren wieder erlaubt; 4. die Aufhebung des Verbots obligatorischer Eintrittsgelder und Einlagen. Mit Rücksicht auf die ärmeren Bevölkerungsschichten durfte das Eintrittsgeld aber höchstens 50 Kopeken betragen und der Mindestgeschäftsanteil nicht größer als 5 Rubel sein; 5. Wiedereinführung des Ein Mann-Eine Stimme-Prinzips; 6. der Zusammenschluß zu Verbänden erfolgte wieder auf freiwilliger Basis; 7. die Verbände und Primärgenossenschaften erhielten mit der Registrierung den Status juristischer Personen; 8. der Tätigkeitsbereich der Konsumgenossehnschaften umfaßte wieder die Produktion (Errichtung von Industrieuntemehmungen, Fabriken, Farmen und Musterstationen) und Dienstleistungen (vor allem im Anbot von Krediten durch die Errichtung von Kreditabteilungen). (Vgl.: Reschenija partii i pravitelstva po chosjaistvennim voprosam (1917-1967), tom I, Moskva, S. 385).

E. Staün und das Genossenschaftswesen

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der Vorstellung der Genossenschaft als einer "Klassenorganisation" fest, mit der eine Mitgliedschaft des Klassenfeindes, sprich der Großbauern (Kulaken), unvereinbar war84• - ein indirekter Mitgliedschaftszwang aufrechterhalten wurde, da nur Genossenschaften ein großes Warengebot zu günstigen Preisen durch die ihnen vom Staat gewährten Bevorzugungen anbieten konnten und dadurch quasi eine Monopolstellung innehatten. Auf dem Parteitag selbst beschloß man, um den Binnenmarkt wieder voll unter die Kontrolle der staatlichen Organe und der Genossenschaften zu bringen und das Privatkapital aus dem Groß- und Einzelhandel zu verdrängen, ein Volkskommissariat für den Binnenhandel (Binnenhandelsministerium) einzurichten. Weiters wurde den Genossenschaften im Einzelhandel Priorität eingeräumt, d.h. staatliche Handelsorganisationen sollten nur dort zum Einsatz kommen, wo sich das Genossenschaftssystem nicht etablieren konnte. Mit den Resolutionen "Über den Binnenhandel" und "Über das Genossenschaftswesen"legte der Parteitag die Grundlinien für seine künftige Binnenhandels- und Genossenschaftspolitik fest. Der Privathandel wurde unter den herrschenden Bedingungen als ein notwendiges Element, auf welches man im Interesse einer funktionierenden Versorgung der Bevölkerung noch nicht verzichten könne, toleriert, er sollte aber so bald als möglich durch den Staats- und insbesondere den Genossenschaftshandel ersetzt werden. Das sollte aber nicht durch administrative Maßnahmen geschehen, die Konsumgenossenschaften waren aufgerufen, getreu der ursprünglichen Konzeption, ihre wirtschaftliche Vorteilhaftigkeit - vor allen durch niedrige Preise und ein bedürfnisorientiertes Warenangebot - selbst unter Beweis zu stellen85 • Um der Bevölkerung einen Anreiz zum Beitritt zu bieten, sollten sie sich primär auf das Mitgliedergeschäft konzentrieren.

•• Nach Tomski erfolgte, obwohl das Dekret von einer freiwilligen Mitgliedschaft bei den Konsumgenossenschaften ausging, in Wirklichkeit eine zwangsweise Eingliederung von oben, indem bei Gewährung von Unterstützungen und Darlehen an Kunden sich diese in die Konsumgenossenschaften eintragen lassen mußten. (Vgl. Ekon01:nitscheskaja zhisn, Ne. 296, 1925). 1' "Natürlich würde es uns leicht sein, die Privatkautleute mit einem Federstrich von allem zu enteignen. Unsere Aufgabe besteht aber nicht darin, daß wir mit Hilfe des einen oder anderen Dekrets den Privatkaufmann vernichten sollen, sondern unsere Aufgabe besteht darin, daß wir ihn mit wirtschaftlichen Mitteln, mit Hilfe der Genossenschaft, auf organischem Wege, vom Staate unterstützt, verdrängen." (Sinowjew: Aus dem Referat "Der politische Bericht des Zentralkomitees" auf dem 13. Kongreß der KPR (B), in: Die Genossenschaft im Klassenkampf, Informations-Bulletin der Kooperativsektion der Kommunistischen Internationale, Deutsche Ausgabe, Moskau 1924, Fünftes Heft, s. 89).

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II. Die Entstehung einer sowjetischen Genossenschaftskonzeption

In der Resolution "Über das Genossenschaftswesen" war nicht nur die Rolle der Konsumgenossenschaften im Kampf gegen das Privatkapital im Binnenhandel festgehalten, sie enthielt darüber hinausgehend ein komplettes Programm für den Einsatz der Genossenschaft beim Aufbau der sozialistischen Gesellschaft86• Besonderes Gewicht wurde dabei dem ländlichen Genossenschaftswesen in der Stärkung der bäuerlichen Familienwirtschaften gegeben. Es sollte als Unterstützung der niedrigen und mittleren Schichten des Dorfes gegen die Großbauern eingesetzt werden. Man sah in Genossenschaften aber weiterhin nur eine Stufe auf dem Wege zur Kollektivwirtschaft87•

Das Privatkapital im Handel und bäuerliche Familienwirtschaften in einem Staat, der es darauf angelegt hatte, jedes individuelle Gewinnstreben und einzelwirtschaftliche Handeln zugunsten eines Kollektivismus auszuschalten, blieben damit Fremdkörper, die man rasch beseitigen mußte. Die instrumentalen Funktionen der Genossenschaften, den Privathandel auszuschalten88 und die Bauernwirtschaften in die Planwirtschaft einzubeziehen, waren damit vorgegeben: Es sollte neben der Staatsindustrie eine genossenschaftlich organisierte bäuerliche Produktion aufgebaut und beide Produktionsbereiche durch einen staatlich-konsumgenossenschaftliehen Handelsapparat verbunden werden. Im Jahre 1931 wurde der private Einzelhandel dann aber doch gänzlich verboten. Damit war in weiten Teilen des Landes der Weg der Konsumgenossenschaften zu Monopolisten im Einzelhandel frei. Die Zahl ihrer Mitglieder stieg rasch an. Ende 1933 waren es bereits 73 Mio. Wie sich bald herausstellte, waren die Konsumgenossenschaften nicht in der Lage, die durch die Ausschaltung des privaten Handels entstandene Versorgungslücke zu füllen. Stalin folgerte daraus, daß die Konsumgenossenschaften diese Aufgabe allein nicht leisten konnten, und zog organisatorische Konsequenzen. Durch eine Verordnung vom 29. September 1935 wurden die Konsumgenossenschaften aus den Städten verbannt und ihr Eigentum wurde dem staatlichen 86 Folgende Themenbereiche werden behandelt: 1. Die Funktionen der Genossenschaft beim ZUsammenschluß der Staatsindustrie mit der bäuerlichen Wirtschaft; 2. Die Produktion und die Organisierung des Absatzes; 3. Das Genossenschaftswesen unter der Diktatur des Proletariats; 4. Der Übergang zum Festrubel und dem Markt; 5. Das Wachstum des Genossenschaftswesens und seine wesentlichsten Mängel; 6. Das Genossenschaftswesen im Dorf; 7. Die Arbeitergenossenschaften; 8. Maßnahmen zur Sanierung und Festigung des Genossenschaftswesens; 9. Die Arbeitergenossenschaften in den nationalen Republiken und Gebieten; 10. Genossenschaftswesen und die Staatsorgane; 11. Wohnungsfrage und Genossenschaften; 12. Die Spezialaufgabe der Partei in bezugauf das Genossenschaftswesen. (siehe Anhang) 17 "Ferner bildet die Heranziehung der bäuerlichen Massen zur genossenschaftlichen Selbständigkeit eine Schule der Kollektivwirtschaft für den Bauern, und zwar die einfachste und verständlichste." (Die Genossenschaft im Klassenkampf, Informations-Bulletin der Kooperativsektion der Kommunistischen Internationale, Deutsche Ausgabe, Moskau 1924, Fünftes Heft, S. 100). 88

Ersetzung des kapitalistischen Zwischenhandels durch die Konsumgenossenschaften.

E. Stalin und das Genossenschaftswesen

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"Kommissariat für den Handel" übereignet. 58.000 Läden und 20.000 Gaststätten der Konsumgenossenschaften wurden ohne jegliche Entschädigung enteignet. Thre Bäckereien, Molkereien, Brauereien in den Städten sowie ihre Lagerhäuser wurden ins Staatseigentum überführt. Der Zentrosoyus wurde gewaltsam auf einen Zentralverband der ländlichen Konsumgenossenschaften reduziert und den Konsumgenossenschaften wurde die Aufkaufsfunktionen für die Erzeugnisse der Kolchosbauern aus ihren Hauswirtschaften übertragen. Die ideologische Debatte Nach der Wirtschaftskrise und den Versorgungskatastrophen während des Krieges, der Revolutionsperiode,jener des Bürgerkriegs und des Kriegskommunismus hatte die Phase der NÖP zu einer Normalisierung des Wirtschaftslebens und damit zu einer zumindest kurzfristigen Absicherung der politischen Herrschaft der Bolschewiki geführt. Ab Mitte der zwanziger Jahren entbrannte aber die politisch-ideologische Debatte aufs neue. War das System der NÖP auch ein Garant für die Überwindung der wirtschaftlichen Rückständigkeit des Landes und für den Übergang zum Sozialismus? Und wenn nicht, welcher alternativen Strategien bedurfte es, um die langfristigen Wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Ziele zu erreichen? Realiter kam es damit nach dem Tode Lenins zu einer Fortsetzung jener Kontroversen über die programmatische Orientierung der geistigen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklung des Landes, die für die ersten Jahre der Sowjetunion kennzeichnend gewesen waren. Im Unterschied zur ersten Periode, in der noch eine gewisse Solidarität für die gemeinsame Sache trotz großer Differenzen und gegensätzlicher Charaktere, waren sie noch so konträr, vorherrschte, prallten nun die Gegensätze voll aufeinander. Eine der wichtigsten ideologischen Streitfragen der Bolschewisten war jene über die wahren politischen Aufgaben des Proletariats in der Revolutionsphase vor und nach 1917. Je nach ihrer Beantwortung kann man innerhalb der russischen Sozialdemokratie zwischen radikalen Trotzkisten, in der Mitte stehenden Leninisten und gemäßigten Menschewisten unterscheiden. Ein wichtiges Moment in dieser Auseinandersetzung war die Frage nach dem Stellenwert der Bauern in der Revolution. Ausgehend von Trotzkis Forderung nach einer permanenten Revolution89, in deren Rahmen er sich gegen ein Bündnis zwischen 89 Die 1lleorie der "permanenten Revolution'" entwickelte Trotzlei 1905. Er sah nur in der konsequenten und kompromißlosen Ausweitung der Revolution auf Westeuropa einen Ausweg aus dem Dilemma, in einem ökonomisch und sozial rückständigen zaristischen Rußlands unmittelbar eine ''unbeschränkte Diktatur der Arbeiter'' errichten zu können. Ein echter Aufschwung der sozialistischen Wirtschaft wäre nach Trotzki erst nach dem Sieg des Proletariats in den wichtigsten europäischen Ländern zu erreichen gewesen.

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II. Die Entstehung einer sowjetischen Genossenschaftskonzeption

dem Proletariat und der Bauernschaft und für eine Revolution durch radikale Aktionen des Proletariats ausgesprochen hatte, und der sich Lenin nach der Februarrevolution in seinen Aprilthesen angeschlossen hatte, entzündete sich innerhalb der Partei ein Diskurs, der immer mehr zu einem Prioritätenstreit ausartete. Mit seiner Kritik an der Haltung Stalins, Sinowjews und Kamenews zur Vorgangsweise der provisorischen Regierung vor dem Oktoberaufstand90 in seinem Buch "Die Lehre des Oktobers" erreichte Trotzki nur, daß dieses Triumvirat noch näher zusammenrückte und mit dem Wortführer Stalin in folgenden Fragen geschlossen gegen ihn auftrat. Trotzkis Ansatz, daß für den sozialistischen Aufbau ein militanter Internationalismus Grundvoraussetzung sei, trat Stalin mit der Lehre vom Sozialismus in einem Lande entgegen; die Abwertung der Bauernschaft als revolutionäre Kraft entkräftete Stalin mit ihrer Überbewertung in der Revolution91 ; gegen Trotzkis Warnung vor einer sich anbahnenden Entartung der Partei und bürokratischen Gefahr für die Revolution wandte Stalin als ein Mann des "Apparats" ein, daß es sowohl in der Partei als auch in der Verwaltung keine Entartungserscheinungen gebe und die Bürokratisierung kanalisiert werden könne. Somit stellte Stalin der pessimistischen Sicht Trotzkis einen grenzenlosen Optimismus gegenüber, der den Aspirationen, aber auch den ökonomischen Interessen der Träger jener "Ingenieursdiktatur" entsprechen sollte, die Bakunin einst erahnt hatte. Stalin nutzte diese Kontroverse, um seine eigene Macht aufzubauen. Es gelang ihm, den Versuch Sinowjews erfolgreich abzuwehren, auf dem XIV. Parteitag der KPR(B) (Dezember 1925) alle oppositionellen Gruppen, vor allem jene um Trotzki und Kamenew, gegen seine sich bereits abzeichnende Neigung zur Alleinherrschaft92 zu vereinen. Er sicherte sich gegen diese "neue Opposition" zunächst die Unterstützung des gemäßigten Flügels der Partei (Bucharin, Tomski, Rykow u.a.), den er aber in der Folge als "rechte Abweichung" abstempelte, die man bekämpfen und ausschalten müsse93. 90 Er nahm hier zur chauvinistischen Haltung Stalins gegenüber dem ersten Weltkrieg, sowie zu einem Brief Sinowjews und Kamenews an die Partei, in welchem sie sich für den bewaffneten Aufstand aussprachen, Stellung. (Vgl. Trotzki, L.: Die Lehre des Oktobers, in: Um den Oktober, Harnburg 1925). 9 ' "Mit diesem Verbündeten, das heißt mit der Bauernschaft, arbeiten wir zusammen, gemeinsam mit ihr bauen wir den Sozialismus auf; ob gut oder schlecht, aber wir bauen ihn auf, und wir müssen diese Verbündeten gerade jetzt, besonders jetzt, zu schätzen wissen." (Stalin, J.: Über "Dymowka". Rede am 26. Januar 1925, in: Stalins Werke, Berlin 1952-1955, Bd. 7, S. 19).

92

Als Generalsekretär konnte Stalin über einen allmächtigen Parteiapparat verfügen.

Die "Rechten" gingen in ihrem Programm von einer organischen Industrialisierung aus, worunter sie einen Autbau des Sozialismus in einer den bestehenden Verhältnissen Sowjetrußlands entsprechenden Form verstanden, der eine Unterstützung durch die Bauemsehaft inkludierte. Bucharin entwickelte die Lehre vom "Hineinwachsen" der Bauern in den Sozialismus und vom Absterben des Klassenkampfes. 93

E. Stalin und das Genossenschaftswesen

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Bucharin, eine Stimme der Vernunft und Mäßigung, ging in seinem Programm davon aus, daß eine Verbesserung des Lebensniveaus der Arbeiter und Bauern und eine kontinuierliche Entfaltung der Produktivkräfte der gesellschaftlichen Arbeit langsam, aber stetig durch einen effizienteren Einsatz der Ressourcen zu erreichen wäre. "Qualitativer Aufschwung der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit und entschlossener Kampf gegen die unproduktiven Ausgaben: dies sind die wesentlichen Quellen der Akkumulation." 94 Er lehnte unter Verweis auf Lenin eine rasche und zwangsweise Kollektivierung privater Bauernwirtschaften zu größeren, gesellschaftlichen Agrarwirtschaften ab, da er davon überzeugt war, daß damit das Vertrauensverhältnis zwischen Bauern und Arbeiterklasse zerstört und die Entwicklung der staatlichen Wirtschaft und des Staats- und Parteiapparates überfordert würde, d.h. einer Beteiligung der Gesamtbevölkerung an einer gesellschaftlich-politischen Umgestaltung und einem rationellen Verlauf der Industrialisierung zuwiderlaufe. Bucharin sah deshalb in der Zwangskollektivierung der Bauernwirtschaften und der Zerstörung der wirtschaftlichen Basis der Kulaken kein tragfähiges Fundament für eine sozialistische Entwicklung. Man sollte danach streben, "einen Staat aufzubauen, in dem die Arbeiter die Führung über die Bauern behaupten, sich das Vertrauen der Bauern bewahren und durch größte Sparsamkeitjede Spur jedweden überflüssigen Aufwands an ihrer Gesellschaftsordnung ausmerzen. Wir müssen unseren Staatsapparat auf die größte Sparsamkeit einstellen. Wir müssen jede Spur überflüssigen Aufwands aus ihm ausmerzen, der sich in ihm vom zaristischen Rußland, von seinem bürokratisch-kapitalistischen Apparat noch in so großem Ausmaß erhalten hat. Wird das nicht ein Reich bäuerlicher Beschränktheit sein? Nein. Wenn wir die Führung der Arbeiterklasse über die Bauemsehaft behaupten, dann wird es uns um den Preis größter, allergrößter Sparsamkeit in der Wirtschaft unseres Staates möglich sein, zu erreichen, daß jede noch so kleine Einsparung der Entwicklung unserer maschinellen Großindustrie ... zugute kommt. Darin, und nur darin, wird unsere Hoffnung liegen... Und zwar werden wir imstande sein, uns zu behaupten - nicht auf dem Niveau eines kleinbäuerlichen Landes, nicht auf dem Niveau dieser allgemeinen Beschränktheit, sondern auf einem Niveau, das unablässig steigt, aufwärts und stetig vorwärts zur maschinellen Großindustrie." 95 Für Bucharin war Lenins Konzept der NÖP eine mittelfristige Strategie, in der man zur Entwicklung gesellschaftlicher Arbeit auch die individuellen und jene sich vom Eigentumsdenken ableitenden materiellen Interessen nutzen konnte. Da die Arbeiterklasse über Hegemonie verfüge, könne sie sowohl eine rationelle, sparsame Wirtschaftssteuerung etablieren als

94 Bucharin, N.J.: Das politische Vennächtnis Lenins, in: "Prawda", Nr. 19, 24.1.1929, S. 2, dokumentiert in Sozialismus 9/1988. 95 ~nin, W.: Lieber weniger, aber besser (März 1923), in: Lenin Werke, Bd. 33, S. 489.

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II. Die Entstehwtg einer sowjetischen Genossenschaftskonzeption

auch gleichzeitig durch das Genossenschaftswesen eine weitgehende Verzahnung der individuellen Bauernwirtschaften erreichen. Nach Bucharin war Lenin vor allem in seinen letzten Schriften von einer Interdependenz der Entwicklung der Ware-Geld-Beziehungen, der Förderung der individuellen Bauernwirtschaften, dem Genossenschaftswesen, einer schrittweisen Kapitalakkumulation zur Finanzierung der Industrialisierung, der beschleunigten Entwicklung des Kulturniveaus, einer rigorosen Sparsamkeit und der Beteiligung der gesamten Bevölkerung am proletarisch-bäuerlichen Staatswesen ausgegangen. Bucharin sprach sich deshalb, gestützt auf die praktischen Erfahrungen, die man in der Periode der NÖP gemacht hatte, füreine grundlegende Revision der theoretisch-politischen Konzeption zur Entwicklung der Gesellschaft aus und ging in seinem Entwicklungsmodell von folgenden Grundüberlegungen aus: - Zur Entfaltung der Produktivkräfte in der Landwirtschaft sind die individualistischen und privatkapitalistischen Motive der bäuerlichen Arbeit unabdingbar. Bucharin lehnte zur Beschleunigung der Entwicklung der individuellen Bauernwirtschaften politischen Druck oder unmittelbare gesellschaftliche Einwirkung als ungeeignete Mittel ab und trat für den Einsatz von Marktmechanismen im Übergang zu entwickeltereD Formen gesellschaftlicher Arbeit in der Landwirtschaft ein. "Der ganze Prozeß besteht also in der Entfaltung des Warenumsatzes, d.h. der Form des Marlctes, die sich selbst überwindet. Der organisatorische Knotenpunkt der Volkswirtschaft ist die einheitlich organisierte und immer stärker sich zentralisierende Staatsindustrie, die mit den Banken verwächst... Um diese gewaltige wirtschaftliche Festung gruppiert sich ein Netz von Handelsunternehmen, daran von Genossenschaften; von den Genossenschaften führen unzählige Fäden zu den bäuerlichen lndividualwirtschaften ... Diese Wirtschaft wird vergenossenschaftlicht, sie wird organisiert und ergießt sich immer intensiver in den allgemeinen, gewaltigen organisatorischen Strom, dessen Hauptkraft die proletarische Staatsmacht ist, die sich ihrerseits ökonomisch unmittelbar stützt auf Großindustrie, Kredit, Transportwesen, Außenhandel und Nationalisierung des Bodens. ''96 - Ein friedlicher innerer Aufbau einerneuen Gesellschaft setzt die Anerkennung des status quo und der bestehenden gesellschaftlichen Institutionen aller Bevölkerungsschichten voraus. Bucharin plädierte deshalb dafür, zur Entwicklung der Produktivkräfte und eines gesellschaftlichen Überschusses primär indirekte gesellschaftliche Steu96

Bucharin, N.l.: Kautsky wtd Sowjetrußland, Frankfurt 1982, S. 127.

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erungsinstrumente und die Vorgaben gesetzlicher Auflagen, insbesondere steuerrechtlicher Art, einzusetzen und lehnte jede Art von hektischen Anordnungen und Erlässen und alle übrigen Praktiken der "kriegskommunistischen Phase" - von der Getreidebeschlagnahme bis zu mehr oder minder repressiv auferlegten Selbstverpflichtungen - ab. Er war aber nicht, wie ihm oftmals unterstellt wurde, füreinen Verzicht des Klassenkampfes in der Übergangsphase zum sozialistischen Rechtsstaat, sondern trat dafür ein, die soziale und politische Auseinandersetzung mit den Mittelbauern und Kulaken in zivilisierter Form auszutragen. - Die Festsetzung überhöhter Industriepreise, nichts anderes als eine Art von Tributzahlung der Bauern, ist ein ungeeignetes Mittel, den Widerspruch zwischen staatlicher Industrie und individualisierter Bauernwirtschaft aufzuheben. "Bei einer richtigen Staatspolitik... , bei einer Orientierung auf niedrige Preise für Industrieprodukte und nicht auf Monopolgewinne hin, bei einem entschieden auf die Verbesserung der Produktion und nicht auf monopolistische Stagnation gerichteten Kurs wird dieser Widerspruch sich immer mehr verringern, und dabei wird die bäuerliche Genossenschaft durch ihr Zusammenwachsen mit den staatlichen Wirtschaftsorganen die Basis für das Absterben dieses Widerspruches bilden. ''97 Von ihrer Gesamtkonzeption her war die Argumentation Bucharios eine realistische und humane Konsequenz aus den Lehren der NÖP-Periode. Auch wenn sie noch dem Mythos der sich immer weiter zentralisierenden Staatsindustrie huldigte, wäre hier (und nicht so sehr bei Lenin) das Potential einer Befreiung der marxistisch-leninistischen Genossenschaftstheorie von der Perversion ihrer bloßen Instrumentalfunktion gelegen. Im Gegensatz dazu verstand es Stalin, um die volle Macht wieder an sich zu ziehen98, sein Programm unter Einbindung vieler Gedanken seiner politischen Gegner auf eine breite theoretische Basis zu stellen.

Angesichts der besonderen Problematik Rußlands propagierte er, von der Prämisse ausgehend, daß im Westen keine Revolution stattfinden werde, den "Aufbau des Sozialismus in einem Lande". Eine Strategie, die Trotzki als "kleinbürgerlich" verteufelt hatte, die aber dem Interesse der sich heranbildenden "neuen Klasse", ihre Herrschaft in Ruhe zu etablieren, voll entsprach. Weiters sprach er der Partei und nur dieser, also jenem Machtapparat, den er

97

Bucharin, N.J.: Kautsky und Sowjetrußland, S. 130.

98

Er hat sie nie verloren und ist als überlegener Taktiker von Sieg zu Sieg geschritten.

6 Todev/Rönnebeck/Brazda

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II. Die Entstehung einer sowjetischen Genossenschaftskonzeption

beherrschte, das Recht zu, den Endzustand der Geschichte - den Kommunismus -herbeizuführen. Von der "neuen Opposition''99 übernahm er das großangelegte Industrialisierungsprogramm und setzte es als Argument gegen die "rechte Abweichung" ein. So verstand es Stalin mit strategischem Geschick, aus der Ablehnung der Programme seiner Opponenten ein eigenes positives Programm zu machen, in dem sich eine Forcierung der Industrialisierung und der Kollektivierung der Wirtschaft wiederfanden. Beides setzte aber voraus, daß er dem Dogma vom Absterben des Klassenkampfes jenes von seiner Verschärfung entgegensetzen mußte. Damit griff er eigentlich auf Trotzki zurück, der ebenfalls dafür eingetreten war, unter den Bedingungen der Diktatur des Proletariats eine Industrialisierung auf dem Rücken der bäuerlichen Bevölkerung durchzuführen. So trat auch Stalin für eine Industrialisierung Rußlands unter Ausbeutung der Bauernschaft und einem gesamtgesellschaftlichen Konsumverzicht ein. Voraussetzung dafür war die Ausschaltung der individuellen Bauernwirtschaft durch eine radikale Kollektivierung. Denn nur durch eine Kollektivierung der Bauern und damit durch den Entzug ihrer Selbständigkeit konnte er die Bauern dazu zwingen, trotz festgelegter niedriger Preise weiterhin ihre Produkte an den Staat zu liefern, die dieser dringend brauchte, um die rasch wachsende Stadtbevölkerung zu ernähren und - was noch wichtiger war - die Anschaffung inländischer und ausländischer Maschinen für die Industrie zu finanzieren. Mit diesem gewaltsamen Durchbrechen des Preiszusammenhanges zwischen der Landwirtschaft und der Industrie machte er die Bauern "zum Träger des für die Industrialisierung erforderlichen Sparens". Oe facto wareseine Umstellung der Landwirtschaft auf eine Art Zwangsarbeit - wie ja auch das Zwangsarbeitssystem des GULAG eine große ökonomische Rolle für die Kraftwerks-, Kanal-, und Industriebauten der dreißiger Jahre spielen sollte. Mit der Kursänderung auf einen Sozialismus in einem Lande war somit auch unmittelbar ein neues agrarpolitisches Ziel verbunden. Nun galt es nicht mehr, auch für die Landwirtschaft die höchste, von Marx vorausgesehene Entwicklungsstufe gesellschaftlicher Produktionsweise zu erreichen. Unter der nun geltenden Prämisse, daß sich die gesellschaftliche Entwicklung Rußlands noch 99 Die "linke Opposition", in der Fachliteratur auch als "neue Opposition" genannt, sah die Gefahr einer Polarisierung der Klassengegensätze zwi-schen den Kulaken und der Dorfannut auf dem Lande und sprach sich zur Lösung des Kulakenproblems für politische Maßnahmen aus. Um die Industrie· entwicklung rasch vorantreiben und damit die politische Macht des Proletariats zu festigen, sollte den Bauern nicht weniger, sondern noch mehr weggenommen werden. Das privat akkummulierte Kapital sollte mittels preis- und steuerpolitischer Maßnahmen für die Akkumulation im sozialistischen Sektor, d.h. für die Industrialisierung nutzbar gemacht werden.

Trotzki und seine Anhänger sprachen sich gegen jede genossenschaftliche Organisation im Agrarsektor aus und forderten die sofortige Errichtung von vergesellschafteten Großbetrieben. Trotzkis tragisches Schicksal als Opfer eines stalinistischen Mörders darf also nicht den Blick dafür verstellen, daß er und seine Parteigänger vehement jene zwangsweise Agrarkollektivierung forderten, deren Durchsetzung unter Stalin zu Beginn der dreißiger Jahre Millionen Opfer kostete.

E. Stalin und das Genossenschaftswesen

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auf einer niedrigen Entwicklungsstufe befinde, wurde die Landwirtschaft zum Instrument, um mit ihrem über den laufenden Bedarf hinaus erzeugten Überschuß erst die Grundlage für eine weitergehende Arbeitsteilung zu schaffen. Die Kollektivierung diente somit nicht primär zur Steigerung der Produktivität in diesem Sektor, sondern als notwendige Voraussetzung für eine problemlose Abschöpfung der landwirtschaftlichen Überschüsse durch den Staat. Eine weitere Vorausbedingung hierfür war der Aufbau eines straff gesteuerten zentralen Planungsapparates. Beides - Kollektivierung und Planung - diente wiederum zur Stärkung der Machtposition Stalins, die dieser nicht nur zu nutzen wußte, um jahrzehntelang eine Politik gegen den Willen der Bevölkerung zu betreiben, sondern die er auch zur Absicherung seiner Macht einsetzte, indem er die Erstarrung der kommunistischen Theorie zu einem Dogma herbeiführte. Indem er ihre Anwendbarkeit - zur ideologischen Rechtfertigung seiner Politik - auch auf"unreife" Verhältnisse und Institutionen ausdehnte und ihr dabei ganz andere Inhalte unterschob, degradierte er die Marxsche Theorie von einem Analyseinstrument sozialer und wirtschaftlicher Verhältnisse und daraus ableitbarer praktisch-politischer Handlungsanweisungen zu einem reinen Machtinstrument. Die sowjetische Politik dieser Phase wurde noch 1987, zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution, von Gorbatschow wie folgt verteidigt: "Die Partei hat einen bis dahin unbekannten Weg der Industrialisierung vorgeschlagen, ohne auf äußere Finanzierungsquellen zu hoffen, und hat nicht langjährige Ersparnisse auf Kosten der Leichtindustrie abgewartet und sogleich den Aufbau der Schwerindustrie in Angriff genommen. Das war unter jenen Bedingungen der einzig gangbare Weg, wenn auch ein unvorstellbar schwerer für das Land und das Volk. Das war ein innovativer Schritt, bei dem der revolutionäre Elan der Massen als Komponente des wirtschaftlichen Wachstums berücksichtigt wurde. Die Industrialisierung hat in einem Schwung das Land auf ein qualitativ neues Niveau gehoben ... Wenn man die Geschichte nüchtern betrachtet, unter Berücksichtigung aller innen- und außenpolitischen Realitäten, kann man nicht umhin, die Frage zu stellen: War es überhaupt möglich, einen anderen Kurs einzuschlagen als den, der von der Partei vorgeschlagen wurde? Wenn wir auf dem Boden historischer Realität und Lebenswahrheit bleiben, kann es darauf nur eine Antwort geben: Nein, das war unmöglich." 100 Diese Positionierung seitens der Partei blieb im Zeitalter der Perestroika nicht unwidersprochen. Beispielsweise konterte Afanasjew in der Prawda, daß es, entgegen dieser offiziellen Auffassung "eine solche historische Alternative gegeben hat, und daß sie in den 20er Jahren von mächtigen Kräften dargestellt wurde, deren Personifikation Nikolai Bucharin gewesen war." 101 100

Zit. nach Kuznesow, P.: Fragen an den Historiker, "Prawda" vom 25.6. 1988, S. 3.

101

Zit. nach Kuznesow, P.: Fragen an den Historiker, S. 3.

84

II. Die Entstehung einer sowjetischen Genossenschaftskonzeption

Es ist heute schwer zu beurteilen, wie sich die Sowjetunion auf dem von Bucharin vorgezeichneten Weg entwickelt hätte. Eines hat diese Auseinandersetzung aber deutlich gezeigt. Aus der marxistischen Theorie war keine praktikable Lösung der Agrarfrage ableitbar, trotz alternativer Ansätze von Bucharin, mit denen dieser aber eher taktische als strategische Ziele verfolgte. Stalins Politik der Gleichstellung der industriellen und landwirtschaftlichen Entwicklung, einer Kollektivierung der Landwirtschaft zur Lösung der "Widersprüche zwischen der Industrie und Landwirtschaft" und ihre Einbindung in das zentralistische Plansystem führten im Endeffekt nur zu deren Verschärfung. Die landwirtschaftlichen Genossenschaften

In dieser ideologischen Auseinandersetzung zwischen der Stalin- und der Bucharingruppe spiegeln sich auch die unterschiedlichen Auffassungen über die Rolle und die Funktionen der Genossenschaften beim weiteren Aufbau der sozialistischen Gesellschaft wider. Für Bucharin war die Genossenschaft eine sozialistische Wirtschaftsform, deren Form und Ausgestaltung durch die jeweils gegebenen allgemeinen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen determiniert wird, d.h. im Sozialismus durch das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln. Er wollte das Genossenschaftswesen zu einem integrierten Bestandteil seines Konzepts zum Aufbau des Sozialismus in der UDSSR, zum Zentrum des wirtschaftlichen Geschehens auf dem Lande machen und ihm folgende Funktionen zuweisen. Die Genossenschaften sollten 1. für eine Konzentration der Nachfrage nach den Produkten der verstaatlichten Industrie sorgen, um damit die Voraussetzungen für die Einführung einer zentralistischen Planung als Hauptinstrument der Industrialisierung des Landes zu schaffen; 2.

die Landwirtschaft auf Basis privater Initiative intensivieren;

3. als kooperative Organisationsformen auf dem Lande als Vorstufen für den zukünftigen Zusammenschluß zu Produktionsgenossenschaften dienen; 4. ein Hort zur Verfolgung gemeinsamer ökonomischer Interessen zwischen dem Proletariat und dem Bauerntum unter Berücksichtigung der Spezifika der landwirtschaftlichen Arbeit und des bäuerlichen Lebens sein; 5.

als Institutionen fungieren, die gemeinsam mit der Staatsindustrie den Klassenkampf gegen das Privatkapital auf dem Markt austragen;

E. Stalin und das Genossenschaftswesen

6.

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im Rahmen ihrer demokratischen Struktur mit dazu beitragen, die wirtschaftlichen Macht der Großbauern schrittweise abzubauen.

Ausgehend von seiner Analyse der sozialen Struktur des russischen Dorfes, in der Bucharin zwischen drei sozialen Schichten, den kapitalistischen Großbauern mit Fremdarbeitern, den Mittelbauern, in der Regel Familienbetriebe ohne Arbeitnehmer, und den Nebenerwerbsbauern, unterschied, schlug er vor, diese Schichten zu verschiedenen Genossenschaftsorganisationen zu vereinigen. Der Gründung von Kolchosen stand er skeptisch gegenüber, da sie seiner Meinung nach nur für jene Schichten des Bauerntums geeignet wären, die nicht in der Lage sind, ihre Wirtschaft eigenständig zu führen. Von einer starken Verwurzelung des selbständigen Familienbetriebs im bäuerlichen Leben Rußlands überzeugt, schätzte er die Wahrscheinlichkeit, daß große Massen der Bauern freiwillig den Kolchosen beitreten würden, als eher gering ein. Für Bucharin waren die Mittelbauern die Hauptakteure im russischen Dorf, die sich im Rahmen einer mittelfristigen Strategie zur Entwicklung des Sozialismus zu Absatz- und Vermarktungsgenossenschatten zusammemschließen sollten. Wie Stalin sah auch Bucharin im Klassenkampf das wichtigste Mittel im Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus. Während ersterer aber, als Repräsentant einer neuen - totalitären - Herrschaftsschicht, der späteren "Nomenklatura", sich für eine Zuspitzung dieses Kampfes mittels massiver repressiver Maßnahmen aussprach, um damit die entmachteten, aber noch nicht zerschlagenen kapitalistischen Elemente endgültig von der historischen Bühne zu eliminieren, trat Bucharin für eine friedliche Lösung durch wirtschaftspolitische Maßnahmen ein, in denen auch die Privatinitiative, der Privatsektor und der Wettbewerb zur Belebung des Wirtschaftslebens ihren Platz haben sollten. Die verstaatlichte Industrie sollte ihre Vorteilhaftigkeil in Konkurrenz zum Privatsektor unter Beweis stellen. Die notwendigen Voraussetzungen dafür sah er in der Diktatur des Proletariats und einer genossenschaftsfördernden Politik sowohl für die Industrie als auch für die Landwirtschaft gegeben. Bucharin trat gegen eine Politik der Forcierung der Kollektivierung der Landwirtschaft und einer gleichzeitigen Industrialisierung der Produktion auf. Er sah die Gefahr des Aufbrechens großer Ungleichgewichte voraus, einerseits im Verhältnis der Arbeitskräfte, da die infolge der Kollektivierung freigesetzten Arbeitermassen sehr rasch den aus der Industrialisierung erwachsenden Bedarf überschreiten und in den Städten zu Massenarbeitslosigkeit führen würden, und andererseits bei der Finanzierung, da eine Kollektivierung erhebliche Finanzmittel binde, die somit für die forcierte Industrialsierung nicht mehr zur Verfügung stehen würden. Er argumentierte hier als humaner Technokrat, der nicht die Bedenkenlosigkeit des "asiatischen Despoten" Stalin aufbringen konnte, der den Ausweg der "allgemeinen Zwangsarbeit" zu wählen bereit war.

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II. Die EntstehWlg einer sowjetischen Genossenschaftskonzeption

Die reale Entwicklung Nach der Oktoberrevolution stand zunächst realiter eine direkte (durch Nationalisierungen) und indirekte (durch eine hohe Besteuerung) Ausschaltung der privaten landwirtschaftlichen Großbetriebe auf der Tagesordnung, der die Periode der NÖP folgte, in der sie wieder als ein fester Bestandteil der sowjetischen Wirtschaft anerkannt wurden. Den Großbauern war es nur untersagt, Genossenschaften zu gründen und in den Vorstand einer Genossenschaft gewählt zu werden. Erst 1929 wurde den landwirtschaftlichen Großbetrieben gänzlich die Mitgliedschaft in den Genossenschaften verboten. Im seihen Jahr begann Stalin mit seiner Politik der Vernichtung des kapitalistischen Elements in der Landwirtschaft durch die Konfiskation des Vermögens der Großbauern (Kulaken102), um es als Starthilfe für die neugegründeten Kolchosen zu nutzen, eine Politik, die nicht auf Großbetriebe beschränkt blieb, sondern sehr bald auch auf Mittel- und Kleinbetriebe ausgedehnt wurde, indem Stalin allen Bauernwirtschaften mit oder ohne Lohnarbeiter verordnete, den Kolchosen beizutreten. Folge war, daß ingesamt mehr als 1,100.000 private Betriebe liquidiert und deren Familien zwangsweise nach Sibirien ausgesiedelt wurden. Mit der Kollektivierung wollte Stalin zwei Ziele erreichen: - die Voraussetzung schaffen, um der aus Preobrazenskijs "Theorie der ursprünglichen sozialistischen Akkumulation" abgeleiteten Forderung, Kapital aus der Landwirtschaft in die Industrie "hinüber zu pumpen", nachzukommen; - durch die Errichtung von Großbetrieben hohe Produktivitätssteigerungen auszulösen103.

102 Die Auswahl des Begriffs "Kulak" zum Aufbau eines generellen Feindbildes, wobei alle vom Staat unerwünschten bäuerlichen Verhaltenweisen als "kulakisch" bezeichnet wurden, erschien sinnvoll, da der Begriff in dieser Funktion eine lange Tradition hatte. Die Bauern verstanden unter einem Kulaken nicht den Großbauern schlechthin, sondern einen Bauern, der in Not geratene Mitbewohner mit Wucherkrediten bzw. knechtenden Vereinbarungen ausbeutete oder als "miroed" das ganze Land der Gemeinde durch Kauf oder Pacht an sich zog. Diese "vorkapitalistischen" AusbeutWlgsforrnen hatten aber bereirs durch die Entwicklung der Kreditgenossenschaften an BedeutWlg verloren. Diese Ambivalenz des Begriffs "Kulak'', der somit einerseiiS die Sozialgruppe der wohlhabenden Bauern und andererseiiS verhaßte Verhaltensformen bezeichnete, ging nie verloren. Sie wurde sogar durch das Klischeebild, welches die Parteipropaganda von der Einstellung der verschiedenen Schichten der Bauemsehaft gegenüber der Sowjetmacht zeichnete. noch verschärft. Im allgemeinen unterstützten die armen Bauern aktiv die Forderungen der Sowjetmacht, die Mittelbauern verhielten sich ihnen gegenüber zumindest wohlwollend bis zustimmend, und nur die Kulaken widersetzten sich ihnen. In der Praxis stimmte das politische Verhalten häufig mit der talSächlichen Sozialgruppenzugehörigkeit nicht überein. So standen auch viele wohlhabenden Bauern durchaus loyal zur Sowjetmacht, der sie ihren wirrschaftliehen Aufstieg verdankten.

10' Stalin, J.W.: An der Getreidefront, in: Stalins Werke, Bd.11, S. 72-86, Berlin 1952-1955; ders .• Über die Industrialisierung und das Getreideproblem, in: Stalins Werke, Bd.ll, S. 218-227.

E. Stalin und das Genossenschaftswesen

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Beides konnte aberin der Betriebsform des Kolchos garnicht realisiert werden. Denn Preobrazenskij war in seiner Akkumulationstheorie von der Existenz privater Bauernwirtschaften ausgegangen, da nur sie zur "Selbstausbeutung", d.h. zum Verzicht auf einen Teil des regional üblichen Lohns für ihren Arbeitseinsatz tendieren, um ihre Eigenständigkeit zu erhalten. Dieses so privat akkumulierte Kapital sollte mittels preis- und steuerpolitischer Maßnahmen für die Akkumulation im sozialistischen Sektor, d.h. für die Industrialisierung, nutzbar gemacht werden. Durch die Kollektivierung wurde aber gerade jene von Preobrazenskij forcierte - und 1926 und 1927 mit großem Erfolg genutzte - Quelle der Kapitalakkumulation beseitigt und die Landwirtschaft in einen Sektor transformiert, der im Endeffekt auf staatliche Investitionsmittel angewiesen war. Erst recht war es nicht möglich, mit den Kolchosen die Produktivität in der Landwirtschaft zu steigern. Ein landwirtschaftlicher Großbetrieb erzielt nur dann eine höhere ArbeitsleistWlg, wenn er extensiver als der Kleinbetrieb wirtschaftet und pro Hektar weniger Kapital und Arbeit einzusetzen in der Lage ist. Die den Kolchosen von oben vorgegebene Zahl der zu beschäftigenden und zu versorgenden Personen lag aber von Anfang an beträchtlich über jener, die man bei gegebenen Produktionsstrukturen benötigte. Außerdem war der Bestand an Arbeitskräften bereits vor der KollektiviefWlg in der Landwirtschaftaufgrund der vielerorts vorherrschenden ineffizienten Bewirtschaftung um mehrere Millionen zu groß gewesen104 • Dazu kam noch, daß durch die Zwangskollektivierung wichtige arbeitsintensive Zweige der kleinbäuerlichen Landwirtschaft, wie insbesondere die Nutzviehhaltung, weitgehend vernichtet wurden, ebenso das ländliche Gewerbe, mit dem die Kleinbauern vor der Kollektivierung noch einen wesentlichen Teil ihres Einkommens erwirtschaftet hatten 105 • So war die parallele Durchführung einer Industrialisierung und KollektiviefWlg von Anfang an mit großen volkswirtschaftlichen Problemen verbunden. Bis 1929 ging man in der PlanWlg noch davon aus, die Industrialisierung mit modernster Technik, d.h. kapital- und nicht arbeitsintensiv durchzuführen, erreichte aber dadurch nur eine rasch zunehmende Landflucht106, der man mit

,.. Berechnungen ergaben, daß die von der bäuerlichen Bevölkerung erbrachten Leistungen im Bereich der Landwirtschaft, des ländlichen Gewerbes und der nichtlandwirtschaftlichen Saisonarbeit selbst im Rahmen einer kleinbetriebliehen Struktur von 84% der tatsächlich vorhandenen Arbeitskräfte hätten erbracht werden können. Das heißt aber nichts anderes, als daß bereits vor der Kollektivierung, durch die Unterbeschäftigung verdeckt, etwa 9 Millionen "Arbeitslose" auf dem Lande vorhanden waren. (Vgl. Mine, L .E.: Agramoe perenaselenie i rynok truda v SSSR. Moskwa, Leningrad, 1929, S. 176). 105 Tschajanow, A.: Die Lehre von der bäuerlichen Wirtschaft. Versuch einer Theorie der Familienwirtschaft im Landbau. Berlin, 1923 (Nachdruck New York 1987). 106 Strumilin, S.G.: Perspektivnaja orientirovka Gosplana, in Planovoe Chosjaistvo 1926, Nr. 5, S. 30-58.

88

II. Die Entstehung einer sowjetischen Genossenschaftskonzeption

einem Programm zur Intensivierung der Landwirtschaft auf Basis privater Initiative zu begegnen versuchte, für welches sich bereits Bucharin in seiner agrarpolitischen Konzeption mit dem unglücklichen Aufruf "Bereichert euch" ausgesprochen hatte. In der endgültigen Fassung des ersten Fünfjahresplans in der im April 1929 von der Partei verabschiedeten "Optimalversion" war dann auch nur mehr von einer allmählichen Kollektivierung der Landwirtschaft die Rede107• Die parallele Durchführung der Kollektivierung und einerforcierten Industrialisierung scheiterte, wie es Bucharin vorausgesagt hatte, primär aus zwei Gründen: - die Freisetzung von Arbeitskräften aus der Landwirtschaft erfolgte auch ohne nennenswerte Mechanisierung des Agrarsektors um vieles rascher als der Bedarf an Arbeitskräften für die Industrialisierung stieg, so daß trotz einer raschen Zunahme der Beschäftigung in den Staatsbetrieben die Arbeitslosigkeit in den Städten sehr hoch war. - Einerseits wurden für die forcierte Kollektivierung erhebliche nationale Ressourcen verbraucht, die dann für die Industrialisierung nicht mehr zur Verfügung standen. Andererseits stellten gerade die für die Industrialisierung so dringend benötigten ökonomischen Beiträge der Landwirtschaft, nämlich die Bereitstellung von Kapital und die Lieferung von Agrarprodukten für die Binnenversorgung und den Export, eine rasche Kollektivierung unmittelbar in Frage, da sie an die Existenz "sich selbst ausbeutender" Kleinbauern geknüpft waren. Ohne außerökonomischen Zwang mußte damit gerechnet werden, daß die Kolchosen geringere Marktüberschüsse als die Kleinbauern erzielen würden. Wer zuvor als Einzelbauer zum Erhalt seines Privatbetriebes Konsumverzicht geübt hatte, sah als Kolchosmitglied dafür keine Veranlassung mehr, sondern war vielmehr sogar bestrebt, seinen Lebensmittelkonsum auf ein höheres Niveau anzuheben108 • Stalin verfolgte in den Jahren 1929-1937 eine Politik der totalen Zwangskollektivierung der Landwirtschaft109 unter Forderung der Produktivgenossen-

107

Bis 1933/1934 sollten erst 15-20% der Bauernwirtschaften kollektiviert sein.

Barsovs kommt aufgrund seiner Studien zum Ergebnis, daß die Kollektivierung der sowjetischen Landwirtschaft keineswegs ein wirksames wirtschaftspolitisches Instrument zur Forcierung des Industrialisierungsprozesses gewesen war. Es hat sich nämlich nicht ein Nettotransfer von Ressourcen aus der Landwirtschaft, sondern eher ein solcher in umgekehrter Richtung vollzogen, zumindest in den ersten Jahren nach der Kollektivierung. (Vgl. Medvedev, Z.A.: Sowjet Agriculture, New York und London 1987, S. 312-321). 108

109 1929 betrug der Anteil der Kollektivwirtschaften an den Bauernwirtschaften lediglich 3,9%, stieg 1930 auf 23,6% und erreichte 1934 bereits 71,4%. 1937 war die Kollektivierung in der Landwirtschaft im wesentlichen abgeschlossen.

E. Stalin und das Genossenschaftswesen

89

schaft als der einzig wahren Genossenschaftsform in der sozialistischen Landwirtschaft110• Durch diesen brutalen Eingriff änderte er nicht nur die Agrarverfassung des Landes, sondern Arbeits- und Lebensbedingungen von Millionen von Menschen grundlegend, und zerschlug damit im Endeffekt das Bauerntum Rußlands. Ideologisch rechtfertigte Stalin diese extreme Kollektivierungspolitik mit der Marxschen These, daß Privateigentum an den Produktionsmitteln (Boden) die Grundlage für die Ausbeutung des besitzlosen Proletariats sei und seine Beseitigung folglich diese Ausbeutung beenden würde, ohne aber zu berücksichtigen, daß der Großteil der Bauern in der Sowjetunion nach der Oktoberrevolution kaum Lohnarbeitskräfte beschäftigte, sondern vielmehr "Selbstausbeutung" im Sinne von Tschajanow betrieb. Die Kollektivierung sollte ja auch ursprünglich auf die "Lohnarbeiter ausbeutenden Kulaken" beschränkt bleiben, da sich während der Periode der NÖP eine gut funktionierende Struktur von Familienbetrieben herausgebildet und ihre Überlegenheit gegenüber den Kollektivwirtschaften bewiesen hatte. Stalin entschied aber, den landwirtschaftlichen Artel als einzige Betriebsform durchzusetzen, um damit nicht nur die Bedingungen für eine neue, sozialistische Produktionsweise zu schaffen, sondern die Großbauern als Klassenfeinde des Proletariat und der arbeitenden Bauern zu zerschlagen 111 • Sein Motiv dafür war, wie auch sonst in seiner verhängnisvollen, aberpersönlich stets erfolgreichen Karriere, vermutlich ein machtpolitisches. Begrüßt wurde die Kollektivierung nur von den ärmsten Bauern, die sich ohne Eigenmittel und mit schlechter technischer Ausrüstung unter den Bedingungen des Marktes kaum behaupten konnten. Wie die folgenden Vergleichszahlen der Jahre 1928 und 1933 zeigen, war die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft der entscheidende Schlag gegen das russische Dorf. Da die zwangskollektivierten Bauern oft lieber ihre Tiere schlachteten, als sie der Kolchose zuzuführen, verringerte sich in dieser Periode die Zahl der Kühe von 60,1 Mio. im Jahre 1928 auf 33,5 im Jahre 1933, der

110 Nach der Oktoberrevolution entstanden drei Fonnen der Kollektivwirtschaft (Kolchos), die sich nach dem Grad der Vergesellschaftlichung der Produktionsminel und der Art der Verteilung des Einkommens unterschieden: Kommunen, landwirtschaftliche Genossenschaften zur gemeinsamen Bodenbearbeitung und Artels.

Am Anfang war die Form der landwirtschaftlichen Kommune vorherrschend, seit 1921 wurden immer mehr Genossenschaften zur gemeinsamen Bodenbearbeitung gegründet, und seit 1929 ist die landwirtschaftliche Artel die Hauptform der kollektiven Wirtschaftsweise in der sowjetischen Landwirtschaft. 111 Stalins Behauptung, daß die Großbauern ein Hindernis auf dem Weg zum Sozialismus gewesen seien, war eine willkürliche. So waren 1927 nur 3,7% der landwirtschaftlichen Betriebe Großbetriebe, 62,7% waren Mittelbetriebe mit oder olme Arbeitnehmer, 22,1 % Kleinbetriebe und 11,3% waren HUfswirtschaften der landwirtschaftlichen Arbeitnehmer. (Vgl. "Prawda" vom 16.09.1988, S. 3).

90

II. Die Entstehung einer sowjetischen Genossenschaftskonzeption

Schweine von 22 Mio. auf9,9 Mio., der Schafe von 97,3 Mio. auf32,9 Mio. und der Pferde von 32,1 Mio. auf 14,9 Mio. Mehr als 4 Mio. Menschen mußten vor Hunger sterben 112• Mit der Kollektivierung waren demnach primär gesellschaftspolitische und erst in zweiter Linie ökonomische Ziele verbunden. Stalin wollte mit der Zerschlagung des Bauernstandes und einer Konzentration der landwirtschaftlichen Erzeugung in Großbetrieben so rasch wie möglich das gesellschaftliche Bewußtsein der Landbevölkerung verändern und eine weitgehende Angleichung der Arbeits- und Lebensverhältnisse der Städte mit jenen auf dem Land erreichen. Er machte keinen Unterschied zwischen kapitalistischem Privateigentum und dem Kleinprivateigentum der Bauern. Für ihn war jede Kleinproduktion mit Privateigentum an Produktionsmitteln eine Gefahr in Richtung Restauration des Kapitalismus, und er sah die erste und wichtigste Aufgabe für die Arbeiterklasse in der Gründung von Staatsbetrieben und Kolchosen113 • Aus ökonomischer Sicht sollte damit die Basis für den Einsatz industrieller Formen in der Agrarproduktion geschaffen und eine rasche Modemisierung der Landwirtschaft, verbunden mit Produktions- und Produktivitätssteigerungen, eingeleitet werden, ein Dogma, an dem man bis in die sechziger 1ahre festhielt. Erst in der Sitzung des ZK der KP der UdSSR im März 1989 wurde offiziell erklärt, daß die Kollektivierung der Landwirtschaft eine grobe Deformation der Gedanken Lenins über das Genossenschaftswesen gewesen seP 14• Bis heute gibt es aber in der ehemaligen UdSSR konträre Meinungen über die Rolle der Kollektivierung im sozialistischen Entwicklungsprozeß, und noch immer treten Theoretiker auf, die zu beweisen versuchen, daß die Kollektivierung der Landwirtschaft der einzige und richtige Weg zum Sozialismus sei und nur die Kolchose die wahre Form einer sozialistischen landwirtschaftlichen Genossenschaft darstellell 5•

112

Vgl. "Prawda" vom 16.09.1988, S. 3.

Vgl. Stalin, J.W.: Zu den Fragen der Agrarpolitik in der UdSSR, Rede auf der Konferenz marxistischer Agrarwissenschafter am 27. Dezember 1929, in: Stalins Werlce, Band 12, Berlin 19521955, S. 334ff. 113

114

Dokumente des Plenums des Zentralkomitees der KP der UdSSR- 15.-19. März 1989, S. 42.

115

Bordjugov, G., Koslov V.: Wie häue es Lenin getan? in: "Prawda" vom 30.09.1988.

Dritter Teil

Entwicklung der Genossenschaftstheorie des "realen Sozialismus" in der DDR Nach Beendigung des 2. Weltkrieges bestanden in Deutschland nur noch wenige Genossenschaften, vor allem solche, die nach den Prinzipien Raiffeisens organisiert, also im ländlichen Bereich angesiedelte waren. Sie waren jedoch wie auch die mittelständisch-gewerblichen, nach Schulze-Delitzschs Vorstellungen organisierten Genossenschaften stark vom faschistischen Regime beeinflußt worden, so daß man hier von einer gelenkten Selbstverwaltung sprechen kann. Die Konsumgenossenschaften waren mit ihrer zwangsweise durch den nationalsozialistischen Staat erreichten Übertragung in eine staatliche Organisation völlig verschwunden. Es lagen also günstige Voraussetzungen dafür vor, die mit sozialistischem Gedankengut nicht kompatible Genossenschaftsidee völlig vom Gebiet der später entstandenen DDR zu verbannen. Dies geschah jedoch nicht. Vielmehr erlebte die Genossenschaftsbewegung, wenn auch in gewandeltem, sozialistischem Kleid, einen neuen Aufschwung. Die Ursachen für diese Entwicklung liegen vor allem darin, daß die Sowjetunion als Besatzungsmacht auf von ihr beherrschtem deutschen Boden auch ihre Ideologie und politischen Vorstellungen durchsetzen wollte und dies natürlich auch tat. Grundlage für diese Ideologie bildete der Marxismus-Leninismus, die "wissenschaftliche Theorie des Sozialismus". Somit entwickelten sich die Genossenschaften zu nicht autonomen Einrichtungen, zu Erfüllungsorganen staatlicher Instanzen. Infolge fehlenden Wettbewerbs verharrte man in überalterten Strukturen. Staatlich sanktionierte Zinssätze, Enteignungsmaßnahmen, Besoldungssysteme und staatliche Einflußnahmen unterdrückten kreative Tätigkeiten. Selbst solche Bereiche, wie die Organisation des Zahlungsverkehrs, das Kreditgeschäft und das Rechnungswesen der Genossenschaften, waren staatlichen Eintlüssen unterworfen1• 1 8/üher, J ., Kuhn, E.: Zur Genossenschaftsentwicklung in der ehemaligen DDR, Marburger Beiträge zum Genossenschaftswesen 20, Veröffentlichungen des Instituts für Genossenschaftswesen an der Philipps-Universität Marburg, 1990, S. 27.

92

111. Entwicklung der Genossenschaftstheorie des "realen Sozialismus" in der DDR

A. Die Umsetzung der Genossenschaftsidee in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands und der späteren DDR Klassengerichtete Bindungen gab es nach marxistischer Auffassung mit Ausnahme der klassenherrschaftsfreien Urgesellschaft in allen Zeitperioden2 • HansJürgen Seraphim bezieht sich jedoch ausschließlich auf den Zeitrawn des "entwickelten" Kommunismus nach der Oktoberrevolution in der Sowjetunion und der Veränderungen in den anderen ost-und mitteleuropäischen Ländern nach dem zweiten Weltkrieg. Dieses Stadiwn ist in keinem Land erreicht worden3 • Klassengerichtete Genossenschaften haben sich aufgrund unterschiedlicher, vielfach auch revolutionärer Bewegungen herausgebildet, die sämtlich als klassenorientiert zu interpretieren sind4 • Davon ausgehend ist auch die Genossenschaftsklasse in der damaligen sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR zu verstehen. Da die Genossenschaft sich nach Lenin als Übergangsform zwn gesamtgesellschaftlichen Eigentwn im Kommunismus eignete, sollte sie auch in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (SBZ) nach sowjetischem Beispiel Anwendung finden. Der Leninsche Genossenschaftsplan beinhaltet die Schaffung des genossenschaftlichen Eigentwns an den Produktionsmitteln mittels einer Reihe allmählicher Übergangsstufen. Dabei sind 5 Grundprinzipien zu beachten: 1.

Die genossenschaftliche Produktionsform ist von ihrem Charakter her die geeignete und konkret realisierbare Form zur Verknüpfung der speziellen bäuerlichen Interessen mit den gesellschaftlichen Erfordernissen des Sozialismus, sie ist also eine sozialistische Produktionsform.

2.

Der genossenschaftliche Zusammenschluß der Bauern muß ohne Gewaltanwendung, nach dem Prinzip der Freiwilligkeit erfolgen, im Unterschied zum Kapitalismus, wo Gewalt gegen Schwächere auf der Tagesordnung stand.

3.

Die Umgestaltung bedarf eines längeren Zeitraums, da einerseits die privaten Betriebe nur zögernd ihr Eigentum aufgeben würden und andererseits die tatsächliche Vergesellschaftung der Produktion einen größeren Zeitraum in 2

5.98.

Engelhardt, W.W.: Allgemeine Ideengeschichte des Genossenschaftswesens, Darrnstadt, 1985,

3

Engelhardt, W.W.: Allgemeine Ideengeschichte, S. 98.

4

Engelhardt, W.W.: Allgemeine Ideengeschichte, S. 99

A. Die Umsetzung der Genossenschaftsidee

93

Anspruch nehmen würde, da die Mitglieder der zu bildenden Genossenschaften nur die individuelle Wirtschaft kannten und sich erst an die kollektivistische Produktion gewöhnen müßten. 4.

Der Übergang zur genossenschaftlichen Produktion erfolgt stufenweise von der einfachsten Form gemeinschaftlicher Tätigkeit bis zur gemeinschaftlichen Produktion. So sollte den konkreten Entwicklungsbedingungen, der unterschiedlichen ökonomischen Lage der Bauern Rechnung getragen werden.

5.

Die Umgestaltung der privatwirtschaftliehen Produktionsverhältnisse in genossenschaftliche bedarf der vielseitigen Hilfe und Unterstützung sowie der Führung durch den sozialistischen Staat. Diese Hilfe sollte finanzieller, aber vor allem auch ideologischer Art sein5 •

In der Landwirtschaft als bedeutendem potentiellem Genossenschaftssektor mußte zunächst der Grund und Boden den kapitalistischen Eigentümern, den Großgrundbesitzern, weggenommen werden. Das geschah am 3. 9. 1945 mit der Bodenreform, als alle Besitzer von Bodenflächen über 100 Hektar entschädigungslos enteignet wurden. Den so gewonnenen Boden verteilte man größtenteils an arme Bauern, Landarbeiter und Flüchtlinge aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches. Bei diesem nicht geringen Teil der Bevölkerung sollte so der Eindruck entstehen, daß die politische Führung ausschließlich auf ihr Wohl bedacht sei. Dabei wurde jedoch keinesfalls das langfristige Ziel einer Kollektivierung der Landwirtschaft aus den Augen verloren. Die Bodenreform bildete vielmehr die erste Etappe einer Transformation der Landwirtschaft in Richtung sozialistisches Kollektiveigentum6 • Parallel dazu wurde aufgrunddes SMAD-Befehls N r. 146 vom 20. 11. 1945 die Wiederaufnahme der Tätigkeit aller Arten von ländlichen Genossenschaften angeordnet. Interessant ist, daß das hierzu eingeführte Musterstatut sich kaum von denen früherer Genossenschaften in der Landwirtschaft unterschied und auch das Genossenschaftsgesetz von 1889 zunächst seine Gültigkeit behalten sollte7 • Eine Abweichung hin zu sozialistischem Gedankengut bestand jedoch schon zu diesem Zeitpunkt. Im Statut dieser Genossenschaften stand nicht mehr die

s

Vgl. Politische Ökonomie des Kapitalismus und des Sozialismus, Dietz Verlag, Berlin, 1974,

6

Vgl. Herwg, H.-J.: Genossenschafiliche Organisationsformen in der DDR, Tübingen, 1982,

s. 413ff. S. 9. 7

Vgl. Herzog, H .-J.: Genossenschaftliche Organisationsformen, S. 9.

94

III. Entwicklung der Genossenschaftstheorie des "realen Sozialismus" in der DDR

individuelle Mitgliederförderung im Vordergrund, sondern ein gesamtwirtschaftlicher Förderauftrag, nämlich die Entwicklung der Landwirtschaft und Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktion. Nachdem diese vorerst wenigen landwirtschaftlichen Genossenschaften sich im März 1949 auf Druck der SED auf dem Berliner Genossenschaftskongreß offiziell vom Leitbild Raiffeisens losgesagt hatten, setzte 1952 auf Beschluß der 2. Parteikonferenz der SED vom 12. 7. 1952 die Kollektivierungsphase in der Landwirtschaft ein. Nach dem sowjetischen Vorbild des Kolchos entstanden Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften, deren Bildung 1960, zuletzt unter starkem Druck staatlicherseits, abgeschlossen war. So gelang es, im ländlichen Bereich sozialistische Produktionsverhältnisse herzustellen, was die politische Führung der DDR von Anfang an beabsichtigt hatte. In anderen typischen Genossenschaftsgebieten, wie im Handwerk und Gewerbe, Konsumbereich und Wohnungswesen, fand eine ähnliche Entwicklung hin zur Kollektivbildung statt. Übereinstimmende Etappen waren hierbei: 1.

Reorganisation der traditionellen Genossenschaften aufgrund von SMADBefehlen 1945/46

2.

Einsetzende Kollektivierung 1952

3.

Geplante Beendigung der Zusammenschlüsse 19608

Der relativ späte Beginn der Kollektivierung läßt sich aus der ökonomischen Notwendigkeit der Versorgung der Bevölkerung und Steigerung der Produktion heraus erklären. Eine frühere Zusammenfassung der Einzelbetriebe hätte wahrscheinlich Produktionsausfälle mit sich gebracht und wäre sicher kurz nach der Wiederaufnahme der Wirtschaftstätigkeit nach dem Krieg auf wenig Gegenliebe gestoßen. Als historischer Bestimmungsgrund für die einsetzende Kollektivierung kann die Ratifizierung des "Deutschland-Vertrages" am 26. 5. 1952 gesehen werden, in dem sich die westlichen Alliierten und die Bundesrepublik Deutschland auf eine endgültige Integration dieser in das westliche Bündnis geeinigt hatten. Von diesem Zeitpunkt an war klar, daß ein einheitliches Deutschland im Sinne der

8

Vgl. Herzog, H.-1.: Genossenschaftliche Organisationsformen, S. 31

B. Integration der Genossenschaften in das System der DDR

95

sowjetischen Führung, also mit sozialistischer Marschrichtung, nicht mehr denkbar war9 • Die Übertragung der sowjetischen Verhältnisse in bezugauf die Eigentumsformen in der Gesellschaft konnte beginnen. Wie den bisherigen Ausführungen zu entnehmen ist, waren also neben ideologischen auch ökonomische und historische Bestimmungsgründe für die Errichtung eines sozialistischen Genossenschaftswesens ausschlaggebend. Vorrangige Bedeutung kommt hierbei dem Einfluß der Sowjetunion auf die Regierung der DDR in ideologischer und politischer Hinsicht zu.

B. Integration der Genossenschaften in das System der DDR Die Genossenschaften der damaligen DDR hatten einen spezifischen Beitrag zu leisten, die Gesellschaftspolitik der DDR zu unterstützen. Eines der Ziele dieser Taktik war die Herausbildung einer in ihren Interessen homogenen Gesellschaft, deren Inhalt und Struktur nicht nur hinsichtlich der Denk- und Verhaltensweisen maßgeblich von der führenden Partei geprägt war. Die Förderung der angestrebten Homogenität und die angestrebte Stabilität des politischen Systems machten Kommunikationsmechanismen erforderlich, die es ermöglichten, die Masse der Bevölkerung zu erreichen. Ein solcher Kommunikationsmechanismus war in erster Linie die Staatspartei selbst, über deren Apparat Einfluß auf die Menschen ausgeübt wurde, vor allem aber sollten sie in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens eingesetzt werden, so auch im Bereich der Wirtschaft10. Davon ausgehend, muß man der These von K.-H. Hartwig vollauf zustimmen, wenn er, ausgehend von der ablehnenden Haltung der Ideologie des MarxismusLeninismus gegenüber den Genossenschaften feststellt, daß Genossenschaften ein integraler Bestandteil der sozialistischen Wirtschaftssysteme sind11 • Eingebunden in den zentralen Wirtschaftsmechanismus, erhielten die Genossenschaften Planauflagen, sie konnten über den Faktoreinsatz nur im begrenzten Umfang selbst entscheiden, hatten sich massiven Eingriffen von außen zu unterwerfen, verloren vielfach das Recht zum freien Eintritt und Austritt ihrer Mitglieder und unterlagen dem zentralen Kreditplan 12•

9

Vgl. Herzog. H .-J.: Genossenschaftliche Organisationsfonnen. S. 33.

10

Vgl. Herzog, H .-J.: Genossenschaftliche Organisationsfonnen, S. 178.

11

Hartwig, K.-H. : Die Genossenschaften in den sozialistischen Staaten im Wandel, Institut für

Genossenschaftswesen der Westfälischen Wilhelms-Universitlit, Münster 1990, S. 6f. 12

Hartwig, K.-H. : Die Genossenschaften, S. 12.

96

III. Entwicklung der Genossenschaftstheorie des "realen Sozialismus" in der DDR

Gleichermaßen ist das spezifische genossenschaftliche Motivationssystem durch lohnähnliche Zahlungen sowie Prämien verwischt worden. Damit reduzierte sich zwar einerseits das Einkommensrisiko der Mitglieder, andererseits aber zugleich die stimulierende Funktion des genossenschaftsspezifischen Verteilungsprinzips, was insbesondere für die Landwirtschaft zutraf13 • Da die Genossenschaft durch Lenins Theorie, die in der UdSSR praktische Anwendung fand, Existenzberechtigung im Sozialismus erhielt, mußten also Wege gefunden werden, sie ins wirtschaftliche System des Sozialismus zu integrieren. Die Grundlage für die Einbeziehung der Genossenschaft in die Ökonomie der DDR bildeten die rechtlichen Rahmenbedingungen und die Musterstatuten für die einzelnen Genossenschaftstypen. Darin waren alle Aufgaben, Rechte und Pflichten der Mitglieder sowie die innerbetriebliche Organisation und die Stellung im System der sozialistischen Gesellschaft verbindlich festgelegt. Diese Musterstatuten ließen den einzelnen Genossenschaften nur wenig Freiraum für eigenverantwortliche Entscheidungen. Die Einhaltung der Richtlinien des Statuts wurde regelmäßig von staatlicher Seite überprüft und deren Verletzung gegebenenfalls streng geahndet. I. Die Genossenschaft als sozialistische Wirtschaftseinheit

In der Wirtschaft der DDR gab es im wesentlichen zwei Betriebsarten, denen sozialistischer Charakter bescheinigt wurde, die Volkseigenen Betriebe (VEB) und die "sozialistischen Genossenschaften"14• Beide Betriebsformen arbeiteten "nach dem Prinzip der wirtschaftlichen Rechnungsführung"15 • Dieses Prinzip wurde "objektiv durch die Gesamtheit der ökonomischen Gesetze des Sozialismus bestimmt"16• Es bildete zusammen mit "Leitung, Planung, ökonomischer Stimulierung und Kontrolle eine untrennbare Einheit."17 Man konnte zwei Arten von Eigenschaften unterscheiden, die substantiellen, inhaltlichen und die strukturellen, formalen Merkmale. Inhalt der betrieblichen Rechnungsführung waren bestimmte Kategorien für die ökonomische Tätigkeit, z. B. Gewinn, Selbstkosten, Preise18, aber auch Arbeitsproduktivität und Effektivität, die Aussagen über die Leistungsfähigkeit der einzelnen Genossenschafts-

13

Hartwig, K.-H.: Die Genossenschaften, S. 12.

14

Vgl. Musterstatut der PGH, GBI. der DDR Teil I, Nr. 14 vom 26. 3. 1973, Paragraph 1 (1).

15

Musterstatut der PGH, Paragraph I (2).

16

Politische Ökonomie des Kapitalismus und des Sozialismus, Berlin 1974, S. 602.

17

Politische Ökonomie, S. 602.

18

Politische Ökonomie, S. 617.

B. Integration der Genossenschaften in das System der DDR

97

betriebe ermöglichen sollten und eine Vergleichbarkeit im Rahmen der Statistik herzustellen hatten. Die Erreichung dieser Ziele war jedoch problematisch, da sich aufgrund der Verschiedenartigkeit der Wirtschaftstätigkeit der einzelnen Genossenschaften in Abhängigkeit von der jeweiligen Branche unmittelbare Vergleiche schwierig gestalteten. Das Hauptproblem der sogenannten "wirtschaftlichen Rechnungsführung"19 bestand in der Findung geeigneter Effizienzkriterien. Zwar gab es Versuche, durch einfache Kennziffern, wie Gewinn und Nettoproduktionswert sowie zusammengesetzte Kennziffern, wie Rentabilität und Arbeitsproduktivität, eine möglichst vollständige Leistungsübersicht eines Betriebes zu geben. Die Fragestellung nach dem optimalen Effizienzkriterium ist jedoch auch hinsichtlich der verschiedenen Aktionsbereiche (z.B. das breite Spektrum der Genossenschaften: Produktions-, Konsum-, Wohnungsgenossenschaften) unbeantwortet geblieben20. Hinzu kommt eine Beeinträchtigung der Aussagekraft der Effizienzkennziffern durch exogene Störfaktoren, wie das nicht an den Knappheitsfaktoren orientierte Preissystem 21 • Weiterhin gehört zur Rechnungsführung der Genossenschaften die Kontrolle ihrer Tätigkeit im Innen- und Außenverhäluüs. Die innergenossenschaftliche Kontrolle wurde von der Revisionskommission, dem Kontrollorgan der DDRGenossenschaften, durchgeführt, wobei auch die Tätigkeit des Vorstands im Interesse der Mitglieder untersucht wurde. Der Vorstand wiederum kontrollierte, ob seine Weisungen auch ordnungsgemäß ausgeführt wurden. Die externen Kontrollorgane waren noch breiter gefächert. Es waren dies zunächst die übergeordneten staatlichen Organe, die den Plan-Ist-Vergleich durchführten. Außerdem fand eine jährliche Pflichtrevision statt, bei der der Jahresabschluß geprüft wurde. Diese Überprüfungen führten bei den Genossenschaften im Unterschied zu den VEB nicht die Staatliche Finanzrevision durch, sondern spezielle Organe für jede Genossenschaftsart Diese Kontrollorgane nahmen aber auch noch eine dokumentarische Prüfung vor, d. h. sie kontrollierten die Einhaltung von Beschlüssen .der Mitgliederversammlung und untersuchten eventuelle Gesetzwidrigkeiten. Besonderes Augerunerk galt der Mitgliederbewegung, also der Aufnahme neuer Mitglieder (Austritte kamen höchst selten vor). 19 Das "Prinzip der wirtschaftlichen Rechnungsführung" ist keine originäre Errungenschaft mitteldeutscher Winschaftspolitiker; es geht in seinen Grundzügen auf das bereits in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts von Lenin entwickelte "Chosrascet-Prinzip" zurück, zitien bei: Herzog, H. 1.: Genossenschaftliche Organisationsformen in der DDR, Tübingen, 1982, S. 75. 20 Haffner, F.: Systemkonträre Beziehungen in der sowjetischen Planwinschaft, Winschaftswissenschaftliche Veröffentlichungen des Osteuropa-Instituts an der Freien Universität Bcrlin, Hrsg. Förster, W., Kiinkmüller,E., Thalheim,K. C., Bd. 37, Berlin 1978, S. 120, zitienbei: Herzog,H.J.: Genossenschaftliche Organisationsformen, S. 75f. 21

Haffner, F.: Systemkonträre Beziehungen, S. 76.

7 Todev/RönnebeckJBrazda

98

III. Entwicklung der Genossenschaftstheorie des "realen Sozialismus" in der DDR

Insgesamt überwog also die externe Kontrolle der Genossenschaften über die interne. Das ist nicht weiter verwunderlich, da der starke Einfluß des Staates auf diese Weise grundlegend ermöglicht wurde. Bei anderen sozialistischen Wirtschaftseinheiten galten zum Teil noch strengere Vorschriften. Zu den formalen Merkmalen der innerbetrieblichen Arbeitsweise gehören die Bestandteile des Rechnungswesens: Kalkulation, Kostenstellenrechnung22 und andere betriebliche Rechnungen 23 , Bilanz usw. 24 , die jedoch im Sozialismus eine sogenannte "neue, höhere Qualität" erhielten, da "die durch Konkurrenz und Anarchie der Produktion gesetzten Schranken" im sozialistischen System aufgehoben wurden25 • Das betriebliche Rechnungswesenhatte in der DDR verschiedene Aufgaben zu erfüllen. Zum einen spricht man von den internen Funktionen, wie die schon erwähnte Information, die zur wirtschaftlichen Entscheidungsfmdung notwendig ist. Weiterhin bekleidete das Rechnungswesen in sozialistischen Betrieben eine Stimulierungsfunktion fürdie Mitarbeiter, denn sie wurden regelmäßig über den Stand der Planerfüllung und nicht genutzte Leistungspotentiale unterrichtet. So sollten sie sich bewußt "am gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsprozeß beteiligen und durch ständige Steigerung der Arbeitsproduktivität in Durchsetzung der sozialistischen Intensivierung ihre "gesellschaftliche Mitverantwortung ... an der Leitung und Planung der Genossenschaft" wahmehmen26 • Zum anderen gab es externe Aufgaben des Rechnungswesens, die die Verbindung Staat-Einzelbetrieb betrafen. Es mußten regelmäßig Berichte und Statistiken über den Stand der Planerfüllung und betriebliche Maßnahmen an die jeweils übergeordnete staatliche Stelle geliefert werden. Die Genossenschaften waren ins staatliche System der Rechnungsführung und Statistik eingebunden, denn dies galt auch für "Genossenschaften einschließlich Genossenschaften der sozialistischen Landwirtschaft... " 27 • Deshalb arbeiteten sie mit den gleichen Definitionen von Kennziffern, Systematiken und Nomenklaturen (Kontenrahmen), bereiteten die erfaßten Daten und betrieblichen Rechnungen in gleicher Weise auf wie die VEB in den jeweiligen Branchen und unterlagen auch denselben Vorschriften über betriebliche Information und das Betriebswesen28 •

22 Handbuch Wirtschaftsgeschichte Institut für Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften, Berlin 1981, S. 1051. 23 Sozialistische Betriebswirtschaft für Ökonomen, Berlin 1979, S. 232.

24

Sozialistische Betriebswinschaft, S. 198.

25

Sozialistische Betriebswinschaft, S. 1051.

26

Betriebsordnung der PGH. VO über Rechnungsführung und Statistik, GBI. der DDR, T. I, 1975, S. 585 ff.

27

28

Vgl. Sozialistische Betriebswinschaft für Ökonomen 1976, S. 224-242.

B. Integration der Genossenschaften in das System der DDR

99

Für einige Genossenschaften, wie PGH (Produktionsgenossenschaften des Handwerks), AWG, GWG, ELG (Einkaufs- und Liefergenossenschaften) u. a., galten jedoch vereinfachte Anforderungen29 an die Rechnungsführung, was auf Gründe der Kostenminimierung zurückzuführen ist. Sehr unterschiedliche Regelungen bestanden bei der Gewinnverwendung. Während die VEB die erwirtschafteten Überschüsse vollständig an den Staat abführen mußten, hatten die Genossenschaften verschiedene prozentuale Anteile am Gewinn als Steuer zu zahlen. Es gab verschiedene Prinzipien für die Verwendung der Gewinne nach Steuern, nach denen die einzelnen Genossenschaften arbeiteten. Für die LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften) und die meisten anderen Produktionsgenossenschaften galt das Bruttoeinkommensprinzip. Dabei wurde, ausgehend von den Erlösen, das Bruttoeinkommen ermittelt, das noch mit Steuern und Zuführungen zu verschiedenen genossenschaftlichen Fonds belastet wurde. Die Bildung dieser Fonds war im Statut der jeweiligen Genossenschaft festgeschrieben. Für die LPG zum Beispiel gab es den Akkumulationsfonds, der zur Investition und Rücklagenbildung diente und den Konsumtionsfonds, bestehend aus Prämien- und Kultur- und Sozialfonds. Die Höhe der Fondszuführungen unterlag staatlichen Vorschriften. Das Bruttoeinkommensprinzip läßt sich folgendermaßen darstellen30 :

=

Erlöse der Genossenschaft Vorleistungen Abschreibungen Bruttoeinkommen Steuern

= Nettoeinkommen

=

Zuführungen zum Akkumulationsfonds Zuführungen zum Konsumtionsfonds Überschuß

Der Überschuß stellte die Summe dar, die zur Rückvergütung an die Mitglieder bereitstand. Diese Verteilung gestaltete sich für die einzelnen Mitglieder nach ihrer erbrachten Leistung, die in Arbeitseinheiten gemessen wurde. Je nach Erfüllung der vorher festgelegten Tagesnormen bekamen die Mitglieder Arbeitseinheiten gutgeschrieben, die am Jahresende mit dem Auszahlungsbetrag je Ar29 AO Nr. 2 über vereinfachte Anforderungen an die Erfassung und Nachweisführung in Rechnungsführung und Statistik vom 29.12.1972, GBI. der DDR, Teil I, Nr. 5, 8.2. 1973.

"' Vgl. Herzog, H.-1.: Genossenschaftliche Organisationsformen, S. 92.

1()()

III. Entwicklung der Genossenschaftstheorie des "realen Sozialismus" in der DDR

beitseinheit multipliziert wurden. So ergab sich der Anteil des einzelnen am Überschuß31 • Da nach diesem Verfahren nur einmal jährlich Auszahlungen an die Mitglieder stattfinden würden, diese aber auf monatliche Zahlungen angewiesen waren, sind in den Musterstatuten der betreffenden Genossenschaften Regelungen über Vorschußzahlungen auf die zu erwartenden Anteile am Jahresüberschuß getroffen worden. Zur Berechnung dieser wurde die tatsächliche monatliche Leistung, verglichen mit der geplanten Leistung, auf das ganze Jahr umgelegt und so ein Durchschnittswert ermittelt. Diese Art der Vergütung bleibt jedoch abhängig von der wirtschaftlichen Leistungskraft der einzelnen Genossenschaft. Die meisten LPG waren deshalb in den letzten Jahren zu einer rahmenkollektivvertragliehen Lohnzahlung übergegangen32 wie es bei den PGH von jeher üblich war. Die PGH arbeiteten jedoch nach einem ganz anderen Prinzip der Überschußverwendung, nämlich nach dem Gewinnprinzip, das sich so darstellt33: Erlöse der Genossenschaft Vorleistungen Abschreibungen Tarifgemäße Vergütung der Mitglieder = Bruttogewinn

Steuern

= Nettogewinn

Die Vergütung der Mitglieder erfolgte hier, wie schon erwähnt, "nach den tarifrechtliehen Bestimmungen des Rahmenkollektivvertrages des jeweiligen Wirtschaftszweigest-bereiches der volkseigenen Wirtschaft"34 , stand also schon fest, bevor die Genossenschaft irgendeinen wirtschaftlichen Erfolg erzielt hatte. Aus dem verbleibenden Nettogewinn mußten die verschiedenen Fonds gespeist werden35 . Diese waren bei den PGH nach folgendem Schema aufgebaut:

"

Vgl. Herzog, H.-J.: Genossenschaftliche Organisationsformen, S. 92.

32

Vgl. Herzog, H.-J.: Genossenschaftliche Organisationsformen, S. 101.

"

Vgl. Herzog, H.-J.: Genossenschaftliche Organisationsformen, S. 99.

34

VO über das Musterstatut der PGH, GBI. der DDR, Teil I, Nr. 14, 1973, S. 124.

35

Vgl. Herzog, H.-J.: Genossenschaftliche Organisationsformen, S. 99.

B. Integration der Genossenschaften in das System der DDR

101

Nettogewinn wird verteilt in:

Akkumulationsfonds - Investition - Ersatz der Grund- und Umlaufmittelfonds

Konsumtionsfonds

Kultur- und Sozialfonds

Prämienfonds

Gcwinnausschüttungsfonds

Die Fondsbildung findet man auch bei den VEB, wenn auch in anderen · Ausprägungen. Zunehmende Bedeutung erlangten in der DDR die Möglichkeiten der Prämierung von Einzelleistungen der Mitglieder, da diese Art der Verteilung grundsätzlich in der freien Verfügungsgewalt der Genossenschaft lag und hierbei nicht, wie etwa bei der Gewillllausschüttung, zusätzliche Steuern erhoben wurden. Die Prämienverteilung war auch in anderen Betriebsformen der DDR verbreitet und stellt deshalb keine genossenschaftsspezifische Ausprägung dar. Sie ist vielmehr als Gestaltungsmerkmal des sozialistischen Betriebes zu sehen, mit der versucht wurde, die Mitarbeiter zu besonders hohen Leistungen im sozialistischen Wettbewerb, dem "Konkurrenzkampf im Sozialismus", anzuregen. Die Leitung der Genossenschaft wurde vom Vorstand wahrgenommen. Bei den Produktivgenossenschaften fand sich die Besonderheit, daß daneben auch noch der Vorstandsvorsitzende Leitungsbefugnis innehatte. Im Statut der PGH hieß es: "Der Vorstand ... leitet die PGH auf der Grundlage der Rechtsvorschriften, des Statuts und der Beschlüsse der Mitgliederversammlung"36 , aber gleichzeitig leitet "der Vorsitzende ... den Vorstand der PGH"37 • Es lag also eine Vermischung der Managementsysteme der Kollektiv- und Einzelleitung vor. Dabei hatte der Vorsitzende jedoch die Priorität, dellll er "ist gegenüber den Mitgliedern weisungsberechtigt" und "organisiert ... Planaufgaben."38 , während

36 37 38

VO über das Musterstatut der PGH, Paragraph 15 (1). VO über das Musterstatut der PGH, Paragraph 16 (2). VO über das Musterstatut der PGH, Paragraph 16 (2).

102

111. Entwicklung der Genossenschaftstheorie des "realen Sozialismus" in der DDR

der Vorstand lediglich verpflichtet ist, sich vor allem um "die politisch-ideologische Erziehung der Mitglieder" zu bemühen und ihre "Initiative und Schöpferkraft" im sozialistischen Wettbewerb zu entwickeln39 • Die Leitung der wirtschaftlichen Tätigkeit der Genossenschaft lag in der Hand des Vorsitzenden, während der Vorstand als Leitungsorgan die ideelle Beeinflussung der Mitglieder zum Ziel hat. Eine solche Tendenz zur Einzelleitung fand man jedoch nur bei den Produktionsgenossenschaften40 • Diese zeigten dadurch ihre besonders weitgehende Integration in das zentral-staatliche System des Sozialismus, das ebenfalls nach dem Prinzip der Einzelleitung geführt würde. Ein weiteres Merkmal kennzeichnet die Genossenschaft der DDR als sozialistischen Betrieb. Es wurden, wie in den VEB, Brigaden gebildet, die als unterste Ebene der Leitungshierarchie die Weisungen der Genossenschaftsleitung entgegennahmen. Die Organisationsform der Brigade war besonders in den Produktivgenossenschaften verbreitet, was diesen wiederum besonders ausgeprägten sozialistischen Charakter verlieh. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Genossenschaften der DDR auf vielfache Weise mit Merkmalen der sozialistischen VEB ausgestattet waren. In derpolitischen Ökonomie des Sozialismus wurde eine Einordnung der Wirtschaftseinheiten als sozialistische Betriebe auf der Grundlage folgender Merkmale vorgenommen: "Erstens ist der Betrieb eine produktionstechnische Einheit."41 Diese Eigenschaft enthält die Ausstattung des Betriebes entsprechend den branchenspezifischen Merkmalen der Produktion. Insofern war der Betrieb in der DDR "Glied der sozialistischen Volkswirtschaft und Teil der materiell-technischen Basis des Sozialismus. "42 Für die Genossenschaften trifft dies in gleicher Weise zu, da sie, abhängig von den Erzeugnissen und Leistungen, die sie erbrachten, mit Produktionsmitteln ausgestattet waren. "Zweitens ist der Betrieb eine ökonomische Einheit."43 Er ist mit Fonds ausgestattet, wie die Genossenschaften auch, auf deren Grundlage "sich im

39

VO über das Musterstarut der PGH, Paragraph 15 (3).

40

Vgl. Herzog, H .·l .: Genossenschaftliche Organisationsformen, S. 84.

41

42

Politische Ökonomie, S. 592. Politische Ökonomie, S. 592.

43

Politische Ökonomie, S. 593.

B. Integration der Genossenschaften in das System der DDR

103

Betrieb ... Produktions-, Verteilungs- und Zirkulationsprozesse" vollziehen, die "stets im Auftrag der sozialistischen Gesellschaft, das heißt auf der Grundlage zentraler staatlicher Planaufgaben"44 erfolgen. "Drittens ist der Betrieb eine soziale Einheit." Ein "Kollektiv von Werktätigen" übt "wesentliche Funktionen des sozialistischen Eigentümers und Produzenten aus", wie z. B. "Leitung und Planung des betrieblichen und gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses, kulturelle und soziale Betreuung der Werktätigen ... " 45 Die Einheit des Mitarbeiters als Eigentümer und Produzent finden wir auch beim Genossenschaftsmitglied. Im Abschnitt "Genossenschaft und Mitglied in der DDR" wird auf die Mitwirkung des Mitglieds bei der Leitung der Genossenschaft und auf deren kulturelle und soziale Betreuung näher eingegangen werden. Außerdem vollzieht sich "im Betrieb .... die politische, moralische und kulturelle Entwicklung des Kollektivs"46 , was bei der Genossenschaft, wie schon erörtert, zur Aufgabe des Vorstands gehörte. "Viertens ist der Betrieb eine wirtschaftlich-organisatorische Einheit." 47 Als solche ist er "die Grundeinheit der Leitung und Planung", die in das "Gesamtsystem der Leitung und Planung der Volkswirtschaft eingegliedert ist."48 Auch die Genossenschaft in der DDR besaß "eine eigene Leitung"49,die auf die Einhaltung der Planaufgaben zu achten hatte und somit in das Planungssystem der Volkswirtschaft integriert war. Aufgrund der Möglichkeit der Anwendung der Merkmale des sozialistischen Betriebes auf die Genossenschaften steht außer Frage, daß diese in der DDR tatsächlich als sozialistische Wirtschaftseinheit angesehen wurden.

II. Genossenschaft und Mitglied in der DDR

Die Genossenschaften in der DDR waren, wie alle Genossenschaften, nach dem Identitätsprinzip organisiert, das von Weber in die Genossenschaftstheorie eingeführt und von Eschenburg/Boettcher weiterentwickelt worden war50 • Nach

44

Politische Ökonomie, S. 593.

•s Politische Ökonomie, S. 593. '6

Politische Ökonomie, S. 594.

., Politische Ökonomie, S. 594. 40

Politische Ökonomie, S. 594.

49

Politische Ökonomie, S. 594.

"' Vgl. Herzog, H.-1.: Genossenschaftliche Organisationsformen, S. 36.

104

III. Entwicklung der Genossenschaftstheorie des "realen Sozialismus" in der DDR

diesem Prinzip besteht Identität zwischen Trägem und Nutzern der Genossenschaft. In der DDR wurde es in den einzelnen Genossenschaften aufverschiedene Weise verwirklicht. Zum einen gab es die Produktionsgenossenschaften, wie LPG, PGH, GPG (Gärtnerische Produktionsgenossenschaften) u. a., bei denen die Mitglieder als Träger des genossenschaftlichen Betriebes zugleich Mitarbeiter waren und so die von der Genossenschaft zur Verfügung gestellten Arbeitsplätze nutzten. Weiterhin gab es Genossenschaften, die Güter oder Dienstleistungen erstellten. Dazu gehörten der Konsum, die Wohnungsgenossenschaften AWG und GWG, die ELG u. a. Die Mitglieder dieser Genossenschaften waren zugleich Empfänger der Leistungen der Kooperative, wodurch das Identitätsprinzip ebenfalls erfüllt war51 • Um Mitglied werden zu können, mußte man verschiedene Voraussetzungen erfüllen. Bei allen DDR-Genossenschaften mußten Anteile in Form von bestimmten Geldbeträgen (PGH, Konsum, A WG) oder Sachmittel wie Boden und Geräte (LPG, PGH) eingebracht werden. Die Höhe der Anteile warentsprechend den Musterstatuten der jeweiligen Genossenschaft unterschiedlich. Weitere Auflagen gab es bei den Produktionsgenossenschaften, wo die Beitrittswilligen zu den Genossenschaften entsprechenden Branchen angehören mußten, z. B. durften einer PGH nur "Handwerker und Gewerbetreibende" beitreten, "die in der Handwerks- oder Gewerberolle eingetragen sind ... " 52 Eine Haftung im Bedarfsfall über den einzubringenden Geschäftsanteil hinaus gab es nur bei den ELG, deren Statut eine Nachschußpflicht in Höhe von 100% des Anteils vorsah 53 • Bei allen anderen Genossenschaften war eine solche Regelung nicht vorgesehen. Ein Grund dafür könnte sein, daß die Regierung der DDR nicht damit rechnete, daß eine Notwendigkeit einer Nachhaftung einmal eintreten könnte. Außerdem hatten die Genossenschaften umfangreiche Reservefonds zu bilden, die im Falle eines negativen Betriebsergebnisses zunächst zum Ausgleich der Verbindlichkeiten dienten. Großes Augenmerk legte die DDR-Führung auf die Durchsetzung der "sozialistischen Demokratie" innerhalb der Genossenschaft. Zur Verwirklichung dieser bestanden bestimmte Rechte und Pflichten für die Mitglieder. In der Betriebsordnung der PGH heißt es dazu: "Zur Verwirklichung der sozialistischen Demo-

51

Vgl. Herzog, H .-J.: Genossenschaftliche Organisationsformen, S. 36.

52

VO über das Musterstatut der PGH, , Paragraph 8 (2).

Musterstatut der ELG in: VO über ELG, GBI. der DDR, Teil I, vom 8.1 .1957, Paragraphen 39, 12 (1), 15 (4), 1973. 53

B. Integration der Genossenschaften in das System der DDR

105

kratie in der PGH hat jedes Mitglied die Pflicht und das Recht, seine ganze Kraft und schöpferischen Fähigkeiten für die Stärkung und Festigung der Genossenschaft einzusetzen, regelmäßig an den Mitgliederversammlungen und PGH-Veranstaltungen teilzunehmen, an der Rationalisierungs- und Neuererarbeit aktiv mitzuwirken, seine Kenntnisse und Fähigkeiten durch Teilnahme an fachlichen und gesellschaftlichen Schulungen ständig zu erweitern und sich aktiv kulturell zu betätigen. " 54 Weiterhin wird den Mitgliedern noch das Recht auf Mitwirkung an "der Gestaltung der Arbeits- und Lebensbedingungen"55 zugestanden und natürlich auch dies zur Pflicht erhoben. Allgemein läßt sich sagen, daß die gesamte Tätigkeit der Mitglieder der Produktionsgenossenschaften nicht nur im Produktionsprozeß, sondern auch in der" gesellschaftlichen Arbeit" als Pflicht zu sehen war und sie diese unter einem gewissen Druck durch die Genossenschaftsleitung auszuüben hatten. Selbst "aktiv kulturell"56 hatte man sich zu betätigen, was doch eigentlich zur Privatsphäre jedes einzelnen gehört. Dies zeigt, wie stark der Staat ins Leben seiner Bürger, hier des Genossenschaftsmitglieds, eingriff und wie wenig persönlicher Freiraum den Individuen in der sozialistischen Gesellschaft blieb. Einen wichtigen Punkt in diesem Zusammenhang bildet die Teilnahme des Mitglieds an der Mitgliederversammlung, die in allen Genossenschaften der DDR zumindest erwünscht war. Dieses Recht stellt ein gewisses Zeichen von Demokratie dar. Das heißt aber nicht, daß die Mitglieder durch ihre Teilnahme an der Mitgliederversammlung Veränderungen in der Genossenschaft herbeiführen konnten. Vielmehr ist Wert aufbloße Anwesenheit gelegt worden, die von übergeordneter Stelle gefordert wurde, um sicherzustellen, daß alle Mitglieder mit den Aufgaben der Genossenschaft vertraut waren. Die Mitgliederversammlung war das höchste Organ der Genossenschaft. Sie mußte mindestens einmal im Quartal zusammentreten und hatte über bestimmte, im Musterstatut festgelegte Sachverhalte zu beschließen. Dazu gehörten Änderungen statutarischer Regelungen, Wahl und Abberufung des Vorstandes und der Revisionskommission bzw. deren einzelnen Mitglieder, Verabschiedung genossenschaftlicher Pläne und anderes 57 • Nach jeder Mitgliederversammlung wurde ein Bericht über beschlossene Veränderungen an das zuständige Kontrollorgan geschickt, das dann die Rechtmäßigkeit der verabschiedeten Maßnahmen überprüfte und eventuell Aufhebungen der Beschlüsse vornahm. Trotzdem kann man sagen, daß die Genossenschaftsmitglieder in der DDR über ihre Tätigkeit in der

34

Betriebsordnung der PGH, Hrsg.: Handwerkskammer Berlin 1977.

55

Betriebsordnung der PGH.

56

Betriebsordnung der PGH.

57

VO über das Musterstatut der PGH, Paragraph 14 (I) (3).

106

III. Entwicklung der Genossenschaftstheorie des "realen Sozialismus" in der DDR

Mitgliederversammlung bzw. in den von ihr gewählten Organen theoretisch die Möglichkeit hatten, Demokratie zu praktizieren. Dies war auch vom Staat angestrebt worden, denn die "Ideale der Demokratie sind nämlich aufs engste mit den sozialistischen Gesellschaftsverhältnissen verbunden, durch die die zwischen den Menschen bestehende ökonomische Ungleichheit ausgeschaltet wird."58 Die zitierte Ausschaltung der Ungleichheit zwischen den Menschen bildet neben der persönlichen Freiheit der Mitwirkung am Entscheidungsprozeß der Genossenschaftsorgane die zweite Säule der innergenossenschaftlichen Demokratie59 , die in die sozialistische Demokratie eingebettet war. Ausdruck dieser "wirtschaftlichen Demokratie"60 ist auch das "Ein Mitglied- eine Stimme"-Prinzip. Durch die Anwendung dieses Grundsatzes in den DDR-Genossenschaften wurde ein verstärkter Einfluß wirtschaftlich starker Mitglieder auf die Belange des Genossenschaftsbetriebes vermieden. Zweifelsohne wurde dem zweiten Aspekt der genossenschaftlichen Demokratie mehr Aufmerksamkeit geschenkt, da die persönliche Freiheit des einzelnen Mitglieds schon durch die in Statut und Betriebsordnung festgelegten Pflichten, wie bereits erwähnt, eingeschränkt worden war. Freiheit war also "nur so lange tolerierbar, als durch diese das generell angestrebte Gleichheitsziel nicht gravierend verletzt''61 wurde. Diese Gleichstellung der Individuen gehörte zur Ideologie des Sozialismus und mußte daher vorrangig verfolgt werden. Außerdem fand ein Prozeß der Verdrängung der direkten Demokratie durch Wahrnehmung der Mitgliederrechte in der Mitgliederversammlung statt. Zuletzt wurde diese nämlich nur noch in Produktionsgenossenschaften durchgeführt, da bei diesen die Mitglieder als Mitarbeiter noch ein echtes Interesse an den Angelegenheiten ihrer Genossenschaft zeigten62 • Bei anderen, vor allem größeren Genossenschaften, wie dem Konsum, sank das Interesse im Laufe der Zeit stark ab. Diese Tendenz führte dazu, daß sich das einzelne Mitglied selbst von der indirekten Demokratie, bei der die Mitgliederinteressen durch Delegierte wahrgenommen wurden, ausgeschlossen sah, wodurch der Wille zur Mitwirkung nur noch mehr sank. Auf diese Art und Weise entstand eine Trennung von Führung und Basis der Genossenschaften. die sich in den letztenJahrenbesonders deutlich beim Konsum zeigte. ' 8 Kowalak, T.: Ausgewählte Probleme der genossenschaftlichen Demokratie in Volkspolen, in: Genossenschaften im Systemvergleich, Tübingen 1976, S. 45. '9 Vgl. Ehm, M .: Die polnischen Genossenschaften zwischen Privat- und Zentralplanwirtschaft, Münster,1983, S. 95. 60

Vgl. Ehm. M .: Die polnischen Genossenschaften, S. 95.

61

Vgl. Ehm, M.: Die polnischen Genossenschaften, S. 95f.

62

Vgl. Ehm, M.: Die polnischen Genossenschaften, S. 98.

B. Integration der Genossenschaften in das System der DDR

107

Trotzdem bleibt das Faktum zu beachten, daß Genossenschaftsmitglieder zumindest die Möglichkeit erhielten, in gewissem begrenzten, staatlich erlaubten Umfang iMerbetriebliche Demokratie auszuüben, was bei den VEB generell nicht der Fall war. Bleibt noch die Frage zu beantworten, worin der Fördergedanke, der jeder Genossenschaft iMewohnt, in den DDR-Genossenschaften seinen Ausdruck fand. In den als Rechtsgrundlage dienenden Musterstatuten wird nirgends der Begriff der Mitgliederförderung als genossenschaftliches Merkmal erwähnt. Es ist also davon auszugehen, daß dieser Gedanke in den Genossenschaften der DDR in den Hintergrund geraten war. Vorrangiger Zweck war die "Befriedigung der Bedürfnisse der Bevölkerung"63 auf dem jeweiligen Gebiet. Hier wird schon ein indirekter Nutzen für die Mitglieder deutlich. Die Mitglieder konnten die Leistungen der Genossenschaft für ihre Zwecke in Anspruch nehmen. Dies galt jedoch für die gesamte Bevölkerung, zumindest bei den Produktionsgenossenschaften und einigen anderen, und stellt somit keine konkrete Mitgliederförderung dar. Tatsächlich kann man aber davon ausgehen, daß eine solche Bevorteilung für Mitglieder von DDR-Genossenschaften auf die eine oder andere Weise stattfand. Bei den Produktionsgenossenschaften beispielsweise verfügten die Mitglieder über private Haushalte, die verschiedenartig gefördert wurden. Einmal fand durch Bereitstellung von Arbeitsplätzen und mit der damit verbundenen Entlohnung die Sicherung der Existenz der Mitglieder in materieller Hinsicht statt. Gleichzeitig waren die Mitglieder dieser Genossenschaften als normale Lohnempfänger ins Sozialversicherungssystem der DDR integriert, was ihre Versorgung bei Krankheit und im Alter sicherstellte. Darüber hinaus ist zu erwähnen, daß in vielen Produktionsgenossenschaften, gerade im Handwerk, bei gleicher Arbeitszeit Löhne oberhalb des Durchschnitts der Industrie gezahlt wurden, was als besondere Förderung angesehen werden kann. Auch umfassende Maßnahmen der sozialen und kulturellen Betreuung kamen Genossenschaftsmitgliedern zugute, z. B. verbilligte Verpflegung, Bereitstellung von Kinderkrippen- und Urlaubsplätzen, aber auch Fortbildungskurse, Sportveranstaltungen und Film- und Vortragsabende. Besonderes Augenmerk legte man in diesem Zusammenhang auf sozial eher schwache Gruppen wie

63

VO über das Musterstatut der PGH, Paragraph 2.

108

III. Entwicklung der Genossenschaftstheorie des "realen Sozialismus" in der DDR

Frauen, Jugendliche und ältere Mitglieder.ti4 • Bei den Wohnungsbaugenossenschaften (AWG, GWG) gestaltete sich die Förderung in der Überlassung von Wohnraum. Bei den Konsumgenossenschaften konnten die Mitglieder die Versorgung mit Handelsgütern nutzen, die aber auch Nichtmitgliedern zur Verfügung standen. Darüber hinaus erhielten sie eine jährliche umsatzabhängige Rückvergütung. Eine ähnliche Form der finanziellen Bevorteilung gab es bei den PGH. Jährlich fanden dort Gewinnausschüttungen aus dem eigens dafür eingerichteten Fonds statt, wobei jedoch nach Arbeitsleistung und gesellschaftlicher Aktivität differenziert wurde65 • Erwähnenswert wäre in diesem Zusammenhang noch die bei den PGH praktizierte Auszahlung von Prämien an Mitglieder, die sich in irgendeiner Weise verdient gemacht hatten. Auch dies stellt eine Form der Mitgliederförderung dar, obwohl das auch in anderen Betrieben praktiziert wurde. In den ELG fand eine Förderung der Erwerbswirtschaft der Mitglieder statt, wodurch sie laut Statut verpflichtet sind, denn sie haben "durch ihre Arbeit zur Verbesserung der materiellen Bedingungen der ihnen angeschlossenen Handwerksbetriebe beizutragen. " 66 Diese Förderung gestaltete sich in der Versorgung mit Maschinen und Rohstoffen, was anders für die angeschlossenen privaten Handwerksbetriebe gar nicht möglich gewesen wäre, da eine Direktbelieferung durch die Industrie für sie nicht vorgesehen war. Erwerbswirtschaftliche Förderung genossen auch die Mitglieder der Genossenschaftskassen für Handwerk und Gewerbe, denen verschiedene finanzielle Vergünstigungen zuteil wurden. Bei den zuletzt genannten Förderungsmöglichkeiten dürfte in besonderem Maße staatliches Interesse von Vorrang gewesen sein, denn durch diese speziellen Fördermaßnahmen sollten die Mitglieder mit eigener Erwerbswirtschaft in das staatliche Planungssystem einbezogen werden. Es kann also davon ausgegangen werden, daß die Mitgliederförderung in den Genossenschaften der DDR tatsächlich stattfand. Dies wird teilweise schon durch den genossenschaftlichen Charakter dieser Betriebe begründet, geht aber in vielen Fällen, besonders bei den Produktionsgenossenschaften, darüber hinaus in Richtung der gesellschaftlichen Betreuung in kultureller und sozialer Hinsicht. Dabei muß ein gewisser

64

Vgl. Betriebsordnung der PGH, Hrsg.: Handwerkskammer Berlin 1977, Punkt 10 (1).

6'

Vgl. Betriebsordnung der PGH, Punkt 3 (5).

Musterstatut für ELG, Paragraph I (2), zitiert bei: Herzog , H .-1.: Genossenschaftliche Organisationsfonnen, S. 128. 66

B. Integration der Genossenschaften in das System der DDR

109

ideologischer Aspekt beachtet werden, denn durch so umfangreiche Förderung sollte nicht zuletzt die Einstellung des Individuums gegenüber dem Staat positiv beeinflußt werden. Zusammenfassend muß bemerkt werden, daß den Mitgliedern in Genossenschaften der DDR einiger Nutzen aus der Beteiligung an der Genossenschaft entstand, wenn auch gegenüber Genossenschaften in nichtsozialistischen Ländern Einschränkungen, so z.B. bei der genossenschaftlichen Demokratie, gemacht werden müssen. Trotzdem bestanden für Genossenschaftsmitglieder einige Vorteile im Gegensatz zu den Möglichkeiten der anderen Berufstätigen, beispielsweise in volkseigenen Industriebetrieben. Das war ein Resultat der in genossenschaftlichen Betrieben vorhandenen höheren Eigenständigkeil der Entscheidungsmacht der Leitung, die trotz staatlichem Einfluß bestand.

111. Die Eigentumsfrage bei den Genossenschaften der DDR

Das Genossenschaftsgesetz enthält keine besonderen Vorschriften über das Eigentum67 • Für Genossenschaften, die auf dieser Rechtsgrundlage organisiert sind, gelten die allgemeinen Eigentumsordnungen. In der Bundesrepublik Deutschland sind diese im BGB dargelegt und "durch das Grundgesetz geschützt''68. Die Genossenschaften sind "daher frei, Eigenturn jeder Art zu erwerben, sie unterliegen bei der Ausübung ihrer Eigentümerrechte keinen staatlichen Weisungen''69 • Ganz anders verhielt es sich bei den Genossenschaften in sozialistischen Gesellschaftsordnungen. In den Theorien von Marx und Lenin, die die Grundlagen für die Politik der sozialistischen Regierungen bildeten, wird ausgedrückt, daß sich das Genossenschaftswesen zur "Transformation nichtsozialistischer Wirtschaften in eine sozialistische"70 eignet, was in der 1. Etappe der Umwandlung der Gesellschaft in Richtung Kommunismus von besonderer Bedeutung ist.

67

Großfeld, 8 .: Genossenschaft und Eigentum, Tübingen 1969, S. 5.

68

Großfeld. 8 .: Genossenschaft und Eigentum, S. 5.

69 Lieser, 1.: Genossenschaft und Wirtschaftsverfassung, zitiert bei B. Großfeld: Genossenschaft und Eigentum, S. 5.

7° Cholaj, H./Siwek, T.: Das genossenschaftliche Eigentum im sozialistischen Staat, in: Genossenschaften im Systemvergleich, Tübingcn 1976, S. 15.

110

III. Entwicklung der Genossenschaftstheorie des "realen Sozialismus" in der DDR

Dabei geht Lenin davon aus, daß zwei Formen des sozialistischen Eigentums an Produktionsmitteln bestehen - "Volkseigentum und genossenschaftliches Eigentum " 71 • Unter Volkseigentum ist die "staatliche Form des sozialistischen Eigentums"72 zu verstehen, also die Konzentration der wichtigsten Produktionsmittel in der Hand des Staates. Dieses Staatseigentum entwickelte sich durch Enteignung kapitalistischen Eigentums und durch seine Verstaatlichung in den wichtigsten Bereichen der Volkswirtschaft73 • Die Expropriation kapitalistischen Eigentums begann in Ostdeutschland im Frühjahr 1946, als die "SMA die von ihr beschlagnahmten Betriebe völlig in die Verfügungsgewalt der Landes- und Provinzialverwaltungen"74 übergab. Aufgrund von Volksentscheiden, die später zum Gesetz erhoben wurden, enteignete man die ehemaligen "Monopolkapitalisten" vollends, die als Kriegsschuldige angesehen wurden. In der Landwirtschaft war dieser Prozeß mit der Durchführung der Bodenreform 1945 schon abgeschlossen. Hier ging das Eigentum jedoch nicht in eine gesamtgesellschaftliche Form, in "die Hände des Volkes"75 über, sondern wurde an Bedürftige verteilt. Damit sollte die landwirtschaftliche Produktion angekurbelt werden. Aufkonkrete Gründe dieser Verfahrensweise ist bereits weiter oben eingegangen worden. Das genossenschaftliche Eigentum entstand dann im wesentlichen im Laufe der ersten 15 Jahre des Bestehens der DDR. Dabei sollte nach außen das Prinzip der Freiwilligkeit der Vereinigung des Eigentums der Kleingewerbler und Bauern gewahrt werden. Im Musterstatut der LPG heißt es dazu: "Der Eintritt in die Produktionsgenossenschaft erfolgt nur aufgrund freiwilliger Zustimmung." 76 Diese auffällige, unübliche Hervorhebung der Freiwilligkeit77 diente jedoch nur der Wahrung des Anscheins der Rechtmäßigkeit nach außen. Auf diese Weise konnte keines der neuen Genossenschaftsmitglieder rechtliche Schritte wegen eventuellen Zwangs zum Eintritt in eine Genossenschaft der DDR einleiten. In Wirklichkeit wollte die Regierung endlich die zweite Form sozialistischen Eigentums an Produktionsmitteln durchsetzen und

71

Handbuch Winschaflsgeschichte, Bcrlin 1981, S. 924.

72

Handbuch Winschaftsgeschichte, S. 924.

73

Vgl. Cholaj. H.!Siwek. T.: Das genossenschaftliche Eigentum, S. 17.

74

Doernberg, S. : Kur1.e Geschichte der DDR, Berlin 1968, S. 92.

75

Doernberg, S.: Kurze Geschichte der DDR, S. 92.

76

Musterstatut der LPG. GB I. der DDR, Nr. 181, 1952, S. 1376 (7).

77

Vgl. Lenin contra Raiffeisen, Bonn, S. 18.

B. Integration der Genossenschaften in das System der DDR

111

die antisozialistische Form, das Privateigentum, vom Boden der DDR verdrängen. Dazu wendete sie verschiedene Druckmittel an, z. B. übertrieben hohe Steuern für Handwerksbetriebe. In der Landwirtschaft wurde dies " wirtschaftspolitische Maßnahmen"78 genannt. Zu diesen Maßnahmen gehörten: - Bildung eines Netzes von Maschinen-Ausleih-Stationen (MAS) bzw. Maschinen-Traktoren-Stationen (MTS) - staatliche Erfassungs- und Aufkauforganisationen - preis- und steuerpolitische Maßnahmen. Die Vergesellschaftung des Eigentums vollzog sich im Sozialismus in verschiedenen Stufen, wobei das gesamtgesellschaftliche Eigentum die höchste Stufe darstellte. Bei der Herausbildung von genossenschaftlichem Eigentum wurde mit verschiedenen Phasen des Zusammenschlusses gearbeitet. In der Landwirtschaft gab es 3 Typen von LPG, im Handwerk und Gewerbe 2 Stufen von PGH, wobei mit höherer Ausprägungsform ein höheres Niveau der Vergesellschaftung der Produktionsmittel erreicht wurde. Genossenschaftliches Eigentum als sozialistische Eigentumsform lag bei den LPG Typ 3 und PGH Stufe 2 vor, die das Ziel der Kollektivierung darstellten. Die niedrigeren Stufen waren Übergangsformen, die benutzt wurden, um die Menschen langsam an kollektive Produktion zu gewöhnen79 • Die Entstehung genossenschaftlichen Eigentums vollzog sich in verschiedenen Formen: 1.

Einbringung von Inventar und Anteilen

2.

staatliche Zuweisungen

3.

zivilrechtlicher Eigentumserwerb (Kauf, Schenkung, testamentarische Verfügung

4.

Erstellung von Produkten und Leistungen im Rahmen des genossenschaftlichen Arbeitsprozesses80 •

Der erstgenannte Weg war gegenüber dem zweiten und dritten Weg die am stärksten praktizierte Art und Weise der Bildung von Genossenschaftseigentum. Bei den Genossenschaften der DDR wurde der Übergang des Eigentums im 78 Handbuch Winschaftsgeschichtc, Hrsg.: Institut für Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, 1991, S. 295. 79

Vgl. Lenin contra Raiffeisen, S. 22.

80

Lieser , J .: Genossenschaft und Wirtschaftsordnung, zitiert bei H .-J. Herzog: Genossenschaftli-

che Organisationsformen, S. 67.

112

III. Entwicklung der Genossenschaftstheorie des "realen Sozialismus" in der DDR

Statutfestgelegt Besonders auffällig war das bei den Produktionsgenossenschaften, wo nicht nur Geldmittel als Anteile, sondern auch Sachwerte Eigentum der Genossenschaft wurden. Im Musterstatut der PGH heißt es dazu: "In der Stufe 2 sind die Grundmittel der Mitglieder in die PGH einzubringen. Diese Grundmittel werden mit der Übernahme genossenschaftliches Eigentum."81 Die im 4. Punkt genannte Möglichkeit der Schaffung von Genossenschaftseigentum wurde in der Verfassung der DDR verankert, deren Artikel 13 folgendermaßen lautete: "Die Geräte, Maschinen, Anlagen, Bauten der landwirtschaftlichen, handwerklichen und sonstigen sozialistischen Genossenschaften sowie die Tierbestände der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften und das aus genossenschaftlicher Nutzung des Bodens sowie genossenschaftlicher Produktionsmittel erzielte Ergebnis sind genossenschaftliches Eigentum." 82 Im Laufe der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft verlor das Eigentum mehr und mehr seinen ehemals kapitalistischen Charakter, da nur noch die Geschäftsanteile der Mitglieder teilbares und somit individuelles, was wiederum kapitalistisches Eigentum bedeutet, darstellten. Nur dieser Teil des Eigentums konnte auch den Genossenschaften entzogen werden, nämlich durch Austritt einzelner Mitglieder aus der Genossenschaft. 83

Da solche Austritte so gut wie nie vorkamen, kann davon ausgegangen werden, daß selbst dieser letzte "Unsicherheitsfaktor" in Sachen Eigentum der sozialistischen Genossenschaft keine Gefahr für den sozialistischen Charakter der Eigentumsverhältnisse darstellte. Der Hauptteil genossenschaftlichen Eigentums war in Fonds gebunden und galt als unteilbar, konnte also selbst bei Liquidation der Genossenschaft nicht an die Mitglieder verteilt werden und so in die im Sozialismus als überlebt geltende Form des Privateigentums zurückkehren, sondern durfte nur "zugunsten einer anderen Genossenschaft, eines Genossenschaftsverbandes oder des Staates" umorganisiert werden 84 •

VO über das Musterstatut der PGH, Paragraph 5 (2), S. 122. Verfassung der DDR vom 6. April 1968, in der Fassung des Gesetzes zur Ergänzung und Änderung der Verfassung der DDR vom 7. Oktober 1974. 83 Cholaj, H.!Siwek. T.: Das genossenschaftliche Eigentum, S. 28. 81

82

•• Cholaj, H.!Siwek, T.: Das genossenschaftliche Eigentum, S. 28.

B. Integration der Genossenschaften in das System der DDR

113

Den Genossenschaften stand keine freie Verfügung über die Fondsmittel zu, vielmehr waren Verwendungsmöglichkeiten und Höhe der Zuteilungen im Musterstatut festgelegt. Deshalb bestand die Möglichkeit, daß durch Fehlentscheidungen der jeweiligen Genossenschaftsleitung die Existenz der Genossenschaft und damit sozialistisches Eigentum in Gefahr war, zu keinem Zeitpunkt. Darüber hinaus wurde die Tätigkeit der Genossenschaften ständig von zuständigen staatlichen Stellen überprüft. Der Staat hatte also alle möglichen Vorkehrungen getroffen, damit einmal gebildetes sozialistisches Eigentum nicht wieder in die alte, kapitalistische Form zurückfallen konnte. Das genossenschaftliche Eigentum in Fonds war dem "allgemein-nationalen Eigentum" nach "Charakter, Zweckbestimmung und Nutzungs weise" sehr ähnlich85, da auch die Produktionsmittel in VEB und anderen Formen des Volkseigentums nach dem Prinzip der Fondsbildung organisiert waren. Als "Ursache für die Herausbildung und Entwicklung des sozialistischen Eigentums an Produktionsmitteln in zwei Formen", des Volkseigentums und des genossenschaftlichen Eigentums, wurde in derökonomischen Theorie des Sozialismus der "unterschiedliche Grad der Vergesellschaftung der Produktion in Industrie und Landwirtschaft gesehen" 86. Damit sind nicht etwa die verschiedenen Entwicklungsstufen der Produktionsgenossenschaften gemeint, sondern der als "Hinterlassenschaft der kapitalistischen Produktionsweise" vorhandene "Gegensatz zwischen Stadt und Land" 87, der unter sozialistischen Produktionsverhältnissen endlich eliminiert werden sollte. Diesem "Entwicklungsstand der Produktivkräfte und dem Vergesellschaftungsgrad der Produktion in der Landwirtschaft" entsprach "nach allen historischen Erfahrungen am besten die genossenschaftliche Form sozialistischen Eigentums"88. Hierwaren wohl die "historischen Erfahrungen" der Sowjetunion gemeint, die die Kollektivierung in der Landwirtschaft nach Lenins Genossenschaftsplan schon durchgeführt hatte. Ziel der Produktionsgenossenschaften sollte die Erreichung des "Niveaus kommunistischer Betriebe", das "einheitliche kommunistische Eigentum an Produktionsmitteln" sein, wobei das "genossenschaftliche Gemeineigentum werktätiger Kollektive ... sich nicht unabhängig vom gesamtgesellschaftlichen

8'

Cholaj. H .!Siwek, T.: Das genossenschaftliche Eigentum, S. 28.

86

Cholaj, H ./Siwek, T.: Das genossenschaftliche Eigentum, S. 28.

87

Cholaj, H ./Siwek, T.: Das genossenschaftliche Eigentum, S. 28.

"

Cholaj, H.!Siwek, T.: Das genossenschaftliche Eigentum, S. 28.

8 Todev/Rönnebeck!Brazda

114

III. Entwick.lung der Genossenschaftstheorie des "realen Sozialismus" in der DDR

Eigentum" entwickelt, sondern der "Fortschritt der Produktivkräfte in der Landwirtschaft ... unmittelbar durch die Industrieproduktion beeinflußt" wird 89. Als Formen dieser Beeinflussung nennt die politische Ökonomie des Sozialismus "die wachsende technische Ausstattung der Genossenschaft, die Elektrifizierung und Chemisierung der landwirtschaftlichen Produktion, die Erhöhung des Vergesellschaftungsgrades der Produktion innerhalb der Genossenschaft, die Entfaltung der Produktionsbeziehungen zwischen den Genossenschaften sowie zwischen Genossenschaften und volkseigenen Betrieben, die Verwandlung der landwirtschaftlichen Arbeit in eine Art der industriellen Arbeit, die Annäherung der Methoden der Wirtschaftsführung in den Genossenschaften an die in den volkseigenen Betrieben."90 Auf diese Ziele richtete der sozialistische Zentralstaat seine Politik aus, die den Genossenschaften der DDR nach und nach immer mehr den genossenschaftlichen Charakter nach den Vorstellungen von Schultze-Delitzsch und Raiffeisen nahm und sie durch weitreichende Kontrolle und Beeinflussung staatlicherseits ihrer selbstgestalterischen Handlungsspielräume enthob. Denn die Gesellschaft sollte zu einem Kollektiv werden, "das die Menschen völlig von den Gewohnheiten des Privateigentums, von Individualismus ... " befreit91 . Die überlegene, höhere Form sozialistischen Eigentums war das Volkseigentum, weil es die höchste Vergesellschaftung der Produktionsmittel darstellte. Dabei ist "der höhere Grad von Vergesellschaftung des staatlichen Eigentums ... das Resultat eines höheren Niveaus der Konzentration der Wirtschaftstätigkeit."92 Die "Hervorhebung der führenden Stellung des Volkseigentums gegenüber der genossenschaftlichen Eigentumsform ist nicht als eine Herabminderung der außerordentlichen Bedeutung der Entwicklung der Genossenschaften für den kommunistischen Aufbau zu werten."93 Vielmehr übernimmt es nach und nach "die Funktion allgemeinnationalen Eigentums ... ", es ist also "nicht nur Eigentum der Genossenschaftsbetriebe selbst, sondern gehört in bestimmtem Grade demjenigen Teil der Bevölkerung, die Mitglieder der Genossenschaftsorganisationen sind. "94 In diesem Zusammenhang steht auch die These des ungarischen Genas-

•• Politische Ökonomie des Kapitalismus und des Sozialismus, Berlin 1974, S. 770. 90

Politische Ökonomie des Kapitalismus, S. 770.

9'

Politische Ökonomie des Kapitalismus, S. 770.

92

Cholaj. H .!Siwek, T.: Das genossenschaftliche Eigentum, S. 20.

93

Handbuch Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften, Berlin 1981, S. 924.

94

Cholaj. H.!Siwek, T.: Das genossenschaftliche Eigentum, S. 28.

B. Integration der Genossenschaften in das System der DDR

115

Senschaftstheoretikers Nyers, die besagt, "daß das genossenschaftliche Eigentum in einem engeren Bereich und das staatliche in einem breiteren Bereich die Form sozialistischen Eigentums ist. ' 095 Damit wird das genossenschaftliche Eigentum voll als sozialistisches Eigentum anerkannt. Das genossenschaftliche Eigentum in der DDR unterlag im Vergleich mit dem nichtsozialistischer Genossenschaften natürlich einigen Beschränkungen, die sich schon aus seinem sozialistischen Charakter ergaben. Zunächst wäre hier die Einengung des genossenschaftlichen Eigentums zu nennen. Die Genossenschaften durften nur in solchem Umfang Produktionsmittel erwerben, wie es für die Erfüllung ihrer Pläne erforderlich war. Damit sollte verhindert werden, daß die Genossenschaft zu viel Eigenständigkeil erhielt und sich so staatlicher Kontrolle entziehen konnte. Besonders deutlich war dies zu spüren, wenn die Genossenschaft Investitionen zur Geschäftserweiterung oder Modemisierung durchführen wollte. In solchen Fällen mußten nämlich staatliche Fondsanteile beantragt, das heißt, Anträge auf Zuteilung von Grundmitteln gestellt werden. Die Regierung entschied dann, ob die Genossenschaft die Investition durchführen konnte, oder ob sie die Grundmittel einem anderen Betrieb zukommen ließ. Weiterhin war das Eigentum, wie schon erwähnt, in Fonds gebunden, deren Verwendung im Musterstatut festgeschrieben war. Eine Zweckentfremdung der Fonds war nicht zulässig, die Einhaltung dieser Vorschrift wurde überdies vom übergeordneten staatlichen Organ kontrolliert. So wurde der Handlungsspielraum für die Genossenschaften der DDR gegenüber den westlichen Genossenschaften wesentlich eingeengt. Hierin kommt die Anpassung der genossenschaftlichen Eigentumsform an das sozialistische System zum Ausdruck. Schließlich erfolgte eine Einschränkung des Eigentumsrechts der Genossenschaften durch staatliche Planaufgaben, Planauflagen, Anweisungen, Vorgaben und Normative. Auf diese Weise wurde der Genossenschaft die Entscheidung über die Nutzung ihres Eigentums von staatlicher Seite abgenommen, was ein Wirtschaften der Genossenschaft nach den Vorstellungen der sozialistischen Regierung garantierte. Zusammenfassend sei zu bemerken, daß das genossenschaftliche Eigentum in der DDR gänzlich anders zu verstehen ist, als in nichtsozialistischen Wirtschaftssystemen. Es wurde im planwirtschaftliehen System zu einer Form des sozialistischen Eigentums, das mit staatlicher Kontrolle und Eingriffsmöglichkeiten

95

Cholaj, H ./Siwek, T.: Das genossenschaftliche Eigentum. S. 24.

116

III. Entwicklung der Genossenschaftstheorie des "realen Sozialismus" in der DDR

ausgestattet war und somit der Festigung des sozialistischen Systems diente, was vielfach nur unter Druck staatlicherseits vonstatten ging.

IV. Die Einbindung der Genossenschaften in das planwirtschaftliche System der DDR

Wie im vorangegangenen Kapitel schon anklang, waren die Genossenschaften der DDR fest in das staatliche System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft integriert. Dieses System wurde in der DDR 1963 aufBeschluß des 7. Parteitages der SED eingeführt, was vor allem deshalb geschah, "damit die Volkswirtschaft der DDR in der weltweiten ökonomischen Auseinandersetzung bestehen und das Weltnivau mitbestimmen" konnte96 • Die politische Führung hatte wohl erkannt, daß der wirtschaftliche Erfolg des Landes nur mäßig war und ein "Hinterherhinken" hinter dem westlichen Standard schon begonnen hatte. In diesem neuen System wurde von einer vormals "mengenmäßigen Planung" zu einer "auf den wissenschaftlich-technischen Fortschritt gerichteten Perspektivplanung"97 übergegangen. Von entscheidender Bedeutung war dabei die stabile, kontinuierliche und bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung und der Wirtschaft''98 , die bis zu diesem Zeitpunkt noch zu wünschen ließ. In den Prozeß der Leitung und Planung sollte auch die Bevölkerung einbezogen werden, denn "Leitung, Planung und ökonomische Stimulierung ... müssen ... eine untrennbare Einheit mit der Initiative der Arbeiterklasse, Genossenschaftsbauern und aller anderen Werktätigen bilden"99 , wie E. Honecker auf dem 9. Parteitag der SED verkündete. Die angesprochene Initiative der Werktätigen erstreckte sich jedoch lediglich darauf, die vom Staat auferlegten Pläne zu erfüllen. Eine Mitbestimmung bei der Ausarbeitung der Planvorgaben blieb ihnen verwehrt, womit ein Vorhandensein von Demokratie, das hier veranschaulicht werden sollte, ausgeschlossen werden kann. Es oblag den jeweiligen betrieblichen Leitungsorganen, die Einhaltung der Pläne zu überwachen, wobei diese wiederum vom nächst höheren staatlichen Organ überwacht wurden.

96

Doernberg, S.: Kunc Geschichte der DDR, Berlin 1968, S. 508.

97

Doernberg, S.: Kurze Geschichte der DDR, S. 509.

Politische Ökonomie des Kapitalismus und des Sozialismus, Berlin 1974, S. 473. Bericht des ZK der SED an den 9. Parteitag der SED, Berichterstatter: Erich Honecker, Berlin 1976, S. 84. 98

99

B. Integration der Genossenschaften in das System der DDR

117

Das höchste Organ in dieser Hierarchie war der Ministerrat. In seinem Auftrag war die Staatliche Plankommission "für die gesamtstaatliche Planung der Entwicklung der Volkswirtschaft und die Kontrolle der Durchführung der Pläne verantwortlich. " 100 Die Leitungshierarchie stellte sich bei den DDR-Genossenschaften differenziert dar, da sie nicht entsprechend ihrer Organisationsform, sondern nach Einbeziehung in verschiedene Wirtschaftssektoren und -branchen geführt wurden. Die konkrete Ausgestaltung der Leitungsstruktur und ihrer Organe wird in den Schemen 1 und 2 veranschaulicht (siehe S. 119 u. 120). Der Vorteil der Einteilung der Genossenschaften nach Wirtschaftssektoren war es, daß ein "direkter Zugriff der Zentrale auf die genossenschaftliche Güter- und Dienstleistungserstellung" möglich war, "um so die Verwirklichung einheitlicher Zielvorstellungen im Maßstab der gesamten Volkswirtschaft sicherzustellen."101 Die Genossenschaften arbeiteten nach Betriebsplänen, die zwar "durch den Vorstand in enger Zusammenarbeit mit der Kommission für Planung und Wettbewerb und unter Einbeziehung aller Mitglieder ausgearbeitet"102 wurden, aber "auf der Grundlage der Richtlinie für die Betriebsplanung der PGH als wirksames Leitungs- und Kontrollinstrument zu gestalten"103 waren. Das heißt, daß die Pläne inhaltlich nach den Vorstellungen der übergeordneten Organe zu gestalten waren und die Mitglieder dem lediglich zustimmen durften. Im Musterstatut der PGH hieß es: "Der Betriebsplan muß die Erfüllung der erteilten staatlichen Planauflagen sichem."104 Dabei hatten diese Genossenschaften "entsprechend den Festlegungen der übergeordneten Staatsorgane"105 zu arbeiten. Zu den Instrumentarien dieser Planung gehörten verschiedene Nomenklaturen für Erzeugnisse und Leistungen, Schlüssellisten (z.B. für Warenumsatz und Warenfonds) und weitere Systematiken als verbindliche Richtlinien für die Planung, Bilanzierung und Abrechnung innerhalb der betrieblichen Rechnungsführung 106 • Darüber hinaus gab es standardisierte Kennzahlen für Material- und Geldausdrücke, Relationen und Zeitabläufe. Dazu gehörten auch Normen als "Richtwerte für den zulässigen Aufwand ... je Erzeugniseinheit (Arbeitsnorm, Material ver100

Statut der Staatlichen Plankommission. GBI. der DDR, Teil I, 1973, S. 417.

101

Herzog, H .-1.: Genossenschafllichc Organisationsformen, S. 104.

102

Betriebsordnung der PGH, Punkt 4.2.

103

Betriebsordnung der PGH, Punkt 4 .1.

104

VO über das Musterstatut der PGH. Paragraph 3 (I).

105

VO über das Musterstatut der PGH. Paragraph 4 (I).

106

Vgl. Politische Ökonomie des Kapitalismus und des Sozialismus. Berlin 1974, S. 480/81.

118

III. Entwicklung der Genossenschaftstheorie des "realen Sozialismus" in der DDR

brauchsnorm) ... oder andere einzuhaltende Grenzen (Standards und Gütevorschriften)" 107 • Durch diese verbindlichen Instrumentarien und Kennzahlen wurden eine einheitliche Dimensionierung und Gestaltung der Pläne gesichert, was die staatlichen Organe in die Lage versetzte, die Einhaltung dieser Pläne besser kontrollieren zu können. Allgemein verbindlich für alle Betriebe, Genossenschaften und örtlichen Organe war auch die Arbeit mit der Bilanzmethode, durch die eine strenge Koordinierung aller Planteile gesichert wurde 108 • Dabei erstellte man für die verschiedenen Bereiche der betrieblichen Tätigkeit Bilanzen, z. B. Erzeugnisbilanz, Finanzbilanz, Bilanz der Bevölkerung und Arbeitskräfte 109 • Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, daß im Interesse einer Nutzenoptimierung für die Genossenschaften nicht die gesamte staatliche Nomenklatur verbindlich war, sondern nur ausgewählte, jeweils zutreffende Normen und Kennziffern Anwendung fanden 110• Die Anzahl dieser war bei den verschiedenen Genossenschaftstypen sehr unterschiedlich 111 , was auf die Ausprägung des sozialistischen Charakters der einzelnen Genossenschaften und damit auf die Nähe zur jeweils staatlichen Betriebsform in den verschiedenen Branchen schließen läßt. Es bleibt also festzustellen, daß das genossenschaftliche Prinzip der Selbstverwaltung in der DDR weitgehend außer Kraft gesetzt war, da nach staatlichen Richtlinien und Planvorgaben gearbeitet werden mußte. Auf diese Weise übte der Staat "einen direkten Einfluß auf die genossenschaftliche Tätigkeit und Organisationsstruktur aus" 112, wodurch der Handlungsspielraum der Leitungsorgane massiv eingeschränkt wurde. In einigen Genossenschaften wie ELG und Konsum bediente sich der Staat jedoch der genossenschaftlichen Organe als "Koordinatoren zwischen zentralen und dezentralen Entscheidungen"113 , d. h. sie mußten die vom Staat bereitgestellten Mittel mit den Interessen der Mitglieder in Einklang bringen und sie so auf indirektem Wege staatlichem Willen unterwerfen.

107

Vgl. Politische Ökonomie des Kapitalismus, S. 481.

108

Vgl. Politische Ökonomie des Kapitalismus, S. 481.

109

Vgl. Politische Ökonomie des Kapitalismus, S. 482.

110

Vgl. Herzog, H .-1.: Genossenschaftliche Organisationsformen, S. 109.

111

Vgl. Herzog , H .-1.: Genossenschaftliche Organisationsformen, S. 109.

112

Ehm, M. : Die polnischen Genossenschaften, S. 268.

113

Herzog, H.-1.: Genossenschaftliche Organisationsformen, S. 181.

Rat des Kreises

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Abteilung für LuN -

LPG, GPG, PWF

Rat des Bezirkes

Abteilung für LuN

Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft

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Abteilung für örtliche Versorgungswirtschaft

Abteilung für örtliche Versorgungswirtschaft

Ministerium für bezirksgeleitete und Lebensmittelindustrie

Abb. 1: Die Leitung der DDR-Produktivgenossenschaften

RA Kollegien

I

Ministerium für Justiz

I

Quelle: Herzog, H. -J.: Genossenschaftliche Organisationsformen in der DDR, a.a.O., S. 105

Kreisebene

Bezirksebene

Zentrale Ebene

Ministerrat

I

I

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jHandwerkskamme I des Kreises I ELG _ _

I

Handwerkskammerdes Bezirkes

AWG/GWG

I __ j

Rat des Kreises

Rat des Bezirkes -

Abteilung für Handel und Versorgung

--

Ministerium für Handel und Versorgung

Abb. 2: Die Leitung der DDR-Hilfsgenossenschaften

kassen

Genossenschafts-~

Verband der Genossenschaftskassen

Staatsbank

Quelle: Herzog, H.-J.: Genossenschaftliche Organisationsformen in der DDR, a.a.O., S. 106

Kreisebene

Bezirksebene

Zentrale Ebene

Ministerrat

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Verband der Konsumgenossenscharten

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C. Die Situation der Genossenschaften der DDR zum zeitpunkt der Wende

121

C. Die Situation der Genossenschaften der DDR zum Zeitpunkt der Wende und ihre weitere Entwicklung Die Genossenschaften nahmen in der DDR in der Landwirtschaft, im Handwerk, im Handel, im Bankenbereich und in der Wohnungswirtschaft eine bedeutende Stellung ein, die im Artikel 46 der Verfassung der DDR ihre gesetzliche Grundlage fand. Im Rahmen des gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln kam den Genossenschaften jedoch nur eine untergeordnete Rolle zu, da dem sogenannten gesamtgesellschaftlichen Volkseigentum die Dominanz zugeschrieben wurde. Die Statistik der DDR unterschied zwar gelegentlich zwischen Volkseigentum und genossenschaftlichem Eigentum. Die Leistungen der Wirtschaft wurden jedoch unter der Bezeichnung "Sozialistisches Eigentum" dargestellt. Wenn die Stellung der Genossenschaften beleuchtet werden soll, sind diese in einer gesonderten Position darzustellen. So hatten die Genossenschaften zum Zeitpunkt der Wende noch einen Anteil an der Produktion der Industrie von 3 Prozent und an der landwirtschaftlichen Produktion von 92 Prozent. Die Handwerksleistungen kamen zu 40 Prozent aus dem genossenschaftlichen Bereich, und der genossenschaftliche Einzelhandel hatte einen Marktanteil von etwa 35 Prozent. Die Daten illustrieren, daß Genossenschaften bedeutende Wirtschaftsbereiche repräsentierten. Dieses Bild wird dadurch verdeutlicht, daß zum Zeitpunkt der Wende in der ehemaligen DDR 3.844 LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften) mit 850.000 Mitgliedern, 2.800 PGH (Produktionsgenossenschaften des Handwerks) mit 160.000 Mitgliedern, 199 GPG (Gärtnerische Produktionsgenossenschaften) mit 30.000 Mitgliedern und 198 Konsumgenossenschaften mit 4,6 Millionen Mitgliedern, mehr als 30.000 Verkaufsstellen und 6.000 Gaststätten, sowie eine große Anzahl von Wohnungsbaugenossenschaften, die BHG (Bäuerliche Handelsgenossenschaften), Molkereigenossenschaften, Einkaufsund Liefergenossenschaften und etwa 100 Genossenschaftskassen für Handwerk und Gewerbe existierten. Gegenwärtig vollzieht sich indessen ein Prozeß der Wandlung der Genossenschaften, der auf eine strukturelle Anpassung an marktwirtschaftliche Bedingungen abzielt. Somit ist das Spektrum der Genossenschaften in den neuen Bundesländern breit gefächert. Eine Analyse des gegenwärtigen Bestandes der Genossenschaften führt zu einer Differenzierung in Produktivgenossenschaften einerseits und Genossenschaften im Handel, im Kreditwesen und in der Wohnungswirtschaft andererseits. Unter ihnen ist der hohe Anteil der Produktivgenossenschaften auffallend, die in den Bereichen Landwirtschaft und Handwerk angesiedelt sind und in der DDR auf dem Wege der Zwangskollektivierung unter der falschen Bezeichnung "Produktionsgenossenschaften" entstanden. Als Produktivgenossenschaften werden Unternehmen gekennzeichnet,

122

111. Entwicklung der Genossenschaftstheorie des "realen Sozialismus" in der DDR

in denen nach W. W. Engelhardt "jeder Beschäftigte Teilhaber und jeder Teilhaber beschäftigt ist". 114 Die Produktivgenossenschaften, die keine Mitgliederbetriebe mehr erkennen lassen und deren Mitglieder sowohl Mit-Unternehmer als auch Mitarbeiter sind, könnten nach entsprechender Reform unter dem Aspekt der europäischen Integration ein durchaus bemerkenswerter Unternehmenstyp sein. Diese Genossenschaften sind jedoch zugleich mit Nachteilen behaftet. Diese Nachteile liegen vor allem im Management, da sich bei homogener Mitgliedergruppe Leitungs- und Ausführungsaufgaben nicht verteilen lassen, ohne daß sich auf die Dauer Teilgruppen mit unterschiedlichen Interessen bilden. Oft mangelt es jedoch den gleichberechtigten Mitgliedern an der Einsicht für eine disziplinierte Einordnung, nicht zuletzt auch deshalb, weil es ein wesentliches Charakteristikum der Produktivgenossenschaft ist, hierarchische Herrschaftsstrukturen zu beseitigen. Vielfach ist die nicht ausreichende Kapitalgrundlage der Produktivgenossenschaften eine Ursache für das Ausbleiben eines dauerhaften Erfolges. Es handelt sich bei diesen Faktoren neben anderen um solche, die auch die Entflechtung der bisherigen LPG und PGH komplizierten. Teilweise werden diese negativen Momente auch von Vorteilen aufgewogen. Einer der entscheidenden Vorteile ist, daß ein großer Teil der bisherigen Mitglieder von LPG und PGH die Absicht bekundeten, Mitglied der nunmehr eingetragenen Genossenschaft zu werden. Ein weiterer Vorteil ist, daß z.B. eine Agrargenossenschaft unter der Voraussetzung einer effizienten Leitung, Struktur und Organisation allein aufgrund ihrer Größe einem einzelbäuerlichen Betrieb überlegen ist. Die Produktivgenossenschaften habentrotzihrer Integration in das Genassenschaftsgesetz ( 1 ( 1) des GenG) seit jeher um Anerkennung kämpfen müssen. Ein entscheidender Grund ist darin zu sehen, daß Produktivgenossenschaften in gewissem Maße eine die Unternehmerische Tätigkeit reduzierende Unternehmensform sind. Auf dem Gebiet der neuen Bundesländer kommt für die Produktivgenossenschaften noch ein besonderes Moment hinzu, nämlich die ideologische Belastung. Die Erneuerung der Produktivgenossenschaften wird in Deutschland weiterhin Gegenstand von Diskussionen sein. Dabei sollte man sie weder über- noch unterbewerten oder gar diskreditieren. Vielmehr sollten sie in den neuen Bundesländern Deutschlands als eine Art der Genossenschaften genutzt werden, die

114 Engelhardt, W. W.: Prinzipielle und aktuelle Aspekte der Produktivgenossenschaft, in: Frankenberg, F.,Albert, H. (Hrsg.): Sozialwissenschaft und Gesellschaftsgcstaltung, Berlin 1963, S. 439, zitiert bei: Beckmann. V.: Zur ökonomischen Theorie der Transformation von Produktivgenossenschaften, Zeitschrift für das gesamte Genossenschaftswesen, Göttingen, 1993 (43/3), S. 218.

C. Die Situation der Genossenschaften der DDR zum Zeitpunkt der Wende

123

beim Übergang in die Marktwirtschaft nicht nur als Alternative zu betrachten ist, sondern auch Modell sein kann 115 • Im Zuge der Vereinigung hat sich eine veränderte Realität dadurch eingestellt, daß sich aus den Selbsterhaltungsbemühungen z.B. der früheren Produktionsgenossenschaften des Handwerks eine neue Infrastruktur der Produktivgenossenschaften gebildet hat116 • Überwiegend wird aberder Standpunkt vertreten, "daß die Produktivgenossenschaften die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllt haben bzw. niemals erfüllen werden können". 117 Dennoch ist bewiesen worden, daß sich die ökonomische Theorie der Produktivgenossenschaft in bezugauf Aussagen ihrer möglichen Transformation als leistungsfähig erweist und das Transformationsgesetz Oppenheimers theoretisch stützen und ergänzen kann, wobei zu vermuten ist, daß die Produktivgenossenschaften in vielen Bereichen nicht wettbewerbsfähig sind und eine Umwandlung in eine andere Unternehmensform erfahren 118 • Beim Übergang der Wirtschaft der ehemaligen DDR zur Marktwirtschaft ergab sich die Frage, ob die existierenden Genossenschaften künftig als Genossenschaften weiterbestehen oder eine andere Rechtsform annehmen sollen. Diese Frage war vor allem von den Genossenschaften der Landwirtschaft, des Handwerks und des Handels zu beantworten. Die Lösung des Problems konnte nicht pauschal, sondern nur fallbezogen erfolgen. Innerhalb des Gesellschaftsrechts gibt es zur Genossenschaft etliche Alternativen, von denen jeweils nur einige wenige Rechtsformen praktisch zur Anwendung kommen. Eine besondere Rolle als Alternative zur e.G. spielt in den neuen Bundesländern die GmbH. Sie wird in Bereichen wie im Handwerk bevorzugt wahrgenommen, sicher vor allem deshalb, weil sich die GmbH von den Personalgesellschaften insbesondere durch die Haftungsbeschränkung und von der AG vor allem durch die sehr weitgehende Satzungsautonomie unterscheidet. Außerdem sind die Bedingungen für ihre Gründung nicht übermäßig schwer zu erfüllen, und ihr Management ist im Vergleich zur AG oder auch zur e.G. relativ unkompliziert 119•

115 Steding, R. : Genossenschaftsrecht-Fragen und Antworten, Norddeutscher Hochschulschriftenverlag, Rostock 1992, S. 14. 116 Kruck. W.: Die gewerbliche Produktivgenossenschaft in Deutschland, Zeitschrift für das gesamte Genossenschaftswesen, Göttingen, 1993 (43/3), S. 197. 117 118

Kruck, W.: Die gewerbliche Produktivgcnosscnschaft, S. 198. Beckmann. V.: Zur ökonomischen Theorie, S. 217ff.

119 Steding, R.: Genossenschaftsrecht-Fragen und Antworten, Norddeutscher Hochschulsehriftenverlag, Rostock 1992, S. 19.

124

111. Entwicklung der Genossenschaftstheorie des "realen Sozialismus" in der DDR

Es gibt auch Orientierungen auf die GbR oder die BGB-Gesellschaft, die vor allem in der Familienwirtschaft in der Landwirtschaft angesiedelt sind. Als Personenvereinigung ohne Rechtsfähigkeit zur Förderung eines gemeinsam verfolgten Zwecks ist die GbR unkomplizierter zu gründen, zu betreiben und aufzulösen als die GmbH. Auch ein eigenes Vermögen (Stammkapital) ist nicht erforderlich 120 • Wie sieht nun die konkrete Situation der Genossenschaften in den neuen Bundesländern aus? Was die ehemaligen LPGen betrifft, so nahmen sie 1989, dem 1ahr der Wende, mit 82 Prozent den ersten Platz unter den Großbetrieben ein. Die gleiche dominierende Stellung hatten sie auch bezüglich der Produktionsfaktoren Boden, Arbeit und Kapital sowie der erzeugten Produkte. Nach der Wende stellten sich für die Landwirtschaft und somit für die LPG als Hauptbetreiber Probleme, wie: - Reduzierung der landwirtschaftlichen Nutzfläche, weil einerseits in Ostdeutschland noch Grenzböden bearbeitet wurden, zum anderen kommt auch hier die EG-Maßnahme der Flächenstillegung zur Anwendung - Reduzierung der Arbeitskräfte auf etwa 30 % der bisher in der Landwirtschaft Tätigen - Zusammenlegung von Pflanzen- und Tierproduktion, die bisher bekanntlich spezialisiert waren - Reduzierung der Betriebseinheiten von bisher im Durchschnitt 4.500 ha auf 500- 1.000 ha - Rechtsformfragen 121 • Die Wahl der richtigen Rechtsform ist eine bedeutsame Entscheidung. Für die Umwandlung der LPG in eine andere Rechtsform gab es eine gesetzliche Grundlage, das Landwirtschaftsanpassungsgesetz (LAG). Das novellierte Landwirtschaftsanpassungsgesetz (LAG) sah bestimmte Maßnahmen vor, die das Eigenkapital der zukünftigen Unternehmung deutlich verringern konnten. So mußte bei Formwechsel von LPGen und anderen kooperativen Einrichtungen den Mitgliedern ein Barabfindungsangebot gemacht werden(§ 36 des LAG), bei dessen Annahme ein Abfluß an Eigenmitteln stattfand. Diese rechtlichen Grundlagen führten dazu, daß ein Teil der ehemaligen LPGen, die sich laut Gesetz bis zum 31. 12. 1991 aufzulösen oder umzuwandeln hatten, in den Konkurs ging, 30% sich als GmbH organisierten, etwa 5% die AG oder andere Formen und 50%

120

Steding. R.: Genosscnschaftsrecht, S. 19.

Seuster, H.: Vortrag "Konsequenzen der Umwandlung der früheren LPG", am 12.3.1992 in Tellow. 121

C. Die Situation der Genossenschaften der DDR zum Zeitpunkt der Wende

125

die eingetragene Genossenschaft wählten, die den Charakter einer Produktivgenossenschaft trägt. Somit stellen die Agrargenossenschaften die bedeutendste Gesellschaftsform im Rahmen der Betriebe der Landwirtschaft dar. Sie haben im Durchschnitt eine Größe von 1.000- 1.500 ha und bearbeiten den überwiegenden Teil der landwirtschaftlich genutzten Fläche Ostdeutsch1ands. Die Veränderungen der Rahmenbedingungen durch die Reform der EGAgrarpolitik, die Vollendung des europäischen Binnenmarktes, die Öffnung der Staaten Mittel- und Osteuropas stellen auch die Agrargenossenschaften vor große Herausforderungen. Unter den Bedingungen der weiteren Anpassung und auf Grund ihrer Struktur haben die Agrargenossenschaften gute Chancen, im Wettbewerb erfolgreich zu bestehen. Für die gewerblichen Genossenschaften gibt es ebenfalls eine gesetzliche Grundlage. Nach dieser hatten sich die ehemaligen PGH bis zum 31 .12.1992 umzuwandeln oder aufzulösen. Zu der noch von der letzten DDR-Regierung geschaffenen Rechtsgrundlage ist kritisch zu vermerken, daß sie in weiten Teilen Prinzipien der genossenschaftlichen Organisation widerspricht. Der in der Verordnung fixierte Rechtsanspruch auf Auszahlung sowohl des persönlichen Anteils als auch des den Mitgliedern zustehenden Anteils an den unteilbaren Fonds bei Umwandlung in eine andere Rechtsform stellte viele Genossenschaften vor existentielle Probleme. Der unteilbare Fonds umfaßt im wesentlichen das Anlagevermögen sowie den Reservefonds und bildet mit dem Anteilsfonds das Eigenkapital bzw. Betriebsvermögen des Unternehmens. Der Verkauf von Anlagevermögen zum Zwecke der Auszahlung von Teilen dieses Vermögens an ausscheidende Mitglieder hatte eine Schwächung der ökonomischen Basis der Genossenschaft zur Folge. Erschwerend kommt hinzu, daß das Guthaben innerhalb von 6 Monaten nach dem Ausscheiden auszuzahlen war. Viele der ehemals 2.800 PGH der früheren DDR bestehen nicht mehr als Genossenschaft. Etwa 70 % haben sich in andere Rechtsformen, überwiegend in GmbH, umgewandelt. Die verbleibenden 30 % haben aufgrund ihres Profils, ihrer Struktur und ihres Managements nur bedingte Voraussetzungen auch für eine zukünftige Existenz.

Im Bereich der Konsumgenossenschaften hat sich die Situation in jüngster Zeit teilweise dramatisch verändert. Es setzte ein Ausverkauf an westdeutsche Ketten ein. In der DDR verfügten die 198 Konsumgenossenschaften zuletzt über 36.000 Läden und Gaststätten, über einen Personalstand von 190.000 und einen Umsatz von über 40 Mrd. Mark, was einem Marktanteil von 35 % entsprach. Der Jahresumsatz je m 2 Verkaufsfläche lag bei 17.400 Mark. Diese Leistungen konnten realisiert werden, obwohl das Gros der Läden Verkaufsflächen von weit unter 100 qm aufwies und das Netz territorial sehr zersplittert war.

126

111. Entwicklung der Genossenschaftstheorie des "realen Sozialismus" in der DDR

Mit der Einführung der Marktwirtschaft wirkten schlagartig andere Kriterien. Auf Grund der Konkurrenz westdeutscher Handelsketten und der für Konsumgenossenschaften unzureichenden Regelungen im Einigungsvertrag gab es für sie aus zeitlichen Gründen keine Möglichkeiten einer "sanften" Anpassung. Im Gegenteil: Vom ersten Tag der DM-Einführung erzeugte die bundesdeutsche Konkurrenz mit einer aggressiven Preispolitik und der bewußten Inkaufnahme von Anpassungsverlusten eigener Läden einen wachsenden Druck auf den KONSUM. Zudem expandierte sie ausschließlich in größeren Outlets. Unter diesen Bedingungen ist es ein Erfolg, daß der KONSUM 1991 noch einen Jahresumsatz von durchschnittlich 15 Mrd. DM erbracht hat, was einem Marktanteil von ca. 10% entspricht. Das Ladennetz urnfaßt noch rund 12.000 Läden (= 30 % zu 1989). Zum gleichen Zeitraum wurden noch 56.600 Mitarbeiter beschäftigt (= 27 % zu 1989). Vielfach mußten und müssen weiterhin Läden geschlossen werden, darunter auch solche, die wegen ihrer Größe keine Dekkungsbeiträge erwarten lassen. Andere konnten durch die Aufkündigung von Mietverträgen nicht weiter betrieben werden. Mit neuen Konzepten für FoodNahversorger und für denN onfood-Bereich wird es möglich sein, unter bestimmten Voraussetzungen Läden ab 80 m 2 durchaus verlustfrei zu betreiben. Voraussetzung dafür ist allerdings, daß in Warenbeschaffung und Vertrieb eine Neuprofilierung vonstatten geht, der Fusionierungsprozeß zügig weitergeführt, marktfähige Betriebstypen und-größeneingeführt und die Filialisierung im Netz vorangetrieben werden. Von den noch existierenden 53 Konsumgenossenschaften hat eine Reihe mit sehr ernsten Liquiditätsproblemen zu kämpfen. Einige Genossenschaften sind akut gefährdet. Eines der größten Probleme war bisher, daß die Konsumgenossenschaften den von ihnen genutzten ehemals volkseigenen Grund und Boden nicht käuflich erwerben konnten. Entsprechende Bestimmungen des Bundesministeriums für Finanzen müssen den Weg der Übereignung freimachen. Dadurch werden sich die Möglichkeiten für Kredite verbessern, und der Spielraum der Konsumgenossenschaften zur Umsetzung der Sanierungskonzeption wird sich erweitern. Die Wohnungsgenossenschaften sind in den Aufbau einer unternehmerischen Wohnungswirtschaft unmittelbar integriert. Die Ausgangssituation ist schlecht, z. T. katastrophal: Mehr als die Hälfte der Wohnungen stammt aus der V orkriegszeit. Ihre Bestandspflege wurde vernachlässigt. Auch die über 750 W ohnungsgenossenschaften mit einem Bestand von mehr als 1,2 Mio Wohneinheiten sind hier gefordert. Die Wohnungsgenossenschaften in den neuen Bundesländern verwalten im Durchschnitt 1.600 Wohneinheiten (alte Bundesländer: 900 Wohneinheiten). Während die größte Genossenschaft mehr als 18.000 Wohneinheiten bewirtschaftet, verfügt die kleinste Genossenschaft lediglich über einen Bestand von 8 Wohneinheiten. Die Anzahl der Beschäftigten hat sich seit Mitte 1990, wo noch rd. 11 .000 Mitarbeiter in den Genossenschaften tätig waren, ständig

C. Die Situation der Genossenschaften der DDR zum Zeitpunkt der Wende

127

reduziert und beträgt jetzt nur noch etwa 8.000. Davon ist ca. die Hälfte in den genossenschaftlichen Reparaturabteilungen tätig. Auf derGrundtage des Genossenschaftsgesetzes haben die Genossenschaften ihre Satzungen erneuert. Nachdem dieser Umstrukturierungsprozeß abgeschlossen werden konnte, stellt sich nun heraus, daß die Tätigkeit der Wohnungsgenossenschaften nach wie vor stark behindert ist. Die Gründe dafür sind u. a., daß die Übertragung von Grund und Boden auf die Wohnungsgenossenschaften schleppend vor sich geht, die neu verabschiedeten Satzungen in den Registergerichten nicht bearbeitet werden und die Fragen der Altschulden, die auf den Wohngebäuden lasten, noch nicht geklärt sind. Die Wohnungsgenossenschaften und -gesellschaften bzw. die Kommunen, soweit sie die Wohnungsbestände noch nicht auf die Gesellschaften übertragen haben, sind gegenwärtig mit "Altkrediten" in Höhe von 42 Mrd. DM belastet. Geht man nur allein von der durchschnittlichen Kreditbelastung von DM 15.000,- je Wohneinheit aus, die im Extremfall über DM 80.000,- betragen kann, würden die Zinsen, auf die Miete umgelegt, eine monatliche Mehrbelastung von mehr als DM 2,- je Quadratmeter Wohnfläche zur Folge haben. Hauptproblem ist, die Wohnungsunternehmen in die Lage zu versetzen, kostendeckend zu arbeiten. Die Mieterhöhungen, die ab 1. Oktober 1991 und folgend wirksam wurden, sind ein entscheidender Schritt in diese Richtung. Erfolgreich gestartet sind die Kreditgenossenschaften in den fünf neuen Bundesländern. Die Kreditgenossenschaften hatten im September 1992 bei den Einlagen von Nichtbanken einen Marktanteil von 16,6%, bei den Sichteinlagen und Termingeldem von 19,5% und bei den Spareinlagen von 12,3%. Bei den kurz- und mittelfristigen bzw. langfristigen Krediten machten die Marktanteile 9,1 bzw. 18,7% aus. Die Grundkreditbank hat ihren Marktanteil bei den Krediten innerhalb kürzester Zeit in der Region Brandenburg von Null auf 162,6 Mio DM ausbauen können. Jederdritte ERP-Kredit in den neuen Bundesländern wird über die Kreditgenossenschaften abgewickelt. Aus 98 früheren "Genossenschaftskassen für Handel und Handwerk" wurden mit Hilfe des genossenschaftlichen Bankensektors in der Alt-Bundesrepublik Volksbanken gebildet, aus den früheren "Bäuerlichen Handelsgenossenschaften" entstanden Raiffeisenbanken. Im genossenschaftlichen Kreditgewerbe waren 1992 13.000 Beschäftigte tätig (inklusive der Beschäftigten außerhalb des Bankgewerbes). Im Bereich der Grundkreditbank gibt es, gemessen an der Kürze der Zeit, eine außerordentlich positive Entwicklung der Mitgliederzahl und der Anteile. Erhebliche Erfolge sind auch bei der Vermittlung von Produkten der Verbundunternehmen erzielt worden. Die Genossenschaftsbanken wurden zu einer tragenden Säule des Geschäftsbankensystems der neuen Bundesländer. Die Chancen für die Genossenschaftsbanken, sich in diesem neuen Wettbewerb zu behaupten, sind gut. Die Grundkre-

128

III. Entwicklung der Genossenschaftstheorie des "realen Sozialismus" in der DDR

ditbank ist in dem Berliner Raum sowie in Brandenburg, und die Raiffeisenbanken sind voll in den ländlichen Raum integriert, die Volksbanken arbeiten flächendeckend. Alle genossenschaftlichen Bankorganisationen befinden sich in der Anzahl, in der Bilanzsumme und in der Mitgliederzahl in einer Aufwärtsentwicklung.

Vierter Teil

"Perestroika" und Genossenschaftstheorie ohne Ausweg Seit der Mitte der achtziger Jahre hat sich der wissenschaftliche Diskurs über Stellung und Funktion der sozialistischen Genossenschaften in der ehemaligen Sowjetunion wieder etwas belebt. Wie in Wirtschaft und Gesellschaft ist es auch in Wissenschaft und Forschung zu einem gewissen Um- und Aufbruch gekommen. Inhaltlich hat diese Entwicklung aber nichts Neues an theoretischen Erkenntnissen und praktischen Umsetzungsvorschlägen erbracht. Alle Argumente, Thesen und Modelle, die zur Diskussion standen, waren schon einmal dagewesen und sind in der Literatur ausführlich behandelt worden. Wir können somit auch in diesem Bereich gegenwärtig eine Art Ratlosigkeit und unfruchtbare Auseinandersetzung konstatieren, wie sie für so viele andere Bereiche in Osteuropa heutzutage charakteristisch sind. A. Die Genossenschaftspolitik seit dem Beginn der Perestroika Parallel zur Politik des Glasnost und der Perestroika in Gesellschaft und Wirtschaft ist auch in der ehemaligen Sowjetunion die Genossenschaftsfrage neu gestellt worden. In der zeitlichen Abfolge mit ihrer Auseinandersetzung kann man drei Entwicklungsetappen unterscheiden: Erste Etappe: Vor der Perestroika 1985 hat die sowjetische Führung, verkörpert in der Person Gorbatschows, einen neuen politischen Kurs eingeschlagen. Durch die Erhöhung der Arbeitsdisziplin, den Kampf gegen Faulheit und Nachlässigkeit und durch eine Perfektionierung des Wirtschaftsmechanismus, worunter man eine Kombination von administrativen und ökonomischen Lenkungsmethoden verstand, wollte man die schöpferische Energie der Werktätigen freisetzen und damit eine Beschleunigung der Wirtschaftsentwicklung einleiten 1 • Ziel war es, eine Erhöhung des Wirtschaftswachsturns gleichzeitig mit der Umstrukturierung der Wirtschaft herbeizuführen2 • Die Genossenschaften sollten im Rahmen dieses neuen Kurses 1 2

Materialii XXVII sjezda KPSS, Moskwa 1986. Aganbegjan, A.: Sowjetskaja ekonomika- wsg1jad w budusteje, Moskwa 1988.

9 Todev/Rönnebeck/Brazda

130

IV. "Perestroika" und Genossenschaftstheorie ohne Ausweg

durch Öffnung von Wirtschaftsbereichen, die ihnen bis dahin verschlossen waren, mit dazu beitragen, die stark steigende Konsumgüternachfrage zu befriedigen und die Beziehungen zwischen den Wirtschaftseinheiten im Rahmen des Zentralplans zu optimieren. Sie sollten folgende Funktionen übernehmen: - effizienzsteigernd wirken und mithelfen, Strukturprobleme zu überwinden; - die Knappheit auf dem Konsumgütermarkt durch zusätzliche Warenproduktion vermindern; - für eine bedürfnisorientierte Warenproduktion auf der Basis flexibler Kleinund Mittelbetriebe sorgen; - Wettbewerbsimpulse schaffen; - die Vollbeschäftigung in den saisonalen Bereichen sichern helfen3 ; - Voraussetzungen für Nebenerwerbstätigkeiten schaffen4 ; - für Beschäftigungswirkungen in jenen Regionen sorgen, in denen zentral gesteuerte Investitionen nur sehr ineffizient eingesetzt werden konnten.

Zweite Etappe: Perestroika Sehr bald mußte die neue sowjetische Führung aber erkennen, daß die bestehende Struktur des Gesellschaftssystems diesen begonnenen Prozeß hemmte und damit eine Wirtschaftsreform ohne gleichzeitige Veränderung des politischen Systems, der Gesetzgebung und der Nationalitätenverhältnisse- im Unterschied zu den Reformen in China5 - nicht zielführend sein würde. Diese vier gemeinsam durchzuführenden Reformschritte wurden unter dem Schlagwort "Perestroika" als neues Reformkonzept für die UdSSR propagiert6 • Der Wirtschaftsreform kam dabei die Aufgabe zu, durch eine umfassende Umgestaltung der Wirtschaftsstruktur und eine Perfektionierung des Lenkungsmechanismus die in die Krise geratene Volkswirtschaft zu stabilisieren, ohne sie aber in ihren Grundfesten zu erschüttern. In ihren Grundaussagen zu dieser Reform ließen die Politiker und Theoretiker keinen Zweifel daran, an der "sozialistischen Gesellschaftsordnung" festhalten zu wollen. Der Sozialismus sollte nicht durch ein anderes System

3 Mehr als 20 Wirtschaftsbereiche waren saisonalen Schwankungen ausgesetzt (Vgl. Genossenschaften neuer Art: Erfahrung, Probleme und Entwicklungschancen, Moskau 1988. S. 18).

4 Einige sahen aber auch die Gefahr, daß durch die Erzielung höherer Gewinne in den Genossenschaften ein umfangreicher Abzug an Werktätigen aus den bestehenden Betrieben stanfinden und damit die Erfüllung des zentralplans gefährdet seiil würde.

s Vgl. Todev, T., Brazda,J., Laurinkari,J.: Aufbruch im Osten- mit oder ohne Genossenschaften, Marburg 1992, S. 223ff. 6 Gorbatschow, M.: Perestroika i nowoe mishlenije dlja nasebei strani i dlja wsepo mira, Moskau, Politizdat, 1987; Gorbatschow, M.: Oktjabr i perestroika - revoljuzija prodo1zhaetsja, Moskwa, Politizdat, 1987.

A. Die Genossenschaftspolitik seit dem Beginn der Perestroika

131

ersetzt, sondern durch eine tiefgreifende Reform zu neuem Leben, zu einer sozialistischen Marktwirtschaft erweckt werden. Das politische System mit der unbestrittenen wirtschaftspolitischen Kompetenz und Dominanz der kommunistischen Partei sollte aufrechterhalten bleiben. Die Menschen in dieser Gesellschaft mußten sich jedoch mit einem für sie neuen Phänomen vertraut machen: mit einer "allgemeinen Wirtschaftskrise des sozialistischen Systems". In dieser Periode wurde ein neues Genossenschaftsgesetz verabschiedet, welches die Genossenschaften den staatseigenen Betrieben gleichstellte und damit als gleichberechtigte Wirtschaftsform anerkannte. Im Rahmen der Verabschiedung dieses Gesetzes wurde vermerkt, daß "der Markt die Triebkraft und effektive Entwicklungsform der weiteren gesellschaftlichen Produktion sein soll" und die allseitige Förderung der sozialistischen Konkurrenz "eine der wichtigsten Aufgaben der Wirtschafts- und Sozialpolitik ist"7 • Dieses Gesetz sollte die Voraussetzungen für einen Fortbestand der Genossenschaften in einer Plan-Marktwirtschaft, in der sie ergänzende Wirtschafts- und Beschäftigungsfunktionen übernehmen sollten, schaffen. Die Genossenschaften wurden damit zwar als marktwirtschaftliche Elemente, nicht aber als eine Förderungsform für Privatinitiative und Privatwirtschaft, die es in dieser Periode erst in zaghaften Ansätzen gab, anerkannt. Ihre Hauptfunktion wurde in der Etablierung eines größeren Bereiches mit Ware-Geld-Beziehungen in der Wirtschaft gesehen. 8 Dritte Etappe: Sozialistische Marktwirtschaft Die nächste Wende brachte der 28. Parteitag vom Juli 1990, auf dem das ZK der KPdSU in einer programmatischen Erklärung festhielt, daß "die Ursachen der Krise nicht in einer Abschwächung der Anziehungskraft der Ideen des Sozialismus liegen, sondern in den Deformationen, die das neue Gesellschaftssystem in seiner Anfangsphase über sich hat ergehen lassen müssen", und man propagierte durch eine größere Freigabe der Privatinitiative und der Privatwirtschaft das Konzept einer sozialistischen Marktwirtschaft als Wirtschaftssystems eines humanen und demokratischen Sozialismus, wobei aber der Begriff "Marktwirtschaft'' noch stark mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem identifiziert wurde.

7 Ryschkow, N.: Zur Rolle der Genossenschaft in der Entwicklung der Winschaft und zum Entwurf des Genossenschaftsgesetzes, Moskau, Panizdat, 1988, S. 27.

• Engelhardt spricht von einer Renaissance "freigemeinwinschaftlicher" oder "freigemeinnütziger" Genossenschaften in Form gemeinsamer Selbsthilfe im Sinne eines sich Einsetzens für Gemeinwohlbelange aus eigenen Antrieben (Vgl. Engelhardt W.W. : Zur Interpretation der sowjetischen Kooperative und Kollektive in der Periode der Perestroika, in: Zeitschrift für das gesamte Genossenschaftswesen Göttingen, 1993 (39) S. 258).

132

IV. "Perestroika" und Genossenschaftstheorie ohne Ausweg

Durch die Verabschiedung des Eigentums-, Grund- und Pachtgesetzes wurden zahlreiche Voraussetzungen für die Etablierung eines echten Privateigentums9 unter Bevorzugung der genossenschaftlichen Kooperation durch die Partei- und Staatsführung geschaffen, die aber in der Praxis ganz anders genutzt wurden. Diese Politik einer Förderung der Genossenschaften und das Streben, mit ihrer Hilfe demokratische Wirtschaftsprinzipien einzuführen, waren von einer Einmischung von außen durch staatliche Organe in die Genossenschaften und von permanenten Änderungen ihrer Rahmenbedingungen begleitet. Die Ursache dafürfand man in ihrer Realentwicklung. Diese neu gegründeten Genossenschaften10 erfüllten nicht jene ihnen von der Regierung zugedachten Funktionen, sondern nutzten die bestehenden Engpässe in der Wirtschaft aus, um hier schnelle Gewinne zu erwirtschaften, und trugen damit sogar noch zur Verschärfung der Krise bei. Man hatte nicht bedacht, daß Genossenschaften unter den Rahmenbedingungen ineffektiver Wirtschaftsstrukturen nicht als Instrumente zur Einführung von Marktmechanismen einsetzbar sind. Doch statt die Strukturen mehr in Richtung Markwirtschaft weiterzuentwickeln, sah man eine der Ursachen für die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in der Deformation der genossenschaftlichen Prinzipien durch diese Unternehmen, und damit waren wieder Tür und Tor für eine restriktivere Genossenschaftspolitik geöffnet. Erst durch den mißglückten Putschversuch im August 1991 kam es in der ehemaligen UdSSR zu einer grundlegenden Änderung der politischen Situation. Dieses Ereignis setzte nicht nur der Diskussion über die zukünftige sozialistische Entwicklung des Landes ein Ende, sondern leitete auch den Zerfall eines der größten Imperien der Welt ein. Damit war auch der Weg zur Einführung der Marktwirtschaft vorgezeichnet.

B. Genossenschaftskonzeptionen in der Periode der Perestroika Die Konservativen

Auch während der Periode der Perestroika fand man in der ehemaligen Sowjetunion noch Vertreter einer verwaltungswirtschaftlichen Genossenschaftskonzeption, die zwar das genossenschaftliche Eigentum neben dem

• Osnowi zak:onodatelstwa Sojuza SSSR i sojuznich respublik o zemle, in: Wedomosti sajezda narodnich deputatow SSSR 1 werchownogo sowjeta SSSR, 1990, Nr. 10; Zakon SSSR 0 sobstwennosti w SSSR, in Wedomosti sajezda narodnich deputatow SSSR i werchownogo sowjeta SSSR, 1990, Nr. II. 10

Realiter waren es Privatunternehmungen engagierter Individuen.

B. Genossenschaftskonzeptionen in der Periode der Perestroika

133

Staatseigentum als eine Form sozialistischen Eigentums anerkannten, aufgrund seines niedrigen Vergesellschaftungsgrades, der geringen Entwicklung der Produktivkräfte und des gemeinschaftlichen Charakters der Eigentumsverhältnisse aber nur als eine unterentwickelte Form. Genossenschaften konnten deshalb, ihrer Meinung nach, in der Volkswirtschaft nur Nebenfunktionen und diese auch nur vorübergehend übernehmen. Langfristig sollte es das oberste Ziel sein, den Vergesellschaftungsgrad des genossenschaftlichen Eigentums zu erhöhen und es mit dem Staatseigentum zu einem einheitlichen Volkseigentum zu verschmelzen. Im gegenwärtigen Entwicklungsstand der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse in den landwirtschaftlichen (Kolchosen) und gewerblichen Produktionsgenossenschaften sahen diese Wissenschafter bereits den Status von Staatseigentum gegeben und forderten deshalb deren zwangsweise Umwandlung in Sowchosen sowie in staatliche Dienstleistungsbetriebe. Weiters traten sie für die Wiedereinführung des Zentralplans als volkswirtschaftlichen Koordinationsmechanismus ein, der sich ihrer Meinung nach bei der Industrialisierung des Landes und der Kollektivierung der Landwirtschaft voll bewährt hatte und zur Lösung der anstehenden Probleme nur verbessert werden müsse 11 • Die Ende der achtziger Jahre stark verbreitete Meinung, Lenin hätte in seinem letzten Artikel ein neues Wirtschaftsmodell einer sozialistischen Gesellschaft, und zwar das Modell eines kooperativen Sozialismus im Rahmen einer sozialistischen Marktwirtschaft entwickelt, lehnten sie kategorisch ab 12 und hielten weiterhin am Konzept des Leninschen Genossenschaftsplans fest 13 • Damit war und blieb für sie die Genossenschaft eine Vergesellschaftungsform, die nur in der Übergangsphase vom Kapitalismus zum Sozialismus bestimmte Funktionen erfüllen kann. "Die Genossenschaft ist eine Form der Vergesellschaftlichung und dient der planmäßigen Organisation der Produktion. " 14 Die logische Konsequenz daraus ist ihre Umwandlung in Staatsbetriebe15 •

11

Mineew, W .: "Pianowoe hosjaistwo", 1988, Nr. 5, S. 78.

Tscherkowetz, W.: Probleme der ökonomischen Theorie, in: "Pianowoe hosjaistwo", 1988, Nr. 5, S. 66. 12

13 Der Leninsche Genossenschaftsplan beinhaltet die Schaffung des genossenschafllichen Eigen· tums an den Produktionsmitteln mittels einer Reihe allmählicher Übergangsstufen. 14

Tscherkowetz, W.: Probleme der ökonomischen Theorie, S. 67.

15

Erjomin, A.: Die Entwicklung der sozialistischen Eigentumsverhältnisse, Moskau 1984, S. 18.

134

IV. "Perestroika" und Genossenschaftstheorie ohne Ausweg

Die gemäßigten Konservativen Eine zweite Gruppe sah im Artikel Lenins "Über das Genossenschaftswesen" sogar eine Bestätigung, daß er bis zuletzt am Prinzip, daß das Staatseigentum an Grund und Boden und an den wichtigsten Produktionsmitteln das wichtigste Merkmal der sozialistischen Genossenschaft sei, festgehalten hätte. "Sozialistisch sind nur jene Genossenschaften, in denen die Produktionsmittel vergesellschaftet sind."16 Staatsbetrieb und Genossenschaft sind nur zwei verschiedene Formen des sozialistischen gesellschaftlichen Eigentums17 • Durch das Fehlen von Privateigentum der Mitglieder in einer Genossenschaft ist und darf die sozialistische Genossenschaft keine Förderungsform der Kleinproduktion sein. Am Dogma, daß jede private Kleinproduktion die Gefahreiner Wiedergeburt des Kapitalismus in sich birgt, hielten sie fest. Damit war zwar auch für diese Wissenschafter als Binsenwahrheiten der marxistisch-leninistischen Gesellschaftstheorie die Genossenschaft mittel- und langfristig nur eine vorgegebene Entwicklungsstufe auf dem Weg zum Sozialismus und durch die jeweils vorherrschenden Eigentums- und Produktionsverhältnisse, d.h. im Sozialismus durch gesellschaftliches Eigentum, determiniert18 • Sie sahen aber kurzfristig im Genossenschaftswesen ein strategisches Potential zur Flexibilisierung der Wirtschaftsstruktur durch die Gründung von Kleinbetrieben auf genossenschaftlicher Basis und zur Einbeziehung individueller Ersparnisse der Bevölkerung zur Lösung volkswirtschaftlicher Probleme. Dies war aber in ihren Augen keine Abweichung vom bestehenden Dogma, sondern nur ein aufgezwungener Rückzug angesichts vielfältiger Ineffizienzen der Planwirtschaft in ihrer bis heute entwickelten Form. Auch diese Gruppe befürwortete eine Kollektivierung der Landwirtschaft. Sie hielt damit grundsätzlich an der Überlegenheit der landwirtschaftlichen Großproduktion fest und übte nur an den Methoden ihrer Durchführung Kritik. Einige von ihnen traten für eine sofortige Umwandlung der Genossenschaften in Staatsbetriebe ein, andere für eine umfassende Integration des Genossenschaftsmit dem Staatseigentum und damit, wie die Konservativen, für eine allmähliche Herausbildung gesellschaftlichen Volkseigentums. Einzig anerkannte sozialistische Genossenschaft blieb auch hier die Produktionsgenossenschaft, und die Verdrängung aller anderen Formen mit dem Ende

16

Bordjugow, G.!Koslow, W.: "Wie hätte Lenin es getan?", in: "Prawda" vom 30.09.1988.

Kositschew. A.: Das Leninsche Konzept des Sozialismus - ideologische und theoretische Hintergründe der Perestroika, in: "Wissenschaftlicher Kommunismus", Moskau 1988, Nr. 4, S. 15. 17

18

Kusnetzow, W.: Neue Formen der Kooperation, Moskau 1990, S. 25.

B. Genossenschaftskonzeptionen in der Periode der Perestroika

135

der NÖP wurde als positiver Schritt bewertet. "Wären alle in den 20er Jahren vorhandenen Formen bestehen geblieben, dann hätten sich die niedrigen Formen als großes Hindernis im Prozeß der Industrialisierung erwiesen."19

Die modernen Sozialisten Für eine dritte Gruppe von Vertretern eines modernen Sozialimus galt die These von den reifen und unreifen Eigentumsformen als überholt und wurde durch das Dogma führender und integrierender Funktionen des Staatseigentums ersetzt. Im Modell eines gemischten Wirtschaftssystems zwischen Plan und Markt, in dem die Basis des Plansystems das Staatseigentum bleibt, sahen sie durchaus Platz für Genossenschaften als eigenständige Elemente aufprivatwirtschaftlicher Basis mit marktgestaltenden Funktionen, die zur Verbreiterung der Vielfalt an Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Wirtschaftssubjekten und damit zur Erhöhung der Funktionsfähigkeit eines sozialistischen Marktes beitragen konnten. Für den Einsatz von Genossenschaften sprachen vor allem die gegenwärtig noch immer sehr unterschiedlichen Entwicklungsniveaus der Produktivkräfte in den einzelnen Wirtschaftsbereichen und Regionen20 • Genossenschaften sollten, auf den Bedürfnissen der Regionen und deren Ressourcenpotentialen aufbauend, sowohl zur Lösung von gesamtwirtschaftlichen als auch regionalen Problemen eingesetzt werden21 • Mit dem Festhalten an der führenden Rolle des Staatseigentums bliebe eine direkte Einflußnahme des Staates auf die Tätigkeit der Genossenschaften bestehen. In dieser staatlichen Beschränkung ihrer Wirtschaftstätigkeit wurde aber keine antikooperative Politik gesehen, da sie ja nur zum Schutze der gesellschaftlichen Interessen erfolgen sollte 22 • Diese Auffassung war nicht neu. Der polnische Genossenschaftswissenschafter Jerzy Kleer hatte bereits Mitte der siebziger Jahre die Meinung vertreten, daß das Genossenschaftswesen nicht zur Errichtung "eines neuen Staates im Rahmen des bestehenden Staates" führen dürfe 23 •

Vetreter einer sozialistischen Marktwirtschaft Eine vierte Gruppe interpretierte die letzten Schriften Lenins so, daß er am Ende seines Lebens die Absurdität der praktischen Umsetzung des marxistischen Konzepts einer sozialistischen Gesellschaft auf der Basis "ein Staat-eine Fabrik-

19

Kusnetzow. W.: Neue Fonnen der Kooperation, S. 26.

20

Luschina, N.: Kleinproduktion im Sozialismus, Moskau 1988, S. 73.

21

Luschina, N.: Kleinproduktion im Sozialismus, S. 97.

22

Diese Interessen haben als ökonomische Basis das Staatseigentum.

23

Mjagkow S.: in: "Planowoe hosjaistwo", 1988, Nr.5, S. 72.

136

IV. "Perestroika" und Genossenschaftstheorie ohne Ausweg

ein Plan" erkannt und bereits an einem alternativen Konzept gearbeitet und es in Skizzen vorgelegt hätte. Für eine rasche Lösung der Anfang der zwanziger Jahren anstehenden Probleme der sowjetischen Wirtschaft habe er auf Basis genossenschaftlicher Prinzipien das Modell einer sozialistischen Marktwirtschaft entwickelt, in dem er primär von der Genossenschaft als einer Organisationsform mit marktwirtschaftliehen Handlungsprinzipien und erst sekundär von einer Form zur Einbeziehung der Privatwirtschaft in den sozialistischen Aufbau gesprochen hätte24 • Nach Ansicht dieser Wissenschafter wollte Lenin mit den Genossenschaften eine allmähliche Umwandlung der bestehenden Eigentumsstruktur einleiten. Grundvoraussetzung für eine Entwicklung der Genossenschaften wäre für ihn die bedingungslose und umfassende Zulassung von Privateigentum gewesen, und er wäre dafür eingetreten, Genossenschaften nicht nur auf Basis bestehenden individuellen Eigentums der Bevölkerung zu etablieren, sondern auch durch Umgestaltung der vom Staat bereits enteigneten Genossenschaften sowie durch den Verkauf von Staatsbetrieben an die Genossenschaften. Für eine Wiedergeburt des Genossenschaftswesens in einer sozialistischen Marktwirtschaft forderte deshalb diese Gruppe die unbegrenzte Zulassung der Privatwirtschaft und die Einführung von Märkten, um so mittelfristig den Werktätigen den sozialen Status als Miteigentümer am gesellschaftlichen Eigentum zu übertragen. Eine derartige unmittelbare Verbindung von Eigentums- und Arbeitseinsatz würde ihrer Meinung nach nicht nur neue Anreiz- und Motivationsmechanismen für die Werktätigen schaffen, sondern auch den Stellenwert ihres sozialen und wirtschaftlichen Handelns erhöhen. Die Organisationstheoretiker

Einige Theoretiker versuchten, durch die Trennung von Kooperation als reine Arbeitsorganisationsform und als eine spezifische Eigentums- und Wirtschaftsform zwischen einem "positiven Aspekt" der Genossenschaft, ihrer demokratische Organisations- und Lenkungsstruktur und einem "negativen Aspekt", ihrer privaten Eigentumsstruktur, zu unterscheiden und traten dafür ein, nur ersteres für den staatlichen Sektor fruchtbar zu machen. Sie sahen den wesentlichen Unterschied zwischen einem Staatsbetrieb und einer Genossenschaft in deren unterschiedlichen Organisationsstrukturen. Eine Genossenschaft sei demokratisch "von unten nach oben", ein Staatsbetrieb autokratisch "von oben nach unten" aufgebaut25. Durch den Einsatz des rein positiven Aspekts der Genossen-

24

Busdalow, /.:Die Wiedergeburt des Genossenschaftswesens, Moskau 1988, S. 6 ff.

2'

Zipko, A.: Die Konsumgenossenschaft: Umgestaltung und Beschleunigung, Moskau 1988, S. 6.

B. Genossenschaftskonzeptionen in der Periode der Perestroika

137

schaftsollte es nach ihren Vorstellungen möglich sein, das sozialistische Wirtschaftssystem zu demokratisieren. Die Radikalen

Für eine letzte Gruppe war die Genossenschaftsform überhaupt überholt, und sie forderten entweder die sofortige Auflösung der traditionellen und offizialisierten Genossenschaften oder ihre Umwandlung in Kapitalgesellschaften. Diese Wissenschafter gingen aber in ihren Aussagen viel zu engstirnig von den bestehenden deformierten Genossenschaften aus und sahen nicht das Potential einer Genossenschaft in ihrer spezifischen Form zur Förderung der Privatwirtschaft.

Resümee

- Es gibt keine einheitliche und in sich konsistente "marxistisch-leninistische Genossenschaftstheorie". Man kann nur von verallgemeinerten, von der Wirtschaftspolitik und -praxis abgeleiteten Vorstellungen von der Entwicklung des Genossenschaftswesens im Rahmen der Etablierung eines autoritären Staatssozialismus in derehemaligen Sowjetunion, Mittel- und Osteuropa sprechen, die ihren Ausgangspunkt in der Sowjetunion und von hier in der Folge in allen anderen Ländern Eingang fanden. - Die Aussagen von Marx über die Genossenschaften sind zwiespältig. Einerseits sind sie für ihn ein Demonstrationsmodell einer zukünftigen sozialistischen Gesellschaft, in dem bereits der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit überwunden sei, andererseits sieht er in ihnen ein Hemmnis für notwendige revolutionäre Veränderungen, die die Situation des Proletariats verbessern würden. Grundsätzlich kann man sagen, daß seine unbedingte Forderung nach einer Integration der separierten Wirtschaftseinheiten in ein gesellschaftliches Ganzes auf der Grundlage des gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln und damit nach einer nationalen Assoziation mit den Genossenschaften als primärer Assoziation, in der das individuelle Interesse im Vordergrund steht, unvereinbar ist. Für Engels sind die Genossenschaften aber unter der Voraussetzung, daß der Staat das Eigentum an den Produktionsmitteln behält, für den Übergang in die volle kommunistische Wirtschaft ein durchaus taugliches Instrument. Er sah vor allem für die Bauern in den Genossenschaften die ideale Organisationsform, um ihnen zunächst noch eine ihrer Verhaltensweise entsprechende Wirtschaftsweise zu ermöglichen und sie erst im Laufe der Zeit in die neuen industriellen gesamtwirtschaftlichen Produktionsverhältnisse einzugliedern. - Ausgehend von der Theorie der imperialistischen Kette, mit der Lenin eine Revolution in Rußland, ihrem schwächsten Glied, einem rückständigen Agrarland, zu rechtfertigen versuchte, sprach er von der Notwendigkeit einer Übergangsphase von der kapitalistischen zur kommunistischen Gesellschaft als einer Periode des scharfen Klassenkampfes, in der die Beseitigung des Privateigentums und damit die Etablierung gesellschaftlichen Eigentums und die

Resümee

139

planmäßige Entwicklung eines Wirtschaftssystems im Vordergrund stehen sollten. Vor der sogenannten "Oktoberrevolution" war für Lenin in dieser Konzeption kein Platz für landwirtschaftliche Genossenschaften. Sie waren für ihn nur Förderungsformen kleinbürgerlich-kapitalistischer Verhältnisse, die zur Etablierung des Kapitalismus auf dem Lande beitrugen. Anders war seine Haltung gegenüber den Konsumgenossenschaften, die er als Kampforganisation der Arbeiter einsetzen wollte, als Stätte sozialdemokratischer Propaganda und zur Verbreitung der Ideen des Klassenkampfes. Er bestand deshalb auf ihrerunmittelbaren politischen Ausrichtung. Nach der "Oktoberrevolution" hat Lenin in der Einsicht, daß eine sofortige Verstaatlichung aller Produktionsmittel nicht machbar war, den Plan, alle Genossenschaften zu Konsumkommunen zu verschmelzen, beharrlich verfolgt. Durch diese gesellschaftliche und wirtschaftliche Vereinigung der gesamten Bevölkerung in eine letztlich große Genossenschaft, die den Übergang von der "bürgerlich-genossenschaftlichen" zur "proletarisch-kommunistischen" Versorgung und Verteilung einleiten sollte, dachte er, ein notwendiges Glied in einer Kette von wirtschaftspolitischen Maßnahmen zur Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft realisieren zu köMen. Zahlreiche Aufstände gegen diese administrativen Zwangsmaßnahmen und eine immer bedrohlicher werdende Versorgungslage veranlaßten Lenin, mit der "Neuen Ökonomischen Politik" (NÖP) sowohl wieder freie Individualwirtschaften in der Landwirtschaft und alle Arten der landwirtschaftlichen Genossenschaften als auch mitgliederorientierte Konsumgenossenschaften zuzulassen, nun mit der Parole, auf dem Wege der langsamen Vergenossenschaftlichung einen Kollektivismus zu etablieren. Für die Konsumgenossenschaften kam dieser Schritt aber schon zu spät. Sie waren bereits zu einem schwerfälligen technokratischen Apparat ausgeartet, der mit seinen neuen Freiheiten nicht mehr zurecht kam. Es war dalUl auch für Stalin leicht sie 1935 mit dem Argument, die Versorgungsaufgabe nicht erfüllen zu können, im städtischen Bereich zu verstaatlichen. Die landwirtschaftlichen Genossenschaften waren für Lenin in dieser Phase eine einfache Form des Kollektivismus, die neben den Produktivgenossenschaften als vertikaler Organisation der Landwirtschaft die bäuerlichen Wirtschaften horizontal erfaßte und in einer Übergangsphase zum Sozialismus einsetzbar war. Alle Eingriffe von Lenin in das Genossenschaftswesen waren somit primär taktische Schritte und dienten dem Aufbau eines Sozialismus in Rußland. Ob er in seinem letzten Artikel "Über die Genossenschaften" ein Konzept für ein neues Wirtschaftsmodell einer sozialistischen Gesellschaft - einen kooperati-

140

Resümee

ven Sozialismus im Rahmen einer sozialistischen Marktwirtschaft- entwickelt hat, ist bis heute umstritten geblieben. - Stalin forcierte in seiner Politik unter der totalen Vormachtstellung der Partei und seiner Person den Aufbau eines "Sozialismus in einem Lande" mittels einer Industrialisierung und Kollektivierung der Wirtschaft. Unter der Prämisse eines noch geringen Entwicklungsgrades Rußlands war für ihn die Landwirtschaft ein Instrument, mit deren Überschüssen erst die Grundlage für eine weitergehende Arbeitsteilung geschaffen werden mußte. Somit diente die (Zwangs)kollektivierung der Landwirtschaft unter Stalin nicht primär der Produktionssteigerung, sondern der problemlosen Abschöpfung der landwirtschaftlichen Überschüsse durch den Staat. Weiters sollte mit der Zerschlagung des Bauernstandes und einer Konzentration der landwirtschaftlichen Erzeugung in Großbetrieben das gesellschaftliche Bewußtsein der Landbevölkerung so rasch wie möglich verändert und eine weitgehende Angleichung der Arbeitsund Lebensverhältnisse der Städte mit jenen auf dem Lande erreicht werden. Damit wurde die Marxsche Theorie unter den Einfluß Stalins zu einem autoritären Machtinstrument - Die im Rahmen der Perestroika neu ausgelöste Diskussion über Stellung und Funktion einer sozialistischen Genossenschaft in der ehemaligen Sowjetunion wareine Wiederholung althergebrachter Argumente, Thesen und Dogmen und brachte keine neuen theoretischen Erkenntnissen und praktischen Handlungsanweisungen.

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LiteratuiVerzeichnis

- Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution, in: Lenin Werke, Bd. 24, Berlin 1972, S. 3ff - Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll, in: Lenin Werke, Bd. 25, Berlin 1972, S. 327ff - Werden die Bolschewiken die Staatsmacht behaupten?, in: Lenin Werke, Bd. 26, Berlin 1961, S. 69ff - Entwurf von Bestimmungen über die Arbeiterkontrolle, in: Lenin Werke, Berlin 1961, Bd. 26, S. 267ff - Entwurf eines Dekrets über die Konsumkommunen, in: Lenin Werke, Bd. 26, Berlin 1961, s. 415ff - Usprünglicher Entwurf des Artikels "Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht", in: Lenin Werke, Bd. 27, Berlin I 960, S. I 92ff -Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht, in: Lenin Werke, Bd. 27, Berlin 1960, S. 225ff - Schlußwort zum Referat über die Stellung des Proletariats zur kleinbürgerlichen Demokratie", in: Lenin Werke, Bd. 28, Berlin 1959, S. 2I5ff -Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky, in: Lenin Werke, Bd. 28, Berlin 1959, S. 225ff - Über Maßnahmen für den Übergang von der bürgerlich-genossenschaftlichen zur proletarisch-kommunistischen Versorgung und Verteilung, in: Lenin Werke, Bd. 28, Berlin 1959, S. 456ff - Referat über die Ersetzung der Ablieferungspflicht durch die Naturalsteuer, X. Parteitagder KPR (B), 8.-16. März 1921, in: Lenin Werke, Bd.32, Berlin 1961, S. 216ff - Plan der Broschüre "Über die Naturalsteuer", in: Lenin Werke, Berlin I 970, Bd. 32, S. 33lff - Über die Naturalsteuer (Die Bedeutung der neuen Politik und ihre Bedingungen), in: Lenin Werke, Bd. 32, Berlin I961, S. 341ff - Entwurf einer Resolution zu den Fragen der Neuen Ökonomischen Politik, X. Gesamtrussische Konferenz der KPR (B), 26.-28. Mai 1921, in: Lenin Werke, Bd. 32, Berlin 1961, s. 454ff - Über das Genossenschaftswesen, in: Lenin Werke, Bd. 33, Berlin 1971, S. 453ff -Über unsere Revolution, in: Lenin Werke, Bd. 33, Berlin I971 , S. 462ff - Lieber weniger, aber besser, in: Lenin Werke, Bd. 33, S. 474ff Lieser, 1.: Genossenschaft und Wirtschaftsordnung - Ein Systemvergleich zwischen

Genossenschaftsgesetz und LPG-Recht, Tübingen 1969 Luschina, N.: Kleinproduktion im Sozialismus, Moskau 1988 Marx, K.: Brief an Vera Zasulic, in: Politische Schriften, 2. Bd., Hrsg. H.J. Lieber,

Stuttgart I 960

LiteratuJVerLeichnis

145

- Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, Berlin 1953 - Zur Kritik der Politischen Ökonomie, in: Marx/Engels Werke, Bd. 13, Berlin 1972, S. 59ff - Inaugualradresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation, in: Marx/Engels Werke, Bd. 16, Berlin 1964, S. 5ff - Der Bürgerkrieg in Frankreich, in: Marx/Engels Werke, Bd. 17, Berlin 1962, S. 312ff -Über die Nationalisation des Grund und Bodens, in: Marx/Engels Werke, Bd. 18, Berlin 1964, S. 62ff -Kritik des Gothaer Programms, in: Marx/Engels Werke, Bd. 19, Berlin 1972, S. 11ff - Das Kapital, Kritik der politischen Ökonomie. Bd.l, in: Marx/Engels Werke, Bd. 23, Berlin 1962 - Das Kapital, Bd. III, in Marx/Engels Werke, Bd. 25, Berlin 1964 -Brief an Ludwig Kugelman vom 11.7.1868, in: Marx/Engels Werke, Bd. 32, Berlin 1984, s. 552ff -Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: Marx/Engels Werke, Ergänzungsband I. Teil, Berlin 1968, S. 465ff Marx, K./Engels, F.: Manifestder Kommunistischen Partei, in: Marx/Engels Werke, Bd. 4, Berlin 1972, S. 459ff

- Instruktion für die Delegierten des Provisorischen Zentralrates zu den einzelnen Fragen, in: Marx/Engels Werke, Bd. 16, Berlin 1964, S. 190ff Materialii XXVII sjezda KPSS, Moskwa 1986 Meschtscherjakow: Charakter i sadatschi kooperazii v raslitschnie peridi russkoi revoluzii, in: "Kommunism i kooperazija", Moskwa 1922, S. 30ff

- Kooperazija, sozialism i diktatura proletariata, in: zhulnal "Mir rabotschego", Moskwa 1919, Nr.1 Miljutin: Sozialism i selskoe chosjaistvo, in: "Russkaja Korrespondenzija", Moskwa 1920. Nr. 14/16, S. 869ff

- Russkaja korrespondenzija, Moskwa 1921, Nr. 14/16, S. 870 Mineew, W.: "Pianowoe hosjaistwo", Moskwa 1988, Nr.5, S. 78ff Mjagkow S.: in: "Planowoe hosjaistwo'', Moskwa 1988, Nr.5, S. 72ff

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10

Politische Ökonomie des Kapitalismus und des Sozialismus, Berlin 1974 Programm und Statuten der Russischen kommunistischen Partei (Bolschewiki), Moskwa 1919 Resenija partii i pravitelstva, tom 1, 1917-1928 godi. Moskwa 1967 10 Todev/RönnebeclcJBrazda

146

Literaturverzeichnis

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-Aus dem Referat "Der politische Bericht des Zentralkomitees" auf dem 13. Kongreß der KPR (B), in: Die Genossenschaft im Klassenkampf, Informations-Bulletin der Kooperativsektion der Kommunistischen Internationale, Deutsche Ausgabe, Moskau 1924, Fünftes Heft, S. 89ff Sozialistische Betriebswinschaft für Ökonomen, Berlin 1979 Stalin, 1.: über "Dymowka". Rede am 26. Januar 1925, in: Stalins Werke, Berlin 19521955, Bd. 7, S. 19ff

- An der Getteidefront, in: Stalins Werke, Bd.ll, Berlin 1952-1955, S. 72ff - Überdie Industrialisierung und das Getreideprob lern, in: Stalins Werke, Bd.11, Berlin 1952-1955, s. 218ff - Zu den Fragen der Agrarpolitik in der UdSSR, Rede auf der Konferenz marxistischer Agrarwissenschafter am 27. Dezember 1929, in: Stalins Werke, Band 12, Berlin 1952.1955, s. 334ff Steding, R.: Genossenschaftsrecht-Fragen und Antworten, Norddeutscher Hochschu1schriftenverlag, Rostock 1992 Strumilin, S.G.: Perspektivnaja orientirovka Gosplana, in: "Pianovoe Chosjaistvo", Nr. 5/1926, S. 30ff

The Co-operative Movement in Sovjet Russia, International Labour Office, Geneva 1925 Tichomirow: Na novich dorogach, in: "Potrebsojus", Nr. 9/1923, S. 7ff Todev, T.: Genossenschaften zwischen Plan und Markt, Vortragsskriptum im Rahmen des Sommerhochschulkurses des Instituts für Betriebswirtschaftslehre der Universität Wien, Wien 1991 Todev, T./Brazda, J./Laurinkari, J.: Aufbruch im Osten- mit oder ohne Genossenschaften, Marburg 1992 Trotzki, L.: Die Lehre des Oktobers, in: Um den Oktober, Harnburg 1925 Tschajanow, A.: Die Lehre von der bäuerlichen Wirtschaft. Versuch einer Theorie der Familienwinschaft im Landbau. Berlin 1923 (Nachdruck New York 1987) Tscherkowetz, W.: Probleme der ökonomischen Theorie, in: "Planowoe hosjaistwo", Nr.5/1988, S. 66ff

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Tschernov, V.!Tschernova, T.: Kooperazija i problemi perestroiki, In: Perestroika dejatelnosti i uskorenie nautschno-techitscheskogo progressa v potrebitelskoi kooperazii na osnove zakona SSSR, in: "0 kooperazii v SSSR", Tschast 5, Moskwa 1989 Tschernow, W.: Programmnie woprosi. I. Sozialisazija zemli i kooperazija w selskom chosjaistwe, in: "Revolutionnaja Rossija", Nr. 14/1914, S. 5ff Worotzow, V.: Sudbi kapitalisma w Possii, Sankt Petersburg 1982 Zakon SSSR 0 sobstwennosti w SSSR, in: "Wedomosti sajezda narodnich deputatow SSSR i werchownogo sowjeta SSSR", Nr. 1111990

Zasulic, V.: Brief an Marx, in: Marx, K.: Politische Schriften, 2. Bd., Hrsg. H.J. Lieber, Stuttgart 1960, S. 1135 Zipko, A.: Die Konsumgenossenschaft: Umgestaltung und Beschleunigung, Moskau 1988

Anhang Die im Anhang zitierten Originaltexte basieren auf den vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED in Berlin 1964 ff. herausgegebenen Werken von Karl Marx und Friedrich Engels, auf der ersten, vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED 1959 ff. ins Deutsche übertragenen Gesamtausgabe der Werke W. I. Lenin und auf den vom Marx-Engels-LeninStalin-Institut beim ZK der SED ab 1952 herausgegebenen Werke Stalins. Soweit es sich um Auszüge aus einem Text handelt, wurde dies durch Punkte kenntlich gemacht. Die Quellenangaben am Anfang der Originaltexte enthalten Hinweise auf den Titel und die genaue Seitenangabe sowohl des gesamten Textes als auch des Textauszugs in den oben angegebenen Gesamtwerken. Die dort wiedergegebenen Textvarianten, Fußnoten und kursiven Stellen wurden der Einfachheit halber nicht übernommen. Die inhaltliche Gliederung der Texte folgt eigenen Überlegungen und orientiert sich am Aufbau der Untersuchung. Damit soll dem Leser das Quellenstudium zu einzelnen Kapiteln der Arbeit erleichtert werden.

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Anhang

Marx/Engels-Texte A. Der kritisch-utopistische Sozialismus und Kommunismus................................................

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Zitat aus: Marx, K., Engels, F.: Manifest der Kommunistischen Partei, S. 489-492, in: Marx/Engels Werke, Bd. 4, Berlin 1970, S. 459ff. B. Die Kooperativbewegung ................................................................................................

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Zitat aus: Marx, K.: Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation, S. 11-12, in: Marx/Engels Werke, Bd. 16, Berlin 1964, S. 5ff. C. Kooperativarbeit ..............................................................................................................

155

Zitat aus: Marx, K., Engels, F.: Instruktion für die Delegienen des Provisorischen Zentralrates zu den einzelnen Fragen, S. 195-198, in: Marx/Engels Werke, Bd. 16, Berlin 1964, S. 190ff. D. Boden und nationales Eigentum ......................................................................................

157

Zitat aus: Marx, K.: Über die Nationalisierung des Grund und Bodens, S. 62, in: Marx/Engels Werke, Bd. 18, Berlin 1964, S. 59ff. E. Produktivgenossenschaften und Staatshilfe ...... .... .... ... ... ....... .. ...... ... ....... ... ... ............ .......

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Zitat aus: Marx, K.: Kritik des Gothaer Programms, S. 26-27, in: Marx/Engels Werke, Bd. 19, Berlin 1972, S. 1Iff. F. Markgenossenschaft ...................... ..................................................................................

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Engels, F .: Die Mark,in: Marx/Engels Werke, Bd. 19, Berlin 1972, S. 315ff.

G. Stellung der Bauernschaft ................................................................................................

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Zitat aus: Engels, F.: Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland, S. 498-505, in: Marx/Engels Werke, Bd. 22, Berlin 1963, S. 483ff. H. Produktivgenossenschaft auf Domänen............................................................................

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Zitat aus: Engels, F.: Engels an August Bebe! in Berlin, S. 425-426, in: Marx/Engels Werke, Bd. 36, Berlin 1967, S. 424ff. I. Kooperativfabriken ..........................................................................................................

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Zitat aus: Marx, K.: Das Kapital, Bd.III, S. 456, in: Marx/Enge1s Werke, Bd. 23, Berlin 1964.

Lenin-Texte A. Die Bauernschaft .... .. .... ..... ... ...... ... ... .. .... ... ... .... ..... ... ..... .. ... ........ ... .. ....... .... ... .... ...............

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Zitat aus: Lenin, W.: Von der Vo1kstümlerrichtung zum Marxismus, S: 72-74, in: Lenin Werke, Bd. 8, Berlin 1958, S. 70ff. B. Konsumgenossenschaften als Stückehen Sozialismus ......................................................

172

Zitat aus: Lenin, W .: Das letzte Won der "iskristischen" Taktik odereine Wahlkomödie als neuer Impuls, der zum Aufstand anregt, S. 369-370, in: Lenin Werke, Bd. 9, Berlin 1957, S. 354ff. C. Konsumvereine als Instrumente sozialdemokratischer Propaganda .... ....... ... ..... .... ...... .....

172

Zitat aus: Lenin, W .: Intelligenzlerische Kämpen gegen die Herrschaft der Intelligenz, S. 313-314, in: Lenin Werke, Bd. 12, Berlin 1959, S. 31 Iff. D. Resolutionsentwurf der russischen sozialdemokratischen Delegation ....... .................. ... .. Lenin, W.: Resolutionsentwurf der russischen sozialdemokratischen Delegation auf dem Kopenhagener Kongreß über die Genossenschaften. in: Lenin Werke, Bd. 16, Berlin 1971 , S. 267-268

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Mani/Engels-Texte E. Die Frage der Genossenschaften .. ....................................................................................

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Lenin, W.: Die Frage der Genossenschaften auf dem Internationalen Sozialistenkongreß in Kopenhagcn, in: Lenin Werke, Bd. 16, Berlin 1971, S. 278-287 F. Entwurf eines Dekrets über die Konsumkommunen .. ... ... ... ....... ....... ..... ... .... ... ... ....... ...... Lenin, W.: Entwurf eines Dekrets über die Konsumkornmunen, in: Lenin Werke, Bd. 26, Berlin 1961, S. 415-416 G. Konsumgenossenschaften - ein akzeptabler Versorgungsapparat .................................... Zitat aus: Lenin, W.: Schlußwort zum Referat über die Stellung des Proletariats zur kleinbürgerlichen Demokratie, S. 220-223, in: Lenin Werke, Berlin 1959, Bd. 28, S. 215ff. H. Konsumgenossenschaft als Massenorganisation ... ........ ..... ............... ...... ..... ..... .... ... ........ Zitat aus: Lenin, W.: Ursprünglicher Entwurf des Artikels" Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht", S. 204-207, in: Lenin Werke, Bd. 27, Berlin 1960, S. 192ff. I. Konsumgenossenschaften - Instrumente zur Rechnungsführung und Kontrolle ..............

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Zitat aus: Lenin, W.: Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht, S. 245-247, in: Lenin Werke, Bd. 27, Berlin 1960, S. 225ff. J. Genossenschaften - einsetzbarer funktionierender Wirtschaftsapparat ............................ Zitat aus: Lenin, W.: Rede in einer Versammlung der Bevollmächtigten der Moskauer Zentralen Arbeiterkonsumgenossenschaft, S. 191-192, in: Lenin Werke, Bd. 28, Berlin 1959, S. 19Iff.

183

K. Verständigung mit den Genossenschaften........................................................................

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Lenin, W.: Rede auf dem III. Kongreß der Arbeitergenossenschaften, in: Lenin Werke, Bd. 28, Berlin 1959, S. 331-340 L. Über die Aufgaben der Gewerkschaften ..........................................................................

189

Zitat aus: Lenin, W.: Rede auf dem I. Gesamtrussischen Kongreß der Landabteilungen der Komitees der Dorfarmut und der Kommunen, II. Dezember 1918, S. 390-393, in: Lenin Werke, Bd. 28, Bcrlin 1959, S. 390ff. M. Einheitliche Konsumkommune ........................................................................................ Zitat aus: Lenin, W.: VIII. Parteitag derKPR(B), S. 162-164, in: Lenin Werke, Bd. 29, Berlin 1971. S. 125ff. N. Genossenschaften als Baumaterial für den Aufbau des Kommunismus ..........................

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Lenin, W.: Ein kleines Bild zur Klärung großer Fragen, in: Lenin Werke, Bd. 29, Berlin 1959, S. 394-398 0. Über Maßnahmen für den Übergang von der bürgerlich-genossenschaftlichen zur proletarisch-kommunistischen Versorgung und Verteilung ............................................ Lenin, W.: Über Maßnahmen für den Übergang von der bürgerlich-genossenschaftlichen zur proletarisch-kommunistischen Versorgung und Verteilung, in: Lenin Werke, Bd. 29, Berlin 1959, S. 456-457

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P. Lösung der Ernährungsfrage ............................................................................................ Zitat aus: Lenin, W.: Rede über die Ernährungslage und die militärische Lage, gehalten auf der Moskauer Konferenz der Betriebskomitees, der Gewerkschaften und der Bevollmächtigten der Moskauer zentralen Arbeiterkonsumgenossenschaft, 30. Juli 1919, S. 512-515, in: Lenin Werke, Bd. 29, Berlin 1959, S. 512ff. Q. Übergang der Genossenschaften .. ..... ................ ............ ... ...... ........... ........ ... ....... .. ....... .... Zitat aus: Lenin, W.: Bericht über die Arbeit des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomiteesund der ersten Tagung des gesamtrussischen ZEK der VII. Wahlperiode vom 2. Februar 1920, S. 319-321, in: Lenin Werke, Bd. 30, Berlin 1961, S. 305ff.

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Anhang

R. Rede zur Genossenschaftsfrage .. ... .. . .. . .... ........ .. . . . .. . .. . . .. . . .. . . .. . .. . . .. ... . .. . .. . ...... .. . ... . . . . .. .... ....

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Zitat aus: Lenin, W.: IX. Parteitag der KPR(B) 29. März-5. April 1920, Rede zur Genossenschaftsfrage, S. 472-476, in: Lenin Werke, Bd. 30, Berlin 1961, S. 429ff. S. Lösung des Ernährungsproblems . . . . .. . .. .. . .. . .. . . .. . ... . . .. . .. . . .. . . . .. ... . .. . .. .. .. . .. . .. . ..... .. . . .. . . . . .. . .. . .. . .

199

Lenin, W.: Fernspruch an das Präsidium der gesamtrussischen Konferenz für Emährungswesen, I. Juli 1920, in: Lenin Werke, Bd. 31, Berlin 1970, S. 169-170 T. Ersetzung der Ablieferungspflicht durch die Naturalsteuer ..............................................

200

Lenin, W.: X. ParteitagderKPR(B) 8.- 16. März 1921, Referatüberdie Ersetzungder Ablieferungspflicht durch die Naturalsteuer, S. 223-225, in: Lenin Werke, Bd. 32, Berlin 1970, S. 163ff. U. Über das Genossenschaftswesen ......................................................................................

201

Lenin, W.: Über das Genossenschaftswesen, in: Lenin Werke, Bd. 33, Berlin 1971 , S. 453-461.

Resolution des XIII. Parteitages der RKP. (1924) über das Genossenschaftswesen 206 Zitat aus: Die Genossenschaft im Klassenkampf, Infonnations-Bulletin der Kooperativsektion der Kommunistischen Internationale, Fünftes Heft, Moskau 1924, S. 89 ff.

Bucharin-Texte Zitate aus: Bucharin, N.: Der Weg zum Sozialismus, Wien 1925, S. 7, SO, 58-60, 62, 64, 74-78, 124 A. Die Abhängigkeit der Industrie von der Landwirtschaft....................................................

211

B. Durch die Marktverhältnisse hindurch zum Sozialismus ........................................ ..........

211

C. Das Hineinwachsen der Bauemsehaft in den Sozialismus ................................................

212

D. Genossenschaft als Mittel der Entwicklung der Bauern zum Sozialismus ........................

213

Stalin-Texte A. Stalin charakterisiert die "rechte Abweichung" ................................................................

214

Zitat aus: Stalin, J.: Die Bucharingruppe und die rechte Abweichung in unserer Partei, Aus Reden Ende Januar und Anfang Februar 1929, Stalin Werke, Bd. 11 , deutsche Ausgabe, Berlin 1952- 1955, S. 285-291 B. Stalins Industrialisierungs- und Kollektivierungspolitik ....................................................

2I6

Zitat aus. Stalin, J.: Über die Industrialisierung des Landes und über die rechte Abweichung in der KPdSU(B). Rede am I 9. November 1928. Stalin Werke, Bd. II, deutsche Ausgabe, Berlin 1952-1955, S. 218-227 C. Zu den Fragen der Agrarpolitik in der UdSSR ........................................................... ....... Stalin, J.: Zu den Fragen der Agrarpolitik in der UdSSR, Rede auf der Konferenz marxistischer Agrarwissenschaftler am 27. Dezember 1929, Stalin Werke, Bd. 12, deutsche Ausgabe, Berlin 1952-1955, S. 334-357

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Marx/Engels-Texte

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Marx/Engels-Texte A. Der kritisch-utopistische Sozialismus und Kommunismus Zitat aus: Marx, K., Engels, F.: Manifest der Kommunistischen Partei (Februar 1848), S. 489-492, in: Marx!Engels Werke, Bd. 4, Berlin 1972, S. 459ff. Wir reden hier nicht von der Literatur, die in allen großen modernen Revolutionen die Forderungen des Proletariats aussprach. (Schriften Babeufs etc.) Die ersten Versuche des Proletariats, in einer Zeit allgemeiner Aufregung, in der Periode des Umsturzes der feudalen Gesellschaft direkt sein eigenes Klasseninteresse durchzusetzen, scheiterten notwendig an der unentwickelten Gestalt des Proletariats selbst wie an dem Mangel der materiellen Bedingungen seiner Befreiung, die eben erst das Produkt der bürgerlichen Epoche sind. Die revolutionäre Literatur, welche diese ersten Bewegungen des Proletariats begleitete, ist dem Inhalt nach notwendig reaktionär. Sie lehrt einen allgemeinen Asketismus und eine rohe Gleichmacherei. Die eigentlich sozialistischen und kommunistischen Systeme, die Systeme St-Simons, Fouriers. Owens usw., tauchen auf in der ersten, unentwickelten Periode des Kampfs zwischen Proletariat und Bourgeoisie, die wir oben dargestellt haben. Die Erfmder dieser Systeme sehen zwar den Gegensatz der Klassen wie die Wirksamkeit der auflösenden Elemente in der herrschenden Gesellschaft selbst. Aber sie erblicken auf der Seite des Proletariats keine geschichtliche Selbsttätigkeit, keine ihm eigentümliche politische Bewegung. Da die Entwicldung des Klassengegensatzes gleichen Schritt hält mit der Entwicldung der Industrie, finden sie ebensowenig die materiellen Bedingungen zur Befreiung des Proletariats vor und suchen nach einer sozialen Wissenschaft, nach sozialen Gesetzen, um diese Bedingungen zu schaffen. An die Stelle der gesellschaftlichen Tätigkeit muß ihre persönlich erfinderische Tätigkeit treten, an die Stelle der geschichtlichen Bedingungen der Befreiung phantastische, an die Stelle der allmählich vor sich gehenden Organisation des Proletariats zur Klasse eine eigens ausgeheckte Organisation der Gesellschaft. Die kommende Weltgeschichte löst sich für sie auf in die Propaganda und die praktische Ausführung ihrer Gesellschaftspläne.

Sie sind sich zwar bewußt, in ihren Plänen hauptsächlich das Interesse der arbeitenden Klasse als der leidendsten Klasse zu vertreten. Nur unter diesem Gesichtspunkt der leidendsten Klasse el'.istiert das Proletariat für sie. Die unentwickelte Fonn des Klassenkampfes wie ihre eigene Lebenslage bringen es aber mit sich, daß sie weit über jenen Klassengegensatz erhaben zu sein glauben. Sie wollen die Lebenslage aller Gesellschaftsglieder, auch der bestgestellten, verbessern. Sie appellieren daher fortwährend an die ganze Gesellschaft ohne Unterschied, ja vorzugsweise an die herrschende Klasse. Man braucht ihr System ja nur zu verstehen, um es als den bestmöglichen Plan der bestmöglichen Gesellschaft anzuerkennen. Sie verwerfen daher alle politische, namentlich alle revolutionäre Aktion, sie wollen ihr Ziel auf friedlichem Wege erreichen und versuchen, durch kleine, natürlich fehlschlagende Experimente, durch die Macht des Beispiels dem neuen gesellschaftlichen Evangelium Bahn zu brechen. Die phantastische Schilderung der zukünftigen Gesellschaft entspringt in einer Zeit, wo das Proletariat noch höchst unentwickelt ist, also selbst noch phantastisch se:ne eigene Stellung auffaßt, seinem ersten ahnungsvollen Drängen nach einer allgemeinen Umgestaltung der Gesellschaft. Die sozial[istisch]en und kommunistischen Schriften bestehen aber auch aus kritischen Elementen. Sie greifen alle Grundlagen der bestehenden Gesellschaft an. Sie haben daher höchst wenvolles Material zur Aufklärung der Arbeiter geliefert. Ihre positiven Sätze über die zukünftige Gesellschaft, z.B. Aufhebung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land, der Familie, des Privaterwerbs, der Lohnarbeit, die Verkündigung der gesellschaftlichen Hannonie, die Verwandlung des Staates in eine bloße Verwaltung der Produktion- alle diese ihre Sätze drücken bloß das Wegfallen des Klassengegensatzes

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Anhang

aus, der eben erst sich zu entwickeln beginnt, den sie nur noch in seiner ersten gestaltlosen Unbestimmtheit kennen. Diese Sätze selbst haben dabei noch einen rein Utopistischen Sinn. Die Bedeutung des kritisch-utopistischen Sozialismus und Kommunismus steht im umgekehnen Verhältnis zur geschichtlichen Entwicklung. In demselben Maße, worin der Klassenkampf sich entwickelt und gestaltet, verlien diese phantastische Erhebung über denselben, diese phantastische Bekämpfung desselben allen praktischen Wen, alle theoretische Berechtigung. Waren daher die Urheber dieser Systeme auch in vieler Beziehung revolutionär, so bilden ihre Schüler jedesmal reaktionäre Sekten. Sie halten die alten Anschauungen der Meister fest gegenüber der geschichtlichen Fonentwicklung des Proletariats. Sie suchen daher konsequent den Klassenkampf wieder abzustumpfen und die Gegensätze zu vermineln. Sie träumen noch immer die versuchsweise Verwirklichung ihrer gesellschaftlichen Utopien, Stiftung einzelner Phalanstere, Gründung von Horne-Kolonien, Errichtung eines kleinen Ikariens' - Duodezausgabe des neuen Jerusalems -, und zum Aufbau aller dieser spanischen Schlösser müssen sie an die Philanthropie der bürgerlichen Herzen und Geldsäcke appellieren. Allmählich fallen sie in die Kategorie der oben geschildenen reaktionären oder konservativen Sozialisten und unterscheiden sich nur noch von ilmen durch mehr systematische Pedanterie, durch den fanatischen Aberglauben an die Wunderwirkungen ihrer sozialen Wissenschaft. Sie treten daher mit Erbinerung alter politischen Bewegung der Arbeiter entgegen, die nur aus blindem Unglauben an das neue Evangelium hervorgehen konnte. Die Owenisten in England, die Fourieristen in Frankreich reagieren don gegen die Chanisten, hier gegen die Reformisten.

B. Die Kooperativbewegung Zitat aus: Marx, K.: lnauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation (Oktober 1864), S. 11-12 , in: Marx/Engels Werke, Bd.16, Berlin 1964, S. 5ff. ... Ein noch größerer Sieg der politischen Ökonomie der Arbeit über die politische Ökonomie des Kapitals stand bevor. Wir sprechen von der Kooperativbewegung, namentlich den Kooperativfabriken, diesem Werk weniger kühnen "Hände" (hands). Der Wen dieser großen Experimente kann nicht überschätzt werden. Durch die Tat, statt durch Argumente, bewiesen sie, daß Produktion auf großer Stufenleiter und im Einklang mit dem Fortschritt moderner Wissenschaft vorgehen kann ohne die Existenz einer Klasse von Meistem (masters), die eine Klasse von "Händen" anwendet; daß, um Früchte zu tragen, die Mine! der Arbeit nicht monopolisien zu werden brauchen als Mittel der Herrschaft über und Mittel der Ausbeutung gegen den Arbeiter selbst, und daß wie Sklavenarbeit, wie Leibeigenenarbeit so Lohnarbeit nur eine vorübergehende und untergeordnete gesellschaftliche Form ist, bestimmt zu verschwinden vor der assoziierten Arbeit, die ihr Werk mit williger Hand, rüstigem Geist und fröhlichen Herzens verrichtet. In England wurde der Samen des Kooperativsystems von Roben Owen ausgestreut; die auf dem Kontinent versuchten Arbeiterexperimente waren in der Tat der nächste praktische Ausgang der Theorien, die 1848 nicht erfunden, wohl aber laut proklamien wurden. Zur selben Zeit bewies die Erfahrung der Periode von 1848 bis 1864 unzweifelhaft, was die intelligentesten Führer der Arbeiterklasse in den Jahren 1851 und 1852 gegenüber der Kooperativbe-

Phalenstere war die Bezeichnung für die von Charles Fourier geplanten sozialistischen Kolonien; Ikarien nannte Cabet seine Utopie und später seine kommunistische Kolonie in Amerika. HorneKolonien (Kolonien im Inland) nennt Owen seine kommunistischen Mustergesellschaften. (Anmerkung von Engels zur englischen Ausgabe von 1888.) Phalanstere war der Name der von Fourier geplanten gesellschaftlichen Paläste. Ikarien hieß das utopische Phantasielande dessen kommunistische Einrichtungen Cabet schilderte. (Anmerkung von Engels zur deutschen Ausgabe von 1890.)

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wegung in England bereits geltend machten, daß, wie ausgezeichnet im Prinzip und wie nützlich in der Praxis, kooperative Arbeit, wenn beschränkt auf den engen Kreis gelegentlicher Versuche vereinzelter Arbeiter, unfähig ist, das Wachstum des Monopols in geometrischer Progression aufzuhalten. die Massen zu befreien, ja die Wucht ihres Elends auch nur merldich zu erleichtern. Es ist vielleicht gerade dies der Grund, warum plausible Lords, bürgerlichphilanthropische Salbader und ein paar trockne politische Ökonomen jetzt mit demselben Kooperativsystem schöntun, das sie früher in seinem Keim zu ersticken versucht hatten, das sie verhöhnt hatten als die Utopie des Träumers und verdammt hatten als die Ketzerei des Sozialisten. Um die arbeitenden Massen zu befreien, bedarf das Kooperativsystem der Entwicklung auf nationaler Stufenleiter und der Förderung durch nationale Mittel. Aber die Herren von Grund und Boden und die Herren vom Kapital werden ihre politischen Privilegien stets gebrauchen zur Verteidigung und zur Verewigung ihrer ökonomischen Monopole. Statt die Emanzipation der Arbeit zu fördern, werden sie fonfahren, ihr jedes mögliche Hindernis in den Weg zu legen. Lord Palmerston sprach aus ihrer Seele, als er in der letzten Parlamentssitzung den Veneidigem der Rechte der irischen Pächter höhnend zuschrie: "Das Haus der Gemeinen ist ein Haus von Grundeigentümern!"

C. Kooperativarbeit Zitat aus: Marx, K., Engels, F.: Instruktion für die Delegierten des Provisorischen Zentralrates zu den einzelnen Fragen, (August 1868)S.l95-198, in: Marx!Engels Werke, Bd. 16, Berlin 1964, S. 190ft. ... Es ist Aufgabe der Internationalen Arbeiterassoziation, die spontanen Bewegungen der Arbeiterklasse zu vereinigen und zu verallgemeinern, doch nicht, ihnen irgendein doktrinäres System zu diktieren oder aufzudrängen. Der Kongreß sollte deshalb kein besonderes System der Kooperation verkünden, sondern sich auf die Darlegung einiger allgemeiner Prinzipien beschränken. (a) Wir anerkennen die Kooperativbewegung als eine der Triebkräfte zur Umwandlung der gegenwänigen Gesellschaft, die auf Klassengegensätzen beruht. Ihr großes Verdienst besteht darin, praktisch zu zeigen, daß das bestehende despotische und Armut hervorbringende System der Unterjochung der Arbeit unter das Kapital verdrängt werden kann durch das republikanische und segensreiche System der Assoziation von freien und gleichen Produzenten. (b) Aber das Kooperativsystem. beschränkt auf die zwerghaften Formen, die einzelne Lohnsklaven durch ihre privaten Anstrengungen entwickeln können, ist niemals imstande, die kapitalistische Gesellschaft umzugestalten. Um die gesellschaftliche Produktion in ein umfassendes und harmonisches System freier Kooperativarbeit zu verwandeln, bedarf es allgemeiner gesellschaftlicher Veränderungen, Veränderungen der allgemeinen Bedingungen der Gesellschaft, die nur verwirtdicht werden können durch den Übergang der organisienen Gewalt der Gesellschaft, d.h. der Staatsmacht, aus den Händen der Kapitalisten und Grundbesitzer in die Hände der Produzenten selbst. (c) Wir empfehlen den Arbeitern, sich eher mit Produktivgenossenschaften als mit Konsumgenossenschaften zu befassen. Die letzteren berühren nur die Oberfläche des heutigen ökonomischen Systems, die erstem greifen es in seinen Grundfesten an. (d) Wir empfehlen allen Kooperativgesellschaften, einen Teil ihres Gesamteinkommens in einen Fonds zu verwandeln zur Propagierung ihrer Prinzipien durch Won und Tat, mit anderen Wonen, durch Förderung der Errichtung von neuen Produktivgenossenschaften sowie durch Verbreitung ihrer Lehren.

(e) Um zu verhindern, daß Kooperativgesellschaften zu gewöhnlichen bürgerlichen Aktiengesellschaften (soci~t~s par actions) entanen, sollten alle Arbeiter, die in ihnen beschäftigt sind. ob Aktieninhaber oder nicht, gleiche Anteile vom Gewinn erhalten. Wir sind willens zuzugeben, daß die Aktieninhaber als eine nur zeitweilige Maßnahme Zinsen zu einem niedrigen Prozentsatz erhalten.

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6. Gewerksgenossenschaften Ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (a) Ihre Vergangenheit. Das Kapital ist konzentrierte gesellschaftliche Macht, während der Arbeiter nur über seine Arbeitskraft verfügt Der Kontrakt zwischen Kapital und Albeit kann deshalb niemals auf gerechten Bedingungen beruhen, gerecht nicht einmal im Sinne einer Gesellschaft, die das Eigentum an den materiellen Mitteln des Lebens und der Arbeit der lebendigen Produktivkraft gegenüberstellt. Die einzige gesellschaftliche Macht der Albeiter ist ihre Zahl. Die Macht der Zahl wird jedoch durch Uneinigkeit gebrochen. Die Uneinigkeit der Arbeiter wird erzeugt und erhalten durch ihre unvermeidliche Konkurrenz untereinander. Gewerksgenossenschaften entstanden ursprünglich durch die spontanen Versuche der Albeiter, diese Konkurrenz zu beseitigen oder wenigstens einzuschränken, um Kontraktbedingungen zu erzwingen, die sie wenigstens über die Stellung bloßer Sklaven erheben würden. Das unmittelbare Ziel der Gewerksgenossenschaften beschränkte sich daher auf die Erfordernisse des Tages, auf Mittel zur Abwehr der sländigen Übergriffe des Kapitals, mit einem Wort, auf Fragen des Lohns und der Albeitszeit. Diese Tätigkeit der Gewerksgenossenschaften ist nicht nur rechtmäßig, sie ist notwendig. Man kann ihrer nicht entraten, solange die heutige Produktionsweise besteht. Im Gegenteil, sie muß verallgemeinert werden durch die Gründung und Zusammenfassung von Gewerksgenossenschaften in allen Ländern. Auf der anderen Seite sind die Gewerksgenossenschaften, ohne daß sie sich dessen bewußt wurden, zu Organisationszentren der Albeiterklasse geworden, wie es die mittelalterlichen Munizipalitäten und Gemeinden für das Bürgertum waren. Wenn die Gewerksgenossenschaften notwendig sind für den Guerillakrieg zwischen Kapital und Albeit, so sind sie noch weit wichtiger als organisierte Kraft zur Beseitigung des Systems der Lohnalbeil und Kapitalherrschaft selbst. (b) Ihre Gegenwart. Die Gewerksgenossenschaften haben sich bisher zu ausschließlich mit dem lokalen und unmittelbaren Kampf gegen das Kapital beschäftigt und haben noch nicht völlig begriffen, welche Kraft sie im Kampf gegen das System der Lohnsklaverei selbst darstellen. Sie haben sich deshalb zu fern von allgemeinen sozialen und politischen Bewegungen gehalten. In letzter Zeit scheinen sie jedoch zum Bewußtsein ihrer großen historischen Mission zu erwachen, wie man schließen kann z.B. aus ihrer Beteiligung an der jüngsten politischen Bewegung in England, aus der höheren Auffassung ihrer Funktion in den Vereinigten Staaten und auch aus folgendem Beschluß der großen Konferenz der Delegierten der Trade-Unions, die kürzlich in Sheffield stattfand: "Diese Konferenz würdigt voll und ganz die Anstrengungen der Internationalen Assoziation, die Albeiter aller Länder in einem gemeinsamen Bruderbund zu vereinen, und empfiehlt den verschiedenen, hier vertretenen Gesellschaften eindringlich, in diese Assoziation einzutreten, in der Überzeugung, daß sie notwendig ist für den Fortschritt und das Gedeihen der ganzen Albeiterschaft." (c) Ihre Zukunft Abgesehen von ihren ursprünglichen Zwecken müssen sie jetzt lernen, bewußt als organisierende Zentren der Albeiterklasse zu handeln, im großen Interesse ihrer vollständigen Emanzipation. Sie müssen jede soziale und politische Bewegung unterstützen, die diese Richtung einschlägt. Wenn sie sich selbst als Vorkämpfer und Vertreter der ganzen Arbeiterklasse betrachten und danach handeln, muß es ihnen gelingen, die Außenstehenden in ihre Reihen zu ziehen. Sie müssen sich sorgfältig um die Interessen der am schlechtesten bezahlten Gewerbe kümmern, z.B. der Landalbeiter, die durch besonders ungünstige Umstände ohnmächtig sind. Sie müssen die ganze Welt zur Überzeugung bringen, daß ihre Bestrebungen, weit entfernt, begrenzte und selbstsüchtige zu sein, auf die Emanzipation der unterdrückten Millionen gerichtet sind. ...

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D. Boden und nationales Eigentum Zitat aus: Marx, K.: Überdie Nationalisierungdes GrundundBodens (April1872) , S. 62, in: Marx!Engels Werke, Bd. 18, Berlin 1964, S. 59ft. ... Ich hingegen sage: Die Zukunft wird entscheiden, daß der Boden nur nationales Eigentum sein kann. Das Land an assozüerte Landarbeiter zu übergeben, würde heißen, die ganze Gesellschaft einer besonderen Klasse von Produzenten auszuliefern. Die Nationalisierung des Grund und Bodens wird eine vollkommene Änderung in den Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital mit sich bringen und schließlich die gesamte kapitalistische Produktion beseitigen, sowohl in der Industrie wie in der Landwirtschaft. Nur dann werden die Klassenunterschiede und Privilegien verschwinden, zusammen mit der ökonomischen Basis, der sie entspringen, und die Gesellschaft wird in eine Assoziation freier "Produzenten" verwandelt werden. Von anderer Leute Arbeit zu leben wird eine Angelegenheit der Vergangenheit sein! Dann wird es weder eine Regierung noch einen Staat geben, die im Gegensatz zur Gesellschaft selbst stehen! Landwirtschaft, Bergbau, Industrie, mit einem Wort alle Zweige der Produktion werden allmählich auf die nutzbringendste Art organisiert werden. Die nationale Zentralisation der Produktionsmittel wird die natürliche Basis einer Gesellschaft werden, die sich aus Assoziationen freier und gleichgestellter, nach einem gemeinsamen und rationellen Plan bewußt tätiger Produzenten zusammensetzt. Das ist das Ziel, welchem die große ökonomische Bewegung des 19. Jahrhunderts zustrebt.

E. Produktivgenossenschaften und Staatshilfe Zitat aus: Marx, K.: Kritik des Gothaer Programms, ( 1875), S. 26-27, in: Marx!Engels Werke, Bd. 19, Berlin 1972, S. 1 1/f "Die deutsche Arbeiterpartei verlangt, um die Lösung der sozialen Frage anzubahnen, die Errichtung von Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe unter der demokratischen Kontrolle des arbeitenden Volks. Die Produktivgenossenschaften sind für Industrie und Ackerbau in solchem Umfang ins Leben zu rufen, daß aus ihnen die sozialistische Organisation der Gesamtarbeit entsteht." Nach dem Lassalleschen "ehernen Lohngesetz" das Heilsmittel des Propheten! Es wird in würdiger Weise "angebahnt"! An die Stelle des existierenden Klassenkampfs trin eine Zeitungsschreiberphrase -"die soziale Frage", deren "Lösung" man "anbahnt". Statt aus dem revolutionären Umwandlungsprozesse der Gesellschaft "entsteht" die "sozialistische Organisation der Gesamtarbeit" aus der "Staatshilfe", die der Staat Produktivgenossenschaften gibt, die er, nicht der Arbeiter, "ins Leben ruft". Es ist dies würdig der Einbildung Lassalles, daß man mit Staatsanlehn ebensogut eine neue Gesellschaft bauen kann wie eine neue Eisenbahn! Aus Scham stellt man "die Staatshilfe';- "unter die demokratische Kontrolle des arbeitenden Volks". Erstens besteht "das arbeitende Volk" in Deutschland zur Majorität aus Bauern und nicht aus Proletariern. Zweitens heißt "demokratisch" zu deutsch "volksherrschaftlich". Was heißt aber "die volksherrschaftliche Kontrolle des arbeitenden Volkes''? Und nun gar bei einem Arbeitervolk, das durch diese Forderungen, die es an den Staat stellt; sein volles Bewußtsein ausspricht, daß es weder an der Herrschaft ist, noch zur Herrschaft reif ist! Auf die Kritik des von Buchez unter Louis-Philippe im Gegensatz gegen die französischen Sozialisten versehnebnen und von den reaktionären Arbeitern des "Atelier" angenommenen Rezepts ist es überflüssig, hier einzugehn. Es liegt auch der Hauptanstoß nicht darin, daß man diese spezifische Wunderkur ins Programm geschrieben, sondern daß man überhaupt vom Standpunkt der Klassenbewegung zu dem der Sektenbewegung zurückgeht.

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Daß die Arbeiter die Bedingungen der genossenschaftlichen Produktion auf sozialem und zunächst bei sich, also [auf] nationalem Maßstab herstellen wollen, heißt nur, daß sie an der Umwälzung der jetzigen Produktionsbedingungen arbeiten, und hat nichts gemein mit der Stiftung von Kooperativgesellschaften mit Staatshilfe! Was aber die jetzigen Kooperativgesellschaften betrifft, so haben sie nur Wert, soweit sie unabhängige, weder von den Regierungen noch von den Bourgeois protegierte Arbeiterschöpfungen sind.

F. Markgenossenschaft Engels, F.: Die Mark(Dezember 1882),Marx!Engels Werke,Bd.l9, Berlin 1972,S. 315ft In einem Lande wie Deutschland, wo noch gut die Hälfte der Bevölkerung vom Landbau lebt, ist es notwendig, daß die sozialistischen Arbeiter und durch sie die Bauern erfahren, wie das heutige Grundeigentum. großes wie kleines. entstanden ist; notwendig, daß dem heutigen Elend der Taglöhner und der heutigen Verschuldungsknechtschaft der Kleinbauern entgegengehalten werde das alte Gemeineigentum aller freien Männer an dem, was damals für sie in Wahrheit ein "Vaterland", ein ererbter freier Gemeinbesitz war. Ich gebe daher eine kurze geschichtliche Darstellung jener uralten deutschen Bodenvcrfassung. die sich in kümmerlichen Resten bis auf unsre Tage erhalten, die aber im ganzen Mittelalter als Grundlage und Vorbild aller öffentlichen Verfassung gedient und das ganze öffentliche Leben, nicht nur in Deutschland. sondern auch in Nordfrankreich, England und Skandinavien durchdrungen hat. Und dennoch konnte sie so in Vergessenheit geraten, daß erst in der letzten ZCit G. L. Maurer ihre wirkliche Bedeutung von neuem entdecken mußte. Zwei naturwüchsig entstandne Tatsachen beherrschen die Urgeschichte aller oder doch fast aller Völker: Gliederung des Volks nach Verwandtschaft und Gemeineigentum am Boden. So war es auch bei den Deutschen. Wie sie die Gliederung nach Stämmen, Sippschaften, Geschlechtern aus Asien mitgebracht hatten, wie sie noch zur Römerzeit ihre Schlachthaufen so bildeten, daß immer Nächstverwandte Schulter an Schulter standen, so beherrschte diese Gliederung auch die Besitznahme des neuen Gebiets östlich vom Rhein und nördlich von der Donau. Auf dem neuen Sitz ließ sich jeder Stamm nieder, nicht nach Laune oder Zufall. sondern, wie Cäsar ausdrücklich angibt, nach der Geschlechtsverwandtschaft der Stammesglieder. Den näher verwandten größern Gruppen fiel ein bestimmter Bezirk zu. worin wieder die einzelnen, eine Anzahl Familien umfassenden Geschlechter sich dorfweise niederließen. Mehrere verwandte Dörfer bildeten eine Hundertschaft (althochdeutsch huntari, altnordisch heradh), mehrere Hundertschaften einen Gau; die Gesamtheit der Gaue war das Volk selbst. Der Boden, den die Ortschaft nicht in Beschlag nahm, blieb zur Verfügung der Hundertschaft; was dieser nicht zugeteilt war, verblieb dem Gau; was dann noch verfügbar war - meist ein sehr großer Landstrich -blieb im unmittelbaren Besitz des ganzen Volks. So fmden wir in Schweden alle diese verschiednen Stufen von Gemeinbesitz nebeneinander. Jedes Dorf hatte Dorfgemeinland (bys almänningar), und daneben gab es Hundertschafts- (härads), Gau- oder Landschafts- (Iands) und endlich das vom König als Vertreter des ganzen Volks in Anspruch genommne Volksgemeinland, hier also konungs almänningar genannt. Aber sie alle. auch das königliche, hießen ohne Unterschied almänningar. Allmenden, Gemeinländereien. Wenn die altschwedische, in ihrer genauen Unterabteilung jedenfalls einer spätem Entwicklungsstufe angehörige Ordnung des Gemeinlands in dieser Form je in Deutschland bestanden hat, so ist sie bald verschwunden. Die rasche Vermehrung der Bevölkerung erzeugte auf dem jedem einzelnen Dorf zugewiesenen sehr ausgedehnten Landstrich, der Mark, eine Anzahl von Tochterdörfern, die nun mit dem Mutterdorf als Gleichberechtigte oder Minderberechtigte eine einzige Markgenossenschaft bildeten, so daß wir in Deutschland, soweit die Quellen zurückreichen, überall eine größere oder geringere Anzahl von Dörfern zu einer Markgenossenschaft vereinigt fmden. Überdiesen Verbänden aber standen, wenigstens in der ersten ZCit, noch die größern Markverbände der Hundertschaft oder des Gaus. und endlich bildete das ganze Volk ursprünglich eine einzige gruße Mark. Genossenschaft zur Verwaltung des in unmittelbarem Volksbesitz gebliebnen Bodens und zur Oberaufsicht über die zu seinem Gebiet gehörigen Untermarken.

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Noch bis in die zeit, da das fränkische Reich sich das ostrheinische Deutschland unterwarf, scheint der Schwerpunkt der Markgenossenschaft im Gau gelegen, der Gau die eigentliche Markgenossenschaft um faßt zu haben. Denn nur daraus erklärt sich, daß so viele alte große Marken bei der amtlichen Einteilung des Reichs als Gerichtsgaue wieder erscheinen. Aber schon bald darauf begann die zerschlagungder alten großen Marken. Doch gilt noch im "Kaiserrecht" des 13. oder 14. Jahrhunderts als Regel, daß eine Mark 6 bis 12 Dörfer um faßt. Zu Cäsars zeitbebaute wenigstens ein großer Teil der Deutschen, nämlich das Suevenvolk, das noch nicht zu festen Sitzen gekommen war, den Acker gemeinsam; dies geschah, wie wir nach Analogie andrer Völker annehmen dürfen, in der Art, daß die einzelnen, eine Anzahl nahverwandter Familien umfassenden Geschlechter das ihnen zugewiesene Land, das von Jahr zu Jahr gewechselt wurde, gemeinschaftlich bebauten und die Produkte unter die Familien verteilten. Als aber auch die Sueven gegen Anfang unsrer 2'.eitrechnung in den neuen Sitzen zur Ruhe gekommen waren, hörte dies bald auf. Wenigstens kennt Tacitus (ISO Jahre nach Cäsar) nur noch Bebauung des Bodens durch die einzelnen Familien. Aber auch diesen war das anzubauende Land nur auf ein Jahr zugewiesen; nach jedem Jahr wurde es neu umgeteilt und gewechselt. Wie es dabei herging, das können wir noch heute an der Mosel und im Hochwald an den sogenannten Gehöferschaften sehn. Dort wird zwar nicht mehr jährlich, aber doch noch alle 3, 6, 9 oder 12 Jahre das gesamte angebaute Land, Äcker und Wiesen, zusammengeworfen und nach Lage und Bodenqualität in eine Anzahl Gewanne" geteilt. Jedes Gewann teilt man wieder in so viel gleiche Teile, lange, schmale Streifen, als Berechtigungen in der Genossenschaft bestehn, und diese werden durchs Los unter die Berechtigten verteilt, so daß jeder Genosse in jedem Gewann, also von jeder Lage und Bodenqualität, ursprünglich ein gleich großes Stück erhielt. Gegenwärtig sind die Anteile durch Erbteilung, Verkauf usw. ungleich geworden, aber der alte Vollanteil bildet noch immer die Einheit, wonach die halben, Viertels-, Achtels- etc. Anteile sich bestimmen. Das unbebaute Land, Wald und Weide, bleibt Gemeinbesitz zur gemeinsamen Nutzung. Dieselbe uralte Einrichtung hatte sich bis in den Anfang unsres Jahrhunderts in den sogenannten Losgütern der bayrischen Rheinpfalz erhalten, deren Ackerland seitdem in Privateigentum der einzelnen Genossen übergegangen ist. Auch die Gehöferschaften finden es mehr und mehr in ihrem Interesse, die Umteilungen zu unterlassen und den wechselnden Besitz in Privateigentum zu verwandeln. So sind die meisten, wo nicht gar alle, in den letzten vierzig Jahren abgestorben und in gewöhnliche Dörfer von Parzellenbauern mit gemeinsamer Wald- und Weidenutzung übergegangen. Das erste Grundstück, das in Privateigentum des einzelnen überging, war der Hausplatz. Die Unverletzlichkeit der Wohnung, diese Grundlage aller persönlichen Freiheit, ging vom zeltwagen des Wanderzugs über auf das Blockhaus des angesiedelten Bauern und verwandelte sich allmählich in ein volles Eigentumsrecht an Haus und Hof. Dies war schon zu Tacitus' 2'.eiten geschehn. Die Heimställe des freien Deutschen muß schon damals aus der Mark ausgeschlossen und damit den Markbeamten unzugänglich, ein sichrer Zufluchtsort für Flüchtlinge gewesen sein, wie wir sie in den spätem Markordnungen und zum Teil schon in den Volksrechten des 5. bis 8. Jahrhunderts beschrieben finden. Denn die Heiligkeit der Wohnung war nicht Wirkung, sondern Ursache ihrer Verwandlung in Privateigentum. Vier- bis fünfhundert Jahre nach Tacitus finden wir in den Volksrechten auch das angebaute Land als erblichen, wenn auch nicht unbedingt freien Besitz der einzelnen Bauern, die das Recht hauen, darüber durch Verkauf oder sonstige Abtretung zu verfügen. Für die Ursachen dieser Umwandlung haben wir zwei Anhaltspunkte. Erstens gab es von Anfang an in Deutschland selbst, neben den bereits geschilderten geschloßncn Dörfern mit vollständiger Feldgemeinschaft, auch Dörfer, wo außer den Heimstätten auch die Felder aus der Gemeinschaft, der Mark, ausgeschlossen und den einzelnen Bauern erblich zugeteilt waren. Aber nur, wo die Bodengestaltung dies sozusagen aufnötigte: in engen Tälern, wie im Bergischen, auf schmalen, flachen Höhenrücken zwischen Sümpfen, wie in Westfalen. Später auch im Odenwald und in fast allen Alpentälem. Hier bestand das Dorf, wie noch jetzt, aus zerstreuten Einzelhöfen, deren jeder von den zugehörigen Feldern umgeben wird; ein Wechsel war hier nicht gut möglich, und so verblieb der Mark nur das umliegende unbebaute Land. Als nun später das Recht, über Haus und Hof durch Abtretung an Dritte zu verfügen, von Wichtigkeit wurde, befanden sich solche Hofbesitzer im Vorteil. Der Wunsch, diesen Vorteil ebenfalls zu erlangen, mag in manchen Dörfern mit Feldgemeinschaft

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dahin geführt haben, die gewohnten Umteilungen einschlafen und damit die einzelnen Anteile der Genossen ebenfalls erblich und übertragbar werden zu lassen. Zweitens aber führte die Eroberung die Deutschen auf römisches Gebiet, wo seit Jahrhunderten der Boden Privateigentum (und zwar römisches, unbeschränktes) gewesen war und wo die geringe Zahl der Eroberer unmöglich eine so eingewurzelte Besitzform gänzlich beseitigen konnte. Für den Zusammenhang des erblichen Privatbesitzes an Äckern und Wiesen mit römischem Recht, wenigstens auf ehemals römischem Gebiet, spricht auch der Umstand, daß die bis auf unsre Zeit erhaltnen Reste des Gemeineigentums am urbaren Boden sich gerade auf dem linken Rheinufer, also auf ebenfalls erobertem, aber gänzlich germanisiertem Gebiet fmden. Als die Franken sich hier im fünften Jahrhunden niederließen, muß noch Ackergemeinschaft bei ihnen bestanden haben, sonst könnten wir jetzt dort keine Gehöferschaften und Losgüter finden. Aber auch hier drang der Privatbesitz bald übermächtig ein, denn nur diesen finden wir, soweit urbares Land in Betracht kommt, im ripuarischen Volksrecht des sechsten Jahrhunderts erwähnt. Und im innem Deutschland wurde das angebaute Land, wie gesagt, ebenfalls bald Privatbesitz. Wenn aber die deutschen Eroberer den Privatbesitz an Äckern und Wiesen annahmen, d.h. bei der ersten Landteilung, oder bald nachher, auf erneuerte Umteilungen verLichteten (denn weiter war es nichts), so führten sie dagegen überall ihre deutsche Markverfassung mit Gemeinbesitz an Wald und Weide ein und mit Oberherrschaft der Mark auch über das verteilte Land. Dies geschah nicht nur von den Franken in Nordfrankreich und den Angelsachsen in England, sondern auch von den Burgundem in Ostfrankreich, den Westgoten in Südfrankreich und Spanien und den Ostgoten und Langobarden in Italien. In diesen letztgenannten Ländern haben sich jedoch, soviel bekannt, fast nur im Hochgebirg Spuren der Markeinrichtungen bis heute erhalten. Die Gestalt, die die Markverfassung angenommen hat durch Verzicht auf erneuerte Verteilung des angebauten Landes, ist nun diejenige, die uns entgegentritt nicht nur in den alten Volksrechten des 5. bis 8. Jahrhunderts, sondern auch in den englischen und skandinavischen Rechtsbüchern des Mittelalters, in den zahlreichen deutschen Markordnungen (sogenannten Weistümern) aus dem 13. bis 17. Jahrhunden und in den Gewohnheitsrechten (coutumes) von Nordfrankreich. Indem die Markgenossenschaft auf das Recht verzichtete, von Zeit zu Zeit Äcker und Wiesen unter die einzelnen Genossen neu zu verteilen, gab sie von ihren übrigen Rechten an diese Ländereien kein einziges auf. Und diese Rechte waren sehr bedeutend. Die Genossenschaft hatte den einzelnen ihre Felder übergeben nur zum Zweck der Nutzung als Acker und Wiese und zu keinemandem Zweck. Was darüber hinausging, daranhatte der Einzelbesitzer kein Recht. In der Erde gefundne Schätze, wenn sie tiefer lagen, als die Pflugschar geht, gehörten also nicht ihm, sondern ursprünglich der Gemeinschaft; ebenso das Recht, Erz zu graben usw. Alle diese Rechte wurden später von den Grund- und Landesherren zu eignem Nutzen unterschlagen. Aber auch die Nutzung von Acker und Wiese war gebunden an die Oberaufsicht und Reglung durch die Genossenschaft, und zwar in folgender Gestalt. Da, wo Dreifelderwirtschaft herrschte- und das war fast überall -, wurde die ganze Feldflur des Dorfs in drei gleich große Felder geteilt, von denen jedes abwechselnd ein Jahr zur Wintersaat, das zweite Jahr zur Sommersaat, das dritte zur Brache bestimmt wurde. Das Dorf hatte also jedes Jahr sein Winterfeld, Sommerfeld und Brachfeld. Bei der Landverteilung war dafür gesorgt, daß der Anteil jedes Genossen sich gleichmäßig auf alle drei Felder verteilte, so daß jeder sich ohne Nachteil dem Aurzwang der Genossenschaft fügen konnte, wonach er Wintersaat nur in sein Stück Winterfeld säen durfte usw. Das jedesmalige Brachfeld fiel nun für die Dauer der Brache wieder in Gemeinbesitz und diente der gesamten Genossenschaft zur Weide. Und sobald die beiden andern Felder abgeerntet waren, fielen sie bis zur Saatzeit ebenfalls wieder in den Gemeinbesitz zurück und wurden als Gemeinweide benutzt. Desgleichen die Wiesen nach der Grummetmahd. Auf allen Feldern, wo geweidet wurde, mußte der Besitzer die Zäune entfernen. Dieser sogenannte Hutzwang bedingte natürlich, daß die Zeit der Aussaat wie der Ernte nicht dem einzelnen überlassen, sondern für alle gemeinsam und von der Genossenschaft oder durch Herkommen festgesetzt war. Alles übrige Land, d.h. alles, was nicht Haus und Hof oder verteilte Dorfflur war, blieb, wie zur Urzeit, Gemeineigentum zur gemeinsamen Nutzung: Wald, Weideland, Heiden, Moore, Aüsse, Teiche, Seen, Weg und Steg, Jagd und Fischerei. Wie der Anteil jedes Genossen an der verteilten Feldmark ursprünglich gleich groß gewesen, so auch sein Anteil an der Nutzung der "gemeinen Mark".

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Die Art dieser Nutzung wurde durch die Gesamtheit der Genossen bestimmt; ebenso die Art der Aufteilung, wenn der bisher bebaute Boden nicht mehr reichte und ein Stück der gemeinen Mark in Anbau genommen wurde. Hauptnutzung in der gemeinen Mark war Viehweide und Eichelmast, daneben lieferte der Wald Bau- und Brennholz, Laubstreu, Beeren und Pilze, das Moor, wenn vorhanden, Torf. Die Bestimmungen über Weide, Holznutzung usw. bilden den Hauptinhalt der vielen, aus den verschiedensten Jahrhunderten erhaltneo Markweistümer, aufgeschrieben zur Zeit, als das alte ungeschriebne, herkömmliche Recht anfing, streitig zu werden. Die noch vorhandneo Gemeindewaldungen sind der kümmerliche Rest dieser alten ungeteilten Marken. Ein andrer Rest, wenigstens in West- und Süddeutschland, ist die im Volksbewußtsein tief wurzelnde Vorstellung, daß der Wald Gemeingut sei, in dem jeder Blumen, Beeren, Pilze, Bucheckern usw. sammeln und überhaupt, solange er nicht Schaden anrichtet, tun und treiben kann, was er will. Aber auch hier schafft Bismarck Rat und richtet mit seiner berühmten Beerengesetzgebung die westlichen Provinzen auf den altpreußischen Junkerfuß ein. Wie die Genossen gleiche Bodenanteile und gleiche Nutzungsrechte, so hatten sie ursprünglich auch gleichen Anteil an Gesetzgebung, Verwaltung und Gericht innerhalb der Mark. Zu bestimmten Zeiten und öfter, wenn nötig, versammelten sie sich unter freiem Himmel, um über die Markangelegenheiten zu beschließen und über Markfrevel und Streitigkeiten zu richten. Es war, nur im Kleinen, die uralte deutsche Volksversammlung, die ursprünglich auch nur eine große Markversammlung gewesen war. Gesetze wurden gemacht, wenn auch nur in seitneo Notfällen; Beamte gewählt, deren Amtsführung kontrolliert, vor allem aber Recht gesprochen. Der Vorsitzende hatte nur die Fragen zu formulieren, das Urteil wurde gefunden von der Gesamtheit der anwesenden Genossen. Die Markverfassung war in der Urzeit so ziemlich die einzige Verfassung derjenigen deutschen Stämme, die keine Könige hatten; der alte Stammesadel, der in der Völkerwanderung oder bald nachher unterging, fügte sich, wie alles mitdieser Verfassung zusammen naturwüchsig Entstandne,leicht in sie ein, wie der keltische Clanadel noch im 17. Jahrhundert in die irische Bodengemeinschaft Und sie hat im ganzen Leben der Deutschen so Wurzeln geschlagen, daß wir ihre Spur in der Entwicklungsgeschichte unsres Volks auf Schritt und Tritt wiederfinden. In der Urzeit war die ganze öffentliche Gewalt in Friedenszeiten ausschließlich eine richterliche, und diese ruhte bei der Versammlung des Volks in der Hundertschaft, im Gau, im ganzen Volksstamm. Das Volksgericht aber war nur das VolksMarkgericht, angewandt auf Fälle, die nicht bloße Markangelegenheiten waren, sondern in den Bereich der öffentlichen Gewalt fielen. Auch als mit Ausbildung der Gauverfassung die staatlichen Gaugerichte von den gemeinen Markgerichten getrennt wurden, blieb in beiden die richterliche Gewalt beim Volke. Erst als die alte Volksfreiheit schon in starkem Verfall war, und der Gerichtsdienst neben dem Heeresdienst eine drückende Last für die verarmten Freien wurde, erst da konnte Kar! der Große bei den Gaugerichten in den meisten Gegenden das Volksgericht durch Schöffengerichte' erset7.en. Aber dies berührte die Markgerichte durchaus nicht. Diese blieben im Gegenteil selbst noch Muster für die Lehnsgerichtshöfe des Mittelalters; auch in diesen war der Lehnsherr nur Fragesteller, Urteilsfinder aber die Lehnsträger selbst. Die Dorfverfassung ist nur die Markverfassung einer selbständigen Dorfmark und geht in eine Stadtverfassung über, sobald das Dorf sich in eine Stadt verwandelt, d.h. sich mit Graben und Mauem befestigt. Aus dieser ursprünglichen Stadtmarkverfassung sind alle spätem Städteverfassungen herausgewachsen. Und endlich sind der Markverfassung nachgebildet die Ordnungen der zahllosen, nicht auf gemeinsamem Grundbesitz beruhenden freien Genossenschaften des Mittelalters, besonders aber der freien Zünfte. Das der Zunft erteilte Recht zum ausschließlichen Betrieb eines bestimmten Geschäfts wird behandelt ganz wie eine gemeine Mark. Mit derselben Eifersucht wie dort, oft mit ganz denselben Mitteln, wird auch bei den Zünften dafür gesorgt, daß der Anteil eines jeden Genossen an der gemeinsamen NutzungsqueUe ein ganz oder doch möglichst gleicher sei. Dieselbe fast wunderbare Anpassungsfähigkeit, die die Markverfassung hier auf den verschiedensten Gebieten des öffentlichen Lebens und gegenüber den mannigfachsten Anforderungen entwickelt hat, beweist sie auch im Fongang der Entwicklung des Ackerbaus und im Kampf mit dem aufkommen-

Nicht zu verwechseln mit den Bismarck-Leonhardtschen Schöffengerichten, wo Schöffen und Juristen zusammen Urteil finden. Beim alten Schöffengericht waren gar keine Juristen, der Präsident oder Richter hatte gar keine Stimme und die Schöffen fanden das Urteil selbständig. II Todev/Rönnebeck/Brazda

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den großen Grundeigentum. Sie war entstanden mit der Niederlassung der Deutschen in Germanien, also in einer Zeit, wo Viehzucht Hauptnahrungsquelle war, und der aus Asien mitgebrachte, halbvergeßne Ackerbau erst eben wieder aufkam. Sie hat sich erhalten durch das ganze Mittelalter in schweren, unaufhörlichen Kämpfen mit dem grundbesitzenden Adel. Aber sie war noch immer so notwendig, daß überall da, wo der Adel sich das Bauernland angeeignet haue, die Verfassung der hörigen Dörfer eine, wenn auch durch grundherrliche Eingriffe stark beschnittne Markverfassung blieb; ein Beispiel davon werden wir weiter unten erwähnen. Sie paßte sich den wechselndsten Besitzverhaltnissen des urbaren Landes an, solange nur noch eine gemeine Mark blieb, und ebenso den verschiedensten Eigentumsrechten an der gemeinen Mark, sobald diese aufgehört haue, frei zu sein. Sie ist untergegangen an dem Raub fast des gesamten Bauernlandes, des verteilten wie des ungeteilten, durch Adel und Geistlichkeit unter williger Beihülfe der Landesherrschaft Aber ökonomisch veraltet, nicht mehr lebensfähig als Betriebsform des Ackerbaus wurde sie in Wirklichkeit erst, seit die gewaltigen Fortschritte der Landwirtschaft in den letzten hundert Jahren den Landbau zu einer Wissenschaft gemacht und ganz neue Betriebsweisen eingeführt haben. Die Untergrabung der Markverfassung begann schon bald nach der Völkerwandrung. Als Vertreter des Volks nahmen die frankischen Könige die ungeheuren, dem Gesamtvolk gehörenden Ländereien, namentlich Wälder, in Besitz, um sie durch Schenkungen an ihr Hofgesinde, an ihre Feldherren, an Bischöfe und Äbte zu verschleudern. Sie bilden dadurch den Stamm des späteren Großgrundbesitzes von Adel und Kirche. Die letztere besaß schon lange vor Kar! dem Großen ein volles Driuel alles Bodens in Frankreich; es ist sicher, daß dieses Verhältnis während des Mittelalters so ziemlich für das ganze katholische Westeuropa gegolten hat. Die fortwährenden innern und äußern Kriege, deren regelmäßige Folge Konfiskationen von Grund und Boden waren, ruinierten große Mengen von Bauern, so daß schon zur Merowingerzeit es sehr viele freie Leute ohne Grundbesitz gab. Die unaufhörlichen Kriege Karls des Großen brachen die Hauptkraft des freien Bauernstandes. Ursprünglich war jeder freie Grundbesitzer dienstpflichtig und mußte nicht nur sich selbst ausrüsten, sondern auch sich selbst sechs Monate lang im Kriegsdienst verpflegen. Kein Wunder, daß schon zu Karls Zeiten kaum der fünfte Mann wirklich eingestellt werden konnte. Unter der wüsten Wirtschaft seinerNachfolgerging es mit der Bauernfreiheit noch rascher bergab. Einerseits zwang die Not der Normannenzüge, die ewigen Kriege der Könige und Fehden der Großen einen freien Bauern nach dem andern, sich einen Schutzherrn zu suchen. Andrerseits beschleunigte die Habgier derselben Großen und der Kirche diesen Prozeß; mit List, Versprechungen, Drohungen, Gewalt brachten sie noch mehr Bauern und Bauernland unter ihre Gewalt. Im einen wie im andern Fall war das Bauernland in Herrenland verwandelt und wurde höchstens den Bauern zur Nutzung gegen Zins und Fron zurückgegeben. Der Bauer aber war aus einem freien Grundbesitzer in einen zinszahlenden und fronenden Hörigen oder gar Leibeignen verwandelt. Im westfränkischen Reich, überhaupt westlich vom Rhein, war dies die Regel. Östlich vom Rhein erhielt sich dagegen noch eine größte Anzahl freier Bauern, meist zerstreut, seltner in ganzen freien Dörfern vereinigt. Doch auch hier drückte im 10. bis 12. Jahrhunden die Obermacht des Adels und der Kirche immer mehr Bauern in die Knechtschaft hinab. Wenn ein Gutsherr- geistlich oder weltlich- ein Bauerngut erwarb, so erwarb er damit auch die zum Gut gehörige Gerechtigkeit in der Mark. Die neuen Grundherren wurden so Markgenossen, den übrigen freien und hörigen Genossen, selbst ihren eignen Leibeignen, innerhalb der Mark ursprünglich nur gleichberechtigt. Aber bald erwarben sie, trotzdes zähen Widerstands der Bauern, an vielen Orten Vorrechte in der Mark und konnten diese letztere oft sogar ihrer Grundherrschaft unterwerfen. Und dennoch dauerte die alte Markgenossenschaft fort, wenn auch unter herrschaftlicher Obervormundschaft. Wie unumgänglich nötig damals noch die Markverfassung für den Ackerbau, selbst für den Großgrundbesitz war, beweist am schlagendsten die Kolonisierung von Brandenburg und Schlesien durch friesische, niederländische, sächsische und rheinfrankisehe Ansiedler. Die Leute wurden, vom 12. Jahrhundert an, auf Herrenland dorfweise angesiedelt, und zwar nach deutschem Recht, d.h. nach dem alten Markrecht, soweit es sich auf herrschaftlichen Höfen erhalten hatte. Jeder bekam Haus und Hof, einen für alle gleich großen, nach alter Art durchs Los bestimmten Anteil in der Dorfflur und die Nutzungsgerechtigkeit an Wald und Weide, meist im grundherrliehen Wald, seltner in besondrer Mark. Alles dies erblich; das Grundeigentum verblieb dem Herrn, dem die Kolonisten bestimmte Zinse und Dienste erblich schuldeten. Aber diese Leistungen waren so mäßig, daß die Bauern hier sich besser

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standen als irgendwo in Deutschland. Sie blieben daher auch ruhig, als der Bauernkrieg ausbrach. Für diesen Abfall von ihrer eignen Sache wun:len sie denn auch hart gezüchtigt. Überhaupt trat um die Mitte des 13.Jahrhundens eine entschiedne Wendung zugunsten der Bauern ein; vorgearbeitet hatten die Kreuzzüge. Viele der ausziehenden Grundherren ließen ihre Bauern ausdrücklich frei. Andere sind gestorben, verdorben, Hundene von Adelsgeschlechtern verschwunden, deren Bauern ebenfalls häufig die Freiheit erlangten. Nun kam dazu, daß mit den steigenden Bedürfnissen der Grundherren das Kommando über die Leistungen der Bauern weil wichtiger wurde als das über ihre Personen. Die Leibeigenschaft des frühem Mittelalters, die noch viel von der alten Sklaverei an sich hatte, gab den Herren Rechte, die mehr und mehr ihren Wen verloren; sie schlief allmählich ein, die Stellung der Leibeignen näherte sich der der bloßen Hörigen. Da der Betrieb des Landbaus ganz der alte blieb, so war Vermehrung der gutsherrliehen Einkünfte nur zu erlangen durch Umbruch von Neuland, Anlage neuer Dörfer. Das war aber nur erreichbar durch gütliche Übereinkunft mit den Kolonisten, gleichviel ob sie Gutshörige oder Fremde waren. Daher finden wir um diese Zeit überall scharfe Festsetzung der bäuerlichen, meist mäßigen Leistungen und gute Behandlung der Bauern, namentlich auf den Herrschafteil der Geistlichkeit. Und endlich wirkte die günstige Stellung der neu herbei gewgnen Kolonisten wieder zurück auf die Lage der benachbarten Hörigen, so daß auch diese in ganz Non:ldeutschland bei Fortdauer ihrer Leistungen an den Gutsherrn ihre persönliche Freiheil erhielten. Nur die slawischen und litauisch-preußischen Bauern blieben unfrei. Allein, das alles sollte rticht lange dauern. Im 14. und 15. Jahrhundert waren die Städte rasch emporgekommen und reich geworden. Ihr Kunstgewerbe und Luxus blühte namentlich in Süddeutschland und am Rhein. Die Üppigkeit der städtischen Patrizier ließ den grobgenährten, grobgekleideten, plumpmöblierten Landjunker, nicht ruhig schlafen. Aber woher die schönen Sachen erhalten? Das Wegelagern wurde immer gefährlicher und erfolgloser. Zum Kaufen aber gehörte Geld. Und das konnte nur der Bauer schaffen. Daher erneuerter Druck auf die Bauern, gesteigene Zinsen und Fronden, erneuerter, stets beschleunigter Eifer, die freien Bauern zu Hörigen, die Hörigen zu Leibeignen herabzudrücken und das gemeine Markland in Herrenland umzuwandeln. Dazu halfen den Landesherren und Adligen die römischen Juristen, die mit ihrer Anwendung römischer Rechtssätze auf deutsche, meist unverstandne Verhältnisse eine grenzenlose Verwirrung anzurichten, aber doch so anzurichten verstanden, daß der Herr stets dadurch gewann und der Bauer stets verlor. Die geistlichen Herren halfen sich einfacher: Sie fälschten Urkunden, worin die Rechte der Bauern verkürzt und ihre POichten gesteigen wurden. Gegen diese Räubereien von Landesherren, Adel und Pfaffen erhoben sich seit Ende des 15. Jahrhunderts die Bauern in häufigen Einzelaufständen, bis 1525 der große Bauernkrieg Schwaben, Bayern, Franken bis ins Elsaß, die Pfalz, den Rheingau und Thüringen hinein überflutete. Die Bauern erlagen nach harten Kämpfen. Von da an datiert das erneuerte allgemeine Vorherrschen der Leibeigenschaft unter den deutschen Bauern. In den Gegenden, wo der Kampf gewütet hatte, wun:len nun alle noch gebliebnen Rechte der Bauern schamlos zertreten, ihre Gemeinland in Herrenland verwandelt, sie selbst in Leibeigne. Und zum Dank dafür, daß die bessergestellten norddeutschen Bauern ruhig geblieben, verfielen sie, nur langsamer, derselben Unterdrückung. Die Leibeigenschaft deutscher Bauern wird in Ostpreußen, Pommern, Brandenburg, Schlesien seit Mitte, in Schleswig-Holstein seit Ende des 16. Jahrhunderts eingeführt und immer allgemeiner den Bauern aufgenötigt. Diese neue Vergewaltigung hatte dazu noch einen ökonomischen Grund. Aus den Kämpfen der Reformationszeit hauen allein die deutschen Landesfürsten vermehrte Macht gewonnen. Mit dem edlen Räuberhandwerk des Adels war es nun aus. Wollte er rtichl unlergehn, so mußte er aus seinem Grundbesitz mehr Einkünfte herausschlagen. Der einzige Weg aber war der, nach dem Vorbild der größern Landesherren und namentlich der Klöster, wenigstens einen Teil dieses Besitzes für eigne Rechnung zu bewinschaften. Was bisher nur Ausnahme, wurde jetzt Bedürfnis. Aber dieserneuen Betriebsweise stand im Wege, daß der Boden fast überall an die Zinsbauern ausgegeben war. Indem die freien oder hörigen Zinsbauern in volle Leibeigne verwandelt wurden, bekam der gnädige Herr freie Hand. Ein Teil der Bauern wurde, wie der Kunstausdruck lautet, "gelegt", d.h. entweder weggejagt oder zu Kotsassen mit bloßer Hüne und etwas Gartenland degradiert, ihre Hofgüter zu einem großen Herrenhofgut zusammengeschlagen und von den neucn Kotsassen und noch übriggebliebnen Bauern im Frondienst bebaut. Nicht nur wun:len so eine Menge Bauern einfach ven:lrängt, sondern die Frondienste der noch übrigen bedeutend, und zwar immer mehr, gesteigert. Die kapitalistische Periode kündete sich an auf dem Lande als Periode des JandwinschaftJichen Großbetriebs auf Grundlage der leibeignen Fronarbeit.

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Diese Umwandlung vollzog sich indes anfangs noch ziemlich langsam. Da kam der Dreißigjährige Krieg. Während eines ganzen Menschenalters wurde Deutschland die Kreuz und Quer durchwgen von der zuchtlosesten Soldateska, die die Geschichte kennt. Oberall wurde gebrandschatzt, geplünden, gesengt, genotzüchtigt, gemordet. Am meisten litt der Bauer da, wo abseits der großen Heere die kleinem Freischaren oder vielmehr Freibeuter auf eigne Faust und für eigne Rechnung hantienen. Die Verwüstung und Entvölkerung war grenzenlos. Als der Friede kam, lag Deutschland hülflos, zertreten, zerfetzt, blutend am Boden; am elendesten aber war wieder der Bauer. Der grundbesitzende Adel wurde nun alleiniger Herr auf dem Lande. Die Fürsten, die seine politischen Rechte in den Ständeversammlungen gerade damals vernichteten, ließen ihm dafür freie Hand gegen die Bauern. Die letzte Widerstandskraft der Bauern aber war durch den Krieg gebrochen. So konnte der Adel alle ländlichen Verhältnisse so einrichten, wie es zur Wiederherstellung seiner ruinienen Finanzen am passendsten war. Nicht nur wurden die verlaßneo Bauernhöfe kurzerhand mit dem Herrenhofgut vereinigt; das Bauernlegen wurde erst, jetzt im großen und systematisch betrieben. Je großer das herrschaftliche Hofgut, desto großer natürlich die Frondienste der Bauern. Die zeitder "ungemeßnen Dienste" brach wieder an; der gnädige Herr konnte den Bauern, seine Familie, sein Vieh zur Arbeit kommandieren, so oft und so lange es ihm gefiel. Die Leibeigenschaft wurde jetzt allgemein; ein freier Bauer war nun so selten wie ein weißer Rabe. Und damit der gnädige Herr imstande sei, jeden, auch den geringsten Widerstand der Bauern im Keim zu ersticken, erhielt er vom Landesfürsten die Patrimonialgerichtsbarkeit, d.h. er wurde zum alleinigen Richter ernannt für alle kleinem Vergehen und Streitigkeiten der Bauern, selbst wenn ein Bauer mit ihm, dem Herrn, im Streit, der Herr also Richter in eigner Sache war! Von da an herrschten auf dem Lande Stock und Peitsche. Wie das ganze Deutschland, so war der deutsche Bauer bei seiner tiefsten Erniedrigung angekommen. Wie ganz Deutschland, so war auch der Bauer so kraftlos geworden, daß alle Selbsthülfe versagte, daß Rettung nur von außen kommen konnte. Und sie kam. Mit der französischen Revolution brach auch für Deutschland und den deutschen Bauer die Morgenröte einer bessern zeil an. Kaum hatten die Revolutionsarmeen das linke Rheinufer eroben, so verschwand don der ganze alte Plunder von Frondiensten, Zins, Abgaben aller An an den gnädigen Herrn, mitsamt diesem selbst, wie durch einen Zauberschlag. Der linksrheinische Bauer war nun Herr auf seinem Besitz und erhielt obendrein in dem zur Revolutionszeit entworfnen, von Napoleon nur verhunzten Code civil ein Gesetzbuch, das seinerneuen Lage angepaßt war und das er nicht nur verstehn, sondern auch bequem in der Tasche tragen konnte. Aber der rechtsrheinische Bauer mußte noch lange wanen. Zwar wurden in Preußen, nach der wohlverdienten Niederlage von Jena, einige der allerschmählichsten Adelsrechte abgeschafft und die sogenannte Ablösung der übrigen bäuerlichen Lasten gesetzlich ermöglicht. Aber das stand größtenteils und lange zeit bloß auf dem Papier. In den übrigen Staaten geschah noch weniger. Es bedurfte einer zweiten französischen Revolution 1830, um wenigstens in Baden und einigen andcm Frankreich benachbanen Kleinstaaten die Ablösung in Gang zu bringen. Und als die dritte französische Revolution 1848 endlich auch Deutschland mit sich fonriß, da war die Ablösung in Preußen noch lange nicht fenig und in Bayern noch garnicht angefangen! jetzt ging es freilich rascher; die Fronarbeit der diesmal selbst rebellisch gewordnen Bauern hatte eben allen Wen verloren. Und worin bestand diese Ablösung? Dafür, daß der gnädige Herr eine bestimmte Summe in Geld oder ein Stück Land sich vom Bauern abtreten ließ, dafür sollte er nunmehr den noch übrigen Boden des Bauern als dessen freies, unbelastetes Eigentum anerkennen - wo doch die sämtlichen, dem gnädigen Herrn schon früher gehörigen Ländereien nichts waren als gestohlnes Bauemland! Damit nicht genug. Bei der Auseinandersetzung hielten natürlich die damit beauftragten Beamten fast regelmäßig mit dem gnädigen Herrn, bei dem sie wohnten und kneipten, so daß die Bauern selbst gegen den Wortlaut des Gesetzes noch ganz kolossal übervoneilt wurden. Und so sind wir denn endlich, dank drei französischen Revolutionen und einer deutschen, dahin gekommen, daß wir wieder freie Bauern haben. Aber wie sehr steht unser heutiger freier Bauer zurück gegen den freien Markgenossen der alten zeit! Sein Hofgut ist meist weit kleiner, und die ungeteilte Mark ist bis auf wenige, sehr verkleinene und verkommne Gemeindewaldungen dahin. Ohne Marknutzung aber kein Vieh für den Kleinbauern, ohne Vieh kein Dünger, ohne Dünger kein rationeller Ackerbau. Der Steuereinnehmer und der hinter ihm drohende Gerichtsvollzieher, die der heutige Bauer nur zu gut kennt, waren dem alten Markgenossen unbekannte Leute, ebenso wie der Hypothekarwucherer, dessen Krallen ein Bauerngut nach dem andem verfällt. Und was das beste ist:

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Diese neuen freien Bauern, deren Güter und deren Flügel so sehr beschnitten sind, wurden in Deutschland, wo alles zu spät geschieht, geschaffen zu einer Zeit, wo nicht nur die wissenschaftliche Landwirtschaft, sondern auch schon die neuerfundnen landwirtschaftlichen Maschinen den Kleinbetrieb mehr und mehr zu einer veralteten, nicht mehr lebensfähigen Betriebsweise machen. Wie die mechanische Spinnerei und Weberei das Spinnrad und den Handwebstuhl, so müssen diese neuen landwirtschaftlichen Produktionsmethoden die ländliche Parzellenwirtschaft rettungslos vernichten und dun:h das große Grundeigentum ersetzen, falls ihnen dazu die nötige Zeit vergönnt wird. Denn schon droht dem ganzen europäischen Ackerbau, wie er heute betrieben wird, ein übermächtiger Nebenbuhler in der amerikanischen Massenproduktion von Getreide. Gegen diesen von der Natur selbst urbar gemachten und auf eine lange Reihe von Jahren gedüngten Boden, der um ein Spottgeld zu haben ist, können weder unsere verschuldeten Kleinbauern noch unsre ebenso tief in Schulden steckenden Großgrundbesitzer ankämpfen. Die ganze europäische landwirtschaftliche Betriebsweise erliegt vor der amerikanischen Konkurrenz. Ackerbau in Europa bleibt möglich nur, wenn er gesellschaftlich betrieben wird und für Rechnung der Gesellschaft. Das sind die Aussichten für unsre Bauern. Und das Gute hat die Herstellung einer, wenn auch verkümmerten, freien Bauernklasse gehabt, daß sie den Bauer in eine Lage versetzt hat, in der er- mit dem Beistand seiner natürlichen Bundesgenossen, der Arbeiter- sich selbst helfen kann, sobald er nur begreifen will, wie. 2 Aber wie?- Dun:h eine Wiedergeburt der Mark, aber nicht in ihrer alten, überlebten, sondern in einer verjüngten Gestalt; durch eine solche Erneuerung der Bodengemeinschaft, daß diese den kleinbäuerlichen Genossen nicht nur alle Vorteile des Großbetriebs und der Anwendung der landwirtschaftlichen Maschinerie zuwendet, sondern ihnen auch die Mittel bietet, neben dem Ackerbau Großindustrie mit Dampf- oder Wasserkraft zu betreiben, und zwar für Rechnung nicht von Kapitalisten, sondern für Rechnung der Genossenschaft. Ackerbau im großen und Benutzung der landwirtschaftlichen Maschinerie - das heißt mit anderen Worten: Überflüssigmachung der landwirtschaftlichen Arbeit des größten Teils der Kleinbauern, die jetzt ihre Felder selbst bestellen. Damit diese vom Feldbau verdrängten Leute nicht arbeitslos bleiben oder in die Städte gedrängt werden, dazu gehört industrielle Beschäftigung auf dem Lande selbst, und diese kann nur vorteilhaft für sie betrieben werden im großen, mit Dampf- oder Wasserkraft. Wie das einrichten? Darüber denkt einmal nach, deutsche Bauern. Wer euch dabei allein beistehen kann, das sind - die Sozialdemokraten.

G. Stellung der Bauernschaft Zitat aus: Engels, F .: Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland (November 1894 ), S. 498-505, in: Marx!Engels Werke, Bd. 22, Berlin 1963, S. 483ft. In einem Punkt haben unsre französischen Genossen unbedingt recht: gegen den IGeinbauer ist in Frankreich keine dauernde Umwälzung möglich. Nur scheint mir, daß, um dem Bauern beizukommen. sie den Hebel nicht am richtigen Punkt angesetzt haben. Sie gehn, wie es scheint, darauf aus, den Kleinbauer von heute auf morgen, womöglich schon für die nächste allgemeine Wahl zu gewinnen. Das können sie nur zu erreichen hoffen dun:h sehr gewagte allgemeine Zusicherungen, zu deren Verteidigung sie genötigt sind, noch weit gewagtere theoretische Erwägungen vom Stapel zu lassen. Sieht man dann näher zu, so findet man, daß die allgemeinen Zusicherungen sich selbst widersprechen (ZUsage, einen ZUstand erhalten zu wollen, den nian selbst für unrettbar dem Untergang geweiht erklärt) und daß die einzelnen Maßregeln entweder ganz wirkungslos sind (Wuchergesetze) oder aber allgemeine Arbeiterforderungen oder solche, die auch dem Großgrundbesitz zugute kommen, oder endlich solche, deren Tragweite im Interesse des Kleinbauern keineswegs sehr bedeutend ist; so daß der direkt praktische Teil des Programms von selbst den ersten Den folgenden Teil fügte Engels 1883 in dem Bauernflugblatt hinzu

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verfehlten Anlauf berichtigt und die gefährlich aussehenden großen Worte der Molivierung auf ein tatsächlich unschuldiges Maß reduziert Sagen wir es grade heraus: Bei den aus seiner ganzen ökonomischen Lage, seiner Erziehung, seiner isolierten Lebensweise entspringenden und durch die bürgerliche Presse und die Großgrundbesitzer genährten Vorurteilen können wir die Masse der Kleinbauern von heute auf morgen nur gewinnen, wenn wir ihnen etwas versprechen, wovon wir selbst wissen, daß wir es nicht halten können. Wir müssen ihnen eben versprechen, ihren Besitz nicht nur gegen alle anstürmenden ökonomischen Mächte unter allen Umständen zu schützen, sondern auch ihn von den ihn schon jetzt bedrückenden Lasten zu befreien: den Pächter in einen freien Eigentümer zu verwandeln, dem der Hypothek erliegenden Eigentümer seine Schulden zu bezahlen. Könnten wir das, so wären wir wieder da, von wo aus der heutige ZUstand sich mit Notwendigkeit von neuem entwickelt. Wir hätten den Bauern nicht befreit, wir hätten ilun eine Galgenfrist verschafft. Es ist aber nicht unser Interesse, den Bauer von heute auf morgen zu gewinnen, damit er uns, wenn wir das Versprechen nicht halten können, von morgen auf übermorgen wieder abfällt. Wir können den Bauer, der uns zumutet, ihm sein Parzelleneigentum zu verewigen, nicht als Parteigenossen brauchen, ebensowenig wie den kleinen Handwerksmeister, der sich als Meister verewigen will. Diese Leute gehören zu den Antisemiten. Mögen sie zu diesen gehn, sich von diesen die Rettung ihres kleinen Betriebs versprechen lassen; haben sie dort erfahren, was es mit diesen glänzenden Phrasen auf sich hat und welche Melodien die Geigen spielen, von denen der antisemitische Himmel voll hängt, dann werden sie in stets wachsendem Maß einsehn, daß wir, die wir weniger versprechen und die Rettung in einer ganz andern Richtung suchen, daß wir doch die sichern Leute sind. Hätten die Franzosen, wie wir, eine lärmende antisemitische Demagogie, sie hätten den Fehler von Nantes schwerlich gemacht. Was ist denn unsre Stellung zur Kleinbauernschaft? Und wie werden wir mit ihr verfahren müssen am Tag, wo uns die Staatsmacht zufällt? Erstens ist der Satz des französischen Programms unbedingt richtig: daß wir den unvermeidlichen Untergang des Kleinbauern voraussehn, aber keineswegs berufen sind, ihn durch Eingriffe unsrerseits zu beschleunigen. Und zweitens ist es ebenso handgreiflich, daß, wenn wir im Besitz der Staatsmacht sind, wir nicht daran denken können, die Kleinbauern gewaltsam zu expropriieren (einerlei, ob mit oder ohne Entschädigung), wie wir dies mit den Großgrundbesitzern zu tun genötigt sind. Unsre Aufgabe gegenüber dem Kleinbauer besteht zunächst darin, seinen Privatbetrieb und Privatbesitz in einen genossenschaftlichen überzuleiten, nicht mit Gewalt, sondern durch Beispiel und Darbietung von gesellschaftlicher Hilfe zu diesem Zweck. Und da haben wir allerdings Mittel genug, um dem Kleinbauer Vorteile in Aussicht zu stellen, die ihm schon jetzt einleuchten müssen. Schon vor fast zwanzig Jahren haben die dänischen Sozialisten, die in ihrem Land nur eine eigentliche Stadt - Kopenhagen - besitzen, also außerhalb dieser fast nur auf Bauernpropaganda angewiesen sind, derartige Pläne entworfen. Die Bauern eines Dorfs oder Kirchspiels - es gibt in Dänemarlt viel große Einzelhöfe - sollten ihr Land zu einem großen Gut zusammenwerfen, es für gemeinsame Rechnung bebauen und den Ertrag nach Verhältnis der eingeschlossenen Bodenstücke, Geldvorschüsse und Arbeitsleistungen teilen. In Dänemarlt spielt der Kleinbesitz nur eine Nebenrolle. Wenden wir aber die Idee auf ein Parzellengebiet an, so werden wir finden, daß beim Zusammenwerfen der Parzellen und Großkultur ihrer Gesamtfläche ein Teil der bisher beschäftigten Arbeitskräfte überflüssig wird; in dieser Arbeitsersparnis liegt ja gerade einer der Hauptvorteile der Großkultur. Für diese Arbeitskräfte kann Beschäftigung gefunden werden auf zwei Wegen. Entweder man stellt der Bauerngenossenschaft weitere Landstrecken zur Verfügung aus benachbarten großen Gütern; oder aber man verschafft ihnen die Mittel und Gelegenheit zu industrieller Nebenarbeit, möglichst und vorwiegend für eigenen Gebrauch. In beiden Fällen stellt man sie in eine ökonomisch bessere Lage und sichert gleichzeitig der allgemein-gesellschaftlichen Leitung den nötigen Einfluß, um die Bauerngenossenschaft allmählich in eine höhere Form überzuführen und die Rechte und Pflichten sowohl der Genossenschaft im ganzen wie ihrer einzelnen Mitglieder mit denen der übrigen Zweige der großen Gemeinschaft auszugleichen. Wie das im einzelnen in jedem Spezialfall auszuführen, wird von den Umständen des Falls und von den Umständen abhängen, unter denen wir Besitz von der öffentlichen Gewalt ergreifen. So werden wir möglicherweise imstande sein, diesen Genossenschaften noch weitere Vorteile zu bieten: Übernahme ihrer Gesamthypothekenschuld durch die Nationalbank unter starker Zinsherabsetzung, Vorschüsse aus öffentlichen Mitteln zur Einrichtung des Großbetriebs (Vor-

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schüsse nicht notwendig oder vorzugsweise in Geld, sondern in den nötigen Produkten selbst: Maschinen, Kunstdünger etc.) und noch andere Vorteile. Die Hauptsache bei alledem ist und bleibt die, den Bauern begreiflich zu machen, daß wir ihnen ihren Haus- und Feldbesitz nur retten, nur erhalten können durch Verwandlung in genossenschaftlichen Besitz und Betrieb. Es ist ja grade die durch den Einzelbesitz bedingte Einzelwirtschaft, die die Bauern dem Untergang zutreibt. Beharren sie auf dem Einzelbetrieb, so werden sie unvermeidlich von Haus und Hof verjagt, ihre veraltete Produktionsweise durch den kapitalistischen Großbetrieb verdrängt. So liegt die Sache; und da kommen wir und bieten den Bauern die Möglichkeit, den Großbetrieb selbst einzuführen, nicht für kapitalistische, sondern für ihre eigne gemeinsame Rechnung. Daß dies in ihrem eignen Interesse, daß es ihr einziges Rettungsmittel ist, das sollte den Bauern nicht begreiflich zu machen sein? Wir können nun und nimmermehr den Parzellenbauern die Erhaltung des Einzeleigentums und des Einzelbetriebs gegen die Obermacht der kapitalistischen Produktion versprechen. Wir können ihnen nur versprechen, daß wir nicht wider ihren Willen in ihre Eigentumsverhältnisse eingreifen werden. Wir können ferner dafür eintreten, daß der Kampf der Kapitalisten und Großgrundbesitzer gegen die Kleinbauern schon heute mit möglichst wenig unrechtliehen Mitteln geführt und direkter Raub oder Prellerei, wie sie nur zu häufig vorkommen, möglichst verhindert wird. Das wird nur ausnahmsweise gelingen. In der entwickelten kapitalistischen Produktionsweise weiß kein Mensch, wo die Ehrlichkeit aufhört und die Prellerei anfängt. Aber es wird immer einen bedeutenden Unterschied machen, ob die öffentliche Gewalt auf Seite des Prellers oder des Geprellten steht. Und wir stehn ja entschieden auf Seite des Kleinbauern; wir werden alles nur irgend Zulässige tun, um sein Los erträglicher zu machen, um ihm den Übergang zur Genossenschaft zu erleichtern, falls er sich dazu entschließt, ja sogar um ihm, falls er diesen Entschluß noch nicht fassen kann, eine verlängerte Bedenkzeit auf seiner Parzelle zu ermöglichen. Wir tun dies nicht nur, weil wir den selbstarbeitenden Kleinbauer als virtuell zu uns gehörend betrachten, sondern auch aus direktem Parteiinteresse. Je größer die Anzahl der Bauern ist, denen wir den wirklichen Absturz ins Proletariat ersparen, die wir schon als Bauern für uns gewinnen können, desto rascher und leichter vollzieht sich die gesellschaftliche Umgestaltung. Es kann uns nicht dienen, wenn wir mit dieser Umgestaltung warten müßten, bis die kapitalistische Produktion sich überall bis auf ihre letzten Konsequenzen entwickelt hat, bis auch der letzte Kleinhandwerker und der letzte Kleinbauer dem kapitalistlischen Großbetrieb zum Opfer gefallen sind. Die materiellen Opfer, die in diesem Sinn im Interesse der Bauern aus öffentlichen Mitteln zu bringen sind, können vom Standpunkt der kapitalistischen Ökonomie aus nur als weggeworfenes Geld erscheinen, aber sie sind trotzdem eine vortreffliche Anlage, denn sie ersparen vielleicht den zehnfachen Betrag bei den Kosten der gesellschaftlichen Reorganisation überhaupt. In diesem Sinn können wir also sehr liberal mit den Bauern verfahren. Auf einzelnes einzugehn, bestimmte Vorschläge in dieser Richtung zu machen. ist hier nicht der Ort; es kann sich hier nur um die allgemeinen Grundzüge handeln. Hiernach also können wir nicht nur der Partei, sondern auch den Kleinbauern selbst keinen schlimmeren Dienst erweisen, als durch Zusagen, die auch nur den Schein erwecken, wir beabsichtigten die dauernde Erhaltung des Parzelleneigentums. Das hieße den Bauern direkt den Weg zu ihrer Befreiung versperren und die Partei herabwürdigen auf das Niveau des Radau-Antisemitismus. Im Gegenteil. Es ist die Pflicht unsrer Partei, den Bauern immer und immer wieder die absolute Rettungslosigkeit ihrer Lage, solange der Kapitalismus herrscht, klarzumachen, die absolute Unmöglichkeit, ihnen ihr Parzelleneigentum als solches zu erhalten, die absolute Gewißheit, daß die kapitalistische Großproduktion über ihren machtlosen veralteten Kleinbetrieb hinweggehn wird wie ein Eisenbahnzug über eine Schubkarre. Tun wir das, so handeln wir im Sinne der unvermeidlichen ökonomischen Entwicklung, und diese wird den Kleinbauern schon offne Köpfe machen für unsere Worte. Im übrigen kann ich diesen Gegenstand nicht verlassen, ohne die Überzeugung auszusprechen, daß auch die Verfasserdes Programms von Nantes im wesentlichen mit mirderselben Ansicht sind. Sie sind viel zu einsichtig, um nicht zu wissen, daß auch das jetzt im Parzelleneigentum befmdliche Landgebiet bestimmt ist, in Gemeinbesitz überzugehn. Sie selbst geben zu, daß das Parzelleneigentum berufen ist zu verschwinden. Das von Lafargue verfaßte Referat des Nationalrats auf dem Kongreß von Nantes bestätigt denn auch diese Ansicht vollauf. Es ist deutsch veröffentlicht im Berliner "Sozialdemokrat" vom 18. Oktober d.J. Das Widerspruchsvolle in der Ausdrucksweise des Programms von Nantes verrät schon, daß das, was die Verfasser wirklich sagen, nicht das ist, was sie zu sagen beabsichtigen. Werden

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sie nicht verstanden und ihre Aussage gemißbraucht, wie das in der Tat schon geschehen ist, so ist das allerdings ihre eigne Schuld. Jedenfalls werden sie ihr Programm näher erklären und wird der nächste französische Kongreß es gründlich revidieren müssen. Kommen wir nun zu den größten Bauern. Hier findet sich infolge hauptsächlich von Erbteilungen, aber auch von Verschuldung und Zwangsverkäufen von Land, eine ganze Musterkarte von Zwischenstufen vom Parzellenbauer bis zum Großbauer, der seine volle alte Hufe und selbst darüber besitzt Wo der Mittelbauer unter Parzellenbauern wohnt, wird er in seinen Interessen und Anschauungen sich von diesen nicht wesentlich unterscheiden; muß ihm doch die eigne Erfahrung sagen, wie viele seinesgleichen schon zu Kleinbauern herabgesunken sind. Wo aber Mittel- und Großbauern vorherrschen und der Winschaftsbetrieb allgemein die Hilfe von Knechten und Mägden erfordert, da steht die Sache ganz anders. Eine Arbeiterpartei hat natürlich in erster Linie für die Lohnarbeiter einzutreten. also für die Knechte, Mägde und Taglöhner; es verbietet sich ihr damit von selbst, den Bauern irgendwelche Versprechungen zu machen, die die Fondauer der Lohnknechtschaft der Arbeiter einschließen. Solange aber die Groß- und Mittelbauern als solche fortbestehn, solange können sie ohne Lohnarbeiter nicht auskommen. Ist es also von unsrer Seite eine einfache Torheit, den Parzellenbauern ihre dauernde Fonexistenz als Parzellenbauern in Aussicht zu stellen, so grenzte es schon direkt an Verrat, wollten wir den Groß- und Mittelbauern dasselbe versprechen. Wir haben hier wieder die Parallele mit den Handwerkern der Städte. Sie sind zwar schon mehr dem Ruin verfallen als die Bauern, aber es gibt doch auch noch welche, die neben Lehrlingen Gesellen beschäftigen oder bei denen Lehrlinge Gesellenarbeit tun. Diejenigen dieser Handwerksmeister, die als solche sich verewigen wollen, mögen zu den Antisemiten gehn, bis sie sich überzeugt haben, daß ihnen auch dort nicht geholfen wird. Die übrigen, die die Unvermeidlichkeil des Untergangs ihrer Produktionsweise eingesehn, kommen zu uns, sind aber auch bereit, in der Zukunft das Schicksal zu teilen, das allen andem Arbeitern bevorsteht. Nicht anders mit den Groß- und Mittelbauem. Ihre Knechte, Mägde und Taglöhner interessieren uns selbstredend mehr als sie. Wollen diese Bauern die Garantie der Fortdauer ihres Betriebs, so können wir ihnen das absolut nicht bieten. Ihr Platz ist dann bei den Antisemiten, Bauembündlem und dergleichen Parteien, die sich ein Vergnügen daraus machen, alles zu versprechen und nichts zu halten. Wir haben die ökonomische Gewißheit, daß auch der Groß- und Mittelbauer vor der Konkurrenz des kapitalistischen Betriebs und der wohlfeilen überseeischen Komproduktion unfehlbar erliegen muß, wie die wachsende Verschuldung und der überall sichtbare Verfall auch dieser Bauern beweist. Wir können gegen diesen Verfall nichts tun, als auch hier die Zusammenlegung der Güter zu genossenschaftlichen Betrieben empfehlen, bei denen die Ausbeutung der Lohnarbeit mehr und mehr beseitigt und die allmähliche Verwandlung in gleichberechtigte und gleichverpflichtete Zweige der großen nationalen Produktionsgenossenschaft eingeleitet werden kann. Sehen diese Bauern die Unvermeidlichkeil des Untergangs ihrer jetzigen Produktionsweise ein, ziehen sie die notwendigen Konsequenzen daraus, so kommen sie zu uns, und es wird unsres Amtes sein, auch ihnen den Übergang in die veränderte Produktionsweise nach Kräften zu erleichtern. Andernfalls müssen wir sie ihrem Schicksal überlassen und uns an ihre Lohnarbeiter wenden, bei denen wir schon Anklang finden werden. Von einer gewaltsamen Expropriation werden wir auch hier wahrscheinlich absehen und im übrigen darauf rechnen können, daß die ökonomische Entwicklung auch diese härteren Schädel der Vernunft zugänglich machen wird. Ganz einfach liegt die Sache nur beim Großgrundbesitz. Hier haben wir unverhüllten kapitalistischen Betrieb, und da gelten keine Skrupel irgendwelcher An. Wir haben hier Landproletarier in Massen vor uns, und unsre Aufgabe ist klar. Sobald unsre Partei im Besitz der Staatsmacht ist, hat sie die Großgrundbesitzer einfach zu expropriieren, ganz wie die industriellen Fabrikanten. Ob diese Expropriation mit oder ohne Entschädigung erfolgt, wird großenteils nicht von uns abhängen, sondern von den Umständen, unter denen wir in den Besitz der Macht kommen, und namentlich auch von der Haltung der Herren Großgrundbesitzer selbst. Eine Entschädigung sehen wir keineswegs unter allen Umständen als unzulässig an; Marx hat mir- wie oft! - als seine Ansicht ausgesprochen, wir kämen am wohlfeilsten weg, wenn wir die ganze Bande auskaufen könnten. Doch das geht uns hier nichts an. Die so der Gesamtheit zurückgegebenen großen Güter hätten wir den sie schon jetzt bebauenden, in Genossenschaften zu organisierenden Landarbeitern zur Benutzung unter Kontrolle der Gesamtheit zu überlassen. Unter welchen Modalitäten, darüber läßt sich jetzt noch nichts feststellen. Jedenfalls ist die Verwandlung des kapitalistischen Betriebs in gesellschaftlichen hier schon vollständig vorbereitet und kann über Nacht vollzogen werden, ganz wie z.B. bei Herrn Krupps oder Herrn von Stumms Fabrik.

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Und das Beispiel dieser Ackerbaugenossenschaften würde auch die letzten etwa noch widerstrebenden Parzellenbauern und wohl auch manche Großbauern von den Vorteilen des genossenschaftlichen Großbetriebs überzeugen. Hier also können wir den Landproletariern eine Aussicht eröffnen, ebenso glänzend wie die, welche dem Industriearbeiter winkt. Und hiermit die Landarbeiter des ostelbischen Preußens zu erobern, kann für uns nur eine Frage der Zeit, und zwar der kürzesten, sein. Haben wir aber die ostelbischen Landarbeiter, so weht sofort in ganz Deutschland ein anderer Wind. Die tatsächliche halbe Leibeigenschaft der ostelbischen Landarbeiter ist die Hauptgrundlage der preußischen Junkerherrschaft und damit der spezifisch preußischen Oberherrschaft in Deutschland. Es sind die ostelbischen, mehr und mehr der Verschuldung, Verarmung, dem Schmarotzertum auf Staats- und Privatkosten verfallenden und ebendeshalb um so gewaltsamer sich an ihre Herrschaft ankrallenden Junker, die den spezifisch preußischen Charakter der Bürokratie wie des Offizierskorps der Armee geschaffen haben und erhalten; deren Hochmut, Beschränktheit und Arroganz das Deutsche Reich preußischer Nation im Inland - bei aller Einsicht in seine augenblickliche Unvermeidlichkeit als derzeit eim;ig erlangbarc Form der nationalen Einheit - so verhaßt und im Ausland, trotz aller glänzenden Siege, so wenig respektiert gemacht haben. Die Macht dieser Junker beruht darauf, daß sie in dem geschlossenen Gebiet der sieben altpreußischen Provinzen - also etwa einem Drittel des ganzen Reichsgebiets - über den Grundbesitz verfügen, der hier die gesellschaftliche und politische Macht mit sich führt, und nicht nur über den Grundbesitz, sondern vermittelst der Rübenzuckerfabriken und Schnapsbrennereien auch über die bedeutendsten Industrien dieses Gebiets. Weder die Großgrundbesitzer des übrigen Deutschlands noch die Großindustriellen sind in einer ähnlich günstigen Lage; über ein geschlossenes Königreich verfügen weder diese noch jene. Beide sind über weite Strecken zerstreut und miteinander wie mit andern sie umgebenden gesellschaftlichen Elementen in Konkurrenz um die ökonomische und politische Vormacht Aber diese Machtstellung der preußischen Junker verliert mehr und mehr ihre ökonomische Unterläge. Die Verschuldung und Auspowerung greift auch hiertrotzaller Staatshilfe (und seit Friedrich II. gehört diese in jedes regelrechte Junkerbudget) unaufhaltsam um sich; nur die durch Gesetzgebung und Gewohnheit sanktionierte tatsächliche halbe Leibeigenschaft und hierdurch ermöglichte grenzenlose Ausbeutung der Landarbeiter hält die versinkende Junkerschaft noch eben über Wasser. Werft den Samen der Sozialdemokratie unter diese Arbeiter, gebt ihnen den Mut und den Zusammenhalt, auf ihren Rechten zu bestehen, und es ist aus mit der JunkerherrlichkeiL Die große reaktionäre Macht, die für Deutschland dasselbe barbarische, erobernde Element repräsentiert wie der russische Zarismus für ganz Europa, sinkt in sich zusammen wie eine angestochne Blase. Die "Kernregimenter" der preußischen Armee werden sozialdemokratisch, und damit vollzieht sich eine Machtverschiebung, die eine ganze Umwälzung in ihrem Schoße trägt. Darum aber ist die Gewinnung der ostelbischen Landproletarier von weitaus größerer Wichtigkeit als die der westdeutschen Kleinbauern oder gar der süddeutschen Minelbauern. Hier, im ostelbischen Preußen, liegt unser entscheidendes Schlachtfeld, und deshalb wird Regierung und Junkerschaft alles aufbieten, uns hier den Zugang zu verschließen. Und wennes-wie man uns droht- zu neuen Gewaltmaßregeln kommen sollte zur Verhinderung der Ausbreitung unserer Partei, so wird dies geschehen vor allem, um das ostelbische Landproletariat vor unserer Propaganda zu schützen. Uns kann's gleich sein. Wir erobern es doch.

H. Produktivgenossenschaft auf Domänen Zitat aus: Engels, F. : EngelsanAugust Bebe/ inBerlin(20.Januar 1886), S. 425-426, in: Marx/Engels Werke, Bd. 36, Berlin 1967, S. 424ft ... Was meinen Vorschlag wegen der Produktivgenossenschaft auf Domänen anging, ~o hatte der nur den Zweck, der Majorität, die ja damals für die Dampfersubvention war, einen Ausweg zu zeigen, wie sie mit Anstand dagegen stimmen könne, aus der Sackgasse komme, in der sie festsaß. Er war aber meiner Ansicht nach prinzipiell durchaus korrekt. Ganz richtig, wir sollen nur durchführbare Vorschläge machen, wenn wir Positives vorschlagen. Aber durchführbar der Sache nach, einerlei, ob die bestehende Regierung es kann. Ich gehe noch weiter: wenn wir sozialistische, zum Sturz der kapitalistischen Produktion führende Maßregeln vorschlagen (wie diese), dann nur solche, die sachlich

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praktisch, aber für diese Regierung unmöglich sind. Denn diese Regierung versaut und verdirbt jede solche Maßregel, fühn sie nur durch, um sie zu ruinieren. Diesen Vorschlag aber fühn keine junkerliehe oder Bourgeoisregierung durch. Dem Landproletariat der Ostprovinzen den Weg zeigen, es selbst auf den Weg stellen, auf dem es die Junker- und Pächterausbeutung vernichten kann - gerade die Bevölkerung in die Bewegung zu ziehn, deren Verknechtung und Verdummung die Regimenter liefen, auf denen das ganze Preußen beruht, kurz, Preußen von innen, an der Wurzel kaputtmachen, das fällt ihnen nicht ein. Es ist dies eine Maßregel, die wir unter allen Umständen poussieren müssen, solange das große Grundeigentum don besteht, und die wir selbst durchführen müssen, sobald wir ans Ruder kommen: die Übenragung - pachtweise zunächst - der großen Güter an selbstwinschaftende Genossenschaften unter Staatsleitung und so, daß der Staat Eigentümer des Bodens bleibt. Die Maßregel hat aber den großen Voneil, daß sie praktisch durchführbar ist, der Sache nach, aber daß keine Panei außer uns sie in Angriff nehmen, also auch keine Panei sie verfum feien kann. Und damit allein ist Preußen kaputt, und je früher wir sie popularisieren, desto besser für uns. Die Sache hat weder mit Sch[ulze]-Delitzsch noch mit Lassalle zu tun. Beide proponienen kleine Genossenschaften, der eine mit, der andre ohne Staatshülfe, aber bei beiden sollten die Genossenschaften nicht in den Besitz schon bestehender Produktionsmittel kommen, sondern neben der bestehenden kapitalistischen Produktion eine neue genossenschaftliche herstellen. Mein Vorschlag verlangt Einrücken der Genossenschaften in die bestehende Produktion. Man soll ihnen Land geben, das sonst doch kapitalistisch ausgebeutet würde, wie die Pariser Kommune verlangte, die Arbeiter sollten die von den Fabrikanten stillgesetzten Fabriken genossenschaftlich betreiben. Das ist der große Unterschied. Und daß wir beim Übergang in die volle kommunistische Winschaft den genossenschaftlichen Betrieb als Mittelstufe in ausgedehntem Maß werden anwenden müssen, daranhaben Marx und ich nie gezweifelt. Nur muß die Sache so eingerichtet werden, daß die Gesellschaft, also zunächst der Staat, das Eigentum an den Produktionsmitteln behält und so die Sonderinteressen der Genossenschaft, gegenüber der Gesellschaft im ganzen, sich nicht festsetzen können. Daß das Reich keine Domänen hat, macht nichts aus; man kann die Form finden, ganz wie bei der Polendebatte, wo die Ausweisungen das Reich auch direkt nichts angingen ....

I. Kooperativfabriken Zitat aus: Marx, K.: Das Kapital, Bd.lll ( 1894), S. 456, in: Marx!Engels Werke, Bd. 25, Berlin 1964 . ... Oie Kooperativfabriken der Arbeiter selbst sind, innerhalb der alten Form, das erste Durchbrechen der alten Form, obgleich sie natürlich überall, in ihrer wirk.lichen Organisation, alle Mängel des bestehenden Systems reproduzieren und reproduzieren müssen. Aber der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit ist innerhalb derselben aufgehoben, wenn auch zuerst nur in der Form, daß die Arbeiter als Assoziation ihr eigner Kapitalist sind, d. h. die Produktionsmittel zur Verwenung ihrer eignen Arbeit verwenden. Sie zeigen, wie, auf einer gewissen Entwicklungsstufe der materiellen Produktivkräfte und der ihr entsprechenden gesellschaftlichen Produktionsformen, naturgemäß aus einer Produktionsweise sich eine neue Produktionsweise entwickelt und herausbildet. Ohne das aus der kapitalistischen Produktionsweise entspringende Fabriksystem könnte sich nicht die Kooperativfabrik entwickeln und ebensowenig ohne das aus derselben Produktionsweise entspringende Kreditsystem. Letztres, wie es die Hauptbasis bildet zur allmählichen Verwandlung der kapitalistischen Privatunternehmungen in kapitalistische Aktiengesellschaften, bietet ebensosehr die Mittel zur allmählichen Ausdehnung der Kooperativunternehmungen auf mehr oder minder nationaler Stufenleiter. Die kapitalistischen Aktienunternehmungen sind ebensosehr wie die Kooperativfabriken als Übergangsformen aus der kapitalistischen Produktionsweise in die assoziiene zu betrachten, nur daß in den einen der Gegensatz negativ, und in den andren positiv aufgehoben ist. ...

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Lenin-Texte A. Die Bauernschaft Zitat aus: Lenin, W.: Von der Volkstümlerrichtung zum Marxismus (1905), S: 72-74, in: Lenin Werke, Bd. 8, Berlin 1958, S. 70ff. ... Noch klarer wird die Volkstümlenheorie in den Betrachtungen über die Bauemsehaft sichtbar. Im ganzen Entwurf werden unterschiedslos die Worte Werktätige, Ausgebeutete, Arbeiterklasse, werktätige Masse, Klasse der Ausgebeuteten und Klassen der Ausgebeuteten gebraucht. Hätten die Verfasser wenigstens über diesen letzten, ihnen unversehens entschlüpften Ausdruck (Klassen) nachgedacht, so hätten sie begriffen, daß im Kapitalismus nicht nur die Proletarier, sondern auch die Kleinbürger arbeiten und ausgebeutet werden. Von unseren Sozialrevolutionären ist dasselbe zu sagen, was von den legalen Volkstümlem gesagt wurde: Ihnen blieb die Ehre vorbehalten, einen Kapitalismus ohne Kleinbürgertum zu entdecken, den es niemals gegeben hat. Sie sprechen von der werktätigen Bauemsehaft und verschließen dabei die Augen gegen die erwiesene, erforschte, statistisch belegte, beschriebene und wiedergekaute Tatsache, daß bei uns jetzt schon die bäuerliche Bourgeoisie das unbedingte Übergewicht in dieser werktätigen Bauemsehaft hat, daß die wohlhabende Bauemsehaft zwar ein Recht auf die Bezeichnung werktätige Bauemsehaft hat, aber dennoch nicht ohne Lohnarbeiter auskommt und schon jetzt über mehr als die Hälfte der Produktivkräfte der Bauemsehaft verfügt. Überaus kurios ist von diesem Standpunkt aus jene Aufgabe, die sich die Partei der Sozialrevolutionäre in ihrem Minimalprogramm stellt: "Im Interesse des Sozialismus und des Kampfes gegen die bürgerlichen Eigentumsprinzipien sind sowohl die in der Dorfgemeinde als auch allgemein im Arbeitsleben wurzelnden Anschauungen, Traditionen und Lebensformen der russischen Bauemschaft,insbesondere ihre Auffassung vom Grund und Boden als Gemeingut aller Werktätigen, auszunutzen." Diese Aufgabe scheint auf den ersten Blick ganz harmlos, eine rein akademische WiedemoJung der längst durch die Theorie und durch das Leben widerlegten Dorfgemeindeutopien. In Wirklichkeit aber haben wir es hier mit einer aktuellen politischen Frage zu tun, deren Lösung die russische Revolution in nächster zeit zu geben verspricht: Wer wird den anderen ausnutzen? wird die sich sozialistisch wähnende revolutionäre Intelligenz die im Arbeitsleben wurzelnden Anschauungen der Bauern im Interesse des Kampfes gegen die bürgerlichen Eigentumsprinzipien ausnutzen? oder werden die Bauern, die bürgerliche Eigentümer und zugleich Werktätige sind, die sozialistischen Phrasen der revolutionär-demokratischen Intelligenz im Interesse des Kampfes gegen den Sozialismus ausnutzen? Wir sind der Ansicht, daß sich (entgegen dem Willen und unabhängig vom Bewußtsein unserer Opponenten) die zweite Perspektive verwirklichen wird. Wir sind überzeugt. daß sie sich verwirklichen wird, denn zu neun zehntein ist sie bereits verwirklicht. Die aus "bürgerlichen Eigentümern" (die zugleich Werktätige sind) bestehende Bauemsehaft hat sich ja bereits die sozialistischen Phrasen der volkstümlerischen, demokratischen Intelligenz nutzbar gemacht, die mit ihren Artels und Genossenschaften, ihrem Futterkräuteranbau und ihren Pflügen, mit Semstwolagern und Banken die "Traditionen und Lebensformen der werktätigen Bauern" zu unterstützen wähnte. während sie in Wirklichkeit die Entwicklung des Kapitalismus innerhalb der Dorfgemeinde unterstützte. Die ökonomische Geschichte Rußlands hat also bereits bewiesen, was morgen von der politischen Geschichte Rußlands bewiesen werden wird. Und die ganze Aufgabe des klassenbewußten Proletariats besteht darin, daß es, ohne auf die Unterstützung der fortschrittlichen und revolutionären Bestrebungen der bürgerlichen werktätigen Bauemsehaft zu verzichten, dem Landproletarier die Unvermeidlichkeil seines morgigen Kampfes gegen diese Bauemsehaft klarmacht, ihm die wirklich sozialistischen Ziele klarmacht zum Unterschied von den bürgerlich-demokratischen Schwärmereien für die ausgleichende Bodennutzung. Zusammen mit der Dorfbourgeoisie gegen die Überreste der Leibeigenschaft, gegen die Selbstherrschaft, die Pfaffen, die Gutsbesitzer; zusammen mit dem städtischen Proletariat gegen die Bourgeoisie übertlaupt und gegen die Dorfbourgeoisie im besonderen - das ist die einzig richtige Losung des Landproletariers, das ist das einzig richtige Agrarprogramm der Sozialdemokratie

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Rußlands in der gegenwänigen Zeit. Ein soches Agrarprogramm wurde auch von unserem II. Paneitag angenommen. Zusammen mit der Dorfbourgeoisie für die Demokratie, zusammen mit dem städtischen Proletarier für den Sozialismus - diese Losung wird sich die Dorfarmut viel gründlicher zu eigen machen als die glänzenden, aber inhaltlosen trügerischen Losungen der volkstümleroden Sozialrevolutionäre....

B. Konsumgenossenschaften als Stückehen Sozialismus Zitat aus: Lenin, W.: Das letzte Wort der "iskristischen" Taktik oder eine Wahlkomödie als neuer Impuls, der zum Aufstand anregt ( 1905 ), S. 369-370, in: Lenin Werke, Bd. 9, Berlin 1957, S. 354ff. ... Ja, antworten die Revolutionäre, wir sind damit einverstanden, daß die Konsumgenossenschaften im gewissen Sinne ein Stückehen Sozialismus sind. Erstens ist die sozialistische Gesellschaft eine einzige große Konsumgenossenschaft mit planmäßig organisiener Produktion für die Konsumtion; zweitens kann man den Sozialismus ohne eine mächtige, vielseitige Arbeiterbewegung nicht verwirklichen, und eine dieser vielen Seiten bilden unbedingt die Konsumgenossenschaften. Aber das ist nicht das Entscheidende. Solange die Macht in den Händen der Bourgeoisie bleibt, solange bleiben die Konsumgenossenschaften ein klägliches Stückchen, das keine ernsten Änderungen velbürgt, keine entscheidenden Änderungen bewirkt, ja manchmal sogar vom ernsten Kampf für den Umsturz ablenkt. Die von den Arbeitern in den Konsumgenossenschaften gewonnenen Erfahrungen sind unbestreitbar sehr nützlich. Aber Spielraum für eine ernsthafte Verwertung dieser Erfahrungen kann nur der Übergang der Macht in die Hände des Proletariats schaffen. Dann wird das System der Konsumgenossenschaften auch über den Mehrwert verfügen können, während jetzt die Möglichkeit, von dieser nützlichen Einrichtung Gebrauch zu machen, durch die kärglichen Arbeitslöhne auf einen äußerst dürftigen Rahmen beschränkt ist. Dann wird das ein Konsumverband wirklich freier Arbeiter sein, während es jetzt ein Verband von Lohnsklaven ist, die vom Kapital niedergehalten und erdrückt werden. Ja, die Konsumgenossenschaften sind ein Stückehen Sozialismus. Der dialektische Prozeß der Entwicklung bringt wirklich schon im Schoße des Kapitalismus Elemente der neuen Gesellschaft hervor, sowohl materielle als auch geistige Elemente. Doch die Sozialisten müssen es verstehen, die Stückehen vom Ganzen zu unterscheiden, müssen das Ganze und nicht die Stückehen als Losung aufstellen. Sie müssen jenem Flickwerk, das die Kämpfer nicht selten vom wahrhaft revolutionären Weg abbringt, die Grundbedingungen des wirklichen Umsturzes entgegenstellen....

C. Konsumvereine als Instrumente sozialdemokratischer Propaganda Zitat aus: Lenin, W.: Intelligenzlerische Kämpen gegen die Herrschaft der Intelligenz ( 1907), S. 313-314, in: Lenin Werke, Bd. 12, Berlin 1959, S. 311ff. ... Nehmen wir die Konsumvereine. Das ist zweifellos ein Zusammenschluß von Arbeitern. Ihr Charakter ist genügend politisch bescheiden. Sind das "selbständige' " Organisationen?? Das ist eine Sache des Standpunkts. Für Sozialdemokraten sind nur solche Arbeitervereine wirklich selbständig, die von sozialdemokratischem Geist durchdrungen sind, und nicht nur von diesem "Geist" durchdrungen, sondern auch taktisch und politisch dadurch mit der Sozialdemokratie velbunden sind, daß sie der Sozialdemokratischen Panei angehören oder sich an sie anlehnen. Für die Syndikalisten, für die "Bessaglawzen", für die Anhänger Posses, für die Sozial revolutionäre, für die "paneilosen (bürgerlichen) Progressisten" sind umgekehrt nur diejenigen Arbeitervereine selbständig, die nicht zur Sozialdemokratischen Panei gehören und die sich nicht an sie anlehnen, die nicht durch ihre tatsächliche Politik, durch ihre Taktik gerade mit der Sozialdemokratie und nur mit der Sozialdemokratie velbunden sind.

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Dieser Unterschied der zwei Standpunkte ist nicht unsere Erfindung. Jedermann gibt zu, daß es wirklich gerade diese zwei Standpunkte gibt, die einander ausschließen und überall und allerorts, bei jedem "Zusammenschluß" von Arbeitern aus diesem oder jenem Anlaß, einander bekämpfen. Das sind unversölmliche Standpunkte, denn für Sozialdemokraten ist die "Parteilosigkeit" (in der Taktik und in der Politik überhaupt) lediglich eine versteckte und darum besonders schädliche Form der Unterordnung der Arbeiter unter die bürgerliche Ideologie, unter die bürgerliche Politik. Fazit: zum Wesen der Sache hat die Resolution in ihrer Schlußfolgerung garnichts gesagt. Im besten Fall ist ihre Schlußfolgerung eine hohle Phrase. Im schlimmsten Fall ist sie eine schädliche Phrase, die das Proletariat irreführt, die sozialdemokratische Grundwahrheiten verdunkelt und allen möglichen deklassierten Bourgeois sperrangelweit das Tor öffnet, die in allen Ländern Europas der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung viel und lange geschadet haben. Wie muß man die Resolution korrigieren? Die Phrasen muß man streichen. Es muß einfach gesagt werden: Die Sozialdemokraten müssen behilflich sein, verschiedene Arbeitervereine, zum Beispiel Konsumvereine, zu gründen, wobei sie unentwegt dafür Sorge tragen müssen, daß alle Arbeitervereine als Stätte dienen gerade für die sozialdemokratische Propaganda, Agitation und Organisation. Das wäre wirklich eine "politisch bescheidene", aber sachliche und sozialdemokratische Resolution. Was aber bei euch, meine Herren intelligenzlerischen Krieger gegen die "herrschende und bestimmende Rolle der Intelligenz", herauskommt, ist keine proletarische Tat, sondern eine intelligenzlerische Phrase....

D. Resolutionsentwurf der russischen sozialdemokratischen Delegation Lenin, W. : Resolutionsentwurfder russischen sozialdemokratischen Delegation auf dem Kopenhagener Kongreß über die Genossenschaften (1910), in: Lenin Werke, Bd. 16, Berlin 1971, S. 267-268 Der Kongreß stellt fest, I. daß die proletarischen Genossenschaften der Arbeiterklasse die Möglichkeit geben, ihre Lage zu verbessern durch Verminderung der Ausbeutung von seiten des Zwischenhandels, durch Einwirkung auf die Arbeitsbedingungen bei den Lieferanten, durch Verbesserung der Lage der Angestellten usw.; 2. daß die proletarischen Genossenschaften im ökonomischen und politischen Massenkampf durch die Hilfe, die sie bei Streiks, Aussperrungen, Verfolgungen usw. erweisen, immer größere Bedeutung erlangen; 3. daß die proletarischen Genossenschaften, wenn sie die Massen der Arbeiterklasse organisieren. diese lehren, ihre Geschäfte selbst zu führen und den Konsum zu organisieren, wodurch sie die Arbeiterklasse auf diesem Gebiet darauf vorbereiten, in der künftigen sozialistischen Gesellschaft die Rolle des Organisators des Wirtschaftslebens zu übernehmen. Der Kongreß stellt anderseits fest, 1. daß die Verbesserungen, die von den Genossenschaften erreicht werden können. auf einen sehr engen Rahmen begrenzt sind, solange die Produktionsmittel und die Mittel des Austausches in den Händen der Klasse verbleiben, deren Expropriation das Hauptziel des Sozialismus ist; 2. daß die Genossenschaften als reine kommerzielle Einrichtungen sowie unter dem Druck der Konkurrenz, die Tendenz haben, zu bürgerlichen Aktiengesellschaften auszuarten; 3. daß die Genossenschaften, die keine Organisationen des unmittelbaren Kampfes gegen das Kapital sind, die Illusion schaffen können und auch schaffen, daß sie ein Mittel zur Lösung der sozialen Frage seien.

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Der Kongreß ruft daher die Arbeiter aller Länder auf, a) in die proletarischen Genossenschaften einzutreten und deren Entwicklung allseitig zu fördern sowie deren Organisation in streng demokratischem SiM zu lenken (niedrige Beitrittsgebühren, ein Anteil- eine Person usw.); b) durch unermüdliche sozialistische Propaganda und Agitation iMerhalb der Genossenschaften die Verbreitung der Ideen des Klassenkampfes und des Sozialismus unter den Arbeiternlassen zu fördern; c) in dem Maße, in dem das sozialistische Bewußtsein in den Genossenschaften wächst, zwischen den Genossenschaften und der Partei der Sozialisten sowie den Gewerkschaften organische Verbindungen anzuknüpfen und zu festigen; d) der Kongreß weist ferner darauf hin, daß die Produktionsgenossenschaften für den Kampf der Arbeiterklasse nur daM Bedeutung haben, weM sie Bestandteile der Konsumgenossenschaften sind.

E. Die Frage der Genossenschaften Lenin, W. : Die Frage der Genossenschaften aufdem Internationalen Sozialistenkongreß in Kopenhagen ( 1910), in: Lenin Werke, Bd. 16, Berlin 1971, S. 278-287 Im vorliegenden Anikcl möchte ich mich darauf beschränken, den Verlauf der Arbeiten des Kongresses in der obengenaMten Frage darzulegen und die Richtungen des sozialistischen Denkens, die einander hier bekämpft haben, zu charakterisieren. Vor dem Kongreß wurden drei Resolutionsentwürfe über die Genossenschaften veröffentlicht. Der belgisehe Entwurf (Nr. 5 des "Periodischen Bulletins des Internationalen Sozialistischen Büros", das unregelmäßig in den drei Verhandlungssprachen der internationalen Kongresse erscheint) warnt zunächst die sozialistischen Arbeiter vor der Lehre derer, die behaupten, daß die Genossenschaften sich selbst genügen, und die in ihnen ein Mittel zur Lösung der sozialen Frage sehen. Der Entwurf der belgischen Panei stellt daM fest, daß die Arbeiterklasse das stärkste Interesse daran hat, die Genossenschaften als Waffe in ihrem Klassenkampf zu gebrauchen, und verweist auf die unmittelbaren Voneile der Genossenschaften (Kampf gegen die Ausbeutung durch den Zwischenhandel, Verbesserung der Arbeitsbedingungen bei den Lieferanten usw.) und hält es für wünschenswert, daß "organische Verbindungen, die sich immer enger gestalten", zwischen den sozialistischen Parteien und den Genossenschaften angeknüpft werden. Der Entwurf der Mehrheit der französischen Sozialistischen Panei ist im Geiste Jaures' abgefaßt. Die Genossenschaften werden in den Himmel gehoben und - ganz wie bei den bürgerlichen Reformern als zur "Umwandlung der Gesellschaft erforderliche" Elemente hingestellt. Man verkündet nebelhafte Phrasen über die Erhebung der Genossenschaften von der Einzelgruppierung der Individuen zum allumfassenden Bund der genossenschaftlichen Kräfte. Man wirft die proletarischen Genossenschaften mit den Genossenschaften der Kleineigentümer (in der Landwinschaft) in einen Topf. Man predigt Neutralität der Genossenschaften, man legt dar, wie schädlich es wäre, wollte man von den Genossenschaften irgendwelche Lasten zugunsten der sozialistischen Partei fordern. Schließlich wird im Entwurf der Minderheit der französischen Sozialisten (Guesdisten) entschieden erklärt, daß die Genossenschaften an sich durchaus keine Klassenorganisationen seien (wie zum Beispiel die Gewerkschaften), daß ihre Bedeutung dadurch bestimmt werde, was man aus ihnen macht. Wenn die Arbeiter in Massen in die Genossenschaften eintreten, können sie in ihrem Kampf gegen das Kapital aus ihnen Nutzen ziehen, können sie sich an Hand des Beispiels bis zu einem gewissen Grade Klarheit darüber verschaffen, wie man die sozialistische GeseUschaft organisieren muß, nachdem die Widersprüche der gegenwärtigen Ordnung beseitigt worden sind. Der Entwurf unterstreicht deshalb die beschränkte Bedeutung der Genossenschaften und ruft die sozialistischen Paneien zur Unterstützung der proletarischen Genossenschaften auf, warnt vor genossenschaftlichen Illusionen und empfiehlt den ZUsammenschluß der Sozialisten innerhalb der Genossenschaften, um den Massen ihre

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wirldiche Aufgabe zu erläutern, nämlich die politische Macht zu erobern und die Mittel der Produktion und des Austauschs in Gemeineigentum zu verwandeln. Ganz offenkundig werden hier zwei Grundlinien sichtbar: die eine ist die Linie des proletarischen Klassenkampfes, die den Wert der Genossenschaften darin sieht, daß sie eine Waffe, ein Hilfsmittel in diesem Kampf darstellen, und bestimmt, unter welchen Bedingungen die Genossenschaften wirklich eine solche Rolle spielen würdj':n und nicht bloße Handelsunternehmen bleiben. Die andere Linie ist die kleinbürgerliche, die die Rolle der Genossenschaften im Klassenkampf des Proletariats verschleiert, die den Genossenschaften eine über den Rahmen dieses Kampfes hinausgehende Bedeutung zuschreibt (d. h. die proletarischen Anschauungen über die Genossenschaften und die von Eigentümern darüber in einen Topf wirft) und die Ziele der Genossenschaften in so allgemeinen Phrasen bestimmt, daß sie auch für einen bürgerlichen Reformer, diesen Ideologen der progressiven Besitzer und Kleineigentümer, annehmbar sind. Leider wurden die beiden gezeigten Linien in den drei vorher ausgearbeiteten Entwürfen eben nur angedeutet, aber nicht klar, deutlich und scharf einander gegenübergestellt als zwei Richtungen, deren Kampf die Frage lösen muß. Daher verliefen auch die Verhandlungen des Kongresses ungleichmäßig, verworren, gleichsam spontan. Fonwährend "stieß man" auf Meinungsverschiedenheiten, ohne sie aber restlos zu klären, und das Ergebnis war eine Resolution, die die Verworrenheit der Gedanken widerspiegelt und nicht alles gibt, was die Resolution eines Kongresses der sozialistischen Parteien geben könnte und müßte. In der Kommission für das Genossenschaftswesen traten sogleich zwei Strömungen zutage. Die eine - von Jaures und Elm. Elm war einer der vier deutschen Delegierten in der Genossenschaftskommission und trat als Vertreter der Deutschen auf, trat in entschieden opportunistischem Geist auf. Die andere Richtung war die belgische. Vermittler und Friedensstifter war der Österreicher Karpeles, ein namhafter Führer der Österreichischen Genossenschaftsbewegung, der nicht eine bestimmte prinzipielle Linie verfocht, sondern (genauer gesagt: nicht "sondern", vielmehr gerade darum) weitaus am häufigsten zu den Opportunisten tendierte. Und auch die Belgier wurden viel mehr durch ihren Instinkt für eine wirldich proletarische Organisation des Genossenschaftswesens veranlaßt, mit J aures und Elm zu streiten, als dadurch, daß sie die Feindseligkeit und Unversöhnlichkeit des proletarischen und des kleinbürgerlichen Standpunkts in dieser Frage klar begriffen hätten. Deshalb hielt zum Beispiel Anseeie (der Vorsitzende der Genossenschaftskommission) in der Kommission leidenschaftliche und ausgezeichnete Reden gegen die Neutralität der Genossenschaften, gegen die Übertreibung ihrer Bedeutung, dafür, daß wir sozialistische Genossenschaftler und nicht genossenschaftliche Sozialisten sein müssen, aber bei der Ausarbeitung der Resolution konnte derselbe Anseeie einen direkt zur Verzweiflung bringen durch seine Nachgiebigkeit gegenüber den Formulierungen von Jaur~s und Elm, durch seinen Widerwillen, den Ursachen der Meinungsverschiedenheiten auf den Grund zu gehen. Kehren wir aber zu den Sitzungen der Kommission zurück. Es ist verständlich, daß die Vertreter der Nationen mit einer stark entwickelten Genossenschaftsbewegung den entscheidenden Einfluß auf den Gang der Arbeiten hatten. Dabei zeigte sich sogleich, daß die Auffassungen der Belgier und der Deutschen auseinandergingen, was auf die letzteren ein außerordentlich ungünstiges Licht warf. Die Belgier vertraten jedenfalls die proletarische Linie, wenn auch nicht ganz konsequent, nicht ganz eindeutig. Elm zeigte sich als Opportunist reinsten Wassers (besonders in der Unterkommission, doch darüber später). Es versteht sich, daß die Belgier die führende Rolle innehatten. Die Österreicher neigten zu ihnen hin, und bei Abschluß der Kommissionsarbeiten wurde eine österreichisch-belgische Resolution verlesen, während Elm, der die deutsche Resolution eingebracht hatte, offen erklärte, er sei der Meinung, daß sich die deutsche Resolution mit dem Entwurf von Jaures durchaus vereinbaren lasse. Da bei den Franzosen eine starke Minderheit gegen Jaures auftrat (für seinen Standp\lnkt 202 Mandate und für den von Guesde 142), und da zu erwarten war, daß bei den Deutschen eine nicht weniger starke Minderheit gegen Elm auftreten würde (wenn die Frage der beiden Standpunkte klar und mit aller Schärfe aufgeworfen worden wäre), so hatte die österreichisch-belgische Allianz die größten Aussichten auf den Sieg. Es ging natürlich nicht so sehr um einen "Sieg" im engen Sifll\e des Wortes als vielmehr um die Verteidigung des konsequent proletarischen Standpunktes in bezugauf die Genossenschaften. Es gelang jedoch nicht, einen solch konsequenten Standpunkt durchzusetzen, da die Unterkommission Jaures und Elm allzu große Zugeständnisse machte.

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Was uns russische Sozialdemokraten betrifft, so haben wir uns bemüht, in der Kommission die österreichisch-belgische Linie zu unterstützen, und zu diesem Zweck hatten wir, noch bevor der österreichisch-belgische Einigungsentwurf veröffentlicht wurde, unseren Resolutionsentwurf folgenden Inhalts eingereicht: "Entwurf der sozialdemokratischen Delegation Rußlands Der Kongreß ist der Meinung: I. daß die proletarischen Konsumgenossenschaften die Lage der Arbeiterklasse insofern verbessern, als sie den Grad der Ausbeutung seitens jeglicher Zwischenhändler einschränken, auf die Arbeitsbedingungen der Arbeiter Einfluß nehmen, die in den Betrieben der Lieferanten beschäftigt sind, und die Lebenshaltung der eignen Angestellten verbessern; 2. daß diese Genossenschaften für den ökonomischen und politischen Massenkampf des Proletariats von großer Bedeutung sein können, wenn sie die Arbeiter bei Streiks, Aussperrungen, politischen Verfolgungen usw. unterstützen. Anderseits weist der Kongreß darauf hin: 1. daß die Verbesserungen, die mit Hilfe der Konsumgenossenschaften erzielt werden können, nur ganz unbedeutend sein können, solange sich die Produktionsmittel in den Händen derjenigen Klasse befinden, ohne deren Enteignung der Sozialismus nicht verwirklicht werden kann; 2. daß die Konsumgenossenschaften keine Organisationen des unmittelbaren Kampfes gegen das Kapital sind und neben gleichartigen Organisationen anderer Klassen bestehen, die die Illusion erwecken können, daß diese Organisationen ein Mittel seien, mit dessen Hilfe die soziale Frage ohne Klassenkampf und ohne Enteignung der Bourgeoisie gelöst werden könne. Der Kongreß ruft die Arbeiter aller Länder auf: a) in die proletarischen Konsumgenossenschaften einzutreten, ihre Entwicklung mit allen Mitteln zu fördern und dabei den demokratischen Charakter dieser Organisationen zu verteidigen; b) durch unermüdliche sozialistische Propaganda in den Konsumgenossenschaften die Verbreitung der Ideen des Klassenkampfes und des Sozialismus unter den Arbeitern zu fördern; c) gleichzeitig danach zu streben, daß eine möglichst vollständige Annäherung aller Formen der Arbeiterbewegung erreicht wird. Der Kongreß stellt ferner fest, daß die Produktionsgenossenschaften für den Kampf der Arbeiterklasse nur dann Bedeutung haben, wenn sie ein Bestandteil der Konsumgenossenschaften sind." Alle Resolutionsentwürfe wurden der Unterkommissen überwiesen (die Kommissionen der internationalen Sozialistenkongresse sind so groß - jede Nation entsendet 4 Delegierte in jede Kommission -, daß voll einer Ausarbeitung des Textes der Resolutionen in einer Vollversammlung der Kommission keine Rede sein kann). Der Unterkommission gehörten 10 Personen an: zwei Belgier (Anseele und Vandervelde), ein Franzose (Jaures), ein Österreicher (Karpeles), ein Deutscher (Elm), ein Holländer (der Marxist Wibaut), je ein Italiener, Däne, Engländer und ein russischer Sozialdemokrat (Woinow und ich - unsere sozialdemokratische Delegation war nicht dazu gekommen, einen Vertreter zu wählen, darum waren wir beide anwesend, aber nur einer gab seine Stimme ab). Die Unterkommission beschäftigte sich nur noch mit der rein sachlichen Abfassung der Resolution. Der Text, den der Kongreß dann annalun, ist, abgesehen von ganz unbedeutenden, stilistischen Änderungen, eben der Text, der von der Unterkommission ausgearbeitet worden war; die Leser finden den Wortlaut der Resolution des Kongresses an einer anderen Stelle dieser Zeitung. Der Kampf in der Unterkommission konzentrierte sich - anders als in der Kommission - nicht auf die Frage des Verhältnisses der Genossenschaften zur Partei, sondern auf die prinzipiellere Frage nach der Bedeutung und Rolle der Genossenschaften. Die Belgier neigten zu der prinzipiell völlig richtigen Definierung ihrer Rolle als eines der (unter bestimmten Bedingungen) möglichen Hilfsmittel des proletarischen Klassenkampfes für die "völlige Enteignung" (expropriation int~grale) der Kapitalistenklasse. Elm, von Jam"Cs unterstützt, trat entschieden dagegen auf und offenbarte restlos seinen ganzen Opportunismus. Er sagte, es sei ungewiß, ob es überhaupt zur Expropriation kommen würde, er persönlich halte dies für völlig unwahrscheinlich, für die "Mehrheit"(!) sei dies eine strittige Frage, im Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands sei von Expropriation nicht die Rede, man

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sollte "Uberwindung des Kapitalismus" sagen. Die bekannten Worte, die Bebe! in Hannover zum Abschluß der Auseinandersetzungen mit Bernstein gesagt hatte, "es bleibt bei der Expropriation", hat einer der Führer des deutschen Opportunismus vergessen. Im Zusammenhang mit diesen Auseinandersetzungen tauchte die "Frage der Sozialisierung" auf. Jaures forderte ultimativ, daß die Bedeutung der Genossenschaften wie folgt formuliert werden sollte: "Sie helfen den Arbeitern" (wie es auch im Text der vom Kongreß angenommenen Resolution heißt), "die Demokratisierung und Sozialisierung der Mittel der Produktion und des Austauschs vorzubereiten." Das ist eine jener verschwommenen, unbestimmten, für die Ideologen des Kleineigentümers und für die Theoretiker des bürgerlichen Reformenums völlig annehmbaren Phrasen, in denen Jaures solch ein Meister ist und die er so liebt. Was heißt denn "Demokratisierung der Mittel der Produktion und des Austausches? (Später ersetzten die Franzosen in der Kommission, nachdem diese den Entwurf von der Unterkommission zurückerhalten hatte. das Wort Mittel - moyens- durch das Wort Kräfte- forces -, was aber an der Sache gar nichts änderte.) Die bäuerliche Produktion (sagte ich in der Kommission) ist "demokratischer" als die großkapitalistische. Heißt das etwa, daß wir Sozialisten für die Schaffung des Kleinbetriebs Stellung nehmen? Was heißt "Sozialisierung"? Darunter kann man die Überführung in das Eigenturn der ganzen Gesellschaft verstehen, aber ebenso auch beliebige Tcilmaßnahmen, beliebige Reformen im Rahmen des Kapitalismus, von den bäuerlichen Genossenschaften bis zu den städtischen Badehäusern und Bedürfnisanstalten. Verwies doch Jaures in der Unterkommission auf die dänischen landwirtschaftlichen Genossenschaften, wobei er. in die Fußtapfen der bürgerlichen Ökonomen tretend, offenbar der Meinung ist, das seien keine kapitalistischen Unternehmen. Um den Widerstand gegen diesen Opportunismus zu organisieren, versuchten wir (die russischen und polnischen Sozialdemokraten), gegen Elm, an Wurm, einen der Redakteure der "Neuen Zeit", zu appellieren, der ebenfalls als Vertreter der Deutschen der Genossenschaftskommission angehörte. Wurm billigte nicht die Phrasen von der "Demokratisierung und Sozialisierung", er machte (privat) eine Reihe von Abänderungsvorschlägen, parlamentierte zwischen Elm und den Marxisten, aber Elm legte eine solche "Unbeugsamkeit" an den Tag, daß Wurm nichts erreichte. Bereits nach dem Kongreß las ich in der"Lcipziger Vokszeitung" (Nr. 201, 31. August 1910, 3. Beilage), daß die Genossenschafts· frage in der deutschen Delegation noch am Dienstag aufgeworfen worden war. "Richard Fischer fragte an", schreibt der Korrespondent der Zeitung, "ob sich in der Genossenschaftsfrage Meinungsverschiedenheiten zwischen den deutschen Delegierten herausgestellt haben." Elm antwortete: "Solche Differenzen sind vorhanden und werden sich nicht von heute auf morgen beseitigen lassen. Die Beschlüsse der Kongresse sind immer Kompromißbeschlüsse, und auch in dieser Frage wird es wohl zu einem solchen Kompromiß kommen." Wurm: "Meine Anschauungen zur Genossenschaftsfrage sind durchaus anders als die von Elm; wir werden uns aber doch wohl auf eine gemeinsame Resolution einigen." Darauf sah die deutsche Delegation von einer weiteren Erörterung der Frage ab. Diese Mitteilung bestätigt eine Erscheinung, die schon auf dem Stuttgarter Internationalen Kongreß klar zutage getreten war. Die deutsche Delegation wird zu gleichen Teilen aus Vertretern der Partei und der Gewerkschaften zusammengestellt. Von den letzteren gelangen fast durchweg Opportunisten hinein, denn man wählt gewöhnlich Sekretäre und sonstige Gewerkschafts"bürokraten". Im allgemeinen sind die Deutschen unfähig, eine konsequente, prinzipielle Linie auf den internationalen Kongressen zu vertreten, und die Hegemonie in der Internationale entgleitet mitunter ihren Händen. Wurms Ohnmacht gegenüber Elm illustrierte ein übriges Mal die Krise in der deutschen Sozialdemokratie, die darin besteht, daß die unvermeidliche entschiedene Auseinandersetzung mit den Opportunisten immer dringlicher wird, Zur Frage der fmanziellen Unterstützung der Partei durch die Genossenschaften erreichten Elm und Jaures in der Unterkommission ebenfalls ein übermäßiges Zugeständnis von den Belgiern, die sich mit folgender Formulierung einverstanden erklärten: "Den Genossenschaften jedes Landes soll es überlassen bleiben, zu entscheiden, ob und inwieweit sie die politische und gewerkschaftliche Bewegung direkt aus eigenen Mitteln unterstützen wollen." Als der Entwurf der Unterkommission zur endgültigen Bestätigung an die Kommission zurückge· geben worden war. konzentrierten wir unsere ganze Aufmerksamkeit gerade auf diese beiden Punkte. Gemeinsam mit Guesde brachten wir zwei (wesentliche) Abänderungsanträge ein: erstens, die Worte, daß die Genossenschaften "den Arbeitern helfen. die Demokratisierung und Sozialisierung der Produktion und des Austausches vorzubereiten", durch die Worte zu ersetzen, daß die Genossenschaften "bis zu einem gewissen Grade helfen, das Funktionieren der Produktion und des Austauschs nach 12 Todev/Rönnebeck/Brazda

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der Expropriation der Klasse der Kapitalisten vorzubereiten". Der Sinn dieses, in seiner stilistischen Fonnulierung nicht ganz gelungenen Abänderungsantrags bestand nicht darin, daß die Genossenschaften jetzt den Arbeitern nicht helfen können, sondern darin, daß das von den Genossenschaften jetzt schon ~orzubereitende Funktionieren der künftigen Produktion und des künftigen Austauschs erst nach der Expropriation der Kapitalisten beginnen kann. Der zweite Abänderungsantrag bezog sich auf den Punkt, der vom Verhältnis der Genossenschaften zur Partei spricht. Wir haben vorgeschlagen, entweder die Worte: "was" (d. h. die Hilfe für den Kampf der Arbeiter) "vom Standpunkt des Sozialismus auf jeden Fall wünschenswert ist", hinzuzufügen, oder diesen ganzen Punkt durch einen anderen zu ersetzen, der den Sozialisten in den Genossenschaften direkt empfiehlt, die Notwendigkeit der direkten UntersTützung des Klassenkampfes des Proletariats zu propagieren und zu verteidigen. Beide Abänderungsanträge wurden von der Kommission abgelehnt, es wurden nur etwa 15 Stimmen dafür abgegeben. Die Sozialrevolutionäre stimmten - wie immer auf internationalen Kongressen - für Jaures. Vor der russischen Öffentlichkeit sind sie nicht abgeneigt, sogar Bebe! des Opportunismus zu beschuldigen, aber vor der europäischen Öffentlichkeit folgen sie Jaures und Elm! Wunn machte den Versuch, den Schluß der Resolution durch eine Umstellung der letzten drei Absätze zu korrigieren. Am Anfang sollte gesagt werden, daß die Genossenschaften einen einheitlichen Verband bilden sollen (vorletzter Absatz). Dann könnte erklärt werden, daß es den Genossenschaften überlassen sei, ob sie die Partei direkt unterstützen wollen oder nicht (drittletzter Absatz). Und derletzte Absatz könne mit "aber" beginnen (aber der Kongreß erklärt, daß es erwünscht ist, daß die Beziehungen zwischen der Partei, den Gewe!Xschaften und den Genossenschaften immer inniger werden). Dann wäre aus dem gesamten Kontext klar ersichtlich, daß der Kongreß den Genossenschaften empfiehlt, die Partei zu unterstützen. Elm lehnte auch diesen Abänderungsantrag ab! Wunn zog ihn darauf zurück. Als Wibaut ihn wieder aufnahm. stimmten wir für ihn, aber der Abänderungsantrag wurde abgelehnt. Zu der Frage, wie man sich auf dem Plenum des Kongresses verhalten soll, hatten wir eine Beratung mit Guesde. Guesde war der Meinung - und seine Meinung teilten die deutschen revoluitionären Sozialdemokraten, daß man wegen einzelner Korrekturen auf dem Plenum des Kongresses keinen Kampf beginnen und für die Resolution insgesamt stimmen solle. Ihre Mängel bestünden darin, daß ein revisionistischer Satz zugelassen wurde, der die Bestimmung des Ziels des Sozialismus nicht ersetze, sondern neben dieser Bestimmung stehe - und in einem ungenügend starken Ausdruck des Gedankens, daß die Arbeitergenossenschaften den Klassenkampf der Arbeiter untersTützen müßten. Diese Mängel müßte man zu korrigieren suchen, aber es bestehe kein Grund, ihretwegen auf dem Plenum einen Kampf zu beginnen. Wir erklärten uns mit dieser Meinung von Guesde einverstanden, und die Resolution wurde vom Plenum des Kongresses einstimmig angenommen. Fassen wir das Ergebnis der Arbeiten des Kongresses zur Frage der Genossenschaften zusammen, so müssen wir - ohne vor uns oder vor den Arbeitern die Mängel der Resolution zu verbergen feststellen, daß die Internationale die Aufgaben der proletarischen Genossenschaften in den Grundzügen richtig bestimmt hat. Jedes Parteimitglied, jeder sozialdemokratische Arbeiter, jeder klassenbewußte Arbeiter, der Mitglied der Genossenschaft ist, muß sich von dieser Resolution leiten lassen und seine gesamte Tätigkeit in ihrem Geist ausüben. Der Kopenhagener Kongreß ist kenn1..eichnend für jenes Entwicklungsstadium der Arbeiterbewegung, wo sie sich sozusagen vornehmlich in die Breite entwickelt und die proletarischen Genossenschaften in den Klassenkampf einzubeziehen begonnen hat. Meinungsverschiedenheiten mit den Revisionisten sind zwar sichtbar geworden, doch ist es noch weit bis zu einem Auftreten der Revisionisten mit einem selbständigen Programm. Der Kampf gegen den Revisionismus wurde aufgeschoben, aber dieser Kampf wird unvenneidlich kommen.

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F. Entwurf eines Dekrets über die Konsumkommunen Lenin, W.: Entwurf eines Dekrets über die Konsumkommunen ( 1917), in: Lenin Werke, Bd. 26, Berlin 1961, S. 415-416 Der Krieg, der durch den Kampf der Kapitalisten um die Aufteilung der von ihnen geraubten Beute hervorgerufen wurde, hat zu einer beispiellosen Zenüttung der Wirtschaft geführt. Die verbrecherische Spekulation und die Jagd nach Profit, besonders unter den reichen Klassen, haben diese Zerrüttung noch verschärft, haben Hundentausende und Millionen Menschen den Qualen des Hungers und der Arbeitslosigkeit ausgesetzt. Die Notwendigkeit, außerordentliche Maßnahmen zur Unterstützung der Hungernden und zum schonungslosen Kampf gegen die Spekulanten zu ergreifen, veranlaßt die Arbeiter- und Bauernregierung, folgende Bestimmungen - als Gesetz der Russischen Republik - zu erlassen: Alle Staatsbürger müssen einer lokalen Konsumgenossenschaft angehören (des Dorfes, des Amtsbezirks, der Siedlung oder eines bestimmten Stadtviertels, eines Straßenviertels usw.). Die Wahl der Konsumgenossenschaften durch die Familien ist frei, mit der Einschränkung allein, daß mindestens zwei Drittel der Familien in jeder Konsumgenossenschaft Angehörige der armen Klassen sein müssen (d. h. Arbeiter, Bauern, die keine Lohnarbeiter beschäftigen, usw.). Jede Konsumgenossenschaft betreibt außer dem Kauf und der Verteilung von Produkten den Absatz der lokalen Erzeugnisse. Die Vorstände der Konsumgenossenschaften bilden Versorgungskomitees. wobei ohne schriftliche Bescheinigung des betreffenden Versorgungskomitees keinerlei Transport von Produkten erlaubt ist. Die bestehenden Konsumgenossenschaften werden nationalisiert und sind verpflichtet, die gesamte Bevölkerung des betreffenden Ortes aufzunehmen.

G. Konsumgenossenschaften- ein akzeptabler Versorgungsapparat Zitat aus: Lenin, W.: Schlußwort zum Referat über die Stellung des Proletariats zur kleinbürgerlichen Demokratie ( 1918), S. 220-223, in: Lenin Werke, Berlin 1959, Bd. 28, S. 215ff. ... Weiter zur Frage der Konsumgenossenschaften. Genosse Steklow äußerte sich so: Die Konsumgenossenschaften riechen schlecht. Genosse Maximow sagte hinsichtlich der Konsumgenossenschaften, man dürfe keine Dekrete wie das letzte Dekret des Rats der Volkskommissare abfassen. In Fragen der Praxis hat es bei uns keine Einstimmigkeit gegeben. Es ist nichts Neues für uns, daß man sich mit dem Kleinbürgertum, wenn es uns nicht feindselig gegenübersteht, auf dieser Basis verständigen muß. Wenn es sich zeigt, daß die alte Einstellung schlecht ist, dann muß man sie ändern, wenn das die veränderten Umstände erfordern. Daß sich in dieser Hinsicht die Dinge geändert haben, liegt klar auf der Hand. Die Konsumgenossenschaften sind hier ein anschauliches Beispiel. Der Genossenschaftsapparat ist ein Versorgungsapparat, eingestellt nicht auf die Privatinitiative der Kapitalisten, sondern auf die Massenteilnahme der Werktätigen, und Kautsky hatte recht, als er, lange bevor er zu den Renegaten überging, sagte, die sozialistische Gesellschaft sei eine ungeheure Konsumgenossenschaft. Wenn wir die Kontrolle in Gang bringen und die Wirtschaft für Hundentausende von Menschen praktisch organisieren wollen, so dürfen wir nicht vergessen, daß die Sozialisten bei der Behandlung dieser Frage die Meinung vertreten, die Leiter von Trusts könnten ihnen als erfahrene Praktiker von Nutzen sein. Jetzt zeigt die Erfahrung, daß kleinbürgerliche Elemente von der Feindschaft zur Neutralität übergegangen sind. Und man muß sich-darüber im klaren sein, daß sie es verstehen, Läden einzurichten. Das bestreiten wir nicht: als Ideologe ist Chintschuk durch und durch von bürgerlichen Vorurteilen durchtränkt, ihnen allen haftet dieser Geruch an, doch haben sie praktische Kenntnisse. Was die Ideen anbetrifft, so stehen alle Geschütze auf unserer Seite, auf ihrer Seite kein einziges. Aber wenn sie sagen, daß sie uns nicht feindlich gesinnt sind und zur Neutralität übergehen, so müssen wir berücksichtigen, daß jetzt Hunderte und Tausende von Menschen, die weniger fähig sind als Chint-

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schuk, ebenfalls für vernünftige Vereinbarungen zu haben sind. Ich sage: Man muß es verstehen, sich mit ihnen zu verständigen. Was den praktischen Aufbau anbelangt, so wissen sie mehr, können sie mehr als wir, und man muß bei ihnen lernen. Sollen sie von uns lernen, wie man auf das internationale Proletariat einwirlct, aber wie man Läden einrichtet, das werden wir von ihnen lernen. Das verstehen wir nicht. Hier braucht man auf jedem Gebiet Fachleute mit Spezialkenntnissen. Und was die Konsumgenossenschaften betrifft, so verstehe ich nicht, warum es hier schlecht riechen soll. Als wir das erste Dekret über die Konsumgenossenschaften behandelten, haben wir in den Rat der Volkskommissare zur Beratung Leute eingeladen, die nicht nur keine Kommunisten waren, sondern den Weißgardisten viel näherstanden, haben uns mit ihnen beraten, haben sie gefragt: Könnt ihr das akzeptieren? Sie entgegneten darauf: Das eine - ja, das andere jedoch nicht. Gewiß, geht man obertlächlich oder unüberlegt an diese Frage heran, so war das Paktieren mit der Bourgeoisie. Geladen waren Repräsentanten der bürgerlichen Genossenschaften, und auf ihr Verlangen hin sind einige Artikel des Dekrets gestrichen worden. So wurde zum Beispiel der Artikel über die unentgeltliche Nutzung und den unentgeltlichen Eintrin in die proletarische Konsumgenossenschaft gestrichen. Uns schien dieser Artikel durchaus annehmbar zu sein, aber sie lehnten unseren Vorschlag ab. Wir sagen, daß wir den Weg der Verständigung gehen müssen mit den Leuten, die viel besser als wir Läden einzurichten verstehen. Darin kennen wir uns nicht aus, aber von unserem Kampf lassen wir keinesfalls ab. Als wir das nächste ebensolche Dekret erließen, sagte Genosse Maximow, man dürfe nicht solche Dekrete abfassen, weil dort gesagt werde: Die aufgelösten Konsumgenossenschaften sind wieder zuzulassen. Das zeigt, daß es bei den Funktionären des Moskauer Deputiertensowjets ebenso wie bei uns gewisse Unklarheiten gibt, und allein um der Beseitigung solcher Unklarheitenwillen muß man solche Beratungen und Aussprachen wie die heutige veranstalten. Wir haben darauf verwiesen, daß wir im Interesse der Sache nicht nur die Gewerlcschaften schlechthin, sondern auch den Verband der Handels- und Industrieangestellten auszunutzen beabsichtigten, und dabei sind doch die Handelsund Industrieangestellten immer eine Stütze des bürgerlichen Systems gewesen. Da aber diese Leute zu uns gelaufen kommen und erlclären: Wir sind bereit, in gutnachbarlichen Beziehungen zu leben, muß man ihnen freundlich begegnen, muß man die ausgestreckte Hand ergreifen- die Hand wird einem darob nicht verdorren. Wir vergessen nicht, sollten morgen die englischen und französischen Imperialisten losschlagen, so sind das die ersten, die sich abwenden und davonlaufen werden. Wenn aber diese Partei, wenn diese bürgerlichen Elemente nicht davonlaufen, sagen wir immer wieder. Hier ist Annäherung erforderlich. Deshalb haben wir das Dekret beschlossen, das am Sonntag veröffentlicht worden ist und das Genossen Maximow nicht gefällt. Dadurch zeigt er, daß er die alte kommunistische Taktik anwendet, die auf die neue Situation nicht anwendbar ist. Wir haben das Dekret gestern abgefaßt und als Antwort die Resolution des Zentralvorstands der Angestelltenverbände erhalten, und wir stünden da wie die Dummen, wenn wir, wo doch die Wendung begonnen hat und die Lage sich ändert, sagen würden, du hast nicht zur rechten Zeit angefangen, wozu schreibst du denn. Die schwerbewaffneten Kapitalisten setzen den Krieg immer hartnäckiger fort, und für uns ist es ungeheuer wichtig, diese, wenn auch zeitweilige Wendung für den praktischen Aufbau auszunutzen. Wir sind im Besitz der gesamten Macht. An uns liegt es, die Genossenschaften nicht aufzulösen und die aufgelösten wieder zuzulassen, weil wir sie aufgelöst hatten, als sie der weißgardistischen Agitation dienten. Aber jede Losung erwirbt die Eigenschaft, sich mehr zu verhärten als nötig ist. Als in ganz Rußland Genossenschaften aufgelöst und verfolgt wurden, da geboten dies die Verhältnisse. Jetzt jedoch ist das nicht nötig. Das ist ein äußerst wichtiger Apparat, der mit der Mittelbauernschaft verbunden ist. ein Apparat, der die zersplitterten und zerstreuten Schichten der Bauernschaft vereinigt. Diese Chintschuk verrichten nützliche Arbeit an einem Werlc, das bürgerliche Elemente gegründet haben. Wenn diese Bauern und kleinbürgerlichen Demokraten sagen, daß sie von der Feindschaft zur Neutralität, zu gutnachbarlichen Beziehungen übergehen, so müssen wir sagen: Das brauchen wir ja gerade. Laßt uns mit euch, gute Nachbarn, auf vernünftige Weise Vereinbarungen treffen. Wir sind euch in jeder Weise behilflich und wahren eure Rechte; wir werden eure Ansprüche prüfen, werden euch die beliebigsten Privilegien geben, doch müßt ihr unsere Aufträge erfüllen. Tut ihr das nicht, so wißt, daß de